Mit Pauken und Perücken: Die Lebenskünste der Herren Händel, Bach, Telemann und Mozart 9783412211806, 9783412210359


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Mit Pauken und Perücken: Die Lebenskünste der Herren Händel, Bach, Telemann und Mozart
 9783412211806, 9783412210359

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Markus Köhlerschmidt und Stefanie Voigt

Mit Pauken und Perücken Die Lebenskünste der erhabenen Herren Händel, Bach, Telemann und Mozart

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Umschlagabbildung : Von rechts nach links und oben nach unten: Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, Georg Philipp Telemann, Wolfgang Amadeus Mozart (Fotos: akg-images)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat : Katharina Krones Druck und Bindung : UAB BALTO print Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Lithuania ISBN 978-3-412-21035-9

Inhalt Geleitwort von Dorothee Oberlinger. . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Standort Barockmusik : Zwischen süß-brutalen Sphären und brutal-süßer Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Grundton : Gegensätze und Musikeinteilungen zwischen hier und dort. . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die sekundären Facetten  : Missionare , Ratten und kalte Finger. . . . . . . . . . . 1.3 Das Hauptthema : Die Erhabenheit und ihre Anfänge. . 1.4 Die Folgen : Die Quintessenz der Erhabenheit im 21. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Der entscheidende Unterschied : Gottesdienst und Herrschaftslob. . . . . . . . . . . . 1.6  Der Leiter fast oberes Ende : Das Lob des Künstlers. . 2 Händel oder die englische Erfindung des erhabenen Tonkünstlers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Offizielle Berichterstattung : Händel zwischen Erhabenheitstheorie und -praxis. . . . . . . . . . . . 2.2  Private Erhabenheiten : Wein , Weib , Gesang und Essen. 2.3 Der Auferstandene : Die Funktionalisierung von Not. . 2.4 Das Erbe : Zwischen Massenspektakel und historischer Aufführungspraxis. . . . . . . . . . . . . 3 Bach und die Geheimnisse der Harmonie : Der Komponist als Philosoph. . . . . . . . . . . 3.1 Bach und der schwere Beginn einer Legende. 3.2 Der Bachsche Kontrapunkt : Tod und Leben. 3.3  Bach und die Philosophie. . . . . . . . . . . 3.4 Bach und die Disharmonie. . . . . . . . . .

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4 Der ideengeschichtliche Zwischenbericht : Die dunkle Seite der Musik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

5  Telemann , der Vergessene. . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Von einem der auszog , das Fürchten zu lehren : Brockes und Telemann. . . . . . . . . . . . . . . . 5.2  Telemanns Philosophie auf offener Bühne. . . . . 5.3 Zwischen Hamburger Hölle und Pariser Paradies : Die Philosophie des gelebten Lebens. . . . . . . . 5.4 Und so lebte er bis an sein Lebensende : Ernst und Ironie der letzten Jahre. . . . . . . . . .

. . . . 85 . . . . 85 . . . . 90 . . . . 91 . . . . 96

6  Mozart , die musikalische Wunderkerze. . . . . . . . . . . . 6.1 Mozart als neu und alt. . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Mozart und die Philosophie zum Vater und zu Voltaire.. 6.3  Mozart auf dem Weg zur Erhabenheit. . . . . . . . . . 6.4  Mozarts Tod. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Erhabenes unter den Perücken. . . . . . . . . . . 7.1 Und die Moral von der Geschichte : Die Philosophien der Komponisten. . . . . . 7.2 Philosophie hinter Komponisten : Der lange Weg der Erhabenheit , Teil I. . . . 7.3 Der lange Weg der Erhabenheit , Teil II : Von 1900 bis heute. . . . . . . . . . . . . . 7.4 Probleme und Entwicklungen : Die Register der Erhabenheit im Vergleich. . 7.5  Warum Barock : Das barocke Gegengewicht. 7.6 Und zu guter Letzt : Ach , Bach !. . . . . . . .

102 102 108 114 126

. . . . . . 133 . . . . . . 133 . . . . . . 134 . . . . . . 137 . . . . . . 140 . . . . . . 142 . . . . . . 145

Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Quellen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 II. Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Geleitwort Welche Lebenswege und Leitsätze hatten Mozart , Bach , Händel und Telemann , was machte sie aus , wie nahmen ihre Zeitgenossen sie selbst und ihr Wirken wahr und was machte man in späterer Zeit daraus ? Wie wendeten Philosophen des 18. Jahrhunderts den Begriff der Erhabenheit auf sie an und was verstand man später unter der staunenswerten Erhabenheit ihrer Kunst und Person ? Dieses Buch gibt einen anschaulichen Einblick in Leben und Wirken dieser großen deutschen Komponisten und versucht , den sich durch die Jahrhunderte wandelnden Begriff der Erhabenheit in diesem Kontext zu definieren. Die Autoren Stefanie Voigt und Markus Köhlerschmidt entführen uns informativ , lehrreich und mit fundiertem wissenschaftlichen Hintergrund in vergangene Zeiten und stellen musikalische und philosophische Betrachtungen an , die mit kurzweiligen und zuweilen erheiternden Anekdoten gespickt sind. Die historisch informierte Aufführungspraxis erfreut sich einer stetig wachsenden Beliebtheit und die Musik des 18. Jahrhunderts ist nicht mehr aus heutigen Konzertsälen wegzudenken , so dass dieses Buch auch dem Musikliebhaber und Fan der barocken und klassischen Musik eine hilfreiche wie unterhaltsame Einführung bietet und für den geneigten lesenden Musikhörer zu den konkret angesprochenen Werken in den Fußnoten Hinweise auf bestimmte Einspielungen gibt. Dorothee Oberlinger Salzburg  , 4. 9. 2012

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Einleitung Mozarts Musik gilt als magisch , soll sie doch Kühe ergiebiger und Kinder klüger machen. Doch konnte Mozart schlimmer fluchen als alle Milchbauern Österreichs , weit obszöner , als es Kinder wissen sollten. Ihren Eltern wird vorenthalten , dass Bach in gelegentlicher Wut seine Perücke als Waffe zweckentfremdete. Welche Unmengen Händel zu essen und zu trinken pflegte , steht nie auf seinen Kompositionen. Selten ziert eine Händel-CD jene zeitgenössische Karikatur , die ihn als feistes Schwein an der Orgel vorführt. Und wer hat je davon gehört , dass Telemann Texte vertonte , die blutiger waren als heutige Splatter-Filme. Diese vier Männer waren die gefeiertesten Komponisten ihres Jahrhunderts , bis heute Ikonen der Musikgeschichte. Alle wurden sie zu ihrer Zeit „erhaben“ genannt , weil die Philosophen ihrer Zeit gerade dabei waren , Erhabenheit als Inbegriff alles Bewunderungswürdigen zu definieren. Dieser Begriff wurde dann im Laufe der Zeit zum wichtigsten Begriff der heutigen Ästhetiktheorie , wenn nicht gar der Mentalitätsgeschichte der Gegenwart. Dummerweise wird in den entsprechenden philosophischen Fachbüchern alles Mögliche als erhaben definiert : Schlimmstes , Obszönes und Gewalt , die man nie mit „Erhabenheit“ assoziieren würde. Zumindest nicht als NichtPhilosoph. Nicht alles , was derzeit in der Philosophie „erhaben“ genannt wird , kann als bewunderungswürdig überzeugen – dafür aber viel von dem , was diese vier Menschen vorgeführt haben. Denn dass sie so berühmt wurden , lag nicht nur an ihrer Musik. An was es sonst noch lag , führt dieses Buch vor. Dieses Buch versammelt Anekdoten zu den Komponisten Händel , Bach , Telemann und Mozart vor dem Hintergrund der Ideengeschichte des philosophischen Phänomens „Erhabenheit“. Dafür muss man von den Ratten in den Schlössern und der Kälte bei den Konzerten des 18. Jhdts. berichten. Oder davon , dass damals von „erhabenen Künstlern“ Normverletzungen erwartet wurden , wie zum Beispiel von Händel die Fress-Sucht. Darüber hinaus war er wohl wirklich erhaben genug , in seiner Kunst , um finanzielle Niederlagen oder die eigene Erblindung nicht als Schicksalsschläge , sondern als Herausforderungen zu sehen , und in ihrer Bewältigung erst die neuen Musikgattungen zu erschaffen , für die er berühmt wurde. Und wie anders sollte man es nennen , als erhaben , wenn der damals erfolgreichste die8

Einleitung

ser Vier , nämlich Telemann , eigentlich lieber Tulpen pflanzte anstatt zu musizieren. Mozarts Musik , sein Leben und sein Tod leiten über vom 18. Jhdt. in die Welt , in der wir heute leben , und er , Mörder des Barock , beendete nicht nur die Sitte , gepuderte Perücken zu tragen. Mit Mozart endet auch die Auflistung dieser vier Komponisten und ihrer jeweils verschiedenen Register an Erhabenheit. Sind all diese Geschichten und philosophischen Versatzstücke von Belang für die Musikgeschichte , die Philosophie oder die Menschheit ? Für alle drei Aspekte sei stellvertretend eine Geschichte von Bach erzählt , die Geschichte eines Hausmusikabends im Jahr 17471 : Der preußische König Friedrich der Große hatte Johann Sebastian Bach zu sich nach Potsdam eingeladen , und Bach hatte dafür eine zweitägige Fahrt von Leipzig aus auf sich genommen , oder vielleicht treffender , auf sich nehmen müssen. Denn diese Einladung konnte er nicht ablehnen , egal , wie schlecht Bachs Meinung von Friedrich war , und egal , wie verschieden die beiden waren. Der junge Friedrich war ein machtbewusster König , der die Vernunft über die Religion stellte und unangekündigte Kriege führte – im Gegensatz zu Bach. Der war ein lutherischer Organist , der Handgreiflichkeiten nur bei musikalischen Fachfragen gelten ließ. Friedrich mochte mehr als Menschen seine Hunde und er ließ ihnen Grabsteine setzen – wenn hingegen Bach an einem Grab stand , dann war es entweder das Grab seiner ersten Ehefrau oder eines seiner 13 früh verstorbenen von insgesamt 20 Kindern. Trotz aller Verschiedenheit waren Friedrich der Große und Bach aber beide stolz und standesbewusst und jeder auf seine eigene Art musikbesessen : Friedrich war neben seiner politischen Tätigkeit und seiner Berufung eines „Philosophenkönigs“ ein überzeugter Querflötist. Er spielte sogar auf dem Schlachtfeld , gab seinem Kammerdiener das Memo „Flöte , Pomade , Puder“2 aus und sammelte Flöten aus Holz , Walrosszahn , Elfenbein und Ebenholz , und er gab ihnen Namen. Und spielte , bis ihm die Zähne ausfielen. Friedrich hinterließ der Nachwelt 121 Flötensonaten und 4 Flötenkonzerte – im Direktvergleich zu Bachs 224 Kantaten , 24 Konzerten , 4 Passionen , 7 Motetten , 5 Messen , 6 einzelnen Messe-Sätze , 247 Werken für die Orgel , 46 kammermusikalischen 1 Vgl. hierzu Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 2 Vgl. Richter , Johannes ( Hg. ): Die Briefe Friedrichs des Grossen an seinen vormaligen Kammerdiener Fredersdorf , Berlin 1926 , S. 178 f.

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Einleitung

Werke , 9 kontrapunktischen Werke wie der Kunst der Fuge , 222 Werken für Klavier , 86 Liedern und Arien , 5 Orchestersuiten , 1 Magnificat , 1 Weihnachtsoratorium , 1 Osteroratorium und 240 anderen Werken und noch einigen Fragmenten. Das ergibt ein Gesamtwerk mit einer Spieldauer von 175 Stunden , also über einer Woche oder wie im Falle einer Gesamtaufführung der BBC im Jahr 1995 wegen zusätzlicher Einblendung der Nachrichten sogar 10 Tagen.3 Obwohl alleine schon diese quantitative Schaffensdiskrepanz bei kritischen Gemütern auch schon 1747 die Spekulation hätte aufkommen lassen können , dass Bach der größere der beiden Musiker sein könnte , war Friedrich von seiner musikalischen Übergröße überzeugt. Und von seinem Geschmack. Er bevorzugte leichte , im Fachjargon der Zeit „galante“ und zur vergnüglichen Erbauung gedachte Stücke. Bach hingegen schrieb komplexere Stücke , in denen zum Lob Gottes mathematische Strukturen göttliche Seinsstrukturen widerspiegeln sollten , und galt daher als schon lange überholter Vertreter alter Zeiten. Es waren zwei Welten , die da aufeinander trafen , und Friedrich war auf die Vorführung des Alten aus , wie bei einer Zirkusnummer , eine eventuelle Vernichtung des Alten nicht ausgeschlossen. Bei seinem Eintreffen ließ Friedrich den 62-Jährigen sofort zu sich rufen , ohne Möglichkeit zur Erholung nach der Reise , geschweige denn zum Kleiderwechsel. Und dann gab Friedrich Bach eine komplizierte Melodie mit 21 Tönen vor , aus der der alte Herr eine dreistimmige Fuge machen sollte. Es war eine Melodie , die für alles Mögliche geeignet gewesen wäre , aber nicht für die Konstruktion einer Fuge und ihren parallel montierten Wiederholungen eines immergleichen Themas. Die Melodie Friedrichs schien geradezu darauf ausgelegt zu sein , nicht zu einer Fuge gemacht zu werden , noch dazu bei einer Improvisation aus dem Stegreif. Laut Arnold Schönberg habe diese Melodie „nicht eine einzige kanonische Imitation“4 zugelassen. Aber Bach bekam diese Unmöglichkeit in den Griff. Er konstruierte kanonische Umrahmungen des Themas und führte es so innerhalb von sieben Minuten zwölfmal vor. Höflichkeitshalber garnierte er das Ganze noch dazu mit galanten Verzierungen – woraufhin Friedrich aber von Bach forderte , aus dem Thema eine sechsstimmige Fuge zu machen. Diese Aufga3 BBC Radio 3 – A Bach Christmas , 16–25 December , 2005 , online unter : http://www.bbc.co.uk/radio3/bach/schedule_v2.pdf ( 02. 09. 2012 ) 4 Schönberg , Arnold : Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik , Frankfurt am Main 1976 , S. 449

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Einleitung

be war so abwegig und ungewöhnlich , dass Bach sie ohne Weiteres hätte verweigern können , ohne das Gesicht zu verlieren. Doch Bach nahm an und komponierte innerhalb von zwei Wochen eine knapp achtminütige Fuge namens „Das musikalische Opfer“ – und es ist nur zu raten , welche Art von Opfer Bach mit diesem Titel meinte. Bach schickte eine Abschrift davon nach Potsdam , einschließlich einer höflichen Widmung. Einer Widmung auf Deutsch. Denn Friedrich war ein Feind der deutschen Sprache ( schon alleine , weil sein Vater das Französische gehasst und Delinquenten vor Hinrichtungen in französische Kleidung hatte stecken lassen ). Friedrich bevorzugte die damalige Modesprache Französisch , verachtete das Deutsche als Sprache des ungebildeten Volkes und brüstete sich damit , im ganzen Leben kein einziges deutsches Buch gelesen zu haben. Und war dieser Sprache dementsprechend wenig mächtig , und natürlich wusste Bach das , als er seine Widmung schrieb. Es versendete auch in dem Musikstück selbst noch weitere verschlüsselte und despektierliche Botschaften , die einem Kenner wie Friedrich durchaus verständlich gewesen sein mussten. Bach bekam zwar nie ein Dankesschreiben , aber das „Musikalische Opfer“ gilt bis heute als eines seiner wichtigsten Werke und als eines der wichtigsten Musikstücke überhaupt. Als Auslotung aller satztechnischen Möglichkeiten war es ein Vorbild für die 12-Ton-Musiker des 20. Jhdts. , und als Sieg Bachs über Friedrich wurde es zur Legende , und zwar nicht nur als klarer Punktesieg im Kampf moderner Denkweisen mit einer noch christlich geordneten alten Welt , sondern als kunstvolle Einbettung eines von fremder Hand mit kaltem Herzen aufoktroyierten Themas – eine kunstvolle Verwandlung schicksalsträchtig schlechter Umstände in barocke Schönheit. Und das ist das Thema dieses Buches. Die darin verwendeten Hinweise entstammen zum Großteil dem 18. Jhdt. selbst bzw. der hierzulande kaum rezipierten englischen Forschung.

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1 Standort Barockmusik: Zwischen süß-brutalen Sphären und brutal-süßer Vernunft 1.1 Der Grundton: Gegensätze und Musikeinteilungen zwischen hier und dort Das Leben ist voller kognitiver Gegensätze wie schwarz und weiß oder Freund und Feind. Und nicht selten ist das Leben da am interessantesten , wo sich die Gegensätze vermischen wie benachbarte Farben. Auch in der Philosophie und in der Musik gibt es strenge EntwederOder-Kategorien. Kenner differenzieren zum Beispiel zwischen Alter und Neuer Musik , und sie vermögen die entsprechenden Untergattungen der alten mittelalterlichen Musik , der Renaissancemusik , des Frühbarock , des Hochbarock , des Spätbarock und der Wiener Klassik von aller neueren Musik zu unterscheiden und voneinander abweichende Epocheneinteilungen innerhalb der Kunstgeschichte , der Literatur und anderen Disziplinen gegenüberzustellen. Nicht unwesentlich wenige Laien differenzieren auf eine grundsätzlich andere Art zwischen Alter und Neuer Musik : Entweder sie kennen das Gehörte gut , das ist Alte Musik , oder sie hören die Musik zum ersten Mal , das ist Neue Musik. Aber trotz dabei vorhandener personaler Unterschiede gibt es bestimmte Musikstücke , die jeder schon öfter gehört hat als andere , manchmal willentlich , manchmal gezwungenermaßen. Auch jenseits von ABBA gibt es musikalische Dauerbrenner , von denen auffallend viele aus der Zeit kurz vor bzw. aus dem 18. Jhdt. stammen. Dieses Jahrhundert produzierte mehr Evergreens als andere Epochen , zum Beispiel Bachs Präludium in C-Dur oder sein Weihnachts-Oratorium , Händels Messias oder die Feuerwerksmusik , Mozarts Kleine Nachtmusik oder sein Requiem. Leider ergeht es diesen barocken Musikstücken wie ABBA-Songs oder mütterlichen Ratschlägen : Je öfter gehört , desto weniger ernst werden sie genommen. Trotzdem werden alle diese Kulturphänomene nicht pauschal abgeschafft , im Gegenteil. Die barocken Stücke bewähren sich als Standardbackground in Telefon-Warteschleifen , und ABBA-Songs wurden Kult , weil sie so eingängig daherkommen wie manche Merksätze von Müttern – die sich dann bewähren , wenn sie nicht nur funktionale Handlungsanweisungen sind , sondern etwas Bestimmtes enthalten , das sich 12

Missionare, Ratten und kalte Finger

auch in manchen Musikstücken findet , das gewisse Etwas. Leider gibt es dafür keine Bezeichnung. Solche mehr ästhetisch als rational fassbaren Dinge werden laut Leibniz „von unserem Gemüthe , obschon nicht von unserem Verstande empfunden“5 ; der philosophische Fachbegriff dafür lautet „nescio quid“ bzw. „je ne sais quoi“, zu übersetzen mit : Ich weiß nicht , was. Wenn ein Mensch dieses gewisse namenlose Etwas hat , dann erträgt man diesen Menschen länger als andere. Wenn Musik dieses gewisse Etwas hat , dann ist auch diese Musik öfter zu ertragen als andere Musik , und da das aus ungewissen Gründen bei bestimmten Stücken aus dem 18. Jhdt. der Fall zu sein scheint , soll im Folgenden nach den Gründen dafür gefahndet werden.

1.2 Die sekundären Facetten: Missionare, Ratten und kalte Finger Dieses gewisse Etwas der Musik des späten 17. und 18. Jhdts. hat viele Facetten , kleine und größere. Ein kleinerer Aspekt wäre eine These über die Eingängigkeit vieler barocker Melodien. Viele erinnern an die damalige Volksmusik und sind vergleichsweise klar und einfach. Viele Melodien waren so , dass man sie auf der Straße pfeifen oder singen konnte. Und vielleicht lag diese Eingängigkeit auch an Lateinamerika. Denn unter der Obhut spanischer Missionare kam es zu einem regen Austausch zwischen lateinamerikanischer Volksmusik und der europäischen Barockmusik.6 Viele Stücke von Händel , Bach , Telemann und Mozart wirken heute ähnlich volkstümlich , schlichtweg deswegen , weil sie so oft gespielt werden. Deren Stücke haben sich im Laufe von 200 Jahren gegen unzählige andere erfolgreich durchgesetzt. Die vorliegende These ist die , dass die Gründe für die Prominenz dieser vier nicht nur im rein Musikalischen oder in historischen PR-Faktoren liegen , sondern auch an der Philosophie hinter diesen Stücken – und dass diese Philosophie( n ) nicht nur relevant für das 18. Jhdt. waren , sondern es auch und vor al5 Leibniz , Gottlieb Wilhelm : Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie , Bd. 2 , Teil II , Hamburg 1996 , S. 649 f. 6 Vgl. etwa die mexikanischen Komponisten Juan Garcia de Zéspedes ( 1618–1678 ) und Manuel de Sumaya ( 1680–1755 ). Da Derartiges besser hörals erzählbar ist , sei exemplarisch auf die folgende Aufnahme verwiesen : Jordi Savall / Hesperion XXI / Tembembe Ensemble Continuo : El Nuevo Mundo – Folías Criollas , Alia Vox AVSA 9876

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Standort Barockmusik

lem für die Gegenwart sind.Vielleicht würde sonst heutzutage kaum ein Mensch mehr diese glorreichen Vier kennen. Vergleichbar mit dem „Musikalischen Opfer“, mit der Spannung zwischen Bach und Friedrich bzw. mit dem Gegensatz von einem unharmonischen Thema und der Form der Fuge zeigen sich auch in diesen Philosophien , in diesen jeweiligen Biographien und in den bekanntesten Stücken dieser Komponisten immer wieder bestimmte Gegensätze und Zwischentöne , die die jeweiligen Reize und ihre Relevanz für die Gegenwart ausmachen : Alle vier eint ihr Talent , aber die Resultate waren verschieden. Händel wurde gefeiert wie ein König. Und nach seinem Tod waren die Orchester seiner Stücke größer als manche Armee. Anders verlief die Geschichte Bachs , der vielen Musikern den Vortritt lassen musste , die weit weniger talentiert waren als er. Dafür sind die Namen dieser anderen heute Geschichte , und Bachs technische Fähigkeiten gelten als unübertroffen , als Musik gewordene Mathematik oder Mathematik versinnbildlichende Musik. Telemann war in seiner Zeit berühmter als Händel und Bach zusammen , aber heute ist er nicht einmal so berühmt wie nur einer von ihnen. Und Mozart , der vielleicht berühmteste aller Musiker überhaupt , ist bereits in der Grundschule ein eigenes Lernziel unserer Kinder. Andererseits würden eben diese Kinder , gesetzt den Fall , sie verwendeten das Vokabular Mozarts , Verweise oder eine psychologische Überprüfung auf ein Tourette-Syndrom riskieren. Nicht nur der Verlauf dieser Karrieren , sondern insgesamt das 18. Jhdt. war so widersprüchlich wie sonst kaum eine Zeit. In das kollektive Gedächtnis der Neuzeit haben sich , was das 18. Jhdt. angeht , angenehme Bilder von barocken Musikgesellschaften festgesetzt , geprägt von Kerzenlicht , Schokoladengeruch , Champagner , Parfüm und dem Klang von Flötenmusik. Dieses Bild verdanken wir den historistischen Bildern des 19. Jahrhunderts , allen voran Adolph von Menzels „Flötenkonzert von Sanssouci“. Gemischt mit modernem Wohnverständnis und einer Etagenheizung heimeln solche Bilder an wie Bilder aus der Werbung. Völlig ungezieferfrei. Dabei waren in Wirklichkeit viele Ratten Zuhörer bei solchen Konzerten. Ratten waren die eigentlichen Könige solcher Räume und darum bei jedem Konzert präsent. Und nicht nur sie. In Versailles kamen auf jeden Bewohner des Schlosses neben statistisch gesehen zwei Ratten noch Läuse und Flöhe als Inspiration der Lyrik : „Wann , Jungfern , eure Flöh die ihr habt zu Hauß In-

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Missionare, Ratten und kalte Finger

nen7 / Uns könten sagen an / was sie gesehn darinnen / Es würden fragen sie / der Lust zu freyen hat / Eh als den besten Freund / umb einen treuen Raht.“8 Erst gegen Mitte des 18. Jhdts. setzten sich Dinge wie Körperhygiene und vermeintlich bäuerliche9 Bäder durch. In der Zeit davor behalfen sich der Adel und das gehobene Bürgertum aus Angst vor krankheitsübertragendem Wasser mit Flohfallen , also Behältern mit Honig , Harz oder Blut an Leibe oder Perücke , mit wasserloser Puderreinigung , parfümierten Tüchern oder innerer Reinigung durch Klistiere mit Tabakrauch. Dementsprechend rochen auch die Konzerte. Am Hofe Ludwigs XIV.10 erkannte man eine bestimmte Konzertbesucherin am Achselgeruch ,11 eine andere parfümierte sich so stark , dass die Damen in ihrer Gegenwart ohnmächtig wurden.12 Barocke Konzerte zu geben oder zu genießen , hieß auch , damit zurechtzukommen , mit kalten Fingen zu musizieren. Das Klima größerer Räume konnte im Winter nicht annähernd die Temperaturen erreichen , auf die Mieter heute Anspruch haben. Zwar froren nicht alle , vor allem nicht die Menschen in den kleinen und gut beheizbaren Kabinetten , in den großen Schlössern mit ihren überdimensionierten Räumen galt es aber in Schönheit zu sterben. Die großen Fenster der Prachtfassade von Versailles waren zwar ästhetisch , aber gleichzeitig Kältebrücken zur Förderung von rheumatischen und asthmatischen Erkrankungen.13 7 Als Hausinnen wurden im Schlesien des 17. Jahrhunderts Mieter der untersten Kategorie bezeichnet. ( Vgl. Lessing , Gotthold Ephraim : Wörterbuch über Friedrich’s von Logau Sinngedichte , 1759 , in : Ders.: Sämmtliche Schriften , 8. Bd. , Berlin 1825 , S. 241 ) 8 Logau , Friedrich von : Auferweckte Gedichte , Denen hinzugefüget unterschiedene bißher ungedruckte Poetische Gedanken / Heroischen Geistern gewidmet / Nebst einem nöthigen Register , Frankfurt , Leipzig 1702 , S. 214 9 Vgl. Frey , Manuel : Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland , 1760–1860 , Göttingen 1997 , S. 59 ff. 10 Vgl. zur musikalischen Praxis in Versailles von Ludwig XIV. bis Ludwig XV. insbesondere die brillante und kurzweilige Aufnahme der Flötenvirtuosin Dorothee Oberlinger mit dem Ensemble 1700 ( French Baroque. Versailles 1700– 1740 , 2011 deutsche harmonia mundi ; 88697735092 ). 11 Louise Élisabeth de Bourbon ( 1693–1775 ),Vgl. Newton , William Ritchey : Hinter den Fassaden von Versailles. Mätressen , Flöhe und Intrigen am Hof des Sonnenkönigs , Berlin 2010 , S. 77 12 Liselotte von der Pfalz ( 1652–1722 ), Vgl. Newton , William Ritchey : Hinter den Fassaden von Versailles. Mätressen , Flöhe und Intrigen am Hof des Sonnenkönigs , Berlin 2010 , S. 77 f. 13 Selbst die engste Vertraute des Königs , Madame de Maintenon ( 1635–1719 ) schrieb : „Ich habe wieder ein sehr schönes Appartement , das aber derselben Käl-

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Standort Barockmusik

Aber viel wichtiger als Wärme war den abendlichen Musikgesellschaften die Beleuchtung. Licht war eine der großen Metaphern des Barockzeitalters , verkörpert im intelligiblen Licht von Philosophie und Literatur und ebenso im Glanze der Herrscher und dem Statussymbol weißer Wachskerzen. Dass in Bachs Kantaten Licht eine so herausragende Rolle spielt , wie in der Arie „Ein unbegreiflich Licht erfüllt den ganzen Kreis der Erden“14 , entspricht diesem Wunsch nach einer himmlischen Utopie auf den irdischen Trümmern des dreißigjährigen Krieges. Ein ähnliches Gegensatzpaar dieser Zeit durchzog den sexuellen Diskurs , eine interdisziplinäre Schriftenflut , die versuchte , Philosophie und Pornografie in einer neuen Lebenskunst zu vereinen. Während die Pfarreien noch „Impraegnationsgelder“ als Strafe für unehelich gezeugte Kinder abkassierten15 , feierten die Barockdichter alle erdenklichen Freiheiten. Friedrich von Logau ( 1606–1654 ) sind allein „Entblöste Brüste“16 eine Vielzahl von Gedichten wert , von anderen Zonen weiblicher Körper ganz zu schweigen. Barocke Philosophen propagierten die Vernunft , die zwar bewies , dass Gott existiert , aber gleichzeitig lieferten sie damit die Belege für das Gegenteil. In der Mathematik ersann Leibniz die Differential- und Integralrechnung , „das unendliche Werk oder die unendliche Operation“17 , und befreite damit die Denksysteme aus der Enge der Descartschen Geometrie. Aber gleichzeitig stellte er in seiner Analyse der menschlichen Wahrnehmung die These von der dunklen Perzeption auf , also von unergründlichen Tiefen der Rezeption , in die , te und derselben Hitze ausgesetzt ist , da es ein Fenster vom Ausmaß der größten Arkaden hat , ohne Flügel noch Rahmen oder Jalousien , weil sonst die Symmetrie gestört wäre … und so muss man „in Symmetrie zugrunde gehen.“ ( D’Aubigny , Francoise , Marquise de Maintenon : Lettres , Paris 1922 , Brief vom 23. Juli 1713 , S. 266 , zitiert nach Newton , William Ritchey : Hinter den Fassaden von Versailles. Mätressen , Flöhe und Intrigen am Hof des Sonnenkönigs , Berlin 2010 , S. 140 ; sowie dies. , zitiert nach : Archimbaud , Nicholas d’ ,Versailles , München 2001 , S. 105 ) 14 aus der Kantate „Mit Fried und Freud , ich fahr dahin“ ( BWV 125 ) 15 Vgl. Jung , Norbert : Barocke Frömmigkeit am Obermain. Das Beispiel der Pfarrei Ebensfeld , in : Geschichte am Obermain 24 ( 2010 ), S. 22 u. S. 26 16 Vgl. Logau , Friedrich von : Auferweckte Gedichte , Denen hinzugefüget unterschiedene bißher ungedruckte Poetische Gedanken / Heroischen Geistern gewidmet / Nebst einem nöthigen Register , Frankfurt , Leipzig 1702 , S. 209 , S. 213 , S. 228 u. S. 268 17 Deleuze , Gille : Die Falte : Leibniz und der Barock , Frankfurt am Main 1995 , S. 61

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Missionare, Ratten und kalte Finger

wie in die Falten eines Strumpfbandknotens oder des Universums , niemand je Einblick haben kann , wird und soll. Auch so widersprüchliche Ressorts wie Krieg und Musik brachte das Barockzeitalter in einer Art zusammen , wie sie vorher nicht da war. Wo der Krieg vorher von pflichtbewussten Rittern oder Söldnern geführt worden war , wurde das staatskonforme Töten in Personalunion ein Stereotyp der barocken Kunst. Vom musikalischen Schlachtengemälde und der relativ unethischen „Battaglia“ von 1673 des Ignaz Heinrich Franz Biber von Bibern ( 1644–1704 ) führt der Weg über Beethoven bis hin zu Benjamin Brittens ( 1913–1976 ) „War Requiem“ – und bei diesem Weg gab es im Barock eine ganz entscheidende Rast an der Tankstelle Philosophie , die Argumente lieferte , mit denen jede Ästhetik des Todes sich bis heute schmückt. Der Krieg war im Barock der wunderbare Urgrund aller Dichtung und Künste , den es zu loben galt.18 Zumindest in Friedenszeiten. Und in der Musik wurde genauso konservativ auf alten Formen beharrt , wie neue erfunden wurden. Die einen stellten komplexe Regelwerke über Satztechnik und Instrumentenstimmung auf , während andere , wie etwa Carl Philipp Emmanuel Bach und Wolfgang Amadeus Mozart , kokett und des hohen rechnerischen Anspruchs wegen19 mit „Würfelmusik“ experimentierten. Mit der wurde auch der kompositorische Laie in die Lage versetzt , eigene Musikstücke per Würfel-Zufallsgenerator zu „komponieren“. Oder um es mit den charmanten Worten Mozarts zu sagen , es gab Anleitungen , „so viel Walzer oder Schleifer mit zwei Würfeln zu componieren so viel man will ohne musicalisch zu seyn noch etwas von der Composition zu verstehen“20. Wurde dafür nur ein Würfel verwendet , waren sechs verschiedene Takt-Alternativen zu erwürfeln , die auf das Notenpapier übertragen wurden und schließlich ein Menuett oder eine Polonaise ergaben.21 Wenn ein Zeitalter von der musikalischen Kunst als ver18 Vgl. Kaminski , Nicola : Ex bello ars oder der Ursprung der „Deutschen Poetrey“, Heidelberg 2004 , S. 318–337 u. passim 19 Vgl. Steinbeck , Wolfram : Artikel „Würfelmusik“, in : Finscher , Ludwig ( Hg. ): Die Musik in Geschichte und Gegenwart , Sachteil Bd. 9 , Kassel 21998 , Sp. 2084–2089 20 Mozart , Wolfgang Amadeus : Anleitung so viel Walzer oder Schleifer mit zwei Würfeln zu componieren so viel man will ohne musicalisch zu seyn noch etwas von der Composition zu verstehen , Anhang zu KV 294d 21 Vgl. Kirnberger , Johann Philipp : Der allezeit fertige Menuetten- und Polonaisenkomponist , Berlin 1757

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feinertem , mathematischem Spiel durchdrungen war , dann war es das Barockzeitalter22 , und gleichzeitig war es genau die typisch barocke Metaphysik und Religiosität , die genau durch diese pythagoreische Mathematik bestimmter Tonabstände hervorschimmerte. Und auch dafür gibt es wieder Gegenentwürfe. Aufgrund all dieser Gegensätze soll unter Barock im Folgenden weniger der Stil oder die Kunstepoche verstanden werden , als die er meist definiert wird. Zwischen 1650 und 180023 gab es vielmehr so etwas wie eine philosophisch-musikalische Revolution , die unser heutiges Denken mehr beeinflusst hat , als gemeinhin angenommen. Es ist genau diese Spannung zwischen Gegensätzen : Im Barock hat man sich angewöhnt , große Gegensätze auszuhalten und sie als Teil des eigenen Lebens und des Psychosystems zu kultivieren und somit auch zu genießen , und diese philosophisch-künstlerische Errungenschaft reicht bis in unsere Gegenwartskultur. Der Übergang von der Renaissance zum Barock funktioniert ähnlich wie der Übergang von der Nachkriegszeit zum globalisierten Kabelfernsehen ; auf einmal relativieren sich alle Denksysteme und die Menschen müssen Gegensätze begründen , die vorher kaum in Frage gestellt wurden. Zum Beispiel , dass den einen öffentlich viel mehr Glück und Geld zugeschanzt wurde als den anderen , und es gab auf einmal die verschiedensten Lebensentwürfe Haus an Haus , damals wie heute. Was früher selbstverständlich war , war bzw. ist es dann nicht mehr. Dafür wurden und werden dann andere Dinge selbstverständlich , die früher nie möglich gewesen wären. Im 18. Jhdt. wurden alte Gesellschafts- und Regierungssysteme in Frage gestellt , indem vernünftige Argumente vor religiöse Traditionen gestellt oder die Herrschenden einfach einen Kopf kürzer gemacht wurden. Religionen waren ab da keine verbindlichen Regelwerke mehr , sondern Ausdruck einer Vernunft , die auch andere Religionen zulässt oder gar alle miteinander abschafft. Nun mutierte Musik vom Gotteslob zum Vergnügen. Das Ausleben subjektiver Gefühle wurde so sehr kultiviert , dass manche ihre Tränen in extra dafür vorgesehenen Mini-Krügen sammelten.Verrückte und Sterbende wurden erstmals vor den Augen der anderen weggesperrt , und wer 22 Vgl. hierzu Klotz , Sebastian : Kombinatorik und die Verbindungskünste der Zeichen in der Musik zwischen 1630 und 1780 , Berlin 2006 ; Hauptenthal , Gerhard : Geschichte der Würfelmusik in Beispielen , 2 Bde , Saarbrücken 1994 23 Vgl. Victoria and Albert Museum ( Hg. ): Baroque 1620–1800 : Style in the age of Magnificence , London 2009

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Die Erhabenheit und ihre Anfänge

arm war , brauchte nicht mehr viel Hoffnung in die vormals selbstverständliche Nächstenliebe der anderen investieren. Wenn irgendwo investiert wurde , dann in die aufsteigende Industrie. Eigentlich war alles so wie heute. Auch wenn die Tränenkrüglein heute durch die Überweisungsformulare für den Psychiater ersetzt wurden. Würden die Menschen des Barock unsere Zeit also besonders gut verstehen ? Oder uns für völlig verrückt halten ? Bei aller Ähnlichkeit gibt es im 21. Jhdt. kaum mehr das , was man im 18. Jhdt. gesunden Menschenverstand nannte. Schon alleine deswegen , weil bei dem Stichwort „gesund“ alle nur noch an Ernährungstabellen denken und bei dem Wort Menschenverstand keiner mehr hinhört. Aber gab es jemals eine Epoche mit besonders viel Verstand ? Man wird es nie wissen. Was Philosophie und Musik angeht , ist aber trotzdem sicher , dass genau in der Zeit von 1650 bis 1800 bestimmte philosophische und musikalische Phänomene entstanden , die für uns mittlerweile selbstverständlich geworden sind , angefangen von bestimmten Musikformen und dem Selbstverständnis der Künstler bis hin zu der Art , wie Musik empfunden wird , die nicht mehr viel mit Gotteslob zu tun hat , sondern dem individuellen Genuss dienen soll. In genau dieser Zeitspanne entstand ein Kult um Gegensätzliches.

1.3 Das Hauptthema: Die Erhabenheit und ihre Anfänge Die Gegensätze des 18. Jhdts. wurden verschiedentlich als eine „schizophrene Spannung“24 bezeichnet. Das Phänomen , mit dem dieses ambivalente Lebensgefühl dieser ( und später auch wieder unserer ) Zeit am besten zu fassen ist , ist das der sogenannten Erhabenheit.25 Die Mentalitätsgeschichte dieses erfolgreichen philosophischen Fachbegriffs in seiner heutigen Verwendung begann im 17. /18. Jhdt. , ungefähr gleichzeitig in Frankreich und England. In Frankreich übersetzte Boileau-Despreaux , der Hofgeschichtsschreiber des Sonnenkönigs eine kleine Rhetorikschule aus dem im 1. Jhdt. n. Chr. von einem Römer namens Longinus. Der Text hieß „Peri Hypsous“, heutzutage großzügig übersetzt als : „Über das Erhabene“. Darin ging es um grammatikalisch-stilistische Kunstgriffe , um beim Zuhörer psy24 Deleuze , Gille : Die Falte : Leibniz und der Barock , Frankfurt am Main 1995 , S. 58 25 Vgl. hierzu Voigt , Stefanie : Erhabenheit. Über ein großes Gefühl und seine Opfer , Würzburg 2011 , S. 39 ff.

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chisch erhebende Gefühle zu erzeugen , bis hin zu einem Gefühl von Göttlichem im Falle eines wirklich guten Redners. Die französische Neuauflage entfachte eine heiße Diskussion über etwaige literaturtheoretischen Folge-Thesen des Longinus , über das Pro und Contra von Regelbrüchen und Überraschungseffekt und darüber , dass wahre Erhabenheit irgendwie unfassbar und nicht bis ins Letzte zu definieren sei. Und während solche Fragen die Franzosen umtrieben , bastelten die Engländer auch damals daran , ein ganz besonderes Völkchen zu sein , mit eigenen Regeln wie dem Linksverkehr auf den englischen Straßen : Milton , späterer Geschichtenlieferant für Händel , gab 1667 /1674 das Apokalypsen-Versepos „Paradise lost“ heraus , eine Geschichte über den Abfall Satans von Gott. Darin verwehrte sich der Engel Luzifer dagegen , dass Gott sein Schöpfer sein sollte , und beanspruchte das alleinige Urheberrecht für sich , erhaben gegenüber Gott. Aber natürlich konnte das nicht gut gehen : Luzifer landete in der Hölle und wurde zum Prototypen des modernen Künstlers : Aus freiem Entschluss gescheitert und auch noch stolz darauf. Also erst recht erhaben. Und weil die Engländer diese neugotische Mischung von Stolz und Scheitern auch damals schon so liebten , verfassten einige von ihnen auch gleich noch ein paar theoretische Schriften zum Thema Erhabenheit und ästhetisches Erleben. Darin stand dann : Ästhetisches Erleben soll überhaupt nicht schön sein , sondern das Gegenteil. So wie Geisterbahnen. Erschreckend , überwältigend , erhaben. Der Begriff der Erhabenheit war auch für Musiker oder Musik das größtmögliche Kompliment. Gegen Ende des 18. Jhdts. war dieser Gegensatz von Schönheit und Erhabenheit , die sogenannte doppelte Ästhetik der Moderne , dann allgemeiner Konsens. Kant wählte dafür das ergreifende Beispiel von schönen Frauen im Gegensatz zu erhabenen Männern. Er meinte , dass Frauen als Prototyp des Schönen einen gewissen Hang dazu hätten , zu hinken und zu lispeln , um so die Hilfsbereitschaft der starken , weil erhabenen Männer herauszufordern. Auch erhaben nannte Kant alle Fälle von kognitiver Überforderung , bei der man schlichtweg nicht in der Lage ist , bestimmte Größen abstrakt zu erfassen , wie zum Beispiel die mathematische Weite des Sternenhimmels oder die Dynamik eines Sturms auf dem Ozean. Umso unfassbarer und umso gefährlicher der Auslöser sei , desto mehr würde das Bewusstsein von 1 ) der eigenen Nichtigkeit und 2 ) der eigenen Selbsterhaltungskräfte wach. Notgedrungen. Und egal , wie negativ der Auslöser dafür sein sollte : Dieser Moment gleicht laut Kant alle Unbill aus. Denn in diesem Augenblick spürt 20

Die Quintessenz der Erhabenheit im 21. Jahrhundert

man angeblich mehr als in jedem anderen , wie groß doch die eigenen Gedanken sind. Ganz unabhängig davon , wie lange man diese Gedanken noch denkt. Hauptsache , die Gedanken sind größer als die Wellen hoch. Der Sieg erzeugt Lust , ein Gefühl von Erhabenheit , vor allem weil und trotz der baldigen Zerstörung. Pascal hatte geschrieben : „Der Mensch ist nur ein Schilfrohr , das schwächste der Natur ; aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen , um ihn zu zermalmen : ein Dampf , ein Wassertropfen genügen , um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte , so wäre der Mensch nur noch viel edler als das , was ihn tötet , denn er weiß ja , dass er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts. Unsere ganze Würde besteht also im Denken“.26 Auch Kant dachte seine Erhabenheit vergleichsweise positiv und traf damit den Nerv seiner Zeit. Denn bei den Nachbarn in Frankreich tobte die Revolution und in Paris wurde im Namen der erhabenen Revolution geköpft wie am Fließband. Und zwar Menschen , denen angesichts ihrer baldigen Zerstörung gar nichts mehr anderes verblieb als der Anspruch , die besseren Werte gelebt zu haben. Das war auch erhaben. Und mit dieser Philosophie hatte sich dann endgültig aus der Erhabenheit des Erschreckenden das Erschreckende des Erhabenen entwickelt.

1.4 Die Folgen: Die Quintessenz der Erhabenheit im 21. Jahrhundert Das 20. und 21. Jhdt. verstand dann in direkter Konsequenz dieser Vorgaben unter der Erhabenheit eine „mentale oder körperliche Überwältigungserfahrung , bei der sich Faszination und Entsetzen mischen“27. Darunter sei nichts dezidiert Schönes zu verstehen , sondern eine Art lustvoll erlebte Schockerfahrung wie zum Beispiel bei einem Krimi oder einem Gruselfilm. Der Unterschied bestand darin , dass das 18. Jhdt. Erhabenheit bevorzugt mit Meeresmassen , dem Sternenhimmel oder hohen Bergen illustriert hatte – die Philosophen des 21. Jhdts. die Erhabenheit dann aber tendenziell angesichts 26 Pascal , Blaise : Gedanken über die Religion und einige andere Themen , Stutt­gart 1997 , Nr. 200 / 347 , S. 140 f. 27 Hoffmann , Thorsten : Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Berlin , New York 2006 , S. 6

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eben dieser Faszination von Entsetzlichem diagnostizierten. Wie zum Beispiel der Philosoph Jean Baudrillard ( 1929–2007 ), der meinte , 9 /11 sei ein Sinnbild unserer westlichen Welt. Denn , so Baudrillard , sobald ein System instabil sei , bräche es in sich zusammen wie die Twin-Towers. Und wir seien auch instabil. Nicht umsonst hätte unsere Kultur so viele Katastrophenphantasien und so viel Blut auf der Leinwand. Der Komponist Karlheinz Stockhausen ( 1928– 2007 ) ging noch einen Schritt weiter und nannte 9 /11 „das größte Kunstwerk , das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor , was da passiert ist : Da sind also Leute , die sind so konzentriert auf dieses eine , auf die eine Aufführung , und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts , also als Komponisten.“28 Im Vergleich zu solchen Komponisten sei Luzifer ein viel größerer Künstler , denn diesen hielt Stockhausen für den eigentlichen Urheber von 9 /11. Und somit war Miltons Satan wieder zurück in der Welt , nicht mehr nur als literarische Figur , sondern als ein Künstler und gottgleicher Chef einer Apokalypse schlimmsten Ausmaßes. Viele philosophische Erhabenheitstheorien der Gegenwart stützen ein solches Konzept und versehen jede Art von Hingabe , entweder kognitive Hingabe bis hin zur Selbstüberwältigung oder die reale Hingabe von Menschenleben , mit dem Begriff eines Opfers , und somit präsentiert sich die moderne Erhabenheit nur mehr als so etwas wie ein Borderline-Syndrom mit hohem Potenzial zum Psychopathischen und das Schöne , um es mit Rilke zu sagen , als „nichts , als des Schrecklichen Anfang , den wir noch grade ertragen“.29 Nicht umsonst verwenden Amokläufer , wenn sie denn Abschiedsbriefe schreiben , nicht nur die Vorgaben irgendwelcher unbekannter Spinner aus dem Internet , sondern durchweg Vokabular und Motive aus den Erhabenheitsthesen berühmter und anerkannter Philosophen. Dann aber eigenartigerweise vor allem die Thesen aus dem 18. Jhdt. , und sie reden von Apokalypsen , vom Göttlichen oder von der Überwindung des Selbsterhaltungstriebes zugunsten des ästhetischen Erlebens ( ein Euphemismus für den Suizid in der Tradition Schillers ). Was da als höchstes aller ästheti28 Stockhausen , Karlheinz : „Huuuh !“ Das Pressegespräch am 16. September 2001 im Senatszimmer des Hotel Atlantic in Hamburg mit Karlheinz Stockhausen , in : MusikTexte Nr. 91 ( 2002 ), S. 77 29 Rilke , Rainer Maria : Duineser Elegien , 1. Elegie , in : Ders.: Gedichte , Stuttgart 1997 , S. 185

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Gottesdienst und Herrschaftslob

schen Gefühle angepriesen wird , ist aus psychologischer Sicht eine starke Spannung der Gegensätze ästhetisches Erleben einerseits und gleichzeitig großer ästhetischer Distanz , also empathiefreier Emotionalität ; und wenn dabei vor lauter ästhetischen Eindrücken der Rückweg in ein einigermaßen alltagstaugliches Normalbewusstsein nicht mehr möglich ist , darf diese Ambivalenz der Gegensätze sogar schizophren genannt werden. Solche kognitiven Betriebsfehler gibt es immer mehr. Und während vereinzelte Denker versuchen , so etwas wie ein ethisch-empathisches Bewusstsein in die Gesellschaft zu reimplantieren , setzen Kulturschaffende weiterhin auf kognitive Überforderung in Form von Blut und Provokation. Und die Erhabenheitstheorie propagiert unter dem offiziell wichtigsten Begriff der Disziplin weiterhin etwas , was ohne Kenntnis dieser Erhabenheitstheorie nie und nimmer darunter zu vermuten wäre. Und was auch niemanden interessiert. Dafür hört sich das Wort Erhabenheit erstens viel zu altbacken an und noch dazu gibt es zweitens derzeit in der Welt ganz andere Probleme als ästhetiktheoretische Sorgen um so etwas wie einen Begriff der Erhabenheit. Aber leider spiegelt die Ästhetiktheorie stets in Reinform wider , wie Menschen empfinden. Von daher spielt das , was manche heutige Philosophen unter Erhabenheit verstehen , eine größere Rolle , als die meisten Leute wissen können.

