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German Pages 172 Year 2015
Schriften zum Technikrecht Band 13
Produktbeobachtung durch Private Herausgegeben von
Martin Eifert
Duncker & Humblot · Berlin
MARTIN EIFERT (Hrsg.)
Produktbeobachtung durch Private
S chr if ten zum Te chnikrecht Herausgegeben von Prof. Dr. M i c h a e l K l o e p f e r, Berlin
Band 13
Produktbeobachtung durch Private
Herausgegeben von
Martin Eifert
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1616-1084 ISBN 978-3-428-14718-2 (Print) ISBN 978-3-428-54718-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84718-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die im Umwelt- und Technikrecht zunehmend zu beobachtende Verpflichtung Privater, die Auswirkungen ihrer Produkte fortlaufend zu beobachten, ist beispielsweise im Arzneimittelrecht schon lange etabliert, hingegen im Produktsicherheitsund Gentechnikrecht eine relativ junge Erscheinung. Die unterschiedlichen Regelungen variieren hinsichtlich der gesetzgeberischen Ausgestaltungen, den jeweils genannten Überwachungspflichten und der Verschränkung mit den behördlichen Überwachungsaufgaben. Möglicherweise entsteht mit der Produktbeobachtungspflicht Privater ein neues allgemeines Instrument des Umwelt- und Technikrechts. Am 25. April 2014 veranstaltete das Forschungszentrum Technikrecht e.V. (FZT) an der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel „Produktbeobachtung durch Private“ eine Tagung, die von Martin Eifert inspiriert und wissenschaftlich geleitet wurde. Die Konferenz verfolgte das Ziel, dem Phänomen der Produktbeobachtungspflichten privater Rechtssubjekte – unter Einbeziehung der praktischen Herausforderungen, im Anschluss an aktuelle Diskussionen im Verwaltungsrecht und mit rechtsgebietsübergreifendem Blick auch auf das einschlägige Zivilrecht – eine schärfere dogmatische Kontur zu verleihen. Der vorliegende Band enthält die gehaltenen Referate der Tagung in überarbeiteter und erweiterter Form. Das veranstaltende, von Michael Kloepfer geleitete gemeinnützige Forschungszentrum Technikrecht (FZT) gehört neben dem Forschungszentrum Umweltrecht (FZU), dem Forschungszentrum Katastrophenrecht (FZK) sowie dem Institut für Gesetzgebung und Verfassung (IGV) zur Forschungsplattform Recht (FPR), die eng mit der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin zusammenarbeitet. Den engagierten Referent/innen sowie den Diskussionsteilnehmer/innen der Tagung gebührt unser herzlicher Dank. Unseren Mitarbeitern Justus Maximilian Quecke und Hrvoje Sˇantek danken wir für die wertvolle Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Tagung sowie – dem Erstgenannten – zusätzlich bei der Vorbereitung für diesen Tagungsband. Anregungen und Kritik zum vorliegenden Band richten Sie bitte per E-Mail an [email protected]. Berlin, im Februar 2015
Martin Eifert und Michael Kloepfer
Inhaltsverzeichnis Martin Eifert Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ivo Appel Grundrechtliche Fragen privater Produktbeobachtungspflichten . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Klindt Produktbeobachtung zwischen Produktsicherheitsrecht und Social Media . . . . .
55
Achim Willand Private Produktbeobachtung im Gentechnikrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Mario Hieke Private Produktbeobachtung im Arzneimittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Sascha Werner Private Produktbeobachtung im Chemikalienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Tobias Teufer Private Produktbeobachtungspflichten im Lebensmittel- und Futtermittelrecht . 105 Gerhard Wagner Privatrechtliche Haftung und öffentlich-rechtliche Produktbeobachtung . . . . . . 115 Birgit Schmidt am Busch Verhältnis privater Produktbeobachtung und öffentlicher Aufsicht . . . . . . . . . . . 149 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Einführung Von Martin Eifert
I. Einleitung Der Begriff der „Produktbeobachtung“ durch Private ist kein übergreifender Rechtsbegriff. Er ist zunächst eine anschauliche Verkürzung der Pflichten zur Aufnahme, Sammlung, Auswertung oder Generierung von Informationen über im Verkehr befindliche Produkte durch Marktteilnehmer, insbesondere die Hersteller. Solche Pflichten zur fortlaufenden Beobachtung einmal in den Verkehr gebrachter Produkte finden sich in vielen Bereichen des Produktrechts und unter verschiedenen Bezeichnungen, etwa Nachmarktkontrolle oder Pharmakovigilanz. Ihre weite Verbreitung steht allerdings in deutlichem Kontrast zur äußerst spärlichen wissenschaftlichen Behandlung1, die allerdings für das Produktrecht insgesamt gilt2. Nachfolgend sollen die privaten Produktbeobachtungspflichten zunächst näher in die Verwaltungsrechtsentwicklung eingeordnet, ihre Ausgestaltung und Grenzen systematisch erfasst und schließlich ihre Bedeutung näher bestimmt werden.
II. Ein neues Instrument im neuen Jahrtausend? 1. Entstehung und Verbreitung privater Produktbeobachtung Eine Pflicht zur Produktbeobachtung ist bereits früh, nämlich 1988, erstmalig im AMG verankert worden.3 Zur breiteren Entfaltung kam der Ansatz aber erst im ersten 1 Die Ausnahme bildet die jüngst erschienene Arbeit von Christian Hofmann, Öffentlichrechtlich statuierte Produktbeobachtungspflichten als Mittel der Sicherheitsgewährleistung im Produkt-, Stoff- und Technikrecht, 2014. 2 Als Indikator dafür möge hier der Hinweis darauf genügen, dass auch die neueren ausführlicheren Lehrbücher zum Umweltrecht das Produktrecht mit Ausnahme der Chemikalienregulierung nach der REACH-VO allenfalls kursorisch behandeln (vgl. nur Dirk Ehlers/ Michael Fehling/Hermann Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2013, Siebtes Kapitel; Klaus Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 19 f.; Astrid Epiney, Umweltrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2013, S. 463 ff.). 3 § 63a Abs. 1 Satz 1 AMG a.F. eingefügt durch Gesetz vom 16. August 1986 mit Wirkung vom 1. Januar 1988; vgl. jetzt §§ 63a ff. AMG; frühzeitig auch § 31 Abs. 2 MPG 94 in überschießender Regelung als Umsetzung der Zielrichtung des Art. 10 der Ril 93/42/EWG, später erfolgte die Anpassungen im Medizinproduktebereich in Umsetzung der europäischen
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Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit der zunehmenden Einbeziehung der Hersteller und Händler in das allgemeine Recht der präventiven Produktsicherheit. Im Jahr 2002 erfolgten Regelungen im Bereich der Produktbeobachtung für Lebensmittel4, Pflanzenschutzmittel5 und Biozide6, 2003 für Futtermittel7 und den Bereich der Gentechnik8 und im darauf folgenden Jahr 2004 für das allgemeine Produktsicherheitsrecht9. Im Rahmen der umfassenden Novellierung des Chemikalienrechts mit der REACH-VO10 im Jahr 2006 wurden auch für diesen großen Bereich BeobachtungsRichtlinien (beispielhaft das ÄndG 2009 als Umsetzung der Ril 2007/47/EG, 93/42/EWG und 98/8/EG). Zur Produktbeobachtung im Anwendungsbereich des AMG siehe auch Mario Hieke, Private Produktbeobachtung im Arzneimittelrecht, in diesem Band, S. 79 ff. 4 Art. 6, 17, 19 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit. Zur Produktbeobachtung im Lebensmittelrecht siehe auch Tobias Teufer, Private Produktbeobachtung im Lebensmittelund Futtermittelrecht, in diesem Band, S. 105 ff. 5 § 15 Abs. 7 PflSchG (a.F.) durch Gesetz vom 6. August 2002 mit Wirkung vom 1. November 2002, jetzt §§ 36 Abs. 5, 37 PflSchG und Art. 6 lit. i) der Verordnung (EG) Nr. 1107/ 2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/ 414/EWG des Rates. 6 § 16 f Abs. 1 ChemG a.F.: Eingefügt durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 98/ 8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten (Biozidgesetz) vom 20. Juni 2002; die Vorschrift wurde durch Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 vom 23. Juli 2013 mit Wirkung vom 1. September 2013 aufgehoben. 7 Art. 7 Abs. 3 lit. g) der Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über Zusatzstoffe zur Verwendung in der Tierernährung. Zur Produktbeobachtung im Futtermittelrecht siehe auch Teufer, Lebensmittel- und Futtermittelrecht (Fn. 4), S. 105 ff. 8 Art. 6 Abs. 5 lit. e) der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel; vgl. ferner Verordnung (EG) Nr. 641/2004 der Kommission vom 6. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich des Antrags auf Zulassung neuer genetisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel, der Meldung bestehender Erzeugnisse und des zufälligen oder technisch unvermeidbaren Vorhandenseins genetisch veränderten Materials, zu dem die Risikobewertung befürwortend ausgefallen ist. Zur Produktbeobachtung im Gentechnikrecht siehe auch Achim Willand, Private Produktbeobachtung im Gentechnikrecht, in diesem Band, S. 61 ff. 9 § 5 des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte – Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG) – vom 6. Januar 2004 mit Wirkung vom 1. Mai 2004; jetzt § 6 Abs. 2, Abs. 3 ProdSG (Gesetz vom 8. November 2011). Siehe hierzu auch Thomas Klindt, Produktbeobachtung zwischen Produktsicherheit und Social Media, in diesem Band, S. 55 ff. 10 Art. 22 Abs. 2 lit. e); 31 Abs. 9 lit. a); 32 Abs. 3 lit. a) Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der
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pflichten aufgenommen und man wird solche Regelungen mittlerweile entsprechend zum Standardrepertoire der allgemeinen und besonderen Produktregulierung zählen können.11 Die Verbreitung der Produktbeobachtungspflichten durch Private ist zugleich die Entfaltung europäischen Verwaltungsrechts, denn die Regelungen bilden regelmäßig eine Umsetzung europäischer Vorgaben oder sind sogar direkt europäische Verordnungen.12 Dieser systematische und zeitliche Entwicklungszusammenhang legt eine übergreifende Betrachtung als Instrument des Verwaltungsrechts besonders nahe. Es ist zwar immer problematisch, angesichts des Rechts des Gesetzgebers zur relativen Willkür eine querliegende Rationalität in verschiedenen Gesetzen zu suchen, so lange diese nicht ihrerseits rechtlich, insbesondere durch höherrangige Rechtsnormen geboten ist. Denn hier besteht immer die Gefahr, dem Recht die Rationalität des Wissenschaftlers unterzuschieben statt dessen Regelungen ernst zu nehmen.13 Wenn es sich wie hier aber um eine Entwicklung in einem relativ engen Zeitfenster handelt, die sich auf einen strukturell gleichen Bereich (Produktrecht) bezieht und auf den gleichen Rechtsetzer zurückgeht, liegt es nahe, dass sich gemeinsame Grundlagen entdecken und nicht nur zuschreiben lassen. 2. Private Nachmarktbeobachtung im Kontext der Verwaltungsrechtsentwicklung Die Entfaltung einer Produktbeobachtung nach Markteinführung fügt sich auf den ersten Blick organisch in die allgemeinen Tendenzen des Verwaltungsrechts dieser Zeit ein. Der prägende Grundzug seit den 1990er Jahren war die sich verstärkende Kooperation von Staat und Privaten. Funktionale Privatisierung, Kooperationsprinzip, Verantwortungsteilung und Gewährleistungsverantwortung sind begriffliche Erfassungen und Konzepte von Rechtsentwicklungen, die in verschiedenen Spielarten
Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/ 67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission. Zur Produktbeobachtung nach der REACH-Verordnung siehe auch Sascha Werner, Private Produktbeobachtung im Chemikalienrecht, in diesem Band, S. 89 ff. 11 Vgl. nur darüber hinaus noch § 3 Abs. 4 S. 3 der Zweiten Verordnung zum Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (Verordnung über die Sicherheit von Spielzeug), verordnet auf Grund des § 3 Abs. 1 des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes vom 6. Januar 2004; und ausführlich auch die Darstellung der genannten und weiterer spezieller Bereiche in Hofmann, Öffentlich-rechtlich Produktbeobachtung im Produkt-, Stoff- und Technikrecht (Fn. 1), S. 52 ff. 12 Vgl. nur die vorangehenden Nachweise. 13 Näher für die Herausbildung von Typen und weichen Leitbegriffen Martin Eifert, Zum Verhältnis von Dogmatik und pluralisierter Rechtswissenschaft, in: Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 79, 88 f.
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darauf zielten, die Privaten verstärkt in die Gemeinwohlsicherung einzubeziehen.14 Neben dieser Tendenz und sich zugleich mit ihr gut ergänzend entwickelte sich ein Verständnis des Verwaltungsrechts als ein Rahmen dauerhafter Begleitung und nicht nur punktueller Regelung gesellschaftlicher Problemlagen. Im Begriffspaar von Privatisierung und Privatisierungsfolgenrecht wird dies sprachlich anschaulich und in den Forderungen nach und Ansätzen von Lernen in Verwaltung und Verwaltungsrecht operationalisiert.15 Hiermit wiederum eng verbunden ist die enorm wachsende Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Information als Grundlage verwaltungsrechtlichen Handelns insbesondere im Bereich der Regulierung von Risiken. Die Erfahrung von Ungewissheit ließ hier den Wert von Wissen und Information plastisch hervortreten und die Mechanismen der Wissensgenerierung und -verbreitung in den Vordergrund rücken.16
14 Vgl. nur die Beiträge in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, Wolfgang Hoffmann-Riem/Jens-Peter Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996; die Referate auf der Staatsrechtslehrertagung 1996 von Schmidt-Preuss und di Fabio über „Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung“ in VVDStRL 56 (1997), S. 160 ff. bzw. 235 ff. und den Begleitaufsatz von Hans-Heinrich Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, DVBl. 1996, 950 ff. sowie die Beiträge in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat. Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, 1999; Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Beiheft 4 DV 2001 und das Referat von Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 266 ff. Zum verfassungsrechtlichen Rahmen der Produktbeobachtung vgl. auch Ivo Appel, Grundrechtliche Fragen privater Produktbeobachtungspflichten, in diesem Band, S. 27 ff. 15 Vgl. frühzeitig Rod Rhodes Interorganizational Networks and Control: A critical conclusion, in: Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.), The Public sector, 1991, S. 525, 530; der Gedanke entfaltete sich erst ab den 1990er Jahren im Verwaltungsrecht. Siehe näher Wolfgang Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht, in: ders./Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9, 63 ff.; Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 2. Aufl. 1995, S. 103 ff.; Martin Eifert, Regulierte Selbstregulierung und die lernende Verwaltung, in: Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Beiheft 4, DV 2001; Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003) (Fn. 14), 266, 325 f.; Claudio Franzius, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 4, Rn. 97 ff.; umfangreiche Aufarbeitung des Verwaltungsrechts als Informations- und Kommunikationsordnung in Wolfgang Hoffmann-Riem/ Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 2012, §§ 20 ff. 16 Zum Monitoring nach § 16c GenTG siehe Christoph Palme, Das neue Gentechnik-Gesetz, NVwZ 2005, 253 (256); zum Monitoring im Allgemeinen siehe Michael Kloepfer, Umweltrecht als Informationsrecht, UPR 2005, 41 (41 f.); Karsten Herzmann, Monitoring als Verwaltungsaufgabe, DVBl 2007, 670.
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In besonderer Weise haben sich diese Tendenzen im Umweltrecht abgebildet.17 Unter der Annahme, dass die Privaten in ihren Handlungsbereichen über ein reichhaltigeres und aktuelleres Wissen verfügen als die Behörden und dieses Wissen für die Verfolgung der öffentlichen Zwecke nutzbar gemacht werden könne und solle, bündeln sich die genannten Tendenzen dort in den Zulassungs- und Kontrollverfahren.18 In den Zulassungsverfahren werden den Privaten verstärkt Informationsbeibringungslasten auferlegt,19 die – wie im Bereich der UVP erstmals realisiert – über Informationen aus dem unmittelbaren Eigenbereich hinausgehen.20 Eigenverantwortlich durchzuführende Produktprüfungen vor der Markteinführung sind selbstverständlich21 und der Ausbau der Eigenkontrolle der Anlagenbetreiber22 bzw. der eigenverantwortlichen Unterwerfung von Unternehmen unter private Fremdkontrollen23 verlängert solche Ansätze in den Bereich der Kontrolle.
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Das Umweltrecht diente deshalb auch als Referenzgebiet innerhalb der allgemeinen Debatte um die Verwaltungsrechtsreform; die Diskussion anstoßend Wolfgang HoffmannRiem, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts als Aufgabe – Ansätze am Beispiel des Umweltschutzes –, AöR 115 (1990), S. 400 ff.; zum Kooperationsprinzip näher Hans-Joachim Koch, Umweltrecht, 2007, § 3 Rn. 17, 31, 34, 107 ff.; zur Wissenserzeugung Karl-Heinz Ladeur, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 225 (233 ff.). 18 Selbstverständlich treten zu dieser Funktion weitere Ziele hinzu, insbesondere die Hoffnung auf gesteigerte Akzeptanz, vgl. nur Andreas Voßkuhle, Der Wandel von Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht in der Informationsgesellschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 349 (366) m.w.N.; zu den vielfältigen Erscheinungsformen im Umweltrecht ausführlich nur Eberhard Schmidt-Aßmann/Clemens Ladenburger, Umweltverfahrensrecht, in: Hans-Werner Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum Europäischen und deutschen Umweltrecht, 2. Aufl. 2003, § 18, Rn. 38 ff.; Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 534. 19 Zu den Verlagerungen im Rahmen der Verwaltungsverfahren siehe Michael Kloepfer, Umweltrecht als Informationsrecht, UPR 2005, 41 (42 f.). 20 Vgl. §§ 1 Nr. 1, 5 ff. UVPG; grundlegend dazu Jens-Peter Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991; aus jüngerer Zeit nur Mareen Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, 2013. 21 Siehe als allgemeines Beispiel die von den Herstellern durchzuführenden Konformitätsbewertungsverfahren CE-Siegelpflichtiger Produkte (Art. 30 VO (EG) Nr. 765/2008); zum Ansatz des europäischen Produktzulassungsrechts grundlegend Hans-Christian Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, 2000. 22 Vgl. nur die ggf. von den Anlagenbetreibern vorzunehmenden kontinuierlichen Emissionsmessungen nach § 29 BImSchG. 23 Vgl. nur die eigenverantwortliche Beauftragung privater Umweltgutachter nach der EMAS-VO; zur Einführung des Systems nur Michael Kloepfer, NuR 1993, 353 ff.; zur jetzt geltenden EMAS III-VO Annette Schmidt-Räntsch, Die Novelle 2010 des Europäischen Umweltmanagements EMAS – Eine Partnerschaft mit Unternehmen als strategisches Konzept zur Erfüllung von Umweltzielen, EurUP 2010, 123 ff.
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Diese Entwicklungen im Umweltrecht waren (ebenso wie die Produktbeobachtung) maßgeblich europäisch induziert.24 Dies ist nicht zufällig und auch nicht primär das Ergebnis eines verkrusteten nationalen Rechts, sondern vor allem auch die Folge einer spezifischen Wahrnehmung von Vor- und Nachteilen der Einbeziehung Privater aus einer europäischen Perspektive.25 Aus nationaler Perspektive steht bei einer Verlagerung von Verfahrensteilen von der Behörde auf Private der Erschließung privaten Wissens immer die Gefahr des Verlustes von Neutralität und Gemeinwohlorientierung gegenüber. Aus europäischer Perspektive ist die mitgliedstaatliche Verwaltung aber nicht nur interessenneutral und gemeinwohlsichernd, sondern auch potentiell die eigene Wirtschaft bevorzugend.26 Und umgekehrt wird bei einer Verlagerung nicht nur privates Wissen erschlossen, sondern zugleich eine europäische Vereinheitlichung möglich. Damit sind aus der europäischen Perspektive im Vergleich zur nationalen bei solchen Verlagerungen auf die Privaten die Nachteile geringer und die Vorteile größer. Die privaten Produktbeobachtungspflichten liegen geradezu im Schnittpunkt dieser Entwicklungen.27 Sie bilden eine Verlagerung der Marktüberwachung partiell von den Behörden auf Private, hoffen auf deren überlegenes Wissen durch Marktnähe, erweitern die punktuellen Zulassungsverfahren zeitlich zu einem dauerhaften, mehrstufigen Überwachungsverhältnis und generieren fortlaufend Risikowissen durch Beobachtung und Verarbeitung von Produktgefahren. Zugleich weisen Sie aber auch evidente Besonderheiten auf.28 Die Nachmarktbeobachtung kennt im Gegensatz zu den Verwaltungsverfahren bei der Zulassung weder ein zeitlich vordefiniertes Ende noch erfolgen sie im Rahmen eines vergleichbar engen Kommunikationsverhältnisses zwischen Behörde und Privaten. Ihr Gegenstand, die im Verkehr befindlichen Produkte und deren Verwendung, ist räumlich und thematisch sehr viel breiter und unschärfer als die Eigenüberwachung von Anlagenemissionen. Und der Informationsvorsprung durch Sachnähe ist angesichts der räumlichen Zerstreuung und der bedeutenden Rolle der Verwender als Dritte weniger evident als bei Ge24
Siehe nur Fn. 19 und Fn. 22. Grundlegend für diese Perspektive auf das Vertrauen sowie vertrauens- und einheitssichernde Strukturen Hans-Christian Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, 2000, S. 44 ff. bezogen auf die Sicherung demokratischer Legitimation im Bereich der Produktzulassung. 26 Vgl. bereits frühzeitig Giandomenico Majone, Mutual Trust, Credible Commitments and the Evolution of Rules for a single European Market, 1995, S. 19 ff. 27 Vgl. etwa hinsichtlich § 5 GPSG als Beipiel der Kooperation Gerd Hagena/Rod Freeman/Fabian Volz, Die behördliche Meldung unsicherer Verbraucherprodukte nach dem neuen Geräte- und Produktsicherheitsgesetz und ihre europäische Dimension, BB 2005, 2591 (2594); für das Zusammenwirken von Staat und Privaten ebenfalls im Produktsicherheitsrecht auch Jürgen Fluck/Silke Sechting, Öffentlich-rechtliches Verbraucherschutz und Produktsicherheitsrecht, DVBl 2004, 1392 (1393). 28 Zu den Besonderheiten gegenüber dem klassischen Verwaltungsverfahren vgl. auch Birgit Schmidt am Busch, Verhältnis privater Produktbeobachtung und öffentlicher Aufsicht, in diesem Band, S. 150 (159 ff.). 25
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fährdungen aus selbst beherrschten Bereichen. Immerhin kann aber zumindest ein überlegenes Wissen um Markt und Vertriebswege und die Kenntnis von Vertreibern und Beschwerdestellen unterstellt werden. Insgesamt erweisen sich die Produktbeobachtungspflichten damit auf den ersten Blick als zeitgemäßes, aber dennoch eigenständiges Charakteristikum des Umwelt-/Produktrechts. 3. Ein übersehenes Instrument? Angesichts dieses Zwischenbefundes überrascht, dass zwar über alle anderen genannten Entwicklungen und Regelungen intensiv geschrieben, geforscht und teils auch gestritten wurde, nicht aber über die Produktbeobachtung.29 Eine entsprechende Diskussion hat sich vielleicht weniger aufgedrängt, weil die Produktbeobachtung gesetzgeberisch nur im Bereich der Gentechnik begrifflich ausdrücklich als solche ausgeflaggt und ausgestaltet war. Wissenschaft und Praxis sind allerdings auch sonst nicht auf ausdrückliche gesetzgeberische Hinweise angewiesen, um Entwicklungen und neue Instrumente zu erkennen. Näher zu liegen scheint, dass die Produktbeobachtung nicht als grundsätzlich neu empfunden wurde oder als neues Regime nicht klar genug konturiert war. Nachfolgend soll deshalb eine genauere Analyse der zunächst nur pauschal benannten Pflichten erfolgen.
III. Ausgestaltung und Grenzen 1. Private Produktbeobachtung und haftungsrechtliche Produktbeobachtung Die Pflicht zur Produktbeobachtung insbesondere für Hersteller ist als Inhalt durch die oben dargestellten Rechtsakte nicht neu geschaffen worden. Sie ist vielmehr schon lange als spezieller Fall der Verkehrssicherungspflicht anerkannt. Seit der Bundesgerichtshof in den bekannten „Apfelschorf“-Fällen30 1981 den Hersteller für verpflichtet hielt, seine Produkte nach Inverkehrbringen auf noch unbekannte schädliche Eigenschaften hin zu beobachten und sich über Gefahren verursachende Folgen der Verwendung zu informieren, sind sie grundsätzlich anerkannt und in der Folge ausdifferenziert worden.31
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Zur Ausnahme siehe aber Fn. 1. BGH, Urt. v. 17. 03. 1981 – VI ZR 286/78, BGHZ 80, 199, Ls. und S. 202 ff. – Apfelschorf II; BGH, Urt. v. 17. 03. 1981 – VI ZR 191/79, BGHZ 80, 186, 191 – Apfelschorf I. 31 Siehe nur Gerhard Wagner, in: Franz Jürgen Säcker/Roland Rixecker/Hartmut Oetker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 823, Rn. 673 f. m.w.N.; hierzu und zu damit zusammenhängenden Pflichten auch ders., Privatrechtliche Haftung und öffentlich-rechtliche Produktbeobachtung, in diesem Band, S. 115 ff. 30
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Grundsätzlich ist danach der Umfang der Produktbeobachtung abhängig vom Ausmaß der Gefährdung, dem Umfang des drohenden Schadens und der wirtschaftlichen Zumutbarkeit.32 Dabei wird unterschieden zwischen einer passiven Produktbeobachtung (systematische Sammlung von Beschwerden) und einer aktiven Produktbeobachtung, zu der die Sammlung von Informationen über vergleichbare Produkte und die Auswertung von Fachzeitschriften gehören.33 Auch wenn der Inhalt also nicht grundsätzlich neu war, haben die Rechtsakte dieser haftungsrechtlichen Pflicht doch einen öffentlich-rechtlichen Strang im Rahmen der speziellen Gesetze zur Gefahrenabwehr zur Seite gestellt. Dabei wurden Pflichten geschaffen, die zu einer Effektivierung der grundsätzlich bereits angelegten Verantwortlichkeit führen. Dies betrifft insbesondere die Sicherung der Reaktionsmöglichkeit im Krisenfall, die auch einen Rückruf umfasst34 und z. B. im Lebensmittelrecht über Dokumentationspflichten eine Rückverfolgbarkeit als Voraussetzung einer vollständigen Risikobekämpfung sichert35. Wie bedeutsam sind aber die Ergänzungen hinsichtlich der hier interessierenden Produktbeobachtung? 2. Der konzeptionelle Vorteil öffentlich-rechtlicher Beobachtungspflichten Konzeptionell ließe sich auf einer allgemeinen Ebene an die übergreifende Erzählung des Siegeszugs öffentlich-rechtlicher Prävention gegenüber der zivilrechtlichen Haftung anschließen.36 Danach besteht im Zivilrecht eine Pflicht zur Produktbeobachtung als Verkehrssicherungspflicht, deren Einhaltung im gerichtlich anhängigen Schadensfalls geprüft wird und über die Haftung entscheidet. Dabei haben die Pflichten allerdings auch einen präventiven Effekt, weil die Hersteller sich um ihre Einhaltung bemühen, um zukünftig einer Haftung zu entgehen. Konzeptionell haben die öffentlich-rechtlichen Pflichten vier Vorteile gegenüber einem solchen privatrechtlichen Haftungsregime: Sie können zunächst den Kreis der Adressaten eigenständig bestimmen, weil die öffentlich-rechtliche Verantwortlich32
Wagner (Fn. 31), § 823 Rn. 673, 645. Wagner (Fn. 31), § 823 Rn. 673 f. 34 Vgl. § 6 Abs. 2 ProdSG. 35 Vgl. Art. 18 VO (EG) Nr. 178/2002. 36 Vgl. dazu für diesen Themenbereich konkret Hofmann, Öffentlich-rechtlich Produktbeobachtung im Produkt-, Stoff- und Technikrecht (Fn. 1), S. 40 ff. Es handelt sich dabei um den Schnittpunkt der Entwicklung des Verbraucherschutzrechts, für das allgemein eine Gemengelage von öffentlichem Recht und Privatrecht angenommen und als sachgerecht erachtet wird und dem Gefahrenabwehrrecht, das sich als Domäne des öffentlichen Rechts etabliert hat. Vgl. zur Seite des Verbraucherschutzes nur die Referate von Johannes Hellermann und Wolfgang Durner, Schutz der Verbraucher durch Regulierungsrecht, VVDStRL 70 (2011), 360, 372 ff. bzw. 398, 419 ff. 33
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keit dem Gesetzgeber hier einen großen Spielraum lässt.37 An diesem Punkt war die Fortentwicklung allerdings eher graduell. Der zentrale Strukturunterschied liegt in drei Punkten, die den Mechanismus an sich betreffen: Öffentlich-rechtliche Pflichten werden erstens ex-ante festgelegt. Sie können damit von vornherein als Begleitung von Risiken eingesetzt werden. Sie bestehen zweitens unabhängig von einer Verletzung privater Rechtsgüter und werden auch unabhängig von dieser vollstreckt. Damit können etwa auch ökologische Gefährdungen von vornherein einbezogen werden und wird die Implementation unabhängig von der Klagebereitschaft möglicher Verletzter. Und sie können drittens durch Fortschreibung der Pflichten fallunabhängig, flächendeckend und unmittelbar wirksam weiterentwickelt und neuen Lagen angepasst werden. Aufgrund dieser strukturellen Eigenarten soll nach der gängigen Geschichtserzählung der Verwaltungsrechtler38 in besonders guter Weise der präventive Rechtsgüterschutz ermöglicht werden, der im Zivilrecht (scheinbar) nur Nebeneffekt einer retrospektiv angelegten Haftung ist. Das Problem dieses öffentlich-rechtlichen Mechanismus ist allerdings, dass er hinreichend bestimmte Pflichten voraussetzt. 3. Begrenzte Reichweite der öffentlich-rechtlichen Produktbeobachtungspflichten Bei einem genaueren Blick auf die öffentlich-rechtlichen Pflichten zur Produktbeobachtung zeigt sich aber, dass sie nur in einem kleineren Bereich wirklich bestimmt sind. Im Bereich allgemeiner Produktbeobachtung formulieren sie kaum mehr als eine Erwartung, die gerade keine eigenständige Vollstreckbarkeit ermöglicht. a) Unmittelbare Ausgestaltung nur bei erkennbaren Risikopotentialen Operationalisierte Pflichten zur Produktbeobachtung bestehen in den Fällen, in denen die Risikopotentiale bereits erkennbar sind. aa) (Fast) keine generelle Ausgestaltung durch Gesetz Dabei gibt es allerdings grundsätzlich fast keine generelle Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Nur § 16c GenTG verlangt, dass wer als Betreiber Produkte, die aus gentechnisch veränderten Organismen (GVO) bestehen oder solche enthalten, in Verkehr bringt, diese zu beobachten hat. Und in § 16c Abs. 2 GenTG werden konkrete Ziele der Beobachtung benannt, namentlich die fallspezifische Beobachtung 37
Vgl. nur Martin Eifert, Umweltschutzrecht, in: Friedrich Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, S. 547 (563). 38 Vgl. nur Christian Hofmann, Öffentlich-rechtlich Produktbeobachtungspflichten im Produkt-, Stoff- und Technikrecht (Fn. 1), S. 40 ff.
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einerseits, die sich auf die Bestätigung der Annahmen über die Auswirkungen des Produkts bezieht, und die allgemeine Beobachtung andererseits, die danach fragt, ob es zu Auswirkungen kommt, die bei der Risikobewertung nicht vorhergesehen wurden. Die unterschiedliche Regelungsdichte ist durchaus bemerkenswert. Denn bei der Verankerung der Beobachtungspflicht im Gentechnikgesetz im Jahr 2004 ging der Gesetzgeber ausweislich seiner Begründung davon aus, dass die Grundzüge und Zwecke der Beobachtung wegen ihrer zentralen Bedeutung für den Schutz der Rechtsgüter einer gesetzlichen Regelung bedürften.39 Scheinbar sogar noch genauer hat der Gesetzgeber sich der Beobachtung im allgemeinen ProdSG angenommen. Dort wird in § 6 Abs. 3 u. a. für den Hersteller festgeschrieben, dass er Stichproben durchzuführen habe, also am Markt Produkte zurückkaufen muss. Diese Anforderung kann allerdings nur die unmittelbaren Produkteigenschaften und nicht Produktauswirkungen erfassen und wird vor allem im Anwendungsbereich stark relativiert. Welche Stichproben geboten sind, hängt vom Grad des Risikos ab, das mit den Produkten verbunden ist, sowie von den Möglichkeiten, dieses Risiko zu vermeiden.40 Der zentrale Grund für die geringe gesetzgeberische Ausgestaltung liegt wohl darin, dass besonders risikobehaftete Produkte regelmäßig einer Zulassungspflicht unterliegen und die Produktbeobachtung dann als Nebenbestimmung zur Zulassung ohnehin individuell und produktbezogen konkretisiert werden kann und muss. Dies gilt zwar auch hinsichtlich der GVO41, aber dort ist der Beobachtungsrahmen mit der allgemeinen Beobachtung besonders weit gesteckt worden und diente das gesetzliche Ausflaggen der Beobachtung sicher auch der Akzeptanzsicherung im grundsätzlich geführten gesellschaftlichen Streit.42 bb) Behördliche Konkretisierung als Nebenbestimmung Soweit die Beobachtungspflichten als Nebenbestimmungen auferlegt werden können, strukturieren die Gesetze regelmäßig eine kooperative Konkretisierung und Kontrolle vor.43 Ausgangspunkt ist dabei regelmäßig der Vorschlag des Antragsstellers hinsichtlich des Beobachtungsprogramms. Dies liegt schon deshalb nahe, weil 39
So ausdrücklich die Begründung zur im Entwurf noch in § 16d verorteten Regelung (BR-Drs. 131/04, S. 61). 40 § 6 Abs. 3 S. 2 ProdSG; näher dazu Arun Kapoor, in: Klindt (Hrsg.), Produktsicherheitsgesetz Kommentar, 2. Aufl., 2015, § 6, Rn. 58 ff. 41 Siehe nur § 16c GenTG; Art. 5 V lit. b) VO (EG) 1829/2003. 42 Bereits der europäische Rechtsrahmen war in der EU heftig umstritten (vgl. Krämer, EU Environmental Law, 7. Aufl. 2012, 6 – 43 ff.). 43 Besonders anschaulich ist die verbreitete Grundstruktur in Art. 8 ff., Art. 14 der TierernährungszusatzstoffVO – VO (EG) 1831/2003 zusammengefasst. Vgl. aber ferner §§ 15 ff. GenTG; Art. 5, 6, 13 ff., 20 PflanzenschutzmittelVO (VO (EG) 1107/2009); §§ 33 ff. PfanzenschutzG; Art. 4 ff. Gen-NahrungmittelVO (EG) Nr. 1829/2003; §§ 21, 25, 28, 30 f. AMG; § 14 ff., 21 GenTG.
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sich das Programm primär aus den Risikoanalysen ergeben muss, die im Rahmen des Zulassungsantrags entstehen und dabei regelmäßig vom Antragsteller vorzunehmen und vorzulegen sind. Die Behörde nimmt dann im Anschluss an den Vorschlag ein Beobachtungsprogramm in die Nebenbestimmung auf, wobei es sich regelmäßig aus einem kritischen Nachvollzug der vorgeschlagenen Maßnahmen ergeben dürfte. Bei der Festlegung laufen die Aushandlungsprozesse wahrscheinlich ähnlich ab, wie es für die UVP im Genehmigungsverfahren vorgesehen ist, also zweistufig durch ein screening der potentiellen Auswirkungen und das scoping, also die Festlegung des Beobachtungsrahmens. Ob man dies wie bei der UVP rechtlich vorstrukturiert oder wie hier der Verwaltungspraxis überlässt, ist letztlich nicht entscheidend. Die Antragsteller werden weiterhin einer Berichtspflicht unterworfen, die das Beobachtungsprogramm nachhaltig mit der behördlichen Aufsicht verkoppelt. Eine Dynamisierung des Beobachtungsprogramms ergibt sich schließlich darüber, dass die Zulassungen angesichts der auch das Beobachtungsprogramm rechtfertigenden Ungewissheit über die Risiken regelmäßig nur befristet erteilt werden dürfen und im Rahmen der erforderlichen Verlängerung auch die Evaluation der Beobachtung und der Beobachtungsergebnisse erfolgen kann.44 Über die Anknüpfung an die Zulassungsvoraussetzungen ergibt sich auch organisch eine dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechende jeweilige Abstufung der Beobachtungspflicht. Dies wird im Pflanzenschutzrecht vom Gesetzgeber besonders anschaulich ausbuchstabiert. Die Möglichkeit der Anordnung von Beobachtungspflichten hängt jeweils von der Erforderlichkeit zur Erfüllung des Schutzzwecks ab.45 Bei einer Anordnung findet wiederum eine nach dem Schadenspotential gestufte Differenzierung der Melde- und Informationspflichten statt.46 Aktive Informationssammel- und Auswertungspflichten mit unverzüglicher Berichtspflicht bestehen hinsichtlich potenziell schädlicher oder unannehmbarer Auswirkungen. Unterhalb dieser Schwelle wird nur dann ein jährlicher Bericht gefordert, wenn Informationen über unerwartete Auswirkungen vorliegen. b) Breite Mitteilungs- und Informationspflichten als Anker für Produktbeobachtungspflichten Neben diesen speziellen, auf einzelne Produkte hin konkretisierten Beobachtungsprogrammen finden sich in den Gesetzen regelmäßig auch allgemein aufgegebene Pflichten zum Sammeln von Informationen und vor allem Pflichten für Mitteilungen an die Überwachungsbehörde. So verlangt § 63a Abs. 1 S. 1 AMG: „Wer … Arzneimittel … in den Verkehr bringt, hat … (Stufenplanbeauftragte) zu beauftragen, ein Pharmakovigilanzsystem einzurichten, zu führen und bekannt gewordene 44 Vgl. Arnd Pannenbecker, in: Wilfried Kügel/Rolf-Georg Müller/Hans-Peter Hofmann (Hrsg.), Arzneimittelgesetz Kommentar, 2012, § 4b, Rn. 35. 45 Vgl. § 36 Abs. 5 PflSchG. 46 Art. 56 VO 1107/2009.
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Meldungen über Arzneimittelrisiken zu sammeln, zu bewerten und die notwendigen Maßnahmen zu koordinieren.“ Und § 63d Abs. 1 Nr. 2 AMG verlangt etwas konkreter regelmäßige aktualisierte Unbedenklichkeitsberichte („Der Inhaber der Zulassung übermittelt regelmäßige aktualisierte Unbedenklichkeitsberichte, die Folgendes enthalten: eine wissenschaftliche Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses des Arzneimittels, die auf sämtlichen verfügbaren Daten beruht, …“). Für Chemikalien bestimmt Art. 22 Abs. 1 S. 1 lit. e) REACH-VO als Pflicht des Registranten, dass er nach der Registrierung dafür verantwortlich ist, „aus eigener Initiative seine Registrierung unverzüglich anhand der einschlägigen neuen Informationen zu aktualisieren und … zu übermitteln“. So, wenn „neue Erkenntnisse über die Risiken des Stoffes für die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt [vorliegen], von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie dem Registranten bekannt geworden sind, und die zu Änderungen des Sicherheitsdatenblatts oder des Stoffsicherheitsberichts führen.“ Für Lebensmittel bestimmt schließlich Art. 19 Abs. 3 S. 1 Basis-VO: „Erkennt ein Lebensmittelunternehmer oder hat er Grund zu Annahme, dass ein … Lebensmittel möglicherweise die Gesundheit des Menschen schädigen kann, teilt er dies unverzüglich den zuständigen Behörden mit.“ Solche Mitteilungspflichten legen notwendig die Erhebung der Informationen und eine entsprechende Produktbeobachtung nahe oder setzen sie sogar voraus. aa) Unbestimmtheit bei der Ableitung aus Informationsund Mitteilungspflichten Diese allgemeinen Pflichten begegnen aber einer doppelten Unbestimmtheit. Schon das konkrete Untersuchungsprogramm ist kaum eindeutig zu bestimmen, weil die möglichen Maßnahmen zur Informationserhebung sehr variabel und gesetzlich regelmäßig nicht näher bestimmt sind. Schon bei einer groben Kategorisierung ergibt sich eine Skala von der bloßen Kenntnisnahme zugetragener Informationen über eine systematische Sammlung und ggf. Auswertung öffentlich zugänglicher Informationen bis zur Generierung neuer Informationen. Die Variabilität vergrößert sich nochmals erheblich, wenn man diese Kategorien konkretisieren will. Die Kenntnisnahme kann von der bloßen Entgegennahme aufgedrängter Informationen bis zur Forderung nach einer publizierten Infrastruktur der Entgegennahme reichen, wie sie etwa in Form von Beschwerdestellen und Beschwerdetelefonen vorgehalten werden kann. Eine systematische Sammlung von Informationen kann sich auf Skandalberichterstattung beschränken, ein Monitoring der Fachöffentlichkeit verlangen oder die aktive Suche auch in Social Media verlangen, bei der eine Grenzziehung wiederum sehr schwierig wird.47 Die Generierung neuer Informationen wiederum kann vom 47
Schon, wenn es heißt, dass „aufgetretene Fälle“ mitgeteilt werden müssen, wirft dies die Frage auf, in welchem Umfang das Auftreten beobachtet werden muss (ggf. mit der Folge notwendig organisatorischer Sicherstellung der eigenen Kenntnisnahme), z. B. AMG § 63b Abs. 3 a.F. (bis 05) und § 63b Abs. 3 sowie merkwürdigerweise unklar, aber vom Wortlaut in diese Richtung § 63b Abs. 4; zu den Schwierigkeiten, die Reichweite von Recherchen in den
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bloßen Aufbau eines aktiv betriebenen Informationsnetzwerks bis zur kontinuierlichen Risikoforschung reichen. Neben dieser Unbestimmtheit des Beobachtungsinhalts besteht auch eine Unbestimmtheit hinsichtlich des angemessenen Umgangs mit den Ergebnissen. Wie sind die Aussagen und Daten zu interpretieren? Insbesondere bei kleinen Zahlen stellt sich immer die Frage, wann Wirkungen der untersuchten Produkte vorliegen und wann es sich um bloße Zufälligkeiten handelt.48 Bei Recherchen in Social Media ist zu klären, wann sich nur Frust oder Markenhass artikulieren und wann ein tatsächliches Problem zu Grunde liegt. Unbestimmtheit ist allerdings in gewisser Weise der Normalfall der Juristerei. Und auch hier lassen sich selbstverständlich verschiedene Ansatzpunkte entwickeln, um den Umfang einer gebotenen Produktbeobachtung abzustecken. So können erste Anhaltspunkte aus der grundsätzlichen Funktion der jeweiligen Nachmarktpflichten abgeleitet werden. So kann sie grundsätzlich konzipiert sein als Verstetigung der Pflicht zur Risikoabschätzung oder als bloße Kontrolle der grundsätzlich als vorläufig abschließend angesehenen Risikoabschätzung aus der Vormarktphase. Entsprechend wären die Produktbeobachtungspflichten auszurichten. Eine Verstetigung der Pflicht zur Risikoabschätzung legt es nahe, dass wie in der Vormarktphase fortlaufend eine umfassende Risikoabschätzung stattfinden muss. Folge sind jedenfalls weitreichende Beobachtungspflichten, eventuell auch Forschungspflichten und nicht nur eine „bloße“ Beobachtung als Sammlung und evtl. Auswertung allgemein zugänglicher Informationen. Dieses Leitbild ist am deutlichsten verwirklicht im GenTG49. Es verwirklicht sich aber auch im Bereich der Pflanzenschutzmittel (Art. 56 VO 1107/2009) und in seine Richtung gehen auch recht eindeutig zahlreiche Regelungen des AMG mit seinem Pharmakovigilanzsystem (etwa § 63d Abs. 1 Nr. 2 AMG). Ein Leitbild der bloßen Kontrolle der grundsätzlich als vorläufig abschließend angesehenen Risikoabschätzung aus der Vormarktphase legt es nahe, dass es (nur) um die Sammlung von Informationen geht, die diese Einschätzung zumindest erschüttern, und dass allenfalls anlassbezogen eine Informationsgenerierung erforderlich wird. Die Kontrolle kann aber immer noch als systematisch organisierte gefordert sein oder sich nur auf die Kenntnisnahme von Informationen beziehen, die zugetragen werden. In die Richtung einer solchen Kontrolle weisen Regelungen wie § 30 Abs. 4 MPG („…bekannt gewordene Meldungen über Risiken bei Medizinprodukten zu sammeln, zu bewerten und die notwendigen Maßnahmen zu koordinieren“). Social Media zu bestimmen am Beispiel der Produktsicherheit vgl. Klindt, Produktsicherheit und Social Media (Fn. 9), S. 55 (59). 48 Vgl. nur Olaf Dilling, Grenzüberschreitende Produktverantwortung, 2010, S. 88 und seine Interviews für eine betrieblich organisierte Produktbeobachtung bei Automobilen und die dort bedeutsame Frage, welche Ereignisse durch Teile des Automobils und welche durch Zubehör ausgelöst sind. 49 § 16c GenTG; vgl. auch Erwägungsgründe 43 und 52 der Ril 2001/18/EG.
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Die jeweilige grundsätzliche Funktion muss ihrerseits aber zunächst mit Blick auf eine Gesamtschau der jeweiligen Gesetze herausgearbeitet werden. Das hierfür naheliegende Kriterium der Bedeutung der Schutzgüter hilft hier allerdings kaum weiter. Durchgängig geht es bei den Gesetzen auch um Gesundheitsschutz und damit um ein hochrangiges Rechtsgut. Einen plausiblen Anhaltspunkt bietet aber noch die Abschätzbarkeit der Risiken vor der Markteinführung. Je besser diese abschätzbar sind, desto eher wird es später nur um eine Kontrolle gehen und je größer die Unsicherheit ist, desto eher wird das verbliebene Experiment im Echtbetrieb schon aus Gründen des Gesundheitsschutzes einer fortlaufenden umfassenden Risikoabklärung unterworfen sein. Einzelne Gesetze dokumentieren diese Grundwertung deutlich, etwa das Medizinprodukte-Gesetz. Nach § 4 Medizinprodukte-Verordnung ist für Sonderanfertigungen eine besonders genau vorgegebene systematische Marktbeobachtung und ggf. Information der zuständigen Behörden vorzunehmen, was der geringeren Abschätzbarkeit der Risiken mangels breiterer Erfahrungsgrundlage entspricht. Ähnliches lässt sich im Bereich des Pflanzenschutzrechts nachzeichnen, wenn dort nach Art. 56 der VO 1107/2009 alle für die Zulassungskriterien relevanten Informationen unverzüglich mitzuteilen sind, andere unerwartete Auswirkungen aber nur in einem jährlichen Bericht übermittelt werden müssen. Verallgemeinert man diesen Gedanken, könnte man ihn auch für Differenzierungen in gesetzgeberisch weit gefassten Bereichen fruchtbar zu machen versuchen. Ein Beispiel wäre die Pflicht zur risikogemäßen Ziehung von Stichproben nach § 6 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 ProdSG. Hier lässt sich grundsätzlich argumentieren, dass die Notwendigkeit einer umfassenden vorgelagerten Produktbeobachtung besteht, weil fortlaufend das Risiko ermittelt werden muss, an dem die Stichproben auszurichten sind. Es ließe sich aber auch argumentieren, dass bei relativ verlässlich abschätzbaren Risiken eine bloße Kontrolle der Bewertung erfolgen muss, so dass für diesen Bereich von vornherein auch Zufallsstichproben zulässig wären. Schließlich kann auch die generelle Verteilung der Informationslasten zwischen Staat und Hersteller noch berücksichtigt werden. Es lässt sich vermuten, dass der Gesetzgeber für die verschiedenen Marktphasen ähnliche Wertungen vorgenommen hat. Soweit in der Vormarktphase die Hersteller stark in die Informationsgenerierung eingebunden waren, dürften sie auch für die Beobachtung des weiteren Geschehens auf dem Markt Verantwortlichkeiten treffen. Insgesamt können damit als Kriterien herangezogen werden: – Abschätzbarkeit der Risiken, – Schutzgüter und Ausmaß ihrer Gefährdungen sowie – generelle Verteilung der Informationslasten zwischen Staat und Privaten im Sachbereich.
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Entscheidend ist hier aber, dass bei allen interpretatorischen Anstrengungen aus diesen Kriterien nur Tendenzaussagen abgeleitet werden können. Ein Beobachtungsprogramm lässt sich im Wege der Interpretation der allgemeinen Bestimmungen nicht gewinnen. bb) Mangelnde Durchsetzbarkeit als Folge mangelnder Bestimmtheit Angesichts der verbleibenden Unbestimmtheit des allgemeinen Beobachtungsprogramms sind diese Pflichten auch nicht als solche durchsetzbar. Dabei geht es nicht darum, dass eine Vollstreckung von Mitteilungspflichten von vornherein sinnlos ist, weil die Behörde nur weiß, dass ihr etwas gesagt werden müsste, wenn sie schon weiß, was ihr gesagt werden sollte. Es scheitert vielmehr auch jeder öffentlich-rechtliche Anreiz zur Produktbeobachtung durch Sanktionierung der Verletzung von auf eigene Produktbeobachtung zielenden Mitteilungspflichten etwa als Ordnungswidrigkeit.50 Selbst konkrete Regelungen wie die Stichprobenentnahme nach ProdSG sind nicht bußgeldbewehrt, weil sie gesetzlich nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Risiko gefordert und damit nicht hinreichend bestimmt für eine Ahndung sind. cc) Begrenzte Sicherung sachgerechter Beobachtung durch Organisationsvorgaben Angesichts der verbleibenden beträchtlichen Offenheit der Beobachtungspflichten ist es für die Adressaten schwierig, ein konkretes Beobachtungsprogramm zu gestalten, und angesichts der mangelnden Durchsetzbarkeit besteht eine besondere Gefahr zu systematischer Vernachlässigung. Die Rechtsakte begegnen nicht zuletzt diesen Problemen, wenn sie die Einrichtung von unabhängigen Stellen in den Unternehmen fordern, denen die Gestaltung des Beobachtungsprogramms und die Erfüllung der Mitteilungspflichten aufgetragen sind. Dieser Ansatz hat eine theoretisch-konzeptionelle Parallele mit den sonstigen Beauftragten des Umweltrechts, unterscheidet sich hinsichtlich der konkreten Aufgabe aber, weil es hier um die sachgerechte Konkretisierung einer grundsätzlichen Beobachtungspflicht und die Kooperation mit den Aufsichtsbehörden geht.51 Wegen des Eingriffs in die Organisation der Unternehmen ist dieser Ansatz auf den Bereich grundsätzlich risikobehafteter Produkte beschränkt. Hier finden sich im AMG die Forderungen nach dem Pharmakovigilanz-
50 Eine Sanktionierung gibt es nur bei unterlassenen Mitteilungen hinsichtlich den Verantwortlichen von Dritten übermittelten Informationen (vgl. z. B. § 42 Abs. 2, Nr. 15 MPG). 51 Der Stufenplanbeauftragte im Arzneimittelrecht wurde bereits 1988 als Verbindungsperson zu den Behörden eingeführt (vgl. BT-Drs. 10/5112, S. 22). Zu diesem Zeitpunkt war die Diskussion um die Beauftragten im Umweltrecht bereits fest etabliert, ging aber im Konzept eher von einem „Umweltgewissen“ im Unternehmen aus. Vgl. Eckard Rehbinder/ Hans-Gerwin Burgbacher/Rolf Knieper, Ein Betriebsbeauftragter für den Umweltschutz, 1972, S. 8 f.; Bert Axel Szelinski, Der Umweltschutzbeauftragte, WiVerw 1980, S. 266 (274).
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system und dem Stufenplanbeauftragten52, im MPG dem Sicherheitsbeauftragten MP53 und (teilweise) im GenTG dem Beauftragten für biologische Sicherheit54. Diese formalen Vorgaben, die mittelbar eine sachangemessene Beobachtung sichern, sind auch hinreichend bestimmt, um staatliche Zwangsmaßnahmen anzuschließen. Ihre Verletzung kann regelmäßig als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.55 c) Fazit: Drei Schichten der Produktbeobachtung durch Private Der Blick auf die nähere Ausgestaltung der Produktbeobachtung in den Rechtsakten weist damit drei Schichten von Produktbeobachtungspflichten der Privaten aus. Ein konkretes Beobachtungsprogramm wird bei besonders risikobehafteten Produkten im Rahmen der Zulassung als Nebenbestimmung auferlegt. Das Verfahren ist ganz im Sinne des Zulassungsverfahrens insgesamt auch in diesem Punkt kooperativ ausgestaltet und führt zu einem vollstreckbaren Beobachtungsprogramm. Daneben stehen allgemeine Informations- und Mitteilungspflichten, die eine private Produktbeobachtung voraussetzen, aber nicht ausdrücklich ausgestalten. Hier lassen sich zwar Anhaltspunkte für die Gestaltung des Produktbeobachtungsprogramms mittels Auslegung bestimmen, aber keine vollziehbaren konkreten Pflichten ableiten. Für Produkte mit besonderem Risikopotential werden allerdings organisatorische Sicherungen in Form unabhängiger Beauftragter eingerichtet, die eine mittelbare Absicherung problemangemessener Beobachtungsprogramme darstellen. Diese organisatorisch abgesicherte Beobachtung bildet die zweite Schicht. Für alle anderen Fälle bleibt es bei den nicht eigens durchsetzbaren Beobachtungserwartungen in Folge der geregelten Informations- und Mitteilungspflichten. Letztlich fügen sich die Produktbeobachtungspflichten damit in die allgemeine Tendenz des Verwaltungs- und Umweltrechts seit den 1990er Jahren ein. Soweit sie vollziehbare Beobachtungsprogramme fordern, verlängern sie die aus den Zulassungsverfahren bekannte Verantwortungsteilung von Staat und Privaten in den Kontrollbereich und setzen als Nebenbestimmung auf der Zulassungsentscheidung als dem rechtlichen Scharnier der Marktfähigkeit auf. Die grundsätzliche thematische Breite und zeitliche Offenheit wird dabei durch die Konkretisierung und Befristung ebenfalls im Rahmen der Zulassung begrenzt. Soweit es eine organisatorisch abgesicherte Beobachtung als Vorbedingung der Erfüllung von Informations- und Mitteilungspflichten gibt, bedient sich das Produktrecht des Instruments der Beauftragten und modifiziert es im Sinne seiner Aufgaben. Insgesamt ist die Produktbeobachtung durch Private durchaus ein rechtliches Querschnittsphänomen und typisches Element des Produktrechts. Sie verdichtet sich aber nicht zu einem eigenständigen Instrument. 52
Vgl. § 63a f. AMG. Hierzu auch Hieke, Arzneimittelrecht (Fn. 3), S. 79 (84 ff.). §§ 30 f. MPG. 54 §§ 6 Abs. 4, 10 Abs. 2, 11 Abs. 1 GenTG. 55 Vgl. nur § 97 Abs. 2 Nr. 24c, 24e AMG; § 42 Abs. 2 Nr. 13 MPG. 53
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IV. Bedeutung im System des Verwaltungsrechts Auch wenn die Produktbeobachtung durch Private kein eigenes Instrument des Umweltrechts bildet, hat sie doch eine doppelte Bedeutung im System des Verwaltungsrechts. Zunächst dokumentiert sie eindrücklich, dass die Informationsvorsorge ein eigenständiger Bereich des Verwaltungsrechts geworden ist.56 Im Risikoverwaltungsrecht markiert das Informationsniveau ein eigenständiges Rechtsgut, dessen angemessene Sicherung durch eigene rechtliche Regelungen gewährleistet wird.57 Die Konturierung einer angemessenen Informationsvorsorge ist allerdings schwierig und begegnet Grenzen. Das Verwaltungsrecht reagiert darauf mit einer Abschichtung entsprechend der Einschätzung des bestehenden Risikos und mit einer Anbindung der Informationsvorsorge an das etablierte Instrumentarium. Die Modifikation etwa des Beauftragten und die nicht vollziehbaren eigenen rechtlichen Anforderungen an eine Produktbeobachtung über diese Verbindungen hinaus weisen den grundsätzlichen Selbststand der Informationsvorsorge dennoch nachdrücklich aus. Es geht hier nicht mehr um Wissensgenerierung im Verwaltungsverfahren, sondern um Wissensgenerierung für andere Verfahren, seien sie aufsichtsrechtlich bei der Behörde oder unternehmensintern bei der Produktfortentwicklung und eigenen Unternehmenspflichten. Neben dieser Bedeutung zeigen die Produktbeobachtungspflichten auch ein nachhaltiges Ergänzungsverhältnis der öffentlich-rechtlichen Prävention zur zivilrechtlichen Haftung auf. Die Prävention mit öffentlich-rechtlichen Mitteln setzt immer eine gewisse Kenntnis zumindest der Risiken voraus. Hinreichend bestimmte Pflichten, an die öffentlich-rechtliche Durchsetzungsmechanismen anknüpfen können, lassen sich sonst nicht benennen. Nicht durch eine Risikolage begründbare Beobachtungspflichten verstießen gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Entsprechend entfalten sich die Beobachtungsprogramme für die Produkte als öffentlich-rechtliches Pflichtenregime nur im Rahmen der Zulassungen, die ihrerseits aus Gründen der Verhältnismäßigkeit von vornherein auf Produkte mit benennbarem Risikopotential beschränkt sind. Das zivilrechtliche Haftungsrecht setzt zwar grundsätzlich erst beim Schaden an, nimmt über die davon ausgehende Rekonstruktion der Abläufe für die Bestimmung der Verkehrssicherungspflichten aber auch nicht vorhersehbare, weil zumindest scheinbar unwahrscheinliche Geschehensabläufe systematisch mit in den Blick. Und auch wenn die Verkehrssicherungspflicht dogmatisch ebenfalls auf die Vorhersehbarkeit für denjenigen abstellt, der eine Gefahrenquelle eröffnet, ändert sich der Blick auf die Vorhersehbarkeit und gebotene Maßnahmen notwendig im Licht eines Geschehensablaufs, der sich realisiert hat. Die retrospektive, erfahrungsbasierte Analyse kann sich realistischerweise nicht vom Wissen um das Ge56 Allgemeiner dazu hinsichtlich des EU-Verwaltungsrechts Herwig Hofmann/Alexander Rowe/Gerard Türk, Adminsitrative Law and Policy of the European Union, 2011, S. 411 ff., 919 f. 57 Vgl. hinsichtlich REACH auch Maria Lee, EU Environmental Law, Governance and Decision-Making, 2. Aufl. 2014, S. 207 ff.
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schehen lösen. Und dieses Wissen wird die Beurteilung darüber, ob der real stattgefundene Geschehensablauf als vorhersehbar einzustufen ist oder nicht, anders ausfallen lassen als die notwendig ohne entsprechenden Erfahrungshintergrund ergehende präventive Einschätzung durch Normsetzer oder Behörden. Das Zivilrecht bildet mit diesem Zugriff auf das nicht abstrakt Antizipierbare, aber im Lichte der Erfahrung als antizipierbar Wahrgenommene eine nachhaltig notwendige Ergänzung zur öffentlich-rechtlichen Prävention.
Grundrechtliche Fragen privater Produktbeobachtungspflichten Von Ivo Appel
I. Einleitung Produktbeobachtung durch Private ist kein sonderlich neues Phänomen. Sie ist die naheliegende Folge einer möglichen Verantwortung von Produktherstellern für ihre Produkte, der durch präventive Maßnahmen begegnet werden soll. Die laufende Beobachtung dessen, was produziert wurde, liegt als eine maßgebende Strategie regelmäßig im Interesse von Produzenten, die sich dieser Verantwortung bewusst sind und allein schon zur Wahrung der Verbraucherzufriedenheit, jedenfalls aber zur Vermeidung einer zivilrechtlichen Haftung danach handeln. In besonders sensiblen Bereichen wie dem Umgang mit Arzneimitteln ist die Pflicht der privaten Produzenten, die von ihnen hergestellten Produkte zu beobachten, seit langem aber auch öffentlichrechtlich flankiert und gesetzlich vorgegeben. Neueren Datums ist die Tendenz des Staates, die Beobachtung von Produkten durch Private auch darüber hinaus mit öffentlich-rechtlichen Mitteln einzufordern und sie auf Gebiete auszudehnen, in denen der Staat bislang selbst beobachtend und kontrollierend aktiv war. Ziel ist es nicht zuletzt, durch die den Privaten auferlegte Produktbeobachtung Produktinformationen zu gewinnen, die der Staat für seine Zwecke sowie die Ausfüllung seiner Handlungsbefugnisse und -pflichten benötigt. Übergreifend wird angestrebt, im Zusammenspiel von Staat und Privaten mögliche Gefährdungslagen zu erkennen, um gegebenenfalls rechtzeitig gegensteuern zu können. Wie eine ganze Reihe anderer Verwaltungstätigkeiten ist damit auch die Produktbeobachtung in den Sog der Privatisierungs- und Deregulierungsdiskussion geraten. Ihr zugrunde liegt der Versuch des Staates, auch angesichts veränderter Rahmenbedingungen seine Steuerungsaufgabe zu sichern und sie durch Wahl neuartiger Steuerungselemente auf arbeitsteilige und kooperative Aufgabenerledigung hin auszurichten.1 Vor allem die angestrebte Nutzung privaten Wissens und Sachverstands,2 aber 1
Wolfgang Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung als Modernisierung, DVBl. 1996, S. 225 (229); Gunnar Folke Schuppert, Die Privatisierungsdiskussion in der deutschen Staatsrechtslehre, StWStP 1994, S. 541 (557, 562 f.); Jong Hyun Seok/Jan Ziekow (Hrsg.), Die Einbeziehung Privater in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, 2008. 2 Siehe Thomas Vesting, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2. Aufl. 2012, § 20 Rn. 38 f., 50; Christoph Gusy, ebd. § 23 Rn. 40, Hermann Hill, ebd., § 34 Rn. 70 ff.