1.5 Der entscheidende Unterschied: Gottesdienst und Herrschaftslob Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Erhabenheit vor allem mit Würde in Verbindung gebracht , mit allem , was einen vor lauter moralischem Anspruch , Idealität oder Pracht beeindruckt und feierlich stimmt. Das war auch die ursprüngliche Bedeutung von Erhabenheit. Aber die heutigen Philosophen und Ästhetik-Theoretiker formulieren Thesen , die in der Psychologie eher Gegenstand der Forschung wären , und sie verzichten auf diese Aspekte von Würde , Moral , Idealität und Pracht und setzen nur auf das jeden Verstand überfordernde Überwältigende. Und das zeitigt den großen Gegensatz zwischen der modernen Erhabenheit zum Erhabenheitskonzept des 18. Jhdts. Als Händel , Bach , Telemann und Mozart komponierten , war die Erhabenheit , die Hingabe an die eigene ästhetische Wahrnehmung bis an die Grenzen und über die Grenzen der Auf23

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nahmefähigkeit hinweg , noch ein probates Heilmittel , das man sich aktiv , entweder zur Wahrung des Gefühls eigener Menschenwürde oder auch nur gegen die Langeweile , einverleibte , indem man sich in eine mehr oder weniger virtuelle Welt der Schreckensbilder einfand , um Genuss daraus zu ziehen. Das war ebenso möglich auf dem Schlachtfeld wie in der Oper oder bei einer öffentlichen Hinrichtung. Das Gefühl des Erhabenen war im 18. Jhdt. der zentrale Brennstab im Reaktor der menschlichen Seele , womit der Einzelne erst seiner ganzen Energie gewahr30 und damit „mächtiger , lebendiger , Gott ähnlicher“31 wurde – so Johann Georg Schlosser ( 1739–1799 ) in seinem „Versuch über das Erhabene“ von 1781.32 Kraft dieser Selbstbespiegelung könne jeder vielleicht sogar selbst zur kleinen Gottheit werden , zur „petite divinité“ – so Gottfried Wilhelm Leibniz.33 Aber noch diente dieses erhabene Gefühl von Macht und Bewältigung alles Darbens zumindest offiziell noch nicht der eigenen Selbstverwirklichung. Noch wurde das Erhabene im Barock ursächlich Gott zugeschrieben und nicht der eigenen Psyche : „Nichts Endliches sey , für sich , groß oder / klein zu nennen / Nur die Unendlichkeit der Gottheit bloß allein /Alls unvergleichbar , kann groß , an sich selber / seyn“34. Der wohlige Schauder angesichts der eigenen Vergänglichkeit , noch mündete er in der Erkenntnis Gottes : „Mein ganzes Wesen ward ein Staub , ein Punct , ein Nichts / Und ich verlohr mich selbst“35 , und dieser Moment der selbstverlorenen Erkenntnis Gottes war wie eine Monade , eine Widerspiegelung der kleinsten Materie im Größten , in der obers-

30 Schlosser , Johann Georg : Versuch über das Erhabene , in : Longin , Vom Erhabenen mit Anmerkungen und einem Anhang. Übers. Von Johann Georg Schlosser , Leipzig 1781 , S. 275 31 Ebd. , S. 284 32 Vgl. hierzu Zelle  , Carsten  : Schrecken und Erhabenheit. Mündigkeit  , Selbstgefühl und das aufgeklärte Subjekt am Ende des 18. Jahrhunderts , in : Herding , Klaus / Stumpfhaus , Bernhard ( Hg. ): Pathos , Affekt , Gefühl. Die Emotionen in den Künsten , Berlin , New York 2004 , S. 410 f. 33 Vgl. hierzu Bredekamp , Horst : Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhem Leibniz Theater der Natur und Kunst , Berlin 2004 , S. 143 u. passim 34 Brockes , Barthold Heinrich : Der Punct , in : Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott , bestehend in Physikalisch- und Moralischen Gedichten , 8. Theil , Hamburg 1746 , S. 475 35 Ders.: Das Firmament , in : Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott , bestehend in Physikalisch- und Moralischen Gedichten , 1. Theil , Hamburg 71744 , S. 3

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Das Lob des Künstlers

ten Monade36 , also in Gott , und zwar im Verhältnis der Monaden zu Gott als Kehrwert des Unendlichen ( ¹/∞ ) während Gott mit der Formel ∞/¹ fassbar wurde.37

1.6 Der Leiter fast oberes Ende: Das Lob des Künstlers Eine andere Form von Erhabenheit war die Erhabenheit nicht nur durch die Gnade Gottes , sondern auch wortwörtlich erhabener Personen , also Adeliger , die meist tatsächlich hoch zu Rosse erhaben erhoben waren über andere. Das solchen Menschen zugestandene höfische Zeremoniell , in dem Herrschaftsansprüche legitimiert und eine zeitlose Beständigkeit inszeniert wurden , vor allem die höfischen Feste38 , waren für Musiker das einzige Berufsfeld mit finanziellem Potenzial. Beschreibungen solcher Feste strotzten von Erhabenheitstheorie-konformen Topoi , die allesamt versuchten , zum Lob Gottes und zum Lob des gottgewollten Herrschers den Rezipienten zu überwältigen wie Sturm und Blitz die Landschaft oder wie Trompeten und Pauken das Trommelfell. Der Dichter Johann Klaj ( 1616– 1656 ), Urheber der ebenfalls als erhaben konzipierten Redeoratorien , als einer Mischform zwischen Dichtung und Musik39 , schreibt über das Nürnberger Friedensmahl von 1649 : „Trompeten / Clareten Tartantara singen die Paucken die paucken / die Kessel erklingen / so sauset / so brauset kein schaumichtes Wallen / kein Stürmen so stürmet / wann Berge zerfallen. So reisset / zerschmeisset kein Hagel die Blätter / so rasselt / so prasselt kein donnerndes Wetter / Racqueten / Racqueten einander nachjagen / Blitzschläge mit Schlägen erzürnet sich schlagen. [ … ] Die Stücke hell blicken / es donnern Carthaunen / dass Felder und Wälder und Menschen erstaunen / es 36 Vgl. Leibniz , Gottlieb Wilhelm : Die Monadologie , § 38 f. , in : Ders.: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie , Hamburg 1956 , S. 43 ; Ders.:Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade , § 8 , in : Ebd. 37 Vgl. Deleuze , Gille : Die Falte : Leibniz und der Barock , Frankfurt am Main 1995 , S. 212 f. 38 Vgl. Kluxen , Andrea M.: Theatralisierung und Inszenierung als barockes Prinzip , in : Weiss , Dieter J. ( Hg. ): Barock in Franken , Dettelbach 2004 , S. 15 ff. ; Fähler , Eberhard : Feuerwerke des Barock , Studien zum öffentlichen Fest und seiner literarischen Deutung vom 16. bis 18. Jahrhundert , Stuttgart 1974 , passim 39 Vgl. Browning , Robert M.: Deutsche Lyrik des Barock. 1618–1723 , Stuttgart 1980 , S. 124 ff.

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zittern / es splittern die felsichten Klüffte / es schallen / erhallen die mosichten Grüffte“40. Und darum taten auch die Musiker selbst dementsprechend gut daran , sich als erhaben zu verkaufen , und so entstanden neue Konzepte des Künstlers. Die literarische Erhabenheitsrhetorik und die Musiktheorie wurden dafür aneinander angeglichen und forcierten so ein Verständnis von Musik als Form von Sprache sui generis.41 Die romantische Bezeichnung von Johann Sebastian Bach ( 1685–1750 ) als „musicien-poète“42 hat daher ihre Wurzeln im Barock. Dazu kam die aufklärerische Idee des aufgrund seiner innerlichen Autonomie über die Dispositive der Macht erhabenen Bürgers als Gegenpol zur Erhabenheit des Herrschers , eine Idee , in der von Ferne die Französische Revolution anklang.43 Insbesondere der Berufsstand des Künstlers , der sich seit der Renaissance plakativ mit Unabhängigkeit schmückte , wurde zum Inbegriff des neuen , freien und erhabenen Menschen , vor allem in Ländern mit konstitutioneller Monarchie. Dort konnten Musiker noch weit vor der Demokratisierung durch die Guillotine nicht mehr nur Diener der Herrschenden , sondern selbst Herrschende , weil Beherrscher der Töne sein. Solche dann erhaben genannten Tonkünstler mutierten vom vormals nur abfällig empfundenen und fast synonym der Kriminalität bezichtigten „Musikanten“ zum gefeierten Virtuosen. Der Terminus „Virtuose“ wandelte sich von der bloßen Bezeichnung für Gelehrte und Theoretiker in den Wissenschaften oder Künsten44 zur Bennenung von Musikern , die „im Singen oder Spielen einen hohen Grad der Vortrefflichkeit erlanget haben“.45 Endlich waren Berufsmusiker nicht mehr nur Pöbel , sondern ausgestattet mit einem neuen Selbstbewusstsein , das es 40 Klay , Johann : Castell deß Unfriedens , in : Mannack , Eberhard ( Hg. ): Die Pegnitz-Schäfer. Nürnberger Barockdichtung , Stuttgart 1988 , S. 172 41 Vgl. Menéndez Torrellas , Gabriel : Mathematik und Harmonie. Über den vermuteten Pythagoreismus von Leibniz  , in  : Studia Leibnitiana 31 (  1999  ), S.  48 m.w.N. 42 Schweitzer , Albert : J. S. Bach , Le musicien-poète , Paris , Leipzig 1905 43 Diese Subjekt-Erhabenheit hebelte die Objekt-Erhabenheit schließlich auch faktisch aus , wie die Französische Revolution von 1789 zeigte. ( Vgl. Berns , Jörg Jochen / Rahn , Thomas : Zeremoniell und Ästhetik , in : Dies. ( Hgg. ): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit , Tübingen 1995 , S.  662 f. ) 44 .Vgl. Schleuning , Peter : Der Bürger erhebt sich. Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert , Stuttgart , Weimar 2000 , S. 44 f. 45 Scheibe , Johann Adolf ( Hg. ): Critischer Musicus , Leipzig 21745 , S. 253 f.

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Das Lob des Künstlers

ihnen gegebenenfalls auch erlaubte , „mit einer so erhabenen Wissenschaft [ Musiktheorie , Komposition ] , als [ wie ] mit einem gemeinen Handwerke umgehen [ … ] [ und ] bey einer so niederträchtigen Handthierung dennoch stolz und aufgeblasen“ sein zu können.46

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Ebd. ,Vorrede , S. b7

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2 Händel oder die englische Erfindung des erhabenen Tonkünstlers 2.1 Offizielle Berichterstattung: Händel zwischen Erhabenheitstheorie und -praxis Die Urform eines dergestalt erhabenen Künstlers war Händel. Er wurde am 23. Februar 1685 in Halle geboren , sein Vater hätte ihn gerne als Juristen gesehen , aber er wurde Musiker , ging später nach England , und als er am 13. April 1759 in London starb , war er zu einer Grundfeste englischer Kultur geworden. Er war der absolute Prototyp des gefeierten und selbstbewussten Musikers seiner Zeit , und die Berichterstattung versah ihn fast durchwegs mit dem großen Modebegriff der Erhabenheit , so zum Beispiel bei den Berichten über Händels Messias. 1742 wurde der Messias uraufgeführt , eine dreiteilige Heilsgeschichte vom alttestamentarischen Propheten Jesaja bis hin zu Leben und Tod Christi und der Prophezeiung seiner Wiederkehr am Jüngsten Tag. Das Stück ist bis heute das erfolgreichste Oratorium aller Zeiten. Der anglikanische Bischof von Elphin , Edward Synge ( 1692 / 94– 1762 ) lobte zunächst die Musik als „Masterly & artificial“47 und nur das Libretto als erhaben : „Another is the Words , which are all Sublime , or affecting in the greatest degree.“48 Bei den nachfolgenden Besprechungen aber wurde die Erhabenheitsetikettierung pauschal. Eine Zeitungsschlagzeile lautete : „The Sublime , The Grand , and the Tender adapted to [ … ] charm the ravished Heart and Ear.49“, und zwar dort , „where harmony meets with design“50. Händel selbst wurde zum „composer par excellence of Sublimity“51. Seine Erhabenheit 47 Synge , Edward : zitiert nach : Burrows , Donald : Handel : Messiah , Cambridge u. a. 1991 , S. 20 48 Ebd. 49 Dublin Journal vom 17. April 1742 , zitiert nach : Deutsch , O. E.: Handel. A Documentary Biography , New York 1955 , S. 546 50 Grube Street Journal vom 8. Mai 1735 , Nr. 280 , zitiert nach Chryssander , Friedrich : G. F. Händel , Bd. 2 , Leipzig 1860 , S. 481 51 Mainwaring , John : Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel. To which is added a Catalogue of his Works and Observations upon them , London 1760 , S. 209

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Zwischen Erhabenheitstheorie und -praxis

als Person war ab nun ein geflügeltes Wort und speziell die klanggewaltige Orchestrierung des Messias mit Trompeten , Pauken und Orgel52 wurde im Einvernehmen mit der Allgemeinheit von John Lockman ( 1698–1771 ) als „wonderful sublimity“53 bezeichnet. Denn „wind instruments are the most fitted to elevate ; such as the Hautboy , the trumpet , and organ : for , as Pope has it , In more lengthen’d Notes and flow / Deep , majestic , solemn Organs blow.“, schreibt John Baillie ( * ?–1743 ) in seinem 1747 erschienenen „Essay on the sublime“54 , ( und das auch trotz der englischen Orgeln mit wenig Klangvolumen zugunsten einer süßen warmen Klangfarbe ).55 Auch ein Thema in der Berichterstattung war neben diesem Stilmittel der Quantität Händels häufig verwendeter kompositorischer Kunstgriff musikalischer Pausen. Diese Idee hatte Händel von Arcangelo Corelli ( 1653–1713 ) übernommen und erstmals auf die Vokalmusik übertragen. Das bekannteste Beispiel für eine solche Pause in Form von Schweigen ist im Messias der „Halleluja“-Chor im 92. Takt. Hier bricht die Musik ab , und es wird so still wie kurz vor einem Gewitter an einem Sommertag. Diese „sublime pauses“56 , das , was die moderne Musik als Generalpausen kennt , wurden später von Haydn und Beethoven aufgegriffen und perfektioniert57. Die Pause als Stilmittel galt und gilt als Qualitätsmerkmal typisch erhabener Kunst bzw. als grundlegender Topos aller Erhabenheitstheorie. Darin wurden speziell stilistische Pausen ähnlich gewertet wie Einfachheit im Allgemeinen. Beim Urheber dieser Disziplin , bei Pseudo-Longinus , wurde die Pause zunächst noch im rhetorischen Rahmen beschrieben : „Das Erhabene ist der Widerhall einer 52 Händel komponierte zwischen 1733 und 1757 16 Orgelkonzerte : Op. 4 HWV 289–294 , Op. 7 HWV 306–311 , HWV 295 , HWV 296a , HWV 304 , HWV 305. 53 Lockman , John : Some Reflexions concerning Operas , Lyric Poetry , Music & c. , in : Rosalinda , A Musical Drama , London 1740 , S. XXi. 54 Baillie , John : An essay on the sublime , in : Ashfield , Andrew / Bolla , Peter de ( Hg. ): The sublime : a reader in British eighteenth-century aesthetic theory , Cambridge 1996 , S. 99 55 Vgl. Egarr , Richard : Booklet zu Handel : Organ Concertos op. 4 , Academie of Ancient Music , Richard Egarr , Harmonia Mundi 807446 , S. 21 56 Vgl. Harris , Ellen T.: Silence as Sound : Handel’s Sublime Pauses , in : The Journal of Musicology 22 ( 2005 ), S. 521–558 57 Vgl. Careri , Enrico : Sull ’interpretazione musicale del silenzio , in : „Et facciam dolci canti“: Studi in onore di Agostino Zijno in occasione del suo 65. compleanno , Lucca 2003 , S. 1080 f.

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großen Seele. So erheischt auch die bloße Vorstellung für sich , auch wenn sie stumm bleibt , nur durch eben diese Seelengröße unsere Bewunderung : das Schweigen des Aias in der Totenbeschwörung ist in seiner Größe erhabener als alles , was Rede wird.“58 Als aber die Rhetorik im 18. Jahrhundert als Disziplin fast verschwand , verteilte sie vorher noch ihr Wissen in einer Art Erbteilung auf neu entstandene Disziplinen , wie die Ästhetik- und die Musiktheorie. Ein Beispiel dafür war die interdisziplinäre Schrift „Of the sister arts“ des Dichters Jacob Hildebrand ( 1692 / 93–1738 ) von 1734. Er forderte darin eben diese Übernahme von „Pausen“ in die Musik : „A Break , or Pause in Poetry is sometimes more significant than any Thing , that might have been said ; so in Music , a Rest in its proper Place has often a wonderful Effect , and from the Beauty of its Surprize , makes the Suspension of the Harmony itself agreeable.“59 Die gesamte englische Ästhetiktheorie des 18. Jahrhunderts orientierte sich an genau solchen Übereinstimmungen zwischen Erhabenheitstheorie und der Händelschen Komposition , um zu definieren , was erhabene Musik ausmacht. Dass das auch Händels Image als Erhabenen förderte , liegt nahe. Zum einen war die Erhabenheit das Thema der Zeit und europaweit à la mode. Dass Friedrich der II. von Preußen ( 1712–1786 ), der zwar „La Sublime“ in seiner Montagsgesellschaft60 diskutierte , persönlich Händels Musik nicht mochte , kümmerte die Menschen auf der Insel respektive die englische Kunstkritik wenig. Allen voran Händels erster Biograf John Mainwaring ( 1735–1807 ), später Professor für Theologie und auch gut belesen in Edmund Burkes „Untersuchungen über das Erhabene und Schöne“ von 1757 , wusste daher durchaus , was er beim Schreiben einer HändelBiografie tat : nämlich offene Türen einrennen und einen Bestseller produzieren. Mainwaring korrelierte die Erhabenheits-Theorie mit Persönlichkeit und Werk Händels und schrieb so die erste , wenn auch tendenziöse Musikerbiografie der Geschichte. Sie erschien zunächst anonym. Später wurde sie im Endeffekt die Grundlage für eine der größten Musikerlegenden der gesamten Musikgeschichte. Händel wurde zum Inbegriff barocker Pracht und nicht von unge58 Pseudo-Longinus : Vom Erhabenen , Griechisch und Deutsch von Reinhard Brandt , Darmstadt 1966 , 9 , 2–4 59 Hildebrand , Jacob : Of the sister Arts ; an Essay , London 1734 , ( ND Los Angeles 1974 ), S. 25 60 Vgl. Riethmüller , Albrecht : Aspekte des musikalisch Erhabenen im 19. Jahrhundert , in : Archiv für Musikwissenschaft 40 ( 1983 ), S. 38

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fähr Lieferant der „UEFA Champions League“-Erkennungsmelodie , die ursprünglich als musikalische Untermalung der Krönung von George II. konzipiert worden war. Diesen englischen Ritterschlag der Erhabenheit durch die Verbreitung der Mainwaring-Biografie hätte Händel , nebenbei erwähnt , beinahe vorab dadurch unterbunden , dass er sich als junger Mann mit dem späteren Übersetzer der Biographie , Johann Mattheson , duelliert hatte. Die beiden waren gemeinsam für eine Opernaufführung zuständig gewesen. Nach einer Gesangseinlage Matthesons hatte ihn sein Stellvertreter Händel nicht wieder , wie eigentlich vereinbart und wie üblich , zurück ans Cembalo und damit an das Dirigentenamt gelassen. Ehrbeleidigungen solcher Art wurden bis zu Anfang des 20. Jhdts. noch mit dem Ruf nach Satisfaction geahndet. Bei dem anschließenden Duell blieb aber Matthesons Degen an Händels Rockknopf hängen und zerbrach61 , so dass beide durch dieses Zufall und durch das Einwirken einer Schlichtungskommission überlebten und Mattheson auch im Laufe dieses Buches noch mehrere Male eine Rolle spielen können wird. Aus der Sicht der Philosophie der Philosophie fällt an Händel auf , dass nicht unwesentlich für seine englischen Ehren an ihn als einen bürgerlichen Untertanen , noch dazu einen Deutschen , die englische Idee vom Natur-Erhabenen war. In England war es möglich , unter Berufung auf Thomas Burnet ( 1635–1715 ) und John Dennis ( 1657– 1734 )62 Erhabenes auch auf konkrete Gegenstände zu projizieren. Zeitgleich war in Frankreich nach wie vor nur „Rhetorisch-Erhabenes“ zugelassen63 , und auch in den deutschen Mutterlanden Händels hatte kein vergleichbarer Diskurs das Natur-Erhabene zementiert , abgesehen von leichten Spuren dessen in der Lyrik von Barthold Hin61 Vgl. Chrysander , Friedrich : G. F. Händel , Leipzig 1858 , Bd. 1 , S. 104 f. 62 Vgl. hierzu Nicolson , Marjorie Hope : Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite , Ithaca 1959 63 Hierüber macht sich der englische Schriftsteller Laurence Sterne ( 1717– 1769 ) lustig : „Ich gestehe , ich hasse so wohl alle frostige Ausdrücke , als die magern Ideen , wodurch sie erzeugt werden ; und werde gemeiniglich von den großen Werken der Natur dergestallt gerührt , dass , wofern ichs zwingen könnte , ich kein Gleichnis machen würde , das geringer wäre , als ein Berg. Alles was man gegen das französische Erhabene bey diesem Beyspiele sagen kann , ist , … die Größe liegt mehr im Worte , und weniger in der Sache [ … ] Der französische Ausdruck verspricht mehr , als er leistet.“ ( Sterne , Laurence : Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien , Leipzig 1802 , S. 105 f. )

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rich Brockes64 und erst Jahre später in der Philosophie Kants. Trotz dieser englisch- und später auch deutsch-philosophischen Kompatibilität wäre die Vorstellung von Händel als einem , der sich mit philosophischen Büchern in die Studierkammer zurückzieht , ein undenkbares Bild gewesen. Händel war philosophisch nicht ungebildet , aber er lernte das Gedankengut der Philosophen weniger aus ihren Büchern , sondern vielmehr im persönlichen Kontakt kennen. Mit Leibniz traf er 1710 in Hannover zusammen. Beide waren damals Bedienstete des Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover. Auch hatte Händel Kontakt mit Alexander Pope ( 1688–1744 ), der ebenso wie Händel 1716 Gast von Lord Burlington war. Dieser Lord war ein vermögender Liebhaber der Künste , der auch mit der Rolle des homosexuellen Liebhabers kokettierte. Das war vor 1725 eine gesellschaftlich relativ unproblematische Idee und scheinbar so unterhaltsam , dass Pope die gemeinsame Zeit als paradiesisch beschrieb. Es wurde in luxuriösester Weise getafelt , geritten , musiziert , philosophiert und man( n ) lag beieinander ( „ lye together“ ).65 Händel hat sich dazu nicht geäußert. Aber Pope und seinen Schriften blieb er immer verbunden. Im Oratorium „Jephtha“ wird Pope sogar zitiert. Die Geschichte des Jephtha dreht sich um Gewalt , Krieg und Opfer : Der Söldnerführer Jephtha wird zum Heerführer der Stämme Israels berufen und erbittet sich als Erfolgsprämie die politische Führungsrolle. Damit dieser Erfolg eintritt , schließt er ein Abkommen mit seinem Gott. Das erste Lebewesen , das ihm bei seiner siegreichen Rückkehr auf seiner Hausschwelle begegnen wird , verspricht er zu opfern. Unglücklicherweise kommt dem siegreichen Jephtha die eigene Tochter entgegen , die prompt zur Opferung vorbereitet wird. Ein Engel sorgt jedoch dafür , dass sie am Leben bleibt , wenngleich sie fortan ein keusches Lebens führen muss. Und das wird in der musikalischen Dramatik Händels zum weitaus größeren Opfer stilisiert. In der biblischen Vorlage wird Jephtas Tochter noch typisch alttestamentarisch vom Leben zum Tode befördert. Händels ambivalentes Happy End ist dem damaligen Librettisten Thomas Morell ( 1703–1784 ) zu verdanken bzw. einem darin enthaltenen Gedanken 64 Vgl. Spörl , Uwe : Berge , Meer und Sterne als Erhabenes in der Natur ? Eine Untersuchung zur Poetik der Frühaufklärung und der poetischen Malerei Brockes , in : Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 ( 1999 ), S. 228–265 65 Vgl. Harris , Ellen T.: Handel as Orpheus : voice and desire in the chamber cantatas , Harvard 2001 , S. 189 ff.

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von Pope : Im Schlusschor des 2. Aktes erscheint der Schlüsselsatz : „Whatever IS , is RIGHT“66. Es handelt sich um eine Textstelle aus Popes „Essay on Man“, worin die natürliche Ordnung der Dinge gefeiert wird , die es nicht in Frage zu stellen gelte. Das erinnerte viele an eine These des Allround-Philosophen Leibniz. Der hatte neben der Erfindung der ersten digitalen Rechenmaschinen auch in einer berühmten Redewendung die Welt als die „beste aller möglichen Welten“ bezeichnet. Popes „Whatever IS , is RIGHT“ geht da noch einen Schritt weiter , wird als Leibnizscher Optimismus abgetan , und als absurd eingestuft angesichts des zeitgenössischen Erdbebens in Lissabon ( als ob es vorher noch nie eine Naturkatastrophe gegeben hätte ). Aber Pope hatte eigentlich ganz anders gedacht. Denn er wollte mit seiner Formel auch sagen , dass jedes Wesen seinen Beitrag für das Wohl des Ganzen zu leisten vermag und auch dürfen muss , so beladen der Einzelne auch mit Gebrechen sei. Künste würden helfen , alles Leid zu überwinden , so wie bei Pope selbst , der nur 1,37 m groß war und ohne Stützkorsett nicht einen Meter laufen konnte.67 Auch dies war vielleicht ein Gedanke Händels bei der Wahl dieser Worte für den Schlusschor. Denn er schrieb die letzten Noten des „Jephtha“ in der Gewissheit baldiger Blindheit : „biß hierher komen den 13 Febr. 1751 verhindert worden wegen so relaxt des gesichts meines linken auges“68 steht im Autograph des 2. Aktes über den Beginn seines Augenleidens. Im Schlusschor streicht Händel noch eigenhändig die Worte „What God ordains , is right“ durch und ersetzt sie mit schon unsicher werdender Schrift durch „whatever is , is right“.69 Und das an einem Tag , an dem er relativ sicher an seinen Tod gedacht hatte. Denn viele entscheidende Tage in seinem Leben , wie zum Beispiel die Uraufführung des Messias oder sein Schlaganfall , waren auf einen 13. gefallen , sodass sich Händel sicher war , auch an einem 13. zu sterben , was vermutlich ganz knapp aufgegangen ist , denn nach Charles Burney ( 1726–1814 ) starb Händel „Freytags , den 66 Pope , Alexander : Essay on Man , London , New Haven 1958 , I. , S. 294 67 Vgl. Hellwig , Marion : Alles ist gut : Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland , England und Frankreich , Würzburg 2008 , S. 31–54 68 Zitiert nach Marx , Hans Joachim : Händels Oratorien , Oden und Serenaten. Ein Kompendium , Göttingen 1998 , S. 109 69 Vgl. Hellwig , Marion : Alles ist gut : Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland , England und Frankreich , Würzburg 2008 , S. 111 ff.

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13ten April 1759 , und nicht Sonnabends den 14ten , wie man zuerst aus Irrthum auf sein Denkmal gesetzt , und in seinem Leben erzählt hatte. Ich habe unwidersprechliche Beweise des Gegentheils , da Dr. Warren , der Händel’s Arzt in seiner letzten Krankheit war , sich [ … ] noch erinnert , dass er den 13ten vor Mitternacht starb“70. Die Londoner Zeitungen berichteten in ihren Ausgaben vom 14. April 1759 über den Tod Händels am Morgen des 14. April71 , eine unglaubwürdig zeitnahe Berichterstattung , denn die Ausgaben waren bereits am Vorabend gedruckt worden.

2.2 Private Erhabenheiten: Wein, Weib, Gesang und Essen Der philosophische bzw. ästhetiktheoretische Begriff der Erhabenheit ist etwas anderes als das alltagspsychologische Verständnis von der Erhabenheit einer Person. Das muss auch Händels Meinung gewesen sein , als er eine Ehrendoktorwürde der Universität Oxford ausgeschlagen hat , vielleicht lag dies aber auch an seiner Arbeitsauslastung oder den mit der Doktorwürde verbundenen Kosten. Insgesamt war Händels Leben so weit weniger ätherisch sublim als seine Musik , dass Mainwaring ( 1735–1807 ) Händels maßlose Ess- und Trinkgelage als Ausgleich eines Genies zu seiner genialen Arbeit uminterpretieren musste : „Diejenigen welche ihn getadelt haben , dass er diesen niedrigen Trieben so übermäßig nachgehängt , hätten billig erwägen sollen , dass die Seltsamkeiten seiner Leibesnothdurft eben so groß waren , als die Gaben seines Geister. [ … ] Diese Arbeit erforderte beständige und reichliche Versorgung mit Lebensmitteln , um die erschöpften Geister , nach Nothdurft , zu ersetzen.“72 Auch Händels Leibesfülle wurde parallel dazu neben seinen Universalkenntnissen und seinem angeblich „auserlesenen Geschmack“73 in den Geniebegriff integriert. Ein Genie könne sich nun mal nicht wie ein Normals70 Burney , Charles : Dr. Karl Burney’s Nachricht von Georg Friedrich Händel’s Lebensumständen und der ihm zu London im Mai und Jun. 1784 angestellten Gedächtnisfeyer , Berlin , Stettin 1785 , S. XL 71 Vgl. Friedenthal  , Richard  : Georg Friedrich Händel  , Hamburg 191995 , S. 152 72 Mainwaring , John : G. F. Händel. Nach Johann Matthesons deutscher Ausgabe von 1761 mit anderen Dokumenten herausgegeben von Bernhard Paumgartner , Zürich 1987 , S. 111 73 Ebd.

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terblicher verhalten , auch nicht beim Essen. Der englische Geniebegriff des 18. Jahrhunderts sah die Unabhängigkeit von Konventionen und Bindungen aller Art sogar als zentrales Definitionsmerkmal an.74 Doch zeigt diese Seite des erhabenen Händels einen eher bleiernen Orpheus. Zumindest einen sehr schweren , ähnlich dem wahrscheinlich diabetischen Bach im gesetzteren Alter. Ganz ungenialisch wird in neuerer Zeit die These vertreten , dass Händel an einer genetisch bedingten Essstörung gelitten haben könnte , sodass er unfähig gewesen sei , Maß zu halten. Händel bestellte in Restaurants oft mehrere Menüs und vertilgte diese dann auch.75 Berühmt ist eine Karikatur mit dem Titel „The charming brute“, die Händel als Schwein auf einem Weinfass sitzend vorführt , inmitten von Würsten und Esswaren , Orgel spielend. Das Bild war eine Revanche an Händel von einem einstigen Freund : Joseph Goupy ( 1689–1769 ) war Maler von Theaterkulissen und Händels Geschäftspartner. Zum Eklat kam es , als Goupy einer Einladung Händels zum Diner gefolgt war , aber im gleichen Atemzug vorgewarnt wurde , dass es nur sehr einfache Kost gäbe. Nach dem bescheidenen Mahl verließ Händel die Tafel und ließ seinen Gast alleine zurück. Als Goupy die Geduld verlor und seinen Gastgeber suchte , fand er ihn in einem der Nebenzimmer , wo Händel sich mit ausgewählten Köstlichkeiten vollstopfte.76 Und das ist nicht die einzige solche Anekdote : Ein anderes Mal lud Händel Leute zum Weintrinken , verließ dann wegen eines angeblichen musikalischen Einfalls die Runde und wurde mittels Sichtung durch das Schlüsselloch eines anderen Raumes dabei erwischt , dass er besseren Wein trank , wenngleich guten Wein von einem verstorbenen Freund , dessen Geschenk Händel nicht mit anderen hatte teilen wollen , warum auch immer.77 Auch im Fall Goupy sind detaillierte Beweggründe nicht überliefert. Vielleicht wollte ihn Händel auch loswerden. In jedem Fall verließ Goupy wutentbrannt das Haus und 74 Vgl. Chrissochoidis , Ilias : A Chubby Orpheus : Handel’s Corpulence as a Prerogative of Genius , in : Wagner , Tamara S. / Hassan , Narin ( Hgg. ): Consuming Culture in the Long Nineteenth Century. Narratives of Consumption , 1700– 1900 , Lanham 2007 , S. 223 ff. 75 Vgl. Hunter , David : Miraculous Recovery ? Handel’s Illnesses , the Narrative Tradition of Heroic Strength and the Oratorio Turn , in : Eightteenth-Century Music 3 ( 2006 ), S. 253–267 76 Vgl. Harris , Ellen T.: Handel as Orpheus : voice and desire in the chamber cantatas , Harvard 2001 , S. 248 f. 77 Vgl. Hogwood , Christopher : Georg Friedrich Händel , Stuttgart , Weimar 1992 , S. 154

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brachte 1754 den besagten Stich in Umlauf , um so auf eine mögliche Homosexualität Händels anzuspielen. Denn die „mollies“, so die Bezeichnung Homosexueller im England des 18. Jahrhunderts78 , galten als maßlose Menschen , nicht nur in ihrer Sexualität , sondern gerade auch beim Essen und Trinken. Vertreter neuerer Forschungsmeinung deuten Händel tatsächlich als wahrscheinlich homosexuell und seine Freude an Ess- und Trinkgelagen nur als eine Form der sublimierten Sexualität.79 Auch da treffen wieder verschiedene Erhabenheitskonzeptionen aufeinander , auf der einen Seite ein vergleichsweise entspannter Umgang mit Homosexualität zu Beginn des 18. Jhdts. und ein eigener Strang der Erhabenheitstheorie. Darin beanspruchen einzelne Gender-Forscher für die je eigene Art von typisch weiblichem oder typisch männlichem Schreiben das Label des Erhabenen. Jedes Geschlecht versteht sich als „anders“, also besser , also erhabener. Und vor allem einige unter den männlich-homosexuellen Genderforschern dehnen die Definition von „anders“ weit aus und sagen : Shakespeare war eigentlich schwul , eben weil er nichts darüber geschrieben hat. Weil das wäre so anders , dass es schon wieder erhaben sei. Zwar ist es tatsächlich so , dass die Vorstellung von homosexuellen Männern als ganz besonders Erhabene sich quer durch verschiedene Disziplinen zieht , von der Kunstgeschichte bis zur Filmwissenschaft und von Winckelmann bis Riefenstahl. Aber es gibt bei Händel auch gegenteilige Thesen , und unabhängig von der Frage , was sexuelle Ausrichtungen mit Musik oder philosophischer Erhabenheit zu tun haben sollten , werden diese verschiedenen Thesen auf Händels Rücken gegeneinander ausgespielt : Die Diskussion um Händels Sexualität beginnt mit seiner Reise nach Italien im Jahr 1706. Hier war er zunächst Gast der Familie Medici in Florenz , und sein Gastgeber Gian Gastone de Medici ( 1671–1737 ) galt als homosexuell. Ab Januar 1707 hielt sich Händel dann in Rom auf. Im Dunstkreis der high society von Politik und Musik lernte er Domenico Scarlatti und Corelli kennen ( dem er einmal entnervt die Geige abnahm , um ihm etwas vorzufüh78 Vgl. hierzu Norton , Rictor : Mother Clap’s Molly House : The Gay Subculture in England 1700–1830 , London 1992 ; Trumbach , Randolph : Sex and the Gender Revolution , Volume 1 : Heterosexuality and the Third Gender in Enlightenment London , Chicago 1998 79 Vgl. exemplarisch : Harris , Ellen T.: Handel as Orpheus : Voice and Desire in the Chamber Cantatas , Harvard 2001 ; Messmer , Franzpeter : Georg Friedrich Händel. Biografie , Düsseldorf 2008

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ren ). Alle schwärmten von Händel. Er wurde herumgereicht als „Il famoso sassone“, als der berühmte Sachse , „viva il caro Sassone ! , es lebe der liebe Sachse ! Nebst andern Ausdrücken ihres Beyfallls , die so ausschweiffend waren , daß ich ihrer nicht gedenken mag. Jedermann war , durch die Größe und Hoheit seines Stils , gleichsam wie vom Donner gerührt“, schreibt Mainwaring laut Mattheson80. Angeblich soll Scarlatti , als er den maskierten Händel am Cembalo hörte , ausgerufen haben : „Das ist entweder der berühmte Sachse oder der Teufel“81. Es kam zur musikalischen Kooperation mit Kardinal Benedetto Pamphili ( 1653–1730 ). Dieser betätigte sich als Librettist für mehrere Kantaten und Oratorien Händels , in denen Händel als süße Muse und Orpheus besungen wird. Das zu Lebzeiten in den „Vauxhall-gardens“ aufgestellte Denkmal zeigt Händel als Orpheus mit Harfe , als „man of the vastest genius and skill in music that perhaps has lived since Orpheus“82 – und eben diese Titulierung als Orpheus wurde in der Neuzeit sofort als chiffrierte Benennung von Händels Homosexualität aufgegriffen , da Orpheus , nachdem er in die Unterwelt hinabgestiegen war , um Eurydike zum Leben zu erwecken , der Liebe zu den Frauen abschwor.83 Noch dazu hatte Händel in jungen Jahren eine Festanstellung als Lübecker Organist ausgeschlagen , als er dafür die traditionelle Forderung , die Tochter des vorangegangenen Amtsinhabers Buxtehude zu heiraten , ausgeschlagen hatte. Aber diese Option hatte ebenfalls Händels Reisegefährte und Mitbewerber Mattheson und angeblich auch Bach84 ausge80 Baselt , Bernd : Georg Friedrich Händel , Leipzig 1988 , S. 47 81 Es gibt verschiedene Lesarten dieses Ausspruchs , das „Bremische Magazin zur Ausbreitung der Wissenschaften“ überliefert noch die folgende : „Nachdem er sich etwa ein Jahr zu Florenz aufgehalten hatte , gieng er nach Venedig , wo er zuerst auf einer Maskerade , wie er verlarvet auf einem Flügel spielete , von Scarlatti entdecket wurde , welcher , wie er ungefähr dabey stand , soll ausgerufen haben : der Musikant müsste entweder der Sachse oder der Teufel seyn.“ ( Bremisches Magazin zur Ausbreitung der Wissenschaften , Künste und Tugend. Von einigen Liebhabern derselben mehrentheils aus den Englischen Monatschriften gesammelt und herausgegeben , 5 ( 1762 ), S. 323 f. ) 82 Egmont , Earl of : Diary of Viscount Percival afterwards First Earl of Egmont , 31. August 1731 : Manuscripts of the Earl of Egmont , Vol 1 : 1730–1733 , London 1920 , S. 201 83 Vgl. Harris , Ellen T.: Handel as Orpheus :Voice and Desire in the Chamber Cantatas , Harvard 2001 , passim 84 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S.  110 f.

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schlagen. Dies lag vielleicht wirklich an der vergleichsweise gereiften Tochter. Auch ist es so , dass die Bezeichnung Orpheus im 18. Jahrhundert primär musikalische Genialität versinnbildlichte. Und Händel spannte in Venedig dem Bruder seines florentinischen Gastgebers , dem Prinzen Ferdinando de Medici ( 1663–1713 ), die Mätresse aus ( als sich dieser während des Karnevals mit der Syphilis infiziert hatte ), nämlich die 40-jährige Sängerin Vittoria Tarquini , eine schöne Frau mit angeblich umwerfender Wirkung und dem Spitznamem „La Bombace“, die Bombe85. Auch wenn Mainwaring einräumt , der 25-jährige Händel sei in diesem Fall weniger Eroberer als vielmehr Eroberter gewesen.86 Die Beziehung mit der nicht nur als Mätresse unter Kontrakt stehenden , sondern auch noch zusätzlich verheirateten Tarquini war die einzige offizielle seines Lebens , auch verewigt in einer Briefnotiz der Kurfürstin Sophie von Hannover ( 1630–1714 ) an die Königin von Preußen , neben Bemerkungen über Händels gutes Aussehen und sein eindrucksvolles Cembalo-Spiel.87 Natürlich war die Beziehung ein gesellschaftlicher Skandal88 , währte unter entsprechendem Druck nicht länger als ein halbes Jahr , und Händel war zumindest für die Zeit seines Italienaufenthaltes von galanten Abenteuern geheilt und Dreiecksverhältnisse ohne Happy end waren später nur mehr Gegenstand seiner Opern und Kantaten ( z. B. in „Acis und Galatea“ oder in „Alcina“ ). Dass Händel in London anscheinend häufig wechselnde Beziehungen zu Frauen aus der Musik- und Opernszene hatte , war eher inoffiziell. Kein Geringerer als König Georg III. von England ( 1738–1820 ) notierte diese Details in sein Exemplar der Händel-Biografie Mainwarings aus dem Jahr

85 Vgl. Van Til , Marian : George Frideric Handel. A Music Lover’s Guide , to his Life , to his Faith & The Development of Messiah & His other Oratorios , Youngstown 2007 , S. 37 f. ; Thomas , Gary C.: “Was George Frideric Handel Gay ?” On closet questions and Cultural Politics , in : Brett , Philip / Wood , Elizabeth / Thomas , Gary C. ( Hgg. ): Queering the Pitch. The new Gay and Lesbian Musicology , New York 22006 , S. 164 86 Vgl. Mainwaring , John : G. F. Händel. Nach Johann Matthesons deutscher Ausgabe von 1761 mit anderen Dokumenten herausgegeben von Bernhard Paumgartner , Zürich 1987 , S. 61 87 Kurfürstin Sophie von Hannover : Brief vom 14. 06. 1710 an Kronprinzessin Sophie Dorothea , online unter : http://www.haendelhaus.de/de/Haendel/Ausgestellte_Dokumente/index. html?print=true#15 ( 07. 09. 2012 ) 88 Vgl. Keates , Jonathan : Handel : the man and his music , London 1985 , S. 50

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1760.89 Dass Händels Frauen dann aber die Einzigen waren , deren Rat er duldete und befolgte , dass Susannah Cibber ( 1714–1766 ), die Schwester des Komponisten Thomas Arne , seine Lieblingssängerin wurde und er die von ihrem Ehemann als Ehebrecherin Verstoßene gegen kirchlichen Protest bei der Uraufführung des Messias durchsetzte , hat zwar wahrscheinlich nicht nur platonisch-musikalische Hintergründe , weicht aber innerhalb der Händelbiographie im Lauf der Zeit anderen Potenzialen an Erhabenheit , nämlich der Erhabenheit über solche Fragestellungen. Später gab es für schöne Frauen keine Betätigung mehr in Händels Bett. Grund war sein intensiver Weingenuss. Auch schon damals wusste der Volksmund , dass sich Venus und Bacchus nicht vertragen. Noch dazu litt Händel unter einer chronischen Bleivergiftung90 , die ihn wahrscheinlich impotent machte. Dem Wein , den Händel und seine Zeitgenossen tranken , wurde mehrfach Blei beigemischt , bei der Einschiffung im Erzeugerland , bei der Ausschiffung in London und beim Abfüllen auf Flaschen , besonders der von Händel bevorzugte Portwein. Das Blei war so etwas wie eine „sales promotion“, sollte den Wein haltbarer machen und den Geschmack lieblich abrunden. Die gesundheitsschädigende Wirkung von Blei war zu dieser Zeit zwar schon bekannt , wurde aber ebenso in Kauf genommen wie Weichmacher in heutigen Lebensmittelverpackungen. Die häufigsten Symptome einer Bleivergiftung sind Impotenz , geistige Ausfälle , Lähmungserscheinungen und Wutanfälle , unter denen auch Händel nachweislich litt. Diese wenig erhabenen Krankheitsumstände sollen , der Theorie des Musikwissenschaftlers David Hunter zufolge , den „sublime style“ seiner Oratorien ausgelöst haben : Demnach habe Händel das eigene Leiden empfindlicher für biblischen Leidensgeschichten gemacht und zu einer kompensatorischen Rückbesinnung auf seine seelische Innenwelt geführt. Andererseits reduzierte die Gattung des Oratoriums den Arbeitsaufwand des chronisch Kranken erheblich , denn Versatzstücke und Chöre konnten so leicht umgearbeitet oder erneut verwendet werden.91 Für Händels Zeitgenossen 89 Vgl. Smith , W. C.: George III , Handel , and Mainwaring. Musical Times 65 ( 1924 ), S.  789–795 90 Vgl. Frosch , William A.: The “Case” of George Frideric Handel , in : New England Journal of Medicine 321 ( 1989 ), S. 765–769 91 Vgl. Hunter , David : Miraculous Recovery ? Handel’s Illnesses , the Narrative Tradition of Heroic Strength and the Oratorio Turn , in : Eightteenth-Century Music 3 ( 2006 ), S. 253–267

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wäre Derartiges zu behaupten ein Sakrileg gewesen , denn es wurde behauptet , sogar die Musen seien zu kraftlos , um die künstlerischen Verdienste Händels ausreichend zu würdigen. So heißt es zumindest in einer 1745 veröffentlichten Ode auf Händel : „forgive the Muse , / that in unhallow’d , humble measure strives / With them to praise , with them / Too impotent to sing.“ 92 Vielleicht konnte Händel zu diesem Zeitpunkt einfach mit den Liebes- und Eifersuchtsthemen der Opernwelt nicht mehr viel anfangen , warum auch immer. Seit 1741 komponierte Händel zumindest überwiegend Oratorien , wenngleich auch seine 1744 uraufgeführte „Semele“ noch ganz von Liebesdingen geprägt ist , so handelt es sich doch um die Liebe einer erhabenen , unerreichbaren Frau , die alle irdischen Männer verschmäht und dafür den Gott Jupiter und die Unsterblichkeit erwählt.93 Über Händels Privatleben wissen wir ab da wenig , es lassen sich nur noch vereinzelte Freunde und Hobbys aufreihen. Händel sammelte Gemälde von und nach Rembrandt , Canalotti , Watteau und Poussin ( vor allem das damals typische Erhabenheits-Sujet der Ruine taucht in dieser Sammlung oft auf )94 , aber eine Familie hatte er nicht – was nicht heißt , dass es keine Gelegenheit zur Familiengründung gegeben hätte. Eine Schülerin Händels , die Tochter der Hamburger Kaufmannsfamilie Sbülens , war geradezu vernarrt in ihn , so dass er schließlich nachgab. Die Heirat scheiterte aber zunächst am Vorurteil der Brautmutter über Händels Berufsstand als Musiker , den sie als Fiedler titulierte. Als sie dann starb , willigte der Brautvater zwar in die Heirat ein , doch diesmal scheiterte das Vorhaben an Händels Stolz , der die Braut nun nicht mehr haben wollte. Diese soll der Überlieferung nach vor Gram gestorben sein.95 Weitere ernsthafte Eheanbahnungsversuche blieben aus  , obwohl Händel während seiner Londoner Zeit finanziell eine gute Partie gewesen wäre. Sein Ruf als schillernde Persönlichkeit schreckte viele ab , denn er galt als Arbeitssüchtiger mit dem Hang zu kulinarischen 92 O. V.: An Ode to Mr. Handel , Printed for R. Dodsley at Tully’s Head in Pall Mall , London 1745 , S. 7 93 Vgl. hierzu Volk-Birke , Sabine : Allegorie und das Erhabene bei Händel , in : Händel-Jahrbuch 54 ( 2008 ), S. 34 94 Vgl. McGeary , Thomas : Handel as Art collector : Connoisseurship and taste in Hanoverian Britain , in : Early Music 37 ( 2009 ), S. 533–574 95 Vgl. Coxe , Willian : Anecdotes of George Frederick Handel and John Christopher Smith , London 1799 , S. 28 f. ; Hunter , David : Handel’s students , two lovers and a shipwreck , in : Early Music 39 ( 2011 ), S. 160 f.

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Wein, Weib, Gesang und Essen

Exzessen. Es sei denn , er komponierte. Denn währenddessen stellte Händel die Nahrungsaufnahme bis auf trockenes Brot praktisch ein , wenngleich er sehnsüchtig daran gedacht haben muss , vor allem an Flüssignahrung. Auf einem Entwurf zum Oratorium „Saul“ findet sich nämlich die folgende Notiz : „12 gallons port , 12 bottles french Duke streets , Meels“ 96. Es handelt sich wohl um ein Memo , sein Personal anzuweisen , 12 Gallonen Portwein ( etwa 55 Liter ) und 12 Flaschen Rotwein bei seinem Weinhändler „Meels“ in der Duke Street zu beschaffen , damit sie für die Feier der Vollendung seines neuesten Werks zur Verfügung standen. Aber unter Entzug solcher Genüsse war Händel ein schneller , flinker Komponist , der wahre Mammutwerke , wie die Vertonung des Messias , in knapp drei Wochen bewältigte und wohl gerade wegen und nicht trotz der Freude am guten Essen so schnell und gehaltvoll komponierte. Für Stefan Zweig war die Kompositionstätigkeit Händels eine Sternstunde der Menschheit97 , aber die eigentliche Sternstunde Händels war das Essen danach. Auch dank seiner Küche. Händels Haus in der Nähe des Hyde-Parks war ein typischer Junggesellenhaushalt und trotz schöner Gemälde karg eingerichtet. Nur die Küche war auf dem neuesten Stand und mit allen erdenklichen Gerätschaften bestückt , inklusive einem eigenen Koch , der auch als Sänger aushalf. Alles war auf die Arbeit ausgerichtet , die praktisch ins „Privatleben“ integriert wurde : Kopisten , Musiker und Schreiber wurden zur Ersatzfamilie. Aber Händel war nie ein Misanthrop oder Eigenbrötler. Er begegnete seinen Bediensteten mit Empathie und Freundlichkeit , was im 18. Jahrhundert nicht die Regel war. Auch sein engster Mitarbeiter John Christopher Smith senior ( 1712–1795 ) wurde nach einem Streit nicht wie angekündigt enterbt , sondern unter anderem mit üppigen 500 Pfund Sterling ( ca. 70. 000 € 98 ) bedacht , obwohl Smith den bereits erblindeten , aber umso streitlustigeren Händel 96 Fuller-Maitland , J. A. / Mann , A. H.: A Catalogue of the music in the Fitzwilliam Museum , Cambridge 1893 , S. 194 97 Vgl. Zweig , Stefan : Sternstunden der Menschheit , Frankfurt am Main 482002 , Georg Friedrich Händels Auferstehung , S. 66–89 98 Die Umrechnung des englischen Pfunds orientiert sich an folgenden Untersuchungen  : House of Commons  : Inflation  : The Value of the Pound 1750–1998 , Research Paper , 99 / 20 , 23. February 1999 , online unter : http:// www.parliament.uk/documents/commons/lib/research/rp99/rp99–020.pdf ( 02. 09. 2012 ); Officer , Lawrence H. / Williamson , Samuel H.: Purchasing Power of British Pounds from 1245 to Present , 2011 , online unter : www.measuringworth.com/ppoweruk/( 02. 09. 2012 )

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bei einem Spaziergang durch den Kurort Turnbridge Wells einfach stehen gelassen hatte und Händel allein nach Hause zurückfinden hatte müssen.99 In jenem Turnbridge Wells hat Händel aber auch bessere Tage gesehen. Hier verbrachte er seit 1735 regelmäßig seine Sommerferien. Der Ort war nicht nur für sein Heilwasser , sondern vielmehr für sexuelle Freizügigkeit berühmt. Für eine einschlägige Liaison Händels gibt es zwar keinen Beweis , aber zumindest einen Hinweis : So lebte ein gewisser „Charles Handell“ bis zu seinem Tod im März 1776 in der Nähe von Turnbridge Wells. Fünf Londoner Tageszeitungen war sein Ableben einen Bericht wert. Sie weisen unisono darauf hin , dass es sich um einen Verwandten des großen Musikers Händel gehandelt habe.100 Natürlich könnte Charles Händel auch ein Adoptivsohn gewesen sein , denn noch 1758 , ein Jahr vor Händels Tod , erhielt ein Waisenkind des Londoner Foundling Hospitals den Namen Maria Augusta Händel.101 Aber ob Adoptivkind oder leiblicher Sohn , zumindest sprechen beide Theorien für die große Realitätsnähe des Komponisten. Es hat wohl den Anschein , als ob eine zeitgenössische Charakterisierung durch den englischen Schriftsteller Charles Burney ( 1726– 1814 ) treffend gewesen sei : „Händel’s Figur war groß ; und er war etwas untersetzig , stämmig und unbehülflich in seinem Anstande ; sein Gesicht aber [ … ] war voller Feuer und Würde , und verrieth Geistesgröße und Genie. Er war zufahrend , rauh und entscheidend in seinem Umgange und Betragen ; aber ohne alle Bösartigkeit und Tücke. Auch war in seinen lebhaftesten Anwallungen des Zorns und der Ungeduld eine gewisse Laune und Spaßhaftigkeit , die vollends durch sein gebrochenes Englisch noch lächerlicher wurde. Sein natürlicher Hang zu Witz und Laune , und seine glückliche , die gemeinsten Vorfälle auf eine ungewöhnliche Art zu erzählen , machte ihn fähig , Personen und Sachen in dem lächerlichsten Lichte darzustellen. Wäre er ein großer Meister der englischen Sprache wie Swift gewesen ; so würde er eben so viele witzige Einfälle , und ziemlich viel von eben dem Schlag , gehabt haben. [ … ] Händel’s gewöhnliche Miene war etwas finster und sauersehend ; wenn er aber einmal lächelte , so 99 Vgl. Friedenthal , Richard : Georg Friedrich Händel , Hamburg 191995 , S.  150 f. 100 Vgl. Chrissochoidis , Ilias : A Handel Relative in Britain ? , in : Musical times 148 ( 2007 ), S. 49–58 ; Ders.: Charles Handell , Esq. (  ?–1776 ), in : Newsletter of The American Handel Society 21 ( 2006 ), S. 1 und 3 101 Vgl. F. G. E. , in : The Musical Times 43 ( 1902 ), S. 310

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war es , wie die Sonne , die aus einer schwarzen Wolke hervorbricht. Aus seinen Zügen strahlten dann auf einmal Verstand , Witz und gute Laune mit einer Stärke hervor , die ich nicht leicht bey sonst Jemand bemerkt habe.“102

2.3 Der Auferstandene: Die Funktionalisierung von Not So zeichnet sich auch hinter diesen menschlicheren Seiten doch wieder eine , auf eine ganz besondere Art erhabene Kontur ab. Auch gerade für den zeitgenössischen englischen „Kaffeehaus“-Diskurs war Händel das erhabene , weil immer wieder sich erhebende Stehaufmännchen der Musikszene , ein barocker Pop-Star , der allen Stürmen trotzte. Vor allem die Genese des Oratoriums „Messias“ bot Raum für eine erhabene Stilisierung. Der „Messias“ begann der Legende nach mit einem Schlaganfall und einem Bankrott103. Romain Rolland ( 1866–1944 ) beschrieb es so : „Es ist eine im Leben der Großen sich oft wiederholende Tatsache , dass sie in dem Augenblick , wo alles verloren , wo der Tiefpunkt erreicht zu sein scheint , in Wirklichkeit auf dem Gipfel angelangt sind. Händel schien besiegt zu sein. Das war der Augenblick , in dem er das Werk schrieb , das seinen Ruhm in ganz Europa befestigte.“104 Händel hatte wohl mehrere tausend Pfund Sterling bei seinen misslungenen Opernunternehmen verloren.105 Er war zwischen politische Fronten geraten : König Georg. II von England hatte beabsichtigt , den Taufpaten seines Enkelkindes selbst zu bestimmen. Aber sein Sohn war dagegen. Die Folge davon waren öffentliche Ausschreitungen zwischen den beiden. Also gründete der Sohn nicht nur einen eigenen Haushalt , sondern auch eine eigene Oper , „die Opera of the Nobility“, die sogenannte Adelsoper – und das hatte natürlich schmerzliche finanzielle Konsequenzen für Händel als treuen Anhänger Georg II. und als Betrei102 Burney , Charles : Dr. Karl Burney’s Nachricht von Georg Friedrich Händel’s Lebensumständen und der ihm zu London im Mai und Jun. 1784 angestellten Gedächtnisfeyer , Berlin , Stettin 1785 , S. XLI und S. XLV 103 Vgl. Zweig , Stefan : Sternstunden der Menschheit , Georg Friedrich Händels Auferstehung , Frankfurt am Main 482002 , S. 72 f. 104 Rolland , Romain : Georg Friedrich Händel , München , Zürich 1985 , S. 70 105 Im Schrifttum kursiert häufig die nicht belegbare Summe von 9. 000 Pfund Sterling ( ca. 1,3 Millionen Euro ). Vgl. Hume , Robert D.: Handel and Opera Management in London in the 1730s , in : Music & Letters 67 ( 1986 ), S. 356

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ber der Konkurrenzoper , der Royal Academy of Music. Nüchtern betrachtet waren zwar Händels finanzielle Reserven erschöpft , aber bankrott oder niedergeschlagen war er nicht.106 Vielleicht bescherte ihm seine Leibesfülle gute Nerven. Auf alle Fälle ging er beim Niedergang seines Opernunternehmens ausgeglichen mit Freunden spazieren , angeblich froh , dem Druck des Operngeschäfts entronnen zu sein. Aber im gleichen Atemzug arbeitete er zäh weiter , um der Misere zu entkommen , und konnte mit einem Benefizkonzert zu seinen Gunsten am 28. März 1738 zur Beseitigung der gröbsten Liquiditätsengpässe beitragen. Es kamen etwa 1. 300 Menschen , die Einnahmen in Höhe von mindestens 800 Pfund107 , also von umgerechnet etwa 100. 000 € einbrachten ( im Vergleich : 1750 lag der Jahresverdienst eines Landarbeiters oder Dieners zwischen fünf und neun Pfund Sterling108 ). Auch der im April 1737 erlittene Schlaganfall ( samt Lähmungen ) war durch Händels eiserne Konstitution und durch Kuren in Aachen , damals Aix-la-Chapelle , ausgeheilt. Weder sein ökonomisch-musikalischer Scharfsinn noch sein Humor sollen gelitten haben. Über Persiflagen seiner Opern konnte er genauso lachen , wie leere Zuschauerränge der eigenen Opernaufführungen loben : „Das macht nichts [ … ] desto besser wird die Musik klingen !“109 Es waren genau solche Notlagen , aus denen Händel jeweils das Beste machte , indem er zum Beispiel notgedrungen neue musikalische Gattungen schuf , die ihn dann berühmt machten. Da wäre zum Beispiel das Orgelkonzert. Da Händel als Orgelvirtuose bekannt war , sollten damit mehr Zuschauer in seine Oratorienaufführungen gelockt werden , denn in den Pausen wurden diese Konzerte dargeboten.110 Auch die Vertonung des Messias ( HWV 56 )111 , ein Oratorium , 106 Vgl. Hogwood , Christopher : Georg Friedrich Händel , Stuttgart , Weimar 1992 , S. 167 107 Vgl. Hume , Robert D.: Handel and Opera Management in London in the 1730s , in : Music & Letters 67 ( 1986 ), S. 360 f. 108 Vgl. Gilboy , Elizabeth W.: Wages in Eighteenth Century England , Cambridge / Massachusetts 1934 , S. 154 ff. 109 Burney  , Charles  : Dr. Karl Burney’s Nachricht von Georg Friedrich Händel’s Lebensumständen und der ihm zu London im Mai und Jun. 1784 angestellten Gedächtnisfeyer , Berlin , Stettin 1785 , S. XXXIX , Fn. 59 110 Vgl. auch Ehrlinger , Friedrich : Georg Friedrich Händels Orgelkonzerte , Diss. Uni Erlangen 1940 , S. 63 ff. 111 Vgl. etwa die Aufnahme von Trevor Pinnock mit dem English Concert and Choir ( Archiv Produktion 1988 ), ebenso empfehlenswert der Amerikaner William Christie mit seinem Ensemble „Les Arts Florissants“ ( harmonia mundi 1994 ).

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also ein geistliches Drama ohne eigentliche Handlung , als eine Art Meditation und Auslegung von Bibelzitaten , war englischsprachiges Zwangsneuland nach dem nachlassenden Erfolg von Händels italienischen Opern , bei dem sich zuletzt sogar Sängerinnen auf offener Bühne gerauft und geprügelt hatten. Das messianische Experiment lockte in der ersten Aufführung in Dublin am 13. April 1742 , also fünf Jahre nach Händels Schlaganfall , über 1. 200 Zuhörer an. Händels oberster Dienstherr auf Erden , König Georg II. von England , soll sich der Legende nach bei den ersten Takten des „Hallelujah“Chores erhoben haben , bis zum Schluss stehengeblieben sein und damit eine bis heute wirkende englische Tradition begründet haben. Auch das Händelsche Harfenkonzert , das berühmteste seiner Art , entstand in einer Notlage aus ökonomischem Kalkül : Als Zwischenmusik für das Oratorium „Alexanders Fest“ sollte es mit dem Starharfenisten Powell besetzt werden , um mit diesem zusätzlichen Highlight an Mehreinnahmen zu kommen.112 Händel verwirklichte also noch vor der Gründung der Vereinigten Staaten den american way of life : Er versuchte , nach Niederlagen immer wieder aufzustehen , ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen und vor allem niemals aufzugeben. Seit 1753 war Händel völlig erblindet , und zwar nach einer fehlgeschlagenen Staroperation durch den renommierten „Star-Stecher“ John Taylor , der auch Bachs Augen kaputtoperiert hatte. Dennoch spielte Händel weiter die Orgel oder leitete neben der Orgel sitzend die Aufführungen. Insbesondere das Oratorium „Samson“, das von dem durch die List seiner Feinde gefangenen und geblendeten Samson handelt , wurde stark mit Händels Schicksal verbunden. Folglich war „das Publikum so berührt , dass viele der Anwesenden sogar Tränen vergossen“113 , als die Arie „Tiefdunkle Nacht , kein Tag , kein Licht / nur dunkle Nacht umhüllt mein Angesicht“ erklang. Als sein Arzt versuchte , Händel zu trösten und von einem seit Kindheit blinden Organisten berichtete , reagierte Händel zunächst gereizt , stellte besagten Musiker dann aber eigens ein114. Auch das war etwas , was Ein weiteres Juwel der Messias Diskographie ist die Aufnahme von Rene Jacobs mit dem Freiburger Barockorchester aus dem Jahr 2006 ( harmonia mundi ). 112 Vgl. hierzu auch Clark , Sylvia : The Handel harp concerto : another point of view , in : The American Harp Journal 20 ( 2006 ), S. 29–34 113 Coxe , William : Anecdotes of of George Frederick Handel and John Christopher Smith , London 1799 , S. 45 114 Vgl. Friedenthal , Richard : Georg Friedrich Händel , Hamburg 191995 , S.  150

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nur in England möglich war : Dort gab es eine lange Tradition blinder Harfenisten , deren Blindheit fast eine Art Berufsqualifikation darstellte , und nicht nur fast seherisch-ästhetisches Image , sondern auch besondere Fähigkeiten an der Harfe ermöglichte , zum Beispiel eben an der für die Insel typischen Welsh Triple Harp , für die Händels Harfenkonzert eigentlich geschrieben worden war. Mit ihren drei Saitenreihen ist dieses Instrument fast nur mit Intuition , und nicht so sehr mittels visueller Orientierung , zu betätigen , will der Spieler nicht riskieren , seekrank zu werden. Und mittels solcher Geschichten und nationalen Bezüge wurde Händel ( n icht nur ) in England schon zu Lebzeiten zur erhabenen Legende und auch lexikalisch kategorisiert als „a bright genius [ … ] make a R aphael , a Pope , or a H andel , in Painting , Poetry and Musick“115. Als Genie solcher Größenordnung war Händel fast zwangsläufig von einer erhabenen Aura umgeben. Mainwaring empfand das so wie ein halbes Jahrhundert später Eckermann , als er Goethe zum ersten Mal begegnete116 – nur mit dem Unterschied , dass Mainwaring Händel wahrscheinlich nie oder nur am Rande persönlich kennengelernt hat. Aber auch Zeitzeugen erster Hand , wie der Musikhistoriker Sir John Hawkins ( 1719–1789 ) bestätigten die narkotische Wirkung der Persönlichkeit Händels : „Gab er ein Orgelkonzert , so war es gemeiniglich sein Verfahren , dasselbe einzuleiten mit einem freien Präludium in den Oktaven , welches sich in einer langsamen und feierlichen Folge in das Ohr einstahl. Die Harmonie dicht gewebt und so voll wie es nur auszudrücken möglich war , die einzelnen Perioden erstaunlich kunstvoll miteinander verbunden , wobei dennoch das Ganze vollkommen verständlich blieb und den Anschein einer großen Einfachheit hatte. [ … ] 115 Chomel , Noel , in : Bradley , Richard ( Hg. ): Dictionaire Oeconomique : Or The Family Dictionary , Dublin 1727 , Preface 116 „heute war ich zuerst bei Goethe [ … ] und der Eindruck seiner Person auf mich der Art , dass ich diesen Tag zu den glücklichsten meines Lebens rechne [ … ] so kam Goethe , in einem blauen Oberrock und in Schuhen ; eine erhabene Gestalt ! [ … ] ich vergaß das Reden über seinem Anblick , ich konnte mich an ihm nicht satt sehen. Das Gesicht so kräftig und braun und voller Falten , und jede Falte voller Ausdruck. Und in allem solche Biederkeit und Festigkeit , und solche Ruhe und Größe ! Er sprach langsam und bequem , so wie man sich wohl einen bejahrten Monarchen denkt , wenn er redet. Man sah ihm an , daß er in sich selber ruhet und über Lob und Tadel erhaben ist“ ( Eckermann , Johann Peter : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens , 1. Teil , Leipzig 1836 , 10. Juni 1823 , S. 37–40 )

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Dies war im allgemeinen die Art seines Spieles ; aber wie sollte man die Wirkung desselben auf die entzückte Versammlung beschreiben ! Stille , der wahrste Beifall , erfolgte in dem Augenblicke , in welchem er sich anschickte die Orgel zu berühren , eine so tiefe Stille , dass sie das Athmen hemmte und über den Lauf der natürlichen Functionen Gewalt zu üben schien“117. Auch Händels Positionierung in den politischen Wirren seiner Zeit fiel , bei allen Gefahren , am Schluss gut aus : Händels früherer Librettist Charles Jennens ( 1700–1773 ) war derjenige , der , wie Engels in Marx’ Schriften , Oppositionsdenken in die Oratorien Händels118 transportierte. Als sogenannter „Non-Juror“, der keinen Eid auf König Georg ablegte , war Jennens von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen und hatte kein anderes Sprachrohr als Händel. Im Oratorium „Belsazar“ trägt der Titelprotagonist unverkennbar die Züge Georgs II. von England. Der englische König wird also mit einem Tyrannen verglichen , dem sein Untergang angekündigt wird , und Händel ließ dies durchgehen. Es ist nicht verwunderlich , dass Jennens auch als Anhänger der schottischen Stuarts gilt , einer Familie , die im Gegensatz zu den konkurrierenden Hannoveranern zu diesem Zeitpunkt noch sehr messianisch aussätzigen Skrofel mit Handauflegen heilte. Jennens ließ in den Altar der Kapelle seines Familiensitzes Stuart-Reliquien einarbeiten und in den Gebetbüchern die Namen der Regenten aus dem Hause Hannover ausstreichen.119 Warum sich die enge geschäftliche und private Verbindung zwischen Jennens und Händel löste , ist nicht mehr eindeutig zu belegen120. Aber es ist zumindest sicher , dass im Schicksalsjahr 1746 für Händel kein Heraushalten aus den politischen Diskursen mehr möglich war , als in der Schlacht von Culloden jede Erfolgsaussicht für den schottischen Thronprätendenten Charles Edward Stuart ( 1720–1788 ) verloren gegangen 117 Hawkins , John : zitiert nach Chryssander , Friedrich : G. F. Händel , Bd. III , Leipzig 1867 , S. 221 118 Vgl. Smith , Ruth : Handel’s Oratorios and Eighteenth-Century Thougth , Cambridge 1995 , passim 119 Vgl. Erhardt , Tassilo : Händels Messiah , Text , Musik , Theologie , Bad Reichenhall 2007 , S. 60 f. 120 Ein Briefwechsel aus dem Jahr 1749 ist noch überliefert , bei dem sich Jennens in Fachfragen zum Orgelbau an Händel wandte. Händel ergänzt die Schlussformel seines Antwortbriefs mit durchaus persönlichen Worten : „wishing you all Health and Hapiness“. ( Gudger , William D.: Georg Frederic Handel’s 1749 Letter to Charles Jennens , online unter : http://memory.loc.gov/Ammem/ collections/moldenhauer/2428129.pdf ( 02. 09. 2012 )

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war. Händel durfte bzw. musste dem Sieger von Culloden , dem Herzog von Cumberland , musikalisch huldigen. Das hatte andererseits aber auch wieder Vorteile. Denn wären die Stuarts wieder auf den Thron gelangt , dann wäre wohl deren musikalischer Favorit Scarlatti und nicht Händel das Zentrum des musikalischen Sonnensystems bei Hofe gewesen.121 Händel passte sich an seine neue Rolle an und benötigte jetzt dauerhaft einen anderen , politisch korrekten Librettisten. Mit dem Theologen Thomas Morell fand er ihn und war damit endgültig zum Establishment zurückgekehrt. Nun wurde er ( neben dem ebenfalls blinden Milton ) zur englischen Legende , inklusive seiner Stücke – neben den bereits genannten Werken zum Beispiel die Sarabanden-Arie „Lascia , ch’io pianga“ aus dem Rinaldo , 1711 am Haymarket-Theatre in London aufgeführt. Die Wassermusik war die musikalische Umrahmung einer Bootsfahrt Königs Georgs I. und wurde tatsächlich mit einem 50 Mann starken Orchester von einem Boot aus gespielt , des großen Erfolgs wegen sogar dreimal hintereinander. Die Feuerwerksmusik avancierte zum gelungenen Ausgleich zu einem Feuerwerk , das wegen Nässe nicht abbrennen wollte. Der Messias , der bereits beim ersten Mal zugunsten von Armenkrankenhäusern und Schuldgefangenen gespielt worden war ( Händel war ehrenamtlicher Co-Direktor des Londoner Foundling-Hospitals , neben William Hogarth , Maler , Verfasser der ästhetiktheoretisch bedeutenden „Analysis of beauty“ und Mitglied der ehrfurchtgebietenden „Sublime Society of Beefsteaks“ ), wurde auch später immer wieder zu karitativen Zwecken aufgeführt , vor allem seit dem 19. Jhdt. in den USA zur Vorweihnachtszeit. Händel selber bedachte , neben vielen Verwandten und Freunden , in seinem Testament die Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Künstler und ihrer Familien. Und so wurde bei seinem Tod Händel , dessen englische Existenz 2. Jahre zuvor beinahe durch eine auf breitem Konsens beruhende Hetzkampagne vernichtet worden war und der damals eigentlich England für immer verlassen hatte wollen , für seine Standhaftigkeit der Wunsch gewährt , in der Westminster Abbey beigesetzt zu werden , und seine Musik zum Ausdruck des britischen Nationalstolzes.

121 Vgl. hierzu Hunter , David : Handel among the Jacobites , in : Music & Letters 82 ( 2001 ), S. 543–556 ; Corp , Edward : Handel , Scarlatti and the Stuarts : A Response to David Hunter , in : Music & Letters 82 ( 2001 ), S. 556–558

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Zwischen Massenspektakel und historischer Aufführungspraxis

2.4 Das Erbe: Zwischen Massenspektakel und historischer Aufführungspraxis Auch Händels Werdegang als Musikerlegende ist die eines ewig Auferstehenden. Seine Erfolgsgeschichte gilt als eine der wenigen , die nie wirklich unterbrochen wurden. Wenngleich verschiedene Hochs und Tiefs in der Händel-Verehrung zu konstatieren sind , blieb sein Nimbus doch stets erhalten , wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen. Die Zeit nach Händel sollte Händels Erhabenheit zugunsten einer großen Klangfülle ( Ersatz der Orgel durch Pauken und Trompeten ) und üppiger Chöre hochstilisieren122 , um so die „Pracht und Erhabenheit“123 der Händelschen Musik zu zelebrieren. Dabei steigerte sich die Zahl der Musiker bei den Aufführungen von Händels geistlicher Musik in der Westminster Abbey von 616 im Jahr 1785 auf 806 im Jahr 1787 und erreichte bei der Händel-Gedächtnisfeier des Jahres 1791 die Rekordzahl von 1. 068 Musikern.124 Horace Walpole ( 1717–1797 ) schreibt darüber im Jahr 1786 : „Der Anblick war wirklich erhebend , und die Aufführung großartig ; doch der Chor und die Kesselpauken donnerten vier Stunden lang so gewaltig , dass ich Kopfschmerzen bekam , wozu ich überhaupt nicht neige.“125 Was das Tempo der Aufführungen angeht , so wurden um 1800 unter erhabenem Musikstil mitreißende Tempi und kurze Themenausführungen verstanden – im Gegensatz zu den reichen Verzierungen Händels , die dazu dienten , ein Thema zu verästeln oder auch durch Offbeat Akzente zu verfremden , nur spielbar bei einer deutlichen Verlangsamung des Tempos126. So veränderte sich im Laufe der Zeit das 122 Vgl. Zenk , Martin : Die Bach-Rezeption des späten Beethoven : Zum Verhältnis von Musikhistoriographie und Rezeptionsgeschichtsschreibung der „Klassik“, Stuttgart 1986 , S. 64 123 Allgemeine Musikalische Zeitung , mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat , Wien ( 3 ) 1819 , Sp. 377 124 Vgl. Hogwood , Christopher : Georg Friedrich Händel , Stuttgart , Weimar 1992 , S. 308 f. 125 Walpole , Horace : Brief an Sir Horace Mann , vom 29. Mai 1786 , in : Ders : The Letters of Horace Walpole : Earl of Oxford , Edited by Peter Cunningham , London 1861 , Bd. IX , S. 52 ; Übersetzung nach : Hogwood , Christopher : Georg Friedrich Händel , Stuttgart , Weimar 1992 , S. 308 126 Wenngleich die barocken Zeitgenossen das Gegenteil forderten , wie zum Beispiel der Komponist Gottlieb Theophil Muffat ( 1690–1770 ), der von einem guten Cembalisten verlangte , dass „zugleich das Tempo und gute Gesang oder Modulation beybehalten werde“. ( Muffat , Gottlieb Theophil , zitiert nach Roux ,

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Konzept dezidiert erhabener Aufführungspraxis und wurde , dem moderaten Tempo angemessen , im 19. Jhdt. zum historisch-biblischen Rahmen für religiöse Erbauung. Als der Zeitgeist um 1850 mehr Interesse am Realismus als an antiken Göttern hatte , war es sogar ein Engländer , der schrieb : „Ich glaube , Händel wird sich nie von seiner Perücke , d. h. von seinem Zeitalter befreien : sein Halleluja-Chor ist nicht ein Engelschor , sondern ein Chor wohlgenährter irdischer Chorsänger , die ordentlich in einer gotischen Kathedrale aufgereiht vor einem fürstlichen Publikum stehen , während die Fanfaren der Militärtrompeten das lauteste Orgelspiel übertönen. Händels Götter gleichen jenen Homers , und wenn er erhaben ist , erhebt er sich doch nie über die Wolken.“127 Doch 170 Jahre später dringen Händels 49 Opern wieder auf die Spielpläne und werden seine Instrumentalstücke mit alten Instrumenten bzw. mit Nachbauten wieder aufgenommen. In Karlsruhe wurde 2009 der „Radamisto“ mit originaler Choreographie , Kostümen , historischen Instrumenten und Kerzenlicht aufgeführt. Auch das Harfenkonzert in b-Dur wurde in unserer Zeit erstmals so original gespielt128 ( auf einer Welsh Triple Harp und noch dazu mit einem sehr langsamen und stark verzierten zweiten Satz ), wie das ohne Einsicht der wenigen Spieluhren möglich war , die mit der Musik mancher Orgelkonzerte bestückt waren. Es gab wahrscheinlich auch solche Spieluhren mit der Musik dieses berühmten Harfenkonzerts. Vor allem das Instrument Harfe macht deutlich , wie sehr sich die Instrumente dieser Zeit von den heutigen Instrumenten unterscheiden , so viel weicher sind sie zu spielen und deuten an , dass auch die Musiker sich von den heutigen unterschieden haben müssen , in welcher Weise auch immer. Das ist ein Argument dafür , dass Barockmusik sehr viel feinfühliger war als heutige Musik. Ein Gegenargument ist eine Karikatur William Hogarths , die einen Pulk Sänger bei einem Händelstück ähnlich derb darstellt wie oben erwähnte KaOlivier : Musikaufzeichnung aus Händels Zeit. Orgel mit Rohrwerk aus dem 18. Jahrhundert. Georg Friedrich Händel : Concerto pour Orgue , op. 4 , Nr. 2 und 5 , LP erato ERA 9274 ; vgl. auch Krüger , Irmtraud : Zwei verzierte Orgelkonzerte Händels in Musikaufzeichnung des 18. Jahrhunderts , in : Ars organi 35 ( 1987 ), S.  17–21 ) 127 Fitzgerald , Edward : zitiert nach Hogwood , Christopher : Georg Friedrich Händel , Stuttgart , Weimar 1992 , S. 188 128 Die italienische Harfenistin Mara Galassi setzt mit der Aufnahme „G. F. Haendel : Microcosm Concerto“ einen neuen Standard. Erschienen bei Glossa 2009 ( GCD 921303 ). Empfehlenswert ist auch Maxine Eilander mit dem Seattle Baroque Orchestra : Handel’s Harp , ATMA Classique 2009 ( ACD2 2541 )

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Zwischen Massenspektakel und historischer Aufführungspraxis

rikatur Händel selbst als „charming brute“, doch legt diese Karikatur den Verdacht nahe , dass im 18. Jhdt. manches Stück nicht ganz so ätherisch perfekt war wie seine derzeitigen Neuauflagen. Vollständig werden sich die Unterschiede zwischen damals und heute leider nie klären lassen. Allein der Wandel in den Aufführungsmoden verweist darauf , wie relativ Interpretationen sind , nicht nur von Händel.

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3 Bach und die Geheimnisse der Harmonie: Der Komponist als Philosoph 3.1 Bach und der schwere Beginn einer Legende In Eisenach , am Fuß der Wartburg , in der Luther 163 Jahre vorher das Neue Testament in die deutsche Sprache übersetzt hatte , wurde im gleichen Jahr wie Händel Johann Sebastian Bach geboren , am 21. März. Im Gegensatz zu Händel war Bach Spross einer langen Linie an Musikern und schon früh an kanonische Gesangseinlagen bei Familienfeiern gewöhnt ( auch wenn die dabei verwendeten Texte eher unchristlichen Inhalts gewesen sein sollen ), doch sollte Händel Triumphe feiern , von denen Bach nur träumen konnte. Erst sehr viel später wurde weniger Händel , sondern tendenziell eher Bach für seine autodidaktischen Kompositionen gerühmt , verklärt und als erhaben tituliert 129. Zwar hatte er zu Lebzeiten bereits den Ruf eines Unübertrefflichen , das aber nur in Expertenkreisen – inklusive Händel , dem man das Vermeiden eines Treffens mit Bach aufgrund dessen höherer Kompetenz unterstellt hat. Vor allem als Cembalist soll Bach besser gewesen sein. Vielleicht war Händel aber auch einfach desinteressiert. Trotzdem oder gerade deswegen wurde die Gegenüberstellung des gut gelaunten Händel in einer Kutsche , zu dem sich Bach auf eigene Faust und noch dazu zu Fuß aufgemacht hat , zum Topos der Bachliteratur. Bachs Künste als Cembalospieler , Organist und Meister der Improvisation , der erstmals den Daumen als vollwertigen Spielfinger mit einsetzte , waren scheinbar so virtuos , dass sein Kunstvermögen das Auffassungsvermögen seiner Zuhörer oft überstieg. Ein Verehrer schrieb 1731 : „Oft sieht man Sterbliche den Thieren ähnlich sein , / Wenn ihr zu blöder Geist nicht dein Verdienst erreichet , / Und in der Urtheils-Kraft dem dummen Viehe gleichet. / Kaum treibst du deinen Schall an mein geschäftig Ohr , / So tönet , wie mich däucht , das ganze Musen-Chor. / Ein Orgel-Griff von dir muß selbst den Neid beschämen , / Und jedem Lästerer die Schlangen-Zunge lähmen. /Apollo hat dich längst des 129 Vgl. etwa Danusser , H.: Dom und Strom. Bach cis-Moll-Fuge ( BWV 849 ) und die Ästhetik des Erhabenen , in : Märker , M. / Schmidt , L. ( Hgg. ): Musikästhetik und Analyse. Festschrift für Wilhelm Seidel zum 65. Geburtstag , Laaber 2002 , S. 105–134

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Lorbeers werth geschätzt , / Und deines Namens Ruhm in Marmor eingeätzt. / Du aber kannst allein durch die beseelten Saiten / Dir die Unsterblichkeit , vollkommner Bach , bereiten.“130 Zunächst schien dieser Unsterblichkeit jedoch ein vorzeitiges Ende zuteilzuwerden. Denn im letzten Drittel seines realen Lebens galt Bach als veraltet. Sein Schüler Scheibe nannte ihn schwülstig , altmodisch und noch dazu , vielleicht für Bach die schlimmstmögliche Beleidigung , einen halbgebildeten Emporkömmling131. Bachs Stil , vor allem seine kontrapunktischen Fugen wurden als Verkörperung einer überholten Welt interpretiert , und zwar aufgrund ihrer Struktur : Fugen sind aufgebaut wie kleine mathematische Kunst-Konstruktionen. Ein Thema wird vorgestellt und dann nacheinander in jeweils verschiedenen Stimmen wiederholt , ähnlich wie ein Kanon , manchmal auch in Form eines Kanons selbst. Das Kontrapunktische daran ist die Entsprechung von je einem Ton mit einem jeweils entgegengesetzten Ton in der Gegenstimme bzw. in Variationen des Grundthemas , das auch noch dazu gespiegelt oder rückwärts gespielt werden kann. So entsteht ein ( polyphones ) Nebeneinander verschiedener Stimmen. Aber der allgemeine Geschmack wanderte im 18. Jhdt. ab zum Gegenteil , dem sogenannten galanten ( homophonen ) Stil , in dem eine einfachen Melodie dominiert , die von den anderen Stimmen so unterstützt wird , wie ein König von seinen Dienern. Wie an einem Königshof soll solche empfindsame und natürliche Musik dem Vergnügen dienen , und nicht , wie Bachs Stücke , dem Lob Gottes und der Widerspiegelung der göttlichen Schöpfung. Denn zu Beginn von Bachs Leben ist es bei Denkern wie Newton , Leibniz oder Comenius gang und gäbe , musikalische Harmonien als Parallele zu bestimmten , als harmonisch empfundene Strukturen in der realen Welt anzunehmen , wie zum Beispiel zu astronomischen Verhältnissen. Ähnlich werden in der Alchemie bestimmte chemische Lösungen mit Männern , andere mit Frauen verglichen werden , so kehren nach damaligem Verständnis nicht nur in der Natur , sondern auch in der Musik bestimmte Proportionen stetig wieder : Zum Beispiel in den Proportionen des menschlichen Körpers , im Goldenen Schnitt , der sich von der Schnecke bis zu Blütenkelchen und im menschli130 Hudemann , Ludwig Friedrich : An den Herrn Capell-Meister J. S. Bach , zitiert nach : Spitta , Philipp : Johann Sebastian Bach , Bd. 2 , Leipzig 1880 , S. 478 131 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 194

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chen Körper und vielen anderen Naturformen finden lässt , oder in den Abständen von Planeten. In Anlehnung an den antiken Pythagoras wird darüber gestaunt , dass mathematisch genaue Unterteilungen von Saitenabständen zu musikalisch genauen Tonabständen führen. Wenn eine Saite in der Hälfte heruntergedrückt wird wie eine Geigensaite mit dem Finger , dann entsteht im Vergleich von ganzer Saite zu halber das Verhältnis von zwei gleichen Tönen im Unterschied von einer Oktave. Ein g bleibt also ein g , es wird nur ein höheres. Das Proportionsverhältnis 1 :2 entspricht laut damaliger Musiktheorie also Gott im Verhältnis zu Jesus. Andere Unterteilungen ergeben jeweils andere Töne der Tonleiter , die dann jeweils Dinge verkörperten wie zum Beispiel die Zahl Vier die vier Elemente , die Zahl Fünf die fünf Sinne , die Zahl Sechs die sechs die Tage der Schöpfung , die Zahl Sieben die Planeten , Tugenden , freien Künste , Todsünden oder Lebensphasen des Menschen132. Die Tonabstände symbolisieren solche Abstrakta , jeder für sich ein Abbild eines Aspekts des göttlichen Universums , und die so entstehenden Melodien müssen auf eine bestimmte Harmonie hinarbeiten und die jeweilige Tonart auch immer ordentlich im letzten Ton des Stücks zu einem so guten harmonischen Ende hinführen , wie es der fromme Lutheraner Bach als Urgrund allen Seins annahm ( in der Barockzeit hörte praktisch jedes Stück mit einem Dreiklang auf der Haupttonart auf ). Wie ein Alchemist den Stein der Weisen als existent annahm , gab es für Bach als Musiker eine Wahrscheinlichkeit auf psychologisch-ästhetische Läuterung des Zuhörers , dessen Nervenröhren nach damaligem Medizin-Wissen auf diese Proportionen reagieren und dementsprechend viel oder wenig Lebensgeistergas durchlassen würde , das in diesen Röhren vermutet wurde. Dieser spiritus vitae ( eine Erfindung von Descartes in seinen Passiones animae ) löse dann verschiedene Affekte aus. Die Lehre vom Kontrapunkt wurde im 18. Jhdt. wie eine Art Geheimlehre gesehen , sodass es eine Anekdote um den 12-jährigen Bach gibt , der heimlich bei Mondenschein die Notenkopien seines älteren Bruders abschrieb und nach einem halben Jahr , als er fast fertig war , erwischt wurde. Dazu kommt noch eine eigene Formsprache , in der bestimmte Tonfolgen immer ganz bestimmte Dinge ausdrücken , im Falle einer absteigenden Linie ( Katabasis oder Descensus ) zum Beispiel einen Trauerfall oder bei aufsteigenden Linien ( Anabasis oder Ascensus ) wortwörtliches Aufsteigen im religiösen Sinne. 132 Vgl. Ebd. , S. 65

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Aber schon Friedrich II. war nicht der Erste , der solche Sphärenmusik und solche christlich geprägte Musik wie Lärm verabscheute. Aufgrund der so entstandenen schlechten Vermarktungsgrundlage des Kontrapunktes erschienen die großen Chorwerke Bachs , wie die Matthäus- und Johannespassion , erst ab 1829 im Druck133. Und damit entzog sich die Bachsche Musik zunächst der Verehrung. Schon ein erstes Epitaph auf ihn , geschrieben von seinem Freund Telemann , pries Bach letztendlich nur als Vorlage für seinen vermeintlich viel wirkungsträchtigeren Sohn Carl Philipp Emanuel. Auf diese Weise entzog sich Bach zunächst der Okkupation durch das Erhabene , denn dieser Schlüsselbegriff der Musikästhetik war zwischen 1780 und 1840 für andere , dem Empfinden nach modernere Erscheinungsformen der Musik reserviert. Um 1800 wurde bevorzugt die Symphonie als erhabene Musikgattung gefeiert. Denn diese vermittle durch das „Ueberraschende , Energisch-Kurze , schnell mit sich fortreißende , [ … ] den Eindruck des Erhabenen“134. Auch eine Bach-Biographie von 1802 , die Schrift „Ueber Johann Sebastian Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke“ von Johann Nikolaus Forkel hatte von daher den Zeitgeist um einige Jahre verpasst und vermochte dem „erhabenen Kunststyl“135 Bachs kein bleibendes Gehör zu verschaffen. Wenngleich heutzutage Forkels Verdienste für die Bachforschung unbestritten sind , wurde Forkels Werk zu seiner Zeit vielmehr als einseitiger „Panegyrikus“136 abgetan , noch dazu belastet von der großen Popularität Händels. Wenn Forkel die Bachschen Melodien im Gegensatz zu denen Händels als etwas „ewig schön und ewig jung“137 bleibendes bezeichnete , wurde ihm allenfalls zugutegehalten , „daß er in seinem Leben kein Händelsches Oratorium ordentlich vorgetragen gehört und mit hinlänglicher Aufmerksamkeit angesehen habe.“138 Im 133 Vgl. Zenk , Martin : Die Bach-Rezeption des späten Beethoven : Zum Verhältnis von Musikhistoriographie und Rezeptionsgeschichtsschreibung der „Klassik“, Stuttgart 1986 , S. 18 f. 134 Michaelis , Christian Friedrich : Ueber das Erhabene in der Musik , in : Monatsschrift für Deutsche 1 ( 1801 ), S. 45 135 Forkel , Johann Nikolaus : Ueber Johann Sebastian Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke , Leipzig 1802 , S. 68 136 Reichardt , Johann Friedrich : Einige Anmerkungen zu Forkels Schrift : Ueber Joh. Sebast. Bach , in : Berlinische Musikalische Zeitung 2 ( 1806 ), S. 149 137 Forkel , Johann Nikolaus : Ueber Johann Sebastian Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke , Leipzig 1802 , S. 32 138 Reichardt , Johann Friedrich : Einige Anmerkungen zu Forkels Schrift : Ueber Joh. Sebast. Bach , in : Berlinische Musikalische Zeitung 2 ( 1806 ), S. 150

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Händelschen Oratorium wurde zu dieser Zeit sogar das Pendant zur modernen Musik Beethovens gesehen. Damit waren beide erhaben und wurden in einem Atemzug genannt bzw. rezensiert – im Gegensatz zu Bach. Während Beethovens 8. Symphonie und Händels Oratorium „Samson“ als unübertreffliche Werke der Tonkunst gefeiert wurden , quasi aus dem „Gehirn eines Gottes“139 stammend , konnten derartige metaphorische Überhöhungen schlecht auf das Bachsche Gesamtwerk angewandt werden , schon alleine , weil zu viel „Gottesdienst“ darin enthalten und damit Bach kein Kandidat für eine Stilisierung zum gottgleichen Schöpfer140 und heldenhaften Übermusiker war – und das trotz oder vielleicht auch wegen seiner zusätzlichen Qualitäten als bodenständiger Meister der „Überlebenskunst“141 in der Auseinandersetzung mit Fürsten und Vorgesetzten , als vielfacher Vater , Orgelbegutachter , zweifacher Ehemann oder wegen seines Geschäftssinns als Teilhaber eines sächsischen Silberbergwerks. Dazu kam , dass vor allem das Bachsche Spätwerk keine Aufregung , Ekstase oder Berauschung evozieren wollte wie etwa Händels pathetische Rhetorik. Aus psychologischer Sicht zielten nicht wenige Bachstücke auf die Wirkung von Reizentzug ab. So schließt etwa der Schlusstakt von „Der Kunst der Fuge“ ( BWV 1080 ) nahtlos an den Eröffnungstakt an , als ob die Melodie in die Unendlichkeit weiterklingen würde. Das erinnert an alchemistisch-esoterische Formeln von der Gleichheit von Himmel und Erde. Es erinnert auch an Luther und ist zwar einerseits eine korrekte Umsetzung eines canonem infinitum , der wie ein unendliches Band die Unendlichkeit der Welt simuliert142. Dieses Kontemplative entspricht asiatischen Vorstellungen von Erhabenheit , aber natürlich weniger den europäischen Erhabenheitsvorstellungen vor allem des frühen 19. Jhdts , die eher Reizüberforderungen zelebrierten , Stürme , überwältigende Gefühlswallungen und symphonische Heftigkeit. Bach blieb ein Insidertipp , so auch für Haydn , Mozart und Beethoven. 139 Dietrichstein , Moritz Graf von : Recension. Achte Große Sinfonie ( in F dur ) … von Ludwig van Beethoven , in : Allgemeine Musikalische Zeitung , mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat , Wien ( 2 ) 1818 , Sp. 20 140 Rossini , Gioachino , zitiert nach : Istel , Edgar : Rossiniana II : Wagners Besuch bei Rossini , in : Die Musik 11 ( 1911 /12 ), S. 275 141 Vgl. Reddemann , Luise : Überlebenskunst , Stuttgart 42008 142 Vgl. hierzu insbesondere Hofstadter , Douglas R.: Gödel , Escher , Bach – Ein Endloses Geflochtenes Band , München 1985

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Nachdem 1802 Forkel in seiner Bach-Biographie bereits auf die Bedeutung Bachs als „größte[ n ] musikalische[ n ] Dichter [ … ] , den es je gegeben hat , und den es wahrscheinlich je geben wird“143 hingewiesen hatte , wurde Bach erst etwa ab 1840 im Zuge nationaler Gefühle wiederbelebt und als Gegenpol zum Wahlengländer Händel aus Halle hochgesteigert. Konsequenterweise entstammt der Beginn dieser Bach-Renaissance weniger deutschen Rezensionen , sondern der Meinung des französischen Hector Berlioz. Dieser schrieb nach einer Aufführung der Matthäus-Passion in Berlin sein Glaubensbekenntnis nieder : „Man betet Bach an , man glaubt an ihn , ohne einen Moment dem Gedanken Raum zu geben , seine Göttlichkeit könne jemals bezweifelt werden ; ein Ketzer würde Abscheu erregen , man darf davon nicht einmal reden , Bach ist Bach , wie Gott Gott ist.“144 Auch aus Italien , wo es bereits im 18. Jahrhundert eine Bach-Rezeption gab , kam eine vergleichbare Auffassung. Gioachino Rossini äußerte sich dem jungen Richard Wagner gegenüber : „Was Bach betrifft , um noch weiter von deutschen Meistern zu reden , so ist er ein geradezu erdrückendes Genie. Wenn Beethoven ein Wunder der Menschheit ist , so ist Bach ein Gotteswunder !“145 Mendelssohn organisierte im Jahr 1829 , zum vermeintlich 100. Jahrestag der Uraufführung der Matthäus-Passion , also eigentlich 10 Jahre später , ein Konzert mit ähnlicher Steigerung der Musikerzahl im Vergleich zum Original – 400 Chorstimmen statt der ursprünglichen 20 bis 30. Selbst der verdrießliche Hegel sei bewegt gewesen und man habe , obwohl in einer Kirche und noch dazu zur Kreuzigung Christi , geklatscht.146 Ab nun war Bach eine Grundfeste deutschen Kulturguts , hatte er doch noch dazu , im Vergleich vor allem zu Händel , den Vorteil , fast alle zu seiner Zeit verfügbaren Gattungen anspruchsvoll vertont zu haben , bis auf sowieso schwer aufführbare Opern. Dafür aber gibt es von Bach im Hinblick auf Spieltechnik gut verwendbare Stücke für Klavieranfänger , aber auch das Gegenteil , nämlich handwerklich so anspruchsvolle Stücke wie die Goldberg-Variationen , angeblich 143 Forkel , Johann Nikolaus : Über Johann Sebastian Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 , S. 69 144 Berlioz , Hector : Lebenserinnerungen , München 1914 , S. 349 145 Rossini , Gioachino , zitiert nach : Istel , Edgar : Rossiniana II : Wagners Besuch bei Rossini , in : Die Musik 11 ( 1911 /12 ), S. 275 146 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S.  309 ff.

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ein Einschlafmittel für Hermann Carl von Keyserlingk ( 1696–1764 ), das ihm vom 14-jährigen Bach-Schüler Johann Gottlieb Goldberg ( 1727–1756 ) vorgespielt werden sollte. Die Stücke sind allerdings so schwierig , dass sie heutzutage zu einer Art Großmeisterprüfung am Piano geworden sind und gerätselt wird , ob Bach selbst seine Goldberg-Variationen spielen konnte. Bach hat noch dazu einiges an Rätselhaftigkeit in seinen Noten verborgen , angeblich sogar eine freimaurerische Chiffrierung seines Todesdatums. Es gibt von ihm die sogenannten Rätselkanons , Kanons deren Notation so bedingt aussagekräftig sind , dass sie zum Rätsel werden. Die Reihenfolge der Einzelteile des Musikalischen Opfers ist bis heute nichtgeklärt. Es ist ungeklärt , ob sie entweder nach rhetorischen Maßstäben , nach der theologischen Bedeutung der Einzelteile parallel zu den 10 Geboten oder aber so geordnet wurden , dass große Notenblätter die kleinen wie ein Buchrücken umschließen.147 In der Kunst der Fuge wird im contrapunctus 14 ein Thema mit den Tönen b-a-c-h eingeführt , und dieser Kontrapunkt klingt aus , indem die vier Stimmen im b-a-c-h-Thema zusammengeführt werden und dann jäh und dissonant abbrechen.148 Ob das absichtlich als Ausdruck einer „non finito“-Ästhetik oder aufgrund von Bachs Tod der Fall war , ist umstritten – manche meinen , diese Fuge habe schon vorher unfertig vorgelegen. Dass Bach tatsächlich in viele seiner Stücke seinen Namen eingeflochten hat , wurde sowohl nachgewiesen , als auch in Abrede gestellt149 – um nur einige Überraschungselemente und widersprüchlichen Thesen zu Bach zu nennen.

3.2 Der Bachsche Kontrapunkt: Tod und Leben Bach war von Beginn seines Lebens an ständig mit dem Tod konfrontiert. Seine Vorstellung vom Tod war bemerkenswert und anders als die vieler seiner Zeitgenossen. Ein nicht geringer Teil seiner Kantaten umkreist den Themenkreis Tod und Sterben150 , wie „Ich habe ge147 Vgl. Ebd. , S. 274 148 Vgl. die Aufnahme von Glenn Gould : Bach , The Art of Fugue , BWV 1080 ( Excerpts ), Sony 1997 ( Glenn Gould Edition ; 01–052595–10 ) 149 Vgl. Geck , Martin : Johann Sebastian Bach , Reinbek 2000 , S. 109 u. S. 117 150 Vgl. hierzu insbesondere : Steiger , Renate ( Hg. ): Johann Sebastian Bachs Kantaten zum Thema Tod und Sterben und ihr literarisches Umfeld , Wiesbaden 2000

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nug“ ( BWV 82 ) oder „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“ ( BWV 125 ). Die Bach-Rezeption des 19. Jahrhunderts versuchte Glauben zu machen , das sei Ausdruck „innigster Todessehnsucht“151 – und das wäre eine innige Entsprechung der modernen Erhabenheitstheorie. Die Todessehnsucht ist ihr Kern , die Beschäftigung mit dem Tod eine erhabene „Verführung“152 und ein Versuch , „der Angst vor dem Ende dadurch zu entkommen , daß man es macht.“153 Aber in diesem Punkt predigte Bach das genaue Gegenteil : Er sah die ( nicht nur musikalische ) Vorbereitung auf den Tod als eine Übung an , die das tägliche Leben zu begleiten hatte und dieses damit bereichern sollte. Die Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“ aus der Kantate BWV-Nr. 82 ist einem lebensbejahenden Tanz ( Gigue im 3 / 8 Takt ) vergleichbar154 : Die Vokalstimme verliert vor lauter Musik immer wieder die Kontrolle über ihre Positionierung zwischen den einzelnen Stimmen und muss den Instrumentalstimmen oft geradezu hinterhereilen.155 Bei allen Parallelen zum Totentanzmotiv , einer alten Vorstellung von tanzenden Todeskandidaten , demokratisch vereint in der Gleichheit vor dem Sensenmann , wird der Tod hier eher parodiert und seines Schreckens beraubt. Auch wenn die herrschende Auffassung es gerade im Hinblick auf dieses Stück ablehnte , dass Kirchenmusik „auff Tantz , Messe oder Schandlieder Weise nach componieret“156 wurde. Der Tod ist hier gut lutherisch „Schlummert ein , ihr matten Augen“, und das macht diese Kantate 151 Spitta , Philipp : Johann Sebastian Bach , Bd. II , Leipzig 1880 , S. 283 152 Böhme , Hartmut :Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse , in : Ders.: Natur und Subjekt , Frankfurt am Main 1988 , S. 397 153 Ebd. 154 Wofür sie kritisiert wurde : So moniert Alfred Dürr , dass die Arie „weder textlich noch musikalisch die Höhe der beiden vorangegangenen Arien zu halten vermag. Sie ist einer jener dem Tanz nahe stehenden , klar periodisch gegliederten , mit rhythmischen Impulsen belebten Sätze , die wohl Bachs große Kunst verraten , aber doch keinen ausgewogenen Abschluß des Vorhergegangenen darstellen , so dass man das Fehlen eines Schlußchorals doppelt bedauert.“ ( Dürr , Alfred : Die Kantaten von Johann Sebastian Bach , Bd. 2 , Stuttgart 51985 , S.  735 ) 155 Vgl. Varwig , Bettina : Weltfreude und Todesverklärung. Zu Bachs Kantate Ich habe genug ( BWV 82 ), in : Dorschel , Andreas ( Hg. ): Verwandlungsmusik. Über komponierte Transfiguration , Wien , London , New York 2007 , S. 59 f. 156 Kuhnau , Johann : Divini numinis assistentia … jura circa musicos ecclesiasticos , sub moderamine Dn. Andrea Mylii … , Leipzig 1688 , Kap. 3 , Par. 1. , zitiert nach : Varwig , Bettina : Weltfreude und Todesverklärung. Zu Bachs Kantate Ich habe genug ( BWV 82 ), in : Dorschel , Andreas ( Hg. ): Verwandlungsmusik. Über komponierte Transfiguration , Wien , London , New York 2007 , S. 59

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in der Bach-Rezeption zum „Todes-Wiegenlied“157. Vielleicht auch zu Recht , denn nur wenige Monate vor der Aufführung der Kantate war Bach dreijährige Tochter gestorben , und Bach gilt , was sein Familienverständnis angeht , als ein typischer Vertreter des späten 17. Jahrhunderts , seit dem Kinder nicht mehr , wie ursprünglich angenommen158 , als „ungesittete Äffchen“159 angesehen , sondern in ihrer vollen Individualität mit „hertzinnig- [ … ] Lieb“160 anerkannt. Leichenpredigten und Epitaphe dieser Zeit161 zeigen , dass Kinder nicht mehr wie vorher als beliebig ersetzbar galten. Nichtsdestotrotz gab es auch trotz Bachs persönlichem Schicksal hämische Kommentierungen seiner Todeskonzeptionen als Schlaf. Johann Mattheson ( 1681–1764 ) schrieb über die Schlafmetapher und ihre Positionierung in der Steinigungsgeschichte des heiligen Stephanus lakonisch : „Er entschlief ! Da es sich doch , bey einem solchen Steinregen natürlicher Weise , übel einschlafen lässt.“162 Doch zeigt auch hier der Umgang mit dem Thema Tod , wie selbstverständlich Bach nicht nur mit solchen Bildern hantierte , sondern wie sehr er beim Umgang mit der Vanitas , der Vergänglichkeit , dem kollektiven Gedächtnis des 17. Jahrhunderts verhaftet ist. Er fiel nicht nur in Krisenzeiten in den Sprachduktus des 17. Jahrhunderts zurück und las prinzipiell vorzugsweise Autoren des 17. Jahrhunderts , er war auch wie ein Mensch des 17. Jhdts. an eine Flut von gedruckten Leichenpredigten und Vergängnislyrik gewöhnt.163 Es gab damals Schmuck 157 Schweitzer , Albert : J. S. Bach , Wiesbaden 1952 , S. 588 158 Vgl. etwa Mause , Lloyd de : Hört Ihr die Kinder weinen ? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit , Frankfurt am Main 1977 159 Ariès , Philippe : Die Geschichte der Kindheit , München , Wien 41977 , S.  46 160 Leichenpredigt von G. Heilmann auf Aegidius Ruppersberger , 1683 , abgedruckt in : Lenz , Rudolf ( Hg. ): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften , Marburg 1984 , S. 392–430 161 Vgl. Lenz , Rudolf : Leichenpredigt und Epitaph in der Frühen Neuzeit , in : Steiger , Renate ( Hg. ): Johann Sebastian Bachs Kantaten zum Thema Tod und Sterben und ihr literarisches Umfeld , Wiesbaden 2000 , S. 109–124 162 Mattheson , Johann : Die neuangelegte Freuden-Akademie , zum lehrreichen Vorgeschmack unbeschreiblicher Herrlichkeit , Bd. 2 : Abhandlung betreffend die Freudenstörer und Todwünscher , Hamburg 1753 , unpaginiert 163 Vgl. Grasmück , Heinz : „Schaubühne des Todes“. Zur Bildlichkeit des protestantischen Kirchenliedes im 16. und 17. Jahrhundert – Der Choral als Kontrafaktur des Todes und die Figur des Todes als „Todes Bild“, in : Steiger , Renate ( Hg. ): Johann Sebastian Bachs Kantaten zum Thema Tod und Sterben und ihr literarisches Umfeld , Wiesbaden 2000 , S. 45–73