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auch rechtliche und faktische Entlastungspotentiale auf Seiten des Staates, Beschleunigungs-, Effizienz- und Kostenaspekte3 haben dazu geführt, dass private Produktbeobachtungspflichten virulent geworden sind. Die Entwicklung ordnet sich in ein verändertes Rollenverständnis des Staates ein, der Zonen veränderter Zusammenarbeit mit Privaten schafft, seine Verantwortung je nach Sachbereich stufenweise abschichtet, zwischen öffentlichem und privatem Sektor aufteilt4 und partiell von einer Erfüllungsverantwortung hin zu einer Gewährleistungs- und Auffangverantwortung verlagert.5 Damit liegen zugleich die Pole der zugrundeliegenden Problematik auf der Hand. Sollen auf der einen Seite die Vorteile der Einschaltung Privater genutzt werden, gilt es auf der anderen Seite die Gefahr eines partikularen, zu stark auf Eigeninteressen bezogene Beobachtungstätigkeit privater Produzenten zu bannen. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen der Einbindung staatsentlastender gesellschaftlicher Selbstregulierungskräfte und deren gleichzeitiger Ausrichtung auf verbleibende Gemeinwohlinteressen durch hoheitliche (Rahmen-)Regulierung beziehen private Produktbeobachtungspflichten ihre Problemdimension und ihr spezifisches Profil: Der Reiz, die Herausforderung und zugleich die Grundproblematik privater Produktbeobachtungspflichten liegen darin, dass auf der einen Seite der Wissensvorsprung, der Sachverstand und die Flexibilitätsvorteile der privaten Beobachtung sowie die damit regelmäßig verbundene Entlastung des Staates genutzt, auf der anderen Seite aber die differenzierten Schutzbedarfe der durch die Produktbeobachtung tangierten Gemeinwohlbelange gewahrt werden sollen.6 Ausmaß, Reichweite und regulierende Einhe3
Zu den Motiven für eine Privatisierung der Produktbeobachtung unten II.3. Zur Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor Gunnar Folke Schuppert, Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat: Vorüberlegungen zu einem Konzept von Staatsentlastung durch Verantwortungsteilung, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Privatisierung von Staatsaufgaben: Kriterien – Grenzen – Folgen, 1998, S. 72 ff.; Hans-Heinrich Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat: Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, 1999, S. 13 ff.; Andreas Voßkuhle, Gesetzgeberische Regelungsstrategien der Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, ebd. S. 47 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff moderner Staatlichkeit, in: FS Klaus Vogel, 2000, S. 47 ff.; Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat. Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005; Kay Waechter, Verwaltungsrecht im Gewährleistungsstaat, 2008; Claudio Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009; Christof Häfner, Verantwortungsteilung im Genehmigungsrecht, 2010, je m. zahlreichen w.N. 5 Zusammenfassend zu dieser Entwicklung wie hier Ivo Appel, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2. Aufl. 2012, § 32 Rn. 1 ff. 6 Zu den unterschiedlichen Rationalitätskonzepten im Öffentlichen Recht und im Privatrecht Wolfgang Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematisierung und Entwicklungsperspektiven, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangord4
Grundrechtliche Fragen privater Produktbeobachtungspflichten
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gung der Produktbeobachtung hängen maßgeblich davon ab, ob das Niveau zur Sicherung von Gemeinwohlvorgaben im privatisierten Bereich auf unverzichtbare Schutzvorkehrungen für Leben und Gesundheit begrenzt wird7 oder durch die Beobachtung auch andere umfangreiche Zielvorgaben und Ausgleichsfunktionen des Rechts-, Sozial- und Umweltstaates befriedigt werden sollen. Je nachdem, wo man zwischen diesen beiden Extremen eine Position auf der fließenden Skala einnimmt, wird private Produktbeobachtung unterschiedlich weitgehend für zulässig gehalten und werden gegebenenfalls unterschiedlich umfangreiche Sicherungen für die Wahrung von Gemeinwohlzielen gefordert und vorgesehen.8 Die generelle Herausforderung besteht darin, Produktverantwortung auf der Grundlage eines Modells hoheitlich regulierter gesellschaftlicher Selbstregulierung so zu konzipieren, dass die Funktionsfähigkeit privater Produktbeobachtung genutzt und durch hoheitliche Regulierung eines Rahmens zugleich auf normierte Gemeinwohlzwecke ausgerichtet werden kann.9 Die verfassungsrechtlichen und insbesondere grundrechtlichen Vorgaben spielen dabei eine maßgebende Rolle, geben sie doch einen Rahmen dafür vor, wie weitgehend Produktbeobachtungspflichten auf Private übertragen werden dürfen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die zu bearbeitende Fragestellung zu Produktbeobachtungspflichten Privater näher präzisieren: Welchen Rahmen bildet und welche Grenzen setzt das Verfassungsrecht einer öffentlichrechtlich vorgegebenen Pflicht Privater, Produkte vor und nach der Inverkehrgabe und ggf. auch nach einer Zulassungsentscheidung zu beobachten? Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, dass in einem ersten Schritt zunächst das Phänomen der Produktbeobachtung und seine rechtliche Fassung näher in den Blick genommen werden (unten II.), bevor in einem zweiten Schritt nach den verfassungsrechtlichen Rahmenvorgaben für private Produktbeobachtungpflichten gefragt wird (unten III.).10
nungen, 1996, S. 261 (268 ff.). Vgl. a. Martin Burgi, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, § 18 Rn. 1 ff. 7 Bericht der Unabhängigen Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, 1994, Tz. 236. 8 Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32 Rn. 4 f. 9 Wolfgang Hoffmann-Riem, Ökologisch orientiertes Verwaltungsverfahrensrecht – Vorklärungen, AöR, Bd. 119 (1994), S. 590 (609), spricht vom Konzept „einer Staatsentlastung durch (staatlich) regulierte Selbstregulierung mit (staatlichem) Auffangnetz“. 10 Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich mit Blick auf die Produktbeobachtung durch Private als Ausprägung der Verfahrensprivatisierung auf Vorüberlegungen in Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32. Soweit es um den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Produktbeobachtung geht, knüpfen die Ausführungen an Erörterungen an in: Ivo Appel, Eigenwert der Verfassung im Umweltrecht, in: Vesting/Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 289 ff.
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II. Produktbeobachtung durch Private im Recht Als Grundlage für die weiteren Überlegungen, gilt es sich zunächst vor Augen zu halten, welche Erscheinungsformen von Produktbeobachtung es gibt, wie Produktbeobachtung rechtlich gefasst wird, welche Gründe es für die Privatisierung der Produktbeobachtung gibt, wie sich die Privatisierung der Produktbeobachtung auswirken und wie die öffentlich-rechtliche Verpflichtung Privater zur Produktbeobachtung ausgeformt werden kann. 1. Stufen der Produktbeobachtung In einem ersten Zugriff stehen Produktbeobachtungspflichten im Kontext eines weit verstandenen Rechts der Produkthaftung. Das Zivilrecht kennt ein abgestuftes Regime von Haftungstatbeständen, aus denen Pflichten und Obliegenheiten der Hersteller folgen. Wer durch Produkte vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist aufgrund deliktischer Produkthaftung nach § 823 Abs. 1 BGB dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Hinzu kommen besondere Vorschriften wie der neben § 823 Abs. 1 BGB anwendbare § 1 ProdHaftG (i.V.m. § 15 Abs. 2 ProdHaftG) und speziellere Haftungstatbestände wie § 84 AMG oder § 32 GenTG. Wollen Unternehmer und Hersteller ihr Haftungsrisiko möglichst gering halten, müssen sie die Produktionsprozesse überwachen und ihre Produkte auch während des Inverkehrbringens fortlaufend beobachten.11 Da es sich um zivilrechtliche Pflichten handelt, ist als Rechtsfolge für den Fall einer Verletzung der Produktbeobachtungspflichten grundsätzlich eine Schadensersatzpflicht vorgesehen. Das Schadensrisiko durch Überwachung zu verringern, bleibt den Herstellern überlassen. Demgegenüber sind in einigen Fällen weiterreichende, öffentlich-rechtlich vorgegebene Pflichten vorgesehen. Vor allem das Pharmakovigilanzsystem der §§ 62 ff. AMG sieht einen umfangreichen Pflichtenkatalog für Inhaber von Arzneimittelzulassungen vor (vgl. § 63b AMG). Auch im Gentechnikrecht sind Produktbeobachtungspflichten normiert (§ 16c GenTG). Ihr Charakter als Haftungsvorschrift ergibt sich in zivilrechtlicher Hinsicht unter Umständen über § 823 Abs. 2 BGB. Wichtiger allerdings sind die öffentlich-rechtlichen Pflichten, die zu kontinuierlicher Produktbeobachtung zwingen. In diesen vollstreckbaren, straf- bzw. bußgeldbewehrten Pflichten12 liegt ein wesentlich intensiverer Grundrechtseingriff. Ihr Ziel liegt in der Vorsorge gegen Gefahren und Risiken für Mensch und Umwelt. Sie sind eine Ausprägung des Vorsorgeprinzips, durch die Ansiedelung im Gesamtkomplex der Haftung aber zugleich auch des Verursacherprinzips. 11
Dies gilt auch für die deliktische Produkthaftung, vgl. Julius von Staudinger, BGB, § 823 Rn. F 20; Christina Frick/Peter Kluth, Produktbeobachtung – Umfang, Reaktion und Kostentragung, PHI 2006, S. 206. 12 Vgl. § 96 Nr. 20 AMG, § 97 Nr. 24 e – q AMG.
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Die Produkthaftung und der rechtliche Zugriff auf sie können danach stufenweise abgeschichtet werden. Auf eine erste Stufe rein privater Produktbeobachtung folgt eine zweite Stufe der privaten Produktbeobachtung im Zusammenhang mit einer möglichen Produkthaftung, die sowohl durch privatrechtliche als auch strafrechtliche Haftungstatbestände bedingt sein kann. Die dritte Stufe einer öffentlich-rechtlich geforderten Produktbeobachtung durch Private kann sowohl direkt aufgegeben sein als auch mittelbar erfolgen, wenn sie der Vermeidung weiterer öffentlich-rechtlicher Folgen bzw. weiterer staatlicher Handlungsmöglichkeiten dient. Auf einer vierten Stufe kann die Produktbeobachtung auch vom Staat selbst vorgenommen werden. Danach ergibt sich folgende Abschichtung: – rein private Produktbeobachtung, – private Produktbeobachtung zur Vermeidung strafrechtlicher Haftung, – private Produktbeobachtung zur Vermeidung zivilrechtlicher Haftung, – mittelbare öffentlich-rechtlich geforderte Produktbeobachtung, – unmittelbar öffentlich-rechtlich vorgegebene Produktbeobachtung, – staatliche Produktbeobachtung.
2. Privatisierung der Produktbeobachtung Produktbeobachtungspflichten zielen nicht nur auf die zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Produktherstellers ab, sondern sind in ihrer öffentlich-rechtlichen Ausprägung ein präventives Instrument. Es liegt nahe, sie dort einzusetzen, wo die Gefahren für Rechtsgüter am Größten sind. Gerade im Spannungsfeld von Innovation und Risiko, in dem es besonders darauf ankommt, Wissen zur besseren Beurteilung von Risiken und Restrisiken zu generieren, spielen Produktbeobachtungspflichten dementsprechend eine große Rolle. Beispielhaft ist das Arzneimittelrecht, mit dem die Nebenwirkungen von Arzneimitteln erfasst werden. Umfassend ist hier das europarechtlich vorgeprägte Pharmakovigilanz-System geregelt (§§ 63a ff. AMG). § 63b Abs. 1 AMG verpflichtet den Inhaber einer Zulassung, ein Pharmakovigilanz-System einzurichten. Es beinhaltet die Sammlung und wissenschaftliche Auswertung von Informationen zur Risikominimierung (§ 63b Abs. 2 Nr. 1 AMG) und ein Risikomanagement für jedes einzelne Medikament (§ 63b Abs. 2 Nr. 4, 6 AMG). Damit verbunden sind umfangreiche Dokumentations- und Revisionspflichten (§ 63b Abs. 2 Nr. 2 AMG). Das Pharmakovigilanz-System schafft die Grundlage zur Sachverhaltsermittlung. Mit der Meldepflicht nach § 63c AMG wird die Verknüpfung zu den Befugnissen der Aufsichtsbehörde (§ 77 AMG) geschaffen.13 Umfassende Verfahrensvorschriften zu Gefah13 § 63c AMG gilt nicht für Fälle, in denen eine Pharmakovigilanz aufgrund der EG-VO 726/2004 besteht, d. h. in Fällen, in denen Arzneimittel europarechtlich von der EAA (Europäische Arzneimittelagentur) zugelassen worden sind (§ 63c Abs. 5 AMG).
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renstufen lassen sich der „allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken“ (Stufenplan) entnehmen.14 Im Gentechnikrecht bestimmt § 16c GenTG eine Beobachtungspflicht für Betreiber gentechnischer Anlagen, Produkte auch nach dem Inverkehrbringen nach „Maßgabe der Genehmigung“ zu beobachten, um Auswirkungen auf geschützte Rechtsgüter zu ermitteln. Die Beobachtung geschieht auf der einen Seite zur Bestätigung einer zuvor getroffenen Risikobewertung, auf der anderen Seite auch allgemein im Hinblick auf nicht vorhergesehene Auswirkungen gentechnisch veränderter Organismen. Eine Gentechnikbeobachtungsverordnung, für die in § 16c Abs. 3 GenTG eine gesetzliche Grundlage vorhanden wäre, ist zwar bislang nicht in Kraft getreten.15 Die Betreiber gentechnischer Anlagen sind aber nicht nur durch zivilrechtliche, sondern auch öffentlich-rechtliche Schadensersatzpflichten namentlich aus dem Umweltschadensgesetz zu besonderer Beobachtung angehalten.16 In weiten Teilen des Risikorechts ist die behördliche Pflicht zur Sachverhaltsermittlung ohnedies Besonderheiten unterworfen. Schon im Zulassungsverfahren sind die Risikoermittlung und die Generierung des dazu erforderlichen Wissens auf die Antragsteller delegiert (vgl. § 10 Abs. 2 Nr. 5, 6, § 15 Abs. 1 Nr. 3 – 6 GenTG). Die laufende Nachbeobachtung der Produkte dient dabei divergierenden Zwecken. Für den Produzenten stellt sie sich als (aufoktroyiertes) Regime zur Vermeidung des Eintritts eines Haftungsfalles dar. Für den Staat bereitet die kontinuierliche Beobachtung des Produktes die tatsächliche Grundlage eines sicherheitsrechtlichen Eingriffs vor. Produktbeobachtungspflichten, die so weitreichende Pflichten zur Sachverhaltsermittlung mit sich bringen, liegen dabei im Trend einer Privatisierung des Verwaltungsverfahrens. Der Staat versucht angesichts veränderter Rahmenbedingungen an zahlreichen Stellen seine Steuerungsaufgabe zu sichern und sie durch neuartige Steuerungstypen auf arbeitsteilige und kooperative Aufgabenerledigung auszurichten.17 In den meisten Fällen geht es – wie im Fall der Nachbeobachtung von risikobehafteten Produkten – um die Nutzung privaten Wissens und Sachverstands, zweifellos aber auch um Kostenaspekte. Dem Produktsicherheitsrecht ist diese Verfahrensprivatisierung schon länger vertraut: Die Zertifizierung von Produkten im Wege der Eigenkontrolle der Wirtschaft ist eine Form der Verfahrensprivati-
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Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken (Stufenplan) nach § 63 des Arzneimittelgesetzes (AMG) – Stufenplan, abrufbar unter http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_09022005_ 111436241.htm (zuletzt abgerufen am: 20. September 2014). 15 Vgl. BR-Drs. 93/05; Cathrin Weimann/Corinna Emmermacher/Roland Klein/Peter Marburger, Beobachtung möglicher Umweltauswirkungen durch gentechnisch veränderte Pflanzen: Monitoring als Frühwarnsystem zur Vermeidung von Umweltschäden? NuR 2010, S. 229 (231). 16 Weimann/Emmermacher/Klein/Marburger, Beobachtung (Fn. 15), S. 229 (233). 17 Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32 Rn. 1; Beispiele für Erscheinungsformen von Verfahrensprivatisierung in Rn. 21 ff.
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sierung, die für weitere Rechtsgebiete Modell stand.18 Produktbeobachtungspflichten geben die Verwaltungsaufgabe nicht vollständig aus der Hand, sondern leisten einen „verfahrensentlastenden Beitrag“ in Form einer Sachverhaltsaufbereitung.19 Der Funktionsmechanismus öffentlich-rechtlich vorgegebener Produktbeobachtungspflichten Privater besteht einerseits darin, die Nähe, den Wissensvorsprung, den Sachverstand, die Flexibilitätsvorteile und die Entlastungswirkung privater Produktbeobachtung zu nutzen, andererseits aber die Interessenpluralität und die differenzierten Schutz- und Vorsorgebedarfe der tangierten Gemeinwohlbelange nach Möglichkeit zu wahren. Das Ausmaß, die Reichweite und die rechtliche Regulierung der privaten Produktbeobachtung sind dabei abhängig vom angestrebten Niveau der Sicherung von Gemeinwohlbelangen. 3. Motive für eine Privatisierung der Produktbeobachtung In ihrer öffentlich-rechtlichen Ausprägung verfolgt die vorgegebene Produktbeobachtung durch Private unterschiedliche Ziele, die von pragmatischen Vorteilsüberlegungen auf der einen bis zur Einordnung in ein theoretisches Konzept der Vergesellschaftung von Problemlösungen auf der anderen Seite reichen können. Nach steuerungswissenschaftlichen Funktionskriterien geht es mit der Verknüpfung administrativer und privater Handlungsebenen im Verfahren vor allem darum, die spezifischen Problemlösungskapazitäten staatlicher und privater Handlungsträger und deren je eigene Problemlösungsrationalitäten möglichst optimal zu nutzen und aufeinander abzustimmen.20 In den meisten Fällen sind für Produktbeobachtungspflichten durch Private mehrere Motive gleichzeitig und mit unterschiedlichem Gewicht ausschlaggebend:21 – In einem ersten Schritt geht es um die Aufdeckung und Minimierung möglicher Risiken durch diejenigen, denen die in Rede stehenden Produkte am nächsten stehen und die sie regelmäßig auch am besten kennen und einschätzen können. – Hinzu kommt, dass die Produktbeobachtung durch private Produzenten dem Verursacherprinzip Rechnung trägt, ordnet sie die Pflicht doch in erster Linie demjenigen zu, dem mit der Herstellung und/oder dem Inverkehrbringen eines Produktes das höchste Maß an (Verursacher-)Verantwortung trägt. – Nutzung spezifischen Sachverstands und Expertenwissens („näher dran“). – Vieles spricht dafür, dass ein wichtigstes Motiv für die Produktbeobachtung regelmäßig auch der angestrebte Zuwachs an (Experten-)Wissen und (fachlicher) 18
Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32 Rn. 27 f. Dazu Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32 Rn. 24. 20 Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (232). 21 Vgl. zu den Motiven für eine Verfahrensprivatisierung bereits Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32 Rn. 37 ff. 19
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Kompetenz ist. Die Verwaltung versucht sich auf diese Weise Informationen und Leistungen zu sichern, die sie selbst nicht oder nicht in ausreichendem Maße hat bzw. erbringen kann.22 – Der angestrebten allgemeinen Entlastung vorausliegende Gründe für Produktbeobachtungspflichten Privater können daneben der angestrebte Ausgleich fehlender Verwaltungskapazität oder ein Mangel der Verwaltung an eigenem qualifizierten Personal sein. – Durch die Verantwortungsverlagerung auf Private, die mit privaten Produktbeobachtungspflichten einhergeht, werden in aller Regel auch erhebliche Beschleunigungseffekte angestrebt. Dahinter steht nicht selten ein Verständnis des Verfahrens und seiner Dauer als Dienstleistung, die nach Möglichkeit – und sei es durch den Einsatz Privater – optimiert werden soll.23 – Gewichtige Faktoren bei Produktbeobachtungspflichten durch Private können allgemeine Entlastungseffekte darstellen, die auf eine Entlastung des Staates und seiner Behörden von (politischem) Handlungsdruck abzielen.24 Dabei kann auch die Möglichkeit eine Rolle spielen, die Verantwortung für Defizite bei der Verwirklichung von Gemeinwohlzielen (teilweise) den eingeschalteten privaten Akteuren zuweisen zu können. – Als ein Unterfall der allgemeinen Entlastungsfunktion können darüber hinaus Strategien einer finanziellen Entlastung des Staates und die damit verbundenen Einspareffekte zu den zentralen Motiven (auch) der Produktbeobachtung zählen. In dem Maße, in dem die Generierung von Informationen für den Staat mit erheblichem Aufwand verbunden wäre, spielt die direkte oder indirekte Verlagerung von Kosten und Aufwand auf Private25 eine maßgebende Rolle. – Wesentliche Antriebskräfte für die Übertragung der Produktbeobachtung auf Private können auch darin liegen, die durch individuelle Freiheit ermöglichte und erwünschte private Handlungsrationalität zur (effektiveren) Erreichung der angestrebten Ziele zu nutzen. Gerade in steuerungswissenschaftlicher Perspektive liegt es nahe, die Verschiedenartigkeit administrativer und privater Handlungsbe22 In einigen Bereichen wie der Produktzertifizierung ist der erforderliche Sachverstand bereits heute nur auf dem privaten Sachverständigenmarkt verfügbar; vgl. Patrick Scholl, Der Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2005, S. 112; Arno Scherzberg, Der private Gutachter im Umweltschutz, NVwZ 2006, 377 (383). Siehe auch Thomas Vesting, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2. Aufl. 2012, § 20 Rn. 50; Karl-Heinz Ladeur, ebd., § 21 Rn. 69, Hans Christian Röhl, ebd., § 30 Rn. 26 f. 23 Gertrude Lübbe-Wolff, Beschleunigung von Genehmigungsverfahren auf Kosten des Umweltschutzes, ZUR 1995, S. 57 (59); Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (228). 24 Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (228). 25 Zu diesem Motiv für die Verfahrensprivatisierung Schuppert, Privatisierungsdiskussion (Fn. 4), S. 546 f.
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dingungen zu nutzen und die endogenen Potentiale der Gesellschaft zu mobilisieren, um sie in die effektive Bewältigung von Verfahrensaufgaben einzubinden. – Die Einschaltung Privater in die Produktbeobachtung kann auch das Ziel haben, die Flexibilitätsvorteile des Privatrechts, die sich nicht zuletzt aus der fehlenden Bindung an das öffentliche Recht ergeben, (stärker) zu nutzen.26 – Damit einhergehen kann als positives Ziel privater Produktbeobachtungspflichten schließlich auch eine verstärkte reflexive Steuerungsleistung, die durch die Einschaltung Privater und das Mitdenken öffentlicher Belange durch Private bestimmte komplexe und prozesshafte Entwicklungen wie die möglichen Folgewirkungen von Produkten besser erfassen kann.
4. Erscheinungsformen einer privatisierten Produktbeobachtung In der Sache handelt es sich bei Produktbeobachtungspflichten in ihrer öffentlichrechtlichen Ausprägung um die Verlagerung von Vorgängen, die der Vorbereitung einer Sachentscheidung dienen, vom Staat auf Private. Mit der Verlagerung einher geht zwar durchgängig eine rechtliche oder faktische Rücknahme staatlicher Verfahrensverantwortung.27 Dennoch werden in aller Regel keine staatlichen Sachentscheidungsbefugnisse übertragen. Regelmäßig handelt es sich bei der öffentlich-rechtlich vorgegebenen Produktbeobachtung Privater um die Übertragung von Aufgaben im Vorfeld von bzw. flankierend zu (möglichen) administrativen Entscheidungen. Typischerweise werden bei der Produktbeobachtung Aufgaben übertragen, die im staatlichen Bereich dem Verfahren zuzuordnen wären (Sachverhaltsaufbereitung, Kontrolle etc.) und gegebenenfalls vom Staat selbst wahrgenommen werden müssten. Dabei handelt es sich um verfahrensentlastende Eigenbeiträge Privater, da das Verfahren Aufgabe des Hoheitsträgers ist und bleibt, die private Produktbeobachtung aber Beiträge liefert, die das Verfahren – sei es bei der präventiven Kontrolle, sei es bei der nachfolgenden laufenden Überwachung – entlasten und regelmäßig beschleunigen. 5. Wirkungen einer Privatisierung der Produktbeobachtung Die spezifische Problematik der Verlagerung der Produktbeobachtung auf Private liegt darin begründet, dass private Akteure mit jeweils eigenen Interessen durch staatliche Regulierung auf die gleichzeitige Wahrung von Gemeinwohlinteressen ausgerichtet werden (Interessenpluralität). Im Hinblick auf die Produktbeobachtungspflichten besteht ein Gleichlauf der Interessen insoweit, als Produzenten durch zivilrechtliche und unter Umständen auch öffentlich-rechtliche Haftungsregime wie das Umweltschadensrecht ebenso wie der Staat ein (finanzielles) Interesse an der Scha26 Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (228). Vgl. auch Burgi, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 6), § 18 Rn. 17. 27 Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (227).
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densvorsorge haben. Erhebliche Bedeutung kommt dabei der konkreten Gestaltung der einzelnen Rechtsregime zu. Das Gesetz muss das Verfahren so organisieren, dass die überwachende Behörde an dessen Ausgang eine in der Sache möglichst richtige Entscheidung treffen kann.28 Dabei lässt sich nicht verkennen, dass die Privatisierung der Produktbeobachtung einen partiellen Verlust des Verfahrens als unmittelbarer staatlicher Steuerungsressource nach sich zieht.29 Hat das Verfahren als Steuerungsfaktor maßgebliche Bedeutung für die Einhaltung und Durchsetzung des materiellen Rechts, liegen Folgen einer Verfahrensprivatisierung für die Verwirklichung der zahlreichen Gemeinwohlziele des Rechts-, Sozial- und Umweltstaates nahe, die in besonderer Weise auf effektive staatliche Implementation angewiesen sind.30 Das Verwaltungsverfahren dient mit seiner Aufgabe der Sachverhaltsermittlung durch Untersuchung, Anhörung und Öffentlichkeitsbeteiligung nicht zuletzt diesem Schutz. Die sektorspezifischen materiellen Vorgaben entfalten eine Vorwirkung für das Verfahren; ihre Verwirklichung ist nicht erst bei der eigentlichen Entscheidung, sondern bereits im Verfahren zu beachten. Werden diese spezifischen Funktionen des staatlichen Verwaltungsverfahrens durch Privatisierung relativiert, bedarf es einer Kompensation durch andere, die Erreichung der Gemeinwohlziele (mittelbar) gewährleistende Steuerungselemente. Wird die Durchführung der Produktbeobachtung Interessenträgern überantwortet, die nicht ohne weiteres das Gesamtspektrum relevanter Interessen repräsentieren,31 kann Verfahrensprivatisierung zu einer Partikularisierung der Verfahrensverantwortung führen. In dem Umfang, in dem dies geschieht, relativiert die Übertragung von Verfahrensaufgaben auf Private die Berücksichtigung von Gemeinwohlinteressen. Dies wird man – auch unter Hinweis auf die Gewährleistungsverantwortung des Staates und das Verwaltungsprivatrecht32 – nur bestreiten können, wenn man die Motive der Privatisierung und die Funktionslogik des privaten Sektors außer Acht lässt. Denn wo der Staat in erster Linie dem Allgemeinwohl verpflichtet ist, sind private Akteure legitimer Weise zunächst am eigenen (Partikular-)Vorteil interessiert. Dies gilt besonders für private Produzenten, denen die Beobachtung ihrer eigenen Produkte übertragen wird. Je nach Ausmaß und Erscheinungsform der (drohenden) Partikularisierung führt die Verlagerung der Produktbeobachtung auf Private zu der Frage, ob und inwieweit die für nachfolgende Entscheidungen zuständige Verwaltungseinheit ihre ggf. an die Produktbeobachtung anknüpfende Sachentscheidung ohne nachvollziehende eigene Beobachtung und Sachverhaltsermittlungen (noch) hinreichend verantworten kann. 28
Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32 Rn. 7. Vgl. Jan Ziekow, Von der Reanimation des Verfahrensrechts, NVwZ, 2005, 263 (263 f.). 30 BVerfGE 33, 125 (159). 31 Näher: Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (228 f.). 32 Siehe auch Helmuth Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, § 12 Rn. 154 ff.; Burgi, ebd., § 18 Rn. 64 ff. 29
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Hinzu kommt regelmäßig die Gefahr einer faktischen Entstaatlichung des Verfahrens und der Sachentscheidung, zu der das jeweilige Verfahren hinführt, wenn die zugrunde gelegten Informationen in mehr oder weniger großem Umfang durch Produktbeobachtungen Privater gewonnen werden. Diese Gefahr ergibt sich zunächst daraus, dass sich die Aufgabenerledigung beim Einsatz privater Akteure institutionell und personell in einem von Regeln der Privatautonomie geleiteten Rahmen vollzieht. Dazu zählt auch, dass die Produktbeobachtung durch Private, je nach Umfang und Aufwand, der dafür betrieben werden muss, oft auch durch verselbständigte und damit erschwert zu steuernde und zu kontrollierende Stellen innerhalb oder außerhalb der betroffenen Unternehmen durchgeführt wird.33 Die Problematik wird dadurch angereichert, dass der Einfluss der privaten Produktbeobachtung regelmäßig nicht mit der Erledigung der Verfahrensaufgabe endet. Zwar werden die materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen durch die private Produktbeobachtung regelmäßig nicht verändert. Auch müssen die angemessene Beobachtung und Erfassung der produktrelevanten Informationen, sofern sie für staatliches Handeln relevant werden, von der für die Sachentscheidung verantwortlichen Behörde rezipiert und zu diesem Zweck nachvollzogen und für überzeugend erachtet werden. Trotz dieser „Filterfunktion“ der staatlichen Behörden bei der Reintegration von Erkenntnissen, die durch private Produktbeobachtung gewonnen wurden, in den staatlichen Bereich, drängt sich die Frage auf, wie stark die faktischen Vorprägungen durch private Produktbeobachtung sind, ob sie die Berücksichtigung des Gesamtspektrums der relevanten Interessen ermöglichen und die rechtlich vorgesehene Prüfungs-, Entscheidungs- und Abwägungsherrschaft auch tatsächlich besteht.34 Dies gilt umso mehr, wenn bei fortlaufender Verlagerung der Produktbeobachtung auf Private die Informationsgewinnung nicht (mehr) vollständig durch behördeneigene Wissens- und Erfahrungsbestände ausgeglichen werden kann.35 Die Situation wird in dem Maße verschärft, in dem der Verwaltung die erforderliche Informationsbasis auch für eine nachträgliche Kontrolle verloren geht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verlagerung der Produktbeobachtung auf Private in der Folge zu einer Partikularisierung der Verantwortung für die Produktbeobachtung und der damit (mittelbar) verfolgten Schutzzwecke führen kann, einhergehend mit der tendenziellen Gefahr einer faktischen Entstaatlichung 33 Barbara Remmert, Private Dienstleistungen in staatlichen Verwaltungsverfahren, 2003, S. 505. 34 Die damit einhergehenden Risiken der Verfahrensprivatisierung lassen sich auch durch die von der Neuen Politischen Ökonomie verwendete und im rechtswissenschaftlichen Schrifttum neuerdings beinahe inflationär rezipierte Principal-Agent-Analyse verdeutlichen; vgl. dazu nur Jens-Peter Schneider, Kooperative und konsensuale Formen administrativer Entscheidungsprozesse, JbNPÖ 15 (1996), S. 20 ff. Siehe auch Schuppert, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, § 16 Rn. 72 f. 35 Scholl, Der Sachverständige (Fn. 22), S. 120 f., 123, 132; Scherzberg, NVwZ 2006, 377 (384).
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mit Auswirkungen auf das materielle Schutzniveau. Umgekehrt führt eine Privatisierung der Produktbeobachtung aber zu einer Erhöhung der Gemeinwohlgebundenheit privaten Handelns, die regelmäßig mit einer Einschränkung grundrechtlich gewährleisteter Freiheiten verpflichtend vorgegebene Produktbeobachtungspflichten einhergeht. 6. Produktbeobachtungspflichten als Ausprägung funktionaler Privatisierung Die Einordnung privatisierter Produktbeobachtungspflichten in die bekannten Formen der formellen, materiellen und funktionalen Privatisierung ist nicht eindeutig und trennscharf möglich.36 Auf der einen Seite gibt es Versuche, Verfahrensprivatisierung als eigenständigen Privatisierungstyp von anderen Formen der Privatisierung abzugrenzen. Auf der anderen Seite kann der Versuch unternommen werden, verfahrensprivatisierte Bereiche wie jenen der privaten Beobachtungspflichten mit Hilfe der vorhandenen Privatisierungsbegriffe zu erfassen und in die Grundsystematik der Privatisierung einzuordnen.37 Dabei läge es in einem ersten Zugriff nahe, private Produktbeobachtungspflichten systematisch im Bereich zwischen Aufgaben- und funktioneller Privatisierung zu verorten.38 Dafür spricht, dass Verfahrensprivatisierung regelmäßig solche Erscheinungen der Kooperation von Verwaltung und Privaten unterhalb der Schwelle einer Aufgabenprivatisierung erfassen soll, „bei denen die Privaten durch Sachverstand, personelle Ressourcen und Kapitaleinsatz an der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben konstruktiv mitwirken“.39 Auf der anderen Seite ließen sich private Produktbeobachtungspflichten auch der formellen Privatisierung zuordnen, sofern „Zuständigkeit, Aufgabenverantwortung, Weisungsbefugnis und Garantenstellung bei dem jeweiligen Träger der öffentlichen Hand“ verbleiben.40 Dem entspricht eine Eingrenzung von Verfahrensprivatisierung als „Erbringung von Teil36 Zusammenfassend zum Diskussionsstand Remmert, Private Dienstleistungen (Fn. 33), S. 193 ff. m.w.N. 37 Zu dieser Systematisierung Schulze-Fielitz, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 32), § 12 Rn. 108 ff.; Friedrich Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVBl. 1994, S. 962 ff.; Helmut Lecheler, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, BayVBl. 1994, S. 555 ff.; Hartmut Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL Bd. 54 (1995), S. 251 f.; Lerke Osterloh, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL Bd. 54 (1995), S. 206 ff.; Gunnar Folke Schuppert, Die Privatisierungsdiskussion in der deutschen Staatsrechtslehre, StWStP 1994, S. 541 ff.; Martin Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 71 ff. 38 Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (226); vgl. auch Andreas Voßkuhle, „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch Bd. 92 (2001), S. 209; skeptisch Matthias Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL Bd. 56 (1997), S. 160 (168). 39 Hans-Joachim Koch, (Verfahrens-)Privatisierung im öffentlichen Baurecht, in: Hoffmann-Riem/Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996, S. 170 (171). 40 Jochen Hofmann-Hoeppel, Verfahrens-Privatisierung bei Standortsuche und Zulassungsverfahren für Abfallentsorgungsanlagen, in: Hoffmann-Riem/Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996, S. 216 (217).
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arbeiten oder Teilleistungen durch Private im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Verfahrens“.41 Im Regelfall werden private Produktbeobachtungspflichten im Schnittfeld von funktioneller und materieller Privatisierung angesiedelt sein. Die Zuordnung der Verfahrensprivatisierung zur funktionalen Privatisierung ist umso überzeugender, je umfangreicher und gewichtiger die Gewährleistungs- und Auffangverantwortung ausfällt, die sich der Staat vorbehält, auch wenn die Aufgabenbewältigung ganz oder teilweise auf Private übertragen wird. Indizien dafür sind insbesondere die Dichte der Begleitregelungen und der bei der Behörde verbleibende Prüfungsmaßstab. Je mehr der Staat hingegen infolge der durchgeführten privaten Produktbeobachtung auf die Prüfung materieller Maßstäbe und damit auf eine staatliche Umsetzung oder Anerkennung der durch die private Produktbeobachtung gefundenen Erkenntnisse verzichtet, umso eher liegen Elemente einer materiellen Privatisierung nahe.42 Die auf den ersten Blick unklare Einordnung der privaten Produktbeobachtungspflichten in die Privatisierungslandschaft führt danach im Ergebnis zu einer Verortung im Schnittbereich von funktioneller und materieller Privatisierung. In der Sache handelt es sich um die Wahrnehmung einzelner (Verfahrens)Aufgaben durch Private (Verfahrensprivatisierung), so dass die vorbereitende Funktion für (mögliche) administrative Sachentscheidungen und damit die Zuordnung zur funktionellen Privatisierung im Vordergrund steht. Die begrenzte Reichweite der staatlichen Gewährleistungsverantwortung führt allerdings dazu, dass die im Ausgang funktionelle Privatisierung schleichend in eine partielle materielle Privatisierung übergehen kann. 7. Ausprägungen von Produktbeobachtungspflichten Sofern die Produktbeobachtung durch öffentlich-rechtliche Vorgaben als Pflicht auf Private verlagert wird, kann sie unterschiedlich weitreichend formuliert und ausgeformt werden. Das Spektrum möglicher Pflichten reicht von der Verpflichtung zum Sammeln und Aufzeichnen vorhandener Informationen über die Generierung neuer Informationen auf der Grundlage von (Begleit-)Forschung bis hin zur vorgesehenen Verknüpfung der Informationsgewinnung Privater mit behördlichen Aufsichtsmaßnahmen. Im Einzelnen lassen sich unterscheiden: – Pflicht zum Sammeln vorfindlicher Information. – Pflicht zur Aufzeichnung der Beobachtungsergebnisse. – Pflicht zur (wissenschaftlichen) Auswertung von Information. – Pflicht zur Generierung neuer Information (ggf. auf der Grundlage einschlägiger Begleitforschung). 41 Franz-Joseph Peine, Verfahrensprivatisierung in der Verkehrswegeplanung, in: HoffmannRiem/Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996, S. 95 (101 f.). 42 Hoffmann-Riem, Verfahrensprivatisierung (Fn. 1), S. 225 (226).
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– Pflicht zur Bewertung der gewonnenen Informationen mit Blick auf bestimmte (regelmäßig durch gesetzliche Zweckbestimmungen) vorgegebene Schutz- und Vorsorgeziele. – Pflicht zur Dokumentation. – Meldepflichten. – Pflicht zum Ergreifen von Maßnahmen Privater in Anknüpfung an die gewonnene Information. – Verknüpfung der Informationsgewinnung Privater mit Befugnissen der Aufsichtsbehörden. Was den Umfang und die Intensität von Produktbeobachtungspflichten anbetrifft, lässt sich ebenfalls in verschiedener Hinsicht eine Ausdifferenzierung vornehmen. Der vorgesehene Pflichtenkatalog für die private Produktbeobachtung kann zeitlich befristet oder kontinuierlich, stichprobenartig oder flächendeckend greifen. Hinzu kommt, dass die Pflichten in einem etwaigen Zulassungsverfahren, im Produktionsprozess oder als Pflichten zur Nachbeobachtung bestehen können. Bei den nachträglichen Beobachtungspflichten kann zudem danach unterschieden werden, ob sie auf die Bestätigung einer zuvor getroffenen Risikobewertung gerichtet sind (Beobachtung „nach Maßgabe der Genehmigung“) oder (auch) Erkenntnisse über nicht vorhergesehene Auswirkungen eines Produkts gewonnen werden sollen. 8. Produktbeobachtung als Instrument der Vorsorge Sind Produktbeobachtungspflichten in ihrer öffentlich-rechtlichen Ausprägung ein präventives Instrument, geht es in erster Linie darum, Produktrisiken durch ausreichende Beobachtung nach Möglichkeit zu vermeiden, jedenfalls aber zu minimieren. Mit dem Ziel der Risikominimierung durch Informationsgewinnung sind private Produktbeobachtungspflichten Teilkonkretisierungen des Vorsorgeprinzips, die als Instrumente des öffentlichen Rechts in ihrer Präventivwirkung und den Durchsetzungsmöglichkeiten weit über die präventive Wirkung der zivil- und strafrechtlichen Verantwortlichkeit hinausgehen können. Wegen dieses Mehrwerts öffentlich-rechtlich vorgegebener Produktbeobachtungspflichten kommen sie vor allem dort zum Einsatz, wo nach der Einschätzung des Gesetzgebers die Gefahren für Rechtsgüter am Größten sind. Vor allem bei neueren Produkten oder neuerer Technologie, bei denen das Spannungsverhältnis von Innovation und Risiko besonders groß ist, sind Produktbeobachtungspflichten Privater attraktiv, um in möglichst großem Umfang Wissen zur besseren Beurteilung von Risiken und Restrisiken zu generieren. Dem Konzept privater Produktbeobachtungspflichten zugrunde liegt die Annahme eines Basisrisikos bestimmter Produkte und Produktgruppen, dem durch Einsatz spezifischer rechtlicher Instrumente Rechnung getragen werden soll, zu denen namentlich die Produktbeobachtung zählt. Dieses angenommene Basisrisiko bestimmter Produktarten dient als Anknüpfungspunkt und zugleich als Rechtfertigung für
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Produktbeobachtungspflichten und auch deren Privatisierung, wenn den Risiken auf diese Weise besser begegnet werden kann. Produktbeobachtungspflichten ordnen sich damit in ein allgemeineres Konzept des Risikomanagements ein, innerhalb dessen ihnen die Aufgabe der Risikoermittlung und gegebenenfalls der Risikobewertung zukommt. 9. Private Produktbeobachtungspflichten in multipolaren Verhältnissen Für die Beurteilung der Reichweite und der Grenzen staatlicher Produktbeobachtungspflichten, ist es sinnvoll, sich vor Augen zu halten, dass sie regelmäßig in mehrpoligen Verhältnissen virulent werden. Produktbeobachtungspflichten und ihre Verlagerung auf Private dienen dem Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit Betroffener vor Produktrisiken sowie der damit verbundenen Vorsorge. Insofern stellt sich regelmäßig die Frage nach einer ausreichenden Reichweite der Produktbeobachtung, wenn sie diese Ziele möglichst umfassend und effektiv gewährleisten soll. Auf der anderen Seite geht die Verlagerung der Produktbeobachtung auf Private mit einer Einschränkung von Freiheiten der Produkthersteller und/oder Inverkehrbringer einher, die mit einer erheblichen Ausweitung der Verantwortungsbereiche und dementsprechenden Belastungen verbunden sein kann. Der Staat muss beide Pole im Blick behalten. Beide sind wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden. Beide Pole bieten Anknüpfungspunkte für (verfassungs-)rechtliche Argumentation.
III. Verfassungsrechtlicher Rahmen privater Produktbeobachtungspflichten Das Spannungsfeld zwischen Staatsentlastung durch Einsatz Privater bei hinreichender staatlicher Überwachung zur Gewährleistung von Gemeinwohlbelangen spiegelt sich nicht nur im einfachen Gesetz, sondern auch im Verfassungsrecht wider. Die Grundrechte und namentlich Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verlangen hier zum einen unter der Chiffre des Untermaßverbots ein Mindestmaß an staatlichem Schutz vor Gefahren und an Risikovorsorge. Zum anderen schließt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinem Übermaßverbot eine unangemessen intensive Inanspruchnahme Privater durch den Staat aus. Die Pole des Spannungsfeldes sind auch hier eine Beschränkung auf zwingende Schutzvorkehrungen einerseits und die Vorgabe umfangreicher Ziele und Ausgleichsfunktionen zur Verwirklichung des Rechts-, Umwelt- und Sozialstaats andererseits.43 Dabei gilt es sich vor Augen zu halten, dass das Produktbeobachtungsrecht regelmäßig mehrpolig angelegt ist und das Verfassungsrecht im Bereich der Produktbeobachtung daher stets aus zwei Perspektiven heraus in Anschlag gebracht werden kann. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte können einerseits für den Schutz 43
Appel, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts (Fn. 5), § 32 Rn. 3.
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durch Produktbeobachtungsregelungen in Anschlag gebracht werden (verfassungsrechtlicher Schutz vor Produktrisiken durch Produktbeobachtung), andererseits gegen zu weitreichende Produktbeobachtungsregelungen (verfassungsrechtliche Grenzen von Produktbeobachtungspflichten). Sofern Produktbeobachtungspflichten Privater in Rede stehen, sind Grundrechte daher sowohl in ihrer Schutzdimension als auch in der Abwehrdimension präsent. Beide gilt es in den Blick zu nehmen, wenn es darum geht, den verfassungsrechtlichen Rahmen privater Produktbeobachtungspflichten abzustecken. 1. Schutzpflichtdimension Mit der Anerkennung von Schutzpflichten aus den objektiv-rechtlichen Gehalten der Grundrechte ist die Grundrechtsdogmatik mittelbar zu einem Teil der Staatsaufgabenlehre geworden, mit der auch Handlungspflichten verbunden sein können. Die aus der objektiven Wertordnung der Grundrechte abgeleitete, zunächst nur objektivrechtlich verbürgte Schutzpflicht gewinnt durch das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Untermaßverbot eine subjektiv-rechtliche Komponente. Seit der zweiten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch verlangt das Gericht vom Gesetzgeber „einen – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessenen Schutz. Entscheidend ist, dass er als solcher wirksam ist. Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssen für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen.“44 Es ist kein Geheimnis, dass die Schutzpflichtdimension in mancher Hinsicht Probleme aufwirft. Zum einen verlangt sie vom Gesetzgeber ein Tätigwerden, wo in der abwehrrechtlichen Perspektive bereits ergangene Maßnahmen verfassungsrechtlich auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden müssen. Zum anderen legitimiert sie nicht nur zu Grundrechtseingriffen, sondern verlangt diese unter Umständen sogar auf der einen Seite, um auf der anderen Seite angemessenen Schutz gewährleisten zu können, und kann damit der ursprünglichen Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte partiell entgegenstehen („Schutz durch Eingriff“). Das Untermaßverbot kann vor diesem Hintergrund nicht als ein verfassungsgerichtliches Instrument begriffen werden, dem Gesetzgeber in Kombination mit dem Übermaßverbot ein „rechtes Maß“ an Freiheitsbeschränkung und -verwirklichung zu diktieren. „Dem Staat und seinen Organen kommt deshalb bei der Erfüllung derartiger Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu“,45 der dem Gewaltenteilungsgrundsatz geschuldet ist. Das Untermaßverbot soll nur bei Untätigkeit oder evident unzureichendem Schutz verletzt sein.46 Die staatliche Steuerung relevanten Verhaltens muss gewährleisten, dass private Tätigkeiten mit hinrei44
BVerfGE 88, 203 (254) – Schwangerschaftsabbruch II. BVerfGE 115, 118 (159 f.) – Luftsicherheitsgesetz. 46 BVerfGE 79, 175 (202) – Straßenlärm; Ivo Appel, in: Koch (Hrsg.), Umweltrecht, § 2 Rn. 125 m.w.N. in Fn. 385. 45
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chender Sicherheit unterhalb der Gefahrenschwelle verbleiben.47 Gefordert ist im Risikobereich jedenfalls der Ausschluss von Grundrechtsverletzungen nach dem Maß „praktischer Vernunft“. Zur Schutzpflichtdimension gehört allerdings auch der Schutz vor rechtmäßigen Risiken (Risikopflicht).48 2. Reichweite der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht Genauere Konturen lassen sich aus diesen allgemeinen Grundsätzen zur Schutzpflicht nur schwer gewinnen. Zwar müssen die normativen und tatsächlichen Vorkehrungen des Gesetzgebers für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein. Gerade die Evidenzformel führt in Rechtsbereichen, in denen die Folgen und Auswirkungen (von Produkten) nicht mit letzter Sicherheit vorhergesagt werden können, aber zur weitgehenden Wirkungslosigkeit des Untermaßverbotes. Gefordert sind – den Besonderheiten des Risikorechts entsprechend – Vorkehrungen nach sorgfältigen, dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechenden Tatsachenermittlungen sowie auf der Grundlage vertretbarer Einschätzungen und Prognosen.49 Das Maß des geforderten Schutzes wird dadurch jedoch nicht näher vorgegeben, sondern in weitem Maße der Einschätzung des Gesetzgebers überlassen und niedriges Niveau lediglich prozedural flankiert (Tatsachenermittlungen nach Stand wissenschaftlicher Erkenntnis, vertretbare Prognosen und Einschätzungen). Vor diesem Hintergrund lässt sich aus der objektiven Dimension der Grundrechte im Wesentlichen nur das Bestehen der Schutzpflicht und mit ihr das „Ob“ des staatlichen Handelns sowie die Gewährleistung eines angemessenen Schutzniveaus im Sinne eines Untermaßverbots ableiten. Bei allen Fragen des „Wie“, des Grades und des Inhalts der Schutzpflichterfüllung steht hingegen die Konkretisierungsbedürftigkeit durch den Gesetzgeber im Vordergrund. Dieses Begründungskorsett prägt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Schutzpflicht – von den Besonderheiten der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch abgesehen – seit ihren Anfängen.50 Dies führt dazu, dass sich von Fällen der gesetzgeberischen Untätigkeit oder evidenten Ungeeignetheit der Maßnahmen kein klarer Maßstab für das Niveau des verfassungsrechtlich geforderten Schutzes (Untermaßes) bestimmen lässt. Sofern die prozeduralen Mindestanforderungen erfüllt sind, enden die gerade im Umwelt- und Gesundheitsbereich mitunter hohen Erwartungen an die Schutzpflichtargumentation daher regelmäßig in dem vergleichsweise pauschal an-
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Appel, in: Umweltrecht (Fn. 46), § 2 Rn. 123 m.w.N. in Fn. 376. Christian Bumke/Andreas Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, S. 34. 49 Appel, in: Umweltrecht (Fn. 46), § 2 Rn. 127; Dietrich Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 33 (2000), S. 240 (262 f.). 50 Kritisch dazu – auf der Grundlage der Verfassungsgerichtsrechtsprechung zum Umweltschutz – Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz (Fn. 49), S. 240 (244 ff., 262 f. m. zahlreichen w.N.). 48
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genommenen „weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich“51 des Gesetzgebers.52 3. Schutzpflicht und Übertragung der Produktbeobachtung auf Private Dieser allgemeine Hintergrund der Schutzpflichtdiskussion bildet den Rahmen für die Beantwortung der Frage, ob die Übertragung der Produktbeobachtung auf Private zu einer Verletzung des Untermaßes führen kann. Ein Rechtsregime, das die Nachbeobachtung von Produkten Privaten auferlegt, ist dabei auf den ersten Blick problematisch. Es verlagert die im Risikorecht so wichtige Sachverhaltsermittlung weg vom Staat auf Private hin. Diese sind als Produzenten in der Erfüllung der Pflichten zur Produktbeobachtung auch grundsätzlich nicht in einem der Behörde vergleichbaren Maße unabhängig. Die gebotene gründliche Sachverhaltsermittlung ist damit nicht per se gewährleistet. Fehlende Unabhängigkeit und mangelnde Interessenpluralität bergen die Gefahr einer gewissen Einseitigkeit der Produktbeobachtung und der daraus gegebenenfalls zu ziehenden Schlüsse in sich. Auf der anderen Seite ist der besondere Sachverstand der Produzenten nicht zu übersehen, die näher an den Produkten „dran“ sind und Risiken eher erkennen können. Diesen Sachverstand bei einer Behörde anzusiedeln, wäre offensichtlich mit immensen, unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden, wenn es überhaupt gelänge. In vielen Fällen dürfte aufgrund der hohen Spezialisierung der Hersteller von Arzneimittelprodukten ein überlegenes Wissen bestehen. Sachnähe, hohe Spezialisierung und im Regelfall auch ein gewisses Eigeninteresse der privaten Produzenten an der Produktbeobachtung führen dazu, dass staatliche Produktbeobachtung regelmäßig keine realistische Alternative darstellt. Zur Kompensation der allgemeinen institutionellen Schwäche von privater Marktbeobachtung hat der Gesetzgeber im Übrigen eine Reihe von rechtlichen Instrumenten genutzt, um die Erfüllung von Produktbeobachtungspflichten möglichst effektiv zu steuern und prozedural abzusichern. So wurde im Arzneimittelrecht die besondere Stelle des Stufenplanbeauftragten geschaffen (§ 63a AMG), der organisatorisch und personell eine qualifizierte Stellung einnimmt. Umfassende Verfahrensvorschriften verfolgen den Transparenzgedanken (§ 63c f. AMG); schließlich sind Pflichtverletzungen ordnungswidrigkeitenrechtlich sanktioniert (§ 97 AMG). Die entsprechenden Regelungen führen dazu, dass die Produktbeobachtungspflichten im Arzneimittelrecht von einer Verletzung des Untermaßverbots weit entfernt sein dürften. Auch die entsprechende Vorschrift im Gentechnikrecht (§ 16c GenTG) dürf51
BVerfGE 77, 170 (214); 79, 175 (202). Zu diesem Befund bereits Rainer Wahl/Ivo Appel, Prävention und Vorsorge, 1995, S. 69 ff.; Ivo Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 71. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat gerade bei den umweltbezogenen Schutzpflichten erheblich dazu beigetragen, dass der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers pauschal ausgedehnt und die Effektivität des Schutzes nicht näher konkretisiert worden ist. 52
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te die niedrigen Hürden des Untermaßverbots überwinden, wenngleich hier lediglich eine vage Zielsetzung der Nachbeobachtung normiert wird und die ausgestaltende Verordnung bislang nicht erlassen worden ist. Angesichts der vergleichsweise geringeren Risiken erscheinen auch die allgemeinen Vorschriften des Produktsicherheitsgesetzes (§ 6 ProdSG) gemessen an den Anforderungen der grundrechtlichen Schutzpflichten als unproblematisch.53 Im Ergebnis führt das flankierende Gewährleistungsrecht (Rahmenrecht der Produktbeobachtung) mit einer Reihe von Verfahrens-, Transparenz- und Beauftragtenregelungen, die der Gewährleistung klarer Organisations- und Verantwortungsstrukturen dienen, dazu, dass die grundrechtliche Schutzpflicht regelmäßig nicht verletzt ist. Werden diese prozeduralen Anforderungen erfüllt, führt die vom Bundesverfassungsgericht geprägte Evidenzformel in der Sache zu einer weitgehenden Wirkungslosigkeit der Schutzpflicht, auch selbst wenn die Wirkungen von Produkten im Einzelnen ungeklärt sind. 4. Abwehrrechtliche Dimension Neben jenen Verfassungspositionen, die tendenziell für einen (verstärkten) Umwelt- und Gesundheitsschutz streiten, setzen die Grundrechte als bürgerliche Freiheitsrechte staatlichen Umweltschutzmaßnahmen auch Schranken. Auf den ersten Blick scheint die Verfassung bei den Grenzen, die öffentlich-rechtlich vorgegebenen Produktbeobachtungspflichten gezogen werden, vergleichsweise klare Vorgaben zu treffen. Denn als bürgerliche Freiheitsrechte können die Grundrechte klassisch abwehrrechtlich in Anschlag gebracht werden, so dass prinzipiell alle rechtsstaatlichen Vorkehrungen zur Minimierung staatlicher Eingriffe zur Anwendung kommen können und insbesondere auch die Verhältnismäßigkeit hoheitlicher Nutzungsbeschränkungen eingefordert werden kann. Werden Grundrechte in Anspruch genommen, um die hoheitliche Auferlegung einschränkender und unter Umständen kostenträchtiger Produktbeobachtungspflichten zu verhindern oder zurückzudrängen, setzt dies allerdings voraus, dass der Schutzbereich einschlägiger Grundrechte überhaupt berührt ist. Die Adressaten von Produktbeobachtungspflichten sind in aller Regel Unternehmen. Im Vordergrund der grundrechtlichen Betrachtung wird daher in aller Regel nicht die allgemeine Handlungsfreiheit, sondern die Berufsfreiheit stehen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mit dem Apotheken-Urteil den engen funktionalen Zusammenhang zwischen Berufswahl und Berufsausübung betont und in Art. 12 Abs. 1 GG eine einheitliche Gewährleistung gesehen.54 Erst auf der Stufe der Rechtfertigung von Eingriffen in die Berufsfreiheit differenziert das Bundesverfassungsgericht zwischen Berufswahl und Berufsausübung.55 Produktbeobachtungspflichten bringen danach 53 Auch hier wird Nachlässigkeit in der Produktbeobachtung als Ordnungswidrigkeit geahndet (vgl. § 39 ProdSG). 54 BVerfGE 7, 377 (401 ff.). 55 Gerrit Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 12 Abs. 1 Rn. 66.
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wie Haftungsregeln regelmäßig einen Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung und damit der Berufsfreiheit mit sich. Die Beobachtungspflichten verpflichten zur Bereitstellung von Personal (z. B. eines Stufenplanbeauftragten, § 63a AMG) und Material (z. B. Datenbanken). Die Art und Weise der Pflichterfüllung steht größtenteils nicht im Ermessen der Unternehmer, sondern ist an weitere Voraussetzungen gebunden, die beispielsweise durch Berichtspflichten (§ 63d AMG) und die Bindung an Stufenpläne (§ 63 AMG) erfüllt werden müssen. Der häufig in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG bemühte allgemeine Gleichheitssatz ist demgegenüber regelmäßig nicht betroffen (Art. 3 Abs. 1 GG). Während im Umweltrecht häufig eine ungleichmäßige Heranziehung von Verursachergruppen zu beobachten ist,56 zeigt sich im Bereich der Produktbeobachtungspflichten eine vergleichsweise konsequente Abstufung nach der Größe des Risikos der in Verkehr gebrachten Produkte. Auf eine grundsätzliche Produkthaftung mit geringeren gesetzlich normierten Beobachtungspflichten bei einem angenommenen geringen Risiko folgen im mittleren Bereich gesteigerte Beobachtungspflichten wie etwa im Bauprodukterecht, die bei Annahme gesteigerter Risiken beispielsweise im Pflanzenschutzmittel-, Gentechnik- und Arzneimittelrecht nochmals forciert werden. Was die allgemeinen rechtsstaatlichen Schranken freiheitseinschränkender Produktbeobachtungspflichten anbetrifft, stehen namentlich der Gesetzesvorbehalt, das Bestimmtheitsgebot, eine ausreichende demokratische Rückbindung etwaiger weitergehender untergesetzlicher Konkretisierungen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in vorderster Linie. Die Anforderungen, die unter den Gesichtspunkten des Gesetzesvorbehalts, des Bestimmtheitsgebots und einer ausreichenden demokratischen Rückbindung gestellt werden, sind im Bereich des Umwelt-, Technik- und Gesundheitsrechts allerdings tendenziell zurückgenommen. Der Gesetzgeber delegiert die Entscheidung über Art und Ausmaß des Schutzes in ganz erheblichem Umfang auf die Verwaltung, die Rechtsprechung und teilweise auch private Normungsverbände.57 Begründet wird dies mit der Dynamik der Regelungsgegenstände Umwelt und Gesundheit im Hinblick auf veränderte Rahmenbedingungen sowie neue technische und wissenschaftliche Erkenntnisse, die weit gefasste Verordnungsermächtigungen und die Verwendung von Generalklauseln mit weitgehend offen formulierten unbestimmten Gesetzesbegriffen nötig machen sollen. Da die sachlichen Anforderungen im Umwelt-, Technik- und Gesundheitsrecht an den sich stetig fortentwickelnden Erkenntnissen von Wissenschaft und Technik ausgerichtet werden und der spezifischen Dynamik Rechnung tragen müssen, verwendet der Gesetzgeber auch in hohem Maße unbestimmte Rechtsbegriffe, bei denen dem Gesetzgeber regelmäßig bewusst ist, dass die maßgebenden Vorgaben durch untergesetzliche Regelwerke, Verwaltungsvorschriften und teilweise auch durch die Nor-
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Appel, in: Eigenwert der Verfassung (Fn. 10), S. 298. Reinhard Sparwasser/Rüdiger Engel/Andreas Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 1 Rn. 180, 197 ff. 57
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mierungstätigkeit privater Normungsinstitute getroffen werden.58 Auch wenn der Staat nach außen die volle inhaltliche Verantwortung für den rezipierten Standard übernimmt, kann er seine inhaltliche Richtigkeit doch regelmäßig nicht überprüfen.59 Die damit verbundenen Probleme liegen auf der Hand und betreffen neben dem Aspekt der demokratischen Legitimation60 gerade auch die Bestimmtheitsanforderungen und die Frage, inwieweit ihre Abschwächung durch Vorgabe organisatorischverfahrensrechtlicher Regelungen für die Normierungstätigkeit aufgefangen werden kann.61 Gleichwohl wird die vergleichsweise starke Konkretisierungsbedürftigkeit und tatsächliche Konkretisierung verfassungsrechtlich weitgehend mit den Besonderheiten der Regelungsmaterien gerechtfertigt und gehalten. Bei den Produktbeobachtungspflichten erscheint im ersten Zugriff problematisch, dass beispielsweise der Stufenplan im Arzneimittelrecht als Verwaltungsvorschrift ergeht (§ 62 AMG i.V.m. Stufenplan).62 Das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit erstellt durch allgemeine Verwaltungsvorschrift mit Zustimmung des Bundesrates einen Stufenplan, in dem die Zusammenarbeit der beteiligten Behörden und Stellen auf den verschiedenen Gefahrenstufen sowie die Einschaltung der pharmazeutischen Unternehmer näher geregelt und die jeweils nach den Vorschriften dieses Gesetzes zu ergreifenden Maßnahmen bestimmt werden. In dem Stufenplan werden zudem Informationswege und -mittel näher bestimmt. Obwohl damit wesentliche Festlegungen erst auf der untergesetzlichen Ebene einer Verwaltungsvorschrift getroffen werden, während die gesetzlichen Regelungen vergleichsweise offen und vage formuliert sind, wird man unter Anlegung der zum Umweltrecht entwickelten Relativierungen der verfassungsrechtlichen Anforderungen auch im Bereich der Produktbeobachtungspflichten von risikospezifischen Besonderheiten des Sachbereichs ausgehen müssen, die eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung ermöglichen. Dies gilt umso mehr, als für den Erlass des Stufenplans als Verwaltungsvorschrift eine gesetzliche Ermächtigung vorgesehen ist.