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mit Vanitas-Symbolen164 , Memento-Mori-Ringe mit Totenköpfen oder aufklappbaren Särgen , in denen ein Skelett lag. Trauerringe mit Gedenkinschriften für Verstorbene waren ein wichtiges Accessoire , vielleicht vergleichbar mit dem Gothic-Design der Gegenwart. Auch die theologische Literatur des 17. Jhdts. zelebrierte ein grauenvoll-ekelhaftes Bild des Todes165 , aber im Allgemeinen galt Folgendes als relativ selbstverständlich : „alle Glieder , die so künstlich gleichsam zusammen gesetzet , sollen außeinander gehen und verderben : Und welches schrecklich ist , so sol nach dem Tode der Mensch abscheulicher werden als die unvernünfftigen Thiere , sintemahl keines Thieres Aaß so bald faulet und so gräulich stincket , als des Menschen Leichnam.“166 Aber Bach revoltierte gegen einen solchen Horror-Diskurs des Todes. Seine Musik handelte vom angstfreien , schönen167 Sterben. Es ist , als ob Bach versuchte , die Würde des Menschen im Tod mit musikalischen Mitteln zu retten. Hätte er dieses Konzept schriftlich fixiert , wäre es der ganz große Gegenentwurf zu allen erhabenheitstheoretischen Entwürfen seiner und unserer Zeit geworden , ein Erhabenheitsentwurf der Verbindung von 164 Vgl. hierzu Ward , Anne / Cherry , John / Gere , Charlotte / Cartlidge , Barbare : Der Ring im Wandel der Zeit , München 1981 , S. 97 f. u. S. 108 165 Das Grausen sollte vor allem pädagogisch wirken , so war im Leipzig des 18. Jahrhunderts eine Totentanzdarstellung in der Nähe des Marktes angebracht : „Es dienet als ein feines Mittel , die bey dem Gebrauch des Irdischen ausschweiffende Begierden im Zaume zu halten , dass ehe man in diesem Hof darinne das edle Leipzig allen menschlichen Sinnen angenehme Waaren verhandelt“. ( Hilscher , Paul Christian : Beschreibung des sogenannten Todten-Tanzes , Dresden , Leipzig 1705 , S. 43 ) Ein anscheinend notwendiger Gegenpol , denn Leipzig galt nicht nur zur Messezeit als Stadt der Wirtshäuser und Prostituierten , was im Jahr 1799 einen pornografischen Rotlichtguide , mit dem Titel „Leipzig im Taumel“, nötig machte. Der Autor dieses Werks , August Maurer , musste aus der Stadt fliehen , und der Verleger wurde in Haft genommen. Für die zeitgenössische Rezension war das Buch eine schmutzige Pfütze , aus der niemand seinen Durst stillen wolle , was aber eine Wunschvorstellung des Rezensenten blieb , denn das Werk erfreute sich wachsender Beliebtheit. ( Vgl. Journal des Luxus und der Moden , Ausgabe Januar 1800 , S. 46 f. ) 166 Bergmann , Wenzel : Tremenda mortis hora , oder das böse Stündlein , Wittenberg 1664 , S. 20 , zitiert nach , Varwig , Bettina : Weltfreude und Todesverklärung. Zu Bachs Kantate Ich habe genug ( BWV 82 ), in : Dorschel , Andreas ( Hg. ): Verwandlungsmusik. Über komponierte Transfiguration , Wien , London , New York 2007 , S. 68 167 Vgl. Werthemann , Helene : Bachs Kantate 82 „Ich habe genug“, in : Steiger , Renate ( Hg. ): Johann Sebastian Bachs Kantaten zum Thema Tod und Sterben und ihr literarisches Umfeld , Wiesbaden 2000 , S. 95

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Erhabenheit und Würde und ( im Gegensatz zur Gegenwart ) auch in Verbindung mit christlicher Empathiefähigkeit. Aber wahrscheinlich wäre im Zeitalter der Aufklärung eine solche Opposition gegen die Splatter-Theologie des 17. Jahrhunderts ideengeschichtlich genauso zwischen den Instrumentalstimmen untergegangen wie die Vokalstimme in „Ich freue mich auf meinen Tod“. Bachs Kantaten glichen einem musikalischen Katastrophentraining , dass auf die letzte und größte Katastrophe der menschlichen Existenz , den Tod , vorbereitete und diesen verarbeiten half. Nicht umsonst wird Bachs Musik heute wieder als Medizin gegen Traumata empfohlen. Tod und Sterben verbergen sich bei Bach auch dort , wo man es eigentlich gar nicht vermutet. Das Instrumentalstück die „Ciaccona“ aus der Violinen-Partita in d-Moll ( BWV 1004 ) wird von der Forschung als klingendes Grabmal auf seine verstorbene Ehefrau Maria Barbara begriffen , und es steckt voller musikalischer Bezüge und Zitate auf sie.168 Als Ausgangspunkt der Ciaccona“ gilt eine dreimonatige Dienstreise Bachs nach Karlsbad. Er sollte seinen Dienstherrn , den Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen , auf einer Badekur begleiten und musikalisch unterhalten. Als Bach im Juli 1720 wieder an seiner Hausschwelle stand , empfing er die Nachricht , dass seine Frau nach nur kurzer Krankheit am 7. Juli verstorben und bereits begraben sei. Sie hinterließ ihm vier Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren. Persönliche schriftliche Bekenntnisse über dieses Ereignisse sind , sofern jemals vorhanden , nicht überliefert. Faktum ist nur , dass Bach in den folgenden Wochen die Partita in d-Moll niederschrieb , auf einem Notenpapier , das er von seiner Reise mitgebracht hatte. Analysen belegen als Herstellungsort Joachimsthal bei Karlsbad169. Weniger wissenschaftlich belegt , präsentiert sich die zahlensymbolische Deutung der Komposition , die die Signatur Maria Barbara Bachs im Notentext findet. Jedem Notenwert wird dafür ein bestimmter Buchstabe zugeordnet. Zwar existierten im 18. Jahrhundert zahllose Alphabete dieser Art , und das stellt heutige Forscher bei der Übersetzung vor eine Qual der Wahl , die „von vorneherein zum Erfolg verurteilt“170 ist und um die Bachsche Zahlensymbolik ei168 Vgl. Thoene , Helga : Ciaccona – Tanz oder Tombeau , in : Cöthener BachHefte 6 ( 1994 ), S. 95–125 169 Vgl. Thoene , Helga : Geheime Sprache – Verborgener Gesang in J. S. Bachs „Sei Solo a Violino“, in : The Hilliard Ensemble / Christoph Poppen , Morimur , ECM New Series 1765 , 461 895–2 , Booklet , S. 22 170 Grassl , Markus : „Von vorneherein zum Erfolg verurteilt“. Zur zahlensym-

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nen regelrechten Glaubenskrieg entzündet hat.171 Da sich aber auch bei anderen Kompositionen dieser Zeit172 Bezüge zu Maria Barbara Bach finden lassen , ist anzunehmen , dass Bach , der ansonsten „kein Liebhaber , von trockenem mathematischen Zeug“173 war , bei dieser persönlichen Musik bewusst mit Zahlensymbolik gearbeitet hat. Fernab von Einzelinterpretationen gilt jedoch , dass die „Ciaccona“, eine für den Köthener Hof bestimmte Komposition , ein Speicher für verschiedene Zitate aus Sterbechorälen ist174. Die ersten vier Takte zitieren den Choral „Christ lag in Todesband“. Daran schließt sich die 2. Strophe des Osterlieds „Den Tod niemand zwingen kunnt“ an. Neben anderen Auferstehungschorälen klingt am Schluss das Lied „Christ lag in Todesbanden“ an. Mit solchen Bezügen und einer mehrfachen zeitlichen Koinzidenz von Sterbefällen in Bachs Umfeld und Todesmusik in Bachs Werk ist zumindest ein Verdacht auf musikalische Sublimierung privater Trauer nicht ganz von der Hand zu weisen , und damit auch nicht Bachs Konzept von Mitmenschlichkeit und Würde , das seine Wurzeln aus dem späten 17. Jahrhunderts zieht und in ein modernes Subjektverständnis mündet , welches den anderen nicht nur in seiner Funktion begreift , sondern auch in einer unersetzlichen Individualität. Nach der „Ciaccona“ gab es kein ähnliches Stück mehr , aber Bachs zweite Ehefrau Anna Magdalena ( für die er eines seiner zwei Clavierbüchlein geschrieben hat , neben dem für seinen ältesten Sohn ) überlebte ihn auch fast um ein Jahrzehnt ( wenn auch als Almosenempfängerin ). Bach starb , wahrscheinlich zuckerkrank ( und daher vielleicht auch bolischen Interpretation der Musik Johann Sebastian Bachs , online unter : http://www.musikgeschichte.at/grassl-vonvorneherein.pdf ( 10. 06. 2010 ) 171 Das Urdatum der Gematrie im Zusammenhang mit Bachs Werk ist das Erscheinen von Friedrich Smends „Johann Sebastian Bach bei seinem Namen gerufen“ im Jahr 1950 , einem heute sehr umstrittenen Werk. 172 Vgl. Wolf , Uwe : Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie BWV 903 /1 – ein Tombeau auf Maria Barbara Bach ? In : Cöthener Bach-Hefte 11 ( 2003 ), S.  97–115 173 Bach  , Carl Philipp Emanuel  : Brief an Johann Nikolaus Forkel  , vom 13. 1. 1775 , in : Bach-Dokumente III : Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750–1800 , Leipzig 1963 , Nr. 803 , S. 288 174 Diese Zusammenhänge macht die Einspielung des Hilliard Ensembles mit dem Violinisten Christoph Poppen aus dem Jahr 2001 deutlich. ( Morimur : The Hilliard Ensemble , Christoph Poppen , ECM New Series 1765 , 461 895–2 ) Die Choralzitate wurden hierfür über die Violinstimme geblendet , was die Verschränkung der Stimmen hörbar macht.

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seine Star-Erkrankung ), ursächlich an der Nachbehandlung einer Augenoperation von John Taylor , die zunächst zur Blindheit führte , dann für einige Minuten Bach das Sehen ermöglichte , und kurz darauf erlitt er einen Schlaganfall. Auf dem Sterbebett soll Bach einem Schüler die Noten zu folgendem Text diktiert haben : „Vor deinen Thron tret ich hiermit , / O Gott , und dich demütig bitt : / Wend doch dein gnädig Angesicht / Vor mir blutarmem Sünder nicht … / Ein selig Ende mit bescher , /Am Jüngsten Tag erweck mit , Herr , / Daß ich dich schaue ewiglich. /Amen , Amen , erhöre mich“175. Dieses Stück BWV 668 ist im Tempo des menschlichen Herzschlags notiert , integer valor. Als Bach kurz darauf starb , durften potenzielle Nachfolger auf seine Stelle noch vor der Beerdigung vorspielen , so erleichtert war die Leitung der Thomasschule und so froh der Stadtrat nach den vorangegangenen Auseinandersetzungen mit Bach. Bei diesen hatte sich Bach notiert : „Also lerne die Welt kennen , du wirst sie nicht anders machen ; sie wird sich nicht nach dir lenken ; daß du vor allen Dingen lernest und wissest , daß die Welt undankbar ist.“176 – eine Einsicht auf der Grundlage von Bachs hartem Berufskampf in all seinen Jahren. Im Gegensatz zu Händels Grabstätte war Bachs Grab lange Zeit nicht genau bekannt. Mittlerweile liegen seine sterblichen Überreste ehrenvoll in der Leipziger Thomaskirche bestattet. Mit einem kleinen Umweg über die Gruft der Leipziger Johanniskirche , wo Bach solange gelegen hatte , bis die Kirche im Zweiten Weltkrieg ausgebombt worden war. Erst das ermöglichte ihm 1949 die späte Heimkehr an die Stätte seines früheren Schaffens. Der damalige Superintendent Schumann brachte die Rückkehr auf die prägnante Formel : „Tach , wir bring’n Bach’n“177.

3.3 Bach und die Philosophie Für jemanden wie Bach , der vor lauter Arbeitseifer , Familienleben und Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten kaum dazu kam  , der Nachwelt Notizen zu hinterlassen ( und das ist der Grund dafür , dass von Bach nur vergleichsweise wenig Kollegenschelte vorliegt , viel175 Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 297 176 Ebd. , S. 205 177 Voerkel , Stefan : Die Bach Denkmäler in Leipzig , Beucha 2000 , S. 34

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leicht war er aber auch nur zu klug , sich dabei erwischen zu lassen ), gibt es verhältnismäßig viele Thesen über seine Philosophie , und zwar nicht nur über arbeitstechnische Grundlagen wie die philosophischen Themen als Inspiration für seine Texte Zum Beispiel präsentiert das Musikstück „Hercules auf dem Scheidewege“ ( BWV 213 ) Hercules als Idealbild der Stoiker , der sich , zwischen Lust und Tugend stehend , für Letztere entscheidet178 – und eine Melodie dieses Stückes hat Bach für das Weihnachtsoratorium wiederverwertet , also in der Sprache der Zeit „parodiert“. Aber von einem , der ausgezogen war , vergleichsweise viel Schulbildung zu erlernen , werden wahrscheinlich auch noch andere philosophische Beweggründe anzunehmen sein als nur reine Verwertung. Es ist leider nicht verifizierbar , welche philosophischen Schriften Bach besessen hat , weil nach seinem Tod seine Söhne die Bibliothek bis auf die theologischen Bücher komplett leer geräumt haben.179 Es gibt die These , dass sein Schaffen einem Ausloten und Gestalten aller vorhandenen Möglichkeiten entspräche ( ein schwer zu widerlegendes Argument ) und dass seine C-Dur-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier mit den zeitgenössischen aufklärerischen Denkströmungen zu vergleichen sei180 ; es gibt aber auch die gegenteilige These , dass Bach diametral zur Aufklärung Dinge komponiert habe , die alles andere als natürlich , weil schlichtweg schwer zu begreifen waren.181 Außerdem existiert die These , dass Bachs Werk sehr mit der Leibnizschen Theorie verwoben gewesen wäre. Denn der Bach-Kreis war allgemein von dieser Philosophie geprägt. Einer von Bachs Schü178 Händel , der denselben Stoff in „The Choice of Hercules“ ( HWV 69 ) verarbeitet hat , zeigt hingegen einen Herkules , der nicht so radikal jeglicher Sinnlichkeit abschwört. Als Abschluss lässt Händel daher einen Tanz der Eintracht zwischen Wollust und Tugend folgen. ( Vgl. Sandberger , Wolfgang : Zwischen Wollust und Tugend. Zur Rezeption des „Herkules auf dem Scheidewege“ unter besonderer Berücksichtigung von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel , in : Maio , Giovanni / Roelcke , Volker ( Hgg. ): Medizin und Kultur. Ärztliches Denken und Handeln im Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften , Stuttgart , New York 2001 , S. 260–272 ) 179 Vgl. hierzu Wallmann , Johannes : Johann Sebastian Bach und die „Geistlichen Bücher“ seiner Bibliothek. Anmerkungen und Gedanken zu Robin A. Leavers kritischer Bibliographie „Bachs Theologische Bibliothek“ , in : Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock , Tübingen 1995 , S. 124 ff. 180 Geck , Martin : Johann Sebastian Bach , Reinbek 2000 , S. 47 181 Ebd. , S. 48

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lern , Johann Georg Mizler ( 1711–1778 )182 , war im 18. Jahrhundert der erste Dozent der Universität Leipzig , der nach 150 Jahren Absenz , wieder über Musikästhetik und Musiktheorie las und 1738 die „Correspondierende Societät der musikalischen Wissenschaften“ ins Leben rief. Zu Bach selbst stand Mizler in engem Kontakt , widmete diesem seine Magisterarbeit und reihte ihn unter seine „guten Freunde und Gönner“183 ein. Mizler verstand sich als derjenige , der die Leibnizsche Philosophie „zum ersten in die Musik eingefürt“184 hat. Wie fast wortwörtlich auch für Leibniz war für Mizler „Musik eine verborgene Rechenkunst des seines Zählens unbewußten Geistes“185 , hinführend zu Vollkommenheit , einer „Harmonie der Dinge [ … ] [ und ] Übereinstimmung [ … ] in der Verschiedenheit“186 , so Leibniz’ Definition von Schönheit in dieser Zeit , die sich wiederum genau mit der klassischen Schönheitsdefinition der „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ von Baumgarten , dem sogenannten Vater der Ästhetiktheorie deckt. Georg Venzky ( 1704–1757 ), ebenfalls ein Mitglied der Mizlerschen Societät , schrieb : „Gott ist ein harmonisches Wesen. Alle Harmonie rühret von seiner weisen Ordnung und Einrichtung her. [ … ] Wo keine Übereinstimmung ist , da ist auch keine Ordnung , keine Schönheit und keine Vollkommenheit. Denn Schönheit und Vollkommenheit bestehet in der Übereinstimmung des Mannigfaltigen.“187 Diese Einheit von Verschiedenem im Gleichen ist genau das , was Bach theoretisch unreflektiert praktisch vorführt , indem er , nicht wie Händel bestehende Stile perfektionierte , sondern sich akribisch mit den Stilen einzelner Länder ( wie Italien oder Frankreich ) oder Personen ( wie Buxtehude , Telemann oder Vivaldi ) auseinandersetzte , die Noten abschrieb und aus diesen Versatzstücken dann etwas Neues im eigenen Sinne destillierte , das später als Grundlage eines neuen europäischen Stils verstanden wurde. Auch Händel oder Telemann waren Musik182 Vgl. Dentler , Hans-Eberhard : Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“. Ein pythagoreisches Werk und seine Verwirklichung , Mainz u. a. 2004 , S. 32 183 Mizler , Lorenz Christoph ( Hg. ): Musikalische Bibliothek , Band I , Teil 4 , Leipzig 1738 , S. 61 184 Ebd. , Band II , Teil 1 , Leipzig 1740 , S. 99 185 Ebd. , Band III , Teil 4 , Leipzig 1752 , S. 685 186 Leibniz , Gottfried Wilhelm : zitiert nach Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 142 187 Venzky , Georg : Kleine Schulrede , worin man die von GOTT bestimmte Harmonie in der Musik beurtheilt , in : Mizler , Johann Christoph ( Hg. ): Musikalische Bibliothek , Bd. II , Teil 3 Leipzig 1742 , S. 63 f.

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Mixer , aber vor allem Bach wurde etwas Gesamteuropäisches zugesprochen , obwohl er viel weniger Europareisen unternommen hatte als Händel , eigentlich gar keine , weil er sich als junger Mann keine Kutsche leisten konnte ; deswegen waren seine langen Wanderungen von bis zu 300 Kilometern zur Anhörung anderer Musiker legendär. Bach hatte zwar nie eine Universität besucht , war aber dennoch philosophisch gebildet und hatte , wie es zu seiner Zeit hieß , „Einsicht in die Tiefen der Weltweisheit“188. Bach war Mizlers Ikone und Vorbild , und nur ein Musiker wie dieser war für Mizler „ein Weltweiser“, denn „wenn man sich unter dem Wort Musikus einen vorstellet , der ein Concert spielet so wäre es freylich lächerlich zu sagen , dass dieser deswegen ein Philosoph sey , weil er spielen kann. Plato meinet einen solchen Gelehrten , der die Natur der besten Verhältnisse erkennet und zu bestimmen weiß“189 , wie die bereits genannten Verhältnisse und Proportionen von Tonabständen. Bachs Partizipation an Mizlers Sozietät konnte also nicht ausbleiben , wenngleich sie erst 1747 erfolgte , also nach dem Beitritt Telemanns und Grauns und wohlgemerkt nach Händels Ehrenmitgliedschaft.190 Das reine Theoretisieren über Musik war Bachs Sache nun einmal nicht , wenngleich ihm keine fehlenden philosophischen Theoriekenntnisse vorgeworfen werden konnten. Bachs später Eintritt hatte eventuell ganz praktische Gründe. Denn jedes ordentliche Mitglied akzeptierte Pflichten wie „jährlich wenigstens eine Abhandlung [ … ] zu verfertigen“, welche „die practische Musik immer höher bringen“191 sollte. Nur Mitglieder die das 65. Lebensjahr erreicht hatten , waren davon freigestellt. Bach trat erst im Alter von 62 Jahren bei , womit er nur noch vier Jahresgaben beisteuern musste. Die „Kunst der Fuge“ war 1750 als derartiger Beitrag vorgesehen.192 Philosophische Bezüge sind daher bei diesem „aus Variationen im 188 Birnbaum , Johann Abraham : Über Bach , in : Bach-Dokumente , Bd. II : Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685–1750 , Leipzig 1969 , Nr. 441 , S. 353 189 Mizler , Lorenz Christoph ( Hg. ): Musikalische Bibliothek , Band I , Teil 5 , Leipzig 1738 , S. 38 190 Vgl. Dentler , Hans-Eberhard : Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“. Ein pythagoreisches Werk und seine Verwirklichung , Mainz u. a. 2004 , S. 37 191 Mizler , Lorenz Christoph ( Hg. ): Musikalische Bibliothek , Band III , Teil 2 , Leipzig 1746 , S. 348–356 192 Vgl. Hoke , Hans Gunter : Neue Studien zur „Kunst der Fuge“ BWV 1080 , in : Beiträge zur Musikwissenschaft IV ( 1975 ), S. 102 f.

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Großen“193 bestehenden Werk nicht auszuschließen , und die Forschung sieht diese Bezüge vor allem im Hinblick auf die leibnizsche und pythagoreische Monadologie. Die Monade ist für Leibniz die Ursubstanz , ein arithmetisches Minimum , auf das alles zurückzuführen ist. Die Monade in der Fuge entspräche also dem Grundthema und seinen Variationen. Speziell bei einer Spiegelfuge würde dann der Gesamtsatz umgekehrt , „wodurch beispielsweise der Sopran in Intervallumkehrung als Baß erscheint.“194 Die Monaden bzw. die Notenwerte „stehen untereinander und mit der von ihnen gespiegelten Welt , also insbesondere bezüglich ihrer Körper , in prästabilierter Harmonie.“195 Und das illustriert die Grundidee der Kunst der Fuge , formal das Ausloten aller „kontrapunktischen Möglichkeiten , die einem einzigen Thema innewohnen“196 , und inhaltlich die Simulation göttlicher Unendlichkeit und Harmonie , so die beiden barocken Stichworte , wie sie sich sowohl bei Bach als auch bei Leibniz finden. Für Leibniz waren das Denken und die Wahrnehmung des Menschen ein Wechselbezug zwischen scheinbar Verworrenem und vordergründig Klarem , eher irrationalen Empfindungen und rationalen Einsichten , die sich beide zu einem Bild der Erkenntnis zusammensetzen. Der Verstand bündelt in diesem System wie eine Camera obscura die Strahlungen der äußeren Dinge , ist aber zahllosen Knicken und Brüchen der Optik unterworfen , die also verschiedene Perspektiven eröffnen und zulassen , so wie die variationsreiche Kunst der Fuge Spiegelungen nicht nur in thematischer sondern auch in satztechnischer Sicht durchführt. Entstehen dadurch zwei Symmetrieachsen , bilden sie sozusagen eine Kreuzesform. Die Spiegelfugen contrapunctus Nr. 12 und 13 in der Kunst der Fuge thematisieren den 12. Vers im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes.197 Dort heißt es : „Wir sehen itzt durch einen Spiegel in einem tunkeln Wort / denn aber von 193 Forkel , Johann Nikolaus : Ueber Johann Sebastian Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke , Leipzig 1802 , S. 53 194 Schleuning , Peter : Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“. Ideologien , Entstehung , Analyse , München 1993 , S. 52 195 Leibniz , Gottlieb Wilhelm : Monadologie , Französisch / Deutsch , Stuttgart 1998 , § 80 f. 196 Wolff  , Christoph  : Johann Sebastian Bach  , Frankfurt am Main  , 22007 , S. 473 197 Vgl. hierzu Kleber , W.: Die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach , online unter : http://www.darmstadt-online.de/paulusgemeinde/kf.htm ( 02. 09.  2012 )

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Angesicht zu Angesichte. Itzt erkenne ichs stücksweise / denn aber werde ich erkennen , gleichwie ich erkennet bin.“198 Für die Zeitgenossen kamen bei solchen Konstruktionen „zwar sonderbar[ e ]“199 Melodien hervor , die aber im Leibnizschen Sinne gerade der „Harmonie des Gesamten durch die in sie eingefügten Dissonanzen und den dadurch auf wunderbare Weise entstandenen Ausgleich“200 dienlich waren. So wird die Fuge zu einem Symbol201 , nicht nur für ihre sprachgeschichtliche Ableitung von „fuga“ ( Flucht ), sondern eher für das musikalische „Fliehen einer Stimme zur Anderen“, und vor allem für die Bewegung auf ein Ziel hin , nämlich zu Gott. Bei Plotin steht der Begriff ( Flucht ) auch für die Heimkehr der Seele zu Gott , eine Reise die nicht mit den Füßen zu leisten sei , sondern mit Verinnerlichung und geschärfter Wahrnehmung.202 Komponieren und Musizieren waren für Bach also wahrscheinlich Tätigkeiten , die das irdische Stückwerk zumindest ansatzweise überwanden. Denn bei „einer andächtigen Musique , ist Gott allezeit mit seiner Gnaden Gegenwart“203 , so lautet eine handschriftliche Notiz in Bachs Bibel. Komponieren , vor allem das Schreiben von Fugen , war für Bach ein Beitrag , um Harmonie und Ordnung in der Welt zu schaffen. Diese Überzeugung erklärt Bachs umfangreiche und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits anachronistische Produktion an kontrapunktischen Werken. Sie relativiert auch die eine oder andere zeitgenössische Kritik : Der bereits als ironisch aufgefallene Komponist und Musikwissenschaftler Johann Mattheson ( 1681–1764 ) rühmte alle von Kontrapunktik geprägten Kanons und Fugen als „wahrhaff198 Das Neue Testament Deutsch von D. Martin Luther , Wittenberg 1545 / 46 , 1. Kor. 13,12 199 Bach , Carl Philipp Emanuel /Agricola , J. F.: Nekrolog auf Johann Sebastian Bach , in : Mizler , Johann Christoph ( Hg. ): Musikalische Bibliothek , oder Gründliche Nachricht nebst unpartheyischem Urtheil von alten und neuen musikalischen Schriften und Büchern , Leipzig 1754 , Bd. IV , Teil 1 , S. 171 200 Leibniz , Gottlieb Wilhelm : Sämtliche Schriften und Briefe , AkademieAusgabe , R.VI , Bd. 3 , Berlin 1981 , S. 124 201 Vgl. hierzu Dentler , Hans-Eberhard : Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“. Ein pythagoreisches Werk und seine Verwirklichung , Mainz u. a. 2004 , S.  79 ff. 202 Vgl. Plotin : Die Enneaden , in : Ders.: Ausgewählte Einzelschriften , Hamburg 1956 , I 6,8 , 16 , S. 22 ff. 203 Vgl. hierzu Petzold , Martin : „Bey einer andächtigen Musikque ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.“ Bach und die Theologie , in : Küster , Konrad ( Hg. ): Bach-Handbuch , Kassel u. a. 1999 , S. 81–91

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tig unfruchtbar. Alle diese Mittel riechen zu sehr nach dem Zwange [ … ] zur Schärfung und Wetzung des harmonischen ingenii [ … ] kann man die canonischen Künste wohl mit nehmen / und beyläufig treiben ; aber es muß kein Handwerk / kein Gipfel / kein Quell / kein Fundament [ … ] daraus gemacht werden. Die meisten Zuhörer sind in der Music unwissende Leute / [ … ] Welch eine herrliche Tat habe ich nun verrichtet / wenn vor ihren Ohren ein Kunst-Stück so zu verdecken und zu verstecken weiß / dass sie es gar nicht merken ? / Welch Wunder ! Eben /Als wenn jener Bauer einen gebratenen Canarien-Vogel / der 6. Taler gekostet hat / unwissend / im SaurKraut verschlucket / und nachdem ers erfahren / lieber dafür ein Stück vom Schweine-Braten gefressen hätte“.204 Und kaum einer der Zuhörer würde die Finessen eines Kanons bemerken , wenn man ihn nicht vorher warnte. Im Musikalischen Opfer sind übrigens zehn Kanons enthalten Späteren Zwölfton-Komponisten um Schönberg war aber genau dieses Bachsche Kompositionsprinzip wieder modern und vorbildlich.205 Händel und Beethoven wurden als revolutionär interpretiert , doch es wurde erst nach und nach bekannt , dass dieser Anspruch eigentlich und vor allem für Bach eignet. Seine Kantaten und seine Musik als eigentlicher Mittelpunkt des Gottesdienstes ( oder zumindest Ergänzung der Predigt in Form einer „enge[ n ] Verbindung zur Seelsorgepraxis“206 ) waren das Gegenteil der lutherischen Auffassung vom Wort der Predigt als Kernstück des Gottesdienstes. Zwar hatte 204 Mattheson , Johann : Critica Musica , Hamburg 1722 / 23 , S. 346 f. 205 Insbesondere die „Kunst der Fuge“ wurde von Anton Webern als geistesverwandtes Werk angesehen , denn diese „hat ein einziges Thema zur Grundlage. – Was konnte das Werk anders sein als die Antwort auf die Frage : Was kann ich mit diesen wenigen Tönen machen ? – Es ist immer etwas anderes und zugleich immer dasselbe. – Bach wollte zeigen , was alles aus einem einzigen Gedanken geholt werden kann. In der Praxis ist die Zwölftonmusik im einzelnen etwas anderes , aber allgemein liegt ihr dieselbe Denkungsart zugrunde. Dem Sinne nach ist die „Kunst der Fuge“ das gleiche wie das , was wir in der Zwölftonkomposition schreiben.“ ( Webern , Anton : Wege zur Neuen Musik , hrsg. Willi Reich , Wien 1960 , S. 59 ). Vgl. hierzu auch Marx , Hans Joachim : Von der Gegenwärtigkeit historischer Musik : Zu Arnold Schönbergs Bach-Instrumentation , in : Neue Zeitschrift für Musik 122 ( 1961 ), S. 49–51 ; Budde , Elmar : BachAneignung. Zur Bach-Rezeption Schönbergs und Weberns , in : Schnebel , Dieter ( Hg. ): Bach und die Moderne , Wiesbaden 1995 , S. 83–97 ) 206 Steiger , Renate : Musikalische Idiomatik in Bachs Darstellung von Tod und Sterben , in : Dies. ( Hg. ): Johann Sebastian Bachs Kantaten zum Thema Tod und Sterben und ihr literarisches Umfeld , Wiesbaden 2000 , S. 11

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auch Luther die psychologischen Vorzüge quasi klingender Predigten , praedication sonora , gelobt , aber es war dann Bach , der seine Musik so intensiv vortrug , dass bereits dem 18-Jährigen im thüringischen Arnstadt , als er gerade seine autodidaktische Berufung als Komponist endeckt hatte , vorgeworfen wurde , er habe „viele wunderliche variationes gemachet , [ und ] viele frembde Thone mit eingemischet“207 und damit die Gottesdienstbesucher verwirrt. Ähnlich revolutionären Anspruch beinhalten die Brandenburgischen , weil dem Markgraf von Brandenburg gewidmeten Konzerte voller Regelverstöße. Hier wurden zum Beispiel aristokratische Jagdhörner auf gleiche Stufe mit einfachen Oboen auf Stadtpfeiferebene gestellt oder das Cembalo als Instrument für eine Kadenz eingesetzt , eine lange Solo-Kür , für die vorher noch nie ein Cembalo verwendet worden war. Von daher gibt es verschiedene Verortungen Bachs im Kontext der Geistesgeschichte , und er changiert zwischen Vollblutlutheraner und Freidenker , zwischen der Symbolfunktion für eine vormoderne Welt und einer Art Urbild des modernen Genies , von der Obrigkeit unverstanden seine Kunst nach eigenem Gutdünken vervollkommnend. Einerseits gilt Bach als ernsthaft und als anspruchsvoller , als es seine Zeit beurteilen konnte , andererseits hat ausgerechnet die Bachbiographie Albert Schweitzers den eventuellen Geruch von Antiquiertheit kraft Schweitzers persönlichen Images relativiert , auf Fotos immer lächelnd und noch dazu Friedensnobelpreisträger. Wie kann Musik schwer anmuten angesichts der Aufnahmen von Schweitzers lambarenischen Bach-Exerzitien in Kooperation mit einer Katze auf den Tasten – die er dann andererseits so entnervt verscheucht , wie Bach das mit Konkurrenten zumindest versucht hat. Bach soll nicht nur seine Kunst , sondern ( durch sie ) auch die Flamme des Glaubens in einer Welt voller sogenannter Vernunft hochgehalten haben und er würde heute die Kraft von Eigendisziplin und Kompetenz vorführen. Die Fuge gilt den einen als Inbegriff von christlicher Mystik gegenüber der neuen Welt der Vernunft , wie ein Kampf zwischen Platon gegen Newton noch vor Herder und Kant. Dabei verweist der eine auf die demokratische Gleichheit verschiedener Kulturen , und der andere proklamiert , dass jedwede Ordnungen keine Eigenschaft des Universums , sondern Ordnungen des ordnenden Geistes wä-

207 Bach-Dokumente  , Bd. II  : Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zum Leben Johann Sebastian Bachs 1685–1750 , Kassel , Leipzig 1969 , Nr. 16 , S. 20

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ren208. Andere wiederum vergleichen Bach mit eben diesem Newton. Von daher ist auch die Eingangsdarstellung der Gegensätze Bach und Friedrich in Wirklichkeit vielleicht auch durchmischter gewesen , als es nachträgliche Kategorisierungen vermuten lassen. Bach selber hat seine Musik vornehmlich zu zwei Zwecken verstanden : S. D. G. , Soli Deo Gloria , zur Ehre Gottes , und zur „Recreation des Gemüths“, so die feste Formel seiner Zeit. Wo Musik sich nicht zwischen diesen beiden Eckpfeilern bewege , sei sie „keine eigentliche Musik , sondern ein teuflisches Geplärr und Geleier“209 , ähnlich hatte es auch Luther im ersten evangelischen Gesangbuch von 1524 formuliert.210 Und Glenn Gould , bekanntester Interpret der Goldbergvariationen , schrieb , dass es etwas Schöneres als einzelne Bachfugen „nie in der Musik gegeben“211 habe.

3.4 Bach und die Disharmonie So sehr das Streben nach Harmonie das Werk Bachs zu durchdringen scheint , so wenig harmoniesüchtig war er im Zwischenmenschlichen , wenn es denn um Musikalisches ging. Während seiner Leipziger Zeit ( 1723–1750 ) war er in den sogenannten Präfektenstreit212 verwickelt. Es ging um Folgendes : Im Sommer 1736 hatten sich bei einer Trauungsmusik einige Chorknaben der Thomasschule ungebührlich benommen und wurden von Bachs Stellvertreter an diesem Tage , dem Chorpräfekten Krauß , durch Prügelstrafe gemaßregelt. Nach einer Beschwerde wurde Krauß wiederum vom Rektor der Thomasschule zu einer öffentlichen Prügelstrafe verurteilt. Krauß akzeptierte das nicht , bat um Entlassung , was aber verwehrt wurde. Ihm blieb also nur die Flucht aus Leipzig , um sich der Demütigung 208 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 306 209 Bach , Johann Sebastian : Gründlicher Unterricht des General-Basses , zitiert nach : Stiller , Günther : Johann Sebastian Bach und das Leipziger gottesdienstliche Leben seiner Zeit , Berlin 1970 , S. 195 210 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 164 211 Gould , Glenn : zitiert nach : Stegemann , Michael : Glenn Gould. Leben und Werk , München , Zürich 22001 , S. 396 212 Vgl. hierzu Köhler , Johann Heinrich : Historia Scholarum Lipsiensium , Leipzig 1776 ; Mund , Frank : Lebenskrisen als Raum der Freiheit. Johann Sebastian Bach in seinen Briefen , Kassel u. a. 1997

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einer öffentlich zu vollstreckenden Prügelstrafe zu entziehen. Die Neubesetzung der Stelle stand nach Bachs Rechtsauffassung Bach zu. Doch der neue Präfekt , nach Bachs Einschätzung unmusikalisch und leichtlebig , wurde dann doch durch den Rektor ausgewählt. Diese Besetzung machte Bach durch tätliches Eingreifen auf der Empore der Thomaskirche rückgängig , mehrfach. Natürlich befahl der Rektor Bach , Derartiges zu unterlassen , und der Stadtrat ignorierte Bachs täglich geschriebene Protestbriefe. Also ignorierte Bach sowohl Rektor als auch Stadtrat , verreiste für mehrere Wochen und lieferte sich mit Leipzig einen Briefwechsel , der an Vehemenz kaum noch zu überbieten war : „Alleine ich bin [ … ] wegen der mir von gedachten Herrn Rectore angethanen Prostitution nicht Satisfaciret , andern Theils damit gar sehr graviret worden.“213 Der Streit wurde erst beigelegt , nachdem im Dezember 1737 ein königliches Dekret ergangen war , das dem „HoffComponisten“ Bach den Rücken stärkte. Ein anderes Mal werden Bach „sittliche Vergehen“ zur Last gelegt , habe er doch ohne Genehmigung eine „frembde Jungfer“214 auf der Orgelempore singen lassen. Ob diese Jungfer seine spätere Ehefrau Maria Barbara war , auch Sängerin , wird nie mehr einwandfrei zu klären sein215 , aber auszuschließen ist es nicht. In Arnstadt verärgert er die Ratsherren mit einem eigenmächtig von drei Wochen auf drei Monate verlängertem Bildungsurlaub. In einer anderen Anekdote kommt Bach im August 1705 auf dem gemeinsamen , nächtlichen Nachhauseweg mit seiner Cousine an einer Gruppe seiner Musikund Chorschüler vorbei. Einer von ihnen , Johann Heinrich Geyersbach , beginnt Bach zu beschimpfen und teilt , laut späterer Aussage Bachs , einen Erstschlag mit einem Stock in Bachs Gesicht aus , der ihn zur Notwehr mit dem Degen gezwungen habe. Schlimmeres wird durch die anderen Schüler verhindert , die die Duellanten trennen. Bach lässt den Vorfall nicht auf sich sitzen und verklagt Geyersbach vor dem Arnstädter Rat.216 Aber Geyersbach bleibt nicht nur 213 Bach , Johann Sebastian : Eingabe an das Königliche Konsistorium Leipzig vom 21. August 1737 , in : Bach-Dokumente , Bd. I : Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs , Leipzig 1963 , Nr. 40 214 Bach-Dokumente , Bd. II : Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zum Leben Johann Sebastian Bachs 1685–1750 , Kassel , Leipzig 1969 , Nr. 8 215 Vgl. hierzu Küster , Konrad : Der junge Bach , Stuttgart 1996 , S. 149 216 Vgl. Bach-Dokumente , Bd. II : Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zum Leben Johann Sebastian Bachs 1685–1750 , Kassel , Leipzig 1969 , Nr. 14 , S. 16

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straffrei , sondern auch moralisch rein , als der Vorwurf ausgesprochen wird , Bach habe Geyersbach einen „Zippel Fagottisten“ geheißen und würde „ohne dem in dem ruff [ stehe ] daß mit denen Schühlern er sich nicht vertrüge“217. Der Arnstadter Rat ergänzte diese Ausführungen noch mit einer derben Kritik an Bachs Amtsführung. Da Bach aus seiner Meinung über Geyersbachs Kunstfertigkeit am Fagott kein Geheimnis gemacht hatte218 und auch anderweitig schon einmal dadurch aufgefallen war , dass er nach anderen Musikern mit seiner Perücke geworfen hatte219 , kommt Geyersbach mit Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung durch.220 Folgerichtig hat Bach Arnstadt bei der nächstmöglichen Gelegenheit 1707 verlassen. Aber auch woanders treten Probleme auf. Am Hof von SachsenWeimar wird Bach der Sohn des amtierenden Kapellmeisters als ranghöherer Vize-Kapellmeister vor die Nase gesetzt und auch nach dem Tod des Weimarer Hofkapellmeisters machte man keine Anstalten , Bach in dieser Stelle zu installieren. In Bachs Leben war die oft politisch induzierte Bevorzugung anderer schlechterer Kandidaten ein immer wiederkehrendes Motiv , auch wenn dies Bach bei seiner entscheidenden Wahl zum Thomaskantor dann insofern half , als der erstplatzierte Telemann mit Gehaltserhöhung in Hamburg blieb und Graupner , dem zweiten , die Entlassung verweigert wurde. ( Man sagt , Graupner galt als so talentiert , dass der posthume Streit um seine Urheberrechte dazu führte , dass seine Werke erst in unserer Zeit gedruckt werden und dass ihn das als angeblich schärfsten Konkurrenten Bachs in Sachen Nachruhm ausgeschalten hätte. ) Auch in Arnstadt trat nun das Glück auf den Plan , denn der junge Fürst Leopold von Anhalt-Köthen ( 1694–1728 ) engagierte Bach vom Fleck weg , und Bach erhielt allein für den Abschluss des Arbeitsvertrages ein Handgeld in Höhe seines bisherigen Dreimonatsgehaltes.221 Doch scheint Bach Zeit seines Lebens nach mehr beruf217 Ebd. 218 Vgl. hierzu insbesondere Wolff , Christoph : Johann Sebastian Bach , Frankfurt am Main 22007 , S. 93 f. 219 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 110 220 Vgl. Wilhelm , Jens Philipp : Der Fall J. S. Bach. Einige Anmerkungen nach heutigem Recht zu den Arnstädter „Verdrießlichkeiten“ Johann Sebastian Bachs , Vortrag an der Uni Mannheim 2001 , online unter : http://www.jwilhelm.de/ fallbach.pdf ( 30. 07. 2010 ) 221 Vgl. Küster , Konrad : Der junge Bach , Stuttgart 1996 , S. 205

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licher Anerkennung gelechzt zu haben , sodass er stets nach Höherem strebte und anderen zum Teil nicht das kleinste Stück vom Kuchen gönnte. In einem Streit des gut bestallten Bach um eine in keinster Weise lukrative Zusatzstelle eines anderen , ging die Matthäus-Passion mehr oder weniger unter222. Einmal sagte Bach eine Stelle zu , ohne die vorangegangene vorher zu kündigen. Zwar schaffte es Bach , sich durchzusetzen , aber erst nach einer vierwöchigen Beugehaft „wegen seiner Halßstarrigen Bezeügung“223. In diesem Monat entstand hinter Gittern das Wohltemperierte Klavier ( Teil 1 ) und damit auch das berühmte Präludium und die Fuge in C-Dur ( BWV 846 ).224 Als tiefgläubiger Lutheraner war Bach bei seinen Auseinandersetzungen höchst streitbar und ähnelte einigen buddhistischen Mönchen nicht nur im Hinblick auf die Leibesfülle , sondern auch im Umgang mit sinnlichen Reizen und Gereiztheit bis hin zur Freude am Ehebett. Zu friedlich auf dem Pfad der Tugend zu wandeln , gilt hier wie dort als Ausdruck von Hochmut , da nur der vollkommene Gott bzw. der Buddha dem dauerhaft sündigen bzw. unerleuchteten Menschen die Gnade der Erlösung oder Erleuchtung schenkt. Derbe Texte haben Bach daher nicht abschrecken können. So vertonte er im Hochzeitsquodlibet ( BWV 524 ), das für den Familiengebrauch gedacht war , folgende Verse : „Große Hochzeit , große Freuden , große Degen , große Scheiden [ … ] große Jungfern , große Kränze , große Esel , große Schwänze“225. Selbst Homoerotisches lässt sich entdecken226 , und die Kantate „Streit zwischen Phöbus und Pan“ ( BWV 201 ) enthält eine zartfühlende Arie des Gottes Apollon an den später zur Blume verwandelten Knaben Hyacinthus : „Mit Verlangen / Drück 222 Gegen Görner war es ein Streit um lediglich 12 Taler jährlich. ( Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 205 ) 223 Bach-Dokumente  , Bd. II  : Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zum Leben Johann Sebastian Bachs 1685–1750 , Kassel , Leipzig 1969 , Nr. 84 , S. 65 224 Vgl. Bach-Dokumente , Bd. III : Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs , 1750–1800 , Kassel , Leipzig 1972 , Nr. 948 225 Bach , Johann Sebastian : Kantaten , Varia : Kantaten , Quodlibet , Hg. von Andreas Glöckner , Kassel u. a. 2000 , S. 80 ff. 226 Die Zeitgenossen Bachs haben daran , wohl auch wegen des antiken Stoffes , keinen Anstoß genommen. Die Bach-Forschung des 19. Jahrhunderts hat Derartiges zumeist ignoriert. ( Vgl. hierzu insbesondere Schrader , Frank : Eine homoerotische Liebesarie in J. S. Bachs Kantate „Der Streit zwischen Phöbus und Pan“ , online unter : http://hyacinthus.hy.funpic.de/musik/pdfmusik/Bach_Homoerotik.pdf ( 13. 09. 2012 )

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ich deine zarte Wangen , / Holder , schöner Hyacinth. / Und dein Augen küß ich gerne , / Weil sie meine Morgen-Sterne / Und der Seele Sonne sind.“227 Die Lutheraner befolgten die Maxime „Fortiter pecca“ – sündige wacker ! ( Aus diesem Grund galten die Lutheraner zu Zeiten Bachs im evangelischen Lager als tendenziell derb – zum Schrecken aller calvinistischen Prinzessinnen , die in lutherische Fürstenhäuser einheiraten mussten. ) Eine solche Einstellung macht lebenstauglich , denn : „Wem das Wasser ins Maul gehet , der muß lernen schwimmen“228 , so ein markierter Luther-Kommentar in Bachs Bibel , und darum gibt es von Bach auch nicht nur böse Briefe , sondern auch schmeichlerische Korrespondenz – wenn es um eine Anstellung ging. Auch scheint er bei Verhandlungen nicht gerade weltfremd gewesen zu sein. Denn es fallen seine stets vergleichsweise sehr guten Gehälter auf , ebenso wie manch andere betriebswirtschaftlich einleuchtende Kalkulation ( wie zum Beispiel das Stellen von Kost und Logis in einem Arnstadter Hospital , ausgegeben vom Bürgermeister Feldhaus , der zufälligerweise auch Aufseher des Hospitals war229 ). Doch trotz dieser Gehälter galt : Wenn Bach seine Kompetenz angezweifelt sah , wurde er böse. Und das ist ihm nicht zu verdenken. Er war aufgerieben von der Arbeit , die ohne Ausnahme 15 , 16 Stunden am Tag dauerte und keinen Freizeitanspruch kannte. Er lebte mit seiner großen Familie auf engem Raum ( ca. 74 Quadratmeter230 ), hatte wenig Platz zum Arbeiten , musste fast ständig mit semiprofessionellen Musikern zusammenarbeiten , meist nur Kopisten , die noch dazu überwacht werden mussten , und dann hatte er auch noch Stress mit den Vorgesetzten. Also strich Bach zur Stärkung der Moral in seiner Bibel entsprechende Kommentare an : „Zorn muß und soll sein. Aber da siehe zu , daß er gehe , wie er gehen soll und dir befohlen sei. Daß du nicht von deintewegen , sondern von Amts und Gottes wegen müsstest zürnen … für deine Person sollst du mit 227 Neumann , Werner : Sämtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte , Leipzig 1974 , S. 219 228 Zitiert nach Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 100 ; vgl. hierzu insbesondere : Leaver , Robin A.: Bach and Scripture : Glosses from the Calov Bible Commentary , St. Louis 1986 229 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S.  99 f. 230 Vgl. Wolff , Christoph : Johann Sebastian Bach , Frankfurt am Main 22007 , S. 443

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niemand zürnen , wie hoch du beleidigt bist , wo es aber dein Amt fordert , da mußt du zürnen“231. So konnte es vorkommen , „dass er gewaltig in Harnisch gerieth und seinem Eifer in den stärcksten Ausdrücken Luft zu machen suchte.“232 Insbesondere die Kritik des Komponisten und Schriftstellers Johann Adolph Scheibe ( 1708–1776 ) hat Bach empfindlich getroffen , zumal ihn dieser abwertend als „Musicus“ bezeichnete. Bach selbst hat zu dieser Querele keine persönlichen Aussagen hinterlassen. Ein Freund Bachs , der Rhetorikdozent Johann Abraham Birnbaum ( 1702–1748 ), fungierte als Sprachrohr und brachte Gegenthesen vor. Der eigentliche Streitpunkt war : Scheibe sah die Bachsche Musik zu stark von Dissonanzen geprägt , was der Musik die „Schönheit der Harmonie“233 entzöge und damit deren „schwülstiges und verworrenes Wesen“234 bewirke. Zudem sei Bach ein Buchhalter der Kompositionswissenschaften. Alle Verzierungen seien präzise ausformuliert , unnötigerweise , da die Verzierungstechnik Aufgabe der ausführenden Musikanten wäre. Diese insgesamt zu große Kunstfertigkeit verhülle nicht nur die Schönheit der Musik , sondern führe vom „erhabenen auf das Dunkle“235 zurück. Birnbaum konterte , Kunst bedeute nicht nur die Nachahmung der Natur , sondern auch deren Vervollkommnung. Denn viele „Dinge werden von der Natur höchst ungestalt geliefert , welche das schönste Ansehn erhalten , wenn sie die Kunst gebildet hat. Also schenkt die Kunst der Natur die ermangelnde Schönheit , und vermehrt die gegenwärtige. Je größer nun die Kunst ist , das ist , je fleißiger und sorgfältiger sie an der Ausbesserung der Natur arbeitet , desto vollkommener glänzt die dadurch hervorgebrachte Schönheit. Folglich ist es wiederum unmöglich , dass die allergrößte Kunst die Schönheit eines Dinges verdunkeln könne.“236 Auch die Dissonanzen sah Birnbaum als etwas 231 Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 202 232 Hilgenfeldt , Carl Ludwig : Johann Sebastian Bach’s Leben , Wirken und Werke : ein Beitrag zur Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts , Leipzig 1850 , S. 172 233 Scheibe , Johann Adolph : Der Critische Musicus , Sechstes Stück , Dienstags den 14 May , 1737 , in : Ders. ( Hg. ): Der Critische Musicus , Erster Theil , Hamburg 1738 , S. 47 234 Ebd. , S. 46 235 Ebd. , S. 47 236 Birnbaum , Johann Abraham : Unpartheyische Anmerckungen über eine bedenckliche stelle in dem Sechsten stück des Critischen Musicus , in : Scheibe , Johann Adolph ( Hg. ): Critischer Musicus , Leipzig 21745 , S. 852

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Notwendiges an : „Die wahre Annehmlichkeit der Musik bestehet in der Verbindung und Abwechselung der Consonanzen und Dissonanzen , ohne Verletzung der Harmonie.“237 Denn auch wenn bei Bach „die Stimmen [ … ] wundersam durch einander arbeiten : allein , alles ohne die geringste Verwirrung. Sie gehen mit einander und wider einander ; beydes wo es nöthig sei. Sie verlassen einander und finden sich doch alle zu rechter Zeit wieder zusammen. Jede Stimme macht sich vor der andern durch eine besondere Veränderung kenntbar , ob sie gleich öftermals einander nachahmen. Sie fliehen und folgen einander , ohne daß man bey ihren Beschäfftigungen , einander gleichsam zuvor zu kommen , die geringste Unregelmäßigkeit bemerktet. Wird dieses alles , so wie es seyn soll , zur Execution gebracht , so ist nichts schöners , als diese Harmonie.“238 Da solche Sachfragen im 18. Jhdt. noch von der Ehre der jeweiligen Thesenaufsteller flankiert wurden , handelte es sich bei einem solchen Schlagabtausch um wirklich substanzielle Selbstpräsentationen. Doch auch solche Streitereien verebbten mit der Zeit. Zwar wurde noch kurz die Frage diskutiert , ob Händel oder Bach der größere Organist bzw. Cembalist sei239 , aber dann verließ die Querele leise die Bühne der Musikkritik , als der Streit um Dissonanzen in dem Moment kein Thema mehr war , in dem die Musiktheorie des 18. Jahrhunderts Dissonanzen als etwas ähnlich Notwendiges definierte wie den Schatten in der Malerei. Beides sei zunächst ärgerlich , ermögliche aber schließlich eine schärfere Fokussierung des eigentlichen Gegenstandes.240 Dieser Debatte folgte keine ähnlich große mehr. Die nicht musikwissenschaftlichen Motive Scheibes bleiben spekulativ. Ein mögliches Motiv könnte gewesen sein , dass er als gebürtiger Leipziger und Sohn des Orgelbauers Johann Scheibe sich 1729 vergeblich um die Organistenstelle an der Leipziger Nikolaikirche bemüht hatte. Bach hatte über die Besetzung mit entschieden.241 237 Ebd. , S. 846 f. 238 Ebd. , S. 850 239 Vgl. hierzu Sandberger , Wolfgang : Das Bach-Bild Philipp Spittas : Ein Beitrag zur Geschichte der Bach-Rezeption im 19. Jahrhundert , Wiesbaden 1996 , S.  178 ff. 240 Vgl. Bach , Carl Philipp Emanuel :Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen , Erster Theil , Berlin 1753 , S. 130 ; Beytrag zu einem musikalischen Wörterbuche , in : Hiller , Johann Adam : Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend II / III , Leipzig 1767 / 69 , Artikel : Licht , musikalisches 241 Vgl. Spitta , Philipp : Johann Sebastian Bach , Bd. 2 , Leipzig 1880 , S. 476 u. S.  733 ff.

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Diese Debatte war die letzte um Bach zu seinen Lebzeiten. Sein Spätwerk242 rief keinen Kunststreit mehr hervor , nur mehr einen indirekten Kampf gegen Friedrich , Arbeitsgeber seines Sohnes Carl Philipp Emanuel , erster Cembalist in der Kgl. Preuß. Armee in Potsdam. Sein Treffen mit Friedrich gilt als ein Aufeinandertreffen zweier prinzipientreuer Deutscher , einer dabei mit thüringischem Einschlag sprechend und wohl gar nicht so unlustig , wie der Eindruck von Bachs ernsten Fugen und ernstzunehmenden Streitbarkeit vermuten lässt. Hätte er sonst Stücke geschrieben wie die Kaffeekantate BWV 211 : 562 Takte Streitgespräch zwischen Vater und Tochter über das damals neuartige Getränk , das als erotisierend galt und dementsprechend moralisch verrufen war ; denn „coffeum haut die Jungfrau um“243. Bachs kultivierte Auseinandersetzung mit dem Kulturstreit um den Kaffee244 kulminiert in der Proklamation der Dame , nur einen Gatten zu akzeptieren , der seinerseits ihren koffeinhaltigen Lebenswandel akzeptiert. Aber sicher wäre , wenn man darüber Bescheid wüsste , anzunehmen , dass Friedrich weniger Zeit in die Lektüre der Kaffeekantate investiert hatte als in die Durchsicht der Noten des „Musikalischen Opfers“, dieser Meisterleitung einer sabotierten sechsstimmigen Fuge und der darin sublimierten Dissonanzen zwischen Bach und Friedrich ( der sollte sich das Thema sein Leben lang merken , aber nicht die Anzahl der Stimmen , die er auf acht hochstocken sollte ). Wie bereits angedeutet , huldigte Bach im Musikalischen Opfer dem König mit erhabenen Sinnsprüchen , die aber samt und sonders musikalisch konterkariert wurden. Der Part über das Glück des Königs klang melancholisch , der angeblich steigende Ruhm des Königs kam nur auf einer anderen Oktave zu stehen , was nach damaligem Verständnis auf einen Gleichstand hinausläuft. Die zehn Kanons erinnern an die eherne Macht der zehn Gebote und an Gerechtigkeit , 242 Vgl. hierzu insbesondere : Wolff , Christoph : Johann Sebastian Bachs Spätwerk : Versuch einer Definition , in : Ders. ( Hg. ): Johann Sebastian Bachs Spätwerk und dessen Umfeld. Perspektiven und Probleme , Kassel 1988 , S. 20–22 243 So lautet ein um 1700 im deutschsprachigen Raum entstandenes Sprichwort über die aphrodisierende Wirkung des Kaffees. ( Vgl. hierzu Heise , Ulla / Wolff Metternich , Beatrix Freifrau von : Coffeum wirft die Jungrau um. Kaffee und Erotik , Leipzig 1998 ) 244 Bach schrieb diese Kantate für die Aufführung in einem Leipziger Kaffeehaus. Bach hat Kaffee wohl aber auch am heimischen Herd geschätzt , denn in seinem Nachlass befanden sich zwei silberne Kaffeekannen. ( Vgl. Bach-Dokumente , Bd. II : Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zum Leben Johann Sebastian Bachs 1685–1750 , Kassel , Leipzig 1969 , Nr. 627 , S. 492 )

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und noch dazu all das in Form einer Kirchensonate 245 – ein überaus mutiger Umgang mit diplomatischen Dissonanzen , einem Vertreter des Harmonischen mit großer Kompetenz zur Disharmonie drei Jahre vor seinem Tod durchaus angemessen. Denn sowohl Bach als auch Friedrich hatten bis zu diesem Zeitpunkt und trotz verschiedenen Alters schon viel an Dissonanzen erlebt , beide hatten wörtlich und im übertragenen Sinne schon viele Schläge einstecken müssen , aber Bach hatte seine Halsstarrigkeit bewahrt , während hingegen Friedrich sich von seinem Vater hatte demütigen lassen ( müssen ) Diesen Vater , der willkürlich geschlagen , gemordet und Friedrichs besten Freund vor seinen Augen hinrichten hatte lassen , hatte der Sohn irgendwann begonnen , inbrünstig zu lieben und nach seinem Tod zu beweinen ( und nach Friedrichs Tod weinte über ihn eigentlich niemand , bis auf seine Ehefrau , Sophia Dorothea , Schwester besagten englischen Georgs II. ). Bach hat in den Streitereien seines Lebens nie nachgegeben , und wenn er sich lächerlich gemacht hatte , dann im Namen seiner erhabenen Musik , mit der er sich , leider erst im Laufe von 250 Jahren nach seinem Tod , die Anerkennung verschafft hat , die er im Leben so sehr herbeigesehnt hatte.

245 Vgl. Gaines , James R.: Das Musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung , Frankfurt am Main 2008 , S. 277

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4 Der ideengeschichtliche Zwischen­ bericht: Die dunkle Seite der Musik Wäre dieses Buch ein Konzert , so wäre jetzt Intermezzo-Pause. Nach einer einleitenden Einstimmung , einem ersten Händel-Satz in Allegro und einem zweiten Bach-Largo wäre somit der Zeitpunkt für einen kurzen Checkup in das ( vielleicht vorhandene ) Programmheft gekommen : Der Blick zurück zeigt die zwei mittlerweile prominentesten Musiker ihrer Zeit und ihres Stils. Ob dabei Händel oder Bach an der Spitze der Wertung stehen , changiert derzeit durch verschiedene Punktzahlen in den Kategorien quantitativer Nennungen , nationaler oder philosophischer Bevorzugung , und persönlicher Vorgeschichte des Bewertungsgremiums. Allgemein gilt aber , dass Händel und Bach die Bestplatzierten ihrer eigenen Epoche hinter sich gelassen haben. 1754 nennt eine Aufzählung der berühmtesten deutschen Musiker von Mizler an Platz 1 Hasse ( von dem es heißt , er habe die italienische Oper zu ihrem Höhepunkt gebracht ), an Platz 2 Händel ( siehe oben ), an Platz 3 Telemann ( siehe unten ), an Platz 4 die Brüder Graun ( die bei Friedrich II. Kapellmeister waren ), an Platz 5 Stölzel ( Kapellmeister in Gotha , Erfinder von mehrstimmigen Rezitativen ), an Platz 6 Bach ( siehe oben ), an Platz 7 Pisendel ( Violinvirtuose und Komponist ), an Platz 8 Quantz ( vor allem Flötist und dafür berühmt geworden , heimlich von Friedrich noch zu Lebzeiten seines Vaters eingestellt worden zu sein ) und an Platz 9 Bümler ( Hofkapellmeister in Ansbach )246 – und dieser späte Sieg ist nicht nur allen Musikern , sondern allen Menschen überhaupt ein Signal der Hoffnung auf späte Anerkennung nach dem Tode , insofern man diesen Wert vor einen geregelten Unterhalt und ein ruhiges Leben vor dem Tod stellen möchte. Nach Händel und Bach sind nun Telemann und Mozart angekündigt. Es waren alles perückentragende Prominente , die hier versammelt sind , und drei davon auf der Mizler-Liste. Zwar war diese Liste für Mozart ein paar Jahrzehnte verfrüht , dafür wird er letztendlich alle drei an Berühmtheit überflügeln , und nach ihm bzw. mit ihm wird sich nicht nur die Musik stark verändern , auch das Perückentragen wird sukzessive weniger wer-

246 Mizler , Lorenz Christoph ( Hg. ): Musikalische Bibliothek , Band IV , Teil 1 , Leipzig 1754 , S. 105

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den.247 Aber warum dann Telemann ? Telemann , damals noch Rang 2 auf der Mizler-Skala , ist heutzutage vergleichsweise wenig präsent , weil er im 19. Jhdt. als „Talent der flachsten Art“248 galt. Darum wurden vier vollständige Kantaten und einige einzelne Sätze Telemanns sicherheitshalber Bach zugeschrieben.249 Wie sehr sich die Zeiten ändern , zeigt der Umstand , dass ausgerechnet Telemann viel näher an den Geschmack unserer Gegenwartskultur heranreicht als sonst ein Komponist seiner Zeit. Der blutigen Librettos wegen. Während Händel und Bach Erhabenheit in der Opulenz , in Perfektion und in Gott suchten , und ihnen die Erhabenheit aufgrund von Opulenz , Perfektion und Durchhaltevermögen zugesprochen wurde , vertonte Telemann Textvorlagen , wie sie in unserer Zeit als vermeintlich erhaben gefeiert und philosophisch legitimiert werden. Wie und mit welchen Beispielen die heutigen Philosophen das begründen , wurde bereits aufgezeigt , auch der Beginn eines solchen Verständnisses von Erhabenheit. Zwischen diesem Beginn und den gegenwärtigen Folgen liegen gut 20. Jahre , in denen einzelne Zwischenstufen der Erhabenheits-Entwicklung liegen. Das alles beginnt mit einer neuen Lust am Gruseligen250. Kants sich bei seiner virtuellen Vernichtung als erhaben begreifender , weil kategorial unsterblicher und an innerer Größe unüberbietbarer Mensch führt hin zu Edgar Allan Poe ( 1809– 1849 ), der das Erhabene als Verborgenheit , Dunkelheit , Kraft , Einsamkeit und überragende Größe definiert , aber solche Dinge dann 247 1790 berichtete eine Modezeitschrift : „Die lästige Bürde des künstlichen Haares , welches so lange unsere Schönheit entstellt hat , fängt an zu verschwinden. Die natürliche Locke wallt wieder in ‚Ringeln über die Schultern herab ; und keine Dame von Stande schämt sich jetzt ihres eignen Haares. Diese plötzliche Revolution , die ihren Anfang mit der französischen Freyheit genommen , hat manche erfinderische Künstler ausser Arbeit gesetzt , besonders die Haarweber und die ehrsame Innung der Peruckenmacher.“ ( Journal des Luxus und der Moden , 5. May 1790 , S. 272 f. , vgl. hierzu auch Antoni-Komar , Irene : Zur Rezeption der Frisur à la Titus am Ende des 18. Jahrhunderts , in : Janecke , Christian ( Hg. ): Haar Tragen. Eine kultur-wissenschaftliche Annäherung , Köln , Weimar , Wien 2004 , S.  212 ff. ) 248 Kümmerle , Salomon ( Bearb. u. Hg. ): Encyklopädie der evangelischen Kirchenmusik , 3 Bde. , Gütersloh 1888–1894 , Dritter Band , S. 594 249 Vgl. Emans , Reinmar : Sind stilkritische Echtheitsbeweise möglich ? Überlegungen anhand der auch Johann Sebastian Bach zeitweilig zugeschriebenen Kantaten Telemanns , in : Nowak , A. / Eichhorn , A. ( Hgg. ): Telemanns Vokalmusik. Über Texte , Formen und Werke , Hildesheim 2008 , S. 435 ff. 250 Vgl. Voigt , Stefanie : Erhabenheit. Über ein großes Gefühl und seine Opfer , Würzburg 2011 , S. 216 ff.

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fürchterlich schön findet. Erhabenheit ist für Poe der Schrecken , der die Schönheit zu ihrer höchsten Vollendung führt , und der Tod einer schönen Frau „unfraglich der poetischste Topos der Welt“.251 Wieder ist es also ein englischsprachiger Autor , der für das verantwortlich war , was später zivilisierte Mitteleuropäer in ihrem Leben alles an ( nicht ohne Grund meist in England angesiedelten ) Schauerromanen , Gothic Horror252 und Geschichten mit schlechtem Wetter und schlechtem Essen , serviert in alten Burgen mit neugotischen Wasserspeiern , rezipieren müssen. Die Landschaftsarchitekten des 19. Jahrhunderts taten der neuen Erhabenheitsmode Genüge und entwarfen künstliche Gärten , in denen die Erhabenheit den Besuchern geradezu ins Gesicht weht : Künstlich waren Wind , Regen , Erdbeben und dazu passend Geräusche von Donner , Kriegsgetümmel , Raben , Hunden oder anderen wilden Tieren beim Verspeisen anderer Tiere ; und wen all dies noch nicht Gruseln lehrte , den traf der Schlag aus versteckten elektrischen Leitungen , die im Zuge der allgemeinen Entdeckung der Elektrizität ebenfalls sehr beliebt waren.253 Aus diesen Parks wurden die modernen Vergnügungsparks mit ihrem Achterbahnen und aus den Poe-Geschichten wurden die WallanderKrimis , und aus beidem die heutigen Action-Splatter-Filme. All das funktioniert nach Burkes und Kants Erhabenheits-Bauanleitung , einem Wechsel von Anspannung und Entspannung , und mittels Erhabenheit der Beschäftigung mit dem Schlimmstmöglichen. Burkes „delightful horror“ ist wie Hitchcocks „suspense“, Kants erhabener „Enthusiasmus“ wie eine von Dennis Hopper verkörperte Filmfigur aus „Texas Chainsaw Massacre 2“: „Show me what I fear so I don’t fear it no more“.254 Denn die Welt ist schlimm , aber das Leben geht 251 Poe , Edgar Allan : The Philosophy of Composition , in : Graham’s Magazine 28 ( 1846 ), S. 165 , online unter : http://www.eapoe.org/works/essays/philcomp. htm ( 02. 09. 2012 ) 252 Vgl. Haslag , Joseph : Gothic im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Eine wort- und ideengeschichtliche Untersuchung , Köln , Graz 1963 253 Vgl. Bartels , Klaus : Über das Technisch-Erhabene , in : Pries , Christine ( Hg. ): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn , Weinheim 1989 , S. 302 ; Wehrli , Beatrice : Wenn die Sirenen schweigen : Gender studies ; Intertext im Kontext , Würzburg 1998 , S. 81 254 Zitiert nach : Halberstam , Judith : Skin shows. Gothic Horror and the Technology of Monsters , Durham , London 1985 , S. 138. Andere Beispiele für vergleichbare Filme des Genres sind „Night of the Living Dead“, „The Texas Chainsaw Massacre“, „The Silence of the Lambs“, „Natural Born Killers“ oder „Wrong turn“.

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weiter. Solange die Welt nicht wirklich schlimm ist , werden solche Bücher am meisten verkauft , meinte Stephen King. Und man könnte ihm glauben , wenn man bedenkt , dass kurz vor Händel und Bach der 30-jährige Krieg zu Ende gegangen war , der halb Europa verwüstet und die Menschen dazu gebracht hatte , sich gegenseitig und notfalls auch Gehängte zu essen – oder aus den Wiegen gestohlene Kinder. Und erst nach Mozart begannen die Menschen die Romane von De Sade zu lesen , was zeitlich auch nicht anders machbar gewesen wäre. Erst dann kamen die Gräuel der Französischen Revolution und erst nach denen die ersten Grusel-Moden , in denen Frauen für die Feiern der Überlebenden der Revolution ihre Haare kurz schnitten wie vor einer Enthauptung ( coiffure à la guillotine ) und anstatt der traditionell schwarz oder pastellfarbenen Bänder um den Hals blutrote , dünne Samtbänder trugen , sodass sie aussahen , als ob sie geköpft worden wären und sich den Kopf wieder aufgesetzt hätten.255 Genau in dieser Zwischenzeit zwischen den Kriegen des 17. und denen des späten 18. bzw. frühen 19. Jhdts. erfanden die Philosophen ihre doppelte Ästhetik respektive gruselige Erhabenheit. Dieser angeblich so entscheidende Schritt in der Mentalitätsgeschichte , wie könnte es anders sein , wurde nicht von den Philosophen erfunden , sondern sie hatten nur diagnostiziert , was die Künstler vorgegeben hatten. Künstler erfreuten sich schon längere Zeit an den bekannten Vanitas-Motiven in einer Art und Weise , die nicht mehr nur der christlichen Erbauung diente , sondern vorrangig dem ästhetischen Vergnügen. In den Texten der Musik führt das dazu , dass Telemann sich mit seinen Vertonungen von Brockes-Gedichten zum Superstar mauserte , und zwar noch zu seinen Lebzeiten.

255 Vgl. Schechter , Ronald : Gothic Thermidor. The Bals des Victimes , The Fantastic and the Production of Knowledge in Post-Terror France , in : Representation 61 ( 1998 ), S. 78–94

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5 Telemann, der Vergessene 5.1 Von einem der auszog, das Fürchten zu lehren: Brockes und Telemann Im Jahr 1703 kam ein reicher 23-jähriger Hamburger namens Bart­ hold Hinrich Brockes ( 1680–1747 ) von seiner Kavaliersreise aus Italien zurück. Wie viele seiner reichen Standesgenossen hatte er im Land mit den meisten Restvorkommen aus der Antike nach entsprechender Stärkung von Charakter und Allgemeinbildung gesucht und brachte nun neben Erfahrungen mit Frauen auch fundierte italienische Sprachkenntnisse und erste Übersetzungsversuche italienischer Dichtung mit in den Norden.256 Was die Frauen anging , war Brockes bereits mit wenngleich berechtigter , so doch unverhältnismäßig großer Angst vor Ansteckung mit einschlägigen Krankheiten in das sonnige Italien gekommen und hatte sich , gut überlegt , nur mit hässlichen Frauen getroffen , um so eventuelle Gefahren zumindest einzuschränken. Bis auf ein einziges Mal , bei dem ihn eine ausnehmend Schöne ihrer Gattung zu sich nach Hause eingeladen hatte. Dies hatte Brockes zum Anlass genommen , beschleunigt wieder gen Heimat zu wandeln , wo er dann zumindest von den literarischen Früchten seiner Reise zehren durfte. Als er 1709 mit dem italienischen Epos „Strage degli Innocenti“, einem Werk des Giambattista Marino ( 1569–1625 ), in Berührung kam , war er fasziniert. Jedoch weniger aus nostalgischen Gründen , sondern vielmehr wegen des völlig neuartigen Stils von Marino. Der führte in vier Büchern den Kindermord von Bethlehem vor und reihte darin ein Schreckensbild an das nächste , je schlimmer desto besser.257 Dabei reduzierte sich Marinos Erzählperspektive nicht auf einen distanzierten Blick vom „erhabnen Sahl“258 aus , sondern präsentierte erschreckende Nahaufnahmen wie in einem modernen Film. Oder , um es mit Brockes Worten zu sagen : „Mit einem schärffern Blick das metzeln / stechen / hauen / Und 256 Vgl. Brockes , Barthold , Hinrich : Selbstbiographie des Senator Barthold Heinrich Brockes , in : Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 2 ( 1847 ), S.  167–229 257 Vgl. Zelle , Carsten : Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schreckens im 18. Jahrhundert , Hamburg 1987 , S. 258 f. 258 Brockes , Barthold Hinrich :Verteutschter Bethlehemitischer Kinder = Mord des Ritters Marino , nebst Hamburg , Köln 1715 , S. 153

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mehr Aufmercksamkeit solch würgen an zu schauen“259. Brockes übersetzte den Text und 1715 erschien die Schrift als „Verteutschter Bethlehemitischer Kinder = Mord des Ritters Marino“ im Druck und wurde als biblische Schauergeschichte , die man unter dem religiösen Deckmantel mit Erbauung lesen konnte , ein regelrechter Verkaufsschlager. In seiner Einleitung , damals Vorrede genannt , huldigt Christian Friedrich Weichmann ( 1698–1769 ) der Übersetzung , indem er vom schrecklichen Inhalt auf die schöne dichterische Form abstrahiert. Aber voyeuristische Lust am Schrecken klingt zwischen den Zeilen : „Man kann , nicht ohne Lust , doch auch nicht sonder Grauen , Viel tausend Kinder hier erwürget und blutig schauen“260. Auch Hamburger Honoratioren , wie der damalige Gymnasialdirektor Michael Richey ( 1678–1781 ) lobten Brockes Fähigkeit , „ein Scheusahl selbst durch Kunst zur Anmuth“261 zu bringen , und seine Freunde würdigten seine Fähigkeit , das biblische Original an Düsternis zu überbieten262 und mit distinguiertem Sarkasmus zu tränken , wie zum Beispiel die Ermordung einer schwangeren Frau mit Säugling auf dem Arm ; denn : „Wer hat doch jemahls wohl so seltnen Fall vernommen / Daß bloß durch einen Stich drey um das Leben kommen ?“263 Ein kognitives oder gar ethisches Problem sah der zeitgenössische Diskurs in solcher Literatur nicht. Bei aller Emotionalität einerseits waren viele , was ausgerechnet Kinder anging , sowieso der Ansicht , dass zu viel Liebe Kindern so sehr schaden würde , wie manche Affen ihre Nachkommen durch zu enge Umarmung erdrücken würden. Und so blieb es im Hinblick auf diese eine Kindergeschichte bei einer schizophrenen Trennung der als schön empfundenen Verse und dem durchaus auch als schrecklich empfundenen Inhalt.264 259 Ebd. , S. 209 260 Weichmann , Christian Friedrich : Vorrede , in : Brockes , Barthold Hinrich : Verteutschter Bethlehemitischer Kinder = Mord des Ritters Marino , Hamburg 31727 , unpaginiert 261 Richey , Michael : Folgende Lob = Gedichte sind dem Herrn Brockes zu Ehren von einigen guten Freunden gesetzt , in : Brockes , Barthold Hinrich : Verteutschter Bethlehemitischer Kinder = Mord des Ritters Marino  , Hamburg  , Köln 1715 , unpaginiert 262 Vgl. Battisti , Carlo : B. H. Brockes Bethlehemitischer Kindermord , in : Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 59 ( 1908 ), S. 302 , S. 306 f. und S. 320 263 Brockes  , Barthold Hinrich  : Verteutschter Bethlehemitischer Kinder = Mord des Ritters Marino , Hamburg , Köln 1715 , S. 227 264 Vgl. Zelle , Carsten : Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schreckens im 18. Jahrhundert , Hamburg 1987 , S. 209 f.

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Das gilt auch für andere Produkte aus dem Hause Brockes , wie zum Beispiel ein Passionsgedicht mit dem Titel „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“. Ursprünglich nur für den Hausgebrauch des Dichters geschaffen , wurde das Werk zunächst von Reinhard Keiser ( 1674–1739 ) vertont , dann doch gedruckt und gelangte so in die Hände des städtischen Musikdirektors von Frankfurt am Main : Georg Philipp Telemann ( 1681–1767 ). Dieser war so beeindruckt , dass auch er 1716 die Vertonung wagte und das Resultat „bey Anwesenheit verschiedener grosser Herren , und einer unsäglichen Mengen von Zuhörern , zum Besten des Waisenhauses“265 aufführen ließ. Noch zwölf andere Barockkomponisten versuchten sich an dem Stoff , darunter auch Händel. Aber Telemanns Version war und blieb die beliebteste Version , ob in Riga , Hamburg oder Stockholm. Denn seine Interpretation war nicht nur höchst dramatisch , Telemann gibt sich auch als Brockes Bruder im Geiste zu erkennen und zeigt eine wenig bekannte Facette der Barockmusik , nämlich das genießerische Potenzial von Brutalität und Leiden.266 Natürlich kein eigenes Leiden , sondern das der anderen. Brockes trachtete danach den Glanz der göttlichen Erhabenheit in so irdischen Dingen zu finden267. Das wenige , was Brockes an der Darstellung der Marterung Christi an Detailtreue offen lässt , füllt Telemann auf , indem er zum Beispiel die Dornenkrone mit trockenen dissonanten Akkorden der Streichinstrumente in das Haupt Jesu bohrt : „Hör wie mit knirschendem Geräusch / Sein Drachenzähnen gleiches Laub / Durchdringet Sehnen , Adern Fleisch“268. Als eine geifernde Menge die Hinrichtung Jesus fordert , wird die existenzielle Krise der Hauptperson mit „statisch gedehnten Akkorden“269 und 265 Telemann , Georg Philipp : Autobiographie , 1740 , in : Ders.: Autobiographien 1718 , 1729 , 1740 , o. O. , o. J. [ Blankenburg 1977 ] (= Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts , H. 3 ), S. 36–51. 266 Vgl. hierzu die Maßstäbe setzende Referenzaufnahme von René Jacobs mit dem Rias Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin ( Telemann : Brockes-Passion , harmonia mundi 2009 ; HMC 902013.14 ). 267 Vgl. Billen , Josef / Hassel , Friedhelm : Undeutbare Welt. Sinnsuche und Entfremdungserfahrung in deutschen Naturgedichten von Andreas Gryphius bis Friedrich Nietzsche , Würzburg 2005 , S. 38 ff. 268 Brockes , Barthold Hinrich : Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus aus den 4. Evangelien in gebundener Rede vorgestellet , in : Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott , bestehend in Phsysikalisch- und Moralischen Gedichten , 5. Theil , Tübingen 1739 , S. 418 269 Spahn , Klaus : Wilde Glut der Hölle. Fulminant : Telemanns „Brockes-Passion“ in der Neueinspielung von René Jacobs und der Akademie für Alte Mu-

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wilden Koloraturen greifbar gemacht , die für sich alleine schon eine gewisse nervliche Belastung implizieren. Als Telemanns Judas vor Selbsthass geradezu rast und fordert , dass ihm alle Knochen im Leib zerquetscht werden , zeigt ihm nach seinen letzten Worten „So will ich mich henken“270 die Telemannsche Orchestrierung „mit fünf harschen Unisono-Akkorden die kalte Schulter , und die Orgel verabschiedet ihn , lapidar abkadenzierend , in die Hölle“271 , und dann setzt ein liebliches Blockflötensolo ein. Telemanns Musik lebt von solchen Kontrasten und die Choreographie von vormodernen Filmelementen , von schnellen Perspektivwechseln und Nahaufnahmen – sehr im Gegensatz zu Bach und dessen distanzierterer , objektiverer Passionsgeschichte. Aber auch bei Brockes / Telemann bleibt Zeit für Besinnlichkeit : Das von Jesus verströmte Blut wird zu den Früchten einer Rose und damit zum ästhetischen Sujet verklärt : „Fängt hier die Rose Selbst Rubinen /An zu schwizen. / Ja wohl erbärmliche Rubinen / die aus geronnen Blut auf Jesus / Stirne stehen [ … ] Schau Seele , schau , / Wie von der Göttlich = schönen Stirne , / Gleich einem Purpur = farb’nen Thau , / Der vom gestirnten Himmel sich ergiesset , / Ein lauer Bach von blutgem Purpur fliesset.“272 Da aus „jedem Tropffen Blut der Liebe Funcken springen“273 , ist es notwendig , dass viel Blut vergossen wird , um geradezu eine „Gnadenflut“274 zur Errettung der Menschheit auszulösen , und so wird die Geißel zum Gnadeninstrument. Kein Wunder , denn zu dieser Zeit war die sik Berlin , in : Die Zeit vom 8. 04. 2009 , Nr. 16 , online unter : http://pdf.zeit. de/2009/16/D-Aufmacher.pdf ( 07. 03. 2011 ) 270 Brockes , Barthold Hinrich : Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus aus den 4. Evangelien in gebundener Rede vorgestellet , in : Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott , bestehend in Phsysikalisch- und Moralischen Gedichten , 5. Theil , Tübingen 1739 , S. 414 271 Spahn , Klaus : Wilde Glut der Hölle. Fulminant : Telemanns „Brockes-Passion“ in der Neueinspielung von René Jacobs und der Akademie für Alte Musik Berlin , in : Die Zeit vom 8. 04. 2009 , Nr. 16 , online unter : http://pdf.zeit. de/2009/16/D-Aufmacher.pdf ( 07. 03. 2011 ) 272 Brockes , Barthold Hinrich : Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus aus den 4. Evangelien in gebundener Rede vorgestellet , in : Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott , bestehend in Phsysikalisch- und Moralischen Gedichten , 5. Theil Tübingen 1739 , S. 418 f. 273 Ebd. , S. 416 274 Spahn , Klaus : Wilde Glut der Hölle. Fulminant : Telemanns „Brockes-Passion“ in der Neueinspielung von René Jacobs und der Akademie für Alte Musik Berlin , in : Die Zeit vom 8. 04. 2009 , Nr. 16 , online unter : http://pdf.zeit. de/2009/16/D-Aufmacher.pdf ( 07. 03. 2011 )

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Geißelung nicht nur ein Werkzeug zur religiösen Buße , sondern auch sexuell konnotiert und wurde zur Förderung der sexuellen Leistungsfähigkeit und zur Behebung von Potenzstörungen bereits 1639 vom Mediziner Johann Heinrich Meibom ( 1590–1655 ) empfohlen. Seine Schrift „Die Nützlichkeit der Geißelhiebe in den Vergnügungen der Ehe“275 erfuhr mehrere Auflagen276 , war nicht die einzige Schrift dieser Art277 und fügte sich zur zeitgleich formierenden Erhabenheitstheorie wie Jesus auf das Kreuz , nämlich „erbärmlich schön“278. Gerade dieses Oxymoron der erbärmlichen Schönheit des gemarterten Gottessohnes in der Brockeschen-Telemannschen Passion sorgte für Aufsehen. Der Pädagoge und Schriftsteller Johann Hübner ( 1668–1738 )schwärmte : „Und als erbärmlich schön erklang : Es ist vollbracht / So sprach Immanuel zur rechten Hand der Macht : / Weil Brocks mir meinen Tod hat lassen so beweinen , / Daß es durchdrungen hat auch Hertzen die von Steinen / So will ich ihm davor zum Trost im Tod erscheinen.“279 Zwar bezeichnete 1725 der damalige Ober-Germanist Gottsched Derartiges als Höhenpunkt des schlechten Geschmacks , als so unmöglich , wie wenn man eine Frau als „abscheulich angenehm“280 bezeichnen würde. Aber für diese Art der Kritik war Brockes eben nicht der richtige Ansprechpartner , im Gegenteil : Brockes blieb von derartiger Kritik unberührt und thematisierte in seinen folgenden Schriften den angenehmen Ekel angesichts einer hässlichen Frau.281

275 Im Original Lateinisch : Meibom , Johann Heinrich : Tractus de usu flagrorum in re Medica & Veneria , Lübeck 1639 276 Vgl. Meibom , Johann Heinrich : A Treatise on the Use of Flogging in Medicine and Venery , London 1761 277 Vgl. etwa Schurig , Martin : Spermatologie historico-medica , Frankfurt am Main 1720 ; Doppet , François Amédée : Das Geißeln und seine Einwirkung auf den Geschlechtstrieb , oder das äußerliche Aphrodisiacum , o. O. 1788 278 Brockes , Barthold Hinrich : Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus aus den 4. Evangelien in gebundener Rede vorgestellet , in : Ders.:Verteutschter Bethlehemitischer Kinder = Mord des Ritters Marino nebst des Hrn. Übersetzers eigenen Wercken , Tübingen 1739 , S. 420 279 Brockes  , Barthold Hinrich  : Verteutschter Bethlehemitischer Kinder = Mord des Ritters Marino , Hamburg , Köln 1715 , S. 298 280 Gottsched  , Johann Christoph  : Die Vernünftigen Tadlerinnen  , Erster Jahr = Theil , Leipzig 1725 , S. 269 f. 281 Vgl. Zelle , Carsten : Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schreckens im 18. Jahrhundert , Hamburg 1987 , S. 381 ff.

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5.2 Telemanns Philosophie auf offener Bühne Eine Internetrecherche zu den Stichworten Telemann und Philosophie würde bei einem intelligenten Computer zu der Oper vom „geduldigen Sokrates“ weiterleiten , uraufgeführt in der Oper am Gänsemarkt im Januar 1721 in Brockes Heimatstadt Hamburg. Telemann hatte in Leipzig u. a. auch Philosophie studiert und vertrat die Meinung , dass ein philosophischer Unterbau dem Musikverständnis nicht schaden könne. In einer Autobiografie Telemanns ist von daher folgerichtig zu lesen : „Music kann mit Latein sich wohl verknüpffen lassen / Wie diß das Alterthum vorlängst schon dargethan. Ein Kopf / der fähig ist / die Harmonie zu fassen / Siehet auch den Cicero für keinen Kobold an.“282 Dennoch oder vielleicht gerade deswegen handelt der „geduldige Sokrates“ weniger von philosophischen Thesen als vielmehr vom Ehe-Alltag des berühmten Philosophen – und damit reiht sich diese Oper ein in viele zeitgenössische Umsetzungen eines immergleichen Themendreiers von Sex , Liebe und Verführung. Bei aller Liebe zur Philosophie orientiert sich die Oper dieser Zeit weniger an geistigen Ergüssen , sondern lässt Frauen wilde Da-capo-Arien singen , weil sie Sex haben oder eben weil sie keinen haben , und zwischen wahnsinniger Liebe und dem Wahnsinn selbst schwanken , je nachdem. Aber eine rein philosophische Barockoper wäre genauso undenkbar gewesen wie moderne Opern-Porno-Inszenierungen barocker Opern , wie es sie derzeit gibt.283 Sex ist aber sowieso nicht das Problem des „geduldigen Sokrates“, zumindest nicht der Mangel daran , als vielmehr die staatlich verordnete Fülle. Denn im Athen dieser Oper ist ein Gesetz in Kraft getreten , das jedem Mann zwei Ehefrauen vorschreibt. Denn der Staat braucht Nachwuchs , und jeder zeugungsfähige Mann muss entsprechend staatstragende Pflicht erfüllen. So kommt Sokrates neben seiner ihm angetrauten Xanthippe , deren Name zum Synonym für zänkische Ehefrauen schlechthin wurde , zu einer zweiten Frau , Amitta , was zu einem Zickenkrieg zwischen den 282 Telemann , Georg Philipp : Lebens-Lauff mein Georg Philipp Telemanns ; Entworffen In Franckfurt am Mayn d. 10. Sept. A. 1718 , in : Ders.: Autobiographien 1718 , 1729 , 1740 , o. O. , o. J. [ Blankenburg 1977 ] (= Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts , H. 3 ), S. 10–22. 283 Vgl. Dolak , Gregor : Sex , Intrigen und Barock’n’ Roll , in Focus vom 9. 02.  2007 , online unter : http://www.focus.de/kultur/kunst/theater_aid_124315.html ( 30. 07. 2010 )

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beiden führt. Auch bereiten ihm seine Schüler Kopfschmerzen , die erstens keine Mehrfachheirat eingehen und zweitens auch nicht philosophieren wollen , sondern bevorzugt bei einem Schoppen Wein herumlungern. Das Stück empfiehlt sich nicht als Werbemaßnahme für den Berufsstand der Philosophen , doch das Happy End macht trotz alldem Mut : Xanthippe lässt sich scheiden , das Ehegesetz wird wieder aufgehoben und Sokrates verbleibt mit Amitta eine angenehme Frau. Und das ist insofern eine Relativierung aller tatsächlichen philosophischen Maßstäbe , als der reale Sokrates ( 469–399 v. Chr. ), das Urgestein der abendländischen Philosophie und Lehrer Platons , Letzterem und der Legende zufolge angeblich gesagt hatte , dass erstens Sex eigentlich nur eine Vorform wahrer Liebe und darum nicht ganz oder gar nicht ernst zu nehmen sei , und man zweitens mit einer guten Frau glücklich , mit einer schlechten zumindest Philosoph würde. Als Quintessenz zwischen den Extremen von Philosophie und Sex und den Pendants von Fiktion und philosophiehistorischem Tatbestand teilt Telemann seinen männlichen Standesgenossen mit : „Im Ehestand ist bald Sturm , bald Sonnenschein : Ihr Männer , lernet nur beizeit geduldig sein“284 – und transzendiert diesen Anspruch hoher Duldsamkeit formal in eine , auch für das opulente 18. Jahrhundert lange Aufführungsdauer des Sokrates von mehr als vier Stunden.

5.3 Z  wischen Hamburger Hölle und Pariser Paradies: Die Philosophie des gelebten Lebens Eine Anfrage beim Schicksal zur philosophischen Grundstruktur von Telemanns Lebens bliebe wohl unbeantwortet , alleine , das Schicksal würde wohl lächeln beim Lesen eines entsprechenden Schriftstückes. Denn anders als mit Humor ist es nicht zu klären und zu verkraften , wie sehr Telemanns Anerkennung immer zwischen Ehre und Ignoranz changierte und er immer wieder von einem Problem in dessen Lösung hineinrutschte. Als zum Beispiel in jungen Jahren seine Mutter zwecks Unterbindung seiner musikalischen Ambitionen die Instrumente beschlagnahmte und ihn in die Schule schickte , geriet er an einen hilfsbereiten Rektor mit größtem Faible für Musik. Und noch 284 Telemann , Georg Philipp : Der geduldige Sokrates ( TWV 21 :9 ), 3. Akt , 13. Szene

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viel deutlicher präsentierte sich Telemanns Fortuna in den Städten Hamburg und Paris , und dann wieder in Hamburg : „Der geduldige Sokrates“ und die „Brockes Passion“ waren Telemanns Eintrittsticket in die Hansestadt. Hinzu kam , dass Brockes nicht nur begeisterter Anhänger von Telemanns Musik , sondern auch Hamburger Ratsherr und damit nicht ohne politischen Einfluss war. So wurde Telemann im Juli 1721 nach Hamburg berufen und am 16. Oktober 1721 in sein Amt als Stadtmusikdirektor eingeführt. Ob Brockes Telemann damit einen Gefallen getan hatte , schien aber zunächst fraglich. Denn Telemann wurde alsbald stark kritisiert , insbesondere dafür , dass er Kantaten in einem Wirtshaus aufführe und damit „zur Wollust anreitze“285. Auch zum Opernkomponieren kam Telemann als frischgebackener Hamburger Musikdirektor zunächst nicht mehr , denn seine neue Funktion forderte zwei Kantaten in der Woche , nebst der musikalischen Versorgung von fünf Kirchen und Unterrichtstätigkeit am Gymnasium „Johanneum“. Hamburg wurde Telemann schnell zum Alptraum , und vielleicht hatte ihm seine Ehefrau dann dasselbe geraten wie später Karl Lagerfelds Mutter ihrem Sohn : „Hamburg ist das Tor zur Welt – , aber es eben nur das Tor zur Welt , und da musst du raus.“286 Telemann bewarb sich um die Stelle des Thomaskantors in Leipzig , wurde unter den sechs Bewerbern sofort als erstplatziert erwählt , konnte so seinen Hamburger Arbeitgebern im Gegenzug für sein Bleiben eine üppige Gehaltserhöhung entlocken und das allgemeine Arbeitsklima verbessern , und zudem noch keinem Geringeren als Bach das Nachrücken auf diese Stelle ermöglichen. Telemann lebte nun sogar vergleichsweise glücklich in Hamburg und glaubte schließlich , dass nirgendwo „ein solcher Ort , als Hamburg , zu finden [ sei ] , der den Geist eines in dieser Wissenschaft Arbeitenden mehr aufmuntern“287 könne. Ganze 46 Jahre würde seine Schaffenszeit in der Hansestadt andauern , samt der Leitung des Opernhauses ab 1723 und derge285 zitiert nach Kleßmann , Eckart : Georg Philipp Telemann , Hamburg 2004 , S. 39 286 Lagerfeld , Karl , zitiert nach : Piepgras , Ilka / Schneider , Hella : Neue Deutsche Welle. Dürfen wir vorstellen : Vierzehn Deutsche , die in der Modewelt 2012 eine wichtige Rolle spielen , in : ZEITmagazin , 19. 01. 2012 , Nr. 4 , online unter : http://pdf.zeit.de/2012/04/Mode-Deutsche-Welle.pdf ( 30. 07. 2012 ) 287 Telemann , Georg Philipp : Brief an Johann Friedrich Armand von Uffenbach vom 31. Juli 1723 , in : Ders.: Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann , Leipzig 1972 , S. 213

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stalt auch wieder der Möglichkeit für eigene Opern und Singspiele , wie zum Beispiel „Pimpinone oder die ungleiche Heirat“ von 1725. Deren Handlung : Der reiche ältere Pimpinone beschäftigt die mittellose junge Vespetta als Kammermädchen. Die drängt es zu Höherem und sie umgarnt den einsamen Herrn. Pimpinone geht ins Netz und erlebt nach der Hochzeit sein blaues Wunder. Denn Vespetta kümmert sich nicht mehr um den Haushalt , sondern nur noch um Partys und Geldausgeben. Schließlich sei nun ihr Arbeitsvertrag als Zofe beendet und als Ehefrau habe sie Anrecht auf Freiheiten. Freisetzen kann Pimpinone seine Gattin nicht , denn dann würde ihr eine beträchtliche Geldsumme zustehen. Und alles , was dem geschundenen Gatten nun noch verbleibt , ist die Möglichkeit , gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Im wirklichen Leben konnte Telemann seine Frau wenigstens zu ihren Verwandten nach Frankfurt zurückschicken. Telemann hatte Maria Catharina Textor ( 1697–1775 ) bereits als 16-Jährige geheiratet , und sie hatte ihm zwischen 1714 und 1724 insgesamt 9 Kinder geboren. Dann aber entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Kartenspiel und galante Verehrer. Zumindest eine Affäre mit einem schwedischen Obristen ist überliefert , und die Rede von Telemanns Frau als „Schwedenhappen“ war in aller Munde. Neben solchem Gespött blieb Telemann auch ein Schuldenberg von 4. 400 Reichstalern , die heute stolzen 316. 000 Euro288 entsprechen würden. Aber nun ließen Hamburg und die Hamburger Telemann nicht im Stich , organisierten per Geldsammlung zumindest 600 Reichstaler , und Telemann schrieb an seinen Musikverleger in Riga : „Die Frau ist von mir weg , und die Verschwendung aus. Kann ich der Schulden mich von Zeit zu Zeit entschlagen , So kehrt das Paradies von neuem in mein Haus. Das wehrte Hamburg hat mir treulich beygestanden , Und seine milde Hand voll Großmut aufgethan.“289 Nachdem diese Episode überstanden war , kehrt Telemanns musikalische Experimentierfreude wieder , und er komponierte 1737 die „Cantate oder Trauer-Music eines kunsterfahrenen Canarienvogels  , als derselbe zum größten Leidwesen seines Herrn Possessoris verstorben“. Solche Art der Trauermusik ( Tombeau ) war seit dem Tod des berühmten 288 Vgl. zur Umrechnung : Wolff , Christoph : Johann Sebastian Bach , Frankfurt am Main 22007 , S. 578 ff. 289 Telemann , Georg Philipp : Brief an J. R. Hollander , vom 1. September 1736 , in : Ders.: Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann , Leipzig 1972 , S. 185

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Lautenisten Charles Fleury Sieur de Blancrocher ( 1605–1652 ) allgemein verbreitet. Nach dessen tödlichem Treppensturz hatten gleich vier seiner Zeitgenossen ein musikalisches Grabmal auf denselben verfasst , inklusive musikalischer Imitation des Treppensturzes , und fortan waren solche Kompositionen Mode290 und im Falle dieses Kanarienvogels durchaus ernst gemeint , wenn auch als Trauer um ein Haustier ungewöhnlich. Für solche Art der Gelegenheitslyrik und Auftragsmusik war Telemann zu dieser Zeit bereits berühmt , vor allem für seine immense Leistungsfähigkeit beim Komponieren. Einmal soll er anlässlich eines Fürstenbesuches den Auftrag erhalten haben , eine Kantate in drei Stunden zu liefern , die er dann innerhalb nur einer Stunde vollendete , neben dem Texter , den er währenddessen auch noch beim Texten unterstützt hatte. Aber genau diese Schaffenskraft sollte es sein , die Telemanns Ruhm nach seinem Tod nicht nur empfindlich schmälern , sondern fast völlig vernichten würde. Telemann galt bereits in seiner Hamburger Zeit als erfolgreicher als Händel und Bach zusammen , doch in der heutigen Zeit sind es fast nur die beiden Letzteren , deren Musik in den Läden angeboten wird. Telemann aber war der Nachwelt suspekt , weil er um die 3. 400 Stücke komponiert und noch dazu lustige , also vermeintlich undeutsche Stücke geschrieben hatte , von Ziervogel-Trauermusik und lustigen Opern ganz zu schweigen. Vor allem Lautmalereien standen der Nachwelt im Geruch allzu großer Albernheit. Auch Bach wurde von der Nachwelt für ein humorvoll-lautmalerisches Capriccio zum Abschied von seinem Bruder gerügt , bei Telemann monierten aber bereits die Zeitgenossen. Anlässlich der Kantate „Alles redet itzt und singet“ hatte Mattheson ihm noch vorgeworfen , „sein metier zu prostituieren“291 , nur um dem Zuhörer Gelächter zu entlocken. Die bei Telemann dargebotene vokalmusikalische Imitierung von Tierstimmen  , wie Hummel , Ochse und Gans , war für Mattheson das Allerletzte : So sollte „meines Erachtens / die Vocal-Music mit niederträchtigen Dingen / die contra dignitatem musicam lauffen /Als mit Fliegen / Bremsen / Hummeln / Käfern / und anderm Ungezieffer / wohl verschont bleiben ; ob man gleich in der Instrumental-Music eins und anderes mitnehmen möchte. So dürfte auch ein satter Ochs / in dem Mun290 Vgl. hierzu Wolf , Uwe : Johann Sebastian Bachs „Chromatische Fantasie“ BWV 930 /1 – ein Tombeau auf Maria Barbara Bach ? , in : Cöthener Bach-Hefte 11 ( 2003 ), S. 97–99 291 Mattheson , Johann : Critica Musica , Pars. II , Hamburg 1722 , S. 103

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de einer schönen Sängerin / item das Wiehern muntrer Pferde / Enten / Gänse / Ziegen vielen etwas choquant fallen [ unangenehm aufstoßen ]. Solche Sachen haben durchaus ihre Meriten ; lassen sich aber besser / lesen als singen.“292 Und auch Telemanns ganz großer biographischer Wurf war der Nachwelt ein Dorn im Auge : Telemann hatte eine gewisse Affinität zu französischer Lebens- und Kompositionskunst – oder in seinen Worten ausgedrückt : „Ich muß gestehen , daß ich ein grosser Liebhaber der Frantzösischen Music sey.“293 Und im gesetzten Alter von 56 Jahren wurde Telemanns Traum einer Frankreich-Reise wahr : Ende September 1737 brach er nach Paris auf und blieb dort bis zum Frühjahr 1738. Telemann war einer Einladung mehrerer einflussreicher Hofmusiker gefolgt : Gambist Jean-Baptiste-Antoine Forqueray , Violinist Jean-Pierre Guignon und Michel Blavet , auch bekannt als bester französischer Flötist seiner Zeit. Die Reise festigte Telemanns europäischen Rang als Musiker und wurde zum Triumphzug seines Lebens : Als einziger deutscher Komponist ( neben dem Wahlengländer Händel ) bekam er die Gelegenheit , seine Werke bei den Concerts Spirituels in Paris zu präsentieren. Telemann bot eine geistliche Motette dar , eine Vertonung des 71. Psalms. Auch König Ludwig XV. fand Gefallen an Telemann und verlieh ihm das Privileg , die eigenen Werke für 2 Jahre exklusiv in Paris drucken und vermarkten zu dürfen. Aber weniger die Vokalmusik als vielmehr die Kammermusik seiner Pariser-Quartette machte Telemann zum Star an der Seine , was auch erheblich dadurch erleichtert wurde , dass seine virtuosen Musikerfreunde die Musik selbst aufführten : „Die Bewunderungs-würdige Art , mit welcher die Quatuors [ Quartette ] von den Herren Blavet , Traversisten ; Guignon , Violinisten ; Forcroy [ Forqueray ] dem Sohn , Gambisten ; und Edouard , dem Violoncellisten , gespielet wurden , verdiente , wenn Worte zulänglich wären , hier eine Beschreibung.[ … ] sie machten die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmercksam , und erwarben mir , in kurtzer Zeit , eine fast allgemeine Ehre , welche mit gehäuffter Höflichkeit begleitet war“294. Im deutschsprachigen Raum wurde Derartiges 292 Ebd. , S. 104 293 Telemann , Georg Philipp , zitiert nach : Mattheson , Johann : Critica Musica , Bd. 2 , Pars.VII , Hamburg 1725 , S. 278 294 Telemann , Georg Philipp : Georg Philipp Telemann redet hier selber , und erzehlet uns , mit eigner geschickten Feder , die wunderwürdigen Zufälle seines Lebens , besonders in dem , was die musikalischen betrifft , mit folgenden auser-

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dann mit Genugtuung gesehen. Für Mattheson war Telemann sogar der musikalische Lehrer Frankreichs geworden , der den Franzosen erst den französischen Stil beigebracht habe295 , und in Hamburg war man dann froh , dass Telemann überhaupt wieder zurückkam. Sein Freund Brockes sprach das deutlich aus , und für den Musikschriftsteller Friedrich Wilhelm Zachariä ( 1726–1777 ) war Telemann auf dem Parnass der deutschen Musik angelangt : „Aber wer ist der Greis , der mit der leichtesten Feder , / voll von heiliger Gluth , den staunenden Tempel entzücket ? / Höre ! Wie rauschen die Wogen des Meeres ; wie jauchzen die Berge / Und das Land dem Herrn ! Wie füllt mit heiligem Schauer / Ein harmonisches Amen die fromme Seele ! Wie zittert / Von dem geheiligten Schall , der Hallelujah der Tempel ! Telemann , niemand als du , du Vater der heiligen Tonkunst , / Dessen erhabnen Gesang der Gallier selber bewundert , / Kann mit irdischen Tönen die Chöre der Engel entzücken.“296 Nach seiner Paris-Reise hätte Telemann auch die Brunftschreie von Hirschen vertonen können , und jeder Musikkritiker wäre begeistert gewesen – bevor dann das 19. Jhdt. das Französische hassen und das Deutsche respektive das Deutsche am Telemann-Konkurrenten Bach entdecken und damit den Superstar Telemann für lange Zeit entthronen sollte.