58 Zur Problematik Martin Führ, Technische Normen in demokratischer Gesellschaft. Zur Steuerung der Technikanwendung durch private Normen, ZUR 1993, 99 ff.; Voßkuhle, in: Jenseits von Privatisierung und schlankem Staat (Fn. 4), S. 47 (69 ff.). 59 Gertrude Lübbe-Wolff, Verfassungsrechtliche Fragen der Normsetzung und Normkonkretisierung im Umweltrecht, ZG 1991, 219 (233). 60 Zu dieser Frage – freilich ohne klare Antwort – BVerfG NJW 1993, 2599 (2600) sowie BVerwGE 77, 285 (291 f.) zu DIN-Normen. 61 Zu entsprechenden Forderungen Erhard Denninger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Umwelt- und Technikrecht, 1990, S. 27; Christoph Gusy, Probleme der Verrechtlichung technischer Standards, NVwZ 1995, S. 105 ff. 62 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken (Stufenplan) nach § 63 des Arzneimittelgesetzes (AMG) – Stufenplan, abrufbar unter http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_09022005_ 111436241.htm (zuletzt abgerufen am: 20. September 2014).
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5. Verhältnismäßigkeit unter Bedingungen der Unsicherheit Der Schwerpunkt der abwehrrechtlichen Grundrechtsbetrachtung liegt auch mit Blick auf die Produktbeobachtungspflichten regelmäßig im Bereich der Verhältnismäßigkeit. Der ursprünglich für das Gefahrenabwehrrecht entwickelte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt von staatlichen Freiheitsbeschränkungen, dass sie einen legitimen Zweck verfolgen, zur Zweckverfolgung geeignet, erforderlich und die Eingriffsintensität mit Blick auf den Zweck angemessen ist. Von ihrer Zweckrichtung her dienen Produktbeobachtungspflichten beim Inverkehrbringen von potentiell gefährlichen oder risikobehafteten Stoffen (letztendlich) dem Schutz der Umwelt allgemein (Art. 20a GG), insbesondere aber (auch) dem Schutz der Individualrechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Da die Folgen und Auswirkungen der Produkte nicht im Einzelnen bekannt sind und nur auf der Grundlage von Prognosen eingeschätzt werden können, ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei Produktbeobachtungspflichten aber regelmäßig allen Schwierigkeiten ausgesetzt, mit denen eine gehaltvolle Verhältnismäßigkeitsprüfung bei unsicheren Sachverhalten zu kämpfen hat. Denn zählen Produktbeobachtungspflichten zu den Grundelementen der Vorsorge, der zufolge freiheitseinschränkende Maßnahmen auch unter Bedingungen der Ungewissheit getroffen werden können, muss die Prüfung der Verhältnismäßigkeit diese Ungewissheit auf allen Prüfungsstufen in Rechnung stellen. Bereits die Prüfung der Geeignetheit einer Vorsorgemaßnahme ist aber erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt, da die zugrundeliegende Prognose entsprechend dem Grad der Ungewissheit kaum ernsthaft überprüft werden kann. Noch weitaus mehr gilt dies für die Prüfung der Erforderlichkeit, wenn angesichts weithin unklarer Ursachenzusammenhänge keine klaren Abstufungen der Eingriffsintensitäten verschiedener rechtlicher Instrumente mit Blick auf die Effektivität der Zielerreichung vorgenommen werden können.63 In diesen Fällen erschöpft sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßig im Verweis auf die Einschätzungs-, Wertungs- und Beurteilungsprärogative des Gesetzgebers. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setzt die Bestimmbarkeit einer Gefahr voraus, die aus einer Prognoseentscheidung ausgehend von Eintrittswahrscheinlichkeit und erfahrungsgemäß vorhersehbarem Ereignisverlauf bestimmt wird. Die Prognoseentscheidung verlangt also eine hinreichende Kenntnis von zu erwartenden Kausalverläufen. Die Bereiche des Rechts, in denen es um die Beobachtung von neueren Hochtechnologieprodukten geht, werfen insofern Schwierigkeiten auf, da über Wirkungen und Wirkungszusammenhänge keine letzte Gewissheit besteht. Das Risiko ist eben kein Minus zur Gefahr, sondern eine Situation, in der sich der zu erwartende Geschehensablauf mangels erforderlichen Wissens nicht hinreichend sicher bestimmen lässt. Schon die Feststellung der Geeignetheit einer Vorsorgemaßnahme zum Schutz von Umwelt bzw. Leben und körperlicher Unversehrtheit lässt sich nicht sicher er63
Vgl. aus neuerer Zeit nur BVerfG 128, 1 ff. – Gentechnikrecht.
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bringen, wenn Ungewissheit über die Wirkungen besteht, die mittels der Maßnahme ausgeschlossen oder abgemildert werden sollen. In gleicher Weise lässt sich auch die Erforderlichkeit bei verbleibender Ungewissheit nicht sinnvoll prüfen, da diese Voraussetzung ebenfalls an die Wirkung eines eventuell milderen Mittels anknüpft.64 Um angemessen zu sein, darf der Grundrechtseingriff hinsichtlich der mit ihm verfolgten Zwecke nicht außer Verhältnis stehen zur Beeinträchtigung der Grundrechte, konkret vor allem der Berufsfreiheit. Bei der dem Polizeirecht entlehnten traditionellen Prüfungsmodus des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird für die erforderliche Zweck-Mittel-Abwägung grundsätzlich eine „Je-desto“-Formel herangezogen: Je größer der mögliche Schaden, je höherrangiger das gefährdete Rechtsgut, desto geringer sind die Anforderungen an die Rechtfertigung des Eingriffs. Dies gilt grundsätzlich auch im Bereich des Produktsicherheitsrechts im weiteren Sinn. Auch hier kann die Verhältnismäßigkeit aber nur sinnvoll überprüft werden, wenn konkrete Wirkungszusammenhänge bekannt sind. Legt man die klassische Verhältnismäßigkeitsformel zugrunde, sind Produktbeobachtungspflichten danach mit Blick auf einzelne Produkte, zu deren Nachbeobachtung sie eingesetzt werden, nicht immer eindeutig zu rechtfertigen. Dies gilt vor allem im Arzneimittel- und Gentechnikrecht. Das Bundesverfassungsgericht prüft die Angemessenheit von Eingriffen in die Berufsfreiheit grundsätzlich anhand der im Apothekenurteil entwickelten Drei-Stufen-Theorie.65 Eingriffe werden danach ihrer Intensität nach drei verschiedenen Eingriffsstufen zugeordnet. Berufsausübungsregelungen stellen dabei die niedrigste Eingriffsstufe dar, neben den subjektiven und objektiven Berufszulassungsregeln. Die Freiheit der Berufsausübung „kann im Wege der ,Regelung‘ beschränkt werden, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen.“66 Letztlich ist die Einordnung in eine der drei Stufen nur ein Indiz dafür, dass eine weitere Überprüfung mit konkreten Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nötig ist. Innerhalb des Regelfalls einer Berufsausübungsregel darf der Gesetzgeber weitreichende Zweckmäßigkeitserwägungen heranziehen, zu denen auch die bloße Erleichterung der Verwaltungstätigkeit zählt.67 Begreift man den Begriff der Gemeinwohlerwägungen des Gesetzgebers zur Rechtfertigung von Berufsausübungsregelungen enger, ist zunächst die bloße Vereinfachung der staatlichen Überwachung kein hinreichend gewichtiger Grund für die weitreichende Übertragung an sich staatlicher Aufgaben. Es müssten dann weitere gemeinwohlorientierte Interessen hinzutreten.68 Ein solches Interesse ist aber ohne Zweifel die besondere Sachnähe der Hersteller zu den von ihnen erzeugten Produkten. Dies gilt vor allem in Bereichen der Hochtech64
Appel, in: Umweltrecht (Fn. 46), § 2 Rn. 138. BVerfGE 7, 377 (398 ff.); 46, 120 (138) – Direktruf. 66 BVerfGE 7, 377 (405; Hervorhebung im Original); BVerfGE 128, 1 (38) – Gentechnikrecht. 67 Vgl. BVerfGE 7, 377 (406). 68 Vgl. BVerfGE 86, 28 (41 f.) – Sachverständigenbestellung. 65
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nologie, die durch einen einzigartigen Sachverstand auf Seiten der Unternehmen gekennzeichnet sind. Hier wird die Verhältnismäßigkeit von Beobachtungspflichten auch unter Unsicherheitsbedingungen regelmäßig nicht bestritten werden können. Gegen die Indizwirkung der Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Unsicherheitsbedingungen lässt sich im Fall der Produktbeobachtungspflichten nur wenig vorbringen: Öffentlich-rechtlich vorgegebene Produktbeobachtungspflichten bauen auf zivilrechtlichen Pflichten auf. Die zusätzliche Beschwer ist im allgemeinen Produktsicherheitsrecht nur gering (vgl. § 6 ProdSG). Die Pflicht, Produkte stichprobenartig zu überprüfen, ein Beschwerdebuch zu führen und Beschwerden nachzugehen, lässt sich auch von kleineren Unternehmen ohne größeren Aufwand bewältigen. Für diese Anforderungen der Produktbeobachtung lassen sich ohne weiteres sachliche Gründe finden. Dies gilt auch für die Erfassung verschiedenster Produkte mit jeweils unterschiedlich hohen Risiken. Produkte lassen sich schwerlich konkreter und individueller erfassen. Eine Anknüpfung an den Preis wäre als Differenzierungskriterium ungeeignet. Auch Differenzierungen hinsichtlich der Gruppe der Konsumenten und Nutzer helfen nicht immer weiter, zumal letztlich immer die allgemeine Möglichkeit von zumindest indirekten Auswirkungen auf Unbeteiligte besteht. Mögliche Produktrisiken sind so vielfältig, dass selbst Naturprodukten eine Schadenseignung zukommen kann. Zwar können Produktbeobachtungspflichten, sofern sie detailliert gesetzlich ausformuliert sind, vor allem kleinere Unternehmen nicht unerheblich belasten. Im Bereich des allgemeinen Produktsicherheitsrechts sind diese Pflichten aber in aller Regel überschaubar. Im Arzneimittel-, Pflanzenschutzmittel- und Gentechnikrecht, das intensivere Beobachtungspflichten vorsieht, ist davon auszugehen, dass regelmäßig nur Unternehmen einer gewissen Größenordnung überhaupt das entsprechende Fachwissen, die Kapazität und die Fertigungstechnik haben, entsprechende Produkte herzustellen. In diesen Bereichen wirken Pflichten zur Nachbeobachtung wesentlich eingriffsintensiver auf die Berufsfreiheit ein, da die Produktbeobachtungspflichten zu einem zweiten Verwaltungsverfahren neben das Zulassungsverfahren treten können. Dabei kann das Verfahren der Nachbeobachtung in seinen Dimensionen und seiner Belastungsintensität dem Zulassungsverfahren kaum nachstehen.69 Sind im Falle von Nachbeobachtungspflichten generell vergleichsweise umfangreiche Unterlagen einschließlich Risikomanagementplänen und der Vorlage von Forschungsergebnissen vorzulegen, die zum Bereich der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zählen können, setzt die Pflicht zur Pharmakovigilanz diese Anforderungen in nicht minder hoher Intensität fort: Dabei müssen Risikomanagement und Dokumentation betrieben (§ 63b Abs. 2 Nr. 3, 4 AMG), die Erkenntnisse zum Gegenstand weiterer Forschung gemacht (§ 63b Abs. 2 Nr. 1 AMG) und regelmäßig Audits durchgeführt werden (§ 63b Abs. 2 Nr. 2 AMG). Anders als das Zulassungsverfahren sind diese Maßnahmen laufend vorzunehmen, so dass die Belastung und die damit verbundenen 69 Vgl. zur Rechtslage 1990 schon Udo Di Fabio, Verwaltungsentscheidung durch externen Sachverstand, VerwArch 81 (1990), S. 193 (207).
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Kosten laufend anfallen und je nach Medikament erheblich sein können. In diesen Fällen ist von einer Berufsausübungsregel höherer Intensität auszugehen, da neben die Zulassungspflicht als Berufsausübungsregel noch die weitere Beschwer der laufenden Produktbeobachtung tritt. Gleichwohl treten neben die zuvor genannten Aspekte der Sachnähe und Fachkompetenz der betroffenen Unternehmen weitere Umstände, die eine Verpflichtung zur Produktbeobachtung regelmäßig als gerechtfertigt erscheinen lassen. Das an sich vorzugswürdige Instrument der punktuellen Gefahrenabwehr, das als milderes Mittel in Erwägung gezogen werden kann, würde die betroffenen Rechtsgüter nicht nur weniger wirkungsvoll schützen. Ein entsprechendes Schutzregime wäre weitgehend wirkungslos, da sich in den betreffenden Rechtsgebieten mögliche Schadensereignisse ohne fortschreitende Wissensgenerierung nicht vorhersagen ließen. Die Annahme eines Basisrisikos, das bestimmten Produkten bzw. Produktbereichen zugeordnet wird, liegt im Bereich der weiten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.70 Daher wird regelmäßig kein wissenschaftlich-empirischer Nachweis dieses Basisrisikos gefordert, um Berufsausübungsregelung in Form von Produktbeobachtungspflichten zu treffen.71 Die Einschätzung der Risiken und der rechtliche Umgang mit ihnen soll angesichts der Bedeutung der möglicherweise betroffenen Rechtsgüter der Beurteilung des Gesetzgebers obliegen. Dies gilt umso mehr, wenn wie im Arzneimittel-, Pflanzenschutzmittel- und Gentechnikrecht möglicherweise langanhaltende und umfassende Schädigungen gewichtiger Rechtsgüter durch potentiell fehlerhafte Produkte im Raum stehen. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG muss dabei auch im Lichte des Art. 20a GG gelesen werden, der die besondere Verantwortung auch für künftige Generationen in Rechnung stellt. Diese Weitung der Perspektive ist für den Gesetzgeber auch ein Auftrag, das Umwelt- und Gesundheitsrecht permanent nachzubessern und auf diese Weise angemessene Vorsorge zu betreiben.72
6. Grundrechtliche Rechtfertigung von Produktbeobachtungspflichten Im Übrigen gilt es sich aber vor Augen zu halten, dass die Verhältnismäßigkeit von Produktbeobachtungspflichten regelmäßig in multipolaren Verhältnissen relevant wird. Was den produzierenden Unternehmen als einschränkende Beobachtungspflicht auferlegt wird, zählt auf Seiten der von Produktrisiken Betroffenen zum Bereich von Schutz und Vorsorge. Bei Vorliegen zwingender Schutzgründe kann es ausnahmsweise zu einer Ermessensreduzierung auf Null kommen. Im Übrigen handelt es sich um Abwägungsentscheidungen, wie Schutz- bzw. Vorsorgemaßnahmen in Form von Beobachtungspflichten und die damit verbundenen Freiheitseinschränkungen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Das Austarieren des Verhältnisses 70
Vgl. BVerfGE 128, 1 (39) – Gentechnikrecht. BVerfGE 128, 1 ff. 72 Vgl. Appel, in: Umweltrecht (Fn. 46), § 2 Rn. 116. 71
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Ivo Appel
von Schutz und Eingriff ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers, dem auch hier ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Beurteilungsspielraum zukommt. Die rechtlichen Anforderungen an Abwägungsprozesse lassen sich dabei nicht ohne weiteres auf den Gesetzgeber übertragen. Gleichwohl sind die Begründungsanforderungen tendenziell erhöht und ist der Einschätzungsspielraum an den Rändern eingeschränkt, wenn unter Rückgriff auf bestehende Schutzpflichten Beobachtungspflichten auferlegt und zu diesem Zweck Grundrechte eingeschränkt werden. Dies vorausgeschickt lassen sich die grundrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung von Produktbeobachtungspflichten etwas näher eingrenzen. Die Rechtfertigungsanforderungen steigen naheliegenderweise mit Ausmaß und Intensität der Produktbeobachtungspflichten. Sie sind vergleichsweise gering bei der Vorgabe bloßer Aufzeichnungspflichten und deutlich gesteigert im Fall der verpflichtenden Einführung eigener Verwaltungsverfahren der Produktbeobachtung. Hinzu kommt, dass die Rechtfertigungsanforderungen prinzipiell nach dem prognostizierten Risikopotential abgestuft werden müssen, wobei je nach dem Grad der Unsicherheit allerdings ein erheblicher Prognosespielraum bestehen kann. Probleme bereitet nicht zuletzt im Hinblick auf eine aussagekräftige Verhältnismäßigkeit das Problem, wie weit die zugrundeliegende Risikoermittlung reichen muss. Hinzu kommt als weitere Schwierigkeit die Frage, wie pauschal der Gesetzgeber bei einzelnen Produkten und Produktarten ein Basisrisiko unterstellen darf, ob und inwieweit er dabei Begründungsanforderungen unterliegt und wie weitgehend die (pauschale) Annahme eines solchen Basisrisikos wissenschaftlich-sachverständig unterfüttert und abgesichert sein muss. Ein dritter Problemkreis betrifft die Frage, ob und inwieweit die Effektivität bestimmter Formen der Produktbeobachtung zur Erreichung der angestrebten Schutz- und Vorsorgeziele dargetan werden muss und wie pauschal die Annahme der Geeignetheit und Erforderlichkeit einzelner Produktbeobachtungsmaßnahmen ausfallen darf. In der Sache lässt sich nicht verkennen, dass sich eine ganze Reihe an Gemeinwohlgründen finden und überzeugend begründen lassen, die als Rechtfertigung für Produktbeobachtungspflichten Privater herangezogen und vom Gesetzgeber in der einen oder anderen Begründungsvariante für die öffentlich-rechtliche Vorgabe von Produktbeobachtungspflichten genutzt werden können. Sie reichen, nochmals zusammenfassend formuliert, von der (vorsorgenden) Risikominimierung durch möglichst umfassende Informationsgewinnung über die Bedeutung möglicherweise betroffener Rechtsgüter, die Sachnähe und Fachkompetenz der Privaten, die Anknüpfung an ohnehin bestehende zivilrechtliche Pflichten und einer daraus abgeleiteten bis hin zur Argumentation, dass punktuelle Gefahrenabwehrmaßnahmen allein keine gleich geeignete Alternative darstellen. In der Summe führen diese möglichen Argumentationslinien dazu, dass öffentlich-rechtliche Produktbeobachtungspflichten, die Privaten auferlegt werden, bei entsprechendem Handlungswillen des Gesetzgebers in aller Regel auch gerechtfertigt werden können.
Grundrechtliche Fragen privater Produktbeobachtungspflichten
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IV. Zusammenfassung Vor diesem Hintergrund fällt der Ertrag der Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen privater Produktbeobachtungspflichten vergleichsweise nüchtern aus. Öffentlich-rechtlich vorgegebene Produktbeobachtungspflichten Privater sind als Teilbereich der Verfahrensprivatisierung für den Staat in hohem Maße attraktiv. Als Instrumente der Vorsorge in mehrpoligen Verhältnissen, die durch Unsicherheiten über Produktrisiken geprägt werden, sind Produktbeobachtungspflichten aber verfassungsrechtlich nur schwer greifbar. Sowohl in der Schutzdimension als auch in der abwehrrechtlichen Dimension bestehen beträchtliche Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers. Nur in Ausnahmefällen wird die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Produktbeobachtungspflichten am Maßstab der Grundrechte daher nicht gelingen.
Produktbeobachtung zwischen Produktsicherheitsrecht und Social Media Von Thomas Klindt Produktsicherheit ist eine weit über gewährleistungsrechtliche Mängelfreiheit hinausgehende Eigenschaft von Produkten, die verschiedenste Rechtsbereiche berührt. Dass ein Produkt – wenigstens in seiner bestimmungsgemäßen Anwendung – Verwender (und ggf. Dritte) nicht zu gefährden hat, war im deutschen Recht schon eine Erkenntnis des 1968 verabschiedeten Gesetzes über technische Arbeitsmittel (GtA), das dann später ins Gerätesicherheitsgesetz (GSG), sodann ins Geräteund Produktsicherheitsgesetz (GPSG) und seit 2010 in das Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) überführt wurde. All diese Gesetze sind öffentlich-rechtlicher Natur, ermächtigen also staatliche Marktüberwachungsbehörden dazu, diejenigen Unternehmen zu kontrollieren, die Produkte auf dem EU-Binnenmarkt bereitstellen. Daneben dienen auch die Grundsätze der zivilrechtlichen Produzenten- und Produkthaftung im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB sowie der strafrechtlichen Produkthaftung bei der Verletzung von Leib und Leben durch ein unsicheres Produkt (v. a. §§ 222, 229 StGB) über ihre Sanktionsandrohungen der Gewährleistung der Produktsicherheit. Das Strafrecht legt insoweit den Mindeststandard fest, als es hier – soweit es um Fahrlässigkeitsdelikte geht – lediglich auf Gefahren für die körperliche Unversehrtheit ankommt. Nach der zivilrechtlichen Haftung sind auch Sachschäden zu ersetzen, so dass sich der Sicherheitsstandard insoweit erhöht. Nach den öffentlich-rechtlichen Vorschriften sind schließlich alle gesetzlichen Vorgaben (bspw. formaljuristische Vorschriften zur CE-Konformität) einzuhalten, auch wenn sie nicht unmittelbare Sicherheitsrelevanz haben.
I. Grundsätzliche Anforderungen an die Sicherheit eines Produkts Nach § 3 Abs. 2 S. 1 ProdSG darf ein Produkt nur auf dem Markt bereitgestellt werden darf, wenn es bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährdet. Dies stellt die öffentlich-rechtliche, europarechtlich vorgeprägte Ausformung des ebenso im zivilrechtlichen Produkthaftungsrecht im Rahmen der Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB gelten-
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den Grundsatzes dar. Im öffentlich-rechtlichen Produktsicherheitsrecht und im zivilrechtlichen Produkthaftungsrecht finden insoweit die gleichen Maßstäbe Anwendung. So gilt auch im Produkthaftungsrecht ebenso wie nach § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 ProdSG, dass bei der Beurteilung der Sicherheit eines Produktes „Einwirkungen […] auf andere Produkte“ mit zu berücksichtigen sind, „soweit zu erwarten ist, dass es zusammen mit anderen Produkten verwendet wird“. Letzteres hängt auch von der Aufmachung des Produkts, der Gebrauchs- und Bedienungsanleitung und etwaigen Warnhinweisen ab (§ 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 ProdSG). Außerdem ist bei den Sicherheitsanforderungen auch zu berücksichtigen, ob es identifizierbare Gruppen von Verwendern gibt, die bei der Verwendung des Produkts stärker gefährdet sind als andere (§ 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 ProdSG). Bei der Beurteilung ist von der berechtigten Sicherheitserwartung der Produktnutzer auszugehen. Diese geht grundsätzlich dahin, dass von einem Produkt bei vorhersehbarer üblicher Verwendung unter Beachtung der Gebrauchs- bzw. Installationsanleitung keine erheblichen Gefahren für Leib und Leben der Nutzer oder unbeteiligter Dritter ausgehen, das Produkt also so konzipiert ist, dass es unter Beachtung der Installations- und Gebrauchsanleitung bei bestimmungsgemäßem Gebrauch oder vorhersehbarem Fehlgebrauch gefahrlos benutzt werden kann. Diese vermeintlich triviale Anforderung hat der BGH jüngst in erfrischender Deutlichkeit höchstrichterlich klargestellt.1 Indes können Gefahren, die von einem Produkt ausgehen, erst später, zum Teil alterungsbedingt erst nach Jahren, bei der praktischen Nutzung im Feld offenbar werden; vor allem möglicher Fehlgebrauch liegt nicht immer schon bei der technischen Design-Konzeption des Produkts auf der Hand. Daher trifft den Hersteller auch nach Inverkehrbringen seines Produktes noch die Pflicht, dessen (anfängliche) Sicherheit zu überwachen.2
II. Pflicht zur Produktbeobachtung nach dem ProdSG: „After-Sales-Kontrolle“ Gefördert durch die 2001 verabschiedete Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG enthält das ProdSG nun auch eine autonome Verpflichtung der Wirtschaftsakteure zu einer After-Sales-Kontrolle der vertriebenen Ware, allerdings bisher nur im Bereich der Verbraucherprodukte: Nach § 6 Abs. 3 ProdSG haben nämlich die Hersteller, Bevollmächtigten und EUImporteure bei den längst auf dem Markt bereitgestellten Verbraucherprodukten zum einen Stichproben durchzuführen, zudem Beschwerden zu prüfen und, falls erforderlich, ein Beschwerdebuch zu führen und außerdem ihre Händler über weitere Maß1
Vgl. BGH NJW 2013, 1302, Tz. 14 – Heißwasser-Untertischgerät m.w.N. Vgl. auch Thomas Klindt/Susanne Wende, Rückrufmanagement, 3. Aufl. 2014, S. 49; Ulrich Foerste, in: ders./Friedrich Graf von Westphalen, Produkthaftungshandbuch, 3. Aufl. 2012, § 24 Rn. 372 f. 2
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nahmen zu unterrichten. Welche Stichproben geboten sind, hängt vom Grad des Risikos ab, das mit den Produkten verbunden ist, und von den Möglichkeiten, das Risiko zu vermeiden. Die Pflicht zur Stichprobenentnahme kann daher auch auf einen Rückkauf hinauslaufen, vor allem wenn durch beobachtete Schadensfälle der Verdacht aufkommt, dass von älteren Produkten eine gesteigerte Gefahr – z. B. von Kurzschlüssen und Entzündung bei elektrischen Geräten – ausgehen kann und sich allein anhand noch intakter Produkte des gleichen Herstellungszeitraums die mögliche Schadensursache ingenieurtechnisch ermitteln lassen kann. Der Inverkehrbringer hat bei erkannten Risiken u. a. gem. § 6 Abs. 4 ProdSG dadurch gegenzusteuern, dass die zuständige Marktüberwachungsbehörde informiert wird („Notifikationspflicht“); die Vorschrift gilt übrigens qua Verweis in § 6 Abs. 5 S. 3 ProdSG für reine Händler entsprechend. Ihr Vollzug ist in der industriellen Praxis mit erheblichen Herausforderungen verbunden, da es zumeist – neben dem nicht minder pikanten Problem des eCommerce – eine Vielzahl von Märkten in einer Vielzahl von Vertriebsstaaten und damit in einer Vielzahl autonomer Jurisdiktionen gibt. Dieses gesamte unternehmerische After-Sales-Risikomanagement entzieht sich den preußisch geprägten Strukturen verwaltungsverfahrensrechtlicher Dogmatik; zumal viele Vorgaben des § 6 ProdSG weder gem. § 26 ProdSG exekutierbar noch gem. § 39 ProdSG mit einem Bußgeld sanktionierbar sind. Es entspricht eher dem Konzept eines allgemeinen, z. T. appellativen Verbraucherschutzrechts in jedweder kategorischen Ausprägung.
III. Produktbeobachtungspflicht des Produzentenhaftungsrechts Daneben hat selbstverständlich auch das Produzenten- und Produkthaftungsrecht produktsichernde Züge, indem es im konkreten Schadensfall dem Geschädigten Schadensersatzansprüche (inklusive Schmerzensgeld) zubilligt. Im Vorfeld des Inverkehrbringens sind im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB die Verkehrssicherungspflichten des Herstellers in Bezug auf eine sichere Konstruktion und eine fehlerfreie Fabrikation des Produkts sowie eine ausreichende Instruktion der Produktnutzer über die sichere Verwendung des Produkte – ggf. in Verbindung mit deutlichen Gefahrenhinweisen und Warnungen vor falschem Gebrauch – anerkannt.3 Zudem zählt die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH bereits seit vielen Jahrzehnten zu den Verkehrssicherungspflichten des Herstellers (gleich ob von Verbraucherprodukten oder von Produkten für den unternehmerischen Bereich) auch nach dem Zeitpunkt des Inverkehrbringens die Produktbeobachtungspflicht.4 3 4
Vgl. umfassend Foerste, Produkthaftungshandbuch (Fn. 2), § 24 Rn. 71, 177, 217. Grundlegend BGHZ 80, 199, 202 = NJW 1981, 1606 – Benomyl/Apfelschorf.
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Denn das Inverkehrbringen eines Produktes stellt die Schaffung einer Gefahrenquelle dar, für die den „Verursacher“ nach den allgemeinen deliktsrechtlichen Prinzipien eine Überwachergarantenstellung trifft. Zur der Produktbeobachtungspflicht als Verkehrssicherungspflicht gehört – nicht beschränkt auf die oben genannten öffentlich-rechtlichen Anforderungen –, dass Produkte nach ihrem Inverkehrbringen je nach Abnehmerkreis mit objektiv erforderlichen sowie zumutbaren Maßnahmen beobachtet werden, um der Gefahr einer möglichen Rechtsgutsverletzung entgegenwirken zu können. Man unterscheidet zwischen passiver Produktbeobachtung sowie aktiver Produktbeobachtungspflicht.5 Dabei beschränkt sich die passive Produktbeobachtung darauf, Beschwerden von Kunden über Schadensfälle und Sicherheitsdefizite entgegen zu nehmen, zu sammeln und systematisch auszuwerten. Die aktive Produktbeobachtung fordert dem Unternehmen hingegen ab, Informationen über mögliche Schadensrisiken des eigenen Produkts selbst zu generieren u. a. durch Sammlung und Auswertung von Erkenntnissen über Konkurrenzprodukte, von Neuentwicklungen bei Wettbewerbern, von Unfallstatistiken sowie von Veröffentlichungen in der einschlägigen Fachpresse, einschließlich wissenschaftlicher Veröffentlichungen.6 Auf der Grundlage seiner Beobachtungen muss ein Unternehmen aktive Gefahrabwendungsmaßnahmen ergreifen, sobald es hinreichend deutlich erkennt, dass die im Markt befindlichen Produkte ein (unerwartetes) Sicherheitsrisiko aufweisen. Die Gefahrabwendungspflicht kann unter Umständen bereits mit nachträglicher Instruktion und Sicherheitshinweisen erfüllte werden, kann aber auch erfordern, dass eine Reparatur des Produkts offeriert wird oder dass das Produkt insgesamt zurückgerufen wird. Dass derart notwendig gewordene Produktwarnungen oder gar ein Produktrückruf nicht unterlassen werden dürfen, will man im Schadensfalle Strafrechtsrisiken (etwa nach den §§ 222, 229 StGB) vermeiden, ist spätestens seit der wegweisenden „Erdal“-Entscheidung des BGH7 allseits bekannt. Mit der ebenfalls bereits zum Klassiker avancierten „Pflegebetten-Entscheidung“8 hat der BGH allerdings klargestellt, dass namentlich im b2b-Umfeld in der Regel eine Produktwarnung – ggf. mit der strikten Aufforderung, das Produkt nicht weiter zu nutzen – genügt, wenn damit der Gefahr bereits wirksam begegnet werden kann. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass eine sorgfältige Produktbeobachtung nach Inverkehrbringen frühere Versäumnisse bei Konstruktion, Fabrikation und Instruktion nicht mehr „wettzumachen“ vermag, soweit eine spätere Warnung oder ein 5
Vgl. Gerhard Wagner, in: Münchner Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 823 Rn. 673 f. 6 Vgl. auch Klindt/Wende, Rückrufmanagement (Fn. 2), S. 52; Foerste, Produkthaftungshandbuch (Fn. 2), § 24 Rn. 378. 7 BGHSt 37, 106 = NStZ 1990, 587 = NJW 1990, 2560 – Lederspray. 8 BGHZ 179, 157 = NJW 2009, 1080 – Pflegebetten.
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Rückruf den betroffenen Produktnutzer nicht erreicht. Wo im Strafrecht noch der Gedanke der „tätigen Reue“ zu Strafmilderung führen kann, bleibt die zivilrechtliche Haftung ungeschmälert bestehen.
IV. Produktbeobachtung und Social Media Besondere Herausforderung an die operative Produktbeobachtung zeigen sich nun im gewandelten technologischen Umfeld der Social-Media-Kommunikation aller mit allen: Ob und inwieweit es realistisch ist, den Unternehmen ein (ggf. sogar weltweites) Internet-Screening abzuverlangen, das ernsthaft die schier grenzlose Anzahl von Tweets, Facebook-Postings, Chatroom-Einträgen und Blog-Mitteilungen umfasst, ist eine Diskussion, die allenfalls in den Kinderschuhen steckt.9 Im Rahmen der passiven Produktbeobachtung ist jedenfalls davon auszugehen, dass ein Unternehmen Beanstandungen auszuwerten hat, die auf unternehmenseigenen Internetseiten sowie auf Unternehmensrepräsentanzen auf externen Seiten (z. B. eingerichtete Unternehmensprofile in Facebook, Xing, LinkedIn) gepostet werden.10 Aber auch wenn das Unternehmen über eigene Kanäle Kenntnis von Diskussionen erhält, die in externen Internetforen – bspw. in Fanclubs – über seine Produkte geführt werden, kann ihm abverlangt werden, deren Inhalte auszuwerten.11 Was nun die aktive Produktbeobachtung anbelangt, so ist zu beurteilen, ob ein aktives Durchsuchen des Internet erforderlich und zumutbar wäre. Ebenso wie hinsichtlich der Anforderungen, die an die Sicherheit eines Produkts bei Inverkehrbringen gestellt werden können, ist auch für die aktive Produktbeobachtung im Markt die Erwartungshaltung der durchschnittlichen Produktnutzer relevant.12 Hier kann kaum angenommen werden, dass ein Unternehmen jede an noch so beliebiger Stelle im Internet wiedergegebene Kritik an einem seiner Produkte auffinden müsste – zumal dies derzeit mit herkömmlichen IT-Mitteln der Auswertung des Internets nicht realistisch darstellbar wäre. Hinzu kommt, dass nicht jede saloppe Meinungsäußerung auch zugleich einen seriösen, belastbaren Hinweis auf mögliche Produktrisiken gibt. Eine gar unbeschränkte Pflicht zur aktiven Beobachtung des Internet außerhalb von unternehmenseigenen Webseiten ist daher abzulehnen.13 Sie wäre auch nicht mit zumutbarem Aufwand umsetzbar.
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Hartmann/Schmidt, Auswirkungen von Social Media auf die Produktbeobachtungspflicht eines Warenherstellers, BB-Sonderausgabe Recht-Automobil-Wirtschaft 2013, S. 37 ff. 10 s. auch Klindt/Wende, Rückrufmanagement (Fn. 2), S. 58; ebenso Hartmann/Schmidt, BB-RAW (Fn. 9), S. 41. 11 Ähnlich Hartmann/Schmidt, BB-RAW (Fn. 9), S. 42. 12 Vgl. BGH NJW 1990, 906, 907. 13 Im Ergebnis ebenso Hartmann/Schmidt, BB-RAW (Fn. 9), S. 43.
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V. Social Media und Krisenkommunikation Auch für die Krisenkommunikation erlangt das neue mediale Umfeld zunehmend Bedeutung. Führt die Produktbeobachtung dazu, dass eine Produktwarnung oder ein Produktrückruf erforderlich ist, so vermag die klassische Zeitungsannonce in regionalen und überregionalen Tageszeitungen heute – selbst bei wiederholter Schaltung – bei weitem keine zufriedenstellenden Rückmeldequoten mehr hervorzurufen. Die Kunden blättern heute nicht mehr allein am Frühstückstisch die frisch gedruckte Zeitung durch, sondern sie informieren sich oftmals in Echtzeit online über neueste Geschehnisse. Um diese Nutzer zu erreichen, führt für die Unternehmen in der modernen Kommunikationsgesellschaft daher kein Weg daran vorbei, Anzeigenschaltungen auch digital durch „Banner“ auf Internetseiten vorzunehmen – was sich durch „AdWords“ und ähnliche Systeme optimieren lässt –, sich ebenfalls der Nachrichtenübermittlung bspw. über Company-Tweets auf Twitter und Posts auf Facebook zu bedienen und zudem in relevanten Nutzerforen zu „posten“.14 Dabei geht es im Produktrückruf- und damit im Krisenfall nicht zuletzt auch darum, auf diesem Wege auch der Kommunikationsmacht der betroffenen Nutzer zu begegnen, bevor diese ihre Unmutsäußerungen verbreiten, die bis zu sog. „shitstorms“ reichen können. Rechtliches Produktsicherheitsmanagement und kommunikatives Krisenmanagement verschmelzen hier zunehmend.
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s. auch Klindt/Wende, Rückrufmanagement (Fn. 2), S. 88.
Private Produktbeobachtung im Gentechnikrecht Von Achim Willand
I. Einleitung Die Beobachtung von Produkten, die aus gentechnisch veränderten Organismen (GVO) bestehen oder solche enthalten, ist ein wichtiges Überwachungsinstrument im Gentechnikrecht. Der Beitrag befasst sich mit dem Einsatzfeld der Gentechnik in der Landwirtschaft und der Lebensmittelerzeugung – sogenannte „grüne Gentechnik“.1 Während bei anderen Produkten Pflichten zu einer aktiven Beobachtung vor allem aus dem zivilrechtlichen Deliktsrecht resultieren2, bestehen im Gentechnikrecht explizite gesetzliche Produktbeobachtungspflichten. Ihren Grund finden diese in den vom europäischen wie vom deutschen Gesetzgeber angenommenen, spezifischen Risiken der Gentechnik. Der Beitrag erörtert diese gesetzlichen Produktbeobachtungspflichten im Gentechnikrecht und geht beispielhaft auf Beobachtungspläne für bestimmte, in der EU in Verkehr gebrachte Produkte ein. Die Beobachtung von Produkten im Bereich der Gentechnik stellt besondere Herausforderungen. So sind hoch entwickelte wissenschaftliche bzw. analytische Methoden erforderlich, um die gentechnisch veränderten Produkte überhaupt als solche identifizieren zu können. Ferner müssen Beobachtungskriterien entwickelt werden, um bestimmen zu können, welche Wirkungen z. B. auf die Umwelt die Produkte zu ermitteln und wie die Wirkungen ggf. zu bewerten sind. Die Produktbeobachtung greift mit anderen Elementen des gesetzlichen Kontrollregimes ineinander und wird daher nachfolgend auch in diesem Kontext erörtert.
1 Hiervon unterscheidet man die „rote Gentechnik“ – Anwendungen in der Medizin und Pharmazeutik und die „weiße Gentechnik“ – industrielle Anwendungen. 2 Vgl. Spindler, in: Beck’scher Onlinekommentar BGB, § 823, Rn. 511 ff.
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II. Relevante Beobachtungsfelder der „grünen Gentechnik“ 1. Gentechnisch veränderte Organismen und Produkte Gentechnisch veränderte Organismen (GVO) sind Organismen, deren genetisches Material durch gentechnische Arbeiten in einer Weise verändert worden ist, wie sie unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt (vgl. § 3 Nr. 3 i.V.m. Nr. 1 und Nr. 2 Gentechnikgesetz – GenTG).3 Gentechnische Verfahren verändern die DNA bzw. Erbinformation in einem Organismus, z. B. durch zielgerichtetes Einbringen artfremder Erbinformationen.4 Gegenstand der Beobachtung im Bereich der grünen Gentechnik können insbesondere sein: – Gentechnisch verändertes (gv)5 Saatgut; – gv-Pflanzen, die auf landwirtschaftlichen Flächen angebaut werden; – Teile von gv-Pflanzen, die weiterverarbeitet werden (Ernteprodukte) oder in die Umwelt gelangen (z. B. Pollen); – Kultur- oder Wildpflanzen, die in Folge einer unbeabsichtigten Einkreuzung selbst gentechnisch verändert wurden (z. B. bei der Befruchtung eines konventionellen Maises durch einen gv-Mais oder beim Einkreuzen von gv-Raps in eine Senfpflanze); – gv-Futtermittel, das z. B. gv-Soja enthält; – gv-Lebensmittel (z. B. aus Mais, Raps). Zu den „Produkten“ zählen in der vorstehenden Aufstellung Saatgut, Lebensmittel, Futtermittel und die zur Weiterverarbeitung bestimmten Pflanzenteile. Die Ausbreitung von gv-Material in der Umwelt und das Einkreuzen in andere Pflanzen sind dagegen bereits Auswirkungen dieser Produkte (insbesondere des Anbaus von gv-Saatgut), die Gegenstand der Beobachtung sein können. 2. Beobachtungsphasen im Herstellungs- und Distributionsprozess Die gentechnischen Arbeiten selbst, die überwiegend in gentechnischen Anlagen und somit in geschlossenen Systemen stattfinden, sind hier auszuklammern (vgl. 3 Gesetz zur Regelung der Gentechnik vom 20. 06. 1990, zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. 07. 2009, BGBl. I 2542; Art. 2 Nr. 2 Richtlinie 2001/18/EG über die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG – sogenannte „Freisetzungsrichtlinie“, ABl. L 106 vom 17. 04. 2001, S. 1, zuletzt geändert durch Richtlinie 2008/27/EG vom 11. 03. 2008. 4 Vgl. die in § 3 Nr. 3 a GenTG genannten gentechnischen Verfahren. 5 Die Abkürzung „gv“ wird im Folgenden für den Begriff „gentechnisch verändert“ verwendet.
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§§ 7 – 12 GenTG). Erst das gv-Saatgut oder ein anderes zum Inverkehrbringen bestimmtes gv-Produkt6 erlangen Produkteigenschaft. Relevant sind folgende Phasen: – Inverkehrbringen, Lagerung, Transport von gv-Saatgut; – Freisetzung von GVO (gezieltes Ausbringen)7 bzw. Anbau von gv-Saatgut; – Ernte und Weiterverarbeitung; – Inverkehrbringen von Futtermitteln, Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten; – Verwendung von Futtermitteln, Verzehr von Lebensmitteln; – Ausbreitung von gv-Produkten bzw. Teilen von ihnen (ggf. Spuren) in der Umwelt, in der Futtermittel- und Lebensmittelkette sowie kurz- und langfristige Auswirkungen. 3. Gentechnikspezifische (potentielle) Risiken Die gentechnikrechtliche Beobachtungspflicht ist Teil des vom Gesetzgeber vorgesehenen Risikomanagements (dazu näher unten, III. und IV.). Folgende potentielle Risiken werden in der wissenschaftlichen und (rechts-)politischen Diskussion mit der Gentechnik in Verbindung gebracht: – Unkontrollierte, unumkehrbare Ausbreitung und Fortpflanzung von GVO in der Umwelt (vgl. Erwägungsgrund Nr. 4 der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG); – Auswirkungen von gv-Lebens-/Futtermitteln auf die menschliche Gesundheit und die Tiergesundheit; – Auswirkungen von insektiziden gv-Pflanzen (die infolge der gentechnischen Veränderung selbst ein Toxin bilden) auf Gesundheit und Umwelt („Nichtzielorganismen“); – Antibiotika-Resistenz von Bakterien; – sonstige Umweltveränderungen (z. B. biologische Vielfalt). Daneben werden auch mittelbare potentielle Auswirkungen und damit verbundene Risiken der Anwendung der Gentechnik gesehen. Beispielhaft zu nennen sind Umweltauswirkungen der Anwendung bestimmter Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft im Zusammenhang mit gv-Pflanzen, die auf Grund der gentechnischen Veränderung unempfindlich gegenüber diesem Pflanzenschutzmittel sind („Herbizidtoleranz“).
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Z. B. gentechnisch veränderte Zusatzstoffe oder Verarbeitungshilfsstoffe für Lebensmit-
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Art. 2 Nr. 3 Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG.
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III. Strukturelemente des Gentechnikrechts 1. Ziele Zu den Zwecken des GenTG gehören nach § 1 des Gesetzes: Der Schutz der menschlichen Gesundheit, der Umwelt in ihrem Lebensgefüge, der Tiere, Pflanzen und Sachgüter vor schädlichen Auswirkungen gentechnischer Verfahren und Produkte. Ferner zielt das Gesetz darauf ab, die Möglichkeit konventioneller bzw. ökologischer Lebens- und Futtermittelproduktion, wie auch der Produktion unter Einsatz von GVO zu gewährleisten („Koexistenz“ der verschiedenen Erzeugungs- und Vermarktungsformen). Schließlich soll das GenTG den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der Gentechnik schaffen. 2. Schutzkonzept Das unionsrechtliche und das deutsche Gentechnikrecht errichten ein umfassendes Kontrollsystem für den Einsatz der Gentechnik. Im hier interessierenden Bereich der gentechnisch veränderten Produkte greifen Verbote mit Zulassungsvorbehalt und Anforderungen an den Umgang mit zugelassenen Produkten. a) Zulassungsregeln Die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Lebens- und Futtermitteln sowie deren Überwachung sind unionsrechtlich harmonisiert durch die Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung (EG) Nr. 1829/2003.8 Dieser Verordnung unterliegt auch der Anbau von gv-Saatgut, das über eine Zulassung zum Inverkehrbringen verfügt.9 Die Freisetzung von GVO, die (noch) nicht über eine solche Inverkehrbringensgenehmigung verfügen, ist ebenfalls unionsrechtlich harmonisiert, und zwar durch die Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG (Umsetzungsnormen: insbesondere §§ 14 – 16 GenTG). Die Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003 unterscheidet verschiedene Zulassungsumfänge für GVO: Inverkehrbringen des GVO zum Zwecke des Anbaus;10 Lebens- oder Futtermittel, die Material enthalten, das aus einem GVO stammt 8
Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 09. 2003 über gentechnisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, Abl. Nr. L268 vom 18. 10. 2003, I, zuletzt geändert durch Verordnung Nr. 298/2008, Abl. Nr. L97 vom 09. 04. 2008, S. 64. Nachfolgend genannt: „Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003“. 9 Vgl. EuGH, C-58/10 bis C-68/10, Urt. v. 08. 09. 2011, Rn. 52 – 55. 10 In der EU verfügt derzeit nur der gentechnisch veränderte Mais der Linie MON 810 des Herstellers Monsanto über eine gentechnikrechtliche Zulassung zum Anbau. Die 1998 erteilte Zulassung war zwar befristet bis Ende 2008, hat aber nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Augsburg (Az.: 7 K 07.276, Urt. v. 30. 05. 2008) nach der Übergangsregelung (Art. 8
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(der ggf. in der EU nicht zum Anbau zugelassen ist). Unter den gv-Lebensmitteln bzw. gv-Futtermitteln sind wiederum zu unterscheiden: Einerseits solche, die aus dem jeweiligen GVO bestehen oder diesen enthalten, bei denen also die jeweiligen gv-Anteile noch Organismuseigenschaft haben; andererseits verarbeitete gv-Lebensmittel bzw. gv-Futtermittel, die zwar Material aus der gentechnisch veränderten Pflanze enthalten, das aber keine Organismuseigenschaft11 mehr besitzt.12 Das Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Lebensmittel ohne die erforderliche Zulassung ist strafbar (mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren).13 Zum Vergleich: Fahren ohne Führerschein wird mit Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr bestraft (§ 21 StVG). Im Zulassungsverfahren ist eine Risiko- und Sicherheitsprüfung im Hinblick auf menschliche Gesundheit und mögliche Umweltauswirkungen durchzuführen (Umweltverträglichkeitsprüfung – UVP). Die Auswirkungen insbesondere des Anbaus von GVO auf die konventionelle bzw. ökologische Produktion sind dagegen nicht Gegenstand des Zulassungsverfahrens. Die Belange der „Koexistenz“ bleiben insofern in der Phase bis zur Zulassung von GVO (z. B. zum Anbau oder als Bestandteil von Lebens- oder Futtermitteln) außer Betracht. Zulassungsentscheidungen für das Inverkehrbringen von GVO sowie gv-Lebensmitteln und gv-Futtermitteln trifft die Kommission. Die nach Maßgabe der unionsrechtlichen Vorschriften zugelassenen gv-Produkte dürfen in allen Mitgliedstaaten zu denselben Bedingungen in Verkehr gebracht werden. Die Anforderungen an das Inverkehrbringen – auch zum Zwecke des Anbaus – sind unionsrechtlich harmonisiert. Die Kommission oder die Mitgliedstaaten dürfen das Inverkehrbringen eines nach der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung Nr. 1829/2003 zugelassenen oder mit ihr im Einklang stehenden Erzeugnisses nur dann einschränken, wenn dieses wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt („Sofortmaßnahmen“ nach Art. 34 der Verordnung).14 Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003/EG) weiterhin Bestand, da ein Antrag auf Erneuerung der Genehmigung gestellt wurde. 11 Die Organismuseigenschaft im Sinne des Gentechnikrechts – Fähigkeit einer biologischen Einheit, sich zu vermehren oder genetisches Material zu übertragen (Art. 2 Nr. 1 Freisetzungsrichtlinie 2001/18) – kann z. B. durch Verarbeitung (z. B. Maismehl) oder Absterben der DNA verloren gehen. Manches ist hier noch ungeklärt. Bei Pollen, der nicht mehr befruchtungsfähig ist, hält der EuGH eine wissenschaftliche Klärung der Fähigkeit, genetisches Material zu übertragen, für erforderlich (vgl. EuGH – Bablok, Urteil vom 06. 09. 2011, Az.: C 442/11, Rn. 60). 12 Vgl. Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Nrn. 4, 6 – 10 Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003. 13 Gesetz zur Durchführung der Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union auf dem Gebiet der Gentechnik und über die Kennzeichnung ohne Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellter Lebensmittel (EG-Gentechnik-Durchführungsgesetz) vom 22. 06. 2004, BGBl. I S. 1244, zuletzt geändert durch Gesetz vom 09. 12. 2010 (BGBl. I S. 1934), dort § 6 Abs. 1 Nr. 1. 14 Die Maßnahmen werden nach dem Verfahren der Art. 53 und 54 der Verordnung Nr. 178/2002 (betreffend allgemeine Anforderungen des Lebensmittelrechts und der Lebensmittelsicherheit) getroffen. Im Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 gelten ähnliche
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b) Vorsorgepflichten Das europäische wie das deutsche Gentechnikrecht verlangen eine Kontrolle und Sicherheitsvorkehrungen nach Maßgabe des Vorsorgeprinzips, insbesondere wegen des Fortpflanzungs- und Ausbreitungsrisikos von GVO, das unumkehrbare Auswirkungen haben kann.15 Das Inverkehrbringen von gv-Lebens- und Futtermitteln soll nur dann zugelassen werden, wenn „eine den höchstmöglichen Anforderungen standhaltende wissenschaftliche Bewertung aller damit verbundenen Risiken für die Gesundheit von Mensch und Tier bzw. für die Umwelt“ durchgeführt worden ist.16 Die gentechnikrechtlichen Zulassungstatbestände – gentechnische Arbeiten, Freisetzung und Inverkehrbringen – erfassen alle Vorhaben und Handlungen im Zusammenhang mit GVO, die die Schutz- und Vorsorgeaufgabe des Gentechnikrechts auslösen. Absicht des Gesetzgebers war es, „eine umfassende (…) Kontrolle im Bereich der Gentechnik“17 zu etablieren. Er ging davon aus, dass „lückenlos alle Bereiche geregelt werden müssen, bei denen möglichen Gefahren im Umgang mit der Gentechnik vorgebeugt werden muss“.18 Die Mitgliedstaaten können den Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten regeln, wozu auch der Anbau gehört (vgl. § 16b GenTG). Allerdings sind mit der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003 und der Freisetzungsrichtlinie 2001/18 die Anforderungen des Gesundheits- und Umweltschutzes auch hinsichtlich des Anbaus von GVO weitgehend harmonisiert. Dagegen sind die Belange der „Koexistenz“ nicht unionsrechtlich harmonisiert. Art. 26a Freisetzungsrichtlinie 2001/18 ermächtigt die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das unbeabsichtigte Vorhandensein von GVO in anderen Produkten zu verhindern. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift koordiniert die Kommission die Beobachtung der „Koexistenz in den Mitgliedstaaten“ und entwickelt Leitlinien für die Koexistenz von gentechnisch veränderten, konventionellen und ökologischen Kulturen. Verbindliche Regelungen zur Koexistenz fallen dagegen in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Je nach Ausgestaltung der nationalen Koexistenzregeln sind allerdings Konflikte mit dem Unionsrecht denkbar, z. B. wenn GVO, die über eine Zulassung zum Anbau verfügen, de facto nicht oder nur unter äußerst erschwerten Bedingungen angebaut werden könnten.19 Anforderungen („Schutzklausel“ nach Art. 23). Der EuGH hatte mehrfach über nationale Schutz- bzw. Sofortmaßnahmen dieser Art zu entscheiden (Urt. v. 08. 09. 2011, Rs. C-58/10 bis C-68/10 (Frankreich); Urt. v. 05. 10. 2005, Rs. T-366/03 und T-235/04 (Österreich). 15 Vgl. Erwägungsgründe Nrn. 4, 5, 6, 7 und 8 der Freisetzungsrichtlinie 2001/18; § 1 Nr. 1 GenTG. 16 Erwägungsgrund Nr. 9 der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003. 17 BT-Drs. 11/5622, S. 20. 18 Ebd., S. 31. 19 In Betracht kommen hier Konflikte mit der Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 ff. AEUV) – mittelbare Beeinträchtigung – i.V.m. den Harmonisierungsvorschriften zum Inverkehrbringen
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§ 16b GenTG verpflichtet den Verwender, der gv-Produkte anbaut, weiterverarbeitet und in Verkehr bringt, Vorsorge zu treffen, dass insbesondere die menschliche Gesundheit, die Umwelt und die konventionelle bzw. ökologische Produktion nicht wesentlich beeinträchtigt werden, indem Eigenschaften des gentechnisch veränderten Organismus übertragen werden oder es zu Beimischungen oder sonstigen Einträgen von GVO kommt. Beim Anbau von Pflanzen sind die Regeln der guten fachlichen Praxis einzuhalten; insbesondere sind Maßnahmen zu ergreifen, um Einträge in andere Grundstücke zu verhindern sowie Auskreuzungen in andere Kulturen benachbarter Flächen und die Weiterverbreitung durch Wildpflanzen zu vermeiden (§ 16b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 2 GenTG). Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der strengen Vorsorgepflichten des GenTG bestätigt. Angesichts des Erkenntnisstandes der Wissenschaft, insbesondere bei der Beurteilung von Ursachenzusammenhängen und langfristigen Folgen eines Einsatzes der Gentechnik, treffe den Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht. Der Gesetzgeber sei jedenfalls befugt, ein „Basisrisiko“ ohne wissenschaftlich-empirischen Nachweis eines realen Gefährdungspotenzials anzunehmen und auch durch zufällige Vorgänge entstandene Nachkommen von GVO einer Kontrolle zu unterstellen.20 c) Flankierende Instrumente Die Zulassungsregeln und die gentechnikrechtliche Vorsorgepflicht werden ergänzt u. a. durch folgende Instrumente: – Öffentliches Standortregister für Anbauflächen von GVO nach § 16a GenTG (Öffentlichkeit bzw. Nachbarn als „Beobachter“); – mitzuliefernde Produktinformation, u. a. zur Einhaltung der Vorsorgepflichten nach § 16b GenTG (dort Abs. 5); – Kennzeichnung von gv-Produkten21; – Gentechnik-Haftungsrecht (§§ 32 ff., insbesondere § 36a GenTG); – Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit von GVO und aus GVO hergestellten Lebens-/Futtermitteln (Verordnung 1830/2003); – Umweltschadensgesetz: Haftung für bestimmte Umweltschäden, die u. a. durch Freisetzen bzw. Inverkehrbringen von GVO verursacht wurden (§§ 2 ff. i.V.m. Anlage 1 Nrn. 10, 11 USchadG). von GVO nach der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG und der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003/EG. 20 BVerfGE 128, 1, insbesondere unter Rn. 135, 140, 141 f. 21 Vgl. z. B. Art. 12 ff., 24 ff. Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003; § 17b GenTG.
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d) Lückenlose Kontrolle – aber kein umfassender Schutz Dieses Konzept der Vorsorge beinhaltet eine umfassende Kontrolle der Gentechnik, nicht aber einen umfassenden Schutz vor Risiken und Nachteilen, die mit dem Einsatz der Gentechnik verbunden sein können. Insbesondere schirmt das Gentechnikrecht Erzeuger und Verbraucher, die gv-Produkte weder verwenden noch konsumieren wollen, nicht vollends vor Risiken und Nachteilen ab. So schützt das Genehmigungserfordernis für eine Freisetzung nicht vor jeglichen Einwirkungen auf menschliche Gesundheit und Umwelt, sondern nur vor „unvertretbaren“ schädlichen Einwirkungen im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung (§ 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG). Die Vorsorgepflichten beim Umgang mit gv-Produkten (insbesondere: Anbau) sollen nicht jegliche Beeinträchtigung von Schutzgütern, sondern nur eine „wesentliche“ Beeinträchtigung vermeiden (§ 16b Abs. 1 Satz 1 GenTG).22 Erzeuger, in deren Lebens- oder Futtermittel unbeabsichtigt Material aus einer gv-Pflanze gelangen kann, müssen im Rahmen ihrer Verantwortung Kennzeichnungspflichten erfüllen und ggf. Maßnahmen zur Vermeidung oder Begrenzung solcher Einträge treffen (Art. 12 ff., 24 ff. Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003). Insbesondere bei der – gewollten oder ungewollten – Freisetzung bzw. beim Anbau von GVO können die Risiken zwar durch vorherige Untersuchungen in geschlossenen Systemen bzw. Gewächshäusern eingeschätzt werden, es verbleiben aber naturgemäß Unsicherheiten über die Entwicklung unter Feldbedingungen. Ungeachtet der strengen Kontrolle der Gentechnik mutet der Gesetzgeber gewissermaßen Umwelt, Gesellschaft und Lebensmittelwirtschaft nicht geklärte Risiken und Nachteile zu. Darin begründet sich die Aufgabe der Produktbeobachtung im Gentechnikrecht: Es geht darum, die Auswirkungen von gv-Produkten nach deren Zulassung und Inverkehrbringen auf die relevanten Schutzgüter zu beobachten, um frühzeitig problematische Entwicklungen zu erkennen, ggf. Schutzmaßnahmen ergreifen zu können und Schlussfolgerungen für existierende Zulassungen und künftige Verfahren zu ziehen.
IV. Beobachtungspflichten im Gentechnikrecht Das Gentechnikrecht sieht folgende Instrumente zur Produktbeobachtung vor: Beobachtungsplan, Überwachungsberichte und marktbegleitende Beobachtung. Zu unterscheiden sind folgende Konstellationen: Freisetzung, Zulassung eines GVO und/oder eines gv-Lebensmittels oder gv-Futtermittels.
22 Vgl. BVerfGE 128, 1, Rn. 230; BayVGH, 22 BV 11.2175, Urteil vom 27. 03. 2012, Rn. 50.
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1. Freisetzung bzw. Anbau von GVO Obligatorischer Bestandteil der Genehmigungsunterlagen für eine Freisetzung ist ein Beobachtungsplan [Art. 6 Abs. 2 lit. a) v)23 mit Anhang III Freisetzungsrichtlinie 2001/18; § 15 Abs. 1 Nr. 4a GenTG]. Gleiches gilt für GVO, für die eine Zulassung zum Inverkehrbringen zum Zwecke des Anbaus für die Erzeugung von Lebens- oder Futtermitteln beantragt wird [gv-Saatgut; vgl. Art. 13 Abs. 2 lit. e), Anhang VII Freisetzungsrichtlinie 2001/18; Art. 5 Abs. 5 lit. b), Art. 17 Abs. 5 lit. b) Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003]. Anforderungen an die Überwachung, den Beobachtungsplan und die Berichterstattung sind in der Genehmigung zu regeln [Art. 19 Abs. 3 lit. f) Freisetzungsrichtlinie 2001/18].24 Ziele der Überwachung sind: Zum einen ist zu überprüfen, ob die in der UVP getroffenen Annahmen über das Auftreten und die Schädlichkeit eventueller Auswirkungen eines GVO zutreffen [(fall-)spezifische Überwachung]; zum anderen ist das Auftreten schädlicher Auswirkungen zu ermitteln, die nicht im Rahmen der UVP vorhergesehen wurden (allgemeine überwachende Beobachtung bezüglich unerwarteter schädlicher Auswirkungen). Demgemäß soll der Beobachtungsplan auf jeden einzelnen Fall zugeschnitten sein und die UVP berücksichtigen. Ferner ist im Beobachtungsplan festzulegen, in welcher Weise die Überwachung mit anderen Umweltbeobachtungssystemen verknüpft wird und wer die verschiedenen im Überwachungsplan vorgesehenen Aufgaben übernimmt. Der Beobachtungsplan soll die Beteiligten in die Lage versetzen, ggf. die zum Gesundheits- und Umweltschutz notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Ratsentscheidung 2002/81125 bestimmt Leitlinien für den Beobachtungsplan, insbesondere für die fallspezifische Überwachung und die allgemeine Beobachtung: Zuständigkeiten, die Nutzung vorhandener Beobachtungssysteme, Probenahme und Analyse, Auswertung der Ergebnisse, Berichterstattung (Überwachungsberichte), Überprüfung und Anpassung des Plans. In der Genehmigung für Freisetzung bzw. Inverkehrbringen werden der Beobachtungsplan und ggf. weitere Anforderungen für die Überwachung festgelegt [Art. 19 Abs. 3 lit. f) Freisetzungsrichtlinie 2001/18, Art. 7 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 5 lit. g) bzw. Art. 19 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 5 lit. e) Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung Nr. 1829/2003]. 23
Dort wird der Begriff „Überwachungsplan“ – in der englischen Fassung „plan for monitoring“ – verwendet, anders in der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003: „Beobachtungsplan“, s. u., 2. 24 Vgl. zu den Beobachtungspflichten im Hinblick auf die Umweltauswirkungen Cathrin Weimann/Corinna Emmermacher/Roland Klein/Peter Marburger, Beobachtung möglicher Umweltauswirkungen durch gentechnisch veränderte Pflanzen: Monitoring als Frühwarnsystem zur Vermeidung von Umweltschäden?, NuR 2010, S. 229 ff. 25 Entscheidung des Rates vom 03. 10. 2002 über Leitlinien zur Ergänzung des Anhangs VII der Richtlinie 2001/18, Abl. L 280, S. 27. Näher dazu Weimann/Emmermacher/ Klein/Marburger, NuR 2010, S. 230 f.
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2. Inverkehrbringen von gv-Lebensmitteln und gv-Futtermitteln Für Lebens- und Futtermittel, die aus GVO bestehen oder die GVO enthalten, ist ebenfalls ein Beobachtungsplan nach Anhang VII Freisetzungsrichtlinie 2001/18 vorzulegen [Art. 5 Abs. 5 lit. b) und Art. 17 Abs. 5 lit. b) Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003]. Für diese Produkte, bei denen die gentechnisch veränderten Bestandteile (noch) Organismuseigenschaft haben, gilt hinsichtlich der Beobachtungspläne und deren Einbindung in das Zulassungsverfahren dasselbe wie für den Anbau von GVO (siehe vorstehend 1.). Für Lebens- und Futtermittel, die aus GVO hergestellt sind – deren aus dem GVO stammenden Bestandteile also keine Organismuseigenschaft mehr haben – ist dagegen lediglich eine fakultative marktbegleitende Beobachtung vorgesehen [Art. 5 Abs. 3 lit. k) und Art. 17 Abs. 3 lit. k) Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003]. Die Vorgaben zur Überwachung (Art. 9 bzw. Art. 21 Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003) bauen auf dem Beobachtungsplan bzw. der marktbegleitenden Beobachtung – soweit eine solche mit der Zulassung auferlegt wurde – auf: Der Zulassungsinhaber hat sicherzustellen, dass der Beobachtungsplan bzw. die marktbegleitende Beobachtung ordnungsgemäß durchgeführt wird und dass der Kommission die entsprechenden Beobachtungsberichte vorgelegt werden, die der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind. Der Zulassungsinhaber hat der Kommission unverzüglich alle neuen wissenschaftlichen oder technischen Informationen zu übermitteln, die für die Bewertung der Sicherheit bei der Verwendung des jeweiligen Lebens- oder Futtermittels relevant sind (Art. 9 Abs. 3 bzw. Art. 21 Abs. 3 Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung Nr. 1829/2003). 3. Produktbeobachtungspflicht nach § 16c GenTG Die Vorgaben der Freisetzungsrichtlinie 2001/18 betreffen die Produktbeobachtung (insbesondere den Überwachungsplan) und sind in § 15 Abs. 1 Nr. 4a und Abs. 3 Nr. 5a sowie § 16d Abs. 1 Nr. 5 GenTG umgesetzt.26 Die Beobachtungspflichten nach der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung Nr. 1829/2003 bedurften keiner Umsetzung. Neben dieser unionsrechtlich geprägten Produktbeobachtung gibt es eine ergänzende nationale Regelung in § 16c GenTG. Wer Produkte, die aus GVO bestehen oder solche enthalten, in Verkehr bringt, hat diese auch danach nach Maßgabe der Genehmigung zu beobachten, um mögliche Auswirkungen auf die Rechtsgüter 26 Vgl. zudem § 5 Abs. 1 Nr. 4a und § 6 Abs. 1 Nr. 4a Verordnung über Antrags- und Anmeldeunterlagen und über Genehmigungs- und Anmeldeverfahren nach dem Gentechnikgesetz – GenTVfV – vom 24. 10. 1990, zuletzt geändert durch Verordnung vom 28. 04. 2008, BGBl. I 766.
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nach § 1 Nr. 1 GenTG zu ermitteln. Diese Beobachtungspflicht beschränkt sich zum einen auf Produkte, in denen die gentechnisch veränderten Bestandteile noch Organismuseigenschaft haben, zum anderen auf Gesundheits- und Umweltauswirkungen. Belange der Koexistenz sind nicht Gegenstand der Beobachtung nach dieser Vorschrift. Im Übrigen sind die Ziele der Beobachtung sowie die Unterscheidung zwischen der allgemeinen und der fallspezifischen Beobachtung (vgl. § 16c Abs. 2 GenTG) weitgehend deckungsgleich mit der Beobachtung nach der Freisetzungsrichtlinie 2001/18 (dazu s. o., 1.). Die Bedeutung dieser in § 16c GenTG verankerten Beobachtungspflicht ist angesichts ihres engen Anwendungsbereichs eher gering. Lebens- und Futtermittel, die aus GVO bestehen oder solche enthalten, werden bereits durch die vorrangigen Beobachtungspflichten der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung Nr. 1829/2003 erfasst. Die für Freisetzung und Anbau von GVO geltenden Regelungen der Freisetzungsrichtlinie und die diesbezüglichen Umsetzungsregelungen zur Überwachung im GenTG (s. o., 1.) dürften ebenfalls als Spezialregelungen dem § 16c GenTG vorgehen. Abgesehen davon setzt der Gesetzgeber in § 16c GenTG für diese Anwendungsbereiche keine neuen oder zusätzlichen Akzente gegenüber den unionsrechtlichen Regelungen.27 Ein Anwendungsbereich für § 16c GenTG ist im Bereich von gentechnisch veränderten Produkten zu sehen, die keine Lebens- bzw. Futtermittel oder Ausgangsmaterial hierfür sind (Anwendungsbereich z. B.: Arzneimittel bzw. deren Ausgangsprodukte). Die Verordnungsermächtigung nach § 16c Abs. 3 GenTG ist bisher ungenutzt geblieben. Ein Entwurf der Bundesregierung für eine Gentechnik-Beobachtungsverordnung im Jahre 2005 wurde zwar im Bundesrat beraten, der auch mit Maßgabe diverser Änderungen zugestimmt hat28, dann aber von der Bundesregierung auf Grund von Kompetenzzweifeln nicht weiterverfolgt. 4. Zwischenfazit Gegenstand der Produktbeobachtung im Gentechnikrecht sind die Auswirkungen von GVO auf die Umwelt und auf die menschliche Gesundheit; ausgeklammert bleiben Auswirkungen auf die „Koexistenz“ mit konventionellen und biologischen Erzeugungsweisen und sonstige sozioökonomische Auswirkungen. Gegenstand der Beobachtung sind nur Produkte, deren gentechnisch veränderte Bestandteile noch Organismuseigenschaft haben (aus GVO bestehend oder solche
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Insoweit würde sich auch die Frage der unionsrechtlichen Zulässigkeit ergänzender oder weitergehender nationaler Regelungen stellen. 28 Verordnungsentwurf der Bundesregierung vom 02. 02. 2005 und Beschluss des Bundesrates vom 18. 03. 2005, BRat-Drs. 93/05.
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enthaltend).29 Verarbeitete Lebens- und Futtermittel und der Verbleib von Material aus gv-Pflanzen in der Umwelt oder in der Lebensmittelkette sind nicht Gegenstand der Beobachtung. Instrumente der Produktbeobachtung sind insbesondere: Der im Zulassungsverfahren vorzulegende Überwachungs- bzw. Beobachtungsplan, der Beobachtungsbericht, Durchführungs- und Eigenüberwachungspflichten des Zulassungsinhabers bzw. Betreibers, Informationspflichten gegenüber der Kommission und Veröffentlichung von Berichten.
V. Kriterien und Methoden Es bereitet erhebliche Schwierigkeiten zu bestimmen, was im Hinblick auf die Auswirkungen von GVO beobachtet werden soll, welche Phänomene und Ereignisse bemerkenswert sind – und welcher Beobachtungsraum und welche Methoden demzufolge angebracht sind. Während zur Untersuchung und Bewertung der Auswirkungen von gv-Futtermitteln auf die Tiergesundheit Untersuchungsmethoden zur Verfügung stehen30, wirft die Beobachtung von GVO, die auf „freiem Feld“ angebaut werden sollen, erhebliche methodische Schwierigkeiten auf.31 Zu berücksichtigen ist z. B. die Ausbreitung über Pollenflug, ggf. Einkreuzung in andere Pflanzen (Übertragung der gentechnischen Veränderung) oder Durchwuchs. Weitere Ausbreitungspfade können Transport von Saatgut und Ernteprodukten sowie Ernte und Weiterverarbeitung sein. Gegenstände der Beobachtung können die GVO selbst, sonstiges Material der genetisch veränderten Pflanze und ggf. das von ihr produzierte Insektizid sein. Die Ausbreitung als solche muss aber noch keine (nachteiligen) Umweltveränderungen nach sich ziehen. Sofern es zu erheblichen Umweltveränderungen kommt, sind Kriterien zu deren Bewertung erforderlich. Dies gilt beispielsweise für die grundlegende Frage, ob aus Gründen der Vorsorge nach Möglichkeit die Integrität von Wildpflanzen z. B. vor Veränderungen ihrer Erbsubstanz geschützt werden sollte oder nicht. Ggf. sind Selektionsvorteile von gv-Pflanzen zu berücksichtigen. 29
Dazu s. o., III.2.a) mit Fn. 11. Vgl. Durchführungsverordnung 503/13 der Kommission vom 03. 04. 2013 über Anträge auf Zulassung genetisch veränderter Lebens- und Futtermittel, Abl. L 157, S. 1, dort z. B. zur Toxikologie unter Anhang II Ziff. II. 1.4; die Kommission hat sich hiermit auf Kritiker der Zulassungspraxis zubewegt und verlangt z. B. nun 90-tägige Fütterungsstudien an Nagetieren. Zur Untersuchung der Auswirkungen des Verzehrs von GVO-Lebensmitteln auf die menschliche Gesundheit dürften ebenfalls entsprechende Methoden zur Verfügung stehen; dies hat aber keine praktische Bedeutung, weil Lebensmittel, die aus GVO bestehen oder solche enthalten, bisher in der EU nicht zugelassen worden; Lebensmittel, die aus GVO hergestellt sind (deren gentechnisch veränderten Bestandteile also keine Organismuseigenschaft mehr haben), unterliegen dagegen nicht der Beobachtungspflicht (s. o., 2.). 31 Zu den wissenschaftlichen Anforderungen an die Bewertungsverfahren und den Bemühungen um eine Standardisierung des GVO-Monitorings siehe Weimann/Emmermacher/Klein/ Marburger, NuR 2010, S. 230, 232 f. 30
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Neben diesen Gesichtspunkten der Ausbreitung und Naturveränderung in Folge der Übertragung gentechnischer Eigenschaften sind weitere Auswirkungen von gvPflanzen auf die Umwelt zu berücksichtigen: So ist bei insektenresistenten gv-Pflanzen (die infolge der gentechnischen Veränderung selbst ein Toxin produzieren) die Schädlichkeit für „Nichtzielorganismen“ (z. B. Schmetterlinge) zu beobachten und zu bewerten. Insoweit geht es um die Überprüfung, ob die in der UVP im Rahmen des Zulassungsverfahrens getroffenen Risikoannahmen zutreffen. Möglicherweise schwieriger zu ermitteln sind Umweltauswirkungen auf andere Organismen, z. B. im Boden oder im Gewässer, sei es auf Grund der gentechnischen Veränderung oder des von den Pflanzen ausgebildeten Insektizids.32 Bereits die Ausbreitung von GVO (bzw. von Material einer gentechnisch veränderten Pflanze) wird regelmäßig nur registriert werden, wenn eine entsprechende systematische und fachkundige Beobachtung stattfindet und ggf. entsprechende gentechnische Analysen durchgeführt werden. Erst recht gilt dies für das Erkennen und Bewerten von Umweltauswirkungen.33 Eine gewisse Orientierungshilfe für das Beobachtungskonzept können die oben34 beschriebenen Grundanforderungen des Gentechnikrechts und hierzu ergangene Gerichtsentscheidungen geben. So lassen sich Folgerungen aus dem Vorsorgegrundsatz und dem potentiellen Risiko der Unumkehrbarkeit einer Ausbreitung von GVO ziehen. Das Beobachtungssystem muss danach so ausgerichtet sein, dass Ausbreitung bzw. Umweltauswirkungen nicht erst dann (zufällig) entdeckt werden, wenn sie augenscheinlich werden. Vielmehr wird man die Beobachtung systematisch so anlegen müssen, dass eine Ausbreitung bzw. Umweltveränderungen möglichst frühzeitig entdeckt werden (Kontrollen, geeignete Untersuchungsmethoden). Im Hinblick auf Lebens- und Futtermittel gibt die Rechtsprechung weitere Fingerzeige: GVO, die in der EU nicht als Bestandteil von Lebens- oder Futtermitteln zugelassen sind35, dürfen selbst in geringsten Mengen nicht in diese Produkte gelangen 32 Bei herbizidtoleranten gv-Pflanzen stellt sich die Frage, ob auch mittelbare Auswirkungen in die Beobachtung einzubeziehen sind, die z. B. die Auswirkungen des Einsatzes des „mitgelieferten“ Herbizids berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf die Berichte über zunehmende Ausbildung von Resistenzen in Folge des Herbizideinsatzes bei der Kultivierung von gv-Mais und gv-Raps in den USA und Kanada und die Berichte über sog. „Super-Unkräuter“. 33 Die methodischen Herausforderungen werden thematisiert in: Bundesamt für Naturschutz (Deutschland), Umweltbundesamt (Österreich) und Bundesamt für Umwelt (Schweiz), Monitoring of genetically modified organism, 2011. Dort wird insbesondere gefordert, dass die Exposition der Umwelt durch GVO und ihre Produkte im Rahmen des Monitorings erfasst werden muss, um überhaupt Umwelteffekte und GVO in Zusammenhang bringen zu können. Vgl. ferner die Richtlinien und Veröffentlichungen des Vereins Deutscher Ingenieure e.V. (VDI) zum GVO-Monitoring. 34 Insbesondere unter III.2. 35 Dazu s. o., III.2.a).
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(sog. „Nulltoleranz“). Der EuGH hat entschieden, dass Honig und andere Imkereiprodukte, in die unbeabsichtigt geringste Mengen gentechnisch veränderter Pollen gelangen, „gentechnisch veränderte Lebensmittel“ sind und deshalb eine entsprechende Zulassung nach der Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung 1829/2003 benötigen. Auf Gesichtspunkte wie Vermeidbarkeit und Ausmaß der Verunreinigung kommt es nicht an.36 Dementsprechend muss das Beobachtungskonzept so ausgerichtet sein, dass selbst geringste Einträge von ggf. nicht als Bestandteil von Lebensmitteln zugelassenen GVO registriert werden. Dies ist beispielsweise beim Transport und bei der Verarbeitung von Samen (z. B. Rapssamen) zu berücksichtigen, die zum Zwecke der Weiterverarbeitung (z. B. Rapsöl) in die EU importiert werden. Ein wichtiges Instrument der Produktbeobachtung sind gentechnische und chemische Analysen von Saatgut, Lebens- und Futtermitteln oder ggf. Boden oder Wasser. Ein einziger nach dem Stand der Technik geführter analytischer Nachweis in einer einzigen Probe genügt, um eine ganze Lieferung bzw. Partie Saatgut als „GVO-haltig“ einzustufen und ggf. zu beanstanden; eine negative Gegenprobe entkräftet nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts den analytischen Nachweis nicht.37 Diese zum Bereich der „Nulltoleranz“ für nicht zugelassenes gv-Saatgut ergangene Rechtsprechung lässt sich auf alle Analysen betreffend das Vorhandensein von GVO in Produkten übertragen: Beim heute erreichten Stand der Labortechnik darf man sich auf einen analytischen Positivbefund regelmäßig verlassen. Auch spricht die Vorsorgepflicht dafür, die langfristigen Wirkungen insektenresistenter gv-Pflanzen auf Nichtzielorganismen und die langfristigen Auswirkungen der Verfütterung von gv-Futtermitteln auf Nutztiere durch geeignete Methoden zu ermitteln.38 Beim Anbau von GVO sollte die Verfrachtung von Pollen und der Verbleib (Beständigkeit) von Material aus transgenen Pflanzen auch unabhängig von möglichen Auswirkungen beobachtet werden. VI. Produktbeobachtung in der Praxis (ausgewählte Aspekte) Nachfolgend wird auf einige Aspekte der Produktbeobachtung anhand der vorliegenden Beobachtungspläne und -berichte für in der EU zugelassene GVO eingegangen:
36 EuGH (Große Kammer) – Bablok, C-442/09, Urteil v. 06. 09. 2011. Da der gv-Mais MON 810 seinerzeit nicht über eine umfassende Zulassung auch als Bestandteil von Lebensmitteln verfügte, war der betroffene Honig nicht verkehrsfähig. 37 BVerwG 7 C 8.11, Urteil vom 29. 02. 2012. 38 Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass Langzeit-Fütterungsstudien an den betreffenden Nutztieren im Zulassungsverfahren für gv-Futtermittel nicht obligatorisch sind (vgl. oben Fn. 32).
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1. Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Rapssamen In der EU sind mehrere gv-Rapssorten zur Verwendung als Lebens- und/oder Futtermittel zugelassen.39 Es handelt sich um Ölrapssorten, die in Form von Rapssaat in die EU importiert werden. Die Zulassungen umfassen nicht den Anbau in der EU. Rapssaat ist sehr klein, zäh und auskreuzungsfreudig. So ist Rapssaat frostbeständig und über mehrere Jahrzehnte keimfähig; Raps kann sich – anders als z. B. Mais – auch außerhalb der landwirtschaftlichen Kultivierung ausbreiten und in andere Wildkräuter und Pflanzen einkreuzen (z. B. in Senf). Es ist daher nicht verwunderlich, dass bereits seit Jahren aus verschiedenen Ländern über aufwachsende Rapspflanzen entlang von Transportwegen und im Umfeld von Häfen, in denen Rapssaat umgeschlagen wird, berichtet wird. Daher liegt es nahe, die praktische Handhabung bei Transport und Verarbeitung, Saatgutverluste und die aufwachsenden gv-Rapspflanzen zum Gegenstand einer systematischen Beobachtung zu machen. Die oben thematisierten methodischen Herausforderungen bei der Bewertung von Umweltauswirkungen (V.) stellen sich hier nicht, weil gvRaps überhaupt nicht unkontrolliert in der Umwelt wachsen und sich ausbreiten darf. Die oben genannten Zulassungen enthalten allerdings keine Bedingungen für die Verwendung oder die Handhabung des gv-Rapssaatguts und bewusst auch keine Anforderungen an die Überwachung bei der Verwendung der Lebensmittel zum menschlichen Verzehr.40 Die einschlägigen Beobachtungspläne für die gv-Rapslinien41 sehen kein spezifisches Monitoring vor, sie beschränken sich auf die allgemeine Beobachtung unerwarteter schädlicher Auswirkungen.42 Auf die Möglichkeit unbeabsichtigter „Freisetzungen“ besonders bei Transport und Verladung wird hingewiesen. Die Beobachtungspläne nehmen insoweit Bezug auf die üblichen fachlichen Standards für die Handhabung von Saatgut (z. B. Hygiene, Reinigung von Silos, Fahrzeugen) und auf die allgemein einzuhaltenden lebensmittel- und futtermittelrechtlichen Vorschriften.43. Im Zusammenhang mit der unbeabsichtigten „Freisetzung“ enthalten die Pläne die Aufforderung, die Pflanzen durch Herbizide zu vernichten oder mechanisch zu entfernen. Konkrete Vorsichts- oder Kontrollmaßnahmen zur Verhinderung von Saatgutverlusten oder -vermischungen sind nicht vorgesehen.
39 Z. B. die Rapslinien MS 8 x RF 3 (Zulassungsbeschluss der Kommission 2013/327, ABl. L 175, 57) und T 45 (Zulassungsbeschluss der Kommission 2009/184, ABl. L 68, 28). 40 Vgl. Zulassungsbeschluss der Kommission 2013/327, Anhang lit. g) und i) zur Rapslinie MS 8 x RF 3. 41 Vgl. EU-Register of authorised GMOs: www.ec.europa.eu/food/dyna/gm_register; vgl. die links bei den einzelnen Produkten unter „Post Market Monitoring requirements“. 42 Zu dieser Unterscheidung s. o., IV.1. 43 Die Unternehmen Monsanto SA und Bayer CropScience stellen hierfür eine „Guideline for the management of oilseed rape volunteers“ zur Verfügung.
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Im Übrigen baut die allgemeine Beobachtung nach den einschlägigen Beobachtungsplänen vor allem darauf auf, dass Berichte über unerwartete Vorkommnisse vor Ort erstellt und über ein Kooperationsnetzwerk gesammelt und aufbereitet werden. Dieses Beobachtungskonzept erscheint insgesamt unzureichend. Für eine systematische, risikoadäquate Beobachtung genügt es nicht, auf mehr oder weniger zufällige Berichterstattung angewiesen zu sein, zumal einer Rapspflanze nicht anzusehen ist, ob sie gentechnisch verändert ist oder nicht. Angesichts des identifizierten Risikos – Saatgutverluste und Ausbreitung von gv-Raps – bestand Anlass für ein spezifisches Monitoring, insbesondere mit folgenden Elementen: In der Praxis angewandte Sorgfalt bei der Saatguthandhabung, Erfassung von Saatgutverlusten und von aufwachsendem gv-Raps an Verladestellen und Transportwegen etc. Es erscheint überaus wahrscheinlich, dass ein fachlich geeignetes und angemessenes Beobachtungskonzept entwickelt werden könnte, das geeignet ist, den unkontrollierten Aufwuchs und ggf. Ausbreitung von gv-Rapspflanzen und die jeweiligen Ursachen möglichst frühzeitig zu erkennen. 2. Anbau des gentechnisch veränderten Maises MON 810 Da der Mais der Linie MON 810 – wie oben erwähnt44 – noch nach dem früher geltenden Recht zugelassen wurde, existiert bisher kein verbindlicher Beobachtungsplan für diesen Mais. Allerdings hat das Unternehmen Monsanto im Rahmen des Verfahrens zur Erneuerung der Zulassung einen Beobachtungsplan vorgelegt. Vorgesehen sind darin eine allgemeine Beobachtung und auch eine (fall)spezifische Beobachtung. Die allgemeine Beobachtung stützt sich vor allem auf Fragebögen, die von Landwirten ausgefüllt und über ein Kooperationsnetzwerk gesammelt und ausgewertet werden. Ferner sollen andere existierende Monitoringsysteme (z. B. für bestimmte Schmetterlinge) genutzt und ausgewertet werden. Wissenschaftliche Studien und neue Erkenntnisse sollen laufend ausgewertet werden. Das (fall)spezifische Monitoring umfasst das sog. „Insektenresistenzmanagement“, bezieht sich also auf die Vermeidung der Resistenzbildung bei den Schadinsekten (Maiszünsler), gegen die das vom gv-Mais gebildete Toxin gerichtet ist. Zunächst ist bemerkenswert, dass die Unionsregeln bzw. die Zulassungspraxis es mit sich bringen, dass für den einzigen in der EU zum Anbau zugelassenen GVO (seit 1998) kein rechtsverbindliches Monitoring existiert, obwohl die Freisetzungsrichtlinie (aus dem Jahr 2001) und die Gentechnik-Nahrungsmittelverordnung (aus dem Jahr 2003) dies nun schon seit Langem vorsehen. Die EFSA hat dem Beobachtungsplan erhebliche Defizite attestiert, die auf ihm fußenden Beobachtungsberichte und Sicherheitseinschätzungen aber als valide und ausreichend eingeschätzt. Das Überwachungskonzept für den Mais MON 810 scheint allerdings nicht ausreichend, um die Aufgabe der Produktbeobachtung, unerwünschte Auswirkungen 44
Vgl. unter Fn. 10.
Private Produktbeobachtung im Gentechnikrecht
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rechtzeitig zu erkennen, sachgerecht zu erfüllen. Die spezifische Beobachtung des MON 810 richtet sich lediglich auf den gv-Mais selbst sowie auf agronomische Parameter, nicht aber auf Ausbreitung und Wirkungen in der Umwelt. Ergänzend zu der mehr oder weniger zufälligen Wahrnehmung von Landwirten wären systematische Erhebungen zur Ausbreitung von Bestandteilen der gv-Maispflanze im Zuge von Anbau und Ernte sowie geeignete Methoden zur Ermittlung von Umwelteinwirkungen angebracht. Außerdem hätte es nahegelegen, Einträge in die Lebensmittelkette zum Gegenstand der Beobachtung zu machen, zumal die Zulassung für den Mais MON 810 bis zu ihrer Ergänzung im November 2013 den Pollen als Bestandteil von Lebensmitteln nicht umfasste.
VII. Fazit Das Gentechnikrecht verpflichtet den Inhaber einer Zulassung für das Inverkehrbringen von gv-Produkten, deren Auswirkungen nach der Markteinführung risikoadäquat zu beobachten. Hierzu existieren spezifische gesetzliche Vorgaben für eine allgemeine und risikospezifische Beobachtung sowie Instrumente (Beobachtungsplanund -bericht). Da mit der Gentechnik – unbestritten – nicht abschließend untersuchte Risiken verbunden sind, die der Gesetzgeber auch bewusst hinnimmt, ist die Beobachtungspflicht ein wichtiger Baustein des gesetzlichen Schutzkonzepts. Aus Gründen der Vorsorge kommt der Produktbeobachtung die Aufgabe zu, möglichst frühzeitig unerwartete Entwicklungen zu erkennen. Dies ist erforderlich, um das Schutzkonzept für den jeweiligen GVO und seine zugelassenen Verwendungszwecke weiter zu entwickeln und insbesondere eine unumkehrbare Ausbreitung von GVO zu verhindern. Die Praxis der Produktbeobachtung für gv-Produkte erfüllt diese Aufgabe bislang nicht. Die beispielhaft analysierten Beobachtungspläne sind nicht hinreichend auf die jeweiligen Risiken (z. B. Expositionspfade) und Zulassungslage der GVO abgestimmt und etablieren keine geeigneten Methoden, um unerwartete Entwicklungen und unerwünschte Auswirkungen frühzeitig registrieren zu können. Der Fokus der Produktbeobachtung im Gentechnikrecht ist bislang auf Gesundheits- und Umwelteinwirkungen beschränkt. Der gesetzliche Rahmen für die Produktbeobachtung sollte ausgeweitet werden auf die Belange der Koexistenz (ungewollte Einträge von gv-Bestandteilen in die Lebens- und Futtermittelkette). Dies entspräche dem Verursacherprinzip und der Vorsorgepflicht sowie der großen sozioökonomischen Bedeutung der Koexistenz.
Private Produktbeobachtung im Arzneimittelrecht Von Mario Hieke
I. Einführung Ich möchte im Folgenden die privaten Produktbeobachtungspflichten von pharmazeutischen Unternehmen näher darstellen. Entsprechende Pflichten sind seit vielen Jahren etabliert. Dem Arzneimittelrecht kommt dabei aus historischer Sicht für andere Industriezweige eine gewisse Vorreiterrolle zu.
II. Bedeutung der Arzneimittelsicherheit Als Verbraucher werden wir mit der Thematik der Arzneimittelsicherheit typischerweise in Form von umfangreichen Packungsbeilagen – mit Hinweisen auf mögliche Risiken der Arzneimittelanwendung – konfrontiert. Die Thematik als solche ist uns insoweit sehr präsent. Sie ist Teil unseres Alltags zumindest aus Laienperspektive. In der Praxis ist dabei vielfach eine verzerrte Wahrnehmung der Arzneimittelrisiken zu beobachten. Die tatsächlichen Arzneimittelrisiken werden zumeist erheblich überschätzt. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn man die tatsächlichen Gesundheitsrisiken mit anderen Lebensbereichen vergleicht, etwa den freiwillig durch die Teilnahme am Straßenverkehr oder das Rauchen eingegangenen Risiken. Die Überschätzung der Arzneimittelrisiken führt teilweise sogar dazu, dass ärztlich verordnete Arzneimittel von Patienten nicht eingenommen werden und diese sich hierdurch einem erheblich höheren Risiko aussetzen, etwa dem ungehemmten Fortschreiten der Grunderkrankung. Im Folgenden möchte Ihnen einen kurzen Überblick über Art und Ausmaß der spezifischen Arzneimittelrisiken – einschließlich der Möglichkeiten einer fortlaufenden Erweiterung des Kenntnisstandes zum Risikoprofil von Arzneimitteln – geben. Aufbauend hierauf werde ich in einem zweiten Schritt die Produktbeobachtungspflichten der pharmazeutischen Unternehmen näher erläutern. 1. Bedeutung der Arzneimittelsicherheit Es ist zunächst festzuhalten, dass Arzneimittel keine gewöhnlichen Verbrauchsgüter sind. Sie beeinflussen unmittelbar die Stoffwechsel- und Krankheitsprozesse im
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menschlichen Organismus. Dies erfolgt immer zielgerichteter. Viele neue Arzneimittel – etwa im Bereich der Augenheilkunde, Onkologie und Neurologie – setzen unmittelbar an der Rezeptorebene an. Bei ihnen handelt es sich vielfach um Fusionsproteine und sonstige biotechnologisch hergestellte Arzneimittel, deren chemische Struktur im Labor in Anlehnung an natürliche Stoffe bzw. spezifische Zielvorgaben nachgebaut bzw. entwickelt wurde. Selbst im Fall eines solchen zielgerichteten Wirkmechanismus auf Rezeptor- bzw. Signalebene kann die Beeinflussung der Krankheitsprozesse mit Nebenwirkungen einhergehen. Dies ist im Wesentlichen durch die Komplexität des menschlichen Organismus bedingt. Der Stoffwechselprozess weist ungeachtet aller Gemeinsamkeiten bei den einzelnen Patienten vielfältige Unterschiede auf. Ein bestimmter Signalweg bzw. Stoffwechselprozess ist zudem typischerweise nicht nur für eine Körperfunktion zuständig. Die einzelnen Prozesse sind vielmehr eng miteinander verzahnt. So werden etwa zur Behandlung der Multiplen Sklerose Immunsuppressiva eingesetzt. Durch diese wird – vereinfacht ausgedrückt – die Immunabwehr herabgesetzt mit der Folge, dass hierdurch die Schubaktivität verringert und damit der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst wird. Die Herabregelung der Immunabwehr erhöht anderseits aber auch die Injektionsanfälligkeit der Patienten und die Anwendung der Arzneimittel ist daher mit entsprechenden Nebenwirkungen assoziiert. Bedingt durch die potentiellen Risiken und den Umstand, dass Verbraucher die Wirkungen und Nebenwirkungen eines Arzneimittels nicht ohne weiteres überblicken und damit das Nutzen-Risiko-Profil nicht umfassend bewerten können, unterliegt die Abgabe von Arzneimitteln abhängig von ihrem Risikoprofil spezifischen Beschränkungen, etwa der ärztlichen Verordnungspflicht und der Apothekenpflicht, und einer spezifischen regulatorischen Überwachung. 2. Arten von Arzneimittelrisiken Zu den potentiellen Arzneimittelrisiken, die durch eine spezifische Risikoüberwachung minimiert werden sollen, zählen nicht nur etwaige – bei einer bestimmungsgemäßen Anwendung auftretende – Nebenwirkungen und Wechselwirkungen, sondern auch fehlerhafte (d. h. bestimmungswidrige) Anwendungen des Arzneimittels durch den Arzt und/oder Patienten (sog. medication errors) und pharmazeutische Mängel. Bei Nebenwirkungen handelt es sich in der großen Mehrzahl um bloße Befindlichkeitsstörungen (z. B. Hautrötungen, schlechter Geschmack, Unwohlsein), die in der Regel selbst limitierend bzw. reversibel sind. Schwere Beeinträchtigungen sind relativ selten. Derartige Beeinträchtigungen werden zumeist in der klinischen Entwicklung entdeckt. Im Rahmen der Zulassungsstudien werden nach umfassenden Voruntersuchungen – grob vereinfacht – typischerweise zwei Prüfgruppen gebildet. Die eine Gruppe der Patienten erhält die Prüfsubstanz und die andere Gruppe die bisherige Standardtherapie1. 1 In bestimmten Konstellationen erhalten die Patienten der Kontrollgruppe Placebo. Dies setzt jedoch u. a. voraus, dass die Nichtbehandlung der Erkrankung ethisch vertretbar ist.
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Die beiden Patientengruppen sind dabei vergleichbar zusammengesetzt, u. a. in Bezug auf Alter, Geschlecht und Risikofaktoren (sog. Randomisierung), und weder der Patient noch der behandelnde Arzt wissen, welche Substanz der Patient erhält (sog. Doppelverblindung). Zudem werden die im Rahmen der Studie zu erhebenden Parameter (sog. Studienendpunkte) im Vorfeld, also prospektiv festgelegt. Nur dann, wenn unter Einhaltung dieser hohen Studienstandards die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit der Prüfsubstanz in den Studien aus Sicht der Zulassungsbehörden hinreichend belegt wird, ist eine Inverkehrgabe des Arzneimittels möglich. Sollten die im Rahmen der Studien beobachteten Beeinträchtigungen in ihrer Schwere im Verhältnis zum Nutzen des Arzneimittels nicht hinnehmbar sein, erfolgt bereits keine Zulassung des Arzneimittels. Das Aufspüren von Nebenwirkungen im Rahmen der Zulassungsstudie kann jedoch im Einzelfall an gewisse Grenzen stoßen. So können etwa bei der Prüfung des Arzneimittels an 3.000 Patienten aus statistischen Gründen nur Nebenwirkungen mit einer Häufigkeit bis zu maximal 1 zu 1.000 erfasst werden. Die Studienpopulation ist zudem nicht immer repräsentativ. Sie kann das Patientenkollektiv, bei dem das Arzneimittel später zum Einsatz kommt, nur annähernd abbilden. Denn die jeweiligen Gruppen müssen in allen maßgebenden Risikofaktoren vergleichbar sein und droht etwa bei der Einbeziehung von Patienten mit einer Vielzahl von Begleiterkrankungen eine Verzerrung der Untersuchungsergebnisse. Zudem kann das Aufspüren von Nebenwirkungen durch weitere Faktoren, insbesondere die Vielschichtigkeit von Nebenwirkungen erschwert werden. Nebenwirkungen treten z. B. nicht zwingend im zeitlichen Zusammenhang mit der Arzneimittelanwendung auf, sondern sie können unter bestimmten Umständen auch verzögert eintreten. Sie können zudem in ihrem Erscheinungsbild der Indikation ähneln (z. B. medikamenten-induzierter Kopfschmerz) und sich nur bei bestimmten Patienten manifestieren (z. B. Patienten mit genetischer Prädisposition oder Organfunktionseinschränkung). 3. Pharmakovigilanz Mit der Aufdeckung und Minimierung von Arzneimittelrisiken befasst sich die Pharmakovigilanz. Hierunter fallen alle Aktivitäten, die zur Entdeckung, Beurteilung sowie zum Verständnis und zur Vorbeugung von unerwünschten Wirkungen oder anderen Problemen in Verbindung mit Arzneimitteln dienen. Dazu gehören insbesondere die Analyse und Abwehr von Arzneimittelrisiken, ein diesbezügliches Risikomanagement, die Vorbeugung von Therapiefehlern, die Vermittlung von Arzneimittelinformationen und die Förderung der rationalen Therapie mit Arzneimitteln. Durch ein zuverlässiges Pharmakovigilanzsystem soll die Produktsicherheit auch nach der Zulassung gewährleistet und verbessert werden. Neuere Erkenntnisse zum Sicherheitsprofil von Arzneimitteln können insbesondere durch klinische Studien und Spontanberichte gewonnen werden. Studienergebnissen – etwa aus Phase-IV Studien – kommt dabei aufgrund des systematischen Un-
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tersuchungsansatzes die höchste Evidenz zu. Spontanberichte haben hingegen lediglich Signalcharakter. Denn aus ihnen können Aussagen zur Kausalität nicht ohne weiteres abgeleitet werden. Eine entsprechende Meldung erfolgt typischerweise bereits bei Vorliegen eines zeitlichen Zusammenhangs, ohne das etwaige Alternativursachen zuverlässig ausgeschlossen wurden. Auch sind allein anhand von Spontanberichten noch keine validen Einschätzungen zur Häufigkeit von Nebenwirkungen möglich. Denn die Meldefrequenz hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab und es besteht insoweit ein hohes Verzerrungspotential. Weitere Quellen von Informationen zu Arzneimittelrisiken sind insbesondere Literaturdatenbanken, pharmakoepidemiologische Studien, Registerdaten, Anwendungsbeobachtungen zu Sicherheitsdaten und das Internet.
III. Gesetzliche Regelungen zur Arzneimittelsicherheit Die rechtlichen Vorgaben zum Aufbau und Betrieb eines zuverlässigen Pharmakovigilanzsystems durch pharmazeutische Unternehmen sind lediglich ein Teilaspekt des Arzneimittelsicherheitsrechts. Daneben gibt es eine Vielzahl von weiteren regulatorischen Vorgaben durch welche die Arzneimittelsicherheit gewährleistet und verbessert werden soll. Exemplarisch zu nennen sind u. a. die umfassenden Vorgaben an die Information der Ärzte, Apotheker und Patienten bei der Beschriftung der Packung und der erforderlichen Produktinformation (u. a. Vorgaben an Packungsbeilage und Fachinformation) sowie die Vorgaben an den Fälschungsschutz, die Chargenrückverfolgbarkeit und die Rückstellmuster. Diese Vorgaben zielen ebenfalls auf eine Risikoabwehr bzw. Risikominimierung und/oder Risikoerforschung und stehen insoweit in sehr engem Zusammenhang zum Pharmakovigilanzsystem. 1. § 5 AMG Die zentrale Norm, durch die eine arzneimittelsicherheitsrechtliche Pflichtenstellung der pharmazeutischen Unternehmen begründet wird, ist die Vorschrift des § 5 AMG. Danach ist es „verboten, bedenkliche AM in den Verkehr zu bringen“. Bedenklich sind nach der Vorschrift „Arzneimittel, bei denen nach dem jeweiligen Stand der wiss. Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass diese bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen“. Die Vorschrift knüpft an ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis des Arzneimittels an. Das Verbot gilt nicht nur für das erstmalige Inverkehrbringen, sondern fortlaufend. Hieraus ergibt sich die Verpflichtung des pharmazeutischen Unternehmens das Sicherheitsprofil seines Arzneimittels fortlaufend zu beobachten. Die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses hat nach § 4 Abs. 28 AMG bezogen auf die Gesamtheit der Anwender zu erfolgen. Dies mündet in relativ schwierige Abwägungsentscheidungen. Auf der einen Seite ist der Nutzen des Arzneimittels in Form des therapeutischen Mehr-
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werts für alle bzw. den Großteil der Anwender zu berücksichtigen. Dieser kann etwa in einem Heilungserfolg, der Verzögerung des Krankheitsverlaufs oder der Linderung von Symptomen bestehen. Auf der anderen Seite ist das Nebenwirkungsrisiko zu berücksichtigen, das sich bei einzelnen Anwendern realisieren kann. Es ist zu fragen, ob das spezifische – der Arzneimittelanwendung immanente – Nebenwirkungsrisiko nach Art, Umfang und Schwere der potentiellen Nebenwirkungen im Hinblick auf den spezifischen Nutzen des Arzneimittels und unter Berücksichtigung etwaiger therapeutischer Alternativen bezogen auf die Gesamtheit der Anwender noch hinnehmbar bzw. zumutbar ist. Es stellt sich also grob vereinfacht die Frage, ob das Arzneimittel im Hinblick auf den therapeutischen Wert und die mit der Anwendung verbundenen Risiken für das Gesundheitssystem verfügbar sein oder den Patienten vorenthalten werden sollte. Ein nach Abwägung dieser Faktoren von den Arzneimittelbehörden zugelassenes Arzneimittel befindet sich – solange und soweit sich das Sicherheitsprofil nicht ändert, das Nutzen-Risiko-Verhältnis also weiterhin positiv ist – rechtmäßig im Verkehr. Das Auftreten einer von der Gesamtabwägung umfassten Nebenwirkung hält sich insoweit aus rein regulatorischer Sicht bezogen auf den Produktstatus unter Ausklammerung der persönlichen Betroffenheit des Patienten in einem sozialadäquaten Rahmen. Die regulatorischen Vorgaben sind dabei eng mit den Haftungsnormen verzahnt. Dies zeigt sich insbesondere in der Bezugnahme des § 84 AMG auf das negative Nutzen-Risiko-Verhältnis und die bestimmungsgemäße Anwendung des Arzneimittels als haftungsbegründende Voraussetzungen. Das Auftreten einer Nebenwirkung begründet daher als solche – sofern auf dieses Risiko adäquat in der Produktinformation hingewiesen wurde – noch keinen Produktfehler. 2. § 29 Abs. 1a AMG Eine weitere wesentliche arzneimittelsicherheitsrechtliche Vorschrift ist § 29 Abs. 1a AMG. Danach hat der Inhaber der Zulassung der zuständigen Bundesoberbehörde „alle anderen neuen Informationen mitzuteilen, die die Beurteilung des Nutzens und der Risiken des betreffenden Arzneimittels beeinflussen könnten“. Er hat zudem auf Verlangen der zuständigen Bundesoberbehörde alle Angaben und Unterlagen vorzulegen, die belegen, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis weiterhin günstig zu bewerten ist. Durch die Vorgabe soll gewährleistet werden, dass der Zulassungsbehörde Zugriff auf alle für die fortlaufende Beurteilung des Sicherheitsprofils des Arzneimittels maßgebenden Informationen hat. 3. Sonstige rechtliche Vorgaben Weitere arzneimittelsicherheitsrechtliche Vorgaben finden sich auf nationaler Ebene u. a. in: – §§ 62 – 63j AMG, – Arzneimittel- u. Wirkstoffherstellungsverordnung (§ 19 AMWHV),
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– Verordnung über die elektronische Anzeige von Nebenwirkungen bei Arzneimitteln (AMG-Anzeigeverordnung), – Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken (Stufenplan) nach § 63 AMG, – Empfehlungen des BfArM und des PEI zur Planung, Durchführung und Auswertung von Anwendungsbeobachtungen, – GCP-Verordnung. Es sind zudem insbesondere folgende europarechtliche Vorgaben zu beachten: – Verordnung (EG) Nr. 726/2004, – Richtlinie 2001/83/EG, – GVP Module I – XVI (Guidelines on Good Pharmacovigilance Practices), – Richtlinie 2001/20/EG (klinische Prüfungen).
IV. Produktbeobachtung durch pharmazeutische Unternehmen Die pharmazeutischen Unternehmen sind bestrebt, ihre Kenntnisse zum NutzenRisiko-Verhältnis der von ihnen vertriebenen Arzneimittel fortlaufend zu erweitern. Hierzu dienen insbesondere: – Dokumentation aller Verdachtsfälle von Nebenwirkungen, – Meldung aller schwerwiegenden und nicht schwerwiegenden Verdachtsfälle an die Behörden innerhalb bestimmter Fristen, – Vorlage von aktualisierten Unbedenklichkeitsberichten (PSUR) in regelmäßigen Abständen, – Durchführung weiterer Studien nach der Zulassung, z. B. nichtinterventionelle Unbedenklichkeitsprüfungen oder Anwendungsbeobachtungen.
1. Organisatorische Vorgaben Zu den organisatorischen Vorgaben an die pharmazeutischen Unternehmen zählt nach § 63b AMG das Einrichten und Betreiben eines Pharmakovigilanzsystems sowie von Risikomanagementsystemen. Diese sind auf die Ermittlung von neuen Risiken gerichtet und umfassen die fortlaufende Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses von Arzneimitteln.
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Das Pharmakovigilanzsystem umfasst mehrere Arzneimittel.2 Ein Risikomanagementsystem besteht hingegen für jedes einzelne Arzneimittel für das ein solches System als Bestandteil der Zulassungsunterlagen oder nach Auflage angeordnet wurde.3 Zu den von diesem System erfassten Sicherheitsspezifikationen zählen: – wichtige identifizierte Risiken, – wichtige potenzielle Risiken, inkl. potenzielle Risikogruppen, – wichtige fehlende Informationen, inkl. von Sicherheitsfragen, die einer weiteren Untersuchung hinsichtlich der Bewertung des Nutzen-Risiko-Profils bedürfen. Der aufzustellende Risikomanagementplan soll die Erstellung des Pharmakovigilanz-Plans unterstützen und als Basis für die Beurteilung der Notwendigkeit von risikominimierenden Maßnahmen dienen. 2. Personelle Vorgaben Der zentrale Ansprechpartner für Arzneimittel-Risiken innerhalb des pharmazeutischen Betriebes für die Zulassungs- und Überwachungsbehörden ist der sog. Stufenplanbeauftragte. Zur Bestellung eines Stufenplanbeauftragten sind alle pharmazeutischen Unternehmer verpflichtet, die im Geltungsbereich des AMG Fertigarzneimittel in Verkehr bringen. Hierbei muss es sich um eine in einem Mitgliedstaat der EU ansässige qualifizierte Person mit der erforderlichen Sachkenntnis und der zur Ausübung ihrer Tätigkeit erforderlichen Zuverlässigkeit handeln (§ 63a Abs. 1 AMG). Diese soll von den Verkaufs- und Vertriebseinheiten unabhängig sein und kann sich nur von Personen vertreten lassen, die über die Sachkenntnis nach § 63a Abs. 2 AMG verfügen (§ 19 Abs. 6 AMWHV). Die betreffenden Aufgaben werden in der Praxis aufgrund des großen Umfangs typischerweise nicht von einer einzelnen Person, sondern von einer eigenständigen Abteilung wahrgenommen, der sog. Abteilung Arzneimittelsicherheit, die vom Stufenplanbeauftragten geleitet wird. Der Abteilung gehören entsprechend der geforderten Sachkenntnisse typischerweise Ärzte an. Zu den Aufgaben eines Stufenplanbeauftragten gehört die Einrichtung und Führung eines Pharmakovigilanzsystems (§ 19 Abs. 1 AMWHV) einschließlich – Sammlung bekannt gewordener Meldungen über Arzneimittelrisiken nach schriftlich festgelegtem Verfahren, – unverzügliche Überprüfung und Bewertung der Meldungen, ob *
2
Arzneimittelrisiko vorliegt,
Zu den Inhalten der Pharmakovigilanz-Stammdokumentation, vgl.: GVP Modul II – Pharmacovigilance System. Die Dokumentation ist beim Zulassungsinhaber vorzuhalten und auf Anfrage vorzulegen. 3 Vgl. GVP Modul V – Risk Management Systems.
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wie schwerwiegend es ist und
*
welche Maßnahmen zur Risikoabwehr geboten sind,
– Koordinierung ggf. notwendiger Maßnahmen, – Anzeige-/Benachrichtigungspflichten und Information der Bundesoberbehörde über Nutzen-Risiko-Bewertung einschließlich eigener Bewertungen auf Verlangen, – systematische Aufzeichnungen aller Beanstandungen. Das pharmazeutische Unternehmen hat seinerseits im Rahmen der innerbetrieblichen Organisation dafür zu sorgen, dass alle im Betrieb eingehenden Meldungen über Arzneimittelrisiken und Beanstandungen sowie Informationen für die Nutzen-Risiko-Bewertung eines Arzneimittels unverzüglich dem Stufenplanbeauftragten mitgeteilt werden (§ 19 Abs. 8 AMWHV). 3. Informations- und Meldepflichten Zur Sicherstellung eines kurzfristigen Austauschs von sicherheitsrelevanten Informationen bestehen umfassende Meldesysteme. In diese sind neben den pharmazeutischen Unternehmen u. a. die Ärzte und Apotheken, die Arzneimittelkommissionen der Deutschen Ärzteschaft und der Apotheker, Pharmakovigilanzzentren, die Gesundheitsämter, die Giftnotzentralen und die Bundesoberbehörden eingebunden. Zudem erfolgt ein routinemäßiger Informationsaustausch mit der europäischen Zulassungsagentur, den Zulassungsbehörden anderer EU-Mitgliedstaaten und der WHO. Das pharmazeutische Unternehmen hat nach § 63c AMG Verdachtsfälle einer schwerwiegenden Nebenwirkung unverzüglich, spätestens innerhalb von 15 Tagen der zuständigen Bundesoberbehörde mitzuteilen und Verdachtsfälle einer nichtschwerwiegenden Nebenwirkung auf Verlangen unverzüglich bzw. ungefragt spätestens innerhalb von 90 Tagen zu melden. Das Unternehmen hat der zuständigen Bundesoberbehörde zudem nach § 63d AMG sog. Periodical Safety Update Reports (PSUR) zu übermitteln. In diesen ist das Sicherheitsprofil des Arzneimittels anhand aller verfügbaren Informationen umfassend zu bewerten. Entsprechende Berichte sind in den ersten beiden Jahren nach Zulassung mindestens alle sechs Monate vorzulegen, in den darauffolgenden beiden Jahren einmal jährlich und in der Folgezeit im Abstand von drei Jahren einzureichen. 4. Eigenverantwortliche Maßnahmen zur Gefahrenminimierung Das pharmazeutische Unternehmen ist gehalten, bei Hinweisen auf eine Veränderung des Sicherheitsprofils eigenverantwortliche Maßnahmen zur Gefahrenminderung bzw. weiteren Gefahrenerforschung zu treffen. Hierzu findet ein enger Austausch mit den zuständigen Behörden statt. Die Einzelheiten dieses Verfahrens sind in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und
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Auswertung von Arzneimittelrisiken nach § 63 AMG (sog. Stufenplan) geregelt. In das Stufenplanverfahren können u. a. folgende Stellen eingebunden werden: – Oberste Gesundheits- und Veterinärbehörden, – Arzneimittel-Kommissionen der Heilberufe, – Bundesverbände der Arzneimittelindustrie, – BMGS und andere Bundesministerien, – nationale Pharmakovigilanzzentren, Vergiftungszentralen, Patientenbeauftragte der Bundesregierung, – zuständige Stellen der EU-Mitgliedstaaten, – EMA und ihre Ausschüsse, EDQM, – Dienststellen der WHO, – Arzneimittelbehörden anderer Staaten. Im Stufenplanverfahren werden Maßnahmen und Informationsmittel und -wege bei neu erkannten Arzneimittelrisiken koordiniert. Es sind dabei zwei Gefahrenstufen zu unterscheiden. In der Gefahrenstufe I, die bei Hinweisen auf Arzneimittelrisiken mit der Möglichkeit einer unmittelbaren/mittelbaren Gefährdung der Gesundheit vorliegt, erfolgt u. a. ein Informationsaustausch der Bundesoberbehörde mit dem pharmazeutischen Unternehmer. Die Gefahrenstufe II ist bei einem begründeten Verdacht auf eine unmittelbare/mittelbare Gefährdung der Gesundheit gegeben. Hier erfolgt u. a. eine Anhörung des pharmazeutischen Unternehmers zu risikomindernden Maßnahmen. Zu den möglichen behördlichen Maßnahmen, die im Rahmen des Stufenplanverfahrens angeordnet werden können, zählen u. a.: BfArM/PEI – Einholung von Sachverständigen-Gutachten, – Auflagen nach § 28 AMG bezüglich *
Kennzeichnung der Behältnisse und der äußeren Umhüllungen,
*
Formulierung der FI und GI,
*
Therapiegerechte Packungsgrößen,
*
Gestaltung von Behältnissen (z. B. Kindersicherung),
– Rücknahme, Widerruf oder Ruhen der Zulassung (§ 30 AMG). Bundesländer – Intensivierung der Überwachungsmaßnahmen (§§ 64, 65 AMG), – Maßnahmen nach § 69 Abs. 1 AMG,
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– Untersagung des Inverkehrbringens, – Anordnung des Rückrufs, – Sicherstellung von Arzneimitteln im Bereich des betroffenen Bundeslandes. BMG – Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit (RechtsVO nach § 6 AMG), – Anordnung von Warnhinweisen (RechtsVO nach § 12 Abs. 1 Nr. 3 AMG), – Unterstellung unter *
Apothekenpflicht (RechtsVO nach § 46 AMG),
*
Betäubungsmittelrecht,
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Verschreibungspflicht (RechtsVO nach § 48 AMG).
Eine große praktische Bedeutung kommt der Information der Fachkreise (Ärzte, Apotheker) über neu erkannte Arzneimittelrisiken zu. Sofern die neu erkannten Arzneimittelrisiken erheblich sind, wird für die diesbezügliche Kommunikation zu den Risiken und den getroffenen Maßnahmen zur Risikobehebung bzw. -minimierung der sog. Rote-Hand-Brief genutzt. Ein „einfacher“ Informationsbrief (ohne RoteHand-Symbol) wird hingegen verwendet, wenn die Informationen zur Sicherheit der Arzneimittel primär regulatorisch begründet sind.
V. Fazit Es bestehen umfassende Vorgaben zur Pharmakovigilanz in der EU und speziell auch in Deutschland. Die Pharmakovigilanz-Maßnahmen seitens der Behörden und der pharmazeutischen Unternehmen sind über die Risikomanagementsysteme und das Stufenplanverfahren eng miteinander verzahnt. Die pharmazeutischen Unternehmen sind zu einer aktiven Marktbeobachtung verpflichtet. Diese erstreckt sich auf alle verfügbaren Informationen (u. a. Verpflichtung zur umfassenden Literaturrecherche) und auch auf eigenverantwortliche Untersuchungen (u. a. Phase IV-Studien). Das Sicherheitsprofil der Arzneimittel wird hierdurch fortlaufend vervollständigt und werden die Anwender (Ärzte und Apotheker) über etwaige neu erkannte Arzneimittelrisiken und Maßnahmen zur Gefahrenminderung zeitnah mittels Rote-Hand-Briefen bzw. Informationsschreiben informiert. Hinsichtlich der privaten Produktbeobachtungspflichten von pharmazeutischen Unternehmen besteht insoweit ein sehr hoher Standard.
Private Produktbeobachtung im Chemikalienrecht Von Sascha Werner1
I. Einleitung Die Verpflichtung, industriell hergestellte Produkte nach dem Inverkehrbringen zu beobachten, wurde von der zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelt. Schon das Reichsgericht hatte entschieden, dass ein Hersteller, der nach dem Inverkehrbringen seines Produktes erfährt, dass dieses Gefahren hervorrufen kann, verpflichtet ist, alles zu tun, was ihm nach den Umständen zumutbar ist, um diese abzuwenden.2 Daraus entwickelte der BGH die Verpflichtung des Produzenten, Produkte auch nach der Einführung in den Markt fortlaufend zu beobachten.3 Diese Produktbeobachtungspflicht hat die Funktion, die Verantwortung des Herstellers für sein Produkt über den Zeitpunkt des Inverkehrbringens hinaus aufrecht zu erhalten. Hintergrund ist die Tatsache, dass der Hersteller am effektivsten dazu in der Lage sein sollte, den Stand von Wissenschaft und Technik zu beobachten und Erfahrungen bei der Anwendung des Produktes zu sammeln, auszuwerten und gegebenenfalls die daraus gebotenen Konsequenzen zu ziehen.4 Die Intensität der Produktbeobachtungspflicht ist abhängig vom Umfang des drohenden Schadens und dem Grad der Gefahr sowie von der Möglichkeit und Zumutbarkeit von Produktbeobachtungsmaßnahmen.5 Daraus resultiert die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Produktbeobachtungspflicht. Die passive Produktbeobachtung beschränkt sich darauf, Beschwerden von Kunden über Schadensfälle und Sicherheitsdefizite entgegen zu nehmen, zu sammeln, systematisch auszuwerten und daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.6 Im Rahmen der aktiven Produktbeobachtung muss sich der Hersteller 1
Der Autor ist als Syndikusanwalt bei der LANXESS Deutschland GmbH tätig und gibt hier ausschließlich seine private Meinung wieder. 2 RGZ 163, 21, 26; RG, DR 1940, 1293; vgl. auch Lutz Michalski, Produktbeobachtung und Rückrufpflicht des Produzenten, Betriebs-Berater 1998, S. 961. 3 BGH, VersR 1971, 80, 82; BGH, NJW 1981, 1603 (Derosal); BGH, NJW 1981, 1606 (Benomyl). 4 Vgl. Gerhard Wagner, in: Münchner Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2013, § 823 Rn. 672. 5 OLG Karlsruhe, VersR 1978, 550 f.; Christoph E. Hauschka, Corporate Compliance, 2. Auflage 2010, § 24, Rn. 9. 6 BGH, NJW 1987, 1009, 1010, MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 673.
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Sascha Werner
aktiv Informationen über mögliche Schadensfälle und Risiken seines Produkts beschaffen. Er muss das einschlägige wissenschaftliche Schrifttum auswerten, Hinweisen aus der Presse oder Verbraucherverbänden nachgehen sowie öffentlich zugängliche sowie von Branchenverbänden zu Verfügung gestellte Informationen über Konkurrenzprodukte berücksichtigen.7 Insbesondere von international tätigen Chemieunternehmen wird erwartet, das gesamte für ihre Produkte relevante internationale Schrifttum zu verfolgen und auszuwerten.8 Unter Umständen kann es sogar erforderlich sein, Fachinstitute oder Wissenschaftler mit besonderen Untersuchungen zu beauftragen.9 Der Pflichtenumfang im Einzelnen hängt vom Schädigungspotential des Produkts, den Sicherheitserwartungen des Verwenders und von der Wirtschaftlichkeit der Produktbeobachtungsmaßnahmen ab.10 Die aus der Produktbeobachtung gewonnenen Erkenntnisse muss der Hersteller dazu verwenden, mögliche Gefahrenquellen abzustellen. Im Rahmen der laufenden Produktion sind gegebenenfalls die Konstruktion bzw. die Zusammensetzung des Produkts zu ändern, Produktionsverfahren anzupassen oder Produktinformationen zu überarbeiten.11 Potentiell fehlerhafte Produkte dürfen bei schwerwiegenden Gefahren für die Verwender nicht weiter vermarktet werden.12 Vor fehlerhaften Produkten, die sich bereits im Feld befinden, muss der Hersteller den Verwender wirkungsvoll warnen.13 Abhängig vom Einzelfall müssen sich auf dem Markt befindliche Produkte vom Hersteller zurück gerufen werden.14 Kommt der Hersteller dem nicht nach, drohen bei eingetretenen Schäden beim Verwender Schadensersatzleistungen und strafrechtliche Konsequenzen.15 Die zuständigen Ordnungsbehörden können ersatzweise selbst Warnungen aussprechen oder den Produktrückruf anordnen.16 Inwieweit diesbezüglich die Möglichkeiten der Behörden im Rahmen des Chemikalienrechts reichen und ob es darüber hinaus dort originäre Verpflichtungen zur Produktbeobachtung gibt, wird u. a. im Folgenden erörtert.
7 BGH, NJW 1981, 1606, 1607 f.; BGH NJW 1990, S. 906 (907 f.); Hauschka, Corporate Compliance (Fn. 5), § 24 Rn. 9. 8 BGH, NJW 1981, 1606, 1608. 9 Hauschka, Corporate Compliance (Fn. 5), § 24 Rn. 9. 10 Vgl. MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 674. 11 BGH, NJW 1990 1990, 906, 907 f.; BGH, NJW 1994, 3349, 3350 f.; Hauschka, Corporate Compliance (Fn. 5), § 24 Rn. 10. 12 BGH, NJW 1994, 3349, 3350 f.; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 674. 13 BGH, NJW 1987, 1009, 1010; BGH, VersR 1992, 100, 101. 14 Zum Überblick über den Meinungsstand vgl. MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 674. 15 BGH, NJW 1990,2560, 2564; Michalski, BB (Fn. 2), 1998, S. 961. 16 Gerhard Wagner, Das neue Produktsicherheitsgesetz – Öffentlich-rechtliche Produktverantwortung und zivilrechtliche Folgen (Teil I), BB 1997, S. 2489 (2493 ff.).