5.4 Und so lebte er bis an sein Lebensende: Ernst und Ironie der letzten Jahre Nach der Parisreise verfasste Telemann 1740 seine längst überfällige dritte Autobiografie , zog bei der Arbeit zunehmend seinen Enkel Georg Michael Telemann hinzu und konzentrierte sich mehr auf sein Hobby als Gärtner. 1742 schrieb er : Auch wenn die Musik „mein Acker und Pflug ist , und mir zum Hauptergetzen dienet , so habe ich ihr doch [ … ] eine Gefehrtinn zugesellet , nemlich die Blu-

lesenen Worten , und in der angenehmsten Schreibart , Hamburg 1740 , in : Ders. , Autobiographien 1718 , 1729 , 1740 , o. O. , o. J. [ Blankenburg 1977 ] (= Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts , H. 3 ), S. 36–51 295 Vgl. Mattheson , Johann : Der Vollkommene Capellmeister , Hamburg 1739 , S. 345 ,Von dreystimmigen Sachen 296 Zachariä , Friedrich Wilhelm : Poetische Schriften , Vierter Band , Neűeste Ausgabe , Amsterdam 1767 , S. 126 f.

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men-Liebe.“297 Diese botanische Leidenschaft dominierte sogar die Korrespondenz mit Händel. Der schickt ihm Blumenzwiebeln , „auserlesen und von bezaubernder Seltenheit“298 , die „besten Pflanzen von ganz England“299 , zumindest sofern man ihn nicht hinters Licht geführt habe. Telemann weilt also in paradiesischen Zuständen und schreibt an Carl Heinrich Graun ( 1704–1759 ) im Dezember 1751 : „Ich habe mich nun von so vielen Jahren her ganz marode melodiert , und etliche Tausendmal selbst copiert [ … ] also daraus geschlossen : Ist in der Melodie nichts neues mehr zu finden , so muß man es in der Harmonie suchen.“300. Was da in dem Gärtner gärt , treibt ab 1775 zwar zarte , aber nicht allzuviele Wurzeln , zunächst mit der originellen Passionskantate „Vom Tod Jesu“, später dann in zunehmend Kontrapunktischem. Und dann rüttelt das Erdbeben von Lissabon Telemann aus seiner kompositorischen Lethargie wach. Das Beben war in Hamburg zwar nur durch ein starkes Kräuseln des Elbwassers wahrnehmbar301 , schlug aber trotzdem hohe Wellen anderer Art. Ein anderer Wahl-Hamburger , der Kaufmann Johann Jacob Moritz ( 1719–1789 ), berichtete davon , wie er am 1. November 1755 vor der Küste Lissabons in einen Sturm geraten war , der sein Schiff beinahe versenkt hätte. Als dann aber Ruhe eingekehrt war , war es erst richtig gespenstisch geworden. Denn dort wo die Stadt Lissabon hätte 297 Telemann , Georg Philipp : Brief an Johann Friedrich von Uffenbach , vom 27. August 1742 , in : Ders.: Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann , Leipzig 1972 , S. 237 298 Händel , Georg Friedrich : Brief an Georg Philipp Telemann , vom 25. /14. [  ? ] Dezember 1750 , in : Telemann , Georg Philipp : Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann , Leipzig 1972 , S. 345 299 Ebd. 300 Telemann , Georg Philipp : Brief an Graun , vom 15. Dezember 1751 , in : Ders.: Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann , Leipzig 1972 , S. 284 f. 301 Im Hafen von Glücksstadt , etwa 90 km von Hamburg entfernt , „bemerkte man allhier ein seltsames Phänomen , indem das Wasser in unserem Haven des Mittags um halb zwölf bey stillem Wetter , und da der Wind aus Nodwesten wehete , auf einmal in eine so außerordentliche Bewegung und Erhebung der Wellen gerrieth , dass dadurch verschiedene mit Stricken und Ketten befestigte Schiffe und Flösse losgerissen , und gegen das Ufer gestossen wurden.“ ( Anonym : Hamburgischer unpartheyischer Correspondent vom 8. November 1755 , in : Wilke , Jürgen : Das Erdbeben von Lissabon als Medienereignis , in : Lauer , Gerhard / Unger , Thorsten ( Hgg. ): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert , Göttingen 2008 , S. 79 )

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sein sollen , war nur „dichtes schweres schwarzgraues Gewölke“302 und „Höchst sonderbar daß die Fluth deren Zeit heran gekommen , ausblieb ; dass die großen Staatsflaggen auf der höchsten Zinne von Belem verschwunden , daß alles alles Leben am unfernen Ufer verstorben.“303 Was auf See mit Glück zu überstehen war , wurde am Ufer zu einer 25 Meter hohen Welle , die an Land nur für wenige eine Chance gelassen hatte. Etwa 80 Prozent der Gebäude Lissabons waren durch das schwere Erdbeben und den nachfolgenden Tsunami zerstört. Bis zu 90. 000 Einwohner von Lissabon und Umgebung kamen zu Tode. Nur die Alfama , das älteste Stadt- und nebenbei auch das Rotlichtviertel Lissabons , blieb weitgehend verschont. Das Beben , wenn es damals messbar gewesen , hätte wohl eine Stärke zwischen 8,5 und 9,5 auf der Momenten-Magnituden-Skala ergeben und war noch in 1. 500 Kilometern Entfernung in Luxemburg zu spüren , wo eine Kaserne einstürzte. Da Lissabon ein zentraler europäischer Handelsplatz war , folgte dem realen Beben ein Beben an der Hamburger Börse. Dort wurden 4 Millionen Taler Verlust beklagt304 , vergleichbar mit etwa 200 Millionen Euro. Aber auch und vor allem immaterielle Schäden waren zu beklagen. Denn der Leibnizsche Glaube an die beste aller möglichen Welten und an einen gerechten Gott war verloren Während Voltaire im März 1756 einen erhaben-trotzigen Trauergesang über den Verlust des metaphysischen Optimismus veröffentlichte305 , hielten die von einer Erdbebenparanoia geplagten Hamburger einen außerordentlichen Bußtag ab , „da die Erdbeben seit dem Nov. des vorigen Jahres so algemein geworden , auch sich diesen Gegenden mehr zu nähern scheinen.“306 Und Telemann holte aus , um den 8. und den 29. Psalm zu vertonen. Das Stück ging als „Donnerode“ 302 Moritz , Johann Jacob , abgedruckt in : Erhardt , Marion : Ein unbekannter deutscher Augenzeugenbericht über das Seebeben vor Lissabons Küste 1755 , in : Lauer , Gerhard / Unger , Thorsten ( Hgg. ): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert , Göttingen 2008 , S. 50 303 Ebd. 304 Vgl. Anonymus : Hamburg und das Erdbeben zu Lissabon am 1. November 1755 , in : Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 4 ( 1858 ), S. 278 ff. 305 Vgl. zu Voltaires „Poème sur le désastre de Lisbonne“ insbesondere : Steiner , Uwe : Voltaire oder der Optimismus : Zu einigen philosophischen und poetischen Aspekten von Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon. Mit einer Neuübersetzung von Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne , in : Daphnis 21 ( 1992 ), S. 305–407 306 zitiert nach Hobohm , Wolf : Anmerkungen zur Donnerode , in : TelemannBeiträge. Abhandlungen und Berichte I. Folge , Magdeburg 1987 , S. 26

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bzw. als „donnernde Ode“307 in die Musikgeschichte ein. Sein Inhalt ist ein Lobpreis Gottes trotz oder gerade wegen der Gewalt der Natur und angesichts von Katastrophen. Es heißt : „Die Stimme Gottes erschüttert die Meere. [ … ] zerschmettert die Zedern , vom hohen Libanon herab. Sie stürzt die stolzen Gebirge zusammen ; der Erdkreis wankt“308 , und Gott wurde zum altbekannt erhabenen , weil apokalyptischen Protagonisten in einem sakralen Weltuntergangs-Szenario , und zwar so theoriekonform mit zeitgleichen Erhabenheitskonzeptionen , dass der bekannteste aller einschlägigen Oden-Dichter , Klopstock ( dessen Gedichte Werther im gleichnamigen Suiziddrama Goethes seiner unerreichbaren Geliebten zuraunt ), die Vertonung seiner Oden durch Telemann wünschte.309 Und auch die Musik nahm moderne Erhabenheitskonzeptionen vorweg und zeigte eine neue Ästhetik des Schauerlich-Schönen , die weit über den Schockeffekt des bethlehemitischen Kindermordes hinausgeht. War bisher das Wundervolle und Prachtvolle synonym für das Erhabene der Musik , wurde es jetzt der musikalische Schrecken wie zum Beispiel in Form von Special-Effects mittels massivem Paukeneinsatz. Auch fast schon postmodern schrecklich war die Anpassung der Melodik an den Text. Es ging nur noch darum , „richtig zu deklamieren“310 , und das ging natürlich auf Kosten der melodischen Schönheit und klang spröde und dissonant.311 Die Sologesänge glichen eher „lyrischen Monologen“312 als herkömmlichen Arien , und das wirkte ungleich unangenehmer als das angenehm schöne Splatterfilm-auf-dem-Sofa-Schauen , den die Brockes-Passion noch nicht ausgelöst hatte. Die Donnerode ver307 Agricola , Johann Friedrich : Brief an Georg Philipp Telemann vom 24. Mai 1757 , in : Telemann , Georg Philipp : Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann , Leipzig 1972 , S. 371 308 Telemann , Georg Philipp : Die Donnerode ( TWV 6 :3a ), 4.–6. Arie , zitiert nach Ders.: Die Donnerode. Das befreite Israel , hrsg. von Wolf Hobohm , Kassel 1971 (= Musikalische Werke Band XXII ) 309 Vgl. Reipsch , Ralph-Jürgen : Telemann und Klopstock. Annotationen , in : Hobohm , W. / Reipsch , B. ( Hgg. ): Telemann-Beiträge. Abhandlungen und Berichte , 3. Folge , Oschersleben 1997 , S. 114 ff. 310 Ebeling , Christoph Daniel : Versuch einer auserlesenen musikalischen Bibliothek , in : Unterhaltungen 10 ( 1770 ), S. 315 311 Vgl. Lütteken , Laurenz : Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785 , Tübingen 1998 , S. 163 f. 312 Ders.: Sprachverlust und Sprachfindung. Die Donnerode und Telemanns Spätwerk , in : Laubenthal , Annegrit ( Hg. ): Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher , Kassel u. a. 1995 , S. 219

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donnert den Zuhörer schutzlos zum verstörenden Schock. Das war so modern , dass der Erfolg ausblieb und Georg August Julius Leopold 1780 schreibt : „Pauken sind fähig , die Glorie einer kommenden Gottheit , das Furchtbarprächtige eines Wetters anzudeuten , oder ein Heilig etc. von Bach zu begleiten ; kurz ihr Ton ist ganz und gar für’s Majestätische gebauet. Aber wer kann unterm Monde so viel Majestät , lauter Erhabn’nes aushalten ? Nicht dass wir gar keine Empfänglichkeit für’s Große hätten ; o ! wir sind so gut als Engländer dafür geschaffen. Aber das ist doch ausgemacht gewiß , unsre Nerven haben für melodische und rührende Musik weit mehr Empfindung , als für’s bloß Erhab’ne und dafür lasst uns Gott und das Klima danken.“313 Denn Flöten und Harfen vermochten leichter barocke Träume hinauszuzögern , aus denen die Pauken der Donnerode die Menschen hätten wecken wollen. So blieben den Zeitgenossen von Telemann eher nur Kompositionen wie „die Kleine Cammer-Music“ im Gedächtnis.314 Als die Menschheit im 19. Jhdt. begann , romantische Träume mit romantisch-wuchtiger Musik zu unterlegen , wurde Telemann aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt. Und als sich 20. Jahre später die Mode postmoderner Musik entwickelte , war der Urahn solcher Musik ironischerweise schon so gut wie vergessen. Aber diese Art von Musik hätte Telemann vielleicht gar nicht einmal so sehr gestört. Denn bei allem Arbeitswillen war für ihn mit seinem hanseatischen Understatement das Komponieren durchaus keine erhabene Kunst , sondern ein solides Handwerk , ein Mittel zum Zweck : „Mein Noten-Kram kann mir , bey vielen Kindern , / Für deren Auferziehn ich manchen Thaler gebe , / Die Sorgen guten Theils vermindern ; / Er ist mein Acker und mein Pflug , / Wovon ich lebe : / Das ist genug.“315 Und dergestalt hatte Telemann nicht nur genug Muße für seine Blumen , sondern auch dafür , seine Nachfolge vorzubereiten und sein Patenkind in Hamburg hoffähig zu machen : Carl Philipp Emmanuel Bach ( 1712–1788 ) war seit 1746 Kammer313 Leopold , Georg August Julius : Gedanken und Konjekturen zur Geschichte der Musik , Stendal 1780 , S. 7 314 Vgl. insbesondere die virtuose Aufnahme von Dorothee Oberlinger mit dem Ensemble 1700 ( Telemann , deutsche harmonia mundi / sonymusic 2008 , 886973976922008 ). Hier wir der Facettenreichtum von Telemanns Flötenkammermusik eindrucksvoll beleuchtet. 315 Telemann , Georg Philipp : Brief an J. R. Hollander , vom Winter 1732 / 33 , in : Ders.: Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann , Leipzig 1972 , S. 181

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musikus bei Friedrich II. von Preußen und wurde im März 1767 als Nachfolger Telemanns berufen. Ab 1761 wurde Telemanns Gesundheit zunehmend schlechter , und 1767 starb er mit 86 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung.

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6 Mozart, die musikalische Wunderkerze 6.1 Mozart als neu und alt Mozart ( 1756–1791 ) ist wohl der bekannteste aller Musiker des 18. Jhdts. , wenn nicht aller Zeiten , und zwar wahrscheinlich aufgrund der offensiven Vermarktung durch seine Witwe , die den 1791 , als Franz Xaver Wolfgang getauften Sohn , ausschließlich mit dem Rufnamen Wolfgang aufzog. Dieser Wolfgang Mozart vermarktete seine Musik später ausschließlich unter dem Label „W. A. Mozart Sohn“, natürlich war dies der künstlerischen und psychischen Eigenständigkeit nicht gerade förderlich316. Dafür wurde aber aus dem Vater ein Klassiker , weil noch dazu Hauptvertreter der musikalischen Epoche der Klassik. Mozarts Image ist ähnlich erhaben wie das des literarischen Klassikers Goethe. Ebenso wie dessen pornografische Gedichte ihren Weg in die Literaturgeschichte nicht gefunden haben , drangen viele Versatzstücke der Mozartschen Biographie nicht bis zu den Legenden der Musikgeschichte vor , die Mozart nur allzu gerne auf seinen anfänglichen Status als Wunderkind und sein späteres Geheimnis umwobenes Ende eingrenzt. Dabei hat Mozart viel mehr zu bieten und war nicht nur so vielschichtig wie Goethe , sondern in manchem ähnlich realitätsbezogen wie Händel , Bach und Telemann. Nur deutete viel an ihm schon deutliche mentalitätsgeschichtliche Änderungen an. Mozart war wie eine spätbarocke Wunderkerze , die ihr helles Licht wie ein Komet versprüht , um ebenso schnell wieder zu verlöschen.Viel Neues an ihm war nicht nur musikalischer Natur. Denn Mozart vertritt viel , was typisch modern werden sollte , zum Beispiel die Verwendung eines Künstlernamens. Wolfgang Amadé Mozart hieß in Wirklichkeit mit Taufnamen „Joannes Chrysostomos Wolfgang Gottlieb Mozart“317. Aus Gottlieb wurde , der französischen Mode entsprechend , der berühmte Vorname Amadeus , und das war sicher ein PR-technisch besserer Schachzug als die Verwendung von Chrysostomos , des Namens eine prinzipientreuen Kirchenvaters , Patriarchen und noch dazu Musiktheoretikers aus dem Konstantinopel des vierten Jahrhunderts. 316 Vgl. Antesberger , Wolfgang : Vergessen Sie Mozart ! : Erfolgskomponisten aus der Mozart-Zeit , Frankfurt am Main 2005 , passim 317 Taufbuch der Dompfarre Salzburg , 28. Januar 1756 , in : Deutsch , Erich Otto ( Hg. ): Mozart. Die Dokumente seines Lebens , Kassel u. a. 1961 , S. 11

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Auch modern war die Familie Mozart en gros als Jet Set eines musikalischen Unternehmertums : Dem Vater Leopold Mozart ( 1719– 1787 ), der bis zum Vizekapellmeister in den Diensten der Salzburger Erzbischöfe aufstieg , verdankte Mozart Junior seine gute musikalische Ausbildung. Die Mutter Anna Maria geborene Pertl ( 1720–1778 ) entstammte relativ bescheidenen Verhältnissen. Leopold und Anna Maria Mozart galten in der Salzburger Gesellschaft als Vorzeigepaar mit luxuriöser Wohnung von nahezu 200 qm.318 Dass die Mozarts mit Wolfgang Amadeus ein Wesen aus einer anderen Welt aufzogen – gewissermaßen ein Krokodil , wie Nikolaus Harnoncourt meinte – wurde ihnen wohl bald klar. Denn des Mozartsohnes monströse musikalische Begabung war bereits im Alter von fünf Jahren offensichtlich. Leopold drillte seinen Zögling , um aus dem Wunderkind mit absolutem Gehör ( er konnte aus dem Stegreif und ohne Inanspruchnahme gestimmter Instrumente Tonhöhen erkennen  ) eine musikalische Maschine zu formen , die La Mettries Auffassung vom Menschen als Maschine durchaus bestätigt hätte. Denn auch nach schweren Erkrankungen funktionierte Wolfgang sofort wieder fehlerfrei und zuverlässiger als manch moderner CD-Player , und konnte blätterweise Melodien aus dem Gedächtnis nachspielen. Daher wurde keine Zeit verschwendet , und bereits mit sechs Jahren führten erste Konzertreisen den kleinen Mozart und sein Familien-Ensemble nach München und Wien. In der Wiener Hofburg stolperte der kleine Mozart weniger sprichwörtlich , denn vielmehr real auf dem höfischen Parkett. Marie Antoinette ( 1755–1794 ) half ihm auf , worauf Mozart meinte , dass sie eine Brave sei und er sie später einmal heiraten werde.319 Was sich dann aber doch nicht realisieren ließ. Auch Maria Theresia wurde von Mozarts Anti-Etikette überrollt. Er sprang ihr auf den Schoß und küsste sie320 , was sich damals nur ein Wunderkind erlauben konnte. Im Juni 1763 brach die ganze Familie zu einer ausgedehnten Konzertreise auf , die sie über München , Augsburg , Ludwigsburg , Schwetzingen , Heidelberg , Mainz , Frankfurt am Main , Koblenz , Köln , Aachen , Brüssel zunächst nach Paris führte. Gute Kritiken öffneten den Mozarts sogar den Weg nach Ver318 Vgl. Lauer , Enrik : Mozart und die Frauen , Bergisch Gladbach 2005 , S. 22 319 Vgl. Leitzmann , Albert ( Hg ): Mozarts Persönlichkeit , Urteile der Zeitgenossen , Leipzig 1914 , S. 13 320 Leopold Mozart , in : Leitzmann , Albert ( Hg ): Mozarts Persönlichkeit , Urteile der Zeitgenossen , Leipzig 1914 , S. 11 f. ; vgl. auch Jacob , Heinrich Eduard : Mozart. Der Genius der Musik , München 1990 , S. 56 ff.

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sailles : „Die wahren Wunder sind allzu selten , als dass man davon nicht reden sollte , wenn man einmal einem begegnet. Ein Salzburger Kapellmeister namens Mozart ist hier soeben mit zwei ganz allerliebsten Kindern angekommen. Das Mädchen spielt glänzend Klavier. [ … ] Ihr Bruder , der demnächst sieben [ acht ! ] Jahre alt wird , ist ein derart seltenes Phänomen , dass man kaum zu glauben wagt , was man mit eigenen Augen sieht und mit eigenen Ohren hört. Mit Händchen , die so klein sind , dass sie kaum die Sexte greifen können , spielt er die schwierigsten Passagen. Noch unglaublicher aber ist es , dass er eine Stunde lang frei phantasieren kann [ … ] Der routinierteste Pianist kann in Harmonien und Modulationen kaum gewandter sein als dieses Kind.“321 Das Unwahrscheinliche wurde wahr. Die Mozarts wurden an der königlichen Tafel empfangen und verbrachten Neujahr 1764 mit der königlichen Familie. Die Töchter Ludwigs XV. küssten den Mozartkindern die Hände , und die Gäste aus Salzburg erhielten viel Geld und wertvolle Geschenke. Im April 1764 zog der musikalische Wanderzirkus dann weiter nach London. Dort wurde vor König Georg III. konzertiert , der sich jedoch knauseriger als die Franzosen zeigte und sie zunächst nur mit 24 Guineen ( ca. 4. 000 € ) entlohnte. Und so wurde London eher in gesellschaftlicher Hinsicht von Belang , da man hier auf Johann Christian Bach ( 1714–1782 ), den jüngsten Bach-Sohn traf. Den sollte Mozart nicht nur zeitlebens für seinen eleganten Klavierstil bewundern , sondern auch für seinen Rebellengeist , der ihn in Mailand aus Berufsgründen zum Katholizismus konvertieren hatte lassen ( für seine thüringischen Verwandten so unsäglich , das er dort zur Persona non grata wurde ).322 Die Rückreise der Mozarts führt über Dover , Belgien , Den Haag , Amsterdam , Utrecht , Mechelen , Paris , Dijon , Lyon , Genf , Lausanne , Bern und Zürich. Selbst in der biederen Schweiz wurde die Genialität von Wolfgang Amadé bewundert , und der Schweizer Arzt und Philosoph Samuel André Tissot ( 1728–1797 ), der Autor des wirkungsmächtigsten Buches zur Verdammung der Onanie323 , schrieb einen 321 Grimm , Friedrich Melchior : Correspondence Littéraire vom 1. Dezember 1763 , zitiert nach : Jacob , Heinrich Eduard : Mozart. Der Genius der Musik , München 1990 , S. 81 f. ; vgl. auch das Originaldokument bei Deutsch , Erich Otto ( Hg. ): Mozart. Die Dokumente seines Lebens , Kassel u. a. 1961 , S. 28–29 322 Vgl. Jacob , Heinrich Eduard : Mozart. Der Genius der Musik , München 1990 , S. 99 ff. 323 Tissot , Samuel André : L’Onanisme. Dissertation sur les maladies produites par la masturbation , Genf 1759

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Lobgesang , in dem er unter dem Titel „Aristides oder der bürgerliche Philosoph“324 die hohe Sittlichkeit des Wunderkindes pries. Als die Reisegesellschaft im November 1766 , nach fast dreieinhalb Jahren , wieder zurück in Salzburg war , wurde Bilanz gezogen. Ökonomisch betrachtet war die Reise ein Erfolg. Allein in Paris wanderten 1. 200 Livres , etwa 550 Gulden , aus der königlichen Schatulle in die Mozartsche Reisekasse. Das war der Gegenwert von 15 Monaten Arbeit für Leopold in Salzburg.325 Dazu kamen 12 goldene Tabatieren , 9 goldene Uhren , zahllose Diamantringe und andere galanterie waaren , ein Wert , der alles in allem mit mindestens 12. 000 Gulden ( ca. 240. 000 € ) zu veranschlagen war.326 Leopold Mozart fand dementsprechend Geschmack an solchen Geschäftsreisen , und ein weiteres Unternehmen war nur eine Frage der Zeit. Im Tagebuch des Salzburger Paters Hübner findet sich folgende Notiz : „Man sagt sehr stark , diese Mozartische Familie werde widerumen nicht lang alhier verbleiben , sondern in bälde gar das ganze Scandinavien , und das ganze Russland , und vielleicht gar in das China reisen.“327 Dabei war China als möglicher Vortragsort ähnlich wahrscheinlich und plakativ zu verstehen wie der Mond. Aber zumindest bis nach Italien peitschte Leopold Mozart den Sohn gnadenlos vorwärts.Von 1769 bis 1771 war Leopold mit beiden Kindern unterwegs. Bei einer Papst-Audienz wurde Wolfgang zum Ritter des Goldenen Sporns ernannt. Weitere Reisen folgten , aber alle ohne den erwünschten Erfolg einer standesgemäßen Festanstellung. Der weitere Fortgang der Dinge rüttelte am Zusammenhalt der Familie , und das wiederum führte eine weitere Neuerung vor , nämlich Mozarts ganz spezielle Art , sich schriftlich zu artikulieren , die sich deutlich von den durchaus geläufigen Umgangsformen des Jahrhunderts an Intensität und Selbstbewusstsein absetzte und sich deutlich vom Stil des antiken Chrysostomos unterschied. Dessen Spitzname war Goldmund gewesen , eben seiner druckreifen Wortgewalt entsprechend. Anders dagegen die Korrespondenz des Amadeus. 1777 hatte dieser genug von Salzburg und seinem dortigen geringfügi324 Vgl. Konrad , Ulrich / Staehelin , Martin : Allzeit ein Buch. Die Bibliothek Wolfgang Amadeus Mozarts , Weinheim 1991 , S. 120 325 Vgl. Lauer , Enrik : Mozart und die Frauen , Bergisch Gladbach 2005 , S. 57 326 Vgl. hierzu Hübners Diarium vom 8. Dezember 1766 , in : Deutsch , Erich Otto ( Hg. ): Mozart. Die Dokumente seines Lebens , Kassel u. a. 1961 , S. 65–67 327 Hübners Diarium vom 29. November 1766 , in : Deutsch , Erich Otto ( Hg. ): Mozart. Die Dokumente seines Lebens , Kassel u. a. 1961 , S. 63–65 , hier S. 65

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gen Einkommen und wollte auf Reisen gehen. Der Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo ( 1732–1812 ) lehnte ein Urlaubsgesuch ab und musste anschließend die Kündigung seines Mitarbeiters Amadeus entgegennehmen. Dann wurde auch Leopold mit einbezogen und sogar in Haftung genommen. Colloredo ließ ausrichten , dass beide , Vater und Sohn , gerne nach ihrem Glück woanders suchen dürften.328 Angesichts der drohenden Entlassung hieß es für Leopold gehorchen und den Junior notgedrungen allein mit der Mutter losziehen lassen. Wolfgang Amadeus war begeistert und schrieb an den Vater , er wolle : „brav lachen und lustig sein und allzeit mit Freuden , wie wir gedenken , dass der mufti H C [ Erzbischof Hieronymus Colloredo ] ein Schwanz , Gott aber mitleidig , barmherzig und liebreich sei“329. Mozarts Mutter , verstand derartige Derbheiten gut. Denn Wolfgang hatte sie von ihr. An ihren Mann Leopold schrieb sie beispielsweise : „adio ben mio leb gesund , reck den Arsch zum Mund. Ich winsch eine guete nacht , scheiss ins beth das Kracht.“330 Was bei Mutter Mozart Ausdruck bester Laune war , könnte dem Sohn vielleicht als Entspannungstherapie gedient haben. Er stand unter immensem Arbeitsdruck und musste permanent funktionieren. Verschiedentlich wurde Mozarts Schreibstil mit einem Tourette-Syndrom begründet.331 Als er seiner Cousine zum Beispiel etwas über ein Portrait von ihr schrieb , das er in einem Paket vermutet , aber nicht erhalten hatte , klang das folgendermaßen : „Poz Himmel Tausend sakristey , Cruaten schwere noth , teüfel , hexen , truden , kreüzBattalion und kein End , Poz Element , luft , wasser , erd und feüer , Europa , asia , affrica und America , jesuiter , Augustiner , Benedictiner , Capuciner , minoriten , franziscaner , Dominicaner , Chartheüser , und heil : kreüzer herrn , Canonici Regulares und iregulares , und alle bärnhäüter , spizbuben , hundsfütter , Cujonen und schwänz übereinander , Eseln , büffeln , ochsen , Narrn , dalcken und fuxen ! was ist das 328 Vgl. Neumayr , Anton : Berühmte Komponisten im Spiegel der Medizin. Joseph Haydn , Wolfgang Amadeus Mozart , Ludwig van Beethoven , Franz Schubert , Wien 2007 , S. 90 329 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart , vom 23. September 1777 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 51 330 Mozart , Anna Maria , Brief an Leopold Mozart , vom 26. September 1777 , in : Bauer , Wilhelm A. / Deutsch , Otto Erich ( Hgg. ): Mozart , Briefe und Aufzeichnungen , Gesamtausgabe , 7 Bde. , Kassel u. a. 1962 ff. , Bd. II , S. 14 331 Vgl. Fog , R. / Regeur , L.: Did W. A. Mozart suffer from Tourette’s Syndrom ? Abstract International Congress of Psychiatry , Wien 1985

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für eine Manier , 4 soldaten und 3 Bandelier ? – so ein Paquet und kein Portrait ? – ich war schon voll begierde – ich glaubte gewis – denn sie schrieben mir ja unlängst selbst , daß ich es gar bald , recht gar bald bekommen werde“332. Trotzdem scheint ein Tourette-Syndrom insofern unwahrscheinlich , als Mozart solche Verbalattacken überwiegend geschrieben und weniger ausgesprochen hat. Dafür ist Mozarts Korrespondenz mit seiner Augsburger Cousine Anna Maria Thekla Mozart ( 1759–1841 ), von ihm genannt „Bäsle“ und von Leopold genannt „Pfaffenschnitzel“333 , neuhochdeutsch „Flittchen“, so ungezwungen , dass Sigmund Freud den Briefwechsel nur unter der Hand in einem Privatdruck herausgab und dem Autor attestierte , dass sein Erotikverständnis untrennbar mit Infantilität und Koprolalie der leidenschaftlichsten Art verbunden gewesen sei.334 In den heute öffentlich verfügbaren Briefen steht zum Beispiel zu lesen : „ich werde alsdan in eigner hoherperson ihnen Complimentiren , ihnen den arsch Petschieren , ihre hände küssen , mit der hintern büchse schiessen , ihnen Embrassiren , sie hinten und vorn kristiren [ klistieren im schwäbischen Dialekt ; d. Verf. ] , ihnen , was ich ihnen etwa alles schuldig bin , haarklein bezahlen , und einen wackeren furz lassen erschallen , und vielleicht auch etwas lassen fallen – Nun adieu – mein Engel mein herz ich warte auf sie mit schmerz“335. Anstößigeres wird mit französischer Sprache getarnt : „Je vous baise vos mains , votre visage , vos genoux et votre – afin , tout ce que vous me permettés de baiser“,336 kurz : Wolfgang wolle seinem Bäsle Gesicht , Hände und noch tiefer liegende Bereiche küssen337 ( wobei „genoux“ nicht nur 332 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Maria Anna Thekla vom 13. 11. 1777 , in : Ders.: Die Bäsle Briefe , München 1978 , S. 113 333 Eine Unterstellung , die der Angst entsprang , seinen Sohn an eine Frau zu verlieren , und auch den sozialen Gegebenheiten seiner Heimatstadt Augsburg geschuldet ist , wo man meinte , die Kleriker und Domherren würden sich die Jungfernschaften der einheimischen , hübschen Frauen en gros kaufen. ( Vgl. Lauer , Enrik : Mozart und die Frauen , Bergisch Gladbach 2005 , S. 112 ff. ) 334 Vgl. Hildesheimer , Wolfgang : Mozart , Frankfurt am Main 1980 , S. 117 f. 335 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Maria Anna Thekla Mozart vom 23. 12. 1778 , in : Ders.: Die Bäsle Briefe , München 1978 , S. 120 f. 336 Ders.: Brief an Maria Anna Thekla Mozart vom 13. 11. 1778 , in : Ders.: Die Bäsle Briefe , München 1978 , S. 119 337 Übrigens „baiser“ steht heute für eine vulgärsprachliche Bezeichnung des Sexualkontakts , im 18. Jahrhundert bedeutete Derartiges nur „küssen“. Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Le Pennec , Marie-Françoise : Petit glossaire du langage érotique aux XVIIe et XVIIIe siècles , Nyon 1979

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mit den Knien zu übersetzen ist 338 ) und alle anderen Zonen nur bei vorangegangener Erlaubnis. Wolfgang Amadeus Mozart hat sich mit seiner Cousine so gut verstanden , dass er von ihr auch eine Zeichnung mit blankgezogener Oberweite anfertigte , die wohl der Kenntnis der Tatsachen entsprang. Auch der spätere Briefwechsel mit seiner Frau Constanze zeigt Mozart als durchaus redegewaltigen , wenngleich nicht durchweg und jederzeit zitierbaren Namensvetter des Chrysostomos : „den 1. Juny werde ich in Prag schlafen , und den 4. – den 4. ? – bey meinem liebsten weiberl ; – richte dein liebes schönstes nest recht sauber her , denn mein bübderl verdient es in der That , er hat sich recht gut aufgeführt und wünscht sich nichts als dein schönstes … zu besitzen , stell dir den Spitzbuben vor , dieweil ich so schreibe schleicht er sich auf den Tisch und zeigt mir mit Fragen ich aber nicht faul geb ihm einen derben Nasenstüber“339 , wobei Mozart mit bübderl keinen Pudel , sondern eher genital denn zerebral das laut Hegel denkende Gehirn des Mannes schlechthin bezeichnete , und damit zum Ausdruck bringt , wie sehr im Mozartschen Denken Licht und Schatten wie auch Himmlisches und Irdisches zusammengehörten , um sowohl einen ausgeglichenen Seelenhaushalt wie auch entsprechende Musik zu generieren.

6.2 Mozart und die Philosophie zum Vater und zu Voltaire Es gab zwischen Mozart und seinem Vater Leopold eine Kontroverse über Voltaire. Aber wie so oft waren den philosophischen Argumenten reale Begebenheiten vorangegangen : Als Mozart mit seiner Mutter auf Konzertreise gegangen war , fuhren sie zunächst über München und Augsburg nach Mannheim. Dort gefiel es Wolfgang aufgrund einer Sängerin so gut , dass der Vater ihm befahl : „Fort mit dir nach Paris !“340 In Paris jedoch begann sich die lustige Reisegesellschaft aus Mutter und Sohn immer mehr zu separieren. Denn 338 Vgl. auch Lauer , Enrik : Mozart und die Frauen , Bergisch Gladbach 2005 , S. 118 339 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Constanze Mozart , vom 23. Mai 1789 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 384 340 Mozart , Leopold : Brief an Wolfgang Amadeus Mozart , vom 12. Februar 1778 , in : Bauer , Wilhelm A. / Deutsch , Otto Erich ( Hgg. ): Mozart , Briefe und Aufzeichnungen , Gesamtausgabe , 7 Bde. , Kassel u. a. 1962 ff. , Bd. II , Nr. 422 , S. 277

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während Wolfgang Amadé mangels Klavier zum Komponieren außer Haus gehen musste , blieb Mutter Mozart in einem muffigen , dunklen und schlecht beheizten Zimmer zurück , beklagte die Finanznöte , das schlechte Essen und ihre Einsamkeit : „was meine lebens arth betrifft ist solche nicht gar angenehm , ich size den ganzen tag allein in zimmer wie in arest , welches noch darzue so dunckel ist [ … ] das man den ganzen Tage die Sohn [ Sonne ] nicht sehen kann [ … ] meine kost [ … ] ist auch Superb [ … ] eine Supen mit Kruter die ich nicht mag [ … ] ein bröckel schlechtes fleisch [ … ] von einen kalbsfus in einer schmutzigen brihe oder eine stein harte Leber“341. Wolfgang hingegen stand im Rampenlicht , hatte zwar wenig Zeit für seine Lieblingsbeschäftigungen Philosophieren oder Lesen , wird aber von Baron Friedrich Melchior von Grimm ( 1723–1807 ) in das gesellschaftliche Parkett von Paris eingeführt. Bei Grimm gingen Denker wie Diderot und Rousseau ein und aus. Er selbst verfasste eine pädagogische Schrift , in der er forderte , dass Kinder primär Menschlichkeit lernen müssten und nicht die Religion.342 Mozart konnte durch diesen Kontakt eine Sinfonie bei den Pariser Concerts Spirituels aufführen , aber nicht den erwarteten großen Durchbruch erzwingen. Zwar wurde ihm die Organistenstelle von Versailles angeboten ,343 die aber lehnte er ab. Denn trotz nur halbjähriger Präsenzpflicht in Versailles , war sie mit ihren 2. 000 livres ( ca. 30. 000 € ) unterbezahlt. Selbst das parkettbohnernde Reinigungspersonal in Versailles wurde mit 900 livres pro Jahr entlohnt ,344 und noch dazu hätte die Stelle einen gewissen Repräsentationsaufwand durch entsprechende Kleidung beinhaltet , aber Paris war teuer : „es ist erschröcklich , wie geschwind ein thaller weg ist.“345 Das waren die Dinge , die Mozart beschäftigten , während die Mutter darbte. Als dann auch noch im Mai 1778 Voltaire starb und fünf Wochen später Rousseau , schrieb 341 Mozart , Anna Maria : Brief an Leopold Mozart vom 5. April 1778 , in : Lauer , Enrik : Mozart und die Frauen , Bergisch Gladbach 2005 , S. 270–272 342 Vgl. Jacob , Heinrich Eduard : Mozart. Der Genius der Musik , München 1990 , S. 82 f. 343 Vgl. Mozart , Wolfgang Amadeus : Nachschrift zum Brief an Anna Maria Mozarts an Leopold Mozart , vom 14. Mai 1778 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 129 344 Vgl. Newton , William Ritchey : Hinter den Fassaden von Versailles. Mätressen , Flöhe und Intrigen am Hof des Sonnenkönigs , Berlin S. 156 345 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart vom 4. Mai 1777 , in : Die Briefe W. A. Mozarts und seiner Familie. 5 Bände , München , Leipzig 1914 , Bd. 1 , S. 196

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Wolfgang Amadeus an den Vater , „dass nehmlich der gottlose und Erz-spizub Voltaire so zu sagen wie ein hund – wie ein vieh crepirt ist – das ist der Lohn.“346 Dieser Kommentar war nicht primär Ablehnung der Person Voltaire , sondern vielmehr eine Revolte gegen den Vater. Der hatte Voltaire bewundert , ihn seinem Sohn als Vorbild präsentiert und sogar angeraten , Voltaire zu besuchen. Auch seine schöpferische Arbeit hätte Amadé , wäre es nach Leopold gegangen , nach der Methode Voltaires organisieren sollen. Wolfgang solle seine Kompositionen skizzieren und anderen vorspielen , denn auch „Voltaire liest seinen freunden seine Gedichte vor , hört ihr Urtheil , und ändert“347. Für Wolfgang Amadé war Voltaire eng mit dem Vaterbild verwoben. Erschwerend kam hinzu , dass Leopold Mozart durch und durch vom Geist der Aufklärung beseelt war. Seine 1756 veröffentlichte Violinschule ist nicht nur ein musikpädagogisches Werk , sondern auch philosophisch intendiert348 , eine Kampfansage an eine nur auf Äußerlichkeiten , Titel und Rang Wert legende Welt. Auf die Musik übertragen galt Leopold die Natürlichkeit des Violinspiels und der Verzicht auf übertriebene Verzierungen nicht nur als ein ästhetischer , sondern auch als ein hoher sittlicher Wert. Selbst Künstlerstolz wurde von Leopold als unangemessen gebrandmarkt. In einer bildreichen , vom Aufklärer Christian Fürchtegott Gellert ( 1715–1769 ) geprägten , Sprache349 brachte Leopold es auf folgenden Punkt : „Wer den Vogel nach den Federn , und das Pferd nach der Decke schätzet , der wird auch unfehlbar die Violin nach dem Glanze und der Farbe des Firnüsses beurtheilen [ … ] Also machen es nämlich alle diejenigen , welche ihre Augen und nicht das Gehirn zum Richter wählen. Der schön gekraußte Löwenkopf kann eben so wenig den Klang der Geige , als eine aufgethürmte Quarreperücke die Vernunft sei346 Ders.: Brief an Leopold Mozart , vom 3. Juli 1778 , in : Bauer , Wilhelm A. / Deutsch , Otto Erich ( Hgg. ): Mozart , Briefe und Aufzeichnungen , Gesamtausgabe , 7 Bde. , Kassel u. a. 1962 ff. , Bd. II , Nr. 558 347 Mozart , Leopold : Brief an Wolfgang Amadeus Mozart , vom 29. April 1778 , in : Ebd. , Bd. II. , Nr. 448 , S. 354 348 Vgl. Mancal , Josef : Einführung in die historisch-methodische Grundproblematik , in : Ders. ( Hg. ): Beiträge des internationalen Leopold-Mozart Kolloquiums Augsburg 1994 , Augsburg 1997 , S. 81 349 Vgl. hierzu Viehöver ,Vera : Gellerts Spur in Leopold Mozarts Versuch einer gründlichen Violinschule , in : Schöborn , Sibylle / Viehöver , Vera ( Hgg. ): Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs- , Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft , Kunst und Kultur , Berlin 2009 , S. 135–152

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nes lebendigen Perückenstockes bessern.“350 Mozart Junior aber war durchaus empfänglich gegenüber künstlerischem Habitus und ästhetischen Äußerlichkeiten. Sein gegen den toten Voltaire abgeschossener Pfeil sollte vielmehr den Vater treffen. Doch seine Spitze wurde noch übertroffen vom Fortgang der Dinge : Am 3. Juli 1778 starb Anna Maria Mozart. Sie „löschte aus wie ein Licht“351 , schrieb Wolfgang Amadeus. Aber was für den Vielbeschäftigten ein plötzlicher Unglücksfall war , hatte sich schon länger abgezeichnet. Bereits im April 1778 hatte Anna Maria über Schmerzen geklagt , und da sie keinen Arzt zu Rate ziehen wollte , verschlimmerten sich die Beschwerden : Durchfall , Kopfschmerzen , Fieber und später auch der Verlust des Gehörs. Dann verfiel sie in ein Fieberdelirium. Der jetzt hinzugezogene Arzt konnte nichts mehr für sie tun. Und Wolfgang Amadeus hatte zu tun gehabt. Um den Vater schonend zu unterrichten , wurden die Informationen gesplittet. Als Anna Maria schon aufgebahrt war , berichtete Wolfgang Amadeus von der Erkrankung seiner Mutter , die auch wieder genesen könne , und dann von musikalischen Erfolgen , ( „Ich habe eine sinfonie [ … ] mit allem aplauso aufgeführt“352 ). Erst sechs Tage später übermittelte er dem Vater die eigentliche Todesnachricht. Leopold gab dem Sohn Mitschuld am Tod der Mutter und forderte schnellstmögliche Rückkehr : „Ich hoffe , dass du , nachdem deine Mutter mal à propos in Paris hat sterben müssen , du dir nicht auch die Beförderung des Todes deines Vaters über dein Gewissen ziehen willst.“353 Mozart ließ sich dennoch viel Zeit , fürchtete er doch noch größeren Zorn des Vaters , da aus Geldnot sogar der Ehering der Mutter versetzt worden war. Als Mozart ein halbes Jahr später dann endgültig Paris verließ , musste der Vater noch dazu 863 Gulden ( ca. 17. 000 € ) Auslagen für den Paris-Aufenthalt schultern. Zum Abschied brach Wolfgang dann auch noch mit Baron Grimm , dem er vorwarf , zwar Kindern , aber nicht einem Erwachsenen wie ihm helfen zu können ( Grimm wiederum hielt Mo350 Mozart , Leopold : Versuch einer gründlichen Violinschule , Salzburg 1756 , S. 5 351 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Abbé Joseph Bullinger , vom 3. Juli 1778 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 138 352 Ders.: Brief an Leopold Mozart , vom 3. Juli 1778 , in : Ebd. , S. 135 353 Mozart , Leopold : Brief an Wolfgang Amadeus Mozart , vom 19. November 1778 , in : Bauer , Wilhelm A. / Deutsch , Otto Erich ( Hgg. ): Mozart , Briefe und Aufzeichnungen , Gesamtausgabe , 7 Bde. , Kassel u. a. 1962 ff. , Bd. II , Nr. 505 , S. 510

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zart für infantil und für zu treuherzig , um in der Weltstadt Paris zu bestehen ). Als Mozart Mitte Januar 1779 wieder in Salzburg ankam , musste er sich dem vom Vater vorgezeichneten Weg unterordnen , wurde Salzburger Hof- und Domorganist bei dem einstmals so lustvoll beschimpften „Erzlümmel“ Colloredo , wie Mozart Junior sich ausdrückte.In Salzburg arrangierte sich Wolfgang Amadeus zunächst mit der Situation und es schien Friede eingekehrt zu sein , vor allem im Gefolge des bereits erwähnten Bäsle-Zuganges aus Augsburg. Während dieser Salzburger Zeit entstand eindrucksvolle geistliche Musik wie die sogenannte Krönungs-Messe ( KV 317 ), aber auch fieberhafte Vorarbeit an der Oper „Idomeneo. Rè di Creta“ ( KV 266 ). Für deren Inszenierung in München bekam Mozart sogar begrenzten Urlaub von seinem Brotherrn zugesprochen. In München fühlte er sich wohl , aber der Vater mäkelte aus der Ferne , dass die Musik für das Orchester zu virtuos geschrieben sei. Das tat der guten Laune keinen Abbruch , und die Proben wurden Balsam für Mozarts gepeinigte Künstlerseele , als der bayerische Kurfürst Carl Theodor ( 1724–1799 ) schon nach dem 1. Akt meinte , dass die Oper charmant würde , und nach dem 2. Akt lachte : „man sollte nicht meynen , dass in einem so kleinen Kopf , so was grosses stecke.“354 „Idomeneo“ erzählt die turbulente Heimreise des Königs von Kreta aus dem trojanischen Krieg. Kurz vor dem sicheren Heimathafen gerät er in einen heftigen Sturm , wird aber verschont. Er gelobt den ersten Menschen , den er am Strand sieht , dem Gott Poseidon zu opfern. Dass dies natürlich ein naher Verwandter sein wird , wie in Händels Oratorium „Jephta“, bietet sich an. Prompt erscheint der Sohn Idamante. Aber Idomeneo revidiert den Entschluss , seinen Sohn zur Schlachtbank zu führen , und schickt ihn zusammen mit Elektra , einer Vorstufe der Wagnerschen Walküre , auf eine ferne Insel. Beim Auslaufen des Schiffes braust ein Sturm auf , der von Mozart so eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde , „daß er jedem , auch in der größten Sommerhitze , eiskalt machen müsste“355 , wie der Violinist Carl Michael Esser ( 1736–1791 ) Leopold Mozart gegenüber meinte. Auch nach dem Sturm warten weitere Schauer auf die Theaterbesucher. Denn dem Meer entsteigt ein Seeungeheuer , das es auf den Königssohn abgesehen hat. Der kann sich jedoch retten. Posei354 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart vom 27. Dezember 1780 , in : Ders.: Briefe. hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 193 355 Mozart , Leopold : Brief an Wolfgang Amadeus Mozart , vom 25. Dezember 1780 , in : Ebd. , S. 192

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don tobt nun , will sein Opfer haben , und da das Ungeheuer Kreta zu verwüsten beginnt , bleibt Idomeneo nichts anderes übrig , als sich doch noch zu fügen. Währenddessen bereitet sich die Gefangene Ilia vor , sich für den heimlich geliebten Königssohn zu opfern. Dass Derartiges dann vermieden wird , ist dem Librettisten zu verdanken. Ilia jedenfalls gesteht dem Königssohn ihre Liebe , wird aber von der wütenden , weil ebenfalls verliebten Elektra überrascht , und dann naht die Opferung. In diesem Moment spricht das Tempelorakel ein Machtwort und sieht Poseidon als besänftigt an , falls Idomeneo abdanken und die Krone an seinen Sohn weiterreichen sollte und der wiederum Ilia heiraten würde. Die Bassstimme des Orakels ist kurz und schrecklich gehalten – eine Lehre , die Mozart aus Shakespeares Hamlet gezogen hatte , denn dort galt die Geisterrede als zu lange geraten , um noch schauderhaft zu sein.356 Diese barocke Opera seria spielte typischerweise mit der Verwischung aller Realitätsebenen und der Verwendung des Unwahrscheinlichsten im Leben als wahrscheinlichster Lösung auf der Bühne. Die Verhinderung des väterlichen Sündenfalls war eine vor heidnisch-antikem Hintergrund zutiefst christliche Botschaft. Für Thomas von Aquin und die Kirchenväter galt jedes leichtfertig geleistete Gelübde , zumal wenn es eine solche Untat auslöste , als unwirksam.357 Aber gleichzeitig sprengte Mozart mit dieser Oper vorhandene Gattungsschablonen und machte die Rezitative zu seelischen Vulkanausbrüchen und Ausdruck von Mozarts eigenem Seelenzustand. Denn der „Idomeneo“ ist im Kern die Geschichte eines Vater-Sohn-Konfliktes und eine musikalisch-kompositorische Reflexion der eigenen Lebensproblematik , nur mit dem Unterschied eines guten Ausgangs. In bisherigen Vorlagen der Idomeneo-Sage wurde der Sohn geopfert und nicht durch die Liebe der Ilia erlöst.358 Als Mozart 1783 gemeinsam mit Vater und Schwester das große Quartett aus dem „Idomeneo“ spielte , löste das bei Wolfgang Amadeus derartige Weinkrämpfe aus , 356 Vgl. Carr , Francis : Mozart und Constanze , Stuttgart 1986 , S. 50 357 Vgl. Kramer , Kurt : Das Libretto zu Mozarts „Idomeneo“. Quellen und Umgestaltung der Fabel , in : Bayerische Staatsbibliothek ( Hg. ): Wolfgang Amadeus Mozart. Idomeneo 1781–1981. Essays , Forschungsberichte , Katalog , München , Zürich 1981 , S. 27 f. 358 Vgl. Heartz , Daniel : Hat Mozart das Libretto zu „Idomeneo“ ausgewählt ? , in : Bayerische Staatsbibliothek ( Hg. ): Wolfgang Amadeus Mozart. Idomeneo 1781–1981. Essays , Forschungsberichte , Katalog , München , Zürich 1981 , S. 62– 70

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dass er das Zimmer verlassen musste und fast nicht mehr zu beruhigen war. Die Deutungen dazu sind vielfältig.359 Unbestritten ist , dass Wolfgang Amadeus den Idomeneo als seine wichtigste Oper ansah , als die Oper „seines“ Lebens. Das spiegelte sich aber nicht in der Aufführungshäufigkeit nach seinem Tode wider. Erst im 21. Jahrhundert wurde der „Idomeneo“ legendär und vor allem berüchtigt , und zwar durch eine polarisierende Inszenierung der Deutschen Oper Berlin. Hier wurde eine nicht bei Mozart existierende Schlussszene eingefügt. Diese zeigt einen lachenden Idomeneo , der den abgeschlagenen Kopf Poseidons aus einem Sack holt und auf einem Sessel drapiert. Dazu kommen dann auch noch die Köpfe von Mohammed , Jesus und Buddha.360 Mozart hätte das vielleicht gefallen , denn die Oper ist als Emanzipation von der bisherigen Götterwelt geschrieben , ja vielmehr als Aufbruch zur Selbstbestimmtheit schlechthin.361