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II. Überblick über das Chemikalienrecht Das allgemeine Chemikalienrecht ist ein relativ junges Rechtsgebiet. Es war von Anfang an stark europäisiert und entstand Mitte der 1960iger Jahre.17 Mit der sogenannten Gefahrstoffrichtlinie18 wurde 1967 die zentrale Regelung des Europäischen Chemikalienrechts geschaffen. Sie enthielt Bestimmungen zu Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe19. 1979 wurde daneben mit der 6. Änderungsrichtlinie zur Gefahrstoffrichtlinie20 ein Anmelde- und Prüfverfahren vorgesehen, mit dem der Hersteller oder Importeur verpflichtet wurde, vor dem Inverkehrbringen neuer Stoffe21 deren gefährliche Eigenschaften zu ermitteln und die Ergebnisse den zuständigen Behörden mitzuteilen. Die sogenannte Zubereitungsrichtlinie22 enthielt parallel entsprechende Bestimmungen für gefährliche Zubereitungen23. Ferner wurde für Altstoffe24 in der Altstoffverordnung ein Verfahren zur Erarbeitung von Wissen über Altstoffe normiert, da diese von der Anmeldeverpflichtung nach der Gefahrstoffrichtlinie grundsätzlich ausgenommen waren. Schließlich ermöglichte die Beschränkungsrichtlinie25 sowohl für Neu- als auch für Altstoffe materielle Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gefährlicher Stoffe und 17
Hans-Werner Rengeling, Europäisches Stoffrecht, 2009, § 3 Rn. 10. Richtlinie 67/548/EWG des Rates vom 27. Juni 1967 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe. 19 Stoffe im Sinne von Artikel 2 Abs. 1 a) der Gefahrstoffrichtlinie sind „chemische Elemente und ihre Verbindungen in natürlicher Form oder hergestellt durch ein Produktionsverfahren …“. 20 Richtlinie 79/831/EWG des Rates vom 18. September 1979 zur sechsten Änderung der Richtlinie 67/548/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe. 21 Neue Stoffe waren nur solche Stoffe, die nach dem 17. September 1981 erstmalig in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft auf den Markt gebracht wurden. 22 Richtlinie 88/379 EWG des Rates vom 07. Juni 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen. Aufhebung und Neufassung durch die Richtlinie 1999/ 45/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. Mai 1999 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen. 23 Zubereitungen im Sinne von Artikel 2 Abs. 1 b) der Zubereitungsrichtlinie sind Gemenge, Gemische und Lösungen, die aus zwei oder mehreren Stoffen bestehen. Gefährlich sind Stoffe und Zubereitungen gemäß Artikel 2 Abs. 2 der Stoffrichtlinie und des gleichnamigen Artikels der Zubereitungsrichtlinie, wenn sie explosionsgefährlich, brandfördernd, hochentzündlich, leichtentzündlich, entzündlich, sehr giftig, giftig, gesundheitsschädlich, ätzend, reizend, sensibilisierend, krebserzeugend, erbgutverändernd, fortpflanzungsgefährdend oder umweltgefährlich sind. 24 Altstoffe waren die Stoffe, die vor dem 17. September 1981 erstmalig in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft auf den Markt gebracht wurden. 25 Richtlinie 76/769/EWG des Rates vom 27. Juli 1976 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen. 18
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Zubereitungen. Umgesetzt wurden diese EU-Richtlinien durch das 1980 erstmalig in Kraft getretene Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz)26 und den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen wie der Chemikalienverbotsverordnung27 oder der Gefahrstoffverordnung28. Das alte Chemikalienrecht musste sich aufgrund der Trennung von Alt- und Neustoffregime vorwerfen lassen, innovationshemmend zu sein, weil Neustoffe, bevor sie vermarktet werden konnten, zwangsläufig aufwendigen Tests zu unterwerfen waren, während Altstoffe prinzipiell ungetestet weiter vermarktet werden durften. Darüber hinaus war das Verfahren der Altstoffbewertung überaus träge und langsam, so das bis zur Ablösung der Altstoffverordnung nur Daten über wenige Stoffe eingesammelt worden sind. Das galt auch für das Verfahren zur Beschränkung des Inverkehrbringens und der Anwendung von Stoffen, da es für neue Beschränkungsmaßnahmen eines vollständigen Rechtssetzungsverfahrens unter Einbeziehung aller Gemeinschaftsorgane bedurfte. Diese Defizite mündeten ab 2007 in einer umfassenden Reform des Chemikalienrechts. So trat im Zeitraum vom 1. Juni 2007 bis zum 1. Juni 2009 die REACH-Verordnung29 in Kraft, die unter anderem die Altstoffverordnung und die Beschränkungsrichtlinie aufhob. Die CLP-Verordnung30 ist am 20. Januar 2009 in Kraft getreten und löst schrittweise bis zum 1. Juni 2015 die Gefahrstoffrichtlinie und die Zubereitungsrichtlinie ab. Beide Verordnungen stellen heute das zentrale Regelwerk des allgemeinen europäischen und auch deutschen Chemikalienrechts dar, da sie unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gelten. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich auf diese beiden Verordnungen. Auf eine Erörterung des besonderen Chemikalienrechts wie des Biozidsrechts, Pflanzenschutzmittelrechts, Wasch- und Reinigungsmittelrechts etc. wird verzichtet.31
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Fassung vom 2. Juli 2008, BGBl. Nr. 28 vom 11. 7. 2008, S. 1146. Verordnung über Verbote und Beschränkungen des Inverkehrbringens gefährlicher Stoffe, Zubereitungen und Erzeugnisse nach dem Chemikaliengesetz vom 14. Oktober 1993, BGBl. I 1993, S. 1720. 28 Verordnung zum Schutz vor Gefahrstoffen vom 23. Dezember 2004, BGBl. I 2004, S. 3759. 29 Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung (Registration), Bewertung (Evaluation), Zulassung und Beschränkung (Autorisation) chemischer Stoffe (of Chemicals) (REACH-Verordnung). 30 Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die Einstufung (CLASSIFICATION), Kennzeichnung (LABELING) und Verpackung (PACKAGING) von Stoffen (CLP-Verordnung). 31 Überblick bei Rengeling, Europäisches Stoffrecht (Fn. 17), § 2 Rn. 36 ff. 27
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1. Private Produktbeobachtung nach der REACH-Verordnung a) Private Produktbeobachtung als Zielsetzung der REACH-Verordnung Die beiden wichtigsten Ziele der REACH-Verordnung sind der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt vor den sich durch Stoffe ergebenden Risiken, bei gleichzeitiger Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie der Europäischen Union.32 In der Verordnung werden deshalb die jeweiligen Pflichten und Auflagen für Hersteller33, Importeure34 und nachgeschalteten Anwendern35 von Stoffen als solchen, in Zubereitungen und Erzeugnissen36 neu festgelegt. Im Kern will die REACH-Verordnung aber nicht weniger, als die oben beschriebenen Defizite des alten Rechts zu beseitigen und die bestehenden Wissenslücken zu chemischen Stoffen zu schließen, um künftig die von ihnen ausgehenden Gefahren und Risiken durch entsprechende Regulierungsmaßnahmen angemessen beherrschen zu können.37 Dazu sollen nach dem 17. Erwägungsgrund der REACH-Verordnung alle vorliegenden relevanten Informationen über Stoffe als solche, in Zubereitungen oder Erzeugnissen gesammelt werden. Die Verantwortung für die Informationssammlung soll nach dem 18. Erwägungsgrund der REACH-Verordnung bei den natürlichen oder juristischen Personen liegen, die diese Stoffe herstellen, einführen, in Verkehr bringen oder verwenden. Die REACH-Verordnung bezweckt damit die aktive Produktbeobachtung durch Private. b) Produktbeobachtungspflichten im Rahmen des Registrierungsverfahrens nach Artikel 10 der REACH-Verordnung Die REACH-Verordnung beruht auf dem Grundsatz, dass Hersteller, Importeure und nachgeschaltete Anwender sicherstellen müssen, dass sie Stoffe herstellen, in Verkehr bringen und verwenden, die die menschliche Gesundheit oder die Umwelt 32
Vgl. Art. 1 Abs. 1 der REACH-Verordnung. Hersteller sind nach Art. 3 Ziffer 9 der REACH-Verordnung natürliche oder juristische Personen mit Sitz in der Gemeinschaft, die in der Gemeinschaft einen Stoff herstellen. 34 Importeure sind nach Art. 3 Ziffer 11 der REACH-Verordnung natürliche oder juristische Personen mit Sitz in der Gemeinschaft, die für die Einfuhr in die Gemeinschaft verantwortlich sind. 35 Nachgeschaltete Anwender sind nach Art. 3 Ziffer 13 der REACH-Verordnung natürliche oder juristische Personen mit Sitz in der Gemeinschaft, die im Rahmen ihrer industriellen oder gewerblichen Tätigkeit einen Stoff als solchen oder in einem Gemisch verwenden und nicht Hersteller oder Importeur sind. 36 Erzeugnis ist gem. Art. 3 Ziffer 3 der REACH-Verordnung ein Gegenstand, der bei der Herstellung eine spezifische Form, Oberfläche oder Gestalt erhält, die in größerem Maße als die chemische Zusammensetzung seine Funktion bestimmt. 37 Vgl. Jan Boris Ingerowski, Die REACh-Verordnung, Hamburg 2009, S. 91; Eckard Rehbinder, Die REACH-Verordnung – Entstehungsgeschichte, Zielsetzung, Anwendungsbereich, Hauptinhalte, in: Reinhard Hendler/Peter Marburger/Peter Reiff/Meinhard Schröder, Neues europäischen Chemikalienrecht (REACH) (UTR 96), 2008, S. 35 (40). 33
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nicht nachteilig beeinflussen.38 Die REACH-Verordnung überlässt den Herstellern und Importeuren die Erreichung dieses Ziels aber nicht selbständig, sondern statuiert u. a. in Artikel 5 und Artikel 6 der REACH-Verordnung eine allgemeine Registrierungspflicht für Stoffe, die in Mengen größer einer Tonne pro Jahr hergestellt oder in die Gemeinschaft eingeführt werden. Die Registrierungspflicht besteht prinzipiell auch für alle sich vor dem 1. Juni 2008 auf dem Markt der Gemeinschaft befindlichen Stoffe, mit Ausnahme der bereits nach altem Recht angemeldeten Neustoffe, die nach Artikel 24 Abs. 1 der REACH-Verordnung als registriert gelten, sowie der in Anhang IV und V39 der REACH-Verordnung aufgeführten Stoffe. Die REACH-Verordnung formuliert die Stoffregistrierung für alle vorgenannten Stoffe als Voraussetzung für Produktion und Vermarktung. Falls keine Registrierung erfolgt, darf der betreffende Stoff weder hergestellt, noch in die Gemeinschaft importiert oder verwendet werden.40 Da die Registrierung durch die Einreichung eines einen umfangreichen Datensatz enthaltenden Registrierungsdossiers bei der Europäischen Chemikalienagentur in Helsinki, der ECHA, erfolgt, nennt man diesen Grundsatz auch „No data, no market“. Ein nach Artikel 6 der REACH-Verordnung einzureichendes Registrierungsdossier muss gem. Artikel 10 a) iii) der REACH-Verordnung Informationen zu Herstellung und Verwendung(en) des Stoffes gemäß Anhang VI Abschnitt 1 der REACH-Verordnung enthalten. Verwenden ist gem. Artikel 3 Ziffer 24 der REACH-Verordnung jedes Verarbeiten, Formulieren, Verbrauchen, Lagern, Bereithalten, Behandeln, Abfüllen in Behältnisse, Umfüllen von einem Behältnis in ein anderes, Mischen, Herstellen eines Erzeugnisses oder jeder anderer Gebrauch. Anzugeben sind alle identifizierten Verwendungen. Identifizierte Verwendungen sind solche, die dem Hersteller oder Importeur schriftlich von einem unmittelbar nachgeschalteten Anwender mitgeteilt werden.41 Insoweit besteht eigentlich eine Bringschuld des nachgeschalteten Anwenders. Hersteller von Chemikalien wissen aber in der Regel aufgrund enger Kundenkontakte, wie der nachgeschaltete Anwender den Stoff verwendet und einsetzt. Im Rahmen der Vorbereitung des Registrierungsdossiers wird darüber hinaus bei den Kunden gezielt nachgefragt, wie und für welche Verwendung der Stoff eingesetzt wird, um sicher zu gehen, dass alle Verwendungen der Kunden erfasst werden. In der Praxis erfolgt damit die Identifizierung der Verwendung für das Registrierungsdossier durch passive und aktive Produktbeobachtung.
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Vgl. Artikel 1 Abs. 3 der REACH-Verordnung. Anhang IV der REACH-Verordnung enthält Stoffe, über die ausreichende Informationen vorliegen, so dass davon ausgegangen wird, dass sie wegen ihrer inhärenten Stoffeigenschaften ein minimales Risiko verursachen. Anhang V enthält u. a. Stoffe, die durch natürliche Umwelteinflüsse wie Feuchtigkeit, Mikroorganismen oder Sonnenlicht entstanden sind sowie bestimmte Naturstoffe. 40 Ingerowski, REACh-Verordnung (Fn. 37), S. 91. 41 Vgl. Artikel 3 Nr. 26, Artikel 37 Abs. 2 REACH-Verordnung. 39
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Die Registrierung nach der REACH-Verordnung dient der Generierung von Informationen über Stoffe in ihren jeweiligen Einsatzbereichen und der Ableitung der dabei entstehenden Risiken.42 Für jeden registrierungspflichtigen Stoff ist ein Registrierungsdossier einzureichen, das zumindest aus einem technischen Dossier besteht. Nach Artikel 10 a) vi) und vii) der REACH-Verordnung muss das technische Registrierungsdossier u. a. einfache Studienzusammenfassungen oder qualifizierte Studienzusammenfassungen zu Versuchen enthalten. Art und Umfang der grundsätzlich geforderten Versuche ergeben sich aus den Anhängen VII – X der REACH-Verordnung. Gemäß Artikel 12 Abs. 1 der REACH-Verordnung muss der Registrant in dem technischen Registrierungsdossier alle physikalisch-chemischen, toxikologischen und ökotoxikologischen Informationen, die für ihn relevant sind und ihm zur Verfügung stehen, berücksichtigen. Dafür muss der Registrant nicht nur neue Versuche durchführen, sondern gem. Anhang VI der REACH-Verordnung alle vorhandenen Prüfdaten sammeln; dazu zählt eine Suche nach den einschlägigen Informationen über den Stoff in der Literatur. Datensammlung und Literaturrecherchen sind klassische Maßnahmen der Produktbeobachtung. c) Produktbeobachtungspflichten im Rahmen des Registrierungsverfahrens nach Artikel 18 der REACH-Verordnung Die Anforderungen für die mit der Registrierung einzureichenden Informationen orientieren sich an der jeweils produzierten oder importierten Stoffmenge. Je größer das Stoffvolumen ist, desto umfangreicher sind die Informationen und Studien, die im Rahmen des Registrierungsdossiers vorgelegt werden müssen. Es bestehen insgesamt vier Stufen. Für Stoffe, die in Jahresmengen von 1 – 10 t pro Jahr in der Gemeinschaft von einem Hersteller hergestellt oder in diese von einem Importeuer eingeführt werden, muss nur ein sogenannter Grunddatensatz nach Artikel 12 Abs. 1 a) und b) i.V.m. Anhang VII der REACH-Verordnung eingereicht werden. Der Anhang VII der REACH-Verordnung enthält Standardanforderungen für alle Stoffe, die in Jahresmengen von einer Tonne oder mehr hergestellt oder eingeführt werden. Artikel 12 Abs. 1 c) – e) i.V.m mit den Anhängen VIII der REACH-Verordnung enthält zusätzliche Anforderungen für Stoffe, die in Jahresmengen von mehr als 10 t und kleiner 100 t hergestellt oder eingeführt werden. Weitere Anforderungen ergeben sich für Stoffe im Mengenband zwischen 100 bis 1000 Jahrestonnen und für Stoffe über 1000 Jahrestonnen. Zusätzlich ist ab einer Stoffmenge von zehn Jahrestonnen gem. Artikel 14 Abs. 1 der REACH-Verordnung ein Stoffsicherheitsbericht vorzulegen, in dem die vorgesehenen Verwendungen vermerkt und die mit ihnen einhergehenden Human- und/oder Umweltexpositionen bewertet werden.
42 Ingerowski, REACh-Verordnung (Fn. 37), S. 94; Rehbinder, UTR 96 (2008) (Fn 37), S. 56 f.
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Erleichterte Anforderungen gelten indes bei transportierten isolierten Zwischenprodukten gem. Artikel 18 der REACH-Verordnung43. Zwischenprodukte sind gem. Artikel 3 Nr. 15 der REACH-Verordnung Stoffe, die für die chemische Weiterverarbeitung hergestellt und hierbei verbraucht oder verwendet werden, um in einen anderen Stoff umgewandelt zu werden. Ein transportiertes und isoliertes Zwischenprodukt liegt vor, wenn es separat abgefüllt wird und an einen anderen Standort, z. B. zum Kunden, verbracht wird. Die vorstehenden Kriterien werden von vielen der sogenannten Industriechemikalien erfüllt und die Vorschrift hat deswegen eine erhebliche praktische Relevanz. Gem. Artikel 18 Abs. 2 der REACH-Verordnung müssen für die Registrierung von transportierten isolierten Zwischenprodukten nur begrenzt Informationen vorgelegt werden. Ein Stoffsicherheitsbericht ist nicht erforderlich und grundsätzlich müssen keine Versuche durchgeführt werden. Die Einreichung des Grunddatensatzes – ggf. nach Durchführung von Versuchen – ist erst im Mengenband über 1000 Tonnen erforderlich. Hintergrund der Regelung ist, dass isolierte transportierte Zwischenprodukte in weiteren Syntheseschritten zu anderen Stoffen umgewandelt werden und deswegen nicht vertieft untersucht werden müssen, da keine Exposition in die Umwelt oder zum Menschen erfolgen soll44. Diese Erleichterungen gelten deswegen für transportierte isolierten Zwischenprodukte jedoch gem. Artikel 18 Abs. 4 der REACH-Verordnung nur dann, wenn der Hersteller oder Importeur selbst bestätigt oder erklärt, dass er die Bestätigung vom Anwender erhalten hat, dass die Synthese eines anderen Stoffes aus diesem Zwischenprodukt an anderen Standorten unter streng kontrollierten Bedingungen45 erfolgt. Der Hersteller als auch der Anwender müssen den Stoff also unter streng kontrollierten Bedingungen verwenden. In der Praxis lässt sich der Hersteller oder Importeur vom Anwender durch eine sogenannte Artikel 18 Bescheinigung schriftlich bestätigen, dass der Anwender den Stoff nur unter streng kontrollierten Bedingungen handhabt. Fraglich ist aber, ob eine solche schriftliche Bestätigung ausreicht oder Hersteller und Importeur nicht vielmehr verpflichtet sind, die Einhaltung der streng kontrollierten Bedingungen zu kontrollieren. Die ECHA scheint in ihrem Leitfaden zu Zwischenprodukten davon auszugehen, dass eine solche Kontrolle nicht notwendig ist, denn sie führt dort aus, dass Hersteller und Verwender jeweils separat für die durch sie abgegebenen Erklärungen haften46. Dies ist insoweit folgerichtig, als dass es für den Hersteller oder Importeur 43 Dasselbe gilt für standortinterne isolierte Zwischenprodukte gemäß Artikel 17 der REACH-Verordnung. 44 Vgl. auch den 41. Erwägungsgrund der REACH-Verordnung. 45 Streng kontrollierte Bedingungen liegen gem. Artikel 18 Abs. 4 der REACH-Verordnung u. a. vor, wenn der Stoff während seines gesamten Lebenszyklus durch technische Mittel strikt eingeschlossen wird, Verfahrens- und Überwachungstechnologien eingesetzt werden, die Emissionen und jede sich daraus ergebende Exposition minimieren und nur ordnungsgemäß ausgebildetes und zugelassenes Personal mit dem Stoff umgeht. 46 ECHA Leitfaden zu Zwischenprodukten, Version 2, Dezember 2010, Ziffer 1.2.3, S. 6: „er in seinem IUCLID-Registrierungsdossier erklärt, dass er von allen Anwendern in der
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im Regelfall sehr schwierig sein dürfte, die komplexen Anforderungen des Artikels 18 Abs. 4 der REACH-Verordnung beim Anwender im Detail zu überprüfen. Allerdings wird man erwarten können, dass beim Hersteller und Importeur aufgrund von langjährigen Kundenbeziehungen gewisse Grundkenntnisse über die Kunden seiner Industriechemikalien vorliegen oder er bei Erstbelieferungen an einen Neukunden ein Kundenaudit durchführt. Kommt er dabei zu dem Schluss, dass die abgegebenen Erklärungen möglicherweise fehlerhaft sind, sind vertiefte Nachprüfungen erforderlich.47 Damit besteht auch im Rahmen der Registrierung nach Art. 18 der REACH-Verordnung die Notwendigkeit, aktive Produktbeobachtungsmaßnahmen durchzuführen. Sind die Voraussetzung des Artikels 18 Abs. 4 der REACH-Verordnung nicht erfüllt, muss der Registrant ein vollständiges Dossier nach Artikel 10 der REACH-Verordnung einreichen. d) Produktbeobachtungspflichten nach Abschluss der Registrierung Produktbeobachtungspflichten bestehen jedoch auch nach Abschluss der Registrierung nach den Artikeln 10 ff. der REACH-Verordnung. So ist gemäß Artikel 22 Abs. 1 der REACH-Verordnung der Registrant nach der Registrierung dafür verantwortlich, aus eigener Initiative seine Registrierung unverzüglich anhand der einschlägigen neuen Informationen zu aktualisieren und diese der ECHA zu übermitteln. Mitgeteilt werden müssen u. a. gem. Artikel 22 Abs. 1 d) und e) der REACHVerordnung neue identifizierte Verwendungen, die der Anwender dem Hersteller mitteilt oder von denen abgeraten wird sowie neue Erkenntnisse über die Risiken des Stoffes für die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt, von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie dem Registranten bekannt geworden sind, und die zu Änderungen des Sicherheitsdatenblatts oder des Stoffsicherheitsberichts führen. Den Terminus „nach vernünftigen Ermessen“ wird man im Ergebnis so auslegen müssen, dass – vergleichbar mit der zivilgerichtlichen Rechtsprechung – die Verpflichtung besteht, das einschlägige nationale und internationale Schrifttum auszuwerten und Hinweisen von Wissenschaftlern, Kunden, Branchenverbänden und ggf. auch Wettbewerbern48 nachzugehen. Neue Informationen, die zur Überarbeitung der Stoffsicherheitsbeurteilung oder des Sicherheitsdatenblatts führen, können auch internationale Prüfungen, wie IPCS-Gutachten oder OECD-Dossiers, oder jede andere Art von Publikation sein, die sich mit der Freisetnachgeschalteten Lieferkette eine Bestätigung erhalten hat, dass der Stoff unter den in Artikel 18 Absatz 4 und im Abschnitt 2.1 dieser Leitlinien beschriebenen streng kontrollierten Bedingungen verwendet wird. In diesem Fall haften der Registrant und die Anwender jeweils für ihre eigene Erklärung zu den streng kontrollierten Bedingungen.“ 47 Vgl. Anja von Hahn, in: Jürgen Fluck/Kristian Fischer/dies., REACH + Stoffrecht Kommentar, Art. 18 REACH, Rn. 42. 48 Der Informationsaustausch unter Wettbewerbern unterliegt strengen Grenzen, ist jedoch gem. Artikel 29 der REACH-Verordnung im Rahmen der Teilnahme an einem Substance Exchange Form (SIEF) möglich und geboten.
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zung und der Exposition oder den schädlichen Wirkungen des Stoffes beschäftigt.49 Artikel 22 der REACH-Verordnung formuliert damit eine aktive Pflicht zur Produktbeobachtung für Hersteller und Importeure. e) Produktbeobachtungspflichten der Lieferanten – Kommunikation in der Lieferkette Produktbeobachtungspflichten bestehen nicht nur für die Hersteller oder Importeure von Stoffen und Gemischen. Produktbeobachtungspflichten bestehen auch für den Lieferanten von Chemikalien. Lieferant ist gemäß Artikel 3 Nr. 32 der REACHVerordnung neben dem Hersteller und Importeur auch der nachgeschaltete Anwender des Stoffes oder der Händler50. Der Lieferant eines Stoffes oder eines Gemisches muss dem Abnehmer des Stoffes oder Gemisches gemäß Artikel 31 Abs. 1 der REACH-Verordnung ein Sicherheitsdatenblatt nach Anhang II der REACH-Verordnung zur Verfügung stellen, wenn es sich um einen gefährlichen Stoff im Sinne der CLP-Verordnung oder um ein gefährliches Gemisch im Sinne der Zubereitungsrichtlinie handelt. Das Sicherheitsdatenblatt enthält Informationen, die es dem Anwender ermöglichen, die erforderlichen Maßnahmen für den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt zu ergreifen. Es wird auf Papier oder elektronisch kostenlos zur Verfügung gestellt, und zwar spätestens an dem Tag, an dem der Stoff oder das Gemisch erstmals geliefert wird.51 Der Lieferant muss das Sicherheitsdatenblatt gemäß Art. 31 Abs. 9 der REACHVerordnung unverzüglich aktualisieren, sobald neue Informationen, die Auswirkungen auf die Risikomanagementmaßnahmen haben können oder neue Informationen über Gefährdungen verfügbar werden. Verfügbarkeit liegt vor, sobald die Information z. B. durch Fachveröffentlichungen frei zugänglich ist. Positive Kenntnis des Lieferanten ist nicht erforderlich.52 Artikel 31 Abs. 9 der REACH-Verordnung enthält damit eine Verpflichtung zur aktiven Produktbeobachtung, denn ohne ein aktives Monitoring ist die Verpflichtung aus Artikel 31 Abs. 9 der REACH-Verordnung nicht erfüllbar. Die überarbeitete Fassung des Sicherheitsdatenblattes muss allen Abnehmern, an die der Stoff oder das Gemisch in den vergangenen zwölf Monaten geliefert worden ist, zur Verfügung gestellt werden.
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Vgl. ECHA Leitlinien zur Registrierung, Version 2.0, Mai 2012, Ziffer 7.2 e), S. 97. Händler sind gemäß Artikel 3 Nr. 14 der REACH-Verordnung natürliche oder juristische Personen mit Sitz in der Gemeinschaft, die einen Stoff als solchen oder in einem Gemisch lediglich lagern und an Dritte in Verkehr bringen; darunter fallen auch Einzelhändler. 51 Vgl. Artikel 31 Abs. 8 der REACH-Verordnung. 52 Vgl. Fluck, in: Fluck/Fischer/von Hahn (Fn. 47), Art. 31 Rn. 127; ECHA Leitlinien zur Registrierung, Ziffer 7.2 e), S. 97. 50
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f) Die Rückmeldung des Verwenders Die REACH-Verordnung begründet nicht nur einseitig Informationspflichten auf Seiten der Hersteller, Importeure und Lieferanten in Richtung der Verwender. Sie begründet gemäß Artikel 34 der REACH-Verordnung auch eine Verpflichtung der Verwender, neue Informationen über gefährliche Eigenschaften und weitere Informationen, die die Eignung der in einem ihm übermittelten Sicherheitsdatenblatt angegebenen Risikomanagementmaßnahmen in Frage stellen können53, dem jeweiligen Lieferanten zur Verfügung zu stellen. Die Informationen fließen damit nicht nur „down-stream“ zum Verwender, sondern auch „up-stream“ zum Lieferanten. Man spricht hier auch von der sogenannten Rückmeldung.54 Damit soll u. a. sichergestellt werden, dass dem Lieferanten auch Informationen über neue Gefährdungen, die sich aus der Anwendung des Stoffes ergeben, mitgeteilt werden. Im Gegensatz zu den Anforderungen bei den Herstellern, Importeuren und Lieferanten besteht allerdings keine Verpflichtung des Verwenders, Nachforschungen anzustellen. Eine Mitteilungspflicht besteht erst bei Vorliegen von positiver Kenntnis. Trotzdem kann man auch hier von einer Produktbeobachtungspflicht des Verwenders sprechen. Sobald ihm neue Erkenntnisse vorliegen, muss er diese den vorgeschalteten Akteuren der Lieferkette mitteilen. g) Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten Unterlassene oder fehlerhafte Produktbeobachtung kann zivilrechtliche Schadensersatzansprüche auslösen oder hat gar strafrechtliche Konsequenzen. Deswegen ist es ratsam, Produktbeobachtungsmaßnahmen zu dokumentieren, um im Schadensfall fahrlässiges Handeln oder Unterlassen widerlegen zu können. Darüber hinaus enthält aber auch die REACH-Verordnung eine umfassende Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht. Gemäß Artikel 36 Abs. 1 der REACH-Verordnung müssen die Hersteller, Importeure, nachgeschalteten Anwender und Händler sämtliche für ihre Aufgabenerfüllung nach der REACH-Verordnung erforderlichen Informationen zusammentragen und aufbewahren. Die Aufbewahrungspflicht endet erst 10 Jahre nach der letzten Herstellung, Einfuhr, Lieferung oder Verwendung des Stoffes. Umfasst sind damit auch solche Informationen, die gemäß Artikel 22 Abs. 1 oder 31 Abs. 9 der REACH-Verordnung zur Aktualisierung der Registrierung oder des Sicherheitsdatenblattes führen. Die in der REACH-Verordnung angeordneten Produktbeobachtungsmaßnahmen sind somit nicht nur durchzuführen, sondern auch sorgfältig zu dokumentieren. Diese Dokumentation muss der zuständigen Behörde des Mitgliedsstaats oder der ECHA auf Verlangen vorgelegt oder zugänglich gemacht wer-
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Ungeeignete Risikomanagementmaßnahmen können z. B. eine ungeeignete persönliche Schutzausrüstung sein oder die Angabe eines falschen Löschmittels. 54 Vgl. Jürgen Fluck, REACH: Stoffinformationen in der Lieferkette, StoffR 2007, S. 62 (66).
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den. Auskunftsverweigerungs- oder Zeugnisverweigerungsrechte, wie im deutschen Recht üblich, enthält die REACH-Verordnung nicht.55 2. Private Produktbeobachtung nach der CLP-Verordnung a) Private Produktbeobachtung als Zielsetzung der CLP-Verordnung Der Handel mit Chemikalien wird international betrieben. Zur Vereinfachung des Welthandels und zur Gewährleistung eines einheitlichen weltweiten hohen Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit wurden deswegen über einen Zeitraum von 14 Jahren beginnend ab 1992 von den Vereinten Nationen mit großer Sorgfalt harmonisierte Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen und Gemischen entwickelt, die zum Global Harmonisierten System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien geführt haben.56 Durch die CLP-Verordnung wurde das bisherige System der Europäischen Gemeinschaft zur Einstufung und Kennzeichnung, das in der Gefahrstoffrichtlinie niedergelegt war, dem CLP-System der Vereinten Nationen angeglichen. Eine komplette internationale Harmonisierung wurde damit jedoch nicht erreicht, denn die CLP-Verordnung geht in vielen Bereichen über das internationale System hinaus, um das alte hohe Schutzniveau nicht abzuschmelzen.57 Zweck der CLP-Verordnung ist es zu bestimmen, welche Eigenschaften von Stoffen und Gemischen zu einer Einstufung als gefährlich führen, damit die Gefahreneigenschaften von Stoffen und Gemischen korrekt ermittelt und ihre Gefahren entsprechend angegeben werden können.58 Die Zuständigkeit für die Ermittlung der Gefahreneigenschaften von Stoffen und Gemischen und die Entscheidung über ihre Einstufung soll hauptsächlich bei den Herstellern, Importeuren und nachgeschalteten Anwender liegen.59 Hersteller, Importeure oder nachgeschaltete Anwender sollen alle relevanten Informationen, die ihnen über die Gefahreneigenschaften des Stoffes oder Gemisches zur Verfügung stehen, ermitteln und sie hinsichtlich ihrer Qualität bewerten und die Stoffe und Gemische danach entsprechend einstufen und kennzeichnen.60 Genau wie die REACH-Verordnung ist damit auch die CLP-Verordnung auf Produktbeobachtung durch Private hin angelegt.
55 Vgl. dazu Fluck, in: Fluck/Fischer/von Hahn (Fn. 47), Art. 36 Rn. 1; vgl. § 21 Abs. 5 des Chemikaliengesetzes (ChemG). 56 Globally Harmonised System of Classification and Labelling of Chemicals (CLP). 57 Zur Entwicklung der CLP-Verordnung Ingerowski, REACh-Verordnung (Fn. 37), S. 289 ff. 58 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 10 der CLP-Verordnung. 59 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 16 der CLP-Verordnung. 60 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 20 der CLP-Verordnung.
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b) Produktbeobachtungspflichten im Rahmen der Gefahreneinstufung gem. Art. 13 der CLP-Verordnung Die Einstufung und Kennzeichnung ist als eigenverantwortliches Verfahren für die Unternehmen ausgestaltet. Diese habe die dafür notwendigen Informationen eigenständig zu ermitteln und beizubringen. Eine gesonderte Überprüfung und ggf. Zurückweisung durch die Behörden ist nicht vorgesehen. Dies kann dazu führen, dass es durch verschiedene Verpflichtete zu unterschiedlichen Einstufungen und Kennzeichnungen kommt. Ein behördliches Eingreifen und Korrigieren ist jedoch für diesen Fall nicht vorgesehen. Vielmehr müssen sich die Unternehmen gemäß Art. 41 der CLP-Verordnung nur bemühen, zu einer einheitliches Einstufung zu kommen. Gelingt das nicht, wird das akzeptiert.61 Zusätzlich zur unternehmerischen Selbsteinstufung gibt es darüber hinaus gemäß Art. 36 der CLP-Verordnung noch die Möglichkeit der gemeinschaftsweit harmonisierten Einstufung durch die Europäische Kommission. Diese wird hier aber nicht weiter dargestellt. Bei der Selbsteinstufung werden Stoffe und Gemische gemäß Art. 13 der CLPVerordnung aufgrund ihrer Gefahreneigenschaften in eine oder mehrere Gefahrenklassen eingestuft. Grundlage für die Einstufung ist gemäß Art. 9 der CLP-Verordnung die Bewertung der für den Stoff ermittelten Informationen. Um zu bestimmen, ob mit einem Stoff oder einem Gemisch eine physikalische Gefahr, eine Gesundheitsgefahr oder eine Umweltgefahr verbunden ist, ermitteln die Hersteller, Importeure und nachgeschalteten Anwender des Stoffes oder des Gemisches gemäß Art. 5 und 6 der CLP-Verordnung die relevanten verfügbaren Informationen, insbesondere epidemiologische Daten und Erfahrungen über die Wirkung beim Menschen, wie z. B. Daten über berufsbedingte Exposition und Daten aus Unfalldatenbanken, neue wissenschaftliche Informationen und alle anderen Informationen, die im Rahmen international anerkannter Programme zur Chemikaliensicherheit gewonnen wurden. Eine Einstufung des Stoffes kann somit nur erfolgen, wenn umfangreiches Wissen über den Stoff gesammelt worden ist. Damit setzt auch die Gefahreneinstufung eine aktive Produktbeobachtung voraus. Die Einstufung von Stoffen und Gemischen muss ständig überprüft werden. Die Hersteller, Importeure und nachgeschalteten Anwender ergreifen gemäß Art. 15 der CLP-Verordnung alle verfügbaren angemessenen Maßnahmen, um sich über neue wissenschaftliche oder technische Informationen zu informieren, die sich auf die Einstufung der Stoffe und Gemische auswirken können. Werden einem Hersteller, Importeur oder nachgeschaltetem Anwender derartige Informationen bekannt und betrachtet er diese als geeignet und zuverlässig, so führt er unverzüglich eine Neubewertung durch. Führt diese zu einer Änderung der Einstufung und Kennzeichnung, so muss gemäß Artikel 30 der CLP-Verordnung das Kennzeichnungsetikett unverzüglich aktualisiert werden. Außerdem muss gemäß Artikel 40 Abs. 2 der CLP-Ver61
Vgl. dazu Ingerowski, REACh-Verordnung (Fn. 37), S. 293 f.
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ordnung die geänderte Einstufung und Kennzeichnung an das Kennzeichnungsverzeichnis der ECHA gemeldet werden. Art. 15 der CLP-Verordnung statuiert damit eine Pflicht zur aktiven Produktbeobachtung. Im Vergleich zur REACH-Verordnung bestehen im CLP- Recht nahezu identische Aufbewahrungspflichten. Gemäß Art. 49 der CLP-Verordnung trägt der Lieferant sämtliche Informationen, die er für die Zwecke der Einstufung und Kennzeichnung herangezogen hat, zusammen und hält sie während eines Zeitraumes von mindestens zehn Jahren nach seiner letzten Lieferung des Stoffes oder Gemisches zur Verfügung. Die zuständigen Behörden oder die ECHA können den Lieferanten auffordern, ihnen alle gesammelten Informationen vorzulegen. 3. Überwachung, behördliche Anordnungen und Sanktionen Die im Rahmen der REACH-Registrierung eingereichten Registrierungsdossiers können gemäß Artikel 41 Abs.1 der REACH-Verordnung durch die ECHA überprüft werden. Insbesondere kann die ECHA überprüfen, ob die Informationen im vorgelegten technischen Dossier den in der REACH-Verordnung vorgesehenen Anforderungen entsprechen. Ist dies nicht der Fall, kann sie den Registranten durch eine Entscheidung unter Fristsetzung auffordern, zur Erfüllung der Anforderungen weitere Informationen vorzulegen. Der Registrant muss dann der ECHA die angeforderten Informationen innerhalb der festgelegten Frist übermitteln.62 Daneben müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Durchsetzung der REACH-Verordnung gewährleisten. Dazu haben die Mitgliedstaaten nach Art. 125 und 126 der REACH-Verordnung ein System amtlicher Kontrollen und einen entsprechenden Sanktionsmechanismus zu unterhalten. Eine ähnliche Aufgabenzuweisung enthält Artikel 43 der CLP-Verordnung. Die Bundesregierung hat diese Vorgaben im Chemikaliengesetz (ChemG) umgesetzt. Gemäß § 21 Abs. 2 ChemG überwachen die zuständigen Landesbehörden die Durchführung der EGVerordnungen, die den Sachbereich des ChemG betreffen, soweit die Durchführung den Mitgliedsstaaten obliegt. Die zuständigen Landesbehörden sind insoweit für die Überwachung der REACH-Verordnung und als auch der CLP-Verordnung zuständig. Die Landesbehörden können vom Hersteller und Lieferanten u. a. Auskünfte verlangen, Geschäftsräume betreten, Proben von Stoffen entnehmen und Einsicht in Geschäftsunterlagen nehmen.63 Anders als bei Art. 36 der REACH-Verordnung besteht aber ein Auskunftsverweigerungsrecht hinsichtlich solcher Fragen, die den Auskunftspflichtigen der Gefahr einer Strafverfolgung oder der Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit aussetzen würden. Werden bei der behördlichen Überwachung Defizite festgestellt, kann die Behörde gem. § 23 Abs. 1 ChemG im Einzelfall Anordnungen treffen, die zur Beseitigung festgestellter oder zur Verhütung künftiger 62 63
Vgl. Art. 41 Abs. 3 und 4 der REACH-Verordnung. Vgl. § 21 Abs. 4 ChemG.
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Verstöße notwendig sind. Bei einem Verstoß gegen die vorbeschriebenen Produktbeobachtungspflichten wird die Behörde dabei aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zunächst zweistufig vorgehen müssen. Zunächst wird sie die vom Gesetz geforderte Handlung – z.B. Aktualisierung der Registrierung nach Artikel 22 Abs. 1 e) der REACH-Verordnung, Aktualisierung des Sicherheitsdatenblattes nach Artikel 31 Abs. 9 der REACH-Verordnung oder Neubewertung und Neueinstufung nach Art. 15 und 30 der CLP-Verordnung – per Anordnung einfordern müssen. Wird einer solchen Anordnung nicht Folge geleistet, kommen Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung oder gar Herstellungs- und Verwendungsverbote oder ähnlich Maßnahmen in Betracht. Sanktionen finden sich im Chemikaliengesetz und in der Chemikaliensanktionsverordnung (ChemSanktionsV64). Nach § 27b Abs. 1 Nr. 2 ChemG wir mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer in einem Registrierungsdossier eine Angabe nicht richtig oder nicht vollständig macht. Strafbar ist jedoch nur die vorsätzliche Tat. Die fahrlässige Begehung kann gemäß § 27 Abs. 5 ChemG als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. Berücksichtigt der Registrant somit nicht gemäß Artikel 12 Abs. 1 der REACH-Verordnung alle physikalisch-chemischen, toxikologischen und ökotoxikologischen Informationen, die für ihn relevant sind und ihm zur Verfügung stehen und führt dies dazu, dass er im Registrierungsdossier eine Angabe nicht oder nicht vollständig macht, drohen straf- oder bußgeldrechtliche Sanktionen. Weitere Ordnungswidrigkeitentatbestände enthalten §§ 6 und § 11 der ChemSanktionsV. So handelt ordnungswidrig, wer entgegen Artikel 22 Abs. 1 e) der REACH-Verordnung seine Registrierung nicht aktualisiert oder entgegen Artikel 31 Abs. 9 der REACH-Verordnung sein Sicherheitsdatenblatt nicht anpasst. Ordnungswidrig ist auch die unterlassene oder fehlerhafte Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von gefährlichen Stoffen.65 Ebenso ordnungswidrig sind die unterlassene Aktualisierung des Kennzeichnungsetiketts sowie das Nichtmelden der Aktualisierung an das Kennzeichnungsverzeichnis der ECHA66. Bußgeldbewehrt ist auch der Verstoß gegen die Dokumentationspflichten gemäß der REACH- und der CLP-Verordnung.67 Unterlassene Produktbeobachtung im Bereich des Chemikalienrechts kann somit auch straf- und bußgeldrechtliche Konsequenzen haben.
III. Fazit Die im Rahmen der REACH-Verordnung bestehende Verpflichtung der Hersteller und Importeure zur Registrierung von Stoffen setzt umfangreiche Produktbeobach64
Verordnung zur Neuordnung der Straf- und Bußgeldvorschriften bei Zuwiderhandlungen gegen EG- oder EU-Verordnungen auf dem Gebiet der Chemikaliensicherheit vom 24. April 2013, BGBl. I S. 944. 65 Vgl. § 11 Nr. 1 – 7 ChemSanktionsV. 66 Vgl. § 11 Nr. 8 und 8 ChemSanktionsV. 67 Vgl. § 6 Nr. 20 und 21 sowie § 11 Nr. 14 der ChemSanktionsV.
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tung voraus. Dies gilt auch für die ordnungsgemäße Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von gefährlichen Stoffen gemäß der CLP-Verordnung. Nach Abschluss der Registrierung bzw. Durchführung der Gefahreneinstufung besteht eine fortlaufende Verpflichtung zur Produktbeobachtung. Nach der REACH-Verordnung bestehen Produktbeobachtungs- und Rückmeldeverpflichtungen für alle Akteure der Lieferkette. Der Verstoß gegen die Produktbeobachtungspflichten kann durch behördliche Anordnungen und Mitteln des Verwaltungszwangs durchgesetzt werden. Unterlassene Produktbeobachtung nach dem Chemikalienrecht kann außerdem strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen und ist bußgeldbewehrt.
Private Produktbeobachtungspflichten im Lebensmittel- und Futtermittelrecht Von Tobias Teufer
I. Einleitung Ausdrückliche private Produktbeobachtungspflichten, im Sinne einer Nachverfolgung der Sicherheit des Erzeugnisses durch den Hersteller oder Vertreiber nach dem Inverkehrbringen1, sind dem in Deutschland geltenden Lebensmittel- und Futtermittelrecht fremd.2 Dadurch unterscheidet sich das Lebensmittel- und Futtermittelrecht von verwandten Rechtsbereichen. So gibt es z. B. im Arzneimittelrecht detaillierte Konvilanzregelungen zur privaten Produktbeobachtung.3 Das Fehlen ausdrücklicher privater Produktbeobachtungspflichten im Lebensmittel- und Futtermittelrecht überrascht auf den ersten Blick. Es handelt sich nämlich um einen europäisch sehr weitgehend harmonisierten Rechtsbereich, der mit der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts4 eine relativ junge Basis mit Regelungen zur Lebensmittelsicherheit aufweist, die noch dazu stark von dem Eindruck akuter Lebensmittelkrisen geprägt war.5 Eine erste Begründung für die Unterschiede zu anderen regulierten Wirtschaftsbereichen liefert jedoch schon der Charakter der betroffenen Produkte. Arzneimittel und Medizinprodukte stuft der Gesetzgeber als potentiell gefährlich ein, während Lebensmittel nach Art. 14 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und Futtermittel nach Art. 15 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 bei ihrem Inverkehrbringen 1 Näher zur Begriffsbestimmung Hartwig Sprau, in: Palandt-ders., 73. Aufl. 2014, § 823 BGB, Rdnr. 172. 2 Eine wichtige Ausnahme ist das Gentechnikrecht, dazu näher Achim Willand in diesem Band S. 61 ff. 3 Dazu näher Mario Hieke in diesem Band, S. 79 ff. 4 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 031, 1. 2. 2002, p. 1), zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 (ABl. L 188, 18. 7. 2009, p. 14). 5 Vgl. Tobias Teufer, das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) zwischen europäischem und nationalem Recht, in: Sosnitza (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im deutschen und europäischen Lebensmittelrecht, Baden-Baden 2007, S. 9 ff.
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in jeder Hinsicht sicher sein müssen. Entsprechend ist das EU-Lebensmittel- und Futtermittelrecht von jeher hauptsächlich herstellungsprozessbezogen ausgerichtet, z. B. durch Hygienevorschriften6, Zulassungspflichten bei technologischen Zusatzstoffen7 und den Grundsatz der Produktsicherheit.8
II. Grundstruktur des EU-Lebensmittel- und Futtermittelrechts Grundlage des in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden Lebensmittelund Futtermittelrechts ist die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, auch „Basis-Verordnung“ genannt. Als Reaktion auf die Lebensmittelkrisen der Jahrtausendwende, die überwiegend aus dem Futtermittelsektor stammten9, sieht der europäische Gesetzgeber das Futtermittelrecht als Bestandteil des Lebensmittelrechts an. Stoffe, die Verbraucher als Lebensmittel oder in Lebensmitteln verzehren, sollen „vom Acker bis zum Teller“ bzw. „from farm to fork“ reguliert werden.10 Den umfassenden Ansatz des europäischen Lebensmittelrechts belegt bereits die Zielsetzung in Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Danach ist es Ziel der Verordnung, „ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen bei Lebensmitteln“ zu schaffen. Insbesondere soll eine einheitliche wissenschaftliche Basis für das Lebensmittel- und Futtermittelrecht entstehen. Weiter sieht die Verordnung Grundsätze für Lebensmittel und Futtermittel im Allgemeinen und für deren Sicherheit im Besonderen vor, die auf Ebene der Union sowie der einzelnen Mitgliedstaaten gelten sollen. Die Verordnung gilt ausdrücklich „für alle Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen von Lebensmitteln und Futtermitteln“.11 Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und mit ihr das europäische Lebensmittel- und Futtermittelrecht zumindest unmittelbar nicht über die letzte Vertriebsstufe hinaus gelten. Anders ausgedrückt: Was der Verbraucher nach dem Erwerb eines Lebensmittels damit macht, steht außerhalb des Regelungsbereichs der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Das mag selbstverständlich klingen. Bedenkt man aber, dass die meisten lebensmittelbe6
Siehe Verordnung (EG) Nr. 852/2004. Siehe Verordnung (EG) Nr. 1333/2008. 8 Siehe Art. 14 Verordnung (EG) Nr. 178/2002. 9 Näher Dietrich Gorny, Kommentar Basis-Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Grundlagen des europäischen Lebensmittelrechts, 3. Aufl. Hamburg 2010, Rdnr. 19. 10 Siehe Erwägungsgrund 12 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002: „Um Lebensmittelsicherheit gewährleisten zu können, müssen alle Aspekte der Lebensmittelherstellungskette als Kontinuum betrachtet werden, und zwar von – einschließlich – der Primärproduktion und der Futtermittelproduktion bis hin – einschließlich – zum Verkauf bzw. zur Abgabe der Lebensmittel an den Verbraucher, da jedes Glied dieser Kette eine potentielle Auswirkung auf die Lebensmittelsicherheit haben kann. 11 Art. 1 Abs. 3 Satz 1 Verordnung (EG) Nr. 178/2002. 7
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dingten Erkrankungen durch falsche Lagerung oder Zubereitung im Haushalt hervorgerufen werden12, wird die Beschränkung des Lebensmittelrechts auf die Wirtschaftsregulierung bis zur letzten Handelsstufe deutlich. Nach Art. 6 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 werden Entscheidungen zur Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit im einem System der Risikoanalyse getroffen. Bei der Risikoanalyse unterscheidet der europäische Gesetzgeber streng zwischen der Risikobewertung durch unabhängige wissenschaftlich ausgerichtete Behörden und dem auf den Ergebnissen der Risikobewertung aufbauenden Risikomanagement durch die eigentlichen Überwachungsstellen. Diese Aufteilung des Umgangs mit Risiken im Lebensmittel- und Futtermittelsektor setzt sich von dem Zusammenspiel zwischen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)13 und der EU-Kommission fort bis zur letzten Ebene, die in Deutschland föderal gestaltet ist und bei der Lebensmittelüberwachung zwischen Untersuchungsämtern und Überwachungsbehörden unterscheidet.14 Dieselben Grundsätze gelten auch für die Überwachung von Futtermitteln, die jedoch in Deutschland organisatorisch von der Lebensmittelüberwachung getrennt ausgestaltet ist. Ergänzende und teilweise auch umsetzende nationale Vorschriften des Lebensmittel- und Futtermittelrechts finden sich verstreut in zahlreichen Gesetzen und Rechtsverordnungen. Im Mittelpunkt steht dabei in Deutschland das Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuch (LFGB)15. Auch dort fehlen ausdrückliche private Produktbeobachtungspflichten. Der nationale Gesetzgeber hat aber z. B. in § 44 Abs. 4 LFGB strenge Mitteilungspflichten vorgesehen, die insbesondere in Fällen der fehlenden Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit eine Unterrichtung der Überwachungsbehörden durch die Unternehmer vorschreiben und so dazu beitragen, dass gerade bei der Krisenbewältigung ein Kooperationsverhältnis zwischen den betroffenen Unternehmen und den Überwachungsbehörden entsteht.16
III. Grundsatz der Lebensmittelsicherheit Das Herzstück der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ist Art. 14 mit den Grundsätzen der Lebensmittelsicherheit. Nach Art. 14 Abs. 1 dürfen unsichere Lebensmittel nicht 12 Vgl. Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Schutz vor Lebensmittelinfektionen im Privathaushalt, Berlin 2014, S. 1. 13 Vgl. Art. 22 Verordnung (EG) Nr. 178/2002. 14 Siehe Rudolf Streinz, Aufbau und Vollzug der Überwachung (Kontrolle) in den Ländern, in: Streinz (Hrsg.), Lebensmittelrechts-Handbuch, Loseblatt München, Stand: EL 35 März 2014, Kapitel IV. A. 15 Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Juni 2013 (BGBl. I S. 1426), das zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 28. Mai 2014 (BGBl. I S. 698) geändert worden ist. 16 Näher Kurt-Dietrich Rathke in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht Kommentar, Loseblatt München, Stand: 155. EL November 2013, C 102, § 44, Rdnr. 50 ff.
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in den Verkehr gebracht werden. Der deutsche Gesetzgeber, der bekanntlich allein für die Sanktionierung von Verstößen gegen europäische Regelungen zuständig ist, hat vorsätzliche Verstöße gegen das Verbot in Art. 14 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 178/ 2002 unter Strafe gestellt.17 Als nicht sicher gelten nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) und b) Verordnung (EG) Nr. 178/2002 Lebensmittel, die gesundheitsschädlich oder für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sind. Letzteres soll insbesondere kontaminierte und verdorbene Lebensmittel erfassen, deren Verzehr aber noch nicht gesundheitsgefährdend sein muss.18 Bemerkenswert ist, dass die Verbotsvorschrift in Art. 14 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ausdrücklich auf das „Inverkehrbringen“ Bezug nimmt. Nach der Begriffsbestimmung in Art. 3 Nr. 8 der Verordnung handelt es sich dabei – kurz gesagt – um jede Form der Abgabe. Der Verbotsbereich ist also denkbar weit. Der Bezug auf das Inverkehrbringen bedeutet aber auch, dass alles, was nach der letzten Abgabe des Lebensmittels passiert, nicht mehr erfasst ist. Das entspricht der erwähnten Zielsetzung der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, die bis zur letzten Handelsstufe gelten soll. Allerdings ist mit dieser Beschränkung des Anwendungsbereichs nicht gemeint, dass jede gesundheitsgefährdende Veränderung eines Lebensmittels nach seiner letzten Abgabe im Einzelhandel ohne Sanktion bleibt. Nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. a) Verordnung (EG) Nr. 178/2002 wird bei der Frage, ob ein Lebensmittel bei seinem Inverkehrbringen gesundheitsschädlich ist bzw. war, nämlich auch geprüft, welche wahrscheinlichen sofortigen, kurzfristigen oder langfristigen Auswirkungen des Lebensmittels auf die Gesundheit des Verbrauchers zu erwarten sind. Der europäische Gesetzgeber hat diese Prognose sogar noch auf die „nachfolgenden Generationen“ erweitert. Damit verbunden ist also eine Betrachtung des Lebensmittels über das letzte Inverkehrbringen hinaus – und zwar, so sehen es Art. 14 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ausdrücklich vor, unter den „wahrscheinlichen“ und „normalen“ Entwicklungs- sowie Verwendungsbedingungen.19 Der Hersteller eines mit Salmonellen belasteten Hähnchenbrustfilets muss nicht davon ausgehen, dass Verbraucher sein Produkt ohne Erhitzen verzehren, durch das die schädlichen Bakterien zerstört werden. Sein Lebensmittel gilt beim letzten Inverkehrbringen trotz der Salmonellen als sicher. Wenn sich aber bei üblicherweise als Rohware verzehrten Früchten während der normalen Aufbewahrungszeit und unter gewöhnlichen Lagerbedingungen schädliche Bakterien stark vermehren, muss das betroffene Lebensmittel bereits zum Zeitpunkt seines letzten Inverkehrbringens als unsicher gelten.
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Siehe § 58 Abs. 2 Nr. 1 LFGB. Näher Rathke, Lebensmittelrecht Kommentar (Fn. 16), C 101, Art. 14, Rdnr. 55 ff. 19 Vgl. Rathke, Lebensmittelrecht Kommentar (Fn. 16), C 101, Art. 14, Rdnr. 14 u. 47. 18
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Da der Lebensmittelhersteller nach der Regelung in Art. 14 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 bei der Bewertung der Sicherheit seiner Lebensmittel normale Verwendungsbedingungen beachten muss und sie durch Hinweise auf den Produktverpackungen auch selbst beeinflussen kann, ergibt sich aus dem Grundsatz der Lebensmittelsicherheit eine erste indirekte private Produktbeobachtungspflicht. So sind viele Teehersteller dazu übergegangen, Hinweise auf eine ausreichende Erhitzung des Wassers auf ihren Verpackungen vorzusehen, nachdem sie festgestellt hatten, dass Verbraucher häufiger mit nicht kochendem Wasser Tee zubereiten, wodurch unter Umständen schädliche Bakterien im Aufgussgetränk verbleiben können.
IV. Rücknahme und Rückruf unsicherer Lebensmittel Die Bedeutung des Grundsatzes der Lebensmittelsicherheit für Produkte, die von einem Unternehmen bereits in den Verkehr gebracht worden sind, unterstreichen auch die Regelungen in Art. 19 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Rücknahme und zum Rückruf nicht sicherer Lebensmittel.20 Ausgangspunkt ist die gesetzliche Fiktion in Art. 14 Abs. 6 Verordnung (EG) Nr. 178/2002, wonach die fehlende Sicherheit eines einzelnen Lebensmittels grundsätzlich auf die gesamte Herstellungscharge des Lebensmittels durchschlägt. Wurde also, wie in der Praxis häufig, anhand einer Stichprobenanalyse festgestellt, dass die Probe mit einem gesundheitsschädlichen Stoff kontaminiert ist, gilt zunächst die gesamte Herstellungscharge als unsicher. Der Lebensmittelunternehmer hat allerdings die Möglichkeit, die gesetzliche Fiktion durch einen tatsächlichen Gegenbeweis auszuräumen.21 Gelingt der Beweis der ausreichenden Sicherheit der Herstellungscharge hingegen nicht, ordnet Art. 19 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 die Rücknahme aller betroffenen Lebensmittel aus dem Markt an. Wenn Lebensmittel bereits den Verbraucher erreicht haben, und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht entgegensteht22, muss der betroffene Lebensmittelunternehmer einen öffentlichen Rückruf starten. Bei (potentiell) gesundheitsschädlichen Lebensmitteln muss an dem Krisenmanagement gemäß Art. 19 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 auch die zuständige Lebensmittelüberwachungsbehörde durch sofortige entsprechende Information beteiligt werden. In allen anderen Fällen ist die Behörde zumindest nachträglich über die getroffenen Maßnahmen zu unterrichten.
20 Ausführlich Olaf Sosnitza, Rücknahme und Rückruf nach Art. 18, 19 Basisverordnung, ZLR 2009, 299. 21 Vgl. Gorny, Basis-Verordnung (Fn. 9), Rdnr. 307. 22 Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit betonen Sosnitza, Rücknahme und Rückruf (Fn. 20), ZLR 2009, 299, 304 und Markus Grube, Melde- und Mitteilungspflichten der Lebensmittelunternehmen nach Basis-Verordnung und LFGB, ZLR 2012, 446, 452.
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Der Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 belegt indes, dass es sich auch hier nicht um eine unmittelbare private Produktbeobachtungspflicht handelt. Lebensmittelunternehmer müssen die weitere Handhabung und die Auswirkungen des Verzehrs ihrer Produkte nicht aktiv verfolgen. Die Rücknahme- und Mitteilungspflicht in Art. 19 Abs. 1 und 3 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 hängt nämlich lediglich davon ab, dass ein Lebensmittelunternehmer Kenntnis von der Unsicherheit des Lebensmittels oder Anlass zu der Annahme von dessen Unsicherheit hat. Dafür muss es schon nach der sprachlichen Fassung der Regelung tatsächliche Anhaltspunkte geben, also zumindest einen Verdacht.23 Durch die Regelung wird hingegen nicht vorausgesetzt, dass die Unternehmen die Sicherheit ihrer Lebensmittel nach dem Inverkehrbringen im Markt beobachten.
V. Parallelregelungen im Futtermittelrecht Die hier näher beschriebenen Regelungen zur Produktsicherheit sowie zu Rücknahmepflichten hat der europäische Gesetzgeber in den Art. 15 und Art. 20 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 gesondert, inhaltlich aber weitgehend identisch, geregelt. Auch für den Futtermittelunternehmer ergeben sich daraus also allenfalls indirekte private Produktbeobachtungspflichten.
VI. Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln und Futtermitteln Ein tatsächliches Werkzeug zur Beobachtung von Lebensmitteln und Futtermitteln in der gesamten Kette von der Erzeugung der Produkte bis zum Verzehr eines Lebensmittels beim Verbraucher sieht das Lebensmittel- und Futtermittelrecht ausdrücklich vor. Nach der Regelung in Art. 18 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 müssen Lebensmittel- und Futtermittelunternehmer in allen Produktions-, Verarbeitungsund Vertriebsbereichen in der Lage sein, jeweils eine Stufe nach oben und nach unten zurück zu verfolgen. Die Unternehmen müssen also wissen, vom wem sie einen Rohstoff oder ein Erzeugnis erhalten und an wen sie ihr Produkt abgegeben haben.24 Diesen Gedanken hat der Gesetzgeber im Lebensmittelrecht auch kennzeichnungsrechtlich aufgenommen. Nach § 1 Loskennzeichnungsverordnung25 müssen 23 Ähnlich Rathke, Lebensmittelrecht Kommentar (Fn. 16), C 101, Art. 19, Rdnr. 14, Alfred Hagen Meyer, in: Meyer/Streinz (Hrsg.), Kommentar LFGB/Basis-VO/HCVO, 2. Aufl. 2012, Art. 19 Basis-VO, Rdnr. 13 und Gorny, Basis-Verordnung (Fn. 9), Rdnr. 307 f., der aber eine geringere Verdachtsstufe ausreichen lassen will als den „hinreichenden Verdacht“ nach Art. 10 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Rdnr. 308). 24 Vgl. Meyer, Kommentar LFGB/Basis-VO/HCVO (Fn. 23), Art. 18 Basis-VO, Rdnr. 15 f. 25 Los-Kennzeichnungs-Verordnung vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 1022), die zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 25. Juli 2013 (BGBl. I S. 2722) geändert worden ist.
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Lebensmittel in Fertigpackungen, die kein taggenaues Mindesthaltbarkeitsdatum tragen, das eine ausreichende Rückverfolgbarkeit ermöglicht, zwingend eine Losnummer auf der Verpackung vorsehen, die eine Zuordnung zu einer Charge und zu der weiteren Rückverfolgung nach Art. 18 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ermöglicht. Auf diese Weise kann bei einem Krankheitsfall von der Verpackung des im Verdacht stehenden Lebensmittels bis zum ersten Hersteller zurückverfolgt werden, welche Unternehmen in der Kette beteiligt waren. Jedoch dient das hier beschriebene System der Rückverfolgbarkeit, der Name drückt es bereits aus, in erster Linie der rückwärts gerichteten Krisenbekämpfung. Die Dokumentations- und Kennzeichnungspflichten begründen also gerade keine Produktbeobachtungspflicht von Unternehmen über das eigene Inverkehrbringen hinaus, sondern helfen, die Lebensmittelkette sichtbar zu machen und die erforderliche Rücknahme einzuleiten, wenn ein unsicheres Lebensmittel aufgefunden worden ist.
VII. Verantwortlichkeiten in der Lebensmittelund Futtermittelkette Sucht man nach Gründen dafür, dass der Gesetzgeber trotz der relativ modernen Gestaltung keine unmittelbare private Marktbeobachtungspflicht im Lebensmittelund Futtermittelrecht vorgesehen hat, fällt neben dem vergleichsweise geringen Risiko der Produkte auch die im Verhältnis dazu stark ausgeprägte staatliche Überwachung in den Blick. Die Aufteilung privater und staatlicher Verantwortungsbereiche im Lebensmittelund Futtermittelrecht ergibt sich aus Art. 17 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Primär verantwortlich für die Kontrolle der Einhaltung lebensmittelund futtermittelrechtlicher Vorschriften ist der Lebensmittel- bzw. Futtermittelunternehmer. Das ist nach den Begriffsbestimmungen in Art. 3 Nr. 3 und Nr. 6 der Verordnung derjenige, der im Unternehmen für die Kontrolle verantwortlich ist, also in der Regel der Geschäftsführer oder im Fall einer ausdrücklichen Pflichtendelegation der Leiter einer Fachabteilung, z. B. der Qualitätssicherung.26 Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt in diesem Zusammenhang das Prinzip einer gestuften Kettenverantwortung.27 Grundsätzlich ist jeder Lebensmittel- und Futtermittelunternehmer in der gesamten Kette für die Sicherheit und Rechtskonformität des betroffenen Produkts verantwortlich. Behördliche Maßnahmen können sich nach einer Probenahme im Einzelhandel also sowohl gegen den Hersteller des Produkts richten als auch gegen den Einzelhändler. Allerdings hat der EuGH anerkannt, dass es zumindest 26 Meyer, Kommentar LFGB/Basis-VO/HCVO (Fn. 23), Art. 17 Basis-VO, Rdnr. 10 ff.; a.A. zur Delegation Rathke, Lebensmittelrecht Kommentar (Fn. 16), C 101, Art. 3, Rdnr. 19, aber ohne überzeugende Begründung. 27 EuGH, Urteil vom 23. 11. 2006, Rs. C 315/05, ZLR 2007, 75 – „Lidl Italia“; dazu etwa Meyer, Kommentar LFGB/Basis-VO/HCVO (Fn. 23), Art. 17 Basis-VO, Rdnr. 7 f.
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im Sanktionsrecht der Mitgliedstaaten Abstufungen im Verantwortlichkeitsbereich geben kann. Sachgerecht ist also z. B. bei Herstellungs- oder Kennzeichnungsmängeln die Sanktionierung des Herstellers, während bei Lagerfehlern der Einzelhändler mit Sanktionen wie etwa Bußgeldern belegt werden kann. Den Behörden hat der Gesetzgeber in Art. 17 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 178/ 2002 eine sekundäre Überwachungsrolle zugewiesen. Danach kontrolliert die staatliche Lebensmittelüberwachung in erster Linie die Eigenmaßnahmen der Unternehmen. Die konkrete Ausgestaltung der behördlichen Überwachung ist den Mitgliedstaaten überlassen und in Deutschland föderal geprägt. Inhaltliche Vorgaben sind allerdings EU-weit harmonisiert worden, sie ergeben sich aus der Kontroll-Verordnung (EG) Nr. 882/200428. In der Praxis konzentriert sich die kommunale behördliche Lebensmittelüberwachung durch spezialisierte Behörden auf zwei Bereiche: Einerseits werden die Unternehmen von Kontrolleuren besucht, die vor allem die Hygiene der Produktionsbedingungen inspizieren. Zum anderen kontrollieren die Behörden bewusst auch in dem Bereich nach dem Inverkehrbringen der Lebensmittel bzw. Futtermittel durch den Hersteller, z. B. indem im Einzelhandel Proben gezogen und dann in den Untersuchungsämtern analysiert werden.29
VIII. Rolle der staatlichen Überwachung Damit folgt aus der Aufteilung von Verantwortlichkeiten bei der Lebensmittelund Futtermittelkontrolle zwar lediglich eine sekundäre Rolle der behördlichen Überwachung, die aber in Umfang und Reichweite stark ausgeprägt ist und von spezialisierten Behördenmitarbeitern wahrgenommen wird. Eine Nachmarktkontrolle in Form der gezielten Produktbeobachtung findet im Lebensmittel- und Futtermittelrecht demnach, zumindest stichprobenartig, durch staatliche Stellen statt. Man kann in diesem Zusammenhang also durchaus von einer staatlichen Produktbeobachtungspflicht sprechen, die sich aus Art. 17 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und aus der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 ergibt. Das begründet ein kooperatives System zwischen der oben skizzierten indirekten privaten Produktbeobachtungspflicht und der aktiven staatlichen Kontrolle.
28 Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittelund Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz (ABl. L 165, 30. 4. 2004, p. 1), zuletzt geändert durch Verordnung (EU) Nr. 652/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 (ABl. L 189, 27. 6. 2014, p. 1). 29 Vgl. Peter Steinbüchel, Aufbau, Vollzug und Praxis der Lebensmittelüberwachung in: Streinz (Hrsg.), Lebensmittelrechts-Handbuch, Loseblatt München, Stand: EL 35 März 2014, Kapitel IV. C, Rdnr. 116a.
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IX. Produkthaftungsrechtliche Pflichten des Unternehmers Selbstverständlich gelten neben den regulatorischen Vorgaben des Lebensmittelund Futtermittelrechts weiterhin auch die allgemeinen Grundsätze des Produkthaftungsrechts fort. Lebensmittel- und Futtermittelunternehmen haften also zivilrechtlich für die Sicherheit ihrer Produkte.30 In diesem Zusammenhang ist seit langer Zeit anerkannt, dass die Haftung davon abhängt, ob die betroffenen Unternehmen ihre differenzierten Sorgfaltspflichten erfüllt haben. Dazu gehört von jeher auch die Pflicht zur Beobachtung der Produkte im Markt bis hin zur Verwendung durch den Verbraucher.31 Natürlich handelt es sich auch hierbei nur um eine mittelbare Pflicht. Anders als bei regulatorischen Pflichten, die als solche zu erfüllen sind, haften Lebensmittel- und Futtermittelunternehmen zivilrechtlich nur dann aufgrund der Verletzung ihrer Produktbeobachtungspflicht, wenn es wegen eines Produktfehlers zu einem Schaden beim Verbraucher gekommen ist. Zur Haftungsvermeidung beobachten die meisten Unternehmen folglich ihre Produkte sehr intensiv im weiteren Markt, unmittelbar öffentlich-rechtlich dazu verpflichtet sind Lebensmittel- und Futtermittelunternehmen indes nicht.
X. Fazit: Indirekte private Produktbeobachtungspflichten Im Ergebnis bleibt zunächst festzuhalten, dass es mit wenigen Ausnahmen keine unmittelbaren privaten Produktbeobachtungspflichten im Lebensmittel- und Futtermittelrecht gibt. Das ist auf eine weitreichende und aktive staatliche Lebensmittelkontrolle und auf das relativ niedrige Risikoprofil von Lebensmitteln und Futtermitteln im Vergleich zu anderen Erzeugnissen wie Arzneimitteln zurückzuführen. Allerdings ergeben sich indirekte private Produktbeobachtungspflichten aus dem Grundsatz der Lebensmittelsicherheit in Art. 14 Verordnung (EG) Nr. 178/2002, nach dem für die Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit auch die Auswirkungen nach dem Inverkehrbringen des Lebens- bzw. Futtermittels zu beachten ist und aus den allgemeinen Sorgfaltspflichten im Rahmen der weiterhin geltenden Produkthaftung. Zu den Sorgfaltspflichten gehört für Lebensmittel- und Futtermittelunternehmer auch die regelmäßige Produktbeobachtung, um als Verantwortliche rasch und effektiv auf zunächst unerwartete Gefahren des Produkts reagieren zu können.
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Näher Christoph Hammerl, Produkthaftung für Lebensmittel und Bedarfsgegenstände in: Streinz (Hrsg.), Lebensmittelrechts-Handbuch, Loseblatt München, Stand: EL 35 März 2014, Kapitel III. A, Rdnr. 1. 31 Hammerl, Produkthaftung für Lebensmittel (Fn. 30), Rdnr. 17.
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XI. Ausblick: Privatisierung der Lebensmittelund Futtermittelüberwachung Nicht zuletzt aus Kostengründen wird auf europäischer Ebene seit einiger Zeit die Diskussion über eine stärkere Privatisierung der Lebensmittelüberwachung geführt.32 Ein Beispiel dafür ist bereits die Überwachung der Einhaltung von Vorgaben der Öko-Verordnung (EG) Nr. 834/200733 die, zumindest in einigen Mitgliedstaaten und auch in Deutschland, über private Kontrollstellen erfolgt.34 Die behördliche Überwachung spielt hier eine noch weiter nachgelagerte Rolle und ist damit deutlich weniger aktiv als derzeit noch bei den konventionellen Lebensmitteln. Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass es im EU-Öko-Recht stärker ausgeprägte Beobachtungs- und Meldepflichten gibt, als im Bereich der konventionellen Lebensmittel.35 Eine unmittelbare Pflicht zur privaten Produktbeobachtung findet sich jedoch auch in der Öko-Verordnung (EG) Nr. 834/2007 nicht. Dennoch kann man mit guten Gründen fragen, ob eine Privatisierung der Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle nicht deutlich klarer ausgeprägte private Produktbeobachtungspflichten nach sich ziehen müsste. Denn die Balance in dem beschriebenen Kooperationsverhältnis zwischen privater und behördlicher Überwachung würde dadurch verschoben. Die Zunahme der Verantwortung der Unternehmen für die Kontrolle ihrer Produkte könnte es dann erfordern, private Produktbeobachtungspflichten für den Zeitraum nach dem Inverkehrbringen der Erzeugnisse im europäischen Lebensmittel- und Futtermittelrecht auch ausdrücklich und unmittelbar gesetzlich vorzusehen.
32
Siehe etwa Matthias Wiemers, Reform der europäischen „Kontroll-Verordnung“ – von der Steuer zur Gebühr und wieder zurück, ZLR 2013, 525. 33 Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 (ABl. L 189, 20. 7. 2007, p. 1), zuletzt geändert durch Verordnung (EU) Nr. 517/2013 des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. L 158, 10. 6. 2013, p. 1). 34 Geregelt im Gesetz zur Durchführung der Rechtsakte der EU auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus (Öko-Landbaugesetz – ÖLG). Die Grundlage bildet Art. 27 Verordnung (EG) Nr. 834/2007. 35 Ein Beispiel ist die weitgehende Beobachtungs- und Informationspflicht nach Art. 91 der Öko-Durchführungs-Verordnung (EG) Nr. 889/2008.
Privatrechtliche Haftung und öffentlich-rechtliche Produktbeobachtung Von Gerhard Wagner
I. Produktbeobachtung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht 1. Öffentlich-rechtliche Produktverantwortung als Konkretisierung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten Aus der Perspektive des öffentlichen Produktsicherheitsrechts erscheint die Produktbeobachtung durch Private als eine heteronome Aktivität. Indem Privatpersonen öffentlich-rechtlich zur Produktbeobachtung verpflichtet werden, wachsen sie in die Rolle eines Verwaltungshelfers hinein; sie erfüllen Aufgaben, die „an sich“ vom Staat und seiner Verwaltung wahrzunehmen wären. Die Inanspruchnahme der Privaten erfolgt nicht aufgrund der originären Sicherheitsverantwortung des jeweiligen Akteurs, sondern aufgrund einer dieser auferlegten und insofern derivativen, öffentlich-rechtlich gedachten Rechtspflicht. Die Begründung dieser Rechtspflicht unterliegt im Rechtsstaat des Grundgesetzes wie selbstverständlich dem Gesetzesvorbehalt des Art. 20 Abs. 3 GG.1 Daraus scheint zu folgen: Soweit gesetzliche Normen, die ein Privatrechtssubjekt zur Produktbeobachtung verpflichten, nicht existieren, soweit besteht auch keine Produktbeobachtungspflicht. Darüber hinaus müssen Normen, die Produktbeobachtungspflichten auferlegen, den an Grundrechtseingriffe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Als legitimierender Eingriffszweck ist dabei der Schutz grundrechtlich geschützter Belange Dritter – insbesondere der Schutz von Leben, Gesundheit und Eigentum von Produktnutzern und Passanten – ins Visier zu nehmen. Da der Staat nach modernem Verständnis der Art. 1 ff. GG potentiellen Dritten aus verfassungsrechtlichen Gründen Schutz schuldet, kann der Verzicht auf Produktbeobachtungspflichten den Drittdestinatären gegenüber sogar einem Grundrechtsverstoß gleichkom1 Trotz Unterschieden im Einzelnen im Grundsatz übereinstimmend Martin Eifert, Die geteilte Kontrolle – Die Beteiligung Privater an der Rechtsverwirklichung, Die Verwaltung 39 (2006), S. 309 (317); Ivo Appel, Grundrechtliche Fragen privater Produktbeobachtungspflichten in diesem Band S. 46; zur Verlagerung der immissionsschutzrechtlichen Anlagenüberwachung auf externe Sachverständige genauso Udo Di Fabio, Die Verlagerung immissi¨ berwachungsverantwortung auf Private, DB 1996, Beilage 16, S. 8 f. onsschutzrechtlicher U
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men.2 In diesem Sinne ist die Indienstnahme Privater für die Produktbeobachtung eine verfassungsrechtlich gebotene Konkretisierung grundrechtlicher Schutzpflichten. Der Gesetzgeber befindet sich im Bereich der Produktbeobachtung demnach in der für die Schutzpflichtlehre charakteristischen Zange aus Übermaß- und Untermaßverbot.3 In einer solchen polizeystaatlichen Perspektive führt die Frage nach der Haftung für die Verletzung von Produktbeobachtungspflichten direkt zu § 823 Abs. 2 BGB. Diese Vorschrift des privaten Deliktsrechts verpflichtet denjenigen zum Schadensersatz, der gegen eine Rechtsnorm verstößt, die den Schutz eines anderen bezweckt. Der Tatbestand der Schutzgesetzverletzung knüpft an die Verletzung einer Verhaltensnorm an, die nicht deliktsrechtlicher Natur ist, sondern der Rechtsordnung im Übrigen angehört.4 Insbesondere dient § 823 Abs. 2 BGB dazu, Vorschriften des Straf- und des Verwaltungsrechts mit einer zivilrechtlichen Sanktion zu versehen, die auf Ausgleich des durch die Gesetzesverletzung verursachten Schadens gerichtet ist. Die für die Haftung wegen Verletzung von Produktbeobachtungspflichten entscheidende Frage ist im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB folglich dahin zu formulieren, ob es sich bei den Normen des öffentlich-rechtlichen Produktsicherheitsrechts, die Privatrechtssubjekten Beobachtungspflichten auferlegen, um Schutzgesetze handelt. Dies ist der Fall, wenn sie die Rechtsgüter und Interessen Drittbetroffener, insbesondere der Produktnutzer, schützen sollen. Was dies im Einzelnen bedeutet, wird zu untersuchen sein.5 2. Privatrechtliche Produktbeobachtungspflichten als deliktische Sorgfaltspflichten Vor dem Einstieg in die Detailanalyse des § 823 Abs. 2 BGB bedarf es jedoch einer Überprüfung des polizeystaatlichen Ansatzes, der der Dogmatisierung der Produktbeobachtungspflicht als Inanspruchnahme Privater für eine öffentliche Aufgabe zugrunde liegt. Das öffentliche Recht hat die Produktbeobachtungspflichten etwa der Hersteller von Maschinen, Verbraucherprodukten und Arzneimitteln nämlich nicht erfunden, sondern im Grunde lediglich kodifiziert, was zuvor bereits privatrechtlich fest etabliert war. Zwei Entscheidungen des BGH aus dem Jahr 1980, die Schäden von Obstbauern infolge fehlerhafter – weil wirkungsloser – Pflanzenschutzmittel betrafen, haben dafür die Grundlage gelegt.6 Der BGH hat darin ausgesprochen, der Hersteller könne „seine Verkehrssicherungspflichten auch durch unzureichende Be2
Eifert, Die geteilte Kontrolle (Fn. 1), S. 318 f. ¨ bermaß- und UnterKarl-Eberhard Hain, Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen U maßverbot?, DVBl 1993, S. 982. 4 Eingehend Gerhard Wagner, in: Münchner Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 823 Rn. 384. 5 Vgl. unten, IV.2.c), IV.3. 6 BGHZ 80, 186, 188 ff. = NJW 1981, S. 1603 – Derosal; BGHZ 80, 199, 201 = NJW 1981, S. 1606 – Benomyl. 3
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obachtung seines Produkts in der praktischen Verwendung verletzen“.7 Trotz der Bedeutung der Apfelschorf-Entscheidungen für die moderne Entwicklung der privatrechtlichen Produktbeobachtungspflicht betrat der BGH mit den Urteilen kein völliges Neuland. Das Reichsgericht hatte in den 1940er-Jahren bereits genauso entschieden und einen Automobil-Hersteller für verpflichtet gehalten, die bereits im Verkehr befindlichen Produkte auf Sicherheitsmängel hin zu beobachten, um ggf. einschreiten zu können.8 Diese Entscheidung wurde keineswegs als revolutionärer Akt wahrgenommen, sondern als Konkretisierung der allgemeinen deliktischen Sorgfaltspflicht mit Blick auf eine konkrete Fallkonstellation. Darin liegt eine genuine Aufgabe der das Deliktsrecht anwendenden Zivilgerichte.9 3. Das Zusammenwirken von öffentlichem Recht und Privatrecht In der historischen Entwicklung ging die deliktsrechtliche Produktbeobachtungspflicht den spezialgesetzlichen Beobachtungspflichten des Produktsicherheitsrechts somit voraus. Dieser „Vorsprung“ des privaten Haftungsrechts vor dem öffentlichen Sicherheitsrecht ist keine Anomalie, sondern entspricht der Entwicklung moderner Rechtssysteme und der Aufgabenteilung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht. Die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates zugunsten verfassungsrechtlich geschützter Individualrechtsgüter sind auf die Abwehr und Sanktionierung privater Verletzungshandlungen gerichtet. Im vorliegenden Kontext geht es darum, Produktnutzer und Passanten vor Verletzungen der Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Eigentum durch gefährliche Produkte zu schützen. Die Entdeckung dieser Grundrechtsdimension darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass im Bürger-Bürger-Verhältnis unter den beteiligten Privatrechtssubjekten ohnehin Sorgfaltspflichten zum Schutz der Rechtsgüter anderer bestehen. Das deliktsrechtliche Gebot des „neminem laedere“, also das Gebot, andere durch das eigene Verhalten nicht mehr als unvermeidbar zu gefährden, ist uralt und stellt bis heute die Basis eines holistisch betrachteten, d. h. Privatrecht und öffentliches Recht umfassenden „Sicherheitsrechts“ dar. Die Existenz deliktsrechtlicher Sorgfaltspflichten ist in allen Bereichen privaten Handelns anerkannt und wird als solche nirgends infrage gestellt. Die Sorgfaltspflichten von Warenherstellern sind demnach lediglich eine besondere Ausprägung allgemeiner deliktischer Verhaltensanforderungen, die historisch zwar noch recht jung und auf einen modernen Anwendungsbereich bezogen, in ihrer Struktur jedoch allgemein und jedem Rechtssystem geläufig sind.10 7
BGHZ 80, 186, 191; BGHZ 80, 199, 202. RGZ 163, 21, 26 – Bremsen I, allerdings in einem Fall, in dem das Produkt bereits im Zeitpunkt des Inverkehrbringens mit einem Konstruktionsfehler behaftet war, der dem Hersteller möglicherweise nicht bekannt war. 9 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 306. 10 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), Vor § 823 Rn. 2 ff. m.w.Nachw. 8
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4. Überblick über den Gang der Analyse Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, zunächst die Grundlagen der privatrechtlichen Produkthaftung zu erarbeiten (unten II.) und diese sodann in Richtung auf die Verletzungen deliktsrechtlicher Produktbeobachtungspflichten zu konkretisieren (unten III.). Im Anschluss daran werden spezialgesetzliche Produktbeobachtungspflichten am Beispiel der besonders weit entwickelten Pharmakovigilanzpflichten für Arzneimittel gemäß §§ 62 ff. AMG ins Visier genommen und auf ihre haftungsrechtliche Bewehrung hin analysiert (unten IV. 2.). In einem weiteren Schritt wird diese Untersuchung für die allgemeinen produktsicherheitsrechtlichen Beobachtungspflichten nach Maßgabe des ProdSG wiederholt; dabei werden relevante Unterschiede herausgearbeitet (unten IV. 3.). Am Ende kehrt der Beitrag zu der in dieser Einleitung aufgeworfenen Frage nach dem Zusammenspiel von öffentlichem Produktsicherheitsrecht und privatem Produkthaftungsrecht zurück (unten V.).
II. Die Dreispurigkeit der Produkthaftung Die privatrechtliche Produkthaftung umfasst die Regeln über die außerhalb von Kaufverträgen stehende Einstandspflicht des Warenherstellers und anderer Akteure des Produktions- und Distributionsprozesses für Schäden, die Produktnutzern oder Dritten durch fehlerhafte Produkte entstehen. Als Rechtsgebiet ist die Produkthaftung ein Kind der industriellen Revolution; sie reagiert auf die industrielle Massenproduktion von Waren aller Art, die an die Stelle der früher vorherrschenden Subsistenzwirtschaft getreten ist.11 Ihr Anwendungsbereich ist jedoch nicht auf industriell hergestellte Massenprodukte beschränkt, sondern erfasst gleichermaßen auch in Urproduktion oder handwerklich hergestellte Gegenstände, wie etwa die in einem Restaurant zubereitete Mahlzeit.12 Dogmatisch steht die Produkthaftung zwischen sämtlichen haftungsrechtlichen Stühlen.13 Sie weist deutliche Parallelen zum Gewährleistungsrecht des Kaufvertrags auf, insoweit als sie an die fehlerhafte Beschaffenheit von Waren anknüpft, die mittels Kaufverträgen vertrieben werden. Vorschläge der Literatur, die Produkthaftung nach französischem Vorbild primär auf eine vertragsrechtliche Grundlage zu stellen und zu diesem Zweck die Institute des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte, der culpa in contrahendo oder der Vertrauenshaftung zu mobilisieren, haben sich indessen nicht durchgesetzt.14 In der für die Nachkriegszeit grundlegenden Hühnerpest11 Gerhard Wagner, The Development of Product Liability in Germany, in: Simon Whittaker (Hrsg.), The Development of Product Liability, 2010, S. 114 f. 12 BGHZ 116, 104, 113 f. = NJW 1992, S. 1039 (1041 f.) = ZIP 1992, S. 410 m. Anm. Gert Brüggemeier, MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 623. 13 Hein Kötz/Gerhard Wagner, Deliktsrecht, 12. Aufl. 2013, Rn. 605 ff. 14 Dazu Werner Lorenz, Rechtsvergleichendes zur Haftung des Warenherstellers und Lieferanten gegenüber Dritten, in: Paul Mikat u. a. (Hrsg.), FS Nottarp, 1961, S. 59 ff.; Uwe
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Entscheidung hat der BGH die Produkthaftung im Deliktsrecht verankert, und zwar als Haftung für die Verletzung sog. Verkehrspflichten zum Schutz der Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 BGB.15 Der Hersteller hat dafür einzustehen, dass er ein Produkt in den Verkehr gebracht hat, das nicht die Sicherheit bietet, mit dem es ein vernünftiger Hersteller ausgestattet hätte. Die deliktische Produkthaftung ist somit Einstandspflicht für objektiv pflichtwidriges, nämlich gemäß § 276 Abs. 2 BGB fahrlässiges Verhalten im Zeitpunkt des Inverkehrbringens, wie es dem Charakter des § 823 Abs. 2 BGB als Verschuldenshaftung entspricht.16 Im Vergleich zur allgemeinen Deliktshaftung modifiziert ist lediglich die Beweislastverteilung: Während bei § 823 Abs. 1 BGB normalerweise der Geschädigte die Darlegungs- und Beweislast für das pflichtwidrige Verhalten trägt, genügt er bei der Produkthaftung seiner Beweislast bereits dann, wenn er einen Produktfehler darlegen und im Streitfall nachweisen kann; es ist dann Sache des Herstellers, sich durch Nachweis sorgfältigen Verhaltens zu entlasten.17 Dies ist bisher keinem Hersteller geglückt, sodass die Feststellung eines Produktfehlers de facto die Haftung auslöst.18 Neben die Produkthaftung für Verkehrspflichtverletzung gemäß § 823 Abs. 1 BGB tritt die Haftung für die Verletzung von Schutzgesetzen gemäß § 823 Abs. 2 BGB. Die Hauptfunktion des § 823 Abs. 2 BGB, den Schutzbereich der Deliktshaftung über die bereits nach § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgüter hinaus auf reine Vermögensschäden zu erstrecken,19 spielt bei der Produkthaftung keine Rolle, denn fehlerhafte Produkte führen typischerweise zu Rechtsgutsverletzungen und erst in der Folge davon zu finanziellen Verlusten. In Betracht kommt deshalb nur die zweite Funktion des § 823 Abs. 2 BGB, nämlich die Haftung für Rechtsgutsverletzungen vorzuverlegen, indem das rechtsgutsgefährdende und deshalb verbotene Verhalten gesetzlich umschrieben wird.20 Da in diesem Bereich der Rechtsgutsverletzungen die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB allerdings im Hintergrund steht, kommt dieser Funktion keine durchschlagende praktische Bedeutung zu. Wird der Schutzgesetzverstoß ignoriert, lässt sich in aller Regel eine Verkehrspflichtverletzung begründen und die Haftung auf § 823 Abs. 1 BGB stützen. Diederichsen, Die Haftung des Warenherstellers, 1967, S. 351 ff.; Claus-Wilhelm Canaris, Die Produzentenhaftung in dogmatischer und rechtspolitischer Sicht, JZ 1968, S. 494 (501 ff.); Eckart Rehbinder, Fortschritte in der Produktenhaftung, ZHR 129 (1967), S. 171 (180 ff.). 15 BGHZ 51, 91 – Hühnerpest = NJW 1969, S. 269 m. Anm. Uwe Diederichsen = JZ 1969, S. 387 m. Anm. Erwin Deutsch. 16 BGHZ 181, 253 Rn. 27 = NJW 2009, S. 2952 = VersR 2009, S. 1125 – Airbags; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 652. 17 BGHZ 51, 91, 105 – Hühnerpest; genauso BGHZ 80, 186, 196 – Derosal; BGHZ 114, 284, 296 – AIDS; BGH NJW 1973, S. 1602 (1603) – Feuerwerkskörper; VersR 1996, S. 1116 (1117) – Möbellack II; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 686 ff. 18 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 685. 19 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 386. 20 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 385.
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Die dritte Spur der außervertraglichen Produkthaftung – neben den Tatbeständen der Verkehrspflichtverletzung gemäß § 823 Abs. 1 BGB und der Gesetzesverletzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB – ist die harmonisierte Produkthaftung nach dem ProdHaftG, das auf die Richtlinie 85/374/EWG zurückgeht.21 Die europäische Produkthaftung ist von den Verfassern der Richtlinie bewusst und ausdrücklich als verschuldensunabhängige Haftung in Form der Gefährdungshaftung konzipiert worden.22 Gleichwohl bleibt es dabei, dass der Hersteller nicht einfachhin für produktbedingte Schäden einzustehen hat, sondern nur für solche Rechtsgutsverletzungen, die durch ein fehlerhaftes Produkt verursacht worden sind. Ein Produktfehler liegt nach Art. 6 RL 85/374/EG, § 3 ProdHaftG wiederum nur dann vor, wenn das Produkt nicht die Sicherheit bietet, die in dem Zeitpunkt, zu dem es in den Verkehr gebracht wurde, von ihm erwartet werden konnte. Der bloße Umstand, dass nach dem Zeitpunkt des Inverkehrbringens ein verbessertes Produkt auf den Markt gekommen ist, vermag nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 6 Abs. 2 RL 85/374/EG, § 3 Abs. 2 ProdHaftG die Haftung nicht auszulösen. Wie bei § 823 Abs. 1 BGB haftet der Hersteller auch nach der Produkthaftungs-Richtlinie bzw. dem ProdHaftG nur für das Inverkehrbringen fehlerhafter Produkte, und hier wie dort ist der Fehler am Maßstab des Risikowissens und der technologischen Möglichkeiten im Zeitpunkt des Inverkehrbringens festzustellen. Von der in Art. 7 lit. e) RL 85/374/EG eingeräumten Option, die harmonisierte Produkthaftung auf sog. Entwicklungsrisiken zu erstrecken, den Hersteller also auch insoweit zur Haftung heranzuziehen, als das dem Produkt anhaftende Schadensrisiko erst nach dessen Inverkehrbringen erkenn- oder vermeidbar wurde, hat der deutsche Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht (§ 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG). Der Fehlerbegriff des ProdHaftG „verschlüsselt“ somit in weitem Umfang23 lediglich die Sorgfaltspflichten des Herstellers,24 mit der Konsequenz, dass auch die harmonisierte Produkthaftung als Einstandspflicht für objektiv pflichtwidriges Ver21 Richtlinie 85/384/EWG des Rates vom 25. 07. 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. L 209/29. 22 RL 85/374/EWG Erwägungsgrund; Richtlinienvorschlag der EG-Kommission vom 09. 09. 1976, abgedruckt in BT-Drucks. 7/5812, S. 5 f.; Begründung zum ProdHaftG, BTDrucks. 11/2447 S. 8, 11, 13; auf der Qualifikation als Gefährdungshaftung insistiert insbes. Hans Claudius Taschner, Die künftige Produzentenhaftung in Deutschland, NJW 1986, S. 611 f.; ders., in: Hans Claudius Taschner/Edwin Frietsch (Hrsg.), Produkthaftungsgesetz und EG-Produkthaftungsrichtlinie, 2. Aufl. 1990, Art. 1 RL Rn. 1 f.; ders., ZEuP 2012, S. 560. 23 Anders liegt es allenfalls bei Fabrikationsfehlern und im Hinblick auf die Haftung von Importeuren und Händlern nach § 4 ProdHaftG, vgl. MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), Einl. ProdHaftG Rn. 16, 18. 24 Peter Schlechtriem, Dogma und Sachfrage – Überlegungen zum Fehlerbegriff des Produkthaftungsgesetzes, in: Manfred Löwisch (Hrsg.), FS Fritz Rittner, 1991, S. 545 (546); Gert Brüggemeier, Produkthaftung und Produktsicherheit, ZHR 152 (1998), S. 511 (517); Jürgen Oechsler, in: Staudinger, 2014, § 3 Rn. 12; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 3.
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halten zu qualifizieren ist – und nicht als verschuldensunabhängige Haftung für Quellen besonderer Gefahr.25 Diesen Standpunkt teilten auch die Verfasser des ProdHaftG, die den Fehlerbegriff des § 3 ProdHaftG in Übereinstimmung mit den Anforderungen des § 823 Abs. 1 BGB definieren wollten.26 Schließlich führt auch der BGH die harmonisierte parallel zur deliktischen Produkthaftung und bestimmt den Produktfehler gemäß § 3 ProdHaftG in größtmöglicher Übereinstimmung mit den Verkehrspflichten, die dem Warenhersteller im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB obliegen.27
III. Deliktsrechtliche Produktbeobachtungspflichten 1. Beobachtungspflichten Die Sorgfaltspflichten des Warenherstellers lassen sich in verschiedene Sphären aufgliedern, die in der Dogmatik des Produkthaftungsrechts in die Semantik von Fehlerkategorien gefasst werden.28 Ein Konstruktionsfehler liegt vor, wenn der Hersteller bei dem Entwurf des Bauplans für das Produkt sorgfaltswidrig gehandelt hat, sodass die gesamte Produktion oder Serie nicht die gebotene Sicherheit bietet. Der Fabrikationsfehler bezeichnet den Fall, dass im Herstellungsprozess Sorgfaltspflichten verletzt wurden oder die Qualitätskontrolle mangelhaft war, sodass einzelne Stücke der Serie Sicherheitsmängel aufweisen. Unter dem Gesichtspunkt des Instruktionsfehlers ist der Hersteller verpflichtet, den Produktnutzer in den gefahrlosen Gebrauch des Produkts einzuweisen und ihn vor Gefahren bei der Produktnutzung zu warnen. Während die Beweislastverteilung in diesen Fällen variiert, bleiben die Herstellerpflichten stets stichtagsbezogen, d. h. die Pflichtverletzung ist für den Zeitpunkt des Inverkehrbringens des konkreten Produkts festzustellen, also desjenigen Einzelstücks, durch das der Geschädigte verletzt worden ist.29
25
Werner Lorenz, Europäische Rechtsangleichung auf dem Gebiet der Produzentenhaftung: Zur Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Juli 1985, ZHR 151 (1987), S. 1 (13 ff.); Günter Hager, Umwelthaftung und Produkthaftung, JZ 1990, S. 397 (398); Hein Kötz, Ist die Produkthaftung eine vom Verschulden unabha¨ ngige Haftung?, in: Bernhard Pfister (Hrsg.), FS Werner Lorenz, 1991, S. 109 (113 ff.); Christian v. Bar, Neues Haftungsrecht durch Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: Dieter Medicus (Hrsg.), FS Hermann Lange, 1992, S. 373 (389); Schlechtriem, Fehlerbegriff (Fn. 24), S. 547 ff.; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), Einl. ProdHaftG Rn. 15; differenzierend Staudinger-Oechsler (Fn. 24), Einl. ProdHaftG Rn. 42. 26 Begr. RegE, BT-Drucks. 11/2447 S. 17 f. 27 BGHZ 181, 253 Rn. 12 = NJW 2009, S. 2952 = VersR 2009, S. 1125 – Airbags; BGH NJW 2009, S. 1669 Rn. 6 – Kirschtaler; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), Einl. ProdHaftG Rn. 15, § 3 ProdHaftG Rn. 3. 28 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 642. 29 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 686.
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Von den Konstruktions-, Fabrikations- und Instruktionspflichten des Herstellers hebt sich die Produktbeobachtungspflicht ab, weil sie über den Zeitpunkt des Inverkehrbringens hinausreicht. Wie bereits erwähnt, ist der Hersteller nach den grundlegenden Entscheidungen des RG zum Automobilsektor und des BGH in Sachen Apfelschorf gehalten, nach Inverkehrbringen die im Markt befindlichen Produkte zu beobachten.30 Dabei darf sich der Hersteller nicht darauf verlassen, mehr oder weniger zufällig von Gefahren Kenntnis zu erlangen, die mit der Nutzung seiner Erzeugnisse verbunden sind. Vielmehr ist er verpflichtet, diese sowohl auf noch nicht bekannte schädliche Eigenschaften zu beobachten als sich auch über deren sonstige eine Gefahrenlage schaffende Verwendungsfolgen zu informieren.31 Die passive Produktbeobachtungspflicht zielt darauf, Beschwerden von Kunden über Schadensfälle und Sicherheitsdefizite entgegenzunehmen, zu sammeln, systematisch auszuwerten und zu überprüfen.32 Der Hersteller darf indessen nicht darauf warten, dass ihm Informationen über Produktrisiken vor die Füße fallen, sondern er muss das Produkt aktiv beobachten und zudem Informationen über noch nicht erkannte Produktrisiken sammeln. Zu diesem Zweck sind insbesondere die Erfahrungen auszuwerten, die mit Konkurrenzprodukten gleicher Gattung gemacht werden, soweit diese Informationen dem Hersteller zugänglich sind.33 Der BGH hält den Hersteller darüber hinaus auch für verpflichtet, „laufend den Fortgang der Entwicklung von Wissenschaft und Technik auf dem einschlägigen Gebiet zu verfolgen“.34 Zu diesem Zweck müssen Hersteller, die ihre Produkte weltweit vertreiben, einschlägige wissenschaftliche Kongresse besuchen oder sich sonst darüber informieren und das internationale Fachschrifttum auswerten. Die Intensität der Verpflichtung zur Beobachtung des Marktes und der Wissenschaft hängt – wie stets bei deliktischen Sorgfaltspflichten – von der Größe des zu vermeidenden Schadens ab. Der Umfang des zu vermeidenden Schadens ist abzuschätzen, indem das Produkt aus der Schadenshöhe und der Eintrittswahrscheinlichkeit gebildet wird, wobei die Schadenshöhe wiederum vom Rang des betroffenen Rechtsguts und der Intensität seiner Verletzung bestimmt wird.35 Folgerichtig sind besonders intensive Anstrengungen geboten, wenn es um die Abwendung von schweren Schäden an der menschlichen Gesundheit geht, während zur Abwendung von Sachschäden ein Weniger an Sorgfaltsaufwand hinreicht.36
30
Vgl. oben, Fn. 6. BGHZ 80, 199, 202. 32 BGH NJW-RR 1995, S. 342 (343) – Gewindeschneidemittel II; MünchKommBGBWagner (Fn. 4), § 823 Rn. 673. 33 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 674. 34 BGHZ 80, 199, 203. 35 BGHZ 80, 186, 191 f.; vgl. allgemein MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 338 f. m. w. Nachw. 36 BGHZ 80, 186, 192 unter Hinweis auf LG Aachen JZ 1971, S. 507 (516) – Contergan. 31
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Die Obergerichte hatten bisher keine Gelegenheit, die Reichweite der Pflicht zur aktiven Produktbeobachtung in Zeiten des Internets abzustecken. Sicher dürfte indessen sein, dass neben dem deutschen Schrifttum die führenden Fachjournale, die zumeist in englischer Sprache abgefasst sind, zur Kenntnis genommen werden müssen. Ob darüber hinaus Fachpublikationen in anderen Sprachen gesammelt und ausgewertet werden müssen, erscheint zweifelhaft. Dagegen spricht, dass sich Informationen von einigem Gewicht normalerweise binnen kurzer Zeit auch in den führenden englischsprachigen Fachjournalen niederschlagen. Eine Haftung für die Verletzung der Produktbeobachtungspflicht kommt in Betracht, wenn ein vernünftiger Hersteller in der Lage des Beklagten die mit dem Produktgebrauch verbundenen Gefahren für die Rechtsgüter anderer erkannt hätte.37 Insoweit trägt der Geschädigte die Beweislast für die Erkennbarkeit der mit dem Produkt verbundenen Sicherheitsrisiken.38 Wie Art. 6 Abs. 1 lit. c), Abs. 2 RL 85/374/EWG, § 3 Abs. 1 lit. c), Abs. 2 ProdHaftG ausdrücklich klarstellen, ist der Produktfehler im Rahmen der europäischen Produkthaftung mit Blick auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens festzustellen.39 Gefahren, die zu diesem Zeitpunkt nicht vermeidbar waren, lösen von vornherein keine Haftung aus.40 Für Risiken, die im Zeitpunkt des Inverkehrbringens zwar vermeidbar waren, jedoch bei Aufbietung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nicht erkannt werden konnten, greift der Entlastungstatbestand des Art. 7 lit. e) RL 85/ 374/EWG, § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG.41 Insgesamt besteht also keine Einstandspflicht für Produktrisiken, die im Zeitpunkt des Inverkehrbringens entweder nicht vermeidbar oder zwar vermeidbar, aber nicht erkennbar waren. Wegen dieses streng zeitpunktbezogenen Haftungstatbestands der harmonisierten Produkthaftung wird allgemein gefolgert, dass das ProdHaftG keine über den Zeitpunkt des Inverkehrbringens hinausreichenden Produktbeobachtungspflichten kennt.42 Aus diesem Grund scheidet das ProdHaftG als Instrument zur haftungsrechtlichen Bewehrung von Produktbeobachtungspflichten aus.
37
BGHZ 80, 186, 191, 193; BGHZ 80, 199, 204. BGHZ 80, 186, 198; BGHZ 80, 199, 204 f. 39 Vgl. oben, II. 40 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 3 ProdHaftG Rn. 25 f. 41 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 50. 42 Gert Brüggemeier/Norbert Reich, Die EG-Produkthaftungsrichtlinie 1985 und ihr Verhältnis zur Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB, WM 1986, S. 149 (155); Taschner, in: Taschner/Frietsch (Fn. 22), Art. 1 Rn. 8; Friedrich Graf v. Westphalen, in: Ulrich Foerste/ Friedrich Graf v. Westphalen (Hrsg.), Produkthaftungshandbuch, 3. Aufl. 2012, § 46 Rn. 77, § 48 Rn. 8; Lorenz, Europäische Rechtsangleichung (Fn. 25), S. 15; Harald Koch, Internationale Produkthaftung und Grenzen der Rechtsangleichung durch die EG-Richtlinie, ZHR 152 (1988), S. 537 (552); Staudinger-Oechsler (Fn. 24), § 3 ProdHaftG Rn. 112 ff.; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 1 ProdHaftG Rn. 57, § 3 ProdHaftG Rn. 38; kritisch Kötz, Produkthaftung (Fn. 25), S. 111. 38
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2. Reaktionspflichten Für das Verständnis der haftungsrechtlichen Bedeutung der deliktischen Produktbeobachtungspflicht ist es essentiell, ihre Funktion in Erinnerung zu behalten. Diese besteht wie gesehen darin, die Verantwortung des Herstellers für „sein“ Produkt über den Zeitpunkt des Inverkehrbringens hinaus zu erstrecken.43 Diese Verantwortung kann indessen nicht allein darin bestehen, das Produkt im Markt zu beobachten, Beschwerden zu sammeln und die einschlägige Fachpresse zu verfolgen. Selbst wenn der Hersteller diesen Pflichten in vollem Umfang nachkommt, wird dadurch kein einziger Schadensfall vermieden. Bloßes Beobachten, gleich ob passiv oder aktiv, verhindert keine Rechtsgutsverletzungen. Dazu bedarf es vielmehr einer Reaktion des Herstellers. Im Hinblick auf die fehlende Eignung bloßer Produktbeobachtung zur Verhinderung von Rechtsgutsverletzungen ist es streng genommen irreführend, von der Haftung für die Verletzung von Produktbeobachtungspflichten zu sprechen. Haftungsbegründend ist niemals die Verletzung der Beobachtungspflicht, sondern die Verletzung der Verpflichtung zur Reaktion auf die durch Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse.44 Der Hersteller hat dann für Schäden aufzukommen, wenn er auf die nach Inverkehrbringen des Produkts gesammelten Informationen nicht angemessen reagiert oder aber wenn er es versäumt, in dem gebotenen Umfang Informationen zu sammeln und deshalb außerstande ist, angemessen zu reagieren. Verletzt der Hersteller die Produktbeobachtungspflicht, gelingt ihm aber dennoch eine angemessene Reaktion, etwa weil er auf eine Meldung im Internet, die er zufällig zur Kenntnis nimmt, intuitiv richtig reagiert, kommt eine Haftung nicht in Betracht. Auf die richtige Reaktion kommt es also an, wobei als Basis für die Bemessung der Reaktion diejenigen Informationen zugrunde zu legen sind, die ein Hersteller gehabt hätte, der den ihm obliegenden Produktbeobachtungspflichten nachgekommen ist. Art und Umfang der Reaktionspflichten des Herstellers markieren einen besonders umstrittenen Bereich des Produkthaftungsrechts.45 Als gesichert kann immerhin gelten, dass der Hersteller gehalten ist, die Produktion für die Zukunft umzustellen.46 Diese Rechtsfolge ergibt sich einfach daraus, dass das Produkt nunmehr als unsicher erkannt ist, sodass die danach in den Verkehr gebrachten Einzelstücke der Serie ohne weiteres als fehlerhaft gelten müssen. Eine Befugnis, die bereits produzierten und sich ggf. schon im Vertriebswege befindenden, nunmehr als fehlerhaft erkannten Produkte „aufzubrauchen“, besteht nicht. Drohen schwerwiegende Schäden, etwa Gesundheitsverletzungen oder Vermögensschäden erheblichen Ausmaßes, ist der 43
MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 671. MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 675. 45 Eingehend Theo Bodewig, Der Rückruf fehlerhafter Produkte, 1999, S. 163 ff. 46 BGH NJW 1990, S. 906 (907 f.) – Pferdeboxen; NJW 1994, S. 517 (519 f.) – Gewindeschneidemittel I; Bodewig (Fn. 45), S. 195 f.; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 676. 44
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Vertrieb sofort einzustellen.47 Allerdings ist dem Hersteller eine Frist für die Umstellung der Produktion einzuräumen, wenn das Sicherheitsdefizit nicht von heute auf morgen behoben werden kann und keine sichereren Substitutionsprodukte zur Verfügung stehen.48 Während die zukunftsbezogenen Sorgfaltspflichten des Herstellers außer Streit stehen, sind die Reaktionspflichten in Bezug auf diejenigen Produkte, die sich bereits bzw. noch im Markt, bei den Nutzern befinden, hoch problematisch. Ein streng auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens bezogenes Deliktsrecht müsste im Grunde Reaktionspflichten jeder Art ablehnen, womit allerdings auch die Produktbeobachtungspflicht ihre haftungsrechtliche Funktion einbüßen würde. Der BGH hat den Hersteller in den Apfelschorf-Fällen für verpflichtet gehalten, die Produktnutzer vor den mit dem Gebrauch der Erzeugnisse verbundenen Gefahren – in casu ging es um die Wirkungslosigkeit eines Pflanzenschutzmittels – zu warnen.49 An der Warnpflicht hat der VI. Zivilsenat in ständiger Rechtsprechung festgehalten.50 Da eine Warnung nur geringe Kosten verursacht, u. U. aber dazu beitragen kann, Schäden erheblichen Umfangs zu vermeiden, erscheint die Verpflichtung hierzu einen wohl allgemein konsentierten Minimalstandard zu markieren. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Hersteller schon bei leisesten Verdachtsmomenten mit einer Warnung reagieren müsste. Bloß abstrakte Schadensrisiken, für die es noch keine konkreten Anhaltspunkte gibt, verpflichten den Hersteller noch nicht zur Reaktion.51 Die Art und Weise der Warnung ist an den Erfordernissen effektiver Gefahrenabwehr zu orientieren. Im Normalfall reicht es aus, dass der Hersteller die betroffenen Abnehmer über das Sicherheitsdefizit und die Notwendigkeit einer Nachrüstung oder Reparatur informiert. Bei schwerwiegenden Gefahren kann auch eine Aufforderung zur Nichtbenutzung oder Stilllegung der gefährlichen Produkte geboten sein.52 Ganz anders liegt es mit Blick auf die Verpflichtungen des Herstellers zum Rückruf bereits im Markt befindlicher Produkte, um diese zu reparieren oder gegen sicherere Ersatzprodukte auszutauschen. Dem in der Instanzrechtsprechung und der Literatur über Jahre schwelenden Streit darüber, ob und unter welchen Umständen § 823 Abs. 1 BGB derartige Reaktionspflichten zu begründen vermag, hat der BGH im Jahr 2008 mit der Pflegebetten-Entscheidung ein vorläufiges Ende gesetzt.53 Darin 47
BGH NJW 1994, S. 517 (519 f.) – Gewindeschneidemittel I; BGH NJW-RR 1995, S. 342 (343) – Gewindeschneidemittel II. 48 BGH NJW 1994, S. 3349 (3350 f.) – Atemüberwachungsgerät; MünchKommBGBWagner (Fn. 4), § 823 Rn. 676. 49 BGHZ 80, 186, 191; 80, 199, 202 f. 50 BGH NJW 1994, S. 517 (519) – Gewindeschneidemittel I; BGH NJW-RR 1995, S. 342 (343) – Gewindeschneidemittel II; BGHZ 179, 157 Rn. 10 = NJW 2009, S. 1080 = JZ 2009, S. 905 mit Anm. Gerhard Wagner; vgl. auch Bodewig (Fn. 45), S. 201 f. 51 BGHZ 80, 186, 192. 52 BGHZ 179, 157 Rn. 13. 53 BGHZ 179, 157 Rn. 19 = NJW 2009, S. 1080 = JZ 2009, S. 905 mit Anm. Gerhard Wagner.
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hat der VI. Zivilsenat die Verpflichtung des Herstellers zur Warnung vor ex post erkennbaren Produktgefahren betont, weitergehende Rückrufpflichten jedoch grundsätzlich verneint. Die Frage, inwieweit der Erwerber eines gefährlichen und deshalb fehlerhaften Produkts dessen Reparatur oder Ersatzlieferung eines fehlerfreien Produkts verlangen könne, sei im Gewährleistungsrecht abschließend geregelt. Das Deliktsrecht schütze nicht das Nutzungs- und Äquivalenzinteresse des Erwerbers, sondern lediglich seine Integritätsinteressen. Zum wirksamen Schutz von Integritätsinteressen genüge jedoch regelmäßig bereits eine Warnung der Produktnutzer vor der Fortsetzung des Gebrauchs.54 Nur dann, wenn davon auszugehen sei, dass die Warnung nicht ausreiche, um den Produktnutzern die Gefahrsteuerung zu ermöglichen, oder dass die Produktnutzer sich bewusst über die Warnung hinwegsetzen und dadurch Dritte gefährden würden, könne der Hersteller dazu verpflichtet sein, seine Produkte effektiv aus dem Verkehr zu ziehen.55 Weitreichende Maßnahmen wie ein Produktrückruf zum Zwecke der Reparatur oder Nachrüstung auf Kosten des Herstellers seien nur geboten, soweit diese im konkreten Fall erforderlich seien, um Gefahren von den nach § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgütern der Produktnutzer oder Dritter abzuwenden.56 Diese Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung unterschiedslos für Fälle, in denen die Produkte von Anfang an fehlerhaft waren, sodass der Hersteller sie also niemals in den Verkehr hätte bringen dürfen, und für die Realisierung von Entwicklungsrisiken, also Fälle, in denen dem Hersteller bezogen auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens keine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist. Ein Vorschlag der Literatur, in entsprechender Weise zu differenzieren und im ersten Fall Rückrufpflichten anzunehmen, bei Entwicklungsrisiken hingegen abzulehnen,57 hat den BGH nicht überzeugt.58 Dass auf diese Weise dem pflichtvergessenen Hersteller die Möglichkeit eingeräumt wird, sich durch einfache Warnung seiner Haftung zu entledigen, wird in Kauf genommen.59 Nach der Rechtsprechung kommt es vielmehr ausschließlich darauf an, ob die Warnung voraussichtlich befolgt werden wird oder nicht. Wie zu entscheiden ist, wenn ein Teil der Produktnutzer der Warnung wahrscheinlich Folge leisten wird, ein anderer Teil hingegen nicht, ist derzeit offen.60
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BGHZ 179, 157 Rn. 10. BGHZ 179, 157 Rn. 11. 56 BGHZ 179, 157 Rn. 12. 57 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 679; anders etwa Bodewig (Fn. 45), S. 183. 58 BGHZ 179, 157 Rn. 19. 59 Vgl. dazu die Kritik bei Gerhard Wagner, Zur Gefahrabwendungspflicht des Herstellers von Produkten mit Sicherheitsma¨ ngeln, JZ 2009, S. 908 (910 f.). 60 Wagner, Gefahrabwendungspflicht (Fn. 59), S. 910. 55
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3. Zwischenergebnis Die deliktsrechtlichen Sorgfaltspflichten des Herstellers hören mit dem Inverkehrbringen nicht auf, sondern setzen sich in Gestalt einer Produktbeobachtungspflicht über diesen Zeitpunkt hinaus fort. Die Verletzung der Verpflichtung zur Produktbeobachtung ist jedoch als solche nicht durch Haftung sanktioniert, sondern diese wird erst durch die unterbliebene oder mangelhafte Reaktion des Herstellers auf das neue Risikowissen ausgelöst. Insofern kann sich der Hersteller nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH indessen regelmäßig auf eine bloße Warnung der Produktnutzer beschränken und ist nicht dazu verpflichtet, das nunmehr als gefährlich erkannte Produkt im Wege des Rückrufs „aus dem Verkehr zu ziehen“.
IV. Öffentlich-rechtliche Produktbeobachtungspflichten und ihre haftungsrechtliche Bewehrung 1. Überblick über das Produktsicherheitsrecht Das öffentliche Recht der Produktsicherheit verteilt sich auf mehrere Gesetze, die jeweils auf breit definierte Produktgattungen bezogen sind. Diese Gliederung beruht zu einem guten Teil auf Gesetzgebungstraditionen und historisch gewachsener Verwaltungsstruktur, aber auch auf Sachgründen, nämlich auf den unterschiedlichen Gefährdungspotentialen der verschiedenen Produktgattungen sowie auf unterschiedlichen Risikoquellen. Ein Arzneimittel ist potentiell gefährlicher als ein Lebensmittel, und bei der Lebensmittelsicherheit ist auf andere Risikoursachen Bedacht zu nehmen als bei technischen Erzeugnissen. Für die Zwecke dieser Untersuchung ist es nicht erforderlich, das gesamte öffentliche Produktsicherheitsrecht auf Beobachtungspflichten hin durchzumustern. Vielmehr soll sich die Analyse auf zwei exemplarische Rechtsakte beschränken, nämlich das Arzneimittelrecht, als Modell eines Regimes für hoch riskante Produkte, und das Produktsicherheitsgesetz, das sich einerseits als „Allgemeiner Teil“ des Produktsicherheitsrechts versteht und andererseits die maßgeblichen Sicherheitsanforderungen für technische Erzeugnisse enthält. 2. Haftung für die Verletzung spezialgesetzlicher Produktbeobachtungspflichten am Beispiel der Pharmakovigilanzpflichten des AMG a) Dreispurigkeit der Arzneimittelregulierung Das deutsche Arzneimittelrecht verfolgt bei der Kontrolle von Gesundheitsrisiken bereits seit der Reform 1976,61 mit der der Gesetzgeber auf die massiven durch Thalidomid (Contergan) verursachten Gesundheitsschäden reagierte, einen dreispurigen 61
Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. 08. 1976, BGBl. I S. 2445.
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Ansatz: Auf der ersten Stufe werden Arzneimittel einem strikten Zulassungsverfahren unterworfen, kombiniert mit dem Verbot, nicht zugelassene Arzneimittel in den Verkehr zu bringen. Die öffentlich-rechtliche Kontrolle des Arzneimittelmarktes endet jedoch nicht mit der Zulassung eines Arzneimittels, sondern reicht über diese hinaus. Gemäß § 62 AMG 1976 hatte die zuständige Bundesoberbehörde zur Verhütung einer unmittelbaren oder mittelbaren Gefährdung der Gesundheit von Mensch oder Tier die bei der Anwendung von Arzneimitteln auftretenden Risiken zu erfassen und auszuwerten, um sodann die zu ergreifenden Maßnahmen zu koordinieren. Die Zusammenarbeit der zuständigen Behörden untereinander sowie die Einbindung der pharmazeutischen Unternehmer war gemäß § 63 AMG 1976 von dem zuständigen Bundesminister in einem „Stufenplan“ zu regeln.62 Dieses zweispurige öffentlich-rechtliche System aus Eröffnungskontrolle (Zulassung) und Marktkontrolle nach Zulassung (Stufenplan) wurde ergänzt durch ein drittes Element, nämlich das zivilrechtliche Haftungsregime der §§ 84 ff. AMG. Damit wurden Arzneimittel nahezu 10 Jahre vor Inkrafttreten der Produkthaftungs-Richtlinie 85/374/ EWG einem produkthaftungsrechtlichen Sonderregime unterworfen. Obwohl seit 1976 nicht weniger als 18 Novellen über das Arzneimittelgesetz hinweg gegangen sind, ist die Grundkonzeption mit dem Dreiklang aus Zulassung, Nachzulassungskontrolle und Haftung beibehalten worden. Speziell im Bereich der Marktkontrolle nach Zulassung eines Arzneimittels hat eine ständige Ausweitung der später sog. Vigilanzpflichten stattgefunden.63 Wesentliche Impulse in diese Richtung kamen von europäischer Ebene; zu nennen ist hier insbesondere die Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel.64 b) Öffentlich-rechtliche Pharmakovigilanzpflichten Die Verpflichtung der zuständigen Behörde zu Organisation und Betrieb eines Systems der Pharmakovigilanz findet sich heute im Kern unverändert in § 62 AMG. Die Regelung des § 63 AMG über den von der Bundesregierung aufzustellenden Stufenplan zur Pharmakovigilanz wurde ergänzt um den sog. Stufenplanbeauftragten des § 63a AMG, der innerhalb des pharmazeutischen Unternehmers als Schnittstelle zu den Arzneimittelbehörden fungiert und darüber hinaus für Aufbau und Betrieb eines Pharmakovigilanzsystems auf Unternehmensebene zu sorgen hat.65 Der im Jahre 2012 geschaffene § 63b Abs. 1 AMG schließlich verpflichtet den pharmazeutischen Unternehmer unmittelbar, ein System der Pharmakovigilanz 62 Stefan Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 154 ff.; Stephanie Fries, Die arzneimittelrechtliche Nutzen/Risiko-Abwägung und Pharmakovigilanz, 2009, S. 105 ff. 63 Vgl. Birgit Schmidt am Busch, Die Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, 2007, S. 298. 64 Richtlinie 2001/83/EG vom 06. 11. 2001, ABl. L 311, 67 ff., dort insbesondere Art. 22a – Art. 23. 65 Eingehend Fries, Nutzen/Risiko-Abwägung (Fn. 62), S. 122 ff.
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i.S.d. § 4 Abs. 38 AMG einzurichten und zu betreiben.66 In diesem Rahmen ist der Inhaber der Zulassung insbesondere dazu verpflichtet, sämtliche Informationen wissenschaftlich auszuwerten, Möglichkeiten der Risikominimierung und -vermeidung zu prüfen und erforderlichenfalls unverzüglich Maßnahmen zur Risikominimierung und -vermeidung zu ergreifen (§ 63b Abs. 2 Nr. 1 AMG). Darüber hinaus muss ein Risikomanagement-System i.S.d. § 4 Abs. 36 AMG errichtet, betrieben und ständig fortentwickelt werden. Nach § 63c AMG ist der Inhaber der Zulassung überdies dazu verpflichtet, sämtliche Verdachtsfälle von Nebenwirkungen zu erfassen und zu dokumentieren sowie die zuständigen Behörden in Kenntnis zu setzen. Schließlich hat er gemäß § 63d AMG in regelmäßigen Abständen aktualisierte Unbedenklichkeitsberichte zu verfassen und an die zuständige Behörde zu übermitteln, die u. a. die für die Beurteilung der Unbedenklichkeit eines Arzneimittels relevanten Informationen sowie eine auf dieser Grundlage angefertigte wissenschaftliche Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses des Arzneimittels enthalten müssen. § 63b AMG errichtet ein imposantes Gebäude von Pharmakovigilanzpflichten, die in diesem Detailreichtum in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung zur Produktbeobachtungspflicht kein Pendant haben. Das heißt allerdings nicht, dass sie inhaltlich über das deliktsrechtliche Pflichtenprogramm hinausgehen. Wie ausgeführt, ist für die Intensität deliktsrechtlicher Sorgfaltspflichten die Größe des abzuwendenden Schadens im Sinne des Produkts aus Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit maßgeblich.67 Da Humanarzneimittel schwerste Gesundheitsschäden verursachen können, deren Eintritt sich im Rahmen des Zulassungsverfahrens nicht völlig ausschließen lässt, ist eine intensive Produktbeobachtung nach Inverkehrbringen auch deliktsrechtlich geboten.68 c) Gesetzliche Pharmakovigilanzpflichten als Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB? Das Erfordernis eines Schutzgesetzes wird im privaten Deliktsrecht ähnlich interpretiert wie die Haftungsvoraussetzung einer drittgerichteten Amtspflicht im Staatshaftungsrecht nach § 839 BGB und wie im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Schutznormtheorie.69 Maßgebend ist, dass die verletzte Einzelnorm – nicht das Gesetzeswerk, dessen Teil sie ist, im Ganzen – nicht nur öffentlichen Interessen zu dienen bestimmt ist, sondern auch den Schutz privater Rechtsgüter und Interessen im Auge hat.70 Damit verweist § 823 Abs. 2 BGB auf den Willen des Gesetzgebers, 66 Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19. 10. 2012, BGBl. I S. 2192; dazu BT-DruckS. 17/9341. 67 Vgl. oben, Fn. 35. 68 Vgl. allgemein MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 338. 69 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 408. 70 BGHZ 12, 146, 148 = NJW 1954, S. 675; BGHZ 29, 344, 350 f. = NJW 1959, S. 880 (881 f.); BGHZ 40, 306 = NJW 1964, S. 396; BGHZ 84, 312, 314 = NJW 1982, S. 2780; BGHZ 100, 13, 15 = NJW 1987, S. 1818 f.; BGHZ 106, 204, 206 = NJW 1989, S. 974;
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also die Intentionen der Urheber der vermeintlichen Schutznorm, die jedoch nur in seltensten Fällen empirisch nachweisbar sind.71 Normalerweise bleibt den Gerichten nichts anderes übrig, als den Schutzzweck einer Norm durch Interpretation zu erschließen, insbesondere durch Herausarbeitung des Zwecks des Gesetzes, dessen Teil die verletzte Norm ist.72 Ist der Individualschutzzweck auf diese Weise festgestellt, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Anfügung einer schadensersatzrechtlichen Sanktion „im Lichte des haftpflichtrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheint“.73 Dieser im Text des § 823 Abs. 2 BGB nicht dingfest zu machenden Voraussetzung kommt vor allem bei reinen Vermögensschäden eine große Bedeutung zu,74 sie ist aber auch bei der gesetzlichen Konkretisierung des Schutzes der in § 823 Abs. 1 BGB enummerierten Rechtsgüter zu beachten. Die Klassifikation der Pharmakovigilanzpflichten bzw. der ihnen zugrunde liegenden Normen als Schutzgesetze hat, soweit ersichtlich, die Gerichte bisher noch nicht beschäftigt. Im Lichte der Regelungszwecke des AMG im Allgemeinen und des § 63b AMG im Besonderen ist an der Schutzgesetzqualität der Vigilanzpflichten nicht zu zweifeln. § 1 AMG bestimmt den Zweck des Gesetzes dahin, für eine ordnungsgemäße Versorgung des Menschen mit Arzneimitteln und die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln zu sorgen. Dementsprechend sind in der gerichtlichen Praxis bereits mehrere Bestimmungen des AMG als Schutzgesetze anerkannt worden, so etwa § 5 AMG75 und § 6a AMG.76 Vor der Reform der §§ 62 ff. AMG sind die Pflichten des pharmazeutischen Unternehmers zur Produktbeobachtung und zum Risikomanagement von Seiten der Literatur insoweit als Schutzgesetze anerkannt worden, als sie von der zuständigen Behörde durch Verwaltungsakt nach § 28 Abs. 3a AMG konkretisiert wurden.77 Gleiches gilt für die ipso iure geltende Verpflichtung zur Meldung von Verdachtsfällen gemäß § 29 AMG.78
BGHZ 176, 281 Rn. 51 = ZIP 2008, S. 1222; BGHZ 192, 90 Rn. 21 = ZIP 2012, S. 318; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 405. 71 Vgl. MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 406, mit Hinweis auf das Beispiel § 15 Abs. 6 WpHG. 72 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 407. 73 BGHZ 66, 388, 390 = NJW 1976, S. 1740; BGHZ 66, 388, 390 = NJW 1976, S. 1740; BGHZ 100, 13, 18 f. = NJW 1987, S. 1818; BGHZ 106, 204, 207 = NJW 1989, S. 974; BGHZ 125, 366, 374 = NJW 1995, S. 1801 (1803); BGHZ 175, 276 Rn. 18 = NJW 2008, S. 1734; BGHZ 176, 281 Rn. 51 = ZIP 2008, S. 1222; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 409. 74 Vgl. dazu und zur Rechtsprechung des XI. Zivilsenats des BGH, der den öffentlichrechtlichen Normen zur Kapitalanlageberatung der §§ 31 ff. WpHG den Status als Schutzgesetz vorenthält, MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 412 ff. 75 BGH NJW 1991, S. 2351; OLG Hamm NJW-RR 2003, S. 1382. 76 Erwin Deutsch, Doping als pharmarechtliches und zivilrechtliches Problem, VersR 2008, S. 145 (150); MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 136. 77 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 673, 701. 78 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 673, 701.
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Der mit der Arzneimittelrechtsreform 2012 in Kraft getretene § 63b AMG79 gestaltet die öffentlich-rechtlichen Produktbeobachtungspflichten des pharmazeutischen Unternehmers bzw. des Inhabers der Zulassung nunmehr ebenfalls als ipso iure geltende Rechtspflichten aus. Seither ist kein Zweifel mehr daran möglich, dass der Inhaber der Zulassung von Arzneimitteln auch kraft öffentlichen Rechts unmittelbar gesetzlich verpflichtet ist, „ein Pharmakovigilanz-System einzurichten und zu betreiben“ (§ 63b Abs. 1 AMG) und in diesem Rahmen „sämtliche Informationen wissenschaftlich auszuwerten, Möglichkeiten der Risikominimierung und -vermeidung zu prüfen und erforderlichenfalls unverzüglich Maßnahmen zur Risikominimierung und -vermeidung zu ergreifen“ (§ 63b Abs. 2 Nr. 1 AMG).80 Was dies im Einzelnen bedeutet, wird in § 63b Abs. 2 Nr. 2 – 6 AMG in Anlehnung an die EURichtline 2010/84/EU81 – konkretisiert. Der Umstand, dass in den Erwägungsgründen der Richtlinie wiederholt davon die Rede ist, sie solle dem „Schutz der öffentlichen Gesundheit“ dienen, ist nicht als Votum gegen den Individualschutzzweck der Richtlinie und der auf ihr beruhenden nationalen Transformationsnormen zu verstehen,82 sondern als Kurzformel für einen sämtliche Individuen umfassenden persönlichen Schutzbereich der Richtlinie. Dementsprechend bekräftigt die Beschränkung des Pflichtenkatalogs des § 63b Abs. 2 AMG auf Arzneimittel, „die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind“, das Schutzobjekt der Pharmakovigilanzpflichten: Es geht bei § 63b AMG um den Schutz der menschlichen Gesundheit, einschließlich des Lebensschutzes. Die nach § 63b AMG gebotenen Maßnahmen sind gesetzliche Spiegelbilder konkretisierter deliktsrechtlicher Sorgfaltspflichten zum Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit und fügen sich als solche friktionslos in das zivilrechtliche Haftungssystem ein. An dem Schutzgesetzcharakter des § 63b AMG ließe sich gleichwohl zweifeln, weil die Verletzung der Pharmakovigilanzpflichten keinerlei Rechtsgüter verletzt; die Gesundheit derjenigen Patienten, die das jeweilige Arzneimittel anwenden, bleibt zunächst unversehrt. Die Pharmakovigilanzpflichten zielen auf einen Vorfeldschutz ab, der die menschliche Gesundheit bereits vor Gefährdungen schützen soll, und zwar vor solchen, die durch die mangelnde Beobachtung des Arzneimittels im Markt sowie des Fortschritts der wissenschaftlichen Erkenntnisse verursacht werden. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass § 823 Abs. 2 BGB gerade auch die Funktion zukommt, den Rechtsgüterschutz vorzuverlagern, indem die Haftung an die bloße Rechtsgutsgefährdung – im Gegensatz zu der bereits nach § 823 Abs. 1 BGB sanktionierten Rechtsgutsverletzung geknüpft wird.83 Diese Vorverlagerung der Schadensersatzpflicht darf indessen nicht zu einer konturenlosen Haftung 79
Vgl. oben, Fn. 66. Zur Begründung vgl. BT-Drucks. 17/9341, S. 60. 81 ¨ nderung der Richtlinie 2001/83/EG zur Richtlinie 2010/84/EU vom 15. 12. 2010, zur A Schaffung eines Gemeinschaftskodexes fu¨ r Humanarzneimittel hinsichtlich der Pharmakovigilanz; ABl. L 84/2 ff. 82 Richtlinie 2010/84/EU, Erwägungsgründe Nr. 2, 4. 83 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 385, 415. 80
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im Sinne einer bloßen Anknüpfung an abstrakt rechtswidriges Verhalten nach dem Prinzip des versari in re illicita führen. Folgerichtig hat der BGH die Qualifikation des § 248b StGB als Schutzgesetz insoweit abgelehnt, als durch die Schwarzfahrt andere Verkehrsteilnehmer verletzt wurden, denn der unbefugte Gebrauch eines Kraftfahrzeugs erhöht das Verkehrsunfallrisiko nicht oder allenfalls in unbedeutendem Umfang.84 Mit § 248b StGB lässt sich § 63b AMG unter dem Gesichtspunkt des § 823 Abs. 2 BGB allerdings nicht vergleichen. Die Verletzung der Pharmakovigilanzpflichten bewirkt zweifellos eine Risikoerhöhung für die menschliche Gesundheit. Das Problem besteht lediglich darin, dass diese Risikoerhöhung allein nicht ursächlich für den Schaden werden kann, denn durch die Erfüllung der Produktbeobachtungspflicht ist noch kein Patient vor Gesundheitsschäden bewahrt worden. Kausal für den erlittenen Gesundheitsschaden kann nur die Verletzung von Reaktionspflichten sein, die nicht wahrgenommen werden konnten, weil mangels sachgerechter Vigilanz der für den Schaden ursächliche Produktfehler bzw. – im Arzneimittelbereich – die die Bedenklichkeit des Arzneimittels begründenden Nebenwirkungen nicht in das Blickfeld gerieten. Es liegt hier nicht anders als bei der Verletzung der allgemeinen Produktbeobachtungspflicht, die nach § 823 Abs. 1 BGB sanktioniert wird. Der BGH ist im Rahmen von § 823 Abs. 2 BGB bereits mit abstrakten Gefährdungsdelikten konfrontiert worden, die ähnliche Fragen aufwerfen wie § 63b AMG. Ein Beispiel ist der Straftatbestand der Schlägerei gemäß § 231 StGB, der ebenfalls nicht voraussetzt, dass der Tatbeitrag des einzelnen Beteiligten für den Gesundheitsschaden kausal geworden ist. Um eine Haftung für nicht kausale Tatbeiträge zu vermeiden, hat der BGH § 231 StGB zwar als Schutzgesetz anerkannt, dem Beteiligten jedoch die Möglichkeit eingeräumt, sich durch den Nachweis der mangelnden Ursächlichkeit des eigenen Tatbeitrags von der Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB zu entlasten.85 In entsprechender Weise ist auch bei den Pharmakovigilanzpflichten zu verfahren. Die insoweit maßgebende Vorschrift des § 63b AMG ist zwar als Schutzgesetz zu qualifizieren; die Haftung nach § 823 Abs. 2 AMG wird jedoch nur dann ausgelöst, wenn die Vernachlässigung der Vigilanzpflichten zur Folge hatte, dass ein fehlerhaftes Arzneimittel im Verkehr belassen und beim Menschen angewendet wurde. Der Fehlerbegriff des Arzneimittelrechts ist in § 5 AMG mit dem Begriff der Bedenklichkeit belegt worden.86 Gemäß § 5 Abs. 1 AMG dürfen bedenkliche Arznei84 BGHZ 22, 293, 296 ff. = NJW 1957, S. 500 f.; genauso für den Fall des Fahrens ohne Fahrerlaubnis BGH VersR 1959, S. 277 (278); MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 417. 85 BGHZ 103, 197, 200 ff. = NJW 1988, S. 1383 f.; Andreas Spickhoff, Gesetzesverstoß und Haftung, 1998, S. 299 f.; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 416. 86 Vgl. Simone Heitz, Arzneimittelsicherheit zwischen Zulassungsrecht und Haftungsrecht, 2005, S. 196, 423 ff.
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mittel nicht in den Verkehr und nicht bei Menschen angewendet werden. § 5 Abs. 2 AMG bezeichnet solche Arzneimittel als bedenklich, „bei denen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen.“ Das Verbot des Inverkehrbringens und der Anwendung bedenklicher Arzneimittel ist in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung als Schutzgesetz anerkannt.87 Darüber hinaus löst das Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel die sondergesetzliche Produkthaftung nach § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG aus,88 wobei insoweit die Verursachung unvertretbarer Wirkungen durch Anwendung des Arzneimittels feststehen muss, der begründete Verdacht also nicht ausreicht.89 Auch für den Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB sollte ein Verdacht unvertretbarer Wirkungen nicht genügen,90 sondern deren Nachweis verlangt werden. Genauso wie bei § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG geht es um die Beurteilung in der Vergangenheit abgeschlossener Sachverhalte, während bei § 5 AMG eine prognostische Entscheidung zur Vermeidung möglicherweise drohender Gesundheitsschäden getroffen werden muss. Klärungsbedürftig bleibt schließlich die Frage nach der Beweislast: Reicht für die Schlüssigkeit einer auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 63b AMG gestützten Klage die Behauptung bzw. der Nachweis der Vigilanzpflichtverletzung aus, oder muss der Geschädigte zusätzlich nachweisen, dass die Pflichtverletzung dazu führte, dass ein i.S.v. § 5 AMG bedenkliches Arzneimittel im Markt belassen und deshalb bei Menschen angewendet wurde? Träfe die erstgenannte Alternative zu, wäre es Sache des pharmazeutischen Unternehmers, insoweit den Entlastungsnachweis zu führen, also nachzuweisen, dass die Verletzung der Pharmakovigilanzpflicht nicht zur Folge hatte, dass ein bedenkliches Arzneimittel im Verkehr blieb. Unter der erstgenannten Lösung käme dem Verstoß gegen § 63b AMG kaum eigenständige praktische Bedeutung zu, weil zur Haftungsbegründung auch ein Verstoß gegen § 5 AMG nachgewiesen werden müsste, der indessen schon für sich genommen die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB auslöst.91 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass der pharmazeutische Unternehmer direkten Zugang zu den Informationen hat, die für den Nachweis erforderlich sind, dass die Vigilanzpflichtverletzung für den Verstoß gegen § 5 AMG nicht kausal wurde. Der pharmazeutische Unternehmer kann leicht nachweisen, ab welchem Zeitpunkt ihm Informationen über die schädlichen Nebenwirkungen des Arzneimittels vorlagen und ab wann in der internationalen Fachpresse über mögliche Probleme mit dem Arzneimittel berichtet wurde. Darüber hinaus weiß der pharmazeutische Unternehmer, welche Maßnahmen er zu welchen Zeit87
Vgl. oben, Fn. 75. Dazu sogleich, unter e). 89 Ina Brock/Veit Stoll, in: Wilfried Kügel/Rolf-Georg Müller/Hans-Peter Hofmann (Hrsg.), AMG, 2012, § 84 Rn. 66. 90 Dazu eingehend Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen (Fn. 62), S. 135 ff. 91 Vgl. oben, Fn. 75. 88
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punkten in Reaktion auf die verfügbar werdenden Informationen ergriffen hat. Insgesamt sprechen somit die besseren Gründe dafür, dem pharmazeutischen Unternehmer die Beweislast dafür aufzulegen, dass die Vigilanzpflichtverletzung nicht zur Folge hatte, dass ein i.S.d. § 5 Abs. 2 AMG bedenkliches Arzneimittel im Markt verblieben ist und bei Menschen angewendet wurde. d) Verhältnis zur Haftung wegen Verkehrspflichtverletzung gemäß § 823 Abs. 1 BGB Während für das öffentlich-rechtliche Produktsicherheitsrecht Produktbeobachtungspflichten eine relativ neue Entwicklung darstellen, sind sie im privaten Deliktsrecht schon seit langem anerkannt. Wenn nun sicherheitsrechtliche Vigilanzpflichten eingeführt werden, wie dies im Arzneimittelrecht 2012 mit § 63b AMG geschehen ist, und diese über § 823 Abs. 2 BGB zu Haftungstatbeständen umgemünzt werden, stellt sich die Frage nach deren Verhältnis zur Produkthaftung nach § 823 Abs. 1 BGB. Sie kann nicht in einem Satz beantwortet werden, sondern bedarf der Aufgliederung in mehrere Teilprobleme. Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass zwischen den beiden Haftungstatbeständen des § 823 BGB kein Exklusivitätsverhältnis besteht, sondern die Haftung für die Verletzung subjektiver Rechte gemäß § 823 Abs. 1 BGB gleichberechtigt neben der Haftung für Gesetzesverletzungen gemäß § 823 Abs. 2 BGB steht und beide Tatbestände im Einzelfall kumulativ verwirklicht sein können. Das bedeutet: Die Haftung für die Verletzung privatrechtlicher Produktbeobachtungspflichten gemäß § 823 Abs. 1 BGB wird weder durch die Normierung öffentlich-rechtlicher Vigilanzpflichten noch durch deren haftungsrechtliche Bewehrung nach § 823 Abs. 2 BGB ausgeschlossen. Die Produkthaftung wegen Verletzung der privatrechtlichen Produktbeobachtungspflichten gilt weiterhin auch für Arzneimittel. Richtig ist ferner, dass die Haftungsbegründung über § 823 Abs. 2 BGB leichter fällt als diejenige über § 823 Abs. 1 BGB, wenn das verbotene Verhalten in einem Gesetz umschrieben ist und der Verstoß gegen dieses Gesetz leicht zu beweisen ist. Soweit es – wie bei Gesundheitsschäden infolge der Anwendung von Arzneimitteln – um Verletzungen der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter geht, bezweckt § 823 Abs. 2 BGB gerade die Vorverlagerung der Haftung. Dieser Funktion soll die eben entwickelte Verkoppelung der Vigilanzpflichten des § 63b AMG mit dem Verbot des Vertriebs und der Anwendung bedenklicher Arzneimittel gemäß § 5 AMG und die daran angeschlossene, differenzierte Beweislastverteilung Rechnung tragen.92 Die damit verbundene Privilegierung des Geschädigten liegt darin, dass das Maß der gebotenen Produktbeobachtung in § 63b Abs. 2 AMG spezialgesetzlich umschrieben ist und der pharmazeutische Unternehmer ggf. den Entlastungsbeweis dahin führen muss, dass die Vernachlässigung der Vigilanzpflichten nicht zur Anwendung eines bedenklichen Arzneimittels bei Menschen geführt hat. 92
Vgl. soeben, unter c).
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Schließlich stellt sich die Frage, ob die öffentlich-rechtlichen Vigilanzpflichten die im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB von der Rechtsprechung zu entwickelnde Verkehrspflicht zur Produktbeobachtung zu determinieren vermögen. Auf der Basis allgemeiner deliktsrechtlicher Grundsätze muss die Antwort negativ ausfallen.93 Zwar orientieren sich die Zivilgerichte bei der Konturierung deliktsrechtlicher Verkehrspflichten am öffentlichen Sicherheits- und Ordnungsrecht.94 Steht fest, dass der öffentlich-rechtliche Standard von dem Schädiger unterschritten worden ist, wird damit die Verletzung der privatrechtlichen Verkehrspflicht indiziert. Zwingend ist dieses Indiz nicht, denn dem Schädiger steht der Nachweis offen, dass er durch andere als die öffentlich-rechtlich geforderten Sicherheitsmaßnahmen das gleiche oder sogar ein höheres Schutzniveau prästiert hat. Vor allem aber befreit die Einhaltung der Anforderungen des öffentlichen Sicherheitsrechts nach ständiger Rechtsprechung nicht von der privatrechtlichen Haftung.95 Der Staat übernimmt mit der Normierung öffentlich-rechtlicher Sicherheitspflichten nicht die Verantwortung für die regulierten Aktivitäten in dem Sinne, dass sich die betroffenen Subjekte auch im Bürger/Bürger-Verhältnis darauf verlassen könnten, alles ihrerseits für den Rechtsgüterschutz Erforderliche getan zu haben. Öffentlich-rechtliche Regulierung ersetzt die private Deliktshaftung nicht durch eine umfassende Staatshaftung. Bürger, deren Rechtsgüter durch einen anderen verletzt worden sind, können sich nach wie vor an den Schädiger wenden, wenn dieser die allgemeinen deliktsrechtlichen Sorgfaltspflichten zum Schutze der Interessen anderer verletzt hat. Es besteht kein Anlass, von diesem Ergänzungsverhältnis von öffentlichem Sicherheits- und privatem Haftungsrecht speziell bei Produktbeobachtungspflichten abzuweichen. Die Verletzung öffentlich-rechtlicher Vigilanzpflichten indiziert somit auch die Verletzung privatrechtlicher Produktbeobachtungspflichten. Umgekehrt schließt die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vigilanzpflichten die Haftungsbegründung auf der Basis des § 823 Abs. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt der Verkehrspflichtverletzung nicht aus. Hier wie auch sonst können die im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB maßgeblichen Sorgfaltspflichten über den öffentlich-rechtlichen Sicherheitsstandard und damit auch über die Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB hinausgehen. Diese Rechtslage hat zur Konsequenz, dass der Arzneimittelhersteller im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB gehalten bleibt, das internationale Fachschrifttum auszuwerten und den Fortschritt der Wissenschaft in den Disziplinen Medizin und
93 BGH NJW 2008, S. 3779 Rn. 16; weiter BGHZ 139, 43, 46 f. = NJW 1998, S. 2436; BGHZ 139, 79, 83 = NJW 1998, S. 2905 (2906); BGH VersR 1985, S. 641; 1987, S. 102 (103); NJW 1990, S. 1236 (1237); MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 357 ff. 94 OLG Schleswig NJW-RR 2008, S. 691 f. – Geschirrspülmaschine; OLG Karlsruhe VersR 2003, S. 1584 (1585) – Buschholzhackmaschine. 95 Speziell zur Produkthaftung BGHZ 70, 102, 107 = NJW 1978, S. 419 (420); BGH NJW 1983, S. 751 (752); NJW 1987, S. 372 (373) – Verzinkungsspray; genauso Produkthaftungshandbuch-Foerste (Fn. 42), § 24 Rn. 23, 47, 48; Gottfried Schiemann, in: Erman, BGB, 13. Aufl. 2011, § 823 Rn. 11; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 651.
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Pharmakologie nachzuvollziehen,96 obwohl davon in dem Pflichtenkatalog des § 63b Abs. 2 AMG nicht ausdrücklich die Rede ist. Sollten die spezialgesetzlichen Vigilanzpflichten des § 63b Abs. 2 AMG dereinst durch Behörden oder Verwaltungsgerichte oder auch durch im Ordnungswidrigkeitenverfahren gemäß § 97 Abs. 2 Nr. 24e – 24i AMG tätige Strafgerichte verbindlich interpretiert werden, entfalten diese Festlegungen keinerlei Determinationskraft für die über Deliktsansprüche entscheidenden und dabei die allgemeine deliktische Produktbeobachtungspflicht konkretisierenden Zivilgerichte. Selbstverständlich ist schließlich, dass privatrechtliche Produktbeobachtungspflichten auf der Grundlage von § 823 Abs. 1 BGB auch dort in Betracht kommen, wo es an gesetzlichen Vigilanzpflichten des öffentlichen Sicherheitsrechts fehlt. e) Exkurs: Verhältnis zum Arzneimittelhaftungsrecht Überlegungen zur Arzneimittelhaftung sind unvollständig, wenn sie nicht das spezialgesetzliche Haftungsregime der §§ 84 ff. AMG einbeziehen, das 1976 in Reaktion auf die Contergan-Katastrophe geschaffen worden ist. Ein Grundprinzip dieser sondergesetzlichen Produkthaftung ist die Kanalisierung der Schadensersatzpflicht auf den pharmazeutischen Unternehmer. Um dieses Prinzips willen ist die Geltung der harmonisierten Produkthaftung für Arzneimittel mit § 15 ProdHaftG ausgeschlossen worden. Die Vereinbarkeit dieser Bereichsausnahme mit Europarecht, nämlich Art. 13 der Produkthaftungs-Richtlinie 85/374/EWG, ist Gegenstand eines vom BGH eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH.97 Die Anwendbarkeit der allgemeinen Deliktshaftung gemäß § 823 BGB neben den §§ 84 ff. AMG unterliegt keinem Zweifel, denn gemäß § 91 AMG bleiben weitergehende Haftungsgründe nach anderen Vorschriften unberührt. Folglich ist die allgemeine Produkthaftung wegen Verletzung der privatrechtlichen Produktbeobachtungspflicht gemäß § 823 Abs. 1 BGB für Arzneimittel ebenso einschlägig wie die Haftung für die Verletzung öffentlich-rechtlicher Vigilanzpflichten gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 63b AMG. Das AMG seinerseits begründet in § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG die Haftung für Konstruktions- und Fabrikationsfehler und stellt dieser in § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG eine solche für Instruktionsfehler an die Seite. Eine Haftung für die Verletzung von Produktbeobachtungspflichten ist in § 84 Abs. 1 AMG nicht vorgesehen. Allerdings erreicht das AMG dasselbe Ergebnis auf einem anderen Weg, indem nämlich die arzneimittelrechtliche Produkthaftung in § 84 Abs. 1 Nr. 1 AMG auf Entwicklungsrisiken erstreckt wird. Die entscheidende Tatbestandsvoraussetzung, dass das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädli96
Vgl. oben, unter III.1., bei Fn. 34. BGH PharmR 2013, S. 459. Das Verfahren ist beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-310/13 (Novo Nordisk Pharma) anhängig. Eingehend dazu Gerhard Wagner, MedR 2014, 353. 97
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che Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen, ist nämlich nicht auf der Basis des Kenntnisstands im Zeitpunkt des Inverkehrbringens zu beurteilen. Vielmehr sind sämtliche Erkenntnisse über schädliche Nebenwirkungen zugrunde zu legen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bekannt sind, ohne Rücksicht darauf, ob sie im Zeitpunkt des Inverkehrbringens dem Hersteller bekannt oder erkennbar waren.98 Allerdings ist die Vertretbarkeitsbeurteilung, in deren Rahmen es auch auf die Verfügbarkeit von Alternativmitteln und auf deren Nebenwirkungen ankommt, auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens zurück zu projizieren – sog. nachträgliche Prognose.99 Damit soll verhindert werden, dass der Hersteller für die schädlichen Folgen solcher Arzneimittel haftet, zu denen es im Zeitpunkt ihres Inverkehrbringens auch unter Berücksichtigung der erst später erkannten Nebenwirkungen keine bessere Alternative gegeben hat.100 Indem § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG die Schadensersatzpflicht des pharmazeutischen Unternehmers auf Arzneimittelrisiken erstreckt, die im Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht erkennbar waren, sondern erst danach erkennbar wurden, legt er dem Unternehmer zwar keine Produktbeobachtungspflicht, wohl aber eine Produktbeobachtungslast auf. Im Bereich der Entwicklungsrisiken haftet der Unternehmer nicht deshalb, weil er eine ihm gemäß § 84 AMG obliegende Pflicht zur Produktbeobachtung verletzt hat, wohl aber vermag er die Haftung abzuwenden, wenn er tatsächlich Produktbeobachtung betreibt, auf diese Weise Arzneimittelrisiken gewahr wird, für die er einstehen müsste, und darauf entsprechend reagiert, also vor der Anwendung des Arzneimittels warnt, die Auslieferung noch im Vertriebsweg befindlicher Chargen stoppt und bei Ärzten und Patienten befindliche Arzneimittel zurückruft. Indem die sondergesetzliche Produkthaftung nach § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG Entwicklungsrisiken einbezieht, generiert sie für den pharmazeutischen Unternehmer Anreize zur Produktbeobachtung. Auf diese Weise flankiert die Arzneimittelhaftung indirekt die öffentlich-rechtlichen Vigilanzpflichten des § 63b AMG.
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Erwin Deutsch, in: Erwin Deutsch/Hans-Dieter Lippert (Hrsg.), AMG, 3. Aufl. 2011, § 84 Rn. 16; Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, Schuldrecht Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 84 VI, S. 649; Brock/Stoll, in: Kügel/Müller/Hofmann (Fn. 89), § 84 Rn. 84 f.; Arno Kloesel/ Walter Cyran, Arzneimittelrecht, Stand 2014, § 84 Rn. 26; Wolfgang Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2013, § 84 Rn. 5; Andreas Spickhoff, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2011, § 84 AMG Rn. 18; so auch der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, BTDruckS. 12/8591, S. 170; nur verbal anders Jens Guttmann, in: Dorothea Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2. Aufl. 2012, § 84 Rn. 32. 99 Vgl. die vorherige Anmerkung. 100 Brock/Stoll, in: Kügel/Müller/Hofmann (Fn. 89), § 84 Rn. 85.
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3. Haftung für die Verletzung allgemein-produktsicherheitsrechtlicher Produktbeobachtungs- und Reaktionspflichten a) Der Sicherheitsstandard des ProdSG Das heutige Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) von 2011 hat verschiedene Wurzeln, darunter die Mutter aller heutigen Gesetze zur technischen Sicherheit, nämlich das Gerätesicherheitsgesetz 1968,101 die zweite europäische Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG, die horizontal für sämtliche Produkte gilt, sowie eine Anzahl vertikaler – d. h. auf bestimmte Produkte oder Produktgattungen bezogener – Richtlinien der EU.102 Sein Anwendungsbereich erstreckt sich gemäß § 2 Nr. 22 ProdSG auf Waren, Stoffe oder Zubereitungen, die durch einen Fertigungsprozess hergestellt worden sind. Die an Produkte zu stellenden öffentlich-rechtlichen Sicherheitsanforderungen definiert § 3 ProdSG. Danach darf ein Produkt nur dann auf dem Markt bereitgestellt werden, d. h. im Rahmen einer Geschäftstätigkeit entgeltlich oder unentgeltlich zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Markt abgegeben werden (§ 2 Nr. 4 ProdSG), wenn es die Sicherheit und Gesundheit von Personen bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung nicht gefährdet. Soweit ein Produkt einer speziellen vertikalen Rechtsverordnung unterliegt, muss es gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 ProdSG zunächst den in dieser Rechtsverordnung aufgestellten Anforderungen genügen. Nach dem klaren Wortlaut des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ProdSG kommt es jedoch auch in diesem Fall zusätzlich darauf an, dass die Sicherheit und Gesundheit von Personen oder sonstige in der Rechtsverordnung geschützte Rechtsgüter bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung nicht gefährdet werden. b) Behördliche Eingriffsbefugnisse § 3 ProdSG gibt Sicherheitsstandards für Produkte vor, ohne zu normieren, wer diese Sicherheitsstandards einzuhalten hat und auf welche Weise dies zu geschehen hat. Die zunächst fehlenden Vollzugsnormen sind im 6. Abschnitt des ProdSG enthalten. Danach haben die in § 24 ProdSG genannten Behörden die Aufgabe, den Markt zu überwachen (§ 25 ProdSG) und auf der Grundlage von § 26 ProdSG einzuschreiten, wenn bei einzelnen Produkten Sicherheitsmängel auftreten. Ein Hauptinstrument der Marktüberwachung sind gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 ProdSG Stichproben, die sodann physischen Untersuchungen und Laborprüfungen zu unterziehen sind. Ergeben diese einen begründeten Verdacht, dass ein Produkt nicht den Anforderungen der §§ 3 ff. ProdSG entspricht, sind die Marktüberwachungsbehörden gemäß § 26 Abs. 2 S. 1 ProdSG befugt, „die erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen. Dazu zählen ausweislich des exemplarischen Maßnahmenkatalogs des § 26 Abs. 2 S. 2 ProdSG unter anderem vorübergehende oder dauernde Vertriebsverbote (Nr. 4, 6), die Sicher101 102
Gesetz vom 24. Juni 1968, BGBl. I S. 717. Vgl. die Aufzählung in der amtlichen Anm. 1 zum GPSG.
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stellung, Unbrauchbarmachung und Vernichtung von Produkten (Nr. 8), die Anordnung, die Öffentlichkeit vor Produktrisiken zu warnen (Nr. 9) sowie die Anordnung eines Produktrückrufs (Nr. 7). Gemäß § 26 Abs. 4 ProdSG haben die Marktüberwachungsbehörden den Rückruf oder die Rücknahme von Produkten anzuordnen, wenn diese ein ernstes Risiko für die Sicherheit und Gesundheit von Personen darstellen. Die eben kurz geschilderten behördlichen Maßnahmen sind primär an die ordnungsrechtlich Verantwortlichen zu richten, die in § 27 Abs. 1 S. 1 ProdSG als „Wirtschaftsakteure“ angesprochen werden. Dazu zählen nach der Legaldefinition des § 2 Nr. 29 ProdSG Hersteller i.S.d. § 2 Nr. 14 ProdSG, Bevollmächtigte (§ 2 Nr. 6), Einführer (§ 2 Nr. 8) und Händler (§ 2 Nr. 12). c) Haftungsrechtliche Bewehrung des ProdSG Die Vorgängernormen zu § 3 ProdSG, nämlich die §§ 3, 3a GSG aF, sind in Rechtsprechung und Literatur als Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB qualifiziert worden.103 Genauso verhielt es sich bei §§ 4, 5 ProdSG aF.104 Ein Grund, von dieser Rechtslage für das heutige ProdSG abzuweichen, ist nicht ersichtlich.105 Verstöße gegen die öffentlich-rechtlichen Sicherheitspflichten des § 3 Abs. 1, 2 ProdSG sind demnach geeignet, zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gemäß § 823 Abs. 2 BGB auszulösen.106 Allerdings ist der sachliche Schutzbereich des ProdSG und damit auch derjenige der Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB auf Personenschäden begrenzt, soweit nicht vertikale Rechtsverordnungen i.S.d. § 8 Abs. 1 ProdSG weitere Rechtsgüter einbeziehen (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 2 ProdSG). Der persönliche Schutzbereich ist nicht auf Verbraucher begrenzt, nachdem der sachliche Anwendungsbereich des ProdSG über Verbraucherprodukte i.S.d. § 2 Nr. 26 ProdSG hinaus erstreckt worden ist.107 Das gemäß § 823 Abs. 2 S. 2 BGB zusätzlich erforderliche Verschulden wird vermutet, wenn der Verstoß gegen die Verhaltensnorm feststeht.108
103 BGH NJW 1980, S. 1219 (1220) – Klapprad; VersR 1983, S. 346 (347) – Hebebühne; VersR 1984, S. 270 – Meißel; OLG Düsseldorf VersR 1989, S. 1158 – Gurkenflieger; vgl. auch BGH VersR 1972, S. 149 (150) – Förderband; OLG Köln NJW-RR 1992, S. 414 – Trockenkotentmistungsanlage; Uwe Diederichsen, Wohin treibt die Produzentenhaftung?, NJW 1978, S. 1281 (1289); Norbert Kollmer, Zivilrechtliche und arbeitsrechtliche Wirkungen des Gerätesicherheitsgesetzes, NJW 1997, S. 2015 (2017). 104 Gerhard Wagner, Das neue Produktsicherheitsgesetz: o¨ ffentlich-rechtliche Produktverantwortung und zivilrechtliche Folgen, BB 1997, S. 2541 (2542 f.); Peter Marburger, Produktsicherheit und Produkthaftung, in: Hans-Jürgen Ahrens (Hrsg.), FS Erwin Deutsch, 1999, S. 271 (288); a.A. noch Thomas Klindt, ProdSG, 2001, § 4 ProdSG Rn. 17. 105 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 696. 106 Zum Vorgängergesetz GPSG übereinstimmend auch Thomas Klindt, GPSG, 2007, § 4 Rn. 75; nunmehr auch Produkthaftungshandbuch-Foerste (Fn. 42), § 32 Rn. 19. 107 Anders unter dem alten ProdSG; dazu Wagner, Produktsicherheitsgesetz (Fn. 104), BB 1997, S. 2542; a.A. Hans Josef Kullmann, in: Hans Josef Kullmann/Bernhard Pfister, Produzentenhaftung, Kza. 2450.
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Die praktische Bedeutung der Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB, § 3 ProdSG ist allerdings denkbar gering. Die Sicherheitsanforderungen des ProdSG sind derart allgemein gehalten, dass ein Unterschied zu dem allgemeinen deliktsrechtlichen Standard, den der Hersteller bereits gemäß § 823 Abs. 1 BGB einzuhalten hat, nicht zu erkennen ist.109 Wenn es in § 3 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 ProdSG heißt, das Produkt dürfe nur in den Verkehr gebracht – bzw. „auf dem Markt bereitgestellt“ – werden, wenn es Sicherheit und Gesundheit von Personen bei bestimmungsgemäßer oder voraussehbarer Verwendung nicht gefährde, ist damit nichts gesagt, was im Rahmen des privaten Deliktsrecht nicht ohnehin gilt. Auch gemäß § 823 Abs. 1 BGB ist der Hersteller nicht gehalten, absolute Sicherheit zu gewährleisten, sondern geschuldet ist Rechtsgüterschutz im Rahmen des Möglichen und wirtschaftlich Zumutbaren.110 Und auch § 823 Abs. 1 BGB verlangt den Schutz vor Produktgefahren, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch oder vorhersehbarem Fehlgebrauch des Produktes drohen.111 Selbst bei denjenigen Produkten, für die technische Normen i.S.d. § 4 ProdSG oder Rechtsverordnungen gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 ProdSG spezifische sicherheitsrechtliche Anforderungen stellen, kann § 823 Abs. 2 BGB kaum eine haftungsrechtliche Bedeutung entfalten, weil technischen Normen und öffentlich-rechtlichen Sicherheitsstandards auch bei der Konturierung von Verkehrspflichten im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB eine wichtige Orientierungsfunktion zukommt.112 Mehr als eine solche Orientierung vermögen die technischen Normen und Rechtsverordnungen auch im Kontext des ProdSG nicht zu leisten, denn gemäß § 3 Abs. 1 ProdSG kommt es selbst bei Einhaltung dieser Anforderungen zusätzlich darauf an, dass Gesundheitsschäden nicht zu besorgen sind. Auch das ProdSG selbst erkennt den in Rechtsverordnungen und technischen Normen normierten Sicherheitsstandards somit keinerlei Bindungswirkung in dem Sinne zu, dass der allgemeinen Gefahrvermeidungspflicht im Fall ihrer Einhaltung ohne Weiteres genügt wäre.113 Im Ergebnis führt die Herstellerhaftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 ProdSG also nicht über diejenige nach § 823 Abs. 1 BGB hinaus. Allerdings könnte das Pflichtenprogramm des ProdSG erhebliche Bedeutung für die Glieder der Distributionskette erlangen. Das ProdSG verpflichtet nicht nur Hersteller und Quasi-Hersteller (§ 2 Nr. 14 ProdSG), sondern auch Importeure (§ 2 Nr. 8 108 RGZ 113, 293, 294 f.; BGHZ 51, 91, 103 f. = NJW 1969, S. 269 (274); BGH VersR 1955, S. 504; NJW 1968, S. 1279 (1281); VersR 1977, S. 136 (137); NJW 1985, S. 1774 (1775) = JZ 1985, S. 540 m. Anm. Gottfried Baumgärtel; Johannes Hager, in: Staudinger (2009) § 823 Rn. G 40. 109 Vgl. etwa LG Düsseldorf NJW-RR 2006, S. 1033 f. 110 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 338, 645 m.w.Nachw. 111 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 650. 112 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 651. 113 Vgl. – noch zu GSG und ProdSG – OLG Celle VersR 2004, S. 1010 f.; OLG Bremen VersR 2004, S. 207 (208).
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ProdSG),114 Händler (§ 2 Nr. 12 ProdSG) und Bevollmächtigte (§ 2 Nr. 6 ProdSG). Damit ließe sich das im Rahmen von § 823 Abs. 1 hoch differenzierte und mehrfach gestufte System der produktbezogenen Verkehrspflichten der in Produktion und Distribution involvierten Akteure überspielen.115 § 823 Abs. 2 BGB bewirkte eine „vertikale Vereinheitlichung“ der Sicherheitsanforderungen und damit auch des Fehlerbegriffs, wie sie ähnlich aus dem Bereich der harmonisierten Produkthaftung im Rahmen von § 4 ProdHaftG geläufig ist.116 Speziell für Verbraucherprodukte i. S. v. § 2 Nr. 26 ProdSG werden die Pflichten von Händlern allerdings durch § 6 Abs. 5 ProdSG beschränkt, nach dem der Händler lediglich „dazu beizutragen“ hat, dass nur sichere Produkte in den Verkehr gebracht werden. Diese Pflicht verletzt er ausweislich des § 6 Abs. 5 ProdSG insbesondere dann, wenn er weiß oder wissen muss, dass das von ihm vertriebene Produkt nicht den Anforderungen des § 3 ProdSG entspricht. Mit dieser Beschränkung der Sicherheitspflichten ist die Position des Händlers nach öffentlichem Sicherheitsrecht mit derjenigen nach privatem Deliktsrecht identisch.117 Für die übrigen Akteure jenseits des Herstellers lassen sich äquivalente Ergebnisse mit Hilfe des Verschuldenserfordernisses des § 823 Abs. 2 S. 2 BGB erzielen.118 Auch außerhalb des Produkthaftungsrechts kommt § 823 Abs. 2 S. 2 BGB die Funktion zu, die in einem Schutzgesetz u. U. nur abstrakt umschriebene Verhaltenspflicht zu konkretisieren.119 Dementsprechend hat der BGH zur Vorläufernorm des § 3 GSG aF entschieden, dem Beklagten könne immer nur „der Standard seines Berufskreises abverlangt werden“.120 Dabei sollte es auch unter dem ProdSG bleiben. d) Allgemeine Produktbeobachtungs- und Rückrufpflichten Das ProdSG enthält in seinem für die Sicherheitsanforderungen zentralen Abschnitt 2 keine allgemeine Vorschrift, die den Hersteller oder andere Marktakteure zur Produktbeobachtung oder gar zum Rückruf unsicherer Produkte verpflichtet. Dies gilt insbesondere für die zentrale Bestimmung des § 3 ProdSG. Wie gesehen sind die Marktüberwachungsbehörden indessen nach § 26 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 ProdSG befugt, die Rücknahme oder den Rückruf eines bereits in den Verkehr gebrachten („auf dem Markt bereitgestellten“) Produkts anzuordnen.121 Daraus ließe sich möglicherweise folgern, dass das ProdSG die Verpflichtung der Marktakteure zur Produktbeobachtung implizit voraussetzt und die Verpflichtung zum Rückruf von Pro114
BGH VersR 2006, S. 710. Dazu MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 626 ff. 116 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 4 ProdHaftG Rn. 6 ff. 117 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 631. 118 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 698. 119 Vgl. etwa BGHZ 116, 104, 115; MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 433. 120 BGH VersR 2006, S. 710 (711). 121 Oben, b).
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dukten, die hic et nunc, d. h. nach ihrem Inverkehrbringen, als unsicher erkannt wurden, explizit anordnet. Tatsächlich lassen sich aus § 26 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 ProdSG keine Rückruf- und erst recht keine Produktbeobachtungspflichten herleiten. Entsprechende Versuche müssen scheitern, weil die Rückrufpflichten nach § 26 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 ProdSG nicht ipso iure gelten, sondern einer hoheitlichen Anordnung bedürfen – vor Erlass des einschlägigen Verwaltungsakts in Gestalt einer Rückrufverfügung besteht auch keine Rückrufpflicht. Solange es an einer entsprechenden Verfügung fehlt, kommt die Haftung aus Schutzgesetzverletzung folglich nicht in Betracht.122 Dieses Ergebnis entspricht den allgemeinen Grundsätzen, die für die Anwendung des § 823 Abs. 2 BGB auf verwaltungsrechtliche Ermächtigungsgrundlagen maßgebend sind.123 Danach ist weder die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage als solche noch der auf ihrer Grundlage ergangene Verwaltungsakt isoliert als „Schutzgesetz“ zu qualifizieren. Anknüpfungspunkt für die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB ist vielmehr das durch Verwaltungsakt konkretisierte Schutzgesetz im Sinne eines „gestreckten Verbotstatbestands“.124 Diese ursprünglich zu Kartellverfügungen nach den heutigen §§ 32, 33 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GWB entwickelte Auffassung ist von der Rechtsprechung für sämtliche Fachgesetze des Verwaltungsrechts verallgemeinert worden.125 Die Haftung wegen Schutzgesetzverletzung greift demnach erst ein, wenn die zuständige Marktüberwachungsbehörde eine wirksame Rückrufverfügung erlassen hat. Kommt der in Anspruch genommene Hersteller oder sonstige Marktakteur den ihm auferlegten Pflichten nicht nach, greift die Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 Abs. 1, 2, § 26 Abs. 2 Nr. 7 ProdSG ein.126 Da § 3 Abs. 1, 2 ProdSG den einzuhaltenden Sicherheitsstandard gegenwartsbezogen definiert, sind Rückrufverfügungen der Behörden auch bei Entwicklungsrisiken möglich. e) Sicherheitsrechtliche Produktbeobachtungspflichten bei Verbraucherprodukten Besondere Anforderungen stellt das ProdSG an die Produktbeobachtungspflichten der Hersteller von Verbraucherprodukten i.S.d. § 2 Nr. 26 ProdSG. Gemäß § 6 122
Zum ProdSG aF a.A. Friedrich Graf von Westphalen, Der Jahr-2000-Fehler und die Verteilung der Beweislast, BB 1999, S. 1369 (1372, 1374). 123 MünchKommBGB-Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 400 ff. 124 Grundlegend Burkhard Schmiedel, Deliktsobligationen im deutschen Kartellrecht, 1974, S. 47 ff.; Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977, S. 378 ff. 125 BGHZ 122, 1, 3 ff. = LM (B) Nr. 10 zu § 832 BGB mit Anm. Eckart Rehbinder; BGH NJW, 1997, S. 55 = LM (B) Nr. 12 zu § 832 BGB mit Anm. Eckart Rehbinder. 126 Zum ProdSG aF Marburger, Produktsicherheit (Fn. 104), S. 288; MünchKommBGBWagner (Fn. 4), § 823 Rn. 699; anders zum ProdSG aF offenbar Ulrich Foerste, Zur Rückrufpflicht nach § 823 BGB und § 9 ProdSG – Wunsch und Wirklichkeit, DB 1999, S. 2199 (2200 f.).
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Abs. 3 ProdSG sind Hersteller, von diesem Bevollmächtigte und Importeure dazu verpflichtet, bei bereits im Verkehr befindlichen („auf dem Markt bereitgestellten“) Verbraucherprodukten (1) Stichproben durchzuführen, (2) Beschwerden zu prüfen und diese ggf. in ein Beschwerdebuch einzutragen und (3) die Händler über weitere das Verbraucherprodukt betreffende Maßnahmen zu unterrichten. Derselbe Personenkreis ist gemäß § 6 Abs. 4 ProdSG verpflichtet, die zuständige Behörde zu informieren, wenn der Betreffende weiß oder aufgrund der ihm vorliegenden Informationen und seiner Erfahrung wissen muss, dass ein Verbraucherprodukt, das er auf dem Markt bereitgestellt hat, ein Risiko für die Sicherheit und Gesundheit von Personen darstellt. Schließlich verpflichtet § 6 Abs. 2 ProdSG Hersteller, Bevollmächtigte und Importeure dazu, „im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit Vorkehrungen für geeignete Maßnahmen zur Vermeidung von Risiken zu treffen, die mit dem Verbraucherprodukt verbunden sein können […]; die Maßnahmen müssen den Produkteigenschaften angemessen sein und reichen bis zur Rücknahme, zu angemessenen und wirksamen Warnungen und zum Rückruf“. Der Wortlaut dieser Bestimmung legt auf den ersten Blick nahe, dass bei Verbraucherprodukten von einem entsprechenden Verwaltungsakt unabhängige, ipso iure wirkende Produktbeobachtungs-, Rückruf- und Rücknahmepflichten bestehen. Tatsächlich ist nicht daran zu zweifeln, dass die Produktbeobachtungspflichten des § 6 Abs. 3 ProdSG für ihre Geltung keines Vollzugsaktes bedürfen und deshalb als solche Grundlage für die Anknüpfung der Haftung wegen Schutzgesetzverletzung sein können.127 Genauso wie bei den arzneimittelrechtlichen Vigilanzpflichten reicht die Verletzung der Pflichten aus § 6 Abs. 3 ProdSG für sich allein genommen jedoch nicht aus, um eine Schadensersatzpflicht auszulösen. Hinzukommen muss auch hier, dass die Verletzung der Beobachtungspflicht zur Folge hatte, dass ein an den Standards des § 3 ProdSG gemessen unsicheres Produkt im Verkehr belassen wurde. Die praktisch besonders brisante Pflicht zum Rückruf lässt sich indessen nicht auf § 6 Abs. 2 ProdSG i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB stützen. Entgegen dem ersten Anschein begründet § 6 Abs. 2 ProdSG keine ipso iure wirkende Rückrufpflicht, sodass es auch bei Verbraucherprodukten bei der für alle übrigen Produkte maßgebenden Rechtslage verbleibt, nach der die Rückrufpflicht einen entsprechenden Verwaltungsakt voraussetzt (§ 26 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 ProdSG). § 6 Abs. 2 ProdSG verpflichtet Hersteller, Bevollmächtigte und Einführer nämlich nur zu Vorkehrungen für geeignete Maßnahmen zur Vermeidung von Risiken, d. h. zur Vorbereitung auf Maßnahmen der Risikovermeidung, nicht aber zur Durchführung dieser Maßnahmen selbst. § 6 Abs. 2 ProdSG ist die Nachfolgenorm zu § 5 Abs. Nr. 1 lit. c) des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes 2004.128 In den Materialien zu diesem Gesetz wiederum
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Vgl. oben, IV.2.c). So die Begründung zu § 6 Abs. 2 ProdSG, BT-DruckS. 17/6276, S. 43. Das GPSG 2004 wurde verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung der Sicherheit von technischen Arbeitsmitteln und Verbraucherprodukten vom 06. 01. 2004, BGBl. I, 2. 128
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heißt es, die Norm setze Art. 5 ProdSR-Richtlinie129 um und ziele darauf ab, „die Verpflichtungen der Wirtschaftsteilnehmer zu ergänzen, da Maßnahmen […] notwendig sind, damit unter bestimmten Bedingungen Gefahren für die Verwender abgewendet werden können“.130 Ziel dieser Maßnahmen soll es sein, „ein schnelles und zielgerichtetes Reagieren auf ein unsicheres Verbraucherprodukt“ zu ermöglichen.131 Beispielhaft werden sodann bestimmte Vorkehrungen genannt, mit denen die Hersteller ihren Verpflichtungen nachkommen können, nämlich die Führung einer Kundenkartei oder die Vergabe von Seriennummern.132 Die Gesetzesbegründung macht somit deutlich: Mit § 5 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) GPSG aF, § 6 Abs. 2 ProdSG nF werden der Hersteller und andere Akteure der Vertriebskette dazu verpflichtet, sich für einen möglicherweise notwendig werdenden Produktrückruf bereitzuhalten und sich entsprechend vorzubereiten, insbesondere durch Aufbau eines Rückrufmanagementsystems.133 Nicht hingegen verpflichten die § 5 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) GPSG aF, § 6 Abs. 2 ProdSG nF den Hersteller und diesem gleichgestellte Personen, den Produktrückruf auch durchzuführen, wenn nach Inverkehrbringen Sicherheitsdefizite bei bereits im Markt befindlichen Produkten zutage treten. f) Zusammenfassung vor dem Hintergrund der deliktischen Produkthaftung Die haftungsrechtliche Analyse des ProdSG ergibt nach allem ein differenziertes Bild, für das die Unterscheidung zwischen ipso iure geltenden Verhaltensnormen und Ermächtigungsgrundlagen für behördliches Handeln fundamental ist. Die Sicherheitsstandards des § 3 Abs. 1, 2 ProdSG verpflichten den Hersteller und andere Marktakteure ohne weiteres, d. h. ohne dass es eines Vollzugsaktes bedürfte. Ihre Verletzung ist deshalb dazu geeignet, die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB auszulösen. Allerdings sind die öffentlich-rechtlichen Sicherheitsstandards vage und konkretisierungsbedürftig, und bei ihrer Anwendung im Einzelfall spielen dieselben Gesichtspunkte eine Rolle, die auch die allgemeine deliktische Sorgfalts- bzw. Verkehrspflicht im Rahmen von § 823 Abs. 2 BGB determinieren. Aus diesem Grund bleibt die praktische Bedeutung der Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB, § 3 ProdSG gering. Produktbeobachtungspflichten kennt das ProdSG in § 6 Abs. 3 ProdSG nur für Verbraucherprodukte. Im Fall ihrer Verletzung kommt die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Betracht, allerdings unter den zusätzlichen Voraussetzungen, dass deshalb ein am Standard des § 3 ProdSG gemessen unsicheres Verbraucherprodukt im Verkehr verblieben ist und bei anderen zu Schäden geführt hat. Die allgemeinen 129 Richtlinie 2001/95/EG über die allgemeine Produktsicherheit, vom 03. 12. 2001, ABl. L/4 ff. 130 BT-Drucks. 15/1620, S. 29. 131 Ebenda. 132 Ebenda. 133 Klindt (Fn. 106), GPSG, § 5 Rn. 38 ff.
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deliktsrechtlichen Produktbeobachtungspflichten nach § 823 Abs. 1 BGB bleiben neben und unabhängig von § 6 Abs. 3 ProdSG anwendbar. Da § 6 Abs. 3 ProdSG maßvolle Anforderungen stellt, ist das Haftungsrisiko für Hersteller von Verbraucherprodukten nicht höher als dasjenige der Hersteller sonstiger Produkte, für die § 6 Abs. 3 ProdSG nicht gilt. Umgekehrt bewahrt § 6 Abs. 3 ProdSG die Hersteller von Verbraucherprodukten nicht vor weitergehenden Sorgfaltspflichten nach Maßgabe des § 823 Abs. 1 BGB. Praktische Bedeutung hat dies für die Verpflichtung zur Auswertung der internationalen Fachpresse, einschließlich des Internets, im Hinblick auf Fortschritte in der wissenschaftlichen Erkenntnis von Produktrisiken und auf Berichte über in der Praxis aufgetretene Produktrisiken. § 6 Abs. 3 ProdSG konzentriert sich im Wesentlichen auf Maßnahmen der passiven Produktbeobachtung, sodass die gemäß § 823 Abs. 1 BGB bestehende Pflicht zur aktiven Produktbeobachtung von Bedeutung bleibt. Im Übrigen lassen sich aus dem ProdSG keine den Hersteller und andere Marktteilnehmer verpflichtenden Verhaltensnormen herleiten, auf deren Verletzung mit § 823 Abs. 2 BGB zu reagieren wäre. Insbesondere setzt die Verpflichtung zum Produktrückruf gemäß § 26 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 ProdSG einen entsprechenden Verwaltungsakt der zuständigen Behörde voraus. Ohne diesen besteht keine öffentlichrechtliche Rückrufpflicht und deshalb auch keine akzessorische zivilrechtliche Haftung. Dies gilt auch für Verbraucherprodukte, weil § 6 Abs. 2 ProdSG den Hersteller allein zur Vorbereitung auf möglicherweise erforderlich werdende Rückrufe verpflichtet, nicht aber zu diesen selbst.
V. Fazit: Privates Produkthaftungs- und öffentliches Produktsicherheitsrecht als „wechselseitige Auffangordnungen“134 Eingangs der Untersuchung ist die Behauptung aufgestellt worden, Produktbeobachtungspflichten, die sich an das Inverkehrbringen von Produkten anschließen und Hersteller sowie andere Produktverantwortliche zu Reaktionen im Interesse der Produktsicherheit und Schadensvermeidung anhalten, seien eine genuine Aufgabe des Privatrechts. Die exemplarische Analyse der spezialgesetzlichen Vigilanzpflichten für eine besonders gefährliche Produktgattung – Arzneimittel – und des allgemeinen sicherheitsrechtlichen Regimes des ProdSG hat diese These bestätigt. Öffentlichrechtliche Vigilanz- und Reaktionspflichten bestehen bloß in fragmentarischer Form, und sie gelten häufig nicht ipso iure, sondern bedürfen der behördlichen Anordnung durch Verwaltungsakt. Die Haftung für Schutzgesetzverletzung bleibt zudem eingebettet in die allgemeine deliktische Produkthaftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB, die sowohl anstelle des § 823 Abs. 2 BGB als auch ergänzend anwend134 Diese Bezeichnung geht zurück auf Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996.
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bar bleibt. Die praktische Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Vigilanzpflichten für das private Haftungsrecht ist deshalb gering. Diese Einschätzung wird durch den Mangel an Gerichtsentscheidungen zu § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Normen des öffentlichen Produktsicherheitsrechts bestätigt. Offenbar bedürfen private Kläger dieser Anspruchsgrundlage nicht, um mit ihrem Ersatzbegehren durchzudringen, weil § 823 Abs. 1 BGB identische oder weiterreichende Verhaltenspflichten normiert. Das gilt selbst für die besonders wichtige und kontroverse Verpflichtung zum Produktrückruf,135 die im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB nicht anerkannt ist, jedoch auch im öffentlichen Produktsicherheitsrecht von einer behördlichen Anordnung im Einzelfall abhängt.136 Abschließend stellt sich die Frage, ob dieser Befund – dass die öffentlich-rechtlichen Produktbeobachtungspflichten den privatrechtlichen in manchen Bereichen hinterherhinken und sie in anderen verdoppeln – zu kritisieren ist. Stellt es ein Problem dar, dass der Igel der privatrechtlichen Produktbeobachtungspflichten in der Regel schon da ist, wenn der öffentlich-rechtliche Hase angelaufen kommt? Die Frage ist zu verneinen, die Parallelität privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Produktbeobachtungspflichten ist weniger ein Problem als eine Lösung, nämlich Ausdruck einer zumindest im Ansatz gelungenen Arbeitsteilung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Diese Arbeitsteilung, die sich vergleichbar auch in anderen Rechtsordnungen – etwa derjenigen der USA – findet,137 besteht allerdings nicht darin, dass das öffentliche Recht auf Verhaltenssteuerung ziele, das Privatrecht hingegen auf Schadensausgleich. Eine solche Perspektive übersieht, dass das private Haftungsrecht gerade auch darum bemüht ist, das Verhalten der Rechtssubjekte im Interesse sachgerechter Risikominimierung und Schadensvermeidung zu steuern.138 Es kann auch nicht ernsthaft bestritten werden, dass das private Produkthaftungsrecht maßgeblich zur Produktsicherheit beigetragen hat. Schließlich ist die privatrechtliche Produkthaftung viel älter als das öffentliche Produktsicherheitsrecht, das im Jahre 1997 erstmals im ProdSG kodifiziert und dabei über „technische Arbeitsmittel“ im Sinne des früheren GSG hinaus erstreckt wurde. Es käme einer groben Verzeichnung der tatsächlichen Entwicklung gleich, wenn behauptet würde, die Bemühungen der Hersteller um Produktsicherheit hätten mit solchen legislatorischen Maßnahmen erst begonnen. Vor dem Aufblühen des öffentlichen Produktsicherheitsrechts hat das private Deliktsrecht die notwendigen Anreize zur Gewährleistung von Produktsicherheit geschaffen. Heute lässt sich das Verhältnis von öffentlichem Produktsicherheits- und privatem Produkthaftungsrecht als ein solches der Komplementarität beschreiben. Das Ergänzungsverhältnis betrifft dabei nicht so sehr die materiellen Standards und Pflichten als vielmehr die Ebene von Vollzug und Durchsetzung. Auf der 135
Oben, Fn. 53. Vgl. oben, IV.3.d). 137 Bodewig (Fn. 45), S. 18 ff. 138 Ausführlich dazu Gerhard Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht, AcP 206 (2006), S. 352 (451 ff.); Kötz/Wagner (Fn. 13), Rn. 59 ff. 136
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Ebene der Sicherheitsstandards und Verhaltenspflichten unterscheiden sich die beiden Rechtsmaterien kaum voneinander. Der wichtigste Unterschied zwischen öffentlichem Produktsicherheitsrecht und privatem Produkthaftungsrecht betrifft die Rechtsdurchsetzung. Das Produktsicherheitsrecht setzt auf Vollzug durch Behörden, das Haftungsrecht hingegen auf Privatinitiative, indem es die Rechtsdurchsetzung in die Hände der Geschädigten legt. Das „private enforcement“ durch private Kläger ergänzt auf diese Weise das „public enforcement“ durch staatliche Behörden.139 Die Durchsetzung produktbezogener Sicherheitspflichten zum Schutz des Publikums ist somit nicht allein und ausschließlich auf die Überwachungs- und Kontrolltätigkeit des Staates angewiesen. Auch ohne eine empirische Analyse der Arbeit von Marktüberwachungsbehörden ist es plausibel anzunehmen, dass der behördliche Vollzug an Defiziten leidet, die auf die mangelhafte personelle und sachliche Ausstattung der Behörden, auf die mitunter nicht optimale Motivation der dort tätigen Mitarbeiter sowie auf in der Natur der Sache begründete und deshalb nicht restlos zu beseitigende Informationsasymmetrien zurückzuführen sind. Aus diesen Gründen wird das öffentliche Sicherheitsrecht auch in Zukunft auf die Unterstützung und Ergänzung durch privates Haftungsrecht angewiesen bleiben.
139 Allgemein zu diesem Ergänzungsverhältnis von öffentlichem Recht und Privatrecht Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Fn. 134); Wagner, Verhaltenssteuerung (Fn. 138), S. 434 ff.
Verhältnis privater Produktbeobachtung und öffentlicher Aufsicht Von Birgit Schmidt am Busch
I. Einführung Die Entwicklung und Einführung neuer innovativer Produkte dient zwar der Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands1, birgt aber auch unvorhersehbare, durchaus große Risiken. Dem Anspruch auf Gewährleistung der Wettbewerbsund Wissenschaftsfreiheit stehen daher Schutzpflichten des Staates und Gemeinwohlbelange gegenüber.2 Der Staat ist aufgrund seiner Verpflichtung auf das Gemeinwohl und aufgrund von Schutzpflichten zur Steuerung der von den Produkten ausgehenden Risiken verpflichtet.3 Er trägt die Verantwortung für eine gemeinwohlverträgliche Technikentwicklung.4 Für die verschiedenen Produktkategorien hat er eigene Regulierungsarrangements getroffen. Diese sehen z. T. präventive Vorabkontrollen der Verwaltung vor dem Inverkehrbringen vor. Stets erfolgt jedoch nach dem Bereitstellen des Produkts auf dem Markt eine punktuelle staatliche Überwachung, d. h. die staatliche Kontrolle und Durchsetzung der Einhaltung der Regulierungsvorgaben durch die für das Produkt verantwortlichen Wirtschaftsakteure. Daneben hat sich in allen Produktbereichen das nachmarktliche Risikomonitoring in Form einer ständigen Beobachtung des im Markt bereitgestellten Produkts als weitere staatliche Aufgabe etabliert. Ziel der nachmarktlichen Produktbeobachtung ist es, durch dauerhafte Beobachtung des Produkts am Markt neues Risikowissen zu generieren, Steuerungsineffizienzen der gesetzlichen Regulie-
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Wolfgang Hoffmann-Riem, Risiko- und Innovationsrecht im Verbund, Die Verwaltung 2005, S. 145 f. 2 Zur Gegenläufigkeit der Interessen bei Innovationen Wolfgang Hoffmann-Riem/Saskia Fritzsche, Innovationsverantwortung – zur Einleitung, in: Martin Eifert/Wolfgang HoffmannRiem (Hrsg.), Innovationsverantwortung, 2009, S. 11 (16 f.). 3 Ausführlich zur Staatspflicht zur Risikominderung insbesondere bei Produkten Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 41 ff.; Antje Trenkler, Risikoverwaltung im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2010, S. 71 ff.; Hoffmann-Riem/Fritzsche, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 22; Michael Brenner/Anja Nehrig, Das Risiko im öffentlichen Recht, DÖV 2003, S. 1024 (1027). 4 Hoffmann-Riem/Fritzsche, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 22.
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rung zu entdecken und zu beheben und ggf. auch im Einzelfall kurzfristig Maßnahmen zur Risikominimierung zu treffen.5 Bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben der Risikosteuerung nimmt der Staat die Produktverantwortlichen immer stärker in den Dienst.6 Dies gilt vor allem bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung. Der Staat will sich die Eigeninteressen und die besondere Sachkenntnis der Produktverantwortlichen zunutze machen und setzt auch bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung verstärkt auf Eigenverantwortung.7 Die Indienstnahme8 der Produktverantwortlichen dient nicht zuletzt dazu, die möglichen „Risikoproduzenten“ durch die aktive Beobachtung ihrer Produkte auf dem Markt zu einer stetigen Verbesserung ihrer Produkte anzuhalten.9 Der Staat verzichtet jedoch nicht auf die klassischen hoheitlich-imperativen Handlungsformen, zieht sich also nicht auf eine reine Gewährleistungsverantwortung10 zurück. Charakteristisch für die nachmarktliche Produktbeobachtung ist ein Zusammenwirken der Verwaltung und der Produktverantwortlichen. Im Folgenden soll das Verhältnis zwischen Verwaltung und Produktverantwortlichen bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung näher beleuchtet werden. Als Referenzgebiete wird auf das Arzneimittelrecht, das Medizinprodukterecht, das Produktsicherheitsrecht, das Gentechnikrecht, das Lebensmittel- und Futtermittelrecht sowie das Chemikalienrecht zurückgegriffen. Alle Produktbereiche sehen ein Zusammenwirken der Verwaltung und der Produktverantwortlichen vor, wobei zwischen verschiedenen Stufen der nachmarktlichen Produktbeobachtung zu unterscheiden ist (II.). Das Zusammenwirken bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung weist Besonderheiten gegenüber dem klassischen Verwaltungsverfahren auf, die es zu bewerten gilt (III.). Die Kooperation der Behörden mit den Produktverant5
Näher Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 45, 177 f. Das Nachmarktmonitoring in Form einer ständigen Beobachtung des Marktgeschehens ist als eigenständige Aufgabe anzusehen, die sich von der Überwachung im klassischen Sinn unterscheidet, weil sie nicht spezifisch die Einhaltung der Rechtsvorschriften durch die für das Produkt verantwortlichen Wirtschaftsakteure kontrollieren, sondern in erster Linie Veränderungen im Risikobereich ermitteln will. Die Grenzen sind jedoch fließend, die ordnungsrechtlichen Instrumente der Verwaltung weitgehend identisch. 6 Vgl. z. B. Martin Eifert, Die Beteiligung Privater an der Rechtsverwirklichung, VerwArch 2006, S. 309 ff.; Brenner/Nehrig, Risiko im Recht (Fn. 3), S. 1027; vgl. auch Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 331 ff. 7 Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 44; allgemeiner Hoffmann-Riem/Fritzsche, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 22 ff. 8 Begriff bei Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 187. 9 Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 45 f.; allgemein zu den Vorteilen der Einbindung der Betroffenen in das Verwaltungsverfahren Jens-Peter Schneider, Kooperative Verwaltungsverfahren, VerwArch 1996, S. 38 (41). 10 Vgl. die sehr anschauliche Charakterisierung des Gewährleistungsstaats von Martin Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat, 1998, S. 18. Ausführlich zum Konzept des Gewährleistungsstaats Gunnar Folke Schuppert, Der Gewährleistungsstaat – modisches Label oder Leitbild sich wandelnder Staatlichkeit, in: ders. (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005, S. 11.
Verhältnis privater Produktbeobachtung und öffentlicher Aufsicht
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wortlichen im Produktbeobachtungsverfahren ermöglicht einen angemessenen Ausgleich zwischen den Gemeinwohlverpflichtungen des Staates und den unternehmerischen Interessen der Hersteller und Händler von Produkten. Vorschläge, die staatliche Marktbeobachtung weiter zurückzuführen und durch rein private Beobachtungssysteme zu ersetzen, lassen sich mit der Schutzpflicht des Staates zur Verhinderung und Minimierung von technisch-wissenschaftlich induzierten Risiken nicht vereinbaren (IV.).
II. Nachmarktliche Produktbeobachtung als kontinuierliches Kommunikationsverhältnis zwischen Verwaltung und Produktverantwortlichen Die nachmarktliche Produktbeobachtung setzt ein, nachdem ein Produkt in den Verkehr gebracht wurde bzw. wenn ein Produkt auf dem Markt bereitgestellt wird.11 Sie hat die Aufgabe, neue Erkenntnisse über die im Markt befindlichen Produkte zu erhalten, diese zu bewerten und ggf. Maßnahmen zu treffen. Die nachmarktliche Produktbeobachtung erfolgt somit in drei Stufen: der Informationsbeschaffung (1.) schließt sich eine Risikobewertung (2.) und sodann ein Entscheidungsverfahren über ggf. notwendige Risikomanagementmaßnahmen (3.) an.12 Dies ist ein kontinuierlicher Prozess, solange ein Produkt auf dem Markt ist. In allen drei Stufen bindet der Staat die Produktverantwortlichen ein, wenngleich die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und den Produktverantwortlichen in den einzelnen Produktbereichen im Detail unterschiedlich ausgestaltet ist. Während im Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und verstärkt im Produktsicherheitsrecht die Behörden in allen drei Stufen eng mit den Produktverantwortlichen zusammenarbeiten und im gegenseitigen Austausch stehen, setzt die nachmarktliche Beobachtung in den anderen Produktbereichen stärker auf die Eigenverantwortung der Produktverantwortlichen, die durch administrative Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse ergänzt bzw. kontrolliert wird. Vor allem das europäische Chemikalienrecht ist darauf angelegt, die Eigenverantwortung der Produktverantwortlichen zu aktivieren.13
11 Die Terminologie befindet sich im Wandel. Der Begriff des „Inverkehrbringens“ wird in einigen Produktbereichen inzwischen durch den Begriff der „Bereitstellung auf dem Markt“ ersetzt, der z. T. weitergehend jeden Überlassungsvorgang in einer Vertriebskette mit einschließt. So z. B. im Produktsicherheitsgesetz, vgl. Arun Kapoor/Thomas Klindt, Das neue deutsche Produktsicherheitsgesetz (ProdSG), NVwZ 2012, S. 719 (721). 12 Ausdrücklich verwendet wird der Begriff der „Stufen“ in § 63 AMG. 13 Martin Führ/Kilian Bizer, Zuordnung der Innovations-Verantwortlichkeiten im Risikoverwaltungsrecht – Das Beispiel der REACh-Verordnung, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 304 (328).
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1. Erfassung und Sammlung von Risikodaten (Beobachtung i. e.S.) In der ersten Stufe – der eigentlichen Produktbeobachtung14 – geht es um Wissensgenerierung,15 d. h. das systematische Beschaffen, Sammeln und Erfassen von neuen Informationen über das im Markt befindliche Produkt.16 Solche Informationen ergeben sich vor allem aus Beschwerden der Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch durch Produktvergleiche sowie neue wissenschaftliche Forschungen.17 In allen Produktbereichen gehört die eigentliche Beobachtung der im Markt befindlichen Produkte zu den Aufgaben der Verwaltung. Die Erfassung und Sammlung von Risikodaten erfolgt in einem staatlich organisierten Verfahren, in dem fast immer mehrere Verwaltungsebenen einbezogen sind.18 Die Aufgabe ist i. d. R. zentral einer Unions- oder Bundesbehörde übertragen (Arzneimittelrecht19, Medizinprodukterecht20 und Lebensmittelrecht21) und/oder den Überwachungsbehörden der Länder zugewiesen (Produktsicherheitsrecht22), wobei die Behörden der verschiedenen Ebenen ihrerseits in einem permanenten Informationsdialog stehen.23 Unterschiedlich geregelt ist jedoch die Reichweite der staatlichen Produktbeobachtung. Im Arzneimittel-, Medizinprodukte- und Produktsicherheitsrecht werden die zuständigen Behörden verpflichtet, für die jeweilige Produktkategorie ein zentrales Informationserlangungssystem aufzubauen und zu managen. Für die Ausgestaltung der Informationserlangungssysteme enthält das Fachrecht zahlreiche detaillierte Vorgaben; im 14 Vgl. Martin Eifert, Produktbeobachtung durch Private – Einführung, in diesem Band, S. 9. Z. T. wird sie zur Überwachung im weiteren Sinne gerechnet, vgl. den Vorschlag der Europäischen Kommission für ein „Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket“ vom 13. 2. 2013 (COM (2013) 74 final), insbesondere den Vorschlag für eine Verordnung über die Marktüberwachung von Produkten vom 13. 2. 2013 (COM (2013) 75 final). Näher hierzu Sebastian Polly, Vorschlag der Europäischen Kommission für ein „Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket“, BB 2013, S. 1164 (1165). 15 Grundlegend zum Verfahren der Wissensgenerierung im Risikorecht Burkard Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 69 ff. 16 Vgl. Karl-Heinz Hohm, Arzneimittelsicherheit und Nachmarktkontrolle: Eine arzneimittel-, verfassungs- und europarechtliche Untersuchung, 1990, S. 207 ff. 17 Zu den Formen der Produktbeobachtung Arun Kapoor, in: Thomas Klindt (Hrsg.), Produktsicherheitsgesetz, Kommentar, 2. Auflage 2015, § 6 Rn. 56 ff. 18 Näher Birgit Schmidt am Busch, Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, 2007, S. 288, 303, 323, 333. 19 § 62 AMG. 20 § 32 i.V.m. § 29 Abs. 1 MPG. 21 Art. 23 Buchst. f, 34 BasisVO. 22 §§ 25 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 25 Abs. 3, 26 Abs. 1 ProdSG. 23 §§ 6 Abs. 4 Satz 2, 29 ProdSG; Art. 124 REAChVO; §§ 19 ff. der Verordnung über die Erfassung, Bewertung und Abwehr von Risiken bei Medizinprodukten (MedizinprodukteSicherheitsplanverordnung) vom 24. 6. 2002 (BGBl. I S. 2131), zuletzt geändert durch Art. 4 der Verordnung vom 25. 7. 2014 (BGBl. I S. 1227); Art. 1 Ziff. 2 und 4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken (AMG-Stufenplan) nach § 63 des Arzneimittelgesetzes vom 9. 2. 2005.
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Einzelnen ist die Ausgestaltung der Exekutive überlassen, die diesem Regelungsauftrag durch den Erlass von Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften nachkommt.24 In den anderen Fachmaterien ergibt sich die Aufgabe der staatlichen Beobachtung eher mittelbar; die Verpflichtung beschränkt sich auf eine allgemeine wissenschaftliche Begleitung der durch die im Markt befindlichen Produkte induzierten Risiken.25 In der ersten Stufe der Informationsgewinnung werden die Produktverantwortlichen selbst immer stärker in die Pflicht genommen. Während sie z. T. im Fachrecht (Arzneimittel) unmittelbar zur Beobachtung ihrer Produkte verpflichtet werden,26 haben die Behörden bei zulassungspflichtigen Produkten die Möglichkeit, die Zulassung des Produkts an spezifische oder weiterreichende Beobachtungsauflagen zu knüpfen.27 Eine Zulassungspflicht ist bei Produkten vorgesehen, die besonders risikoreich oder deren langfristige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder Umwelt nicht abzuschätzen sind. Daher ist es nur folgerichtig, in diesen Fällen eine umfassende längerfristige Marktbeobachtung sicherzustellen. Die Beobachtungspflichten der Produktverantwortlichen sind in den letzten Jahren immer weiter ausgedehnt worden. Die Produktverantwortlichen können sich nicht auf eine passive Beobachtung, also auf die Entgegennahme von Beschwerden über ihre Produkte28 beschränken, sondern werden zu einer aktiven Beobachtung angehalten – sei es durch die Verpflichtung zur Durchführung von Stichproben ihrer Produkte am Markt,29 sei es durch Verpflichtungen zur Beobachtung des Stands der wissenschaftlichen Forschung. Darüber hinaus enthält das Fachrecht zum Teil auch Vorgaben für die betriebliche Organisation der Produktbeobachtung. So ist im Arzneimittel-30 und Medizinprodukterecht31 der Unternehmer verpflichtet, eine angestellte Person mit be24
§ 37 Abs. 7 MPG (Sicherheitsplan als Verordnung); § 63 AMG (Stufenplan als Verwaltungsvorschrift). 25 So im Gentechnik- und Chemikalienrecht. 26 Z. B. § 63b AMG; § 16c GenTG. 27 Z. B. § 28 Abs. 3a Nr. 3 und Nr. 5 AMG. 28 Z. B. § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ProdSG. Näher zum betrieblichen Reklamationsmanagement Jens-Uwe Heuer/Philipp Reusch, Das neue Produktsicherheitsgesetz, 2012, S. 36 ff.; Christoph E. Hauschka/Thomas Klindt, Eine Rechtspflicht zur Compliance im Reklamationsmanagement?, NJW 2007, S. 2726; vgl. auch Kapoor, in: Klindt, Produktsicherheitsgesetz (Fn. 17), § 6 Rn. 61. 29 Z. B. § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 ProdSG. 30 § 63a AMG (Stufenplanbeauftragter). Vgl. zum Stufenplanbeauftragten Jörg Schickert, in: J. Wilfried Kügel/Rolf-Georg Müller/Hans-Peter Hofmann (Hrsg.), Arzneimittelgesetz, Kommentar, 2012, § 63a Rn. 5 ff.; Elmar Kroth, Der Stufenplanbeauftragte – Qualifikation, Verantwortung und Aufgaben heute und morgen, Arzneimittel und Recht 2007, S. 114; Stefan Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 174 ff.; Hohm, Arzneimittelsicherheit (Fn. 16), S. 275 ff. 31 § 30 MPG (Sicherheitsbeauftragter). Vgl. zum Sicherheitsbeauftragten für Medizinprodukte Hans-Georg Will, Medizinprodukte-Beobachtungs- und -Meldesystem, in: Ehrhard Anhalt/Peter Dieners (Hrsg.), Handbuch des Medizinprodukterechts: Grundlagen und Praxis, 2003, § 11 Rn. 10 ff.
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sonderen Sachkenntnissen speziell mit der Durchführung der Beobachtung zu betrauen. Die Produktverantwortlichen können zudem bei zulassungspflichtigen Produkten verpflichtet sein, dem Zulassungsantrag einen Beobachtungsplan beizufügen.32 Auf diese Weise kann die zuständige Behörde33 (i. d. R. identisch mit der zentralen Risikoerfassungsbehörde) im Rahmen der Zulassungsentscheidung Einfluss auf die internen Abläufe nehmen und die Beobachtung durch den Privaten mitsteuern. Zwischen den Behörden und den beobachtenden Produktverantwortlichen findet in dieser Stufe in den meisten Produktbereichen (Ausnahme Chemikalienrecht) ein gegenseitiger – z.T. intensiver34 – Informationsaustausch statt. Die Produktverantwortlichen treffen zahlreiche Informations- und Meldepflichten,35 wobei die Behörden bei zulassungspflichtigen Produkten z. T. weitergehende Meldepflichten zur Auflage machen können.36 Die Produktverantwortlichen haben danach z. T. regelmäßige Beobachtungsberichte abzuliefern, z. B. regelmäßige Unbedenklichkeitsberichte37 oder Aktualisierungen der Sicherheitsberichte.38 Immer aber sind sie verpflichtet, neue nachteilige Informationen unverzüglich den Behörden zu melden.39 Regelmäßig werden Verstöße gegen die Informations- und Meldepflichten als Ordnungswidrigkeit geahndet,40 wobei bezweifelt werden kann, ob die Behörden dem Produktverantwortlichen die Unterlassung einer Meldung immer nachweisen können.41 Die Behörden ihrerseits sind verpflichtet, die Produktverantwortlichen unverzüglich über 32 Z. B. § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG; Art. 5 Abs. 3 Buchst. k und Abs. 5 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 9. 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel (ABl. L 268, S. 1); § 15 Abs. 3 Satz 3 Nr. 5a GenTG i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4a der Verordnung über Antrags- und Anmeldeunterlagen und über Genehmigungs- und Anmeldeverfahren nach dem Gentechnikgesetz (GentechnikVerfahrensverordnung) i. d. F. der Bek. vom 4. 11. 1996 (BGBl. I S. 1657), zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung von 28. 4. 2008 (BGBl. I S. 766). 33 Z. B. im Arzneimittelrecht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. 34 Insbesondere im Arzneimittel-, Medizinprodukte- und Produktsicherheitsrecht. 35 Ausführlich zum Zweck der Meldepflichten Gerd Hagena/Rod Freemann/Fabian Volz, Die behördliche Meldung unsicherer Verbraucherprodukte nach dem neuen Geräte- und Produktsicherheitsgesetz und ihre europäische Dimension, BB 2005, S. 2591 (2594). 36 Siehe z. B. § 28 Abs. 3a Nr. 3 AMG. 37 § 63d Abs. 1 AMG. 38 Art. 22 Abs. 1 Satz 1 Buchst. e REAChVO. 39 Siehe § 6 Abs. 4 Satz 1 ProdSG; § 63c Abs. 2 AMG i.V.m. Art. 1 Ziff. 4.5. des AMGStufenplans (Fn. 23); § 63i Abs. 1 und 2 AMG; Art. 16 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/ 2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. 3. 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. L 136, S. 1) bei unionsrechtlich zugelassenen Arzneimitteln; § 3 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23); Art. 19 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 BasisVO. 40 Siehe § 97 Abs. 2 Nr. 24j AMG; § 39 Abs. 1 Nr. 4 ProdSG. 41 Vgl. zu dieser Problematik im Produktsicherheitsrecht Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 188.
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ihnen bekannt gewordene neue Entwicklungen zu informieren.42 Dabei hat die Verwaltung z. B. im Arzneimittel- und Medizinproduktebereich durch die vorgeschriebene Personalisierung der Produktbeobachtung einen direkten Ansprechpartner in den Unternehmen.43 Durch die Einbindung der Produktverantwortlichen kann sich die Verwaltung das besondere Herstellerwissen zunutze machen.44 Es ist davon auszugehen, dass diese durch eigene Tests und Sicherheitskontrollen, durch sicherheitsrelevante Verbraucherbeschwerden sowie aus Versicherungsansprüchen spezifisches Wissen über ihre Produkte haben,45 das die Verwaltung nicht so ohne Weiteres generieren kann. Die Produktverantwortlichen können ihrerseits den Informationsvorsprung der Behörden nutzen, soweit es um Probleme bei vergleichbaren Konkurrenzprodukten oder um neue Entwicklungen in der wissenschaftlichen Forschung geht, und dieses Wissen für die Verbesserung ihrer Produkte verwenden. Kleine Unternehmen profitieren zudem von der staatlichen Beratung bei der Bewertung der vorgelegten Beobachtungspläne im Rahmen der Zulassungsentscheidungen. 2. Risikobewertung Der Wissensgenerierung schließt sich in der zweiten Stufe die Risikobewertung an. Risikobewertung meint die Beschreibung und Abschätzung des von diesem Produkt ausgehenden Risikopotenzials aufgrund der neu gewonnenen Informationen über das sich bereits im Markt befindliche Produkt.46 Es geht um die wissenschaftlich-objektive Bewertung der rechtlichen Erheblichkeit des neu festgestellten Risikos, die maßgeblich nach den im Fachrecht vorgegebenen Sicherheitsstandards zu erfolgen hat.47 Im Ergebnis findet eine Risiko-Nutzen-Abwägung statt.48 Die Größe des Risikopotenzials ergibt sich dabei aus der Gegenüberstellung der neu festgestellten Nachteile und den spezifischen Vorteilen des Produkts sowie den Fähigkeiten der jeweiligen Verwender.49 Kriterien, die bei der Bewertung der Risiken von Produkten herangezogen werden, sind insbesondere die technischen Produktda42 Siehe Art. 1 Ziff. 5.1. des AMG-Stufenplans (Fn. 23); § 3 Abs. 6 Satz 2 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23). 43 § 30 Abs. 2 MPG und § 63a Abs. 3 AMG (Jeder Wechsel der Person ist der zuständigen Behörde mitzuteilen). 44 Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 62, 194. 45 Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 194. 46 Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 30. 47 Eine Legaldefinition enthält Art. 3 Nr. 11 BasisVO. Näher zum Begriff Arno Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen? VVDStRL 63 (2004), S. 214 (230 f.). 48 Näher Scherzberg, Risikosteuerung (Fn. 47), S. 231 f. Speziell für die nachmarktliche Arzneimittelbeobachtung Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 237 ff.; speziell für Verbraucherprodukte Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 128. 49 Vgl. Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 126 ff., 141 f.
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ten, die Verbreitung des Produkts auf dem Markt, die bestimmungsgemäße Verbraucherkategorie, der Anstieg oder Rückgang von Vorkommnissen sowie Risikominimierungsmaßnahmen (Informationen) der Produktverantwortlichen.50 Durch die Verwaltung erfolgt eine eigene Risikobewertung. Diese kommt i. d. R. in einem komplexen Verfahren zustande, da zur Risikobewertung regelmäßig unabhängige Wissensbehörden51 einzuschalten sind.52 Der genaue Ablauf des Verfahrens ergibt sich aus dem Fachrecht. In die Risikobewertung sind jedoch die Produktverantwortlichen einzubinden.53 Deren oben beschriebene Meldepflichten umfassen i. d. R. die Pflicht, den neuen Informationen über das Produkt bereits eine eigene Risikobewertung beizufügen,54 bzw. setzen eine Risikobewertung voraus, wenn z. B. die Meldepflicht bei „gravierenden“ oder „folgeschweren Entwicklungen“ unverzüglich erfolgen muss.55 Gehen bei den Behörden Meldungen von dritter Seite ein, ist grundsätzlich zunächst die Einschätzung des Produktverantwortlichen einzuholen.56 Diesen treffen in der Stufe der Risikobewertung zahlreiche Mitwirkungspflichten, z. B. hat er den Behörden erforderliche Unterlagen, Rückstellmuster etc. zu überlassen sowie unter Umständen eigene Untersuchungen durchzuführen.57 Im Arzneimittelbereich wird z. B. gemein50 Vgl. z. B. die Entscheidung der Kommission 2010/15/EU vom 16. 12. 2009 zur Festlegung von Leitlinien für die Verwaltung des gemeinschaftlichen Systems zum raschen Informationsaustausch „RAPEX“ gem. Art. 12 und des Meldeverfahrens gem. Art. 11 der Richtlinie 2001/95/EG über die allgemeine Produktsicherheit (ABl. L 22, S. 1). Nähere Erläuterungen zu diesen Kriterien bei Sebastian Polly, Risikobewertungen – Kriterien für die Bewertung des von einem Verbraucherprodukt ausgehenden Risikos, StoffR 2012, S. 190 (191 ff.). 51 Im Arzneimittelrecht z. B. die Europäische Arzneimittelagentur und das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte, im Lebensmittelrecht die Europäische Behörde für Lebensmittelrecht und das Institut für Risikobewertung, im Produktsicherheitsrecht die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, im Chemikalienrecht die Bundesstelle für Chemikalien. 52 Zur Trennung von Risikomanagement und Risikobewertung in der Verwaltung siehe Martin Eifert, Innovationsverantwortung in der Zeit, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 369 (379 ff.); Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 31 f.; Brenner/Nehrig, Risiko im Recht (Fn. 3), S. 1028. 53 Siehe z. B. § 10 Satz 1 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23): „Die Risikobewertung erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Verantwortlichen nach § 5 MPG …“. 54 Siehe z. B. Art. 56 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 vom 21. 10. 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates (ABl. L 309, S. 1). 55 Arzneimittelrecht: § 29 Abs. 1f AMG, § 63c Abs. 1 und 2 AMG (Verdachtsfall einer schwerwiegenden Nebenwirkung, Verdachtsfall einer nicht schwerwiegenden Nebenwirkung), § 63d AMG (Unbedenklichkeitsberichte); Medizinprodukterecht: § 3 Abs. 6 Satz 2 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23); Lebensmittelrecht: Art. 19 Abs. 1 und 3 der BasisVO. 56 Siehe z. B. Art. 1 Ziff. 5.1 des AMG-Stufenplans (Fn. 23). 57 Siehe z. B. §§ 11, 12 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23).
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sam in einer Sondersitzung mit dem Produktverantwortlichen unter Beteiligung weiterer Akteure über die Risikobewertung beraten.58 Die Bewertungsphase weist somit starke diskursive Züge auf.59 Die Verpflichtung zur Zusammenarbeit in dieser Phase bedeutet nicht, dass hinsichtlich der Risikobewertung einvernehmliche Ergebnisse zwischen der Verwaltung und dem Produktverantwortlichen erzielt werden müssen. Die Einschätzung der Produktverantwortlichen fließt jedoch in die Risikobewertung der Behörden ein. Die Bewertungsphase endet regelmäßig mit einer Mitteilung an den Produktverantwortlichen60 und ggf. der Information der Öffentlichkeit über das Ergebnis.61 Durch das Zusammenwirken von Behörden und Produktverantwortlichen soll vor allem sichergestellt werden, dass im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher eine objektive transparente Risikobewertung vorgenommen wird.62 Die Kooperation dient dazu, das Wissen auf beiden Seiten zu erweitern. Die Verwaltung kann auf das Sonderwissen des Produktverantwortlichen zurückgreifen, dieser kann seinerseits von dem Sachverstand der europäischen und nationalen Wissensbehörden profitieren. Gleichzeitig unterliegt der Produktverantwortliche in seinem Marktverhalten einer gewissen Kontrolle durch die Verwaltung. 3. Risikomanagement Die Risikobewertung leitet über in das Verfahren zur Entscheidung über Maßnahmen des Risikomanagements. Zu entscheiden ist, ob und welche Maßnahmen zur Risikominimierung zu treffen sind.63 Die Behörden können im Rahmen dieses Entscheidungsverfahrens auf die klassischen hoheitlichen Überwachungsinstrumente zurückgreifen. Im Fall zulassungspflichtiger Produkte kommt das Ruhen der Zulassung, in besonders gravierenden Fällen sogar der Widerruf der Zulassung in Betracht.64 Die Überwachungsbehörden können – insbesondere in Eilfällen – eigene Maßnahmen veranlassen wie z. B. die Sicherstellung des Produktes, vorübergehende Verkehrsverbote oder gar den Rückruf des auf dem Markt befindlichen Produkts.65 58 Art. 1 Ziff. 9.1 des AMG-Stufenplans (Fn. 23). Näher zu diesem kooperativen Verfahren in der Risikobewertung von Arzneimitteln Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 247 f. 59 So für das Arzneimittelrecht Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 249. 60 Siehe z. B. § 13 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23). 61 Siehe z. B. Art. 1 Ziff. 10 des AMG-Stufenplans (Fn. 23). 62 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 248 für den Arzneimittelbereich. 63 Eine Legaldefinition des Risikomanagements enthält Art. 3 Nr. 12 der BasisVO. Näher zum Begriff Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 32; Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 112 f. 64 Siehe z. B. § 30, § 69 Abs. 1a Satz 4 AMG. 65 Medizinprodukterecht: § 26 Abs. 2 Satz 4 MPG; § 28 Abs. 1 und 2 MPG; § 15 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23); Lebensmittelrecht: § 39 Abs. 2 LFGB;
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Allerdings sollen die Behörden von diesen ordnungsrechtlichen Instrumenten nur subsidiär Gebrauch machen.66 Der Gesetzgeber setzt in allen Produktbereichen beim Risikomanagement auf die Eigenverantwortung der Produktverantwortlichen, denen vorrangig die Entscheidung über die notwendigen Managementmaßnahmen obliegt.67 Um ein effektives Risikomanagement der Produktverantwortlichen von vornherein sicherzustellen, haben diese im Fall zulassungspflichtiger Produkte heute inzwischen regelmäßig dem Antrag auf Zulassung einen Plan zum betrieblichen Risikomanagement beizufügen, der im Rahmen des Zulassungsverfahrens von der Behörde geprüft wird.68 Bei nicht zulassungspflichtigen Produkten ist den Produktverantwortlichen z. T. gesetzlich aufgegeben, angemessene Vorkehrungen für das Risikomanagement zu treffen,69 d. h. innerhalb der Unternehmensorganisation ein funktionsfähiges Risikomanagementsystem zu errichten.70 Charakteristisch für die dritte Stufe des Risikomanagements ist somit ein weitgehend konsensuales Handeln zwischen Behörden und Produktverantwortlichen.71 Die Behörden treten mit dem Produktverantwortlichen in Verhandlungen über die zu treffenden Risikomanagementmaßnahmen.72 I.d.R. sprechen die Behörden Empfehlungen an den Produktverantwortlichen für angezeigte korrektive Maßnahmen aus73, Arzneimittelrecht: § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 und Satz 3, Abs. 4 AMG; Gentechnikrecht: § 26 GenTG; Chemikalienrecht: § 23 Abs. 2 ChemG. 66 Siehe z. B. § 15 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23); § 39 LFGB. Unklar ist die Rechtslage im neuen Produktsicherheitsgesetz aufgrund des Wortlauts in § 26 Abs. 4 ProdSG, nachdem eine dem § 8 Abs. 5 GPSG vergleichbare Vorschrift nicht in das Produktsicherheitsgesetz aufgenommen wurde. Weithin wird jedoch die Auffassung vertreten, dass auch weiterhin neben freiwilligen Maßnahmen des Produktverantwortlichen kein Raum für behördliche Eingriffsmaßnahmen ist, wenn diese freiwilligen Maßnahmen ausreichend sind, vgl. Thomas Klindt, Ein Jahr neues Produktsicherheitsgesetz – Bedeutung für die Automotive-Industrie, BB-Sonderausgabe: Recht – Automobil – Wirtschaft, 2013, S. 6 (10); vgl. auch Kapoor/Klindt, Das neue deutsche Produktsicherheitsgesetz (Fn. 11), S. 724; Sebastian Polly/Sebastian Lach, Das neue Produktsicherheitsgesetz – was Wirtschaftsakteure beachten sollten, BB 2012, S. 71 (73 f.). 67 Siehe z. B. § 14 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23); Art. 19 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 17 Abs. 1 BasisVO. 68 Siehe z. B. § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5a AMG. 69 Siehe z. B. § 6 Abs. 2 ProdSG; § 14 Abs. 1 Satz 3 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23). 70 Ausführlich zu solchen betrieblichen Risikomanagementsystemen Thomas Klindt/Susanne Wende, Rückrufmanagement – Ein Leitfaden für die professionelle Abwicklung von Krisenfällen, 3. Aufl., 2014; vgl. auch Jürgen Fluck/Silke Sechting, Öffentlich-rechtliches Verbraucherschutz- und Produktsicherheitsrecht. Die Novellen der EG-Produktsicherheitsrichtlinie und des deutschen Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes, DVBl. 2004, S. 1392 (1401). 71 Vgl. Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 43. 72 Vgl. Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 185. 73 Vgl. z. B. die Empfehlungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte für Kundeninformationsschreiben im Falle von notwendigen korrektiven Maßnahmen durch
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d. h. sie übernehmen eine Beratungsfunktion. Nur für den Fall, dass der Produktverantwortliche nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, selbst Maßnahmen durchzuführen, werden sie tätig. Die Verhandlungen über die zu treffenden Risikomanagementmaßnahmen münden in der Praxis dementsprechend häufig in informelle Absprachen zwischen den Behörden und dem Produktverantwortlichen.74 Dieser wird zu eigenen Maßnahmen greifen, weil er weiß, dass die Behörden ihrerseits mit dem ihnen zur Verfügung stehenden ordnungsrechtlichen Instrumentarium weit in seine unternehmerischen Freiheiten eingreifen können.75 Die vorrangige Verantwortung des Produktverantwortlichen für das Risikomanagement ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips.76 Dem betroffenen Produktverantwortlichen wird die Möglichkeit gegeben, mit marktwirtschaftlichen Instrumenten auf eine Risikominimierung hinzuwirken. Er kann staatliche Maßnahmen abwenden, indem er selbst handelt, und damit seine Interessen wahren, weil er flexibler und damit marktkonformer reagieren kann. Die Letztverantwortung verbleibt jedoch bei den Behörden.77
III. Besonderheiten der nachmarktlichen Produktbeobachtung gegenüber dem klassischen Verwaltungsverfahren Gegenüber dem klassischen ordnungsrechtlichen Verfahren weist das Verfahren der nachmarktlichen Produktbeobachtung einige Besonderheiten auf, die typisch für die Risikoverwaltung sind.78 Es handelt sich um ein dauerhaftes Rechtsverhältnis zwischen Behörden und den Produktverantwortlichen (1.) mit z. T. starken kooperativen Elementen (2.), eingebunden in komplexe Verwaltungsstrukturen (3.). Kennzeichnend neben informellen Absprachen zwischen den Behörden und den Produktverantwortlichen (4.) sind vorläufige Regelungsentscheidungen (5.). Dabei setzt der Gesetzgeber auf weitgehende Transparenz (6.).
den Produktverantwortlichen unter http://www.bfarm.de/SharedDocs/Formulare/DE/Medizin produkte/VorlageHersteller.html?nn= 3495448 (zuletzt abgerufen am 26. 4. 2015). 74 Vgl. Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 42 ff. Beispiele bei Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 327, 328 f. 75 Vgl. Jörg Schickert, in: Kügel/Müller/Hofmann (Fn. 30), § 63 Rn. 11; Hohm, Arzneimittelsicherheit (Fn. 16), S. 242 f. 76 Vgl. Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 185 für das Produktsicherheitsrecht; Alfred Hagen Meyer, in: Alfred Hagen Meyer/Rudolf Streinz (Hrsg.), LFGB-BasisVO-HCVO, Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 6 BasisVO Rn. 25 f. für das Lebensmittelrecht. 77 Siehe z. B. § 15 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23). 78 Zu den Charakteristika des Risikoverwaltungsverfahrens siehe Rolf Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 18. Aufl., 2015, S. 243 f. Ausführlich Hans Christian Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren, in: Wolfgang Hoffman-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II: Informationsordnung – Verwaltungsverfahren – Handlungsformen, 2. Aufl., 2012, § 30 Rn. 30, 34 ff.
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1. Nachmarktliche Produktbeobachtung als Dauerrechtsverhältnis Bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung handelt es sich um ein Dauerrechtsverhältnis.79 Es ist auf die kontinuierliche Prüfung und Feststellung angelegt, ob die im Markt befindlichen Produkte als sicher gelten können.80 Es handelt sich um ein längerfristiges Verhältnis gegenseitiger Pflichten und Rechte,81 in dem getroffene Entscheidungen überprüft und revidiert werden können. Jens-Peter Schneider82 spricht von „Verfahrensketten“ in Gestalt aufeinander aufbauender und einander modifizierender Entscheidungen. Insoweit weicht es vom Standardverfahren des § 9 VwVfG ab, das auf eine abschließende Entscheidung gerichtet ist.83 Im Falle einer Zulassungsentscheidung führt die Nachmarktbeobachtung zu einem systematischen, dauerhaften Entscheidungsmonitoring, d. h. einer Evaluation der getroffenen Zulassungsentscheidung84 (akzessorisches Monitoring). Wie gesehen,85 wird das Nachmarktkontrollverhältnis in diesen Fällen durch Anforderungen an und Auflagen zur Zulassungsentscheidung in besonderer Weise vorstrukturiert. Aber auch ohne eine Zulassungsentscheidung wird mit dem Bereitstellen des Produkts im Markt ein dauerhaftes Verhältnis zwischen den Behörden und den Produktverantwortlichen begründet (nicht akzessorisches Monitoring), wenn – wie inzwischen fast immer im Risikorecht – nach dem Bereitstellen des Produkts im Markt eine systematische Produktbeobachtung durch die Behörden im Zusammenwirken mit den Produktverantwortlichen vorgeschrieben ist. In diesen Fällen ist die Nachmarktbeobachtung auf die kontinuierliche Evaluation der gesetzgeberischen Entscheidung für die freie Marktzugänglichkeit des Produkts gerichtet. 2. Kooperative Informationsermittlung Das Nachmarktbeobachtungsverfahren ist gekennzeichnet durch die gemeinsame Informationsermittlung der verfahrensführenden Behörde und des Produktverantwortlichen. Das Fachrecht sieht somit über die bloßen Mitwirkungsobliegenheiten des § 26 VwVfG hinausgehende Mitwirkungspflichten des Produktverantwortlichen 79 Zur Überwachung im weiteren Sinn als Dauerrechtsverhältnis siehe Peter M. Huber, Überwachung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III: Personal – Finanzen – Kontrolle – Sanktionen – Staatliche Einstandspflichten, 2. Aufl., 2013, § 45 Rn. 109 f. 80 Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 211; Wolfgang Köck, Risikoverwaltung und Risikoverwaltungsrecht – das Beispiel des Arzneimittelrechts, UFZ-Diskussionspapiere, No. 8/ 2003, S. 15. 81 Rolf Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, S. 119 ff. 82 Jens-Peter Schneider, Innovationsverantwortung in Verwaltungsverfahren, in: Eifert/ Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 287 (299). 83 Vgl. Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren (Fn. 78), § 30 Rn. 27. 84 Schneider, Innovationsverantwortung (Fn. 82), S. 299 f. 85 Siehe oben unter II.1.
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bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung vor.86 Vom Grundmodell des in § 24 VwVfG vorgesehenen Amtsermittlungsgrundsatzes wird insoweit abgewichen.87 Das Zusammenwirken von verfahrensführender Behörde und Produktverantwortlichem erweist sich als sinnvoll, da die Behörde im Risikobereich für die Wissensgenerierung auf die Informationen des Produktverantwortlichen angewiesen ist.88 Problematisch ist aber, dass die dem Produktverantwortlichen obliegenden Informationspflichten häufig seinen wirtschaftlichen Interessen entgegenstehen und diesen daher zu einer ihm günstigen Sachverhaltsdarstellung veranlassen werden.89 Die auch als Selbstanzeige-90 oder Selbstanschwärzungspflicht91 bezeichnete Meldepflicht trägt daher eher nicht zur Kooperationsbereitschaft bei der Informationsermittlung bei.92 Sie wird in der Praxis häufig als kontraproduktiv kritisiert.93 Dieser Gefahr wird jedoch durch die parallele Informationsermittlung der Behörden unter Einbindung Dritter (Ärzteschaft, Verwender des Produkts) begegnet.94 Zudem ist z. T. ausdrücklich vorgesehen, dass die vom Produktverantwortlichen gemeldeten Informationen nicht zur straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Verfolgung verwendet werden dürfen,95 sie also einem Verwertungsverbot im Strafprozess unterliegen.96
3. Nachmarktliche Produktbeobachtung im „Verwaltungsverbund“ Bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung sind die Verantwortlichkeiten auf Seiten des Staates auf mehrere Verwaltungsstellen – meist über mehrere Verwal86
Wie i. d. R. bereits schon im Produktzulassungsverfahren. Allgemein Jens-Peter Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (Fn. 78), § 28 Rn. 38. 87 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 457 für das Arzneimittelrecht. Vgl. allgemein zur Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes bei Entscheidungen unter Unsicherheit Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren (Fn. 78), § 30 Rn. 26 f. 88 Siehe oben unter II.1. Allgemein zur kooperativen Wissensgenerierung Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren (Fn. 78), § 30 Rn. 24 ff. 89 Vgl. Schneider, Innovationsverantwortung (Fn. 82), S. 291. 90 Vgl. Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 194. 91 Begriff erstmalig verwendet von Thomas Klindt, Änderung der Produktsicherheitsrichtlinie in Vorbereitung, ZRP 2000, S. 419 (422). Vgl. auch Thomas Klindt, Der Vollzug des europäischen Produktsicherheitsrechts in Deutschland. Eine erste Bilanz, NVwZ 2008, S. 1073 (1076). 92 Vgl. Thomas Klindt, Das neue Geräte- und Produktsicherheitsgesetz, NJW 2004, S. 465 (469). 93 Vgl. Klindt, Das neue Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (Fn. 92), S. 469. 94 Vgl. Schneider, Innovationsverantwortung (Fn. 82), S. 291; Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren (Fn. 86), § 28 Rn. 38. 95 Vgl. z. B. § 6 Abs. 4 Satz 3 ProdSG; § 21 Abs. 6 GenTG. 96 Vgl. Fluck/Sechting, Öffentlich-rechtliches Verbraucherschutz- und Produktsicherheitsrecht (Fn. 70), S. 1401.
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tungsebenen – verteilt. Die beteiligten Behörden wirken in einem Verbund97 zusammen. Der Produktverantwortliche sieht sich im Monitoringverfahren mehreren Verwaltungsstellen gegenüber. Seine Melde- und Informationspflichten bestehen nicht nur einer Behörde gegenüber, sondern besondere Vorkommnisse sind i. d. R. gleichzeitig den zentralen Wissensbehörden der EU und des Bundes sowie den Landesüberwachungsbehörden anzuzeigen.98 Im Fall zulassungspflichtiger Produkte kann die Verfahrensführung gleichzeitig bei der zentralen Zulassungsbehörde sowie den Überwachungsbehörden liegen, wenn z. B. neben klassischen Überwachungsmaßnahmen auch das Ruhen oder gar der Widerruf der Zulassung in Betracht gezogen wird.99 Die Überwachungsbehörden auf Landesebene sind i. d. R. gehalten, vor einer Maßnahme gegen den Produktverantwortlichen die Risikobewertung durch die zentrale Wissensbehörde einzuholen, an die sie gebunden sind oder von der sie jedenfalls kaum abweichen werden. Bestimmte Risikomanagementmaßnahmen bedürfen gar der Zustimmung der höheren Verwaltungsebene, z. B. der Europäischen Kommission.100 In diesem Verwaltungsverbund können i. d. R. alle beteiligten Stellen auf die Mitwirkung der Produktverantwortlichen zurückgreifen.101 Aus Sicht der Produktverantwortlichen scheinen demnach die Verantwortlichkeiten der verschiedenen beteiligten Verwaltungsstellen zu verschwimmen. Dem begegnet der Gesetzgeber jedoch mit detaillierten Koordinierungspflichten der beteiligten Stellen.102 Die Beiträge der einzelnen Verwaltungsstellen sind gesetzlich klar umschrieben. Insbesondere die Eingriffsbefugnisse sind den Verwaltungsstellen genau zugewiesen.103 Eingriffsentscheidungen gegenüber dem Produktverantwortlichen lassen sich eindeutig auf eine Behörde zurückführen, so dass sich durch das Verbundverfahren insbesondere keine Rechtsschutznachteile für den durch die Entscheidung betroffenen Produktverantwortlichen ergeben. Dieser kann gegen die gegen ihn ergehenden Risikomanagemententscheidungen gerichtlich vorgehen und die einzelnen Handlungsbeiträge der beteiligten Behörden im Rahmen dieses Gerichtsverfahrens überprüfen lassen.
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Vgl. allgemein Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren (Fn. 78), § 30 Rn. 46. Vgl. z. B. § 63c Abs. 2 AMG, wenn ein Verdachtsfall einer schwerwiegenden Nebenwirkung in einem Drittland aufgetreten ist; § 3 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23). 99 Z. B. im Arzneimittelrecht bei plötzlich auftretenden gravierenden Nebenwirkungen eines zugelassenen Arzneimittels, vgl. § 69 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Satz 2, Abs. 12 Satz 4 AMG. 100 Vgl. z. B. § 26 Abs. 5 Satz 3 GenTG; § 69 Abs. 1a Satz 4 AMG. 101 Z. B. auch die zentralen Wissensbehörden in der Phase der Risikobewertung, vgl. z. B. § 11 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23). 102 Vgl. z. B. Art. 1 Ziff. 4.2 und 4.3, 5.1 und 7 des AMG-Stufenplans (Fn. 23); §§ 19 ff. der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23). 103 Vgl. den Maßnahmenkatalog in Art. 1 Ziff. 6 des AMG-Stufenplans (Fn. 23) unter Verweis auf die Regelungen im Arzneimittelgesetz. 98
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4. Informelle Absprachen als Handlungsform im nachmarktlichen Produktbeobachtungsverfahren Anders als ein klassisches Verwaltungsverfahren mündet die nachmarktliche Produktbeobachtung vielfach nicht in den Erlass eines Verwaltungsakts oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages (§ 9 VwVfG), sondern nicht selten kommt es zu freiwilligen informellen Absprachen zwischen der verfahrensführenden Behörde und dem Produktverantwortlichen.104 In der Praxis häufig ist z. B. eine Vereinbarung zwischen einem Arzneimittelhersteller und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als zuständiger Zulassungsbehörde, mit der sich der Hersteller verpflichtet, das Anwendungsgebiet des Arzneimittels einzuschränken, und das Bundesinstitut im Gegenzug zusagt, von einseitigen Eingriffsmaßnahmen gegen den Hersteller abzusehen.105 Wie gesehen, ist das Produktbeobachtungsverfahren vom Gesetzgeber als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bewusst auf eine konsensuale Entscheidung angelegt.106 Solche Absprachen lassen sich gerade nicht als Verwaltungsverträge im Sinne von § 54 VwVfG einordnen, sondern werden von beiden Seiten als informelle regelungsabwendende Absprachen verstanden.107 Solche informellen Absprachen erweisen sich für beide Seiten im Bereich der nachmarktlichen Produktbeobachtung als vorteilhaft, da sie schnelle Reaktionen auf eine veränderte Wahrnehmung des Produktrisikos möglich machen.108 Auch begegnen sie keinen rechtsstaatlichen Bedenken.109 Durch die gesetzlich z. T. vorgesehene Partizipation betroffener Fachkreise wie z. B. im Stufenplan des Arzneimittelrechts und die frühzeitige Information an die Öffentlichkeit (bereits in der Stufe der Informationssammlung) ist sichergestellt,110 dass die Verwaltung auch bei solchen informellen Vorgehensweisen dem Gemeinwohl verpflichtet bleibt und nicht vorrangig auf die Wirtschaftsinteressen des Produktverantwortlichen Rücksicht nimmt. Der 104 Allgemein zu informellen Absprachen im Verwaltungsvollzug Michael Fehling, Informelles Verwaltungshandeln, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Die Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (Fn. 78), § 38 Rn. 34 f. 105 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 328. 106 Siehe oben II.3. Diese konsensuale Vorgehensweise soll im Produktsicherheitsrecht nach den Entwürfen der Kommission für ein „Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket“ sogar weiter ausgebaut werden, vgl. Art. 9 Ziff. 3 Abs. 1 Satz 2 des Vorschlags für eine Verordnung über die Marktüberwachung von Produkten vom 13. 2. 2013 (Fn. 14): „Die Marktüberwachungsbehörden können dem betreffenden Wirtschaftsakteur die zu ergreifenden Korrekturmaßnahmen empfehlen oder sich mit ihm darauf einigen.“ (Hervorhebung durch Verf.). Näher zu dieser Vorgehensweise Polly, Vorschlag (Fn. 14), S. 1165. 107 Für das Arzneimittelrecht siehe Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 327 ff. 108 Siehe oben unter II. 109 Vgl. Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., 2011, § 15 Rn. 19 ff. Umfassend zur rechtlichen Beurteilung informeller Absprachen Fehling, Informelles Verwaltungshandeln (Fn. 104), § 38 Rn. 67 ff. 110 Vgl. allgemein zu den in Betracht kommenden funktionalen Sicherungen bei informellen Absprachen Fehling, Informelles Verwaltungshandeln (Fn. 104), § 38 Rn. 99 ff.
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Produktverantwortliche ist seinerseits hinreichend geschützt. Für ihn stellt sich natürlich die Frage nach der Verbindlichkeit einer mit der Verwaltung getroffenen Absprache. Durch sein Nachgeben gegenüber den Forderungen der Behörde vertraut er darauf, dass diese bei Erfüllung ihrer Forderungen zur Risikominderung auf einseitig-hoheitliche Maßnahmen verzichten wird.111 In diesem Vertrauen ist er geschützt, weil weitergehende einseitig-hoheitliche Maßnahmen der Verwaltung nach Erfüllung der staatlichen Forderungen entgegen der Absprache bei gleichbleibender Erkenntnislage über die Risiken des Produkts am Verhältnismäßigkeitsgebot scheitern würden. 5. „Vorläufige“ Regelungsentscheidungen im nachmarktlichen Produktbeobachtungsverfahren Typisch für die nachmarktliche Produktbeobachtung sind neben informellen Absprachen auch vorläufige Regelungsentscheidungen,112 z. B. durch eine Befristung oder Bedingung der Anordnung gegenüber dem Produktverantwortlichen. Eine vorläufige Regelungsentscheidung kommt dann in Betracht, wenn aufgrund neuer Erkenntnisse über das Produkt ein erhöhtes Risikopotenzial nicht ausgeschlossen werden kann, die Bewertung aber noch nicht abgeschlossen ist. Bei zulassungspflichtigen Produkten führt dies häufig zu einem Ruhen der Zulassung, bei zulassungsfreien Produkten zu vorläufigen Verkehrsverboten. Teilweise ist diese Vorgehensweise unionsrechtlichen Vorgaben geschuldet. So dürfen die nationalen Behörden im Gentechnikrecht aufgrund von Informationen, die Auswirkungen auf die Risikobewertung des Produkts haben, nur vorläufige Maßnahmen treffen, d. h. lediglich das Ruhen der Genehmigung anordnen113 bzw. in Eilfällen lediglich ein vorläufiges Verkehrsverbot aussprechen114, bis die Europäische Kommission endgültig entschieden hat. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Binnenmarkts nicht durch nationale Schutzmaßnahmen beeinträchtigt wird.115 Vorläufige Regelungsentscheidungen können nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geboten sein.116 Dieser verlangt nicht nur eine materielle Beschränkung auf das zur Risikominderung Notwendige, sondern verpflichtet auch zu einer formell adäquaten Handlungsform.117 Den Sicherheitsinteressen der Verbraucherinnen und Verbraucher wird mit einer vorläufigen Regelungsentscheidung ausreichend Rech111
Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 328 f. Zur Rechtsfigur des vorläufigen Verwaltungsakts näher Christian Bumke, Verwaltungsakte, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Die Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (Fn. 78), § 35 Rn. 110 ff. 113 § 20 Abs. 2 GenTG. 114 § 26 Abs. 5 Sätze 2 und 3 GenTG. 115 Zu den Schutzklauseln im Europäischen Unionsrecht siehe Wolfgang Kahl, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., 2011, Art. 114 Rn. 78 ff. 116 Für das Arzneimittelrecht siehe Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 319. 117 Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 3), S. 319. 112
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nung getragen; der Produktverantwortliche seinerseits kann eine Korrektur der gegen ihn ergangenen Entscheidungen verlangen, wenn die Risikobewertung später eine für sein Produkt günstige Prognose ergibt. Der vorläufige Verwaltungsakt ermöglicht somit eine angemessene Reaktion auf die besondere Dynamik im nachmarktlichen Beobachtungsverfahren. Der Produktverantwortliche verliert zwar den üblicherweise bei Verwaltungsentscheidungen nach §§ 48, 49 VwVfG gewährleisteten Vertrauensschutz. Dies wird aber durch seine z. T. weitreichenden Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Risikobewertung kompensiert. 6. Information der Öffentlichkeit Charakteristisch für die nachmarktliche Produktbeobachtung ist schließlich eine für das klassische Verwaltungsverfahren weitgehend neue Informationstätigkeit der Behörden gegenüber der Öffentlichkeit. In Abkehr von § 29 VwVfG sind die Behörden zur Veröffentlichung neuer Produktinformationen sowie zur Unterrichtung über die bereits von ihnen oder dem Produktverantwortlichen getroffenen Maßnahmen verpflichtet.118 Der Geheimhaltungsanspruch des § 30 VwVfG gilt nicht uneingeschränkt. Die Veröffentlichung dieser Informationen dient dem Verbraucherschutz. Den Verbraucherinnen und Verbrauchern wird es ermöglicht, auf der Grundlage dieser allgemein gehaltenen Produktinformationen eine eigene Risikoeinschätzung vorzunehmen und selbstbestimmt über Erwerb und Einsatz des risikoreichen Produkts zu entscheiden.119 Bei dieser Informationstätigkeit handelt es sich nicht um Warnungen, sondern um marktneutrale Wissenserklärungen in Form von Hinweisen.120 Die Veröffentlichung solcher allgemeinen Produktinformationen geht wegen der damit verbundenen negativen Auswirkung auf die öffentliche Wahrnehmung des Unternehmens gegen die Interessen des Produktverantwortlichen, insbesondere wenn noch keine abschließende Risikobewertung erfolgt ist. Die gesetzlich vorgesehene Informationstätigkeit kann sich daher negativ auf die Meldebereitschaft der Produktverantwortlichen auswirken. Das Fachrecht hat jedoch verschiedene Vorkehrungen zum Schutz der Interessen der Produktverantwortlichen getroffen. Grundsätzlich besteht eine Informationspflicht nur in Gefahrverdachtsfällen, d. h. bei Verdacht auf von dem Produkt ausgehende Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der Verwender, so dass Bagatellrisiken nicht einer Veröffentlichungspflicht unterliegen.121 Darüber hinaus schränkt das Fachrecht den Grundsatz der Veröffentlichung in Bezug auf personenbezogene Daten ein.122 Sofern durch die Veröffentlichung der 118 Art. 1 Ziff. 10 des AMG-Stufenplans (Fn. 23); § 24 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23), § 31 ProdSG. 119 Ausführlich Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 224 ff. 120 Carsten Schucht, in: Klindt, Produktsicherheitsgesetz (Fn. 17), § 26 Rn. 218. 121 Z. T. streitig, vgl. Susanne Wende, in: Klindt, Produktsicherheitsgesetz (Fn. 17), § 31 Rn. 11. 122 § 24 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (Fn. 23); § 31 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Abs. 2 ProdSG.
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Produktinformationen Betriebs- oder Geschäftsgeheimisse offenbart werden, ist der Betroffene vorher anzuhören.123 Schließlich haben die Behörden Fehlinformationen richtig zu stellen, sofern der Betroffene mit einer solchen öffentlichen Korrektur einverstanden ist.124 Er kann selbst darüber befinden, ob eine Korrektur sich positiv oder doch eher nochmals negativ auf sein Produkt auswirkt, weil es erneut in den Zusammenhang mit einer Gefahrensituation gebracht wird. Wurde die Öffentlichkeit über bereits getroffene Maßnahmen informiert, ist sie auch über jede Änderung oder die Aufhebung der Maßnahme zu unterrichten.125
IV. Privatisierung der nachmarktlichen Produktbeobachtung? Wie gesehen, sind den Produktverantwortlichen bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung wichtige Aufgaben zugewiesen, der Staat bleibt jedoch mitbzw. letztverantwortlich. Er ist selbst mit seinen Behörden um das Sammeln von Informationen bemüht, organisiert die Risikobewertung und trägt insbesondere beim Risikomanagement die Letztverantwortung. Dies gilt für fast alle der in den Blick genommenen Produktbereiche. Selbst im europäischen Chemikalienrecht, das auf weitgehende Regulierung durch die Produktverantwortlichen setzt, behält sich der Staat den Rückgriff auf hoheitlich-imperative Handlungsinstrumente vor.126 Gerade mit Blick auf die Entwicklungen im europäischen Chemikalienrecht wird vereinzelt vorgeschlagen, die staatlichen Verantwortlichkeiten bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung gänzlich, jedenfalls weitergehend durch eigene Risikovorsorge der Produktverantwortlichen zu ersetzen (1.). Denkbar wären auch gesellschaftlich regulierte Vigilanzsysteme (2.). Solche Lösungen scheinen attraktiv, könnten sie doch weitgehende Entlastungen für den Staat zur Folge haben.127 Dennoch sind sie kritisch zu bewerten. Die Verpflichtung des Staates auf das Gemeinwohl und die Schutzpflichten für Leben und Gesundheit128 erfordern, dass der Staat primär für die nachmarktliche Produktbeobachtung zuständig bleibt.
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§ 31 Abs. 2 ProdSG. § 31 Abs. 5 ProdSG. 125 Art. 1 Ziff. 10.2 des AMG-Stufenplans (Fn. 23). 126 Ausführlich Eckhard Pache, Innovationsverantwortung im Chemikalienrecht, in: Eifert/ Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 251 (261 f.); Führ/Bizer, Zuordnung der Innovations-Verantwortlichkeiten (Fn. 13), S. 307 f. 127 Vgl. Rolf Stober, Customer Relationship Management, Risikomanagement und Wirtschaftsverwaltungsmanagement, DÖV 2005, S. 333 (335). 128 Siehe oben unter I. 124
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1. Ersetzung der staatlichen Produktbeobachtung durch eigene Risikovorsorge der Produktverantwortlichen? Einige Ansätze gehen dahin, die Verantwortlichkeiten für die nachmarktliche Produktbeobachtung (fast) vollständig auf die Produktverantwortlichen zu verlagern. Der Unternehmer sei für die Sicherheit eines Produkts, das er herstelle, einführe oder verkaufe, verantwortlich.129 Mit seinen Überwachungsmaßnahmen reagiere der Staat auf ein Marktversagen, das auf eine Informationsasymmetrie zwischen Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbrauchern zurückzuführen sei.130 Diese Informationsasymmetrie könne durch die stärkere Inpflichtnahme der Produktverantwortlichen aufgehoben werden, so dass es staatlicher Maßnahmen der Nachmarktkontrolle nicht mehr oder weitgehend nicht mehr bedürfe.131 Vorgeschlagen wird, durch die Verpflichtung der Unternehmen zur Einführung spezifischer kundenorientierter Managementsysteme (z. B. Customer Relationship Management oder spezifische Risikomanagementsysteme) den unternehmerischen Beitrag zur Risikovorsorge zu stärken.132 Solche betriebswirtschaftlich ausgestalteten Managementsysteme133 gehören heute schon bei vielen Unternehmen zu ihrer Service- und Marketingstrategie.134 Wie gesehen, ist diese Entwicklung bereits vom Gesetzgeber aufgegriffen worden. So kann die Behörde im Fall eines zulassungspflichtigen Produkts dem Zulassungsinhaber ggf. auch nach der Zulassung aufgeben, ein Risikomanagementsystem im Betrieb einzuführen.135 Anknüpfungspunkt für eine stärkere Risikovorsorge des Unternehmers ist auch das Haftungsrecht.136 Durch eine bereichsspezifische Ausgestaltung des Haftungsrechts kann die Verantwortung stärker auf die Schultern der Unternehmen gelegt werden. In Betracht kommt neben einer Ausweitung der deliktischen Haftung und einer Erweiterung der Verkehrspflichten z. B. die Einführung einer Generalklausel für die Gefährdungshaftung bei innovativen Produkten nach ausländischem Vorbild.137 Diese Ansätze sind durchaus geeignet, die Produktverantwortlichen zu einer stärkeren eigenen Risikovorsorge anzuhalten. Die verpflichtende Einführung betriebs129
Vgl. z. B. Art. 17 Abs. 1 BasisVO. Vgl. Stober, Customer Relationship Management (Fn. 127), S. 338. 131 Vgl. Stober, Customer Relationship Management (Fn. 127), S. 338. 132 Stober, Customer Relationship Management (Fn. 127), S. 333. 133 Nähere Beschreibung bei Trenkler, Risikoverwaltung (Fn. 3), S. 27 f. 134 Vgl. auch Thomas Klindt, Rückrufmanagement als Bestandteil unternehmerischer Compliance – Zehn Empfehlungen für die industrielle Praxis, Corporate Compliance Zeitschrift 2008, S. 81; Thomas Klindt, Nicht-börsliches Compliance-Management als zukünftige Aufgabe der Inhouse-Juristen, NJW 2006, S. 3399. 135 Vgl. z. B. § 28 Abs. 3b Satz 1 Nr. 1 AMG. 136 Hierzu Anne Röthel, Zuweisung von Innovationsverantwortung durch Haftungsregeln, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung (Fn. 2), S. 335. 137 Ausführlich zu diesem Vorschlag Röthel, Zuweisung (Fn. 136), S. 351 ff. 130
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wirtschaftlicher Konzepte kann die Informationsasymmetrie zwischen den Unternehmern und den Verbraucherinnen und Verbrauchern jedoch nicht aufheben, da sie vorrangig das Interesse des Unternehmens im Blick haben. Das Haftungsrecht kann zwar wesentliche Anreize zur Risikovorsorge setzen, aber wirkt letztlich nur repressiv.138 Auf eine zentrale Rolle des Staates bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung kann nicht verzichtet werden. Der Staat muss sich zumindest einen nachgelagerten repressiven Zugriff durch die Verwaltung vorbehalten, um die Einführung und Umsetzung solcher betriebswirtschaftlich angezeigten Managementsysteme kontrollieren und durchsetzen zu können (Stichwort: Kontrolle der Eigenkontrolle). Zudem muss er selbst über Wissen verfügen, um Steuerungsdefizite des Risikorechts zu entdecken und zu beheben. 2. Ersetzung der staatlichen Produktbeobachtung durch nicht staatliche Informationserfassungssysteme? Neben den staatlichen Informationssammlungs- und -erfassungssystemen existieren insbesondere im Arzneimittel- und Medizinproduktebereich nicht staatliche Spontanerfassungssysteme der Ärzte- sowie Apothekerschaft,139 aber auch der pharmazeutischen Industrie.140 Die Bundesverbände der pharmazeutischen Industrie haben spezielle Gremien eingerichtet, die sich mit dem Thema Arzneimittelsicherheit und Nebenwirkungsmeldungen befassen und den Mitgliedsunternehmen praktische Lösungsmöglichkeiten für ihre Betriebe aufzeigen. Insbesondere geben sie Empfehlungen für die Erstellung von Maßnahmeplänen bei Beanstandungen von Arzneimitteln und unterstützen die Unternehmen bei der Erstellung periodischer Beobachtungsberichte.141 Diese Praxis wirft die Frage auf, ob neben solchen nicht staatlichen Informationserfassungssystemen nicht auf eine staatliche Nachmarktkontrolle verzichtet werden kann. Solche Systeme der Selbstregulierung sind zwar hilfreich, bieten ohne Zweifel eine gute Ergänzung der staatlichen Monitoringmaßnahmen, können aber nicht die staatliche Produktbeobachtung ersetzen. Da gerade die Verbände der Unternehmen auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen, werden nicht alle Unternehmen, die risikoreiche Produkte herstellen etc., erreicht. Charakteristisch für die gesellschaftlich organisierten Vigilanzsysteme ist die punktuelle Erfassung spontaner Einzelbeobachtungen von neuen Erkenntnissen über die Produkte;142 hierin liegt das Wesen der Spontanerfassung – eine systematische Sichtung und Auswertung anwendungs138
Abwägend Röthel, Zuweisung (Fn. 136), S. 355 f. Jörg Schickert, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG-Kommentar (Fn. 30), Vor § 62 Rn. 5; näher Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen (Fn. 30), S. 179 ff. 140 Jörg Schickert, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG-Kommentar (Fn. 30), Vor § 62 Rn. 6; näher Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen (Fn. 30), S. 179 ff. 141 Einzelheiten bei Jörg Schickert, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG-Kommentar (Fn. 30), Vor § 62 Rn. 6. 142 Hohm, Arzneimittelsicherheit (Fn. 16), S. 297 ff., für den Arzneimittelbereich. 139
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bedingter neuer Risiken kann durch gesellschaftlich regulierte Informationserfassungssysteme kaum geleistet werden.
V. Ausblick Das in fast allen Produktbereichen kooperativ ausgestaltete nachmarktliche Produktbeobachtungssystem erweist sich als ausgewogenes System zur Sicherung des Gemeinwohls sowie zur Sicherung der wirtschaftlichen Interessen der Produktverantwortlichen im europäischen Binnenmarkt. Allerdings sind die Mitwirkungsrechte und -pflichten der Produktverantwortlichen in den einzelnen Produktbereichen sehr unterschiedlich ausgestaltet: Während im Arzneimittel-, Medizinprodukte- und zunehmend auch im Produktsicherheitsrecht eine sehr enge Kooperation zwischen Behörden und Produktverantwortlichen unter Steuerung der Verwaltung vorgesehen ist, erfolgt die nachmarktliche Produktbeobachtung im europäischen Chemikalienrecht zu einem erheblichen Teil eigenverantwortlich durch die Produktverantwortlichen. Warum in den Produktbereichen so unterschiedliche Vigilanzmodelle verfolgt werden, ist nicht eindeutig auszumachen. So könnte man denken, dass die Risikointensität eines Produkts eine enge Kooperation zwischen Behörden und Produktverantwortlichen nahelegt (Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht). Doch erstaunt dann der sehr stark auf die Eigenverantwortlichkeit ausgerichtete Ansatz im Chemikalienrecht. Entscheidend ist offenbar vor allem die Zahl der zu beobachtenden Produkte in den einzelnen Bereichen. Da die Zahl der Arzneimittel und Medizinprodukte im Markt überschaubar ist, ist eine enge Zusammenarbeit in diesen Produktbereichen bei der nachmarktlichen Produktbeobachtung möglich. Dagegen scheint ein enges Zusammenwirken in den anderen Produktbereichen angesichts der Vielzahl von Produkten kaum durchführbar, so dass der Gesetzgeber aus diesen Gründen die Verantwortung für die nachmarktliche Produktbeobachtung weitgehend den Produktverantwortlichen zuweist. Diese unterschiedliche Ausgestaltung der Kooperation von Staat und Produktverantwortlichen im nachmarktlichen Produktbeobachtungsverfahren überzeugt nicht. Sie lässt sich nicht mit den spezifischen Eigenarten der Produkte erklären. Sinnvoll wäre eine Angleichung der Regelungen zur Produktbeobachtung, z. B. in Form eines Stufenplanmodells, bei dem das Zusammenwirken der Produktverantwortlichen und der Behörden unter Berücksichtigung des jeweiligen Risikopotenzials der Produktkategorien in den einzelnen Stufen der Produktbeobachtung vergleichbar geregelt wird. Damit könnte ein erheblicher Beitrag zur Systematisierung des Rechts geleistet werden.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Ivo Appel, Universität Hamburg Prof. Dr. Martin Eifert, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Mario Hieke, Syndikusanwalt BayerHealth Care AG, Leverkusen Prof. Dr. Thomas Klindt, Rechtsanwalt und Partner Noerr LLP, München Prof. em. Dr. Michael Kloepfer, Humboldt-Universität zu Berlin, Präsident des Forschungszentrums Technikrecht Priv.-Doz. Dr. Birgit Schmidt am Busch, Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Tobias Teufer, Rechtsanwalt und Partner KROHN RAe, Hamburg Prof. Dr. Gerhard Wagner, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Sascha Werner, Syndiskusanwalt LANXESS Deutschland GmbH, Köln Dr. Achim Willand, Rechtsanwalt und Partner GGSC RAe, Berlin