6.3 M  ozart auf dem Weg zur Erhabenheit Nach der triumphalen Uraufführung des „Idomeneo“ am 29. Januar 1781 im Münchner Cuviliéstheater gewannen Mozarts Leiden am Alltag wieder schnell die Oberhand. Ob der schönen Münchner Faschingssaison ignorierte Mozart , dass er seinen nur bis Mitte Dezember 1780 gewährten Urlaub überzog. Aber selbst Leopold Mozart tolerierte diese Urlaubsüberschreitung und sprach mit dem Sohn eine Ausrede ab. Man wolle sich darauf berufen , die sechs Wochen genehmigten Urlaub als Erholungsurlaub verstanden zu haben , der erst nach Abschluss aller Arbeiten am „Idomeneo“ anzutreten sei.362 Nichtsdestotrotz war Colloredo verärgert und Wolfgang Amadé musste im März 1781 München verlassen. Er wurde nach Wien befohlen , wo sich der Erzbischof zu dieser Zeit aufzuhalten geruhte. 359 Vgl. Hildesheimer , Wolfgang : Warum weinte Mozart , in : Bayerische Staatsbibliothek ( Hg. ): Wolfgang Amadeus Mozart. Idomeneo 1781–1981. Essays , Forschungsberichte , Katalog , München , Zürich 1981 , S. 251–257 360 Vgl. Spahn , Klaus : Geköpfte Götter. Zweimal Mozart in Berlin : „Idomeneo“ von Neuenfels und „Don Giovanni , in : Die ZEIT vom 27. 03. 2003 , Nr. 14 , online unter : http://pdf.zeit.de/2003/14/Mozart2x.pdf ( 25. 04. 2011 ) 361 Ebd. 362 Vgl. Mozart , Leopold : Brief an Wolfgang Amadeus Mozart , vom 25. Dezember 1780 , in : Mozart , Wolfgang Amadeus : Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 192

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Vom Opernhimmel kam Wolfgang Amadé wieder auf den Boden der Tatsachen , genauer gesagt an den Gesindetisch. Ein angestellter Musiker war damals nur ein Domestik zwischen Köchen und Kammerdienern. In diesem Kreis fühlte sich Mozart zunehmend unwohl , da dort nur „einfältige grobe spasse gemacht [ werden ] ; mit mir macht keiner spasse , weil ich kein Wort rede , und wenn ich was reden muß , so ist es allzeit mit der grösten seriositet – so wie ich abgespeist habe so gehe ich meines Weegs“363 Auch jenseits des Gesindetisches war Mozart nicht Herr über seine Zeit. Dann galt es , für den Arbeitgeber zu musizieren , was Mozart schier wahnsinnig machte. In Wien hätte sich die feine Gesellschaft über seine Präsenz gefreut , hier aber nicht , aber nach Wien durfte er nicht fahren. Im April 1781 schrieb er an den Vater , dass er „nemlichen Abend als wir die scheis-Musick da hatten , zur Gräfin Thun invitiert war – und also nicht hinkommen konnte , und wer war dort ? – der kayser.“364 Das bedeutete nicht nur einen Verdienstausfall ( vor Ort hätte er für den Abend 50 Dukaten statt nur 4 Dukaten von Colloredo erhalten ), nein , der Vorfall zeigte auch , dass Mozarts Hauptziel , den Kaiser kennenzulernen und eine Oper für ihn zu schreiben , durch das bestehende Arbeitsverhältnis immer mehr in Frage gestellt wurde. Mozart provozierte schließlich einen Zwischenfall : Vor dem Vater sollte es so aussehen , als ob Colloredo ihn hinauswerfe und er sein Glück in Wien machen müsse. Mozart reizte Colloredo derartig , dass es zu folgendem Showdown kam : „Endlich da mein geblüt zu starck in Wallung gebracht wurde , so sagte ich – sind also EW : H : gnaden nicht zu frieden mit mir ? – was , er will mir drohen , er fex , O er fex ! – dort ist die thür , schau er , ich will mit einem solchen elenden buben nichts mehr zu tun haben – endlich sagte ich – und ich mit ihnen auch nichts mehr – also geh er“365. Eine fristlose Entlassung Mozarts war trotzdem fern. Denn Mozarts Talent als Komponist war unbestritten , ungeachtet seiner Titulatur als „fex“, also „Idiot“ oder „Geisteskrankem“. Dem Vater schrieb Mozart von gekränkter Ehre und dass er nicht mehr bei Colloredo arbeiten könne. Doch der Oberstküchenmeister Graf Arco , Mozarts direkter Vorgesetzter , versuchte zu vermitteln. Mehrmalige Entlassungsgesuche Wolfgangs wurden abgelehnt. Als Arco meinte , auch er müsse manch übles Wort des Erzbischofs schlucken , 363 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart vom 17. März 1781 , in : Ebd. , S. 203 364 Ders.: Brief an Leopold Mozart vom 11. April 1781 , in : Ebd. , S. 215 365 Ders.: Brief an Leopold Mozart vom 9. Mai 1781 , in : Ebd. , S. 220

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erwiderte Mozart : „sie werden ihre ursachen haben , warum sie es leiden , und ich – habe meine ursachen warum ich es – nicht leide.“366 Der dann doch stattfindende , nicht nur sprichwörtliche Tritt in den Hintern beförderte Mozart direkt auf das Wiener Parkett und in die von ihm so herbeigesehnte freiberufliche und mit besseren Verdienstmöglichkeiten gesegnete Komponistentätigkeit. Alles war hier besser , außer vielleicht im Bereich der Kirchenmusik. Aber auch hier kündigten sich tiefgreifende Reformen an , auch für Colloredo als Speerspitze der katholischen Aufklärung. Deren Hochämter sollten bescheidener und kürzer werden und Messen nicht länger als 45 Minuten dauern.367 Das brachte dem Erzbischof den Spottvers ein : „Unser Fürst von Colloredo hat weder Gloria noch Credo.“ Mozart hielt von kurzen Messen , vom Verzicht auf lateinisches „Geplerre“368 und „elendste Geigeley“369 , wie es Colloredo in seinem Hirtenbrief von 1782 formulierte , aber ebenso wenig , wie ein moderner FilmRegisseur von verschnittenen Kinofassungen.370 Mozart hatte also rechtzeitig den Absprung geschafft , und war – zumindest zunächst – in der für ihn besten aller möglichen Welten angekommen und er präsentiert mit „Così fan tutte“ eine sinfonische Oper , die dem Barockzeitalter mit romantischen Klangfarben Lebewohl sagt und die Vorzüge der lautmalerisch-bunten sinfonischen Dichtung mit markanten barocken Koloraturen vereinigt.371 In Mozarts Wien war es gängig , „Galanterie [ … ] [ mit ] Bigotterie und Andaechteley [ … ] allzuwohl zu vereinigen“372 , so auch bei Joseph II. ( 1741–1790 ), der er als Kaiser strenge Sittengesetze er366 Ders.: Brief an Leopold Mozart vom 2. Juni 1781 , in : Ebd. , 231 f. 367 Vgl. Maier , Hans : Mozart und die Aufklärung , in : Hildebrand , Klaus / Wengst , Udo / Wirsching , Andreas ( Hgg. ): Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis.Von der Aufklärung bis zur Gegenwart , München 2008 , S. 18 ff. 368 Sr. Hochfürstl. Gnaden / des / Hochwürdigsten / Herrn / Hieronymus Joseph / Erzbischofs und des H. R. Reichs / Fürsten zu Salzburg des heil. Stuhles in Rom / gebornen Legaten und Deutschlands Primaten … / Hirtenbrief /Auf die am 1ten Herbstm. dieses 1782ten / Jahrs , nach zurückgelegten zwölften Jahrhundert / eingetretende Jubelfeyer Salzburgs , Salzburg 1782 , S. 70 f. 369 Ebd. 370 Vgl. hierzu Einstein , Alfred : Mozart , München 1968 , S. 44 371 Vgl. etwa die beschwingte Gesamteinspielung von René Jacobs mit dem Concerto Köln aus dem Jahr 1999 ( Wolfgang Amadeus Mozart : Così fan tutte , harmonia mundi ; 90166365 ) 372 Vgl. Nicolai , Friedrich : Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 , Bd. 5 , Stettin 1785 ( ND Hildesheim 1994 ), S. 258

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ließ , während er als Privatmann die Prostituierten besuchte.373 An galanten Dingen also durchaus interessiert , beauftragte Joseph den Hofcompositeur Salieri mit einer Oper über die Flatterhaftigkeit und Untreue der Frauen. Salieri brach die Arbeiten jedoch nach kurzer Zeit , vielleicht des heiklen Themas wegen , ab und reichte den Auftrag an Mozart weiter.374 Mit der darauf folgenden Arbeit an „Così fan tutte“ wurde bei Mozart ein Bewusstwerdungsprozess eingeläutet , der destillierte , dass zu dieser Zeit alte Ideale überholt waren. Insbesondere das Ideal der Beständigkeit , die barocke „constantia“, sollte ab nun nicht mehr automatisch zur menschlichen Natur gehören , und fortan , während der Zeitenwende des Herbst 1789 , der Französischen Revolution , dem Zug der Pariser Frauen und der Nationalgarde nach Versailles und der erzwungenen Rückkehr von Ludwig XVI. nach Paris , sah Mozart die Welt und ihre Menschen mit größerer Distanz und schrieb seiner Frau : „es ist alles kalt für mich – eiskalt.“375 So wie sich das Schicksal von Ludwig XVI. in eine Tragödie wandeln würde , handelt auch „Così fan tutte“ von einer Komödie : Diese Geschichte beginnt mit der Begeisterung zweier junger und naiver neapolitanischer Edelleute von der Treue ihrer Verlobten. Die beiden Männer schwärmen ihrem Freund Don Alfonso , einem weltgewandten und älteren Edelmann , von den Schwestern Dorabella und Fiordiligi vor. Aber Don Alfonso hat seine eigenen philosophischen Leitlinien zum Thema Frauen , denn : „Mit der Treue der Frauen / i st es wie mit dem arabische Phönix , / d ass es ihn gibt , sagt jeder /Aber wo er ist , weiß niemand.“ Zunächst reagieren die zwei Gatten in spe indigniert , wollen die Degen sprechen lassen , willigen dann aber in eine Wette um 100 Zechinen ein. Ihre Ehefrauen in spe sollen einer Liebesprobe unterworfen werden. Dafür inszeniert Don Alfonso den Marschbefehl der Edelleute in den Krieg. Sie besteigen ein Schiff mit Bauern als Komparsen und segeln in die Ferne. Die Musik beschwört die Ruhe des Meeres und 373 Vgl. Jacob , Heinrich Eduard : Mozart. Der Genius der Musik , München 1990 , S. 488 ; Köppen , Ludwig : Mozarts Tod. Ein Rätsel wird gelöst , Köln 2004 , S. 231 ; Girtler , Roland : Vom Fahrrad aus. Kulturwissenschaftliche Gedanken und Betrachtungen , Wien 2004 , S. 121 374 Vgl. Fornari , Giacomo : Mozarts Così fan tutte : Die Revolution auf der Bühne , in : Lachmayer , Herbert ( Hg. ): Mozart. Projekt Aufklärung , Ostfildern 2006 , S. 733 375 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Constanze Mozart , vom 30. September 1790 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 400

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das damit verknüpfte Lebensglück : „Sanft sei der Wind , ruhig sei die Woge , und jedes Element / reagiere gütig /Auf unser Verlangen“, eine perfekte Harmonie. Nur beim Wort „Verlangen“ setzen in der Partitur neben den Singstimmen auch die Bläser und Streicher ein. Dissonante Sphärenklängen lassen bittersüße Wahrheiten erahnen ,376 die kurz darauf auch die dazugehörigen Frauen ereilen. Beide werden nach der fiktiven Abreise von ihren als Albanern verkleideten Liebhabern umschwärmt. Der Widerstand wird zunächst aufrechterhalten. Doch nach einem gespielten Selbstmordversuch eines der Abgewiesenen beginnt die Haltung der Frauen zu bröckeln. Zwar versucht eine der zwei , Fiordiligi , in einem letzten heroischen Selbstappell über die Beständigkeit ihrer Liebe die Situation zu retten. Sie gelobt ihrem Geliebten auf das Schlachtfeld nachzueilen und dort mit ihm zu sterben. Das aber wird nicht funktionieren , weil schon dieser Auftritt377 als Persiflage auf diesen erhabensten Topos der Literatur angelegt ist378. In dieser Konstellation folgte in Torquato Tassos ( 1544–1595 ) Versepos vom „Befreiten Jerusalem“ bereits die Sarazenin Clorinda ihrem geliebten Kreuzritter Tankredi in voller Rüstung auf das Schlachtfeld nach und fiel dort , weil unerkennbar , dem Schwert ihres Geliebten zum Opfer , sodass Tancredi ihr als letzten Liebesdienst lediglich die christliche Taufe angedeihen lassen konnte. Claudio Monteverdi ( 1567–1643 ) hatte den vorangegangenen Kampf der Liebenden 1624 in eine dramatische Gesangsszene umgesetzt. Bei Mozart wurde dann die Sinnhaftigkeit derartig verstrickter Handlungsfäden hinterfragt und deren Erhabenheit mit allem , der Ironie möglichem , Ernst bloßgestellt. So begegnet Don Alfonso zum Beispiel der an ihn gerichteten Duellforderung der beiden mit der Bemerkung , dass er sich nur noch an der Tafel , also mit Messer , Gabel und Weinglas , duelliere.379 Duelle und Soldatenehre scheinen Grillen vergangener Jahrhunderte. Auch Fiordiligi fällt nicht auf dem Schlachtfeld , sondern ihrem neuen alten Geliebten in die Arme. Bald wird die Hochzeit beider Schwestern mit 376 Vgl. Jung-Kaiser , Ute : Wolfgang Amadeus Mozart : Così fan tutte. Die Treueprobe im Spiegel der Musik , Augsburg 2004 , S. 43 f. 377 Akt II. , 11. und 12. Szene 378 Vgl. Borchmeyer , Dieter : Così fan tutte – Ein erotisches Experiment zwischen Materialismus und Empfindsamkeit , in : Laubenthal , Annegrit ( Hg. ): Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher , Kassel u. a. 1995 , S. 356 379 Akt I. , Szene 1 , Rezitativ

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den pseudo-albanischen Edelleuten beschlossen und ein Ehekontrakt vorbereitet. Für Don Alfonso ist das der Triumph seiner Philosophie , denn : „Così fan tutte“ ( „ So machen’s alle [ Frauen ]“ ). Die Ursache derartiger Abläufe liegt für Don Alfonso in der Konstruktion des Menschen begründet. Denn jede Liebe sei nur ein von der Natur ausgelöster Mechanismus , unabhängig von der jeweiligen Person und im Kern nicht mit Empfindungen , sondern ausschließlich mit dem Sexualtrieb zu erklären. Die Menschen und insbesondere die Frauen seien daher Maschinen aus Fleisch und Körperlichkeit. Sie folgten mit ihrer Untreue nur der „necessità del core“ ( Notwendigkeit des Herzens ) und man( n ) müsse sie eben nehmen wie sie sind. Don Alfonso verfolgt einen mechanistischen Materialismus  , der noch über den seines Vorbildes Julien Offray de la Mettrie ( 1709– 1751 ) hinausgeht , wo der Mensch zwar als eine Maschine , aber eine nicht nur von Wollust , sondern auch von emotionaler Intelligenz erleuchtete Maschine beschrieben wurde.380 Trotzdem beinhaltet das Libretto genug Anstand , die Unterzeichnung des Ehekontraktes bis zur Ankündigung der Rückkehr der Edelleute aus dem Krieg hinzuhalten. Die Krieger wandeln sich vom albanischen Saulus zum neapolitanischen Paulus , enttarnen ihre Ränke von eigener Hand und erbitten Vergebung von ihren Frauen. Wider alle Wahrscheinlichkeit wird selbige Entschuldigung auch angenommen und im Happy End heißt es : „Glücklich der Mensch / der alles von der richtigen Seite nimmt / [ … ] Was andere stets weinen lässt , / sei für ihn ein Grund zum Lachen“381. Dennoch zurückbleibende Sprünge in der polierten Oberfläche der Oper lassen lachen , wenn einem gleichzeitig zum Weinen sein könnte ; schließlich interpretiert Slavoi Žižek die Edelleute sogar als die Vorstufe des Sadeschen Perversen , da sie distanziert und mit kühlem Kopf ihr Vergnügen betreiben und sich an der Erniedrigung der Frau weiden , die den „Schmerz erfahren , ihr Begehren an sich als abstoßend zu empfinden.“382 Mozarts Komposition ist auf der Seite dieser gedemütigten Frauen. Er macht sich nicht über sie lustig , sondern vielmehr über die Embleme von Soldatenehre und Männertreue : „Von Männern von Soldaten Treue erwarten ? / Lassen Sie das nur niemanden hören ! /Aus 380 Vgl. hierzu Voigt , Stefanie / Köhlerschmidt , Markus : Die philosophische Wollust. Sinnliches von Sokrates bis Sloterdijk , Darmstadt 2011 , S. 63 ff. 381 Akt II. , letzte Szene 382 Žižek , Slavoj : Mozart als Kritiker Postmoderner Ideologie , in : Lachmayer , Herbert ( Hg. ): Mozart. Projekt Aufklärung , Ostfildern 2006 , S. 341

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demselben Teig sind sie alle gemacht ; / das zitternde Laub , die unsteten Lüfte / haben mehr Beständigkeit als die Männer“383. Und so scheint sich eine ganz bestimmte Grundhaltung Mozarts zu erhabenen Phänomenen herauszukristallisieren. In Milos Formans „Amadeus“-Film wird Mozart Folgendes in den Mund gelegt : „Erhebend , erhebend , was soll das heißen , erhebend ? Wie hängen die mir zum Hals heraus , diese ewigen erhebende Themen , alte tote Legenden , warum müssen wir bis in alle Ewigkeit immer wieder bloß über Helden und Götter schreiben , [ … ]. Wer von Ihnen würde nicht lieber seinem Barbier lauschen als Herkules oder Horatius oder Orpheus ? So erhabene Leute , dass sie sich anhören , als ob sie Marmor scheißen.“384 Auch wenn Milos Forman lediglich einen Zerrspiegel der Mozartschen Persönlichkeit inszenierte , hätte Mozart diese Aussage in Bezug auf seine Opern wahrscheinlich unterschrieben – aber nicht in Bezug auf seine Instrumentalmusik. So wie nämlich Chrysostomos sich nicht über den lachenden Jesus gewundert hat , sondern genau gegenteilig das Lachen eher kritisch gesehen haben muss , so präsentiert sich auch das Erhabenheitsverständnis Mozarts bei genauerem Hinsehen als streckenweise sogar äußerst erhabenheitsfreundlich. Insbesondere seine drei letzten Sinfonien , innerhalb weniger Wochen im Sommer 1788 entstanden , verweisen auf eine musikalische Auseinandersetzung mit dem Erhabenen , die auf eine genauere Kenntnis der Ästhetiktheorie schließen lassen , als sie zum Beispiel der zeitgenössische Musikkritiker , Musikpädagoge und der erstmalige Herausgeber von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ Hans Georg Nägeli ( 1773–1836 ) vorweisen konnte. Der rügte das Finale von Mozarts Sinfonie Nr. 39 in Es-Dur als „styllos unschließend , so abschnappend , dass der unbefangene Hörer nicht weiß , wie ihm geschieht ,“385 und übersah dabei beflissentlich , dass die Sinfonie Nr. 39 als erster Teil einer Trilogie zu sehen ist386 , der genauso wenig als Einzelnes zu betrachten ist , wie der erste Teil der „Herr der Ringe“-Trilogie. Dabei spielt Mozart in der Sinfonie Nr. 39 mit dem Erhabenen , und er entwickelt zunächst eine erhabene „beau désordre“, eine Art gemäßigter Unordnung , aus der die Sinfonien Nr. 40 und 41 wieder zu neu 383 Akt I. , Szene IX , Nr. 12 Arie 384 Amadeus : Forman , Milos ( Regie ), USA 1984 , hier DVD Director’s Cut 2001 ; EAN 7321921374647 ; Zitat : 1 :34 :23–1 :35 :10 385 Nägeli , Hans Georg :Vorlesungen über Musik , Stuttgart 1826 , S. 157 386 Vgl. Gülke , Peter : Triumph der neuen Tonkunst. Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld , Kassel u. a. 1998 , S. 74 ff. und passim

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geordneter Schönheit , also dann erhabener Schönheit zu führen haben. Die Sinfonie Nr. 40 in g-Moll ist zunächst noch Ausdruck einer schwermütigen , vorwärts drängenden Bewegung , und zwar insofern einer weniger individuellen denn kollektiven Schwermutsbewegung , als diese Tonart traditionell dem Ausdruck kollektiver Traurigkeiten zugehörig war. Diese Art nicht-individueller Gemütsschwere verweist nach Kant in die Kategorie der erhabenen Traurigkeit387 , die „in moralischen Ideen ihren Grund“388 findet. Glücklicherweise führt dieses g-Moll dann aber mit der letzten Sinfonie der Trilogie , die von den späteren Zeitgenossen auch „Jupiter-Sinfonie“ getauft wurde , hin in die helle Tonart C-Dur und somit ins Licht der prästabilierten Harmonie eines Johann Sebastian Bach. Denn dessen Gedanke einer überindividuellen harmonischen Ordnung war auch , zumindest in der Musik , Mozart geläufig. Er hatte aufgrund seiner Bekanntschaft mit Baron Gottfried van Swieten ( 1733–1803 ) die Kompositionen Bachs intensiv studieren können. Denn van Swieten hatte während seines Berlinaufenthaltes Carl Philipp Emmanuel Bach kennengelernt und damit auch Abschriften von Bachs Werken. Mozart berichtete bereits im Frühjahr 1782 : „ich gehe alle Sonntage um 12 uhr zum Baron von Suiten [ Swieten ] – und da wird nichts gespiellt als Händl und Bach – ich mach mir eben eine Collection von den Bachischen Fugen“389. Von der Bachschen Kunst der Fuge zur Jupiter-Sinfonie war es dann auch nur noch ein Schritt. Beide Gattungen , Fuge und Sinfonie , galten als gleichberechtigte Krone der musikalischen Schöpfung , als „opus metaphysicum“390 , das den Schleier von den irdischen Dingen zog und eine Brücke zum Absoluten zu bauen vermochte. Warum also nicht beides miteinander verbinden ? Mozart befand sich somit ( wohl mehr unbewusst als bewusst ) in der Rolle des „Vollenders“ der Kunst der Fuge , der im Finale391 der 387 Ebd. , 168 f. 388 Kant , Immanuel : Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen , in : Ders.: Werke in 6 Bänden , Köln 1995 , Bd. 1 , S. 231 389 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart , vom 10. April 1782 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 294 390 Dahlhaus , Carl : Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert , Darmstadt 1989 , S. 149 391 Das Finale der Jupiter-Sinfonie birgt auch starke dissonante Strukturen , die den Hörer im Sinne von Kants Mathematisch-Erhabenem überfordern. ( Vgl. Sisman , Elaine R.: Learned Style and the Rhetoric of the Sublime in the ‚Jupiter‘ Symphony , in : Sadie , Stanley ( Hg. ): Wolfgang Amadé Mozart. Essays on his Life and his Music. Oxford 1996 , S. 213–238 )

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Jupiter-Sinfonie mittels deutlich kontrapunktischer Strukturen die schließlich fünf Stimmen miteinander in Einklang bringt.392 Darum wurde die Jupiter-Sinfonie auch Sinfonie mit der Schluss-Fuge genannt ,393 und dass die Kunst der Fuge mit einer unvollendeten Quadrupelfuge abbricht , bevor sich die drei Stimmen der Fuge mit dem Hauptthema vereinigen können , konnte nur würdigen , wer Bachs Kompositionen eingesehen hatte. Doch das hatten damals nur wenige. Denn die „Bachische Kunst der Fuge war doch für die große Welt zu hoch ; sie mußte sich in die kleine , mit sehr wenigen Kennern bevölkerte , Welt zurückziehen“394 , schrieb Bach-Biograf Forkel im Jahr 1802. Und vielleicht ist das der Grund dafür , dass bei aller Synonymität von Erhabenheit und Sinfonie im ausgehenden 18. Jahrhundert das Erhabenheitsprädikat weniger den Mozartschen Sinfonien zufiel als vielmehr denen Haydns und Beethovens , wenngleich bereits Mozarts erster Biograf Niemetschek bemerkte , sie seien „voll überraschender Übergänge und haben einen raschen , feurigen Gang , so , dass sie alsogleich die Seele zur Erwartung irgend etwas Erhabenen stimmen.“395 Aber erst im 20. Jahrhundert galten Mozarts Kompositionen als durchwegs erhaben , vor allem bei der Avantgarde und ihren avantgardistischen Beschreibungsversuchen : Der Komponist Bernd Alois Zimmermann ( 1918–1970 ) sah in den Stücken Mozarts „das akustische Material des gegenständlichen Charakters so vollkommen entkleidet , dass Dimensionale so weitestgehend überwunden , dass das Moment der zeitlichen Ausdehnung aufgehoben erscheint und den Anschein des Zeitlosen erhält. Überwindung der Zeit kraft vollkommenster Organisation der Zeit hat hier die tiefste Antinomie der Musik in eine Ordnung gebannt , die kardanisch aufgehängt und zugleich ganz gelöst in einem freien Raum , Musik ganz aus sich selbst und zugleich ganz Ausdruck in sich selbst ist.“396 Für die Avantgarde der klassischen Moderne war Mozart das , was für die Postmo392 Vgl. Gülke , Peter : Triumph der neuen Tonkunst. Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld , Kassel u. a. 1998 , S. 226 393 Vgl. Sechter , Simon : Das Finale der Jupiter-Symphonie ( C-Dur ) von W. A. Mozart , Wien 1923 394 Forkel , Johann Nikolaus : Über Johann Sebastian Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke , Leipzig 1802 , S. 53 395 Niemetschek , Franz Xaver : Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart nach Originalquellen beschrieben , Prag 21808 , S. 43 396 Zimmermann , Bernd Alois : Mozart und das Alibi , in : Ders.: Intervall und Zeit. Aufsätze und Schriften zum Werk. Mainz 1955 , S. 16

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derne um Lyotard die monochrome Malerei von Barnett Newman ( 1903–1970 ) verkörperte , nämlich eine Berührung mit dem Absoluten durch die Zeitlosigkeit der Kunst , bei Zimmermann noch positiv und erfreut über besagte Zeitlosigkeit397 , bei Lyotard dann später sehr viel verhaltener , mit der impliziten Furcht vor dem Moment , in dem der Einzelne aus der Zeitlosigkeit der Kunst in die Endlichkeit des Alltags zurückgeschleudert wird. Doch nicht nur Mozarts Musik erhob sich dergestalt erhaben über profane Dinge , auch ihr Schöpfer. So hatte Wolfgang Amadeus bereits auf seiner Pariser Reise ein so ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelt , dass er dem Vater schrieb , dass er sich „ohne gottlos zu seyn , nicht absprechen“ könne , ein „Mensch von superieuren Talent“398 zu sein. Und zwar auch im Umgang mit Konventionen. Als er sich einmal Musiknoten fremden Eigentums aneignete , schrieb er : „ich glaube immer , ich flegel hätte eine Ausnahme.“399 In Wien mischte sich diese Persönlichkeitsstruktur noch dazu mit einer gewissen Liebe für luxuriöse Dinge , wie Möbel , prunkvolle Kleidung und einem ausgeprägten Empfinden für alles Schöne , Wahre und das dafür notwendige Bare. Mozart fand auch zunehmend Anschluss an die feine Gesellschaft , insbesondere an Martha Elisabeth Baronin von Waldstätten ( 1744–1811 ), seine Mäzenin und Ansprechpartnerin in allen alltagsästhetischen Fragen. Er schrieb ihr : „wegen dem schönen rothen frok [ Frack ] welcher mich ganz grausam im herzen kitzelt , bittete ich halt recht sehr mir recht sagen zu lassen wo man ihn bekommt , und wie theuer , denn dass hab ich ganz vergessen , weil ich nur die schönheit davon in betrachtung gezogen , und nicht den Preis. – denn so einen frok muß ich haben , damit es der Mühe werthe ist die knöpfe darauf zu setzen , mit welchen ich schon lange in meinen gedanken schwanger gehe [ … ] diese sind Perlmutter , auf der Seite etwelche weisse Steine herum , und in der Mitte ein schöner gelber Stein. – Ich möchte alles haben was gut , ächt und schön ist ! – woher kommt es doch , dass die , welche es nicht im Stande sind , alles auf so was verwenden möchten , und die , welche im Stan397 Vgl. hierzu Hiekel , J. P.: Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter , Stuttgart 1995 , S. 301 ff. 398 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart , vom 11. September 1778 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 152 f. 399 Bauer , Wilhelm A. / Deutsch , Otto Erich ( Hgg. ): Mozart , Briefe und Aufzeichnungen , Gesamtausgabe , 7 Bde. , Kassel u. a. 1962 ff. , Bd. IV. , S. 3

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de wären , es nicht thun ?“400 Also kümmerte sich Frau von Waldstätten um die Angelegenheit , besorgte den Frack auf ihre Kosten und umsorgte auch anderweitig den zwölf Jahre jüngeren Wolfgang liebevoll. Zum Beispiel richtete sie an seinem Namenstag ein Fest aus. Frau von Waldstätten lebte von ihrem Mann getrennt , befreit von allerlei Zwängen , und somit bereit für das gute Verhältnis zu Wolfgang Amadeus Mozart. Dass der zumindest kurzfristig ihr Liebhaber war , ist nicht auszuschließen. Auch nach Mozarts Hochzeit , zu der Frau von Waldstätten das Bankett auf ihre Kosten ausrichtete , blieb der Kontakt zu ihr eng. Mozart titulierte sie als „Allerliebste , Allerbeste , Allerschönste , Vergoldete , Versilberte und Verzuckerte [ … ] Baronin“401 und pflegte ihr gegenüber sogar vereinzelt den wohlbekannten Klistier- und Fäkalhumor. Erst als sich die Baronin 1783 aus Wien zurückzog und fortan zurückgezogen auf dem Lande lebte , schlief der Kontakt ein402 , für Mozart ein herber persönlicher Verlust. Mozarts Unabhängigkeit von Konventionen zeigt die Tatsache , dass auch der diplomatische Frieden mit Vater Leopold Mozart einschlief. Die Heirat mit Constanze Weber war nicht im Sinne des Vaters. Leopold sah die ganze Familie Weber in schlechtem Licht , eingedenk der ältesten Schwester Aloisia. Die war es gewesen , die einst Mozart Junior in Mannheim den Kopf verdreht , ihn dann abblitzen hatte lassen und somit den schroffen väterlichen Marschbefehl auf Paris ausgelöst hatte. Erschwerend kam hinzu , dass Constanzes Vormund dem in Gelddingen oft naiven Wolfgang Amadeus ein schriftliches Eheversprechen abrang , dessen Nichteinhaltung mit einer jährlichen Zahlung von 300 Gulden verbunden war , ein schon nach damaliger Rechtsauffassung sittenwidriges Rechtsgeschäft.403 Aber Mozart Junior ließ sich nicht beirren und heiratete am 4. August 1782 Constanze Weber , unabhängig davon , dass weder sein Vater noch dessen ausstehende schriftliche Heiratserlaubnis zugegen waren. Das verbesserte die familiäre Stimmung nicht wesentlich. Leopold Mozart sollte in der Folgezeit den Sohn seiner Tochter Nannerl bei 400 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Elisabeth Baronin von Waldstätten , vom 28. September 1782 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 312 401 Ders.: Brief an Elisabeth Baronin von Waldstätten , vom 2. Oktober 1782 , in : Ebd. , S. 313 402 Vgl. Köppen , Ludwig : Mozarts Tod. Ein Rätsel wird gelöst , Köln 2004 , S.  149 f. 403 Ebd. , S. 153

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sich in Salzburg aufnehmen , um ein neues , und vielleicht gehorsameres , Wunderkind zu formen. Zumal sich Wolfgang Amadeus , die vermeintlich von Leopold gesteuerte Schöpfung , nun zunehmend verselbständigte. Als Leopold Mozart dann im Frühjahr 1787 todkrank daniederlag , lehnte es Wolfgang unter Vorschutz irgendwelcher Geschäfte ab , den Vater ein letztes Mal zu besuchen.Vielmehr schrieb er dem Kranken , dass „der Tod genau zu nemmen der wahre Endzweck unseres lebens ist , so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren , besten freunde des Menschen so bekannt gemacht , dass sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat , sondern recht viel beruhigendes“404 , vielleicht weil dessen Hilfe es ermöglichte , der Allmacht des Vaters zu entkommen. So überrascht es nicht , dass Wolfgang Amadeus bei Leopolds Tod im Mai 1787 nach wie vor keine Zeit hatte , dem Vater das letzte Geleit zu geben. Nur die Erbauseinandersetzungen sollten schnell vonstattengehen , denn Mozart brauchte Bargeld für das teure Wien. Auch komponierend befreite er sich 1787 vom erschreckend-erhabenen Über-Vater : Im „Don Giovanni“ ermordet der Titelheld den Vater einer von Don Giovanni verehrten Frau und lädt das Standbild des Toten zu einer Feier ein. Es beginnt eine Apotheose von Rausch , Gewalt und Sex , zumindest bis der eingeladene Gast wirklich erscheint und Don Giovanni in die Hölle befördert wird. Für Mozart war die Komposition des „Don Giovanni“ eine Katharsis , die ihn zumindest zeitweise von Ängsten und Zwangsvorstellungen befreite. Wie sein Don Giovanni war Mozart ein Genussmensch , der Kaffee , Likör , Tabak und gutes Essen liebte und nicht selten mehr Billard und Karten spielte als komponierte. Mozart war wie ein Dandy des 19. Jahrhunderts , sich auszeichnend mit Ironie , Geschmack , Arroganz , Eleganz und einer Schwäche für die Provokation. Nur fehlte ihm eine entsprechende finanzielle Unabhängigkeit und die kühle Distanz zu den irdischen Dingen.405 Mozart war vielmehr empfindsam , auf brausend und explosiv wie Quecksilber 406 , eine brisante Mischung aus vollbarocker Lebenslust und vorromantischem Überschwang , ein nervöses , temperamentvolles und intensives Wesen. Diese Charakterzüge wurden der tiefere Grund für seinen frühen Tod und 404 Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart , vom 4. April 1787 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 361 405 Vgl. zum Dandyismus insbesondere : Erbe , Günter : Dandys – Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondänen Lebens , Köln , Weimar , Wien 2002 406 Vgl. Braunbehrens ,Volkmar : Mozart in Wien , München 1986 , S. 135

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seine spätere Stilisierung zum ewig jungen und in seiner Unnachgiebigkeit erhabenen James Dean des 18. Jhdts.

6.4 Mozarts Tod Franz Xaver Niemetschek ( 1766–1849 ), Mozarts erster Biograf und ein persönlicher Bekannter , schreibt : „Das Jahr 1791 , furchtbar reich an großen Todten , ward bestimmt auch den Stolz der Tonkunst zu entreissen.“407 Das aber war Mozart zu dem Zeitpunkt in keiner Weise bewusst , im Gegenteil. Er war , wie oft beschworen , weder depressiv-todessehnsüchtig noch kränkelnd , nein. Er war im Januar 1791 sogar betont fröhlich und vertonte Verse wie : „Erwacht zum neuen Leben / Steht vor mir die Natur , / Und sanfte Lüfte wehen / Durch die verjüngte Flur. / Empor aus seiner Hülle / Drängt sich der junge Halm , / Der Wälder öde Stille / Belebt der Vögel Psalm.“408 Der Beginn des Jahres 1791 verspricht weniger Resignation , sondern vielmehr Aufbruch. Denn finanziell ist es bei Mozarts eng , nach wie vor. Für die Reise im vergangenen Herbst , nach Frankfurt zu den Krönungsfeierlichkeiten Leopolds II. , hatte Mozart sogar sein Tafelsilber ins Pfandhaus gegeben. Aber der Frühling bringt Hoffnung : Leopold Hofmann , Kapellmeister am Stephansdom , liegt todkrank danieder. Mozart nutzt die Gunst der Stunde und schickt eine Blindbewerbung an den Magistrat der Stadt Wien. Am 28. April 1791 kommt positive Resonanz. Es wird ihm das Kapellmeisteramt mit einer Besoldung von jährlich 2. 000 Gulden ( in etwa 40. 000 Euro ) inklusive erheblicher Sachbezüge zugesichert , aber erst nach dem Ableben von Hofmann. Aber leider wird der Amtsinhaber wieder gesund , für Mozart verbleibt nur die unbesoldete Vizekapellmeisterstelle , und das auch nur kurzfristig.409 Der Juli 1791 spült aber wieder Geld in Mozarts Kasse , und zwar genau 1. 125 Gulden410. Die böhmischen Landstände beauftragen ihn mit einer Oper für die Krönungsfeierlichkeiten in Prag. „La Clemenza die Tito“ ( Der Großmut des Titus ) thematisiert die Milde des römischen Kaisers Titus , der trotz Intrigen 407 Niemetschek , Franz Xaver : Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart nach Originalquellen beschrieben , Prag 1798 , S. 31 408 Der Frühling KV 597 409 Vgl. Landon , Howard C. Robbins : 1791. Mozarts letztes Jahr , Düsseldorf 1988 , S. 67 f. 410 Ebd. , S. 120

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und Verrat seinen Feinden vergibt – auch wenn diese Geschichte keine Gemeinsamkeiten mit dem historischen Titus ( 39–81 n. Chr. ) aufweist ; jener pflegte bei der Belagerung Jerusalems die aus der Stadt Fliehenden zu kreuzigen. Das Werk musste unter größtem Zeitdruck komponiert werden , denn am 6. September 1791 sollte bereits die Uraufführung stattfinden. Zu allem Überfluss kam auch noch ein Zusatzauftrag ins Haus , ein anonymer Auftrag von einem grau gekleideten Mann , der ein Requiem haben wollte. Als Honorar verlangte Mozart 50 Dukaten411 , also 225 Gulden oder 4. 500 Euro. Mozart hatte vorerst nicht viel Zeit , sich um das Requiem zu kümmern. Aber so einen Auftrag ließ sich der Freund der Kirchenmusik nicht entgehen. Vor der Abreise nach Prag  , am 25. August 1791 , brachte sich der „Graue Bote“ wieder in Erinnerung und wurde auf die Zeit nach der Reise vertröstet.412 Mozart war gestresst. Noch auf der Fahrt nach Prag musste er am „Titus“ arbeiten. Auch das Requiem und dessen Auftraggeber begannen Mozarts Phantasie anzuregen. Mozart konnte nicht wissen , dass der graue Herr Diener eines wohlhabenden , musikbegeisterten Adligen war , der des Öfteren Kompositionen anonym bestellte , um sie später als die seinigen auszugeben. In Prag war Mozart dann in seinem Element , freute sich des Lebens und der Stadt. Die Prager wiederum erfreuten sich dafür an Mozarts Musik. Nicht nur der „Titus“ wurde gegeben , sondern auch noch der „Don Giovanni“ als Tafelmusik arrangiert : „Wir versammelten uns in der Antichambre der Kaiserin , wir dinierten mit 100 Personen im Thronsaal [ … ] Musik aus Don Juan. Nach Tisch blieben wir noch lange Zeit im Salon trotz des schlechten Geruchs der Anwesenden.“413 So überlieferte es Karl von Zinzendorf ( 1739–1813 ), der den „Titus“ als langweilige Oper empfand , während andererseits Franz Xaver Niemetschek darüber in den höchsten Tönen schwelgte : „Es ist eine gewisse griechische Simplizität , eine stille Erhabenheit in der ganzen Musik , die das fühlende Herz leise , aber desto tiefer trifft.“414 Die 411 Vgl. Wolff , Christoph : Mozarts Requiem. Geschichte – Musik – Dokumente – Partitur des Fragments , München , Kassel 1991 , S. 10 ; zu den finanziellen Verhältnissen Mozarts auch : Steptoe , Andrew : Mozart and Poverty : A Reexamination of the Evidence , in : Musical Times 152 ( 1984 ), S. 196–201 412 Vgl. Niemetschek , Franz Xaver : Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart nach Originalquellen beschrieben , Prag 1798 , S. 33 f. 413 Zinzendorf , Karl von : Tagebuch vom 1. September 1791 , zitiert nach : Landon , Howard C. Robbins : 1791. Mozarts letztes Jahr , Düsseldorf 1988 , S. 132 414 Niemetschek , Franz Xaver , zitiert nach : Nettl , Paul : Mozart in Böhmen ,

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Gemahlin des Kaisers , Maria Ludovica ( 1745–1792 ), soll über den „Titus“ nur gesagt haben : „una porcheria tedesca in lingua italiana“415 ( „ Eine deutsche Schweinerei in italienischer Sprache“ ). Das zeigt , dass die Kaiserin den „Titus“ gut verstanden hatte ; denn darin wurde Kaiser Leopold II. indirekt kritisiert und angedeutet , dass nur der Weg der Aufklärung eine Revolution wie in Frankreich verhindern könne und Leopolds kaiserlicher Weg , der Weg des Klerus , des Polizeistaats und der Anti-Aufklärung in die Irre führen könnte. Für Mozart und seine Freunde waren solche Menschen wie Eulen , die das Sonnenlicht der Aufklärung scheuten und die ganze Habsburgermonarchie mit Dunkelheit und Repression überzogen.416 Mozart hatte mit dem „Titus“ viel gewagt. Kein Wunder , denn in Wien hatte er seit dem Tod Kaiser Joseph II. sowieso keine Opernaufträge mehr erhalten. Ja , viel schlimmer , er konnte sich in Wien oft nur mit Krediten seiner Freimaurer- und Illuminatenfreunde über Wasser halten. Als er Mitte September 1791 aus Prag zurückkehrte , war er noch voller Elan , um die Ouvertüre zur „Zauberflöte“ zu komponieren und natürlich auch das Requiem. Kleinere Auftragsarbeiten , wie die „Freimaurerkantate“, die er am 18. November 1791 in der Sitzung seiner Loge „Zur gekrönten Hoffnung“ selbst dirigierte , schob Mozart auch noch dazwischen ein. Ansonsten genoss er die Ruhe im Hause. Constanze war wieder einmal zur Kur in Baden. Mozart aß gut , trank viel Kaffee , schmauchte seine Pfeife und ritt aus. Am 20. November hörte er jedoch plötzlich auf , neben all dem auch noch zu komponieren. Er fühlte sich krank und legte sich ins Bett. Er hätte Grund gehabt , diese Formschwäche dem föhnigen Wetter zuzuschieben. Es waren plus 12 bis 14 Grad Celsius , bei gleichzeitig stürmischem Wind.417 Das Requiem war zu diesem Zeitpunkt erst zur Hälfte gediehen , daneben stand auch noch die Arbeit am Lacrimosa offen , das Mozart noch mit einer Fuge zu beenden plante. Aber seine Krankheit wurde schlimmer. Arme und Beine schwollen stark an. Er wurde geräuschempfindlich. Auch den Gesang seines Kanarienvogels in seinem Zimmer konnte er nun nicht mehr ertragen. Jetzt Prag 1938 , S. 4 f. 415 Meissner , Alfred : Roccoco-Bilder. Nach Aufzeichnungen meines Großvaters , Leipzig 1876 , S. 141 416 Vgl. Perl , Helmut : Der Fall Mozart. Aussagen über ein missverstandenes Genie , Zürich 2004 , S. 153 , S. 194 ff. und passim 417 Vgl. Braunbehrens , Volkmar : Mozart in Wien , München , Zürich 1986 , S. 426

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wurde ihm die Ernsthaftigkeit seiner Erkrankung klar , und er reagierte , wie jeder reagieren würde : Er besprach das Gesamtkonzept des Requiems mit seinem Assistenten Franz Xaver Süßmayr ( 1766– 1803 ), der es später vollenden sollte. Zwei Ärzte standen Mozart erfolglos zur Seite. Zahlreiche Aderlässe , der letzte zwei Stunden vor seinem Tod , halfen nicht. Und bevor er am 4. Dezember 1791 das Bewusstsein verlor , galten seine letzten Bemühungen weiterhin dem Requiem : „Sein Letztes war noch , wie er mit dem Munde die Pauken in seinem Requiem ausdrücken wollte  , das höre ich noch jetzt“418 , schreibt Mozarts Schwägerin Sophie Haibel. Nach wenig mehr als 14 Krankheitstagen wurde Mozart am 5. Dezember 1791 gegen 0.55 Uhr 35-jährig von der Bühne des Lebens abberufen. Über die eigentliche Ursache seines Todes wird bis heute spekuliert. Sein Erst-Biograf Niemetschek , der die Rückkehr aus Prag als Zeitpunkt von Mozarts beginnendem seelischen und körperlichen Verfalls ansieht , schrieb : „Bey seiner Zurückkunft nach Wien nahm er sogleich seine Seelenmesse vor , und arbeitete mit viel Anstrengung und einem lebhaften Interesse daran : aber seine Unpäßlichkeit nahm sichtbar zu , und stimmte ihn zur düstern Schwermuth. Seine Gattin nahm es mit Betrübniß wahr. Als sie eines Tages mit ihm in den Prater fuhr , um ihm Zerstreuung und Aufmunterung zu verschaffen , und sie da beyde einsamm saßen , fing Mozart an vom Tode zu sprechen , und behauptete , daß er das Requiem für sich setze. Thränen standen dem empfindsamen Manne in den Augen. ‚Ich fühle mich zu sehr , sagte er weiter , mit mir dauert es nicht mehr lange [ … ] Ich kann mich von diesem Gedanken nicht los winden. –‘ “419 Dass Mozart über eine ausgeprägte Phantasie verfügte , ist belegt , aber derartige Zwangsvorstellungen waren vorher nie zu Tage getreten. Trotzdem steht diese Giftthese , obgleich vom Opfer selbst , etwa 78 anderen Theorien420 zu Mozarts Tod entgegen , angefangen von Trichinose durch unzureichend gebratenes Schweinefleisch bis hin zu Herzversagen. Einige der vorgeschlagenen Todesarten könnten sogar Ansprüche auf den „Darwin-Award“ anmelden , so etwa die These , dass Mo418 Haibel , Sophia : Brief an Georg Nicolaus Nissen , vom 7. April 1825 , in : Deutsch , Otto Erich ( Hg. ): Mozart. Die Dokumente seines Lebens , Kassel u. a. 1961 , S. 451 419 Niemetschek , Franz Xaver : Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart nach Originalquellen beschrieben , Prag 1798 , S. 34 420 Vgl. hierzu Duda , Gunther : W. A. Mozart. Den Göttern gegeben. Ein Bauopfertod , Pähl 1994 , S. 12 ff.

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zart seinen Tod durch Selbst­medikation ausgelöst habe , weil er mit überdosiertem Quecksilbersublimat gegen seine angebliche Syphilisinfektion angekämpft haben soll.421 Dass Mozart eine aufrichtige , aber nicht immer treue Ehe geführt hatte , gilt fast schon als Allgemeingut. Nur war Mozart viel zu vorsichtig , um Syphilis-Risikogruppen , sprich Prostituierte , zu frequentieren ,422 vielleicht aufgrund seiner Begegnung mit dem Komponisten Joseph Mysliwecek ( 1737– 1781 ). Dieser hatte zu diesem Zeitpunkt nämlich unter der Syphilis im Endstadium gelitten , hatte Knoten und Geschwüre im Gesicht , praktisch keine Nase mehr und verbreitete einen unangenehmen Verwesungsgeruch. Für Mozart war das eine Erfahrung , nach der er zunächst weder essen noch schlafen konnte.423 Wenn sich Mozart dennoch die Syphilis geholt haben sollte , so wären ihm , mit seinen behandelnden Ärzten Dr. Closset und Dr. Salaba , versierte Mediziner zur Seite gestanden , die zumindest die Einnahme einer Überdosis Quecksilber verhindert hätten. Mozart selbst hat wohl die Giftmordthese favorisiert. Denn des Unmuts des einen oder anderen Zeitgenossen scheint er sich durchaus bewusst gewesen zu sein. Seiner Frau Constanze gegenüber soll er nicht nur dieses eine Mal im Prater , sondern auch wann anders mehrmals geäußert haben : „gewiß , man hat mir Gift gegeben !“424 So ist es interessant , dass einen Tag nach Mozarts Tod sein Logenbruder und zeitweiliger Kreditgeber Franz Hofdemel in seiner heimischen Wohnung durchdrehte und seiner Frau mit einem Rasiermesser tiefe Schnittwunden an Gesicht , Hals und Schultern zufügte , um sich dann in sein eigenes Zimmer zurückzuziehen und sich die Kehle durchzuschneiden. Die gemeinsame Tochter der Hofdemels blieb verschont. Die Tat erscheint umso rätselhafter , als Magdalena Hofdemel ( 1766–nach 1804 ) im 5. Monat schwanger war. Vermutete Hofdemel etwa , dass Mozart seiner Frau 421 Vgl. Köppen , Ludwig : Mozarts Tod. Ein Rätsel wird gelöst , Köln 2004 , passim 422 Vgl. insbesondere den aufschlussreichen Brief von Wolfgang Amadeus an Leopold Mozart , wo er betont , er habe „zu viel Grauen und Eckel , scheu und forcht vor die krankheiten , und zu viel liebe zu meiner Gesundheit als dass ich mich mit hurren herum balgen könnte“. ( Mozart , Wolfgang Amadeus : Brief an Leopold Mozart vom 22. Dezember 1781 , in : Ders.: Briefe , hrsg. von Stefan Kunze , Stuttgart 2005 , S. 274 ) 423 Vgl. Köppen , Ludwig : Mozarts Tod. Ein Rätsel wird gelöst , Köln 2004 , S. 82 ff. und S. 188 ff. 424 Niemetschek , Franz Xaver : Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart nach Originalquellen beschrieben , Prag 1798 , S. 34

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nicht nur Klavierunterricht gegeben hatte  ? Eine Eifersuchtstat scheint denkbar. Magdalena Hofdemel verweigerte zeitlebens jede Aussage zu diesen Ereignissen.425 Aber ein Giftmord durch Franz Hofdemel ist wohl auszuschließen , auch wenn Mozart geradezu besessen von der Idee war , man habe ihm „Aqua toffana“, das berühmteste Gift des 18. Jahrhunderts , gegeben.426 „Aqua toffana“ war zu dieser Zeit zumindest verbal in aller Munde und für manchen wohl mehr als nur eine virtuelle Bedrohung. So bekam etwa Geheimrat Christian Gottlob von Voigt , Kollege Goethes in Weimar , aufgrund seiner Ermittlungen in Illuminatenkreisen 1792 den folgenden Drohbrief : „Hüten Sie sich für Aqua Tofana [ … ] Zu Erfurth finden Sie unsre Brüder , wenn Sie Lust zu einem Versuche der Art haben.“427 Derartige Bedrohungen durch Giftterrorismus wurden von der Wiener Gesellschaft nicht kolportiert , nur das Berliner Musikalische Wochenblatt vom 31. Dezember 1791 kokettierte mit der Giftmordtheorie : „Weil sein Körper nach dem Tode schwoll , glaubt man gar , dass er vergiftet worden.“428 Aber noch einmal zurück zum Thema Messer , nur nicht mehr dem Hofdemelschen , sondern zu Ockhams Rasiermesser , nach dem immer den einfachsten und passendsten Erklärungen eines Phänomens der Vorzug gegeben werden und alle komplexen Erklärungsversuche wie mit dem Rasiermesser weggeschnitten und ausgeschlossen werden sollen. Mit dieser Herangehensweise bleibt als Erklärung für Mozarts Tod am ehesten eine Streptokokkeninfektion429 übrig , vor allem angesichts seines so schnellen Ablebens. Eine Übertragung dieses Bakterientyps könnte in Mozarts Fall etwa durch verseuchtes Trinkwasser erfolgt sein. Für Wien ist in den Jahren 1791 / 92 sogar ein epidemisches Auftreten von Streptokokkeninfektionen belegt.430 Mozarts Immunsystem war wahr425 Vgl. Carr , Francis : Mozart und Constanze , Stuttgart 1986 , S. 206–218 426 Novello ,Vincent / Novello , Mary : A Mozart Pilgrimage : The Travel Diaries Of Vincent & Mary Novello in the Year 1829 , hrsg. von Nerina Medici und Rosemary Hughes , London 1955 , S. 127 427 Zitiert nach Wilson , W. Daniel : Goethes Weimar und die Französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre , Köln , Weimar , Wien 2004 , S. 156 428 Aus dem Musikalischen Wochenblatt , Berlin 31. Dezember 1791 : Nachrichten in Briefen , abgedruckt in : Deutsch , Otto Erich ( Hg. ): Mozart. Die Dokumente seines Lebens , Kassel u. a. 1961 , S. 380 429 Vgl. Zegers , Richard H. C. / Weigl , Andreas / Steptoe , Andrew : The Death of Wolfgang Amadeus Mozart : An Epidemiologic Perspective , in : Annals of Internal Medicine 151 ( 2009 ), S. 274–278 430 Ebd.

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scheinlich durch die Anstrengungen der vergangenen Monate geschwächt gewesen , folglich könnte sich eine durch Streptokokken ausgelöste Angina zu einem rheumatischen Fieber ausgeweitet und schließlich zu einem multiplen Organversagen geführt haben. Sicherlich hat nicht das „furchtbarerhabene Requiem“431 seinen Tod ausgelöst , wenngleich es Mozart dazu brachte , sich über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinaus mit Arbeit zu belasten und so vielleicht , wie auch sein Namensvetter Chrysostomos , einen Erschöpfungstod zu sterben. Vielleicht war es weniger die Mozart vielfach unterstellte Todessehnsucht als vielmehr seine Affinität zum Leben und der Drang , nichts von diesem Leben auszulassen , sei es nun ein Kompositionsauftrag oder ein Fest ; vielleicht ist der Wunsch nach zu viel Leben aber auch wie eine Sehnsucht nach dem Tod. Einem solch intensiven Leben ist es in jedem Fall nur angemessen , dass das Requiem432 zwei Uraufführungen erlebte , die erste zugunsten der Witwe Mozarts am 2. Januar 1793 ( es brachte ihr vermutlich an die 300 Golddukaten , also rund 27. 000 Euro , ein , auch an König Friedrich Wilhelm II. von Preußen wurde eine Kopie für umgerechnet 9. 000 Euro verkauft433 ), die zweite am 14. Dezember 1793 durch den Grafen Franz von Walsegg ( 1763–1827 ). Walsegg hatte das Requiem für seine mit 21 Jahren verstorbene Frau bei Mozart bestellt und ließ es nun zum Gedenken an sie tatsächlich unter seinem Namen aufführen.

431 Niemetschek , Franz Xaver : Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart nach Originalquellen beschrieben , Prag 1798 , S. 32 432 Dem heutigen Hörer sei insbesondere die Aufnahme von Nikolaus Harnoncourt mit dem Concentus Musicus Wien und dem Arnold Schönberg Chor aus dem Jahr 2003 empfohlen , die zu Recht als Referenzaufnahme gilt ( deutsche harmonia mundi ). Fern von der historischen Aufführungspraxis , aber nicht weniger dramatisch ist Herbert von Karajans Einspielung aus dem Jahr 1986 mit den Wiener Philharmonikern und dem Wiener Singverein ( Deutsche Grammophon ). Eine etwas andere Aufnahme bietet Helmuth Rilling mit der Gächinger Kantorei Stuttgart ( Hänssler ; 1997 ). Hier wird nicht die von Süßmayr fertiggestellte Partitur zugrunde gelegt , sondern eine von dem amerikanischen Musikwissenschaftler Robert D. Levin rekonstruierte Fassung. Dabei wurde auch das Fragment einer von Mozart stammenden „Amen“–Fuge ausgearbeitet. Levins Versuch , das Requiem nach Mozarts „Vorstellungen“ zu rekonstruieren , ist übrigens keine singuläre Erscheinung , es existieren noch weitere Neufassungen des Requiems. 433 Vgl. hierzu insbesondere Wolff , Christoph : Mozarts Requiem. Geschichte – Musik – Dokumente – Partitur des Fragments , München , Kassel 1991 , S. 10 f. und S. 116 f. m.w.N.

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7 Erhabenes unter den Perücken 7.1 Und die Moral von der Geschichte: Die Philosophien der Komponisten Hinter den vier vorgeführten Komponisten stecken sowohl sehr ähnliche wie auch sehr unterschiedliche Konstrukte der abendländischen Philosophie. Händel war als erhaben gefeiert worden , da er ausgerechnet im Erfindungsland der Erhabenheit so komponierte , wie sich die Engländer erhabene Bewusstseinsüberforderung vorstellten. Nämlich so prachtvoll und gewaltig wie die Person Händel selbst , gewitzt und kämpferisch. Eben wie jemand , der im Vollbesitz seiner geistigen , aber nicht mehr seiner körperlichen Kräfte mit zittriger Schrift Popes „Whatever IS , is RIGHT“434 in seine Noten notiert. Händel stellte sich bei aller persönlichen Streitbarkeit stoisch den Dingen , war ein Vorreiter karitativer Live-Aid-Konzerte und genoss sein Leben. Währenddessen kämpfte Bach auf dem Festland um Reputation und Einkommen. Aber er ist derjenige , den die Gegenwart , die Erhabenheit als wichtigsten Begriff ihrer Ästhetik tituliert , am häufigsten erhaben nennt. Bachs Werke sind anspruchsvoll bis hin zu Rekordwerten an Virtuosität. Seine kontrapunktischen Stücke spiegeln eine Mischung von mathematischen Strukturen und kämpferischer Religiosität wider , wie es sie vor und nach ihm nicht gab. Ein Kosmos der göttlichen Schöpfung , aber nicht wie der psychologische Kosmos eines romantischen oder modernen Künstlers. Bach hatte so viel Abstand zur eigenen Person wie Telemann zur Musik , der seine Arbeit zwar erst genommen , aber nicht für das Wichtigste der Welt gehalten hatte. Wann hätte er sonst Tulpen pflanzen sollen. Noch größer war Telemanns Abstand zur akademischen Philosophie , die er zu einer sokratischen Vorgabe für eine lustige Philosophenoper umfunktionalisierte. Doch dafür hat die erhabenheitsgeprägte Welt danach ihn abgestraft und hat , wie eine von Händels „sublime pauses“, Telemann-Rezeption in einen Moment der musikhistorischen Stille verwandelt , ungeachtet aller „Postmodernität“ Telemanns. Aber Telemann entwickelte seine modernen Ansätze nur vor der Erfindung der Postmoderne , also 250 Jahre zu früh , um auch nach seinem Tod auf dem Festland so gefeiert zu werden , wie Händel in England oder 434 Pope , Alexander : Essay on Man , London , New Haven 1958 , I. , S. 294

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Erhabenes unter den Perücken

Bach in der Gegenwart. Diese Ehre kam dafür dann aber Mozart zu , der alle musikalischen und philosophischen Vorgaben Händels , Bachs und Telemanns rezipierte und so zu seinen Gunsten funktionalisierte , sodass ab ihm nicht nur eine neue Musikepoche , sondern die moderne Zeit begann und er schon , im Gegensatz zu den vorab genannten Kollegen , nicht mehr unter der Perücke , die damals schon zum Schimpfwort für Rückständige verkommen war , sondern mit weiß gepudertem Eigenhaar komponierte. Würde man in diesen vier Biographien und der Philosophie dahinter Trost oder Lehre suchen , dann wäre es bei Händel die Art , wie er aus Missständen des Lebens Gewinnbringendes machte , so wie später Nietzsche dazu raten sollte , Missstände so zu nehmen , als ob sie gewünscht und vielmehr noch schön seien. Whatever is , is right. Das gilt aber nur für Kämpfer , und in Händels Fall für stilvolle Kämpfer mit Sinn für Lebenskunst. Leider sind aber nicht allen Menschen die finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten zum Genuss von Kulinarischem und anderer Lebenskunst gegeben. Denen hilft Bachs Glaube an eherne Gesetze der Welt , daran , dass es eine Schönheit in den Abläufen und in den irdischen Strukturen gibt , die das übersteigt , was die Vernunft der Wissenschaften und die Macht der Mächtigen vorgibt – und dass es etwas Schönes gibt , das dementsprechend nicht nur den Oberen der Hackordnung offensteht , sondern nur den Wissenden und Begnadeten , so wie die Gnade Gottes den Lutheranern oder die Fähigkeit zum Schachspielen den Russen. Telemann kannte die Philosophie seiner Zeit , und seine Philosophie bestand im Abstand zur Philosophie. Das war seinem beruflichen Erfolg lange Zeit so nützlich wie die korrekte Umsetzung philosophischer Vorgaben am Ende seines Lebens unnütz war , als die Welt für Dinge wie die Donnerode noch nicht bereit war. Und noch mehr zeigt Mozart , wie sehr sich ein Könner wie er über die Philosophie erheben und was dann unter Umständen passieren kann.

7.2 Philosophie hinter Komponisten: Der lange Weg der Erhabenheit, Teil I Diese vier Komponisten wurden ausgewählt , weil die Erhabenheit heutzutage die Ästhetiktheorie regiert und diese vier damals wie heute als besonders erhaben galten : Händel im Zeichen von opulenter Pracht , Bach im Zeichen mathematischer Religiosität , Telemann 134

Der lange Weg der Erhabenheit, Teil I

im Namen opportunistischer Schaffensgewalt genauso wie der unerkannten Vorwegnahme späterer Darstellungsart , und Mozart wurde zum Sinnbild des erhabenen Genies. Alle vier erfüllten verschiedene formale Anforderungen an das , was jeweils einzelne Philosophen ihrer und später auch unserer Zeit als erhaben definier( t )en. Sie sind die derzeit meistgespielten Komponisten ihrer Zeit , und ihre Werke haben Konjunktur. Um diesen Barock-Boom als eine Gegenreaktion auf bestehende Kulturparameter zu verstehen , ist es notwendig , die Erhabenheit des 18. Jhdts. und ihre Entwicklung zum ästhetiktheoretischen Leitbild der Gegenwart zu betrachten : Erhabenheit war , wenn es um Musik ging , im 18. Jhdt. kultivierte Selbstüberforderung , wie der Genuss eines Schillerdramas im Theater. Schillers Dramen zeigen stellvertretend für alle Kunstdisziplinen , wie sich Kants Leitbild der Erhabenheit als Vergegenwärtigung von Würde und Größe weiterentwickelte. Sie sind voller tragischer Todeskandidaten , und alle sind sie so erhaben , wie Kant es gewollt hätte : Obwohl übergroßen Mächten ausgeliefert , ist ihr Idealismus nicht unterzukriegen , auch nicht im Tode. Diese Grundhaltung nennt Schiller eine „schöne Seele“. Und wenn man seine Schriften genau liest , steht da : Die schöne Seele hat das Zeug zum Allererhabensten , nämlich dem Sieg über den stärksten aller Triebe , den Selbsterhaltungstrieb. In einer Schule der heutigen Zeit wäre eine solche These ein Fall für den Schulpsychologen , und auch Kant hätte eine solche Konsultation gutgeheißen. Aber an der Grenze des 18. Jhdts. sind solche Erhabenheitsthesen so sehr gefragt , wie die Künstlerportraits zunehmend düster werden , wie zum Beispiel beim stets grimmigen Beethoven oder dem für sein frühes Sterben gelobten Schubert. Auch die Bildende Kunst illustriert die Erhabenheits-Beispiele der Philosophen : Nicht nur tosende Wogen , sondern gerne auch hohe Berge , auch deswegen , weil den Alpen zunehmend bessere Wegerschließung zuteilwird ; Berge haben auch den Vorteil , dass sie der Allgemeinheit so zugänglich sind wie zum Beispiel die neu entstehenden Restaurants , die es allen Menschen ermöglichen , mit genügend Geld so zu speisen wie vormals die Könige. Ähnlich öffentlich wird die Musik , und über dieses schwer erarbeitete neue Kulturgut freuen sich die Bürger des 19. Jhdts. so sehr , dass sie nicht länger , wie im 18. Jhdt. während der Musik konversieren und schwätzen. Die Alpen werden aufgrund zunehmend besserer Wegerschließung immer mehr zum Urlaubsziel , das auch Nichtadeligen den Genuss von Landschaft erlaubt , wo vorher Adelige ihren Park hatten. Adelig ist 135

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jetzt sowieso nur noch , wer von Geistes Adel , also erhaben ist. Oder so kultiviert ist , dass er die neu entstehenden Restaurants zu schätzen weiß. Musikalische Darbietungen waren schon seit Telemann gegen Eintritt zugänglich. In den neuen Symphonien wird nicht mehr länger wie vorher ständig dazwischengeredet wie im Sportstadion. Die neue Kontemplativität wird zur Suche nach einer Art romantischem Supergefühl oder modernem , selbstreflexivem Super-Selbstkonzept für stolze Individualisten , so wie sie hundert Jahre vorher als geisteskrank gegolten hätten , auch eingedenk des typisch romantisch-sehnsuchtsvollen Wunsches nach unbegrenzter Dauer dieses ästhetischen Erlebens. Denn ein solcher Wunsch hätte im Barock als weltfremd und krankhaft melancholisch ( und auch in späteren Zeiten aus psychologischer Sicht als bedenklich ) gegolten , als das Aushalten eines ästhetischen Extremzustandes normalerweise zeitlich begrenzt ist. Alles andere trägt den Geruch einer Psychose. Das aber wird zum neuen Leitbild. Während die Philosophen das Thema Erhabenheit nun nach und nach fallen lassen ( trotz und wegen Auflistungen von bis zu 30 Unterformen von Erhabenheit und leichten Konfusionen zwischen den Definitionen der Begriffe von Schönheit und von Erhabenheit ), versteifen sich die Künstler immer mehr auf das , was ihnen erhaben ist. Viele von ihnen haben viel Zeit dafür , denn in dieser Zeit werden durch die Industrialisierung viele Menschen arbeitslos. Es ist nicht mehr so wie früher , wie in der Antike oder im Mittelalter , wo jeder seinen Platz hatte.Vielen bleibt nur der Trost in der Gleichung : Innere Größe in Relation zu äußerer Übermacht ist gleich Grad an Erhabenheit. Die Künstler stilisieren sich zu lichthell-erhabenen Kämpfertypen in einer tumben Umwelt , wohl wissend , dass sie unterliegen werden , aber sie leben diese Suche bis zur Selbstaufgabe und ergötzen sich nicht mehr wie im 18. Jhdt. an Musik , sondern jenseits von Harfenklängen und dem Heilklima der Bergluft am sozialen Bodensatz der Gescheiterten. Inklusive dem eigenen Scheitern als Bestätigung der eigenen Erhabenheit , denn nur Genies sind so erhaben , dass sie verkannt werden. Auch Jesus wurde Zeit seines Lebens verkannt – sagte kein Geringerer als Van Gogh und setzte das Gerücht in Umlauf , dass er nie auch nur ein einziges Bild verkauft hätte. Aber das ist so gelogen , wie auch die antiken Erfinder der Erhabenheit erfolglosen Künstler eine glatte Themaverfehlung vorgeworfen hätten.

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Der lange Weg der Erhabenheit, Teil II

7.3 Der lange Weg der Erhabenheit, Teil II: Von 1900 bis heute War die Welt im 19. Jhdt. schon so voller Neuerungen und Alltagsüberforderungen , so ist das kein Vergleich zu dem , was dann kam. Der Erste Weltkrieg war grausam wie kein Krieg vorher und niemand hätte glauben können , dass da noch Schlimmeres in Form eines Zweiten Weltkrieges nachfolgen würde. Und nach diesem lag die Welt in Trümmern und war tatsächlich so überfordert , dass die zeitgenössische gehobene Musik so klang , als ob der Krieg nie aufgehört hätte. Denn wer wollte nach Auschwitz noch Kunst genießen , oder , um es mit Adorno zu sagen , ein Gedicht schreiben. Die Unterhaltungsmusik dieser Zeit kam manchem so vor wie die gute Laune eines manisch Depressiven , manch andere aber waren einfach nur froh um ein einfaches Lied beim Arbeiten. Die Philosophen verloren kein Wort mehr über hochtrabende Ideen von Erhabenheit oder darüber , dass Kant Kriege als erhaben bezeichnet hatte. Aber kaum waren die gröbsten Schäden behoben , aktualisierte Lyotard Kant , so wie im 18. Jhdt. Boileau den Longinus. Lyotard übernimmt nicht nur Kants Lust am Leiden , sondern von jemand anderen eine bestimmte Formulierung , die Formulierung des „Anderen“. Diese Formel war verschiedentlich schon in der Philosophiegeschichte gesichtet worden , aber noch nie so wie bei dem jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas ( 1906–1995 ) . Der hatte fast seine ganze Familie im Konzentrationslager verloren. Die Gräuel waren ihm noch so präsent , wie Bach die Geschichten aus dem 30-jährigen Krieg vom Hörensagen kannte. Aber trotzdem definierte er die unbedingte Hinwendung zu „anderen“ Menschen als „das Andere“ schlichtweg und als Erhabenes. Lyotard mischte nun Kant mit Lévinas , drosselte dessen Mitmenschlichkeitsforderung auf fast null und heraus kam : Erhaben ist alles , was so anders ist , dass es in gar keine funktionalisierende Denkschublade mehr passt , vergleichbar mit dem Zwischenraum zwischen zwei Bildern. Damit glitt alle Erhabenheitstheorie ins Visuelle , und von Musik ist lange Zeit keine Rede mehr , nur von der Suche nach dem „anderem“, das der typische Postmoderne sucht , der alles Tradierte ablehnt , weil es sich nicht bewährt hat. Aber auch den neuen Welterklärungen will Lyotard nicht so recht trauen.435 Außer der eigenen 435 Vgl. Voigt , Stefanie : Erhabenheit. Über ein großes Gefühl und seine Opfer , Würzburg 2011 , S. 129 ff.

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Erhabenes unter den Perücken

natürlich. Und die schien genau das zu sein , was der Zeitgeist wollte , weil noch dazu seitens der Künstler die These aufkam , dass eigentlich jeder Mensch im Grunde seines Herzens ein Künstler wäre. Das fanden viele sehr verlockend und freundeten sich mit der zeitgenössischen Kunst an , in der man sich ein wenig überforderte , so viel , dass man es noch genießen konnte , aber doch so wenig , dass man sich beim Genießen nicht erwischen lassen würde. Auch das Thema Erhabenheit wurde ab nun wieder salonfähig und trat , von der öffentlichen Meinung relativ unbeachtet , einen Siegeszug durch die akademischen Disziplinen an. Die Ergebnisse sind vielfältig : Es gibt Betriebswirtschaftler , die im Einbrechen der Finanzmärkte eine unberechenbare Erhabenheit diagnostiziert haben. Theologen definieren Gott als das Erhabene , weil er bzw. es so „anders“ ist. Chaosforscher fanden Erhabenheit in Fraktalen , weil die sich so unüberschaubar oft in sich wiederholen , wie auch die Sterne bei Kants Sternenhimmel unüberschaubar viele sind.436 Neben bereits genannten Thesen zu 9 /11 analysieren Literaturwissenschaftler die Verwendung von Erhabenheitsformeln anhand von Bushs „Patriot missile speech“ aus dem Ersten Golfkrieg genauso wie die Anleitungsschreiben der islamistischen Attentäter von 9 /11 und der angeblichen Erhabenheit ihres Gottes oder die Erhabenheit im Selbstverständnis von Autoren wie Kleist. Der zelebrierte erhabene Selbstüberwindung ähnlich wie der Dichter Thomas Chatterton ( 1752–1770 ), der den erhabenen Suizid lobte und dann , vermutlich versehentlich , an einer Syphilis-Eigentherapie durch Arsen starb.437 Heinrich von Kleist , Prototyp des unverstandenen Künstlers und großer Verteiler von Erhabenheitstopoi in seinen Werken , hatte bei bester Laune zusammen mit seiner todkranken Freundin gefrühstückt und dann sie beide beim anschließenden Spaziergang erschossen , wenn er nicht vielleicht eher am Pistolenrauch erstickte. Doch auch das wäre ein erhabenheits-lehrplanträchtiges , weil stolzes Scheitern beim vermeintlich ehrenvollen Freitod ( so wie bei einem Kamikaze-Flieger oder anderen , ebenfalls als erhaben titulierten , Selbsttötungen aus dem asiatischen Kulturkreis ).438 In der Kunst wurden vermeintlich erhabene Regelverstöße 436 Vgl. hierzu Hoffmann , Roald / Whyte , Iain Boyd ( Hgg. ): Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst. Über Vernunft und Einbildungskraft , Berlin 2010 437 Vgl. Heizmann , Jürgen : Chatterton oder die Fälschung der Welt , Heidelberg 2009 438 Vgl. Morris , Ivan : Samurai oder von der Würde des Scheiterns , Frankfurt am Main 1999 , S. 30 ff. und S. 335 ff.

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Der lange Weg der Erhabenheit, Teil II

zur Regel , sodass die Ratten , die im Barock noch ungebetene und ungeliebte Mithörer der Konzerte waren , nun als szenische Mittel in Pappmache auf die Bayreuther Bühne getragen werden oder Barockopern in der Bayerischen Staatsoper zu „quietschbunten Comic-Versionen von Händels barocken Singspielen“439 werden. Ebendort wurde 2007 mit Reinhard Keisers ( 1674–1739 ) „Fredegunda“ eine denkwürdige Fassung inszeniert : „So was wie am benachbarten Prinzregententheater gab’s aber noch nie : Gepoppt wird in Tilmann Knabes Neuinszenierung von Reinhard Keisers Intrigantenmusikantenstadel „Fredegunda“ aus dem Jahr 1715 jedenfalls ausgiebig. [ … ] Für den ersten ( gespielten ) Geschlechtsverkehr auf offener Bühne spenden einige Zuschauer vor der Pause noch ironisch Szenenapplaus. Im zweiten Akt aber gehen die Gesangsstudenten der Theaterakademie richtig zur Sache : Frankenkönig Chilperich ( Tomi Wendt ) hat seine Mätresse Fredegunda ( Dora Pavliková ) inzwischen geschwängert und reißt der werdenden Mutter in einer Racheszene die Strumpfhose von den Beinen. Um sie dann von hinten zu nehmen [ … ] Ein angedeuteter Blowjob sowie ein weiterer flüchtiger GV runden die wilde Akademistenparty szenisch ab. Erboste Buhs für den errötenden Regisseur nach dem Schlussakkord , großer Applaus für die Sänger … [ denn ] Sexszenen mit Gesang zählen zu den schwierigeren Übungen des Metiers.“440 Die dazugehörige Argumentation der Ästhetiktheorie lautet : Alles was überwältigend abstoßend ist , ist zumindest überwältigend , also erhaben. Und alles , was abstoßend ist , beweist nämlich , dass es eigentlich toll ist , so wie das übelkeitserregende Schlachten eines Opfertiers , dem der eigentlich erwünschte Verzehr folgt. Guten Appetit. Was hätten sich Händel und Bach gewundert , Telemann vielleicht auch , aber Mozart vielleicht schon nicht ganz so sehr … Nur Gottsched ( 1700–1766 ) hätte sich bestätigt gefühlt , denn für diesen war „die Opera [ … ] eine Beförderung der Wollust , und Verderberinn guter Sitten. Die zärtlichsten Töne , die geilesten Poesien , und die unzüchtigsten Bewegungen der Opernhelden und ihrer verliebten Götinnen bezaubern die unvorsichtigen Gemüther und flößen ihnen ein Gift ein , welches ohnedem von sich selbst schon Reizungen genug hat.“441 439 Vgl. Dolak , Gregor : Sex , Intrigen und Barock’n’ Roll , in Focus vom 9. 02.  2007 , online unter : http://www.focus.de/kultur/kunst/theater_aid_124315.html ( 30. 07. 2010 ) 440 Ebd. 441 Gottsched , Johann Christoph : Ausgewählte Werke , Berlin , New York 1973 , Bd. 6 / 2 , S. 368

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7.4 Probleme und Entwicklungen: Die Register der Erhabenheit im Vergleich Wenn es nicht gerade um das selbstzerstörerische Potenzial Mozarts geht , klafft ein großer Unterschied zwischen der Erhabenheit der vorgestellten Komponisten und der Erhabenheit der modernen Ästhetiktheorie. Zwar ist es ( derzeit ) eine Binsenweisheit , dass Künstler mit ihrer Kunst ( mehr oder weniger ) provozieren müssen , um zeitgemäß und öffentlichkeitswirksam agieren zu können , zwar ist die moderne Erhabenheit von daher notwendig , und noch dazu über mehr als 20. Jahre historisch gewachsen , aber das so entstandene Gemisch aus Psychoanalyse , Überästhetisierung und Übersteuerung ist eine ähnliche Tatsachen-Invertierung wie die Definition von Erhabenheit seit ihren Anfängen im Vergleich zu ihrer jetzigen Form. Die Schlussfolgerung „Erhabenes überfordert , Schreckliches überfordert auch , also ist Schreckliches erhaben“ ist so teilzeitlogisch und typisch schizophren wie der überpauschalisierende Schluss : „Chopin hatte Husten , ich auch , darum bin ich ein Pianist“. War Erhabenheit vormals Ausdruck von Würde , Pracht und moralischer Überlegenheit , wurde moderne Erhabenheit zum Aushalten von Überforderung und einem Lustempfinden , das ans Göttliche grenzt – zumindest , was die psychologische Intensität dieses Gefühls angeht. Dass kognitive Überforderung zu rauschähnlichen Erfahrungen führen kann , ist auch von schamanistischen Initiationsriten bekannt , bei denen die Initianten Schmerzen bis über die Schmerzgrenzen hinweg ausgesetzt werden ( ohne zum Beispiel Wagner-Opern dergestalt mit solchen Riten vergleichen zu wollen ). Aber ein weiteres Problem ist , dass es einen großen Unterschied macht , in welchem Umfeld eine kognitive Überforderung zelebriert wird , ob man für diesen Zustand ein Konzept hat oder die Sache eher so angeht wie eine medizinisch grundgelegte Überforderung beim Komatrinken. Und das verweist aus religionswissenschaftlicher Sicht darauf , dass diese neue Erhabenheit einer schleichenden Entwicklung weg von der Religion entspricht. In der Antike wurden erhabene Gefühle noch auf das Göttliche zurückgeführt. Noch zu Beginn des 18. Jhdts. gab es ein so geordnetes Weltverständnis , aber man hatte nun begonnen , Gott Stück für Stück von den Wissenschaften zu trennen , wenn nicht gar ganz abzuschaffen. Dann wurden erhebende Gefühle nicht mehr in erster Linie mit Gott , sondern immer mehr mit der Arbeitsweise der menschlichen Psyche begründet. Diese Umbesetzung von Gott auf Mensch samt einer Kultur erhabener Schockeffekte war 140

Die Register der Erhabenheit

aber heikel. Sie fiel zuerst noch nicht allzu negativ auf und wirkte eher wie eine Spielerei mit Morbidem. Und weil die Menschen durch den Wegfall einer Option auf ein Leben nach dem Tod und den Himmel viel mehr Angst vor dem Tod als vorher hatten , war das Sterben aus den heimischen vier Wänden und in die Krankenhäuser verbannt worden , und nun kam das Thema Tod durch die Hintertür der Kunst wieder herein. Denn als im frühen 20. Jhdt. die Anzahl der Nennungen von Erhabenheit in Literatur und Kunst auf einmal in die Höhe schnellte , spielte die Kultur nicht nur mehr mit Sujets , sondern sie wurde wirklich brutal. Die früher noch einigermaßen beruhigende Arbeitsteilung zwischen majestätisch abstrafendem Gott und erhaben – auf der Bühne nur symbolisch – leidendem menschlichen Opfer brach zusammen , und aus dem barocken Erhabenheitsmotiv der künstlichen Ruine , aus Brockes bethlehemitischem Kindermord oder aus der Donnerode waren die Erhabenheit des realen Schützengrabens , Ernst Jüngers Kriegsprosa und der Klang der 12-Tonmusik geworden. Und die Barockmusik Musik aus einer völlig anderem Zeit … Die Menschen waren nun endgültig modern , und damit auch ihre Art , erhebende Gefühle zu erleben : Waren vorher , in den vormodernen Zeiten , die Menschen noch eher dazu geneigt , sich ab und zu Ekstasen hinzugeben , gingen die modernen Menschen dazu über , intensivere ästhetische Gefühle verinnerlichter zu erleben. Das glich den Erklärungsnotstand für große Gefühle ob fehlender göttlicher Sphären insofern aus , als stille Ekstasen viel besser mit dem modernen Leben vereinbar waren als die alten Formen – wie das Internet im Vergleich zur Zeitung. Leider gingen damit auch bisherige Standards an freiwilliger Selbstkontrolle verloren , weil die gesellschaftliche Kontrolle nicht mehr wie im 18. Jhdt. in der Hand der Gesellschaft lag , sondern nunmehr an den Einzelnen hing , was zur Folge hatte , dass nicht wenige Menschen sich ihre Lüste auch anhand unethischer Sujets erarbeiteten – sei es aufgrund von realem psychischen Druck oder aufgrund von Langeweile. Mit Ethik oder Empathiefähigkeit hat das ab einem bestimmten Punkt so viel zu tun wie Kants Kategorischer Imperativ mit dem TV-Angebot an einem Samstagabend. Aber auch schon Casanova überliefert uns , dass Hinrichtungen im 18. Jhdt. von Zuschauern durchaus als Lust steigerndes Rahmenprogramm empfunden wurden.442 Die im 18. Jhdt. vollzogenen Trennungen zwischen Ethik und Ästhetik und zwischen Schön442 Vgl. Casanova , Giacomo : Die Geschichte meines Lebens , 12 Bde. , Berlin 1965 , Bd. 5 , S. 82 f.

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heit und Erhabenheit waren und sind Steilvorlagen für schwache Gemüter , die die Umbesetzung von Gott auf Mensch so interpretieren , dass sie sich nun gebärden könnten wie Gott persönlich – oder Luzifer. Die Zahl solcher Menschen nimmt statistisch gesehen derzeit leider zu. Sollte das an der modernen Theorie der Erhabenheit und daran liegen , dass die Praxis dieser Ästhetiktheorie , die Kunst , ihre Wirkung auch dann tut , wenn die philosophischen Erkenntnisse dahinter eher unbekannt sind – so wie man im 18. Jhdt. davon ausging , dass Affekte auch in Unkenntnis der pythagoreischen Proportionsregeln durch musikalische Intervalle beeinflusst würden ? Wie wirkt dann eine Fuge oder ein Buch über dieses Thema ?

7.5 Warum Barock: Das barocke Gegengewicht Es wäre dumm , alles Böse der Welt der modernen Erhabenheitstheorie in die Schuhe zu schieben , so verlockend dieser Gedanke auch sein mag. Das Gefühl von erhebendem Erhabenen ist eine Grundkonstante der menschlichen Psyche , nach der sie zu jeder Zeit so stetig strebt wie ein Kind nach Süßem , ein Erwachsener nach Glück oder ein Gläubiger nach Gotteserfahrung. Lyotard sagte , dass die Fragen nach dem Erhabenen , dem anderen und dem Undarstellbaren in seinen Augen die einzigen Fragen seien , die im kommenden Jahrhundert den Einsatz von Leben und Denken lohnen würden. Das kommende Jahrhundert ist jetzt da und mit ihm die guten und die schlechten Aspekte der Erhabenheit. Auf der einen Seite führt jeder Blick in eine Zeitung , ein Fernsehprogramm oder ein Buchprospekt ein Panoptikum an Amok , Zombies und „Anderem“ vor , und die Umgangsformen und unfreundlichen Gesichter auf der Straße zeigen , wie lebendig manche Erhabenheitskonzepte sind. Aber andererseits ereilt jeden Menschen einmal ein überfordernder Moment im Leben , in dem nichts bleibt als der Halt an intensiver Selbstwahrnehmung , egal ob in Form exzessiven Kohlehydratkonsums , der einsamen Sehnsucht nach trauter Zweisamkeit oder in Form eines Gebet. Was die derzeit meistgefragte Erhabenheit in Form der Beschäftigung mit Mord und Totschlag angeht , so mutet die zwar suizidal und eigenartig an , ist aber aus verschiedenerlei Sicht eigentlich nur konsequent. In der Ikonographie der Poetik klingt nichts schöner als der Schwanengesang derjenigen Schwäne , die dann in direkter Folge des Singens ihr Leben aushauchen wer142

Das barocke Gegengewicht

den. Aus der Vorstellung des Todes Kraft zu tanken ist auch psychologisch nachvollziehbar , relativiert der Tod doch alle Probleme des Alltags , so wie es schon nicht wenige Menschen gegeben haben soll , die erst im Alter und somit auf der Schwelle des Todes eine gewisse Gelassenheit entwickelt haben sollen , die sie vorher nicht gekannt hatten. Sich deswegen schon vorab in jungen Jahren den Tod massiv vor Augen zu halten , ist in solchem Ausmaß so gesund wie eine Prise Unkrautvernichter zum Frühstücksmüsli. Trotzdem und vielleicht auch deswegen hat Musil behauptet , dass das Erhabene eine Art Todesritual sei , das gegen verkrustete gesellschaftliche Strukturen revoltiert , im Kern also ein irrationaler Liebesversuch bzw. ein Versuch sei , der Anonymität mit einem persönlichen Gefühl des Auserwähltseins zu begegnen.443 Notfalls eben mit der Assoziation des eigenen Todes. Der ist absolut und absolut persönlich , vor allem der eigene. Musil nennt dieses Bewusstsein und diese selbstinduzierte Überforderung eine „taghelle Mystik“444 , also einen Geisteszustand , der die Menschheit zu allen Zeiten lockt und in Krisenzeiten vielleicht sogar etwas Gutes bewirken kann , solange damit kein Amoklauf , sondern tendenziell „nur“ eine Aktivierung der Selbsterhaltungskräfte durch Kants „negative Lust“, also seine Art der Erhabenheit gemeint ist. Trotzdem ist dieses Leitbild der Kultur so anders als zur Zeit von Händel , Bach , Telemann und Mozart , wie die Nullen und Einsen in einem digitalen System verschieden sind. Diese Stücke sind nur für diejenigen etwas erhaben Schreckenserregendes , die solche Musik partout nicht mögen. Allen anderen steht die Möglichkeit offen , darüber nachzudenken , ob der Genuss solcher Musik in einer Welt , die zumindest die mit medialen und erschreckenden Eindrücken bislang bestversorgteste aller Welten ist , möglich , ethisch vertretbar und auch stilvoll oder ob die Rückbesinnung auf diese eine Epoche nicht doch unzeitgemäß und kitschig ist. Ein Argument unter vielen wäre dabei , die Musik des 18. Jhdts. als Gegengewicht zur modernen Welt zu interpretieren , als Herüberklingen der alten Weltordnung einer Zeit , in der die Menschen zwar keine Elektrizität , aber noch Zeit hatten. Das 18. Jhdt. ist mehr als jedes andere eine Sollbruchstelle zwischen zwei verschiedenen mentalitätsgeschichtlichen Sphären  , zwischen einer alten und unserer heutigen Welt , in der die alten Er443 Vgl. hierzu Hajduk , Stefan : Die Figur des Erhabenen : Musils ästhetische Transgression der Moderne , Würzburg 2000 , S. 355 ff. und passim 444 Musil , Robert : Der Mann ohne Eigenschaften II. , Aus dem Nachlass , Reinbek bei Hamburg 2005 , S. 1089

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habenheitskonzeptionen der Komponisten Händel , Bach , Telemann und Mozart genauso sehr eine Gegenschablone wie auch einen musikalischen Grundstock modernen Denkens repräsentieren. Darum ist es kein Wunder , dass ihre Musik mehr als andere in das kollektive Gedächtnis implantiert und somit zur vielgefragten Hintergrundmusik für Kinofilme und Aufzüge wurde. Die Analyse der entsprechenden philosophischen Hintergründe legt den Verdacht nahe , dass die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nur museales Traditionsgut , sondern auch und gerade ein unabgegoltenes , vielleicht gerade heute seine spezifische Wirkung entfaltendes Erbe stellt , dessen Aktualität auf eben diesem Gegensatz beruht : Diese Musik bringt , eingebettet in die sie tragende Philosophie , zum einen noch das Klangbild einer geordneten Welt zum Nachhall , in dem sich der Glaube an eine göttliche Gerechtigkeit und natürliche Schönheit der Welt ausspricht. Zum anderen steht diese Musik bereits Pate für die moderne Selbstreflexivität und den aufklärerischen Glauben an die Vernunft , an das Gute im Menschen und die konstruktive Kraft seiner Emotionen , die ihn motivieren , aber noch nicht beherrschen. Beides ist sehr anders als die moderne Welt und ihre ästhetiktheoretische Erhabenheit , deren aufklärerischer Impetus so erschöpft ist wie die einstmalige Hoffnung auf eine harmonische Welt , in der im Zweifelsfall nur noch Selbstreflexion und Selbstüberforderungskult ein ästhetisches Fernziel sind. Vielleicht ist die Musik des 18. Jhdts. darum derzeit fast noch besser als vor zwei- , dreihundert Jahren , so wie guter Wein oder die Instrumente von damals , deren Holz aufgrund der mittlerweile langen Lagerungszeit so abgehangen und dicht geworden ist , dass viele Geigen , Harfen und Gamben nun wahrscheinlich intensiver klingen als früher ( auch des hohen Alters wegen , in diesem Fall der langen Trocknungszeit des Holzes wegen ). Man wird es vielleicht nie umfassend ergründen. Aber auch ohne umfassende Angabe von Gründen soll die Wirkung dieser Musik nachzuweisen sein , nicht nur in der Therapie von Menschen. Auch Kühe geben angeblich bei Mozarts Musik , insbesondere beim Konzert für Flöte und Harfe , bis zu 25 Prozent mehr Milch445 , so wie eine ganz bestimmte Brieftaube immer dann förmlich am Fenster klebte , wenn bei Tauben haltenden Freunden Händels ein bestimmtes Air von ihm auf dem Cembalo 445 Vgl. Makiello , Louis : The Mozart Effect , in : The Epoch Times , 17.–23. January 2012 , B4 , online unter : http://epoch-archive.com/A1/en/sg/nnn/2012/ 01%20January_2012 / Issue%20395_17_January_2012 / 395_B4.pdf ( 02. 09. 2012 )

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Ach, Bach!

intoniert wurde.446 Irgendeinen guten Grund wird es schon haben , dass zum Beispiel ein Satz des 2. Brandenburgischen Konzerts von Bach sowie Mozarts Arie der „Königin der Nacht“ auf der Voyager Golden Record sind , dem Datenträger , der 1977 per Raumsonde losgeschickt wurde , eventuell anderswo existierenden Zivilisationen von der menschlichen Kultur zu künden.

7.6 Und zu guter Letzt: Ach, Bach! Bei all diesen Genialitäten , Geheimnissen und Erhabenheiten wurde eine letzte Spielart des Erhabenen noch nicht genannt , weil sie nicht dezidiert philosophisch ist. Es handelt sich dabei um ein eher zufällig entstandenes Forschungsergebnis aus der Psychologie. In einer Untersuchung wurde getestet , ob Menschen hilfsbereit reagieren , wenn sie Aufnahmen von Katastrophenopfern im Fernsehen sehen , aber das Gegenteil war der Fall : Die Aufnahmen stimmten eher weniger hilfsbereit , es sei denn , es wurden Helfer dieser Katastrophenopfer gezeigt. Diesen Helfern wiederum wollten die Zuschauer dann ihrerseits gerne helfen und wurden spendenbereit. Beim Anblick solcher Helfer beschrieben die Zuschauer ihr Gefühl immer als erhaben , und das erinnert an eine Art des Zusammenhalts , die die Zeit Bachs noch weitaus mehr praktizierte als unsere Gegenwart , in der vor lauter Medialisierung und Institutionalisierung kein Platz mehr für soziale Interaktionen ist. Die Gegenwart sucht solchen Zusammenhalt in anderen Dingen , in kollektiven Themen oder in der Gemeinsamkeit , die bei Schrecknissen aller Art entsteht , angefangen von schrecklichen Kino-Kultfilmen bis hin zu den realen Schrecklichkeiten von Amok und Atomunfällen. Zwar ist diese Art von Erhabenheitsgefühl nur eines neben vielen anderen und entstammt noch dazu als Ergebnis einer psychologischen Untersuchung nicht dem Bereich der Kultur im Sinne von Kultur als einer rituellen Verfeinerung der Sinne. Aber genau sie führt hin zu Bach und zu einer Souveränität im Umgang mit seiner Kunst , die noch viel Platz für außerkünstlerisch-pragmatische Philosophie und für eine relativ unartikulierte Weltweisheit ließ , die es heute so nur noch selten , weil dann nur fernab von medialer Vermarktung und Selbstdarstellung 446 Vgl. Lockman , John : Some Reflexions concerning Operas , Lyric Poetry , Music & c. , in : Rosalinda , A Musical Drama , London 1740 , S. XIII

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gibt , an Orten , die der gestresste Großstadtbewohner vielleicht noch in südamerikanischen Tal-Dörfern ohne Handy-Empfang zu erhoffen wagt. Die dort verklärte oder andernorts Regel bestätigende Ausnahme eines stillen , aber mit Haltung und ethisch-sozialer Grundausrichtung gelebten Lebens galt in den letzten Jahren als überholt , wird aber derzeit angesichts sich langsam abzeichnender Systemprobleme der Postmoderne in verschiedenen Veröffentlichungen wieder als Alternative beschworen. Denn der sogenannte moderne Mensch hat zwar seine Selbstwahrnehmung gesteigert , er genießt das , und darin besteht seine größte Lust , weil er an den Freuden eines jenseitigen Lebens weitaus weniger Interesse hat als die Zeitgenossen Bachs. Aber dadurch wird zwangsweise jede Handlungs- und Hilfsbereitschaft gedämpft , denn , so die Milchmädchenrechnung , man könne nur einem Herren dienen , entweder den anderen oder dem Selbst. Der so entstehende Mangel an Empathie anderen gegenüber ist ein typisches Produkt und der Nachteil unserer Zeit – und sicherlich auch wieder ein Grund für diese Blindsichtigkeit gegenüber der barocken und speziell der Bachschen Denkweise. Beider Weltsicht und Kunst wurde nicht im Hinblick auf die Lebensweisheit gesunden Menschenverstandes , sondern vor allem in Bezug auf eine Religiosität gewertet , die historisch gesehen den modernen Wissenschaften nicht standgehalten hat , bis auf einen dorfähnlichen kleinen Staat im italienischen Latium. Glaube wirkte ab dem 18. Jhdt. auf die sogenannten modernen Vernunftdenker wie Schizophrenie. Aber gerade diese Art von Vernunft brachte dann eine ganz andere Schizophrenie in die Welt , nämlich die Spezialisierung auf je eine Seite der Gegensätze von kollektivem Glauben im Gegensatz zu individueller Selbstreflexion , von Ethik oder Ästhetik bzw. der beruflichen Spezialisierung auf die rationalen Wissenschaften oder auf die irrationale Kunst. Das Besondere an Bach ist , dass seine Musik ( auch im intertextuellen Vergleich zu seinen komponierenden Zeitgenossen ) rein formal vermittelnd zwischen vernünftigen , mathematischen Strukturen und sinnlichem Empfinden steht , und zwar nicht nur als Kompromiss , sondern potenziert erstens durch den Verweis auf eine ideale Ordnung und zweitens durch einen , auch wiederum bei Bach besonders ausgeprägten , Sinn für bildlich-allegorisches Denken. Seine Zeit vermittelte allgemein viel Alltagswissen in Form von Emblemata , also Sinnbildern mit erläuternden Sinnsprüchen , aber gerade für Bach waren solche Miniaturphilosophien wichtiger als für manch andere Komponisten , die sich eher den großen Opernformaten ver146

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schrieben hatten. Wie sehr bildliches Denken Bach eigen war , sieht man darüber hinaus an seiner ungewöhnlich schwungvollen Notenschrift , die Notenbalken nicht , wie üblich , gerade zieht , sondern der jeweiligen Melodielinie anpasst – und dass Bach die Opern aus seinem Schaffen ausnimmt , entfernt ihn von einer mentalitätsgeschichtlich bedenklichen Seite seiner Zeit , nämlich der Ästhetisierung von Krieg und einer gewissen Erhabenheit der Schlachten , die sich bis in die Kriegsbegeisterung des Ersten Weltkriegs zieht. Eine dritte Potenzierung wäre systemtheoretisch durch die moderne Art , über die bislang fast nur geschimpft wurde , insofern zu veranschlagen , als gerade diese moderne Empfindungsweise den Weg zu gerade den Bachschen Parametern ebnet. So wie ästhetisches Schönheitsempfinden dann wahrscheinlicher wird , wenn man sich dem wahrgenommenen Objekt nicht direkt , sondern kontemplativ nähert , so wie Zen-Bogenschützen ihr Ziel angeblich blind zu treffen vermögen ( was ohne Vorbildung zu hohen Kollateralschäden führt ), so wie man Igel in der Dämmerung aufgrund der Zäpfchenverteilung im Augeninneren nur dann laufen sieht , wenn man knapp an ihnen vorbei sieht ( sie sind dann zwar grau auf grau , aber zumindest entdeckt ), oder so wie man Musik nur hören , aber nicht umfassend über sie sprechen kann ( darüber mentalitätsgeschichtlich zu schreiben möge im vorliegenden Fall zugelassen sein ), so steht vielleicht diese Musik gerade den schreckensgeplagten Erhabenheitsopfern unserer Zeit offen. Mathematik , Idealität und Ästhetik sind bei Bach mehr miteinander austariert als bei anderen , und noch dazu bei allseitig hohem Niveau und bei hohem Bewusstsein alles Negativen und harter Schicksalsschläge , doch immer ausgelegt auf Positives , auf Hoffnung und auf eine Form von Sinn zwischen Sinnlichkeit und Pragmatismus. Aus der je eigenen Innensicht praktiziert das wahrscheinlich jeder , auch jeder Musiker. Aber eingedenk der derzeitig angebotenen Denkmodelle an jedweder künstlerisch oder ästhetiktheoretisch begründeten Flucht in psychotische Dauer-Emotionalität , juvenil-irrer Selbstzerstörung oder seelenfeindlicher Rationalisierung fungiert gerade Bach ( ohne seinen Kollegen den Zauber durch händelsch-filigrane Pracht , Telemanns Witz oder den charmant-mozärtlichen Überschwang in Abrede stellen zu wollen ) aus Sicht der Gegenwart am allermeisten wie ein Pendant zu den philosophischen Krankheiten der Gegenwart – mit einer homöopathischen Beimengung genau des Stoffes , von dem die Krankheit herrührt. Und darüber hinaus braucht es zum Glück „keiner Bildung und keines Wissens , 147

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sondern nur des unverbildeten Sinnes für das Wahre ; und wer von ihm ergriffen ist , kann in der Kunst nur noch das Wahre verstehen. Er wird hart und ungerecht gegen das , was nur schön ist , worin keine Kraft und Sammlung , kein großes Denken lebt [ … ] Das ist das gewalttätig Ungerechte dieser einzig großen Geister , dass sie erbarmungslos , ohne es zu ahnen , das Kleine und mittelmäßig Gute zertrümmern und nur das Große bestehen lassen. Aber das ist die Gerechtigkeit des Lebens , des erbarmungslos wahren Lebens“447 , sagt Albert Schweitzer über Bach. Diese Aktualität und Nachhaltigkeit gilt vielleicht auch deswegen besonders für Bach , weil man manches von ihm nie genau wird wissen können , und vielleicht , weil es gerade zu Bach die widersprüchlichsten Thesen gibt – aber an seiner Genialität zweifelt niemand , auch nicht Cosima Wagner ( 1837–1930 ), wenngleich das Phänomen Bach für sie nicht ganz nachvollziehbar war : „Und diese Wunder von dem armen Kerl mit der Perücke auf dem Claviercembalo , es ist unglaublich.“448 Nichts ist schöner als ein geheimnisvolles Projektionsobjekt , vor allem , wenn dieser Projektionskomponist Bach , im Vergleich zu den Komponisten Händel , Telemann und Mozart , die meisten philosophischen Werte vertont hat , die einerseits wie eine metaphysische Gegenschablone und andererseits wie eine Frühform des Genialischen wirken und noch dazu wie eine Sonderform an Erhabenheit – so als ob jemand mit klarem , und doch genießendem Denken und erhobenen Hauptes durch eine unheimliche Gegend ginge oder als ob er den Aufenthalt in einer dunklen Gefängniszelle dazu nutzen würde , ein hell erstrahlendes Präludium zu komponieren. Wie es bei Bach tatsächlich der Fall war. Gäbe es eine kognitive Mathematik , würde ein Bruch zwischen den Werten des Gegensatzpaars von alter und moderner Welt im Bezug zu dem Gegensatzpaar Empathiefähigkeit und Selbstüberforderung eine kognitive Ganzheit in den Einheiten einer umfassenden Vernunft ergeben , und damit auch für den ein oder anderen Menschen einen hohen und nachhaltigen Wert an Schönheitsempfinden. So wie das Verhältnis von zwei gegensätzlichen mathematischen Werten , also einem positiven und einem negativen Wert , im Verhältnis zum umgekehrten Verhältnis dieser Gegensätze unter dem Strich zwangsläufig den positiven Wert 1 ergibt , oder anders formuliert : Gäbe es so etwas 447 Schweitzer , Albert zitiert nach in Jacobi , Erwin R.: Albert Schweitzer und die Musik , Wiesbaden 1975 , S. 30 ff. 448 Wagner , Cosima : Die Tagebücher , 4. Bde. , München , Zürich 1982 , Bd. 4 , S. 1047

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wie die Verkörperung unserer Zeit , so wäre das wahrscheinlich ein sehr junges Wesen. Das sind meist nicht die Menschen , die viel Bach hören oder viele Bücher lesen. Doch würde die Verkörperung unserer Zeit aus Zufall Bach hören , vielleicht als Hintergrundmusik im Aufzug eines Kaufhauses , dann wäre nicht auszuschließen , dass sie für einen kleinen Augenblick Gefallen daran fände , im Geiste kurz der Linie einer Melodie nachspüren würde. Angenommen , sie wunderte sich in diesem Moment darüber , dass irgendetwas in ihr sich Zeit für den Genuss irgendeiner einfachen Harmonie nimmt , dann würde sie wohl lächeln.Vielleicht ein wenig auch über sich selbst.

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HANS-JOACHIM FRITZ

MOZARTS LA CLEMENZA DI TITO DIE GESCHICHTE EINER OPER

Die „Clemenza di Tito“ war die letzte Oper, die Wolfgang Amadeus Mozart wenige Monate vor seinem frühen Tod komponierte. Hans-Joachim Fritz analysiert das Werk in seinem aktuellen Zeitbezug vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und der historischen Ereignisse in Österreich unter Kaiser Leopold II. So öffnet er die Perspektive für die auf klärerisch-humanitären Visionen, die Mozart in seinem letzten Lebensjahr 1791 in sein Werk eingewoben hat. Der wie nie zuvor politisierte und freimaurerisch engagierte Komponist schuf mit ihr ein spätes Meisterwerk, das lange Zeit zu Unrecht nur wenig Beachtung fand. Diese erste Monographie in deutscher Sprache zur „Clemenza“ bietet eine kenntnisreiche Zusammenfassung des bisher über viele Publikationen verstreuten Wissensbestandes zum Werk und seinem Umfeld. 2013. 372 S. 16 FARB. UND S/W-ABB. GB. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-21074-8

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar