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German Pages 291 [292] Year 2017
Michaela Wiesinger Mischungsverhältnisse
Hermaea
Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller
Band 142
Michaela Wiesinger
Mischungs verhältnisse Naturphilosophisches Wissen und die Elementenlehre in der Literatur des 13. Jahrhunderts
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
ISBN 978-3-11-048659-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048660-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048696-4 ISSN 0440-7164 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt 1 1.1 1.2 1.3
Hinführende Überlegungen 1 Über die Naturphilosophie 2 Die Naturphilosophie im literarischen, volkssprachlichen Text 10 Zu Methode und Textauswahl 20
Zur Didaktischen Literatur 2 Der Welsche Gast Thomasins von Zerclaere 29 2.1 Zu Aufbau, Inhalt und Didaxe 32 2.2 Das valsche wîp 38 2.3 Das Feuer und die Liebe 45 2.4 Die unstaetekeit und deren Ursachen – kosmologische Grundlagen 49 2.5 Ober- und unterhalb des Mondes – das Modell der Sphären 2.6 Feuer, Wasser, Luft, Erde – Gegensätze und deren Anziehungskraft 71 2.7 Der Weg zu Himmel und Hölle 80 2.8 Der kalte Geiz und das Älterwerden 89 2.9 Das Feuer im Stein 92 2.10 Schlussfolgerungen 96 100 3 Der Renner Hugos von Trimberg 3.1 Einführende Beobachtungen zum Text 100 3.2 Die vier Elemente 110 3.3 Zur Kosmologie 117 3.4 Die Ordnung im Himmel und auf der Erde – Planeten und Engel 121 3.5 Der naturkundliche Exkurs im Renner 128 3.6 Schlussfolgerungen 132 Zusammenschau didaktische Literatur: Thomasin von Zerclaere und Hugo von Trimberg 135
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Inhalt
Zur Erzählenden Literatur 4 Wolfram von Eschenbach 141 4.1 Willehalm 141 4.1.1 Liebe, Pfeile und das Feuer 143 4.1.2 Vivianz und das Banner 151 4.2 Parzival 154 4.2.1 Die Weiblichkeit im Wasser – der Weg zu Condwiramurs 4.2.2 Die Weiblichkeit im Wasser – Orgelûse 160 4.3 Schlussfolgerungen 172 175 5 Reinfried von Braunschweig 5.1 Genesis und die Elemente 179 5.2 Minne als Naturgewalt 183 5.3 Von gebrochenen Herzen 190 5.4 Schlussfolgerungen 201 Zusammenschau erzählende Literatur: Wolfram von Eschenbach und Reinfried von Braunschweig
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203
Zur gelehrten Lyrik 6 Frauenlobs Leichs 209 6.1 Der Kreuzleich und die Schöpfung 214 6.1.1 Zum ersten Halbversikel 221 6.1.2 Zum zweiten Halbversikel 224 6.2 Der Minneleich und die Androgynie 227 6.3 Schlussfolgerungen 244 247 7 Schlussbetrachtungen 7.1 Funktionen naturphilosophischen Wissens in der deutschsprachigen Literatur des 13. Jahrhunderts 247 7.1.1 Wissen als Vermittlungsgegenstand 247 7.1.2 Wissen als Gottesbeweis 248 7.1.3 Wissen als handlungs- bzw. szenensteuerndes Instrument 7.1.4 Wissen im Dienste der Textpoetologie 249 7.1.5 Wissen als ›Hintergrundphänomen‹? 250 7.2 Zu den Gattungen 252 7.3 Zur zeitlichen Entwicklung 253 7.4 Schlussbemerkung 256
249
Inhalt
257 8 Bibliographie Wichtige Abkürzungen 257 Quellen 257 Forschungsliteratur 260 9
Sach- und Personenregister
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1 Hinführende Überlegungen Dass den westeuropäischen Gelehrten des 13. Jahrhunderts die Bibel als wichtigste Erkenntnisgrundlage dient, ist in Hinblick auf die damals allgegenwärtige Dominanz des christlichen Glaubens keine Überraschung. Gott ist und wirkt überall. Er steuert durch seine Gesetze die Abläufe des täglichen Lebens, beeinflusst die natürlichen Vorgänge und kann sowohl erschaffen als auch vernichten. Über das Studium der Heiligen Schrift nähert man sich Gott. Dennoch gibt es noch einen weiteren Weg der Erkenntnis, der zwar weniger gelehrt, aber als nicht minder relevant für die Erfahrbarkeit Gottes anzusehen ist: die Betrachtung der Natur, die ja vom einzigen und alleinigen Schöpfer als Repräsentationsmerkmal seiner eigenen Größe geschaffen wurde und damit genau wie die Bibel als Offenbarungsmittel fungiert. Der Relevanz dieses »Buches der Natur«1 folgend, zeigt sich eine alles umfassende symbolische Naturauffassung, die davon ausgeht, dass Gottes Wirken in jedem Ding und jedem Lebewesen, das den Menschen umgibt, sichtbar wird. Mit der Wiederentdeckung der antiken Philosophen und ihrer Erkenntnisse über die natürlichen Vorgänge beginnt jedoch ein wichtiger Lernprozess für die Gelehrten, der im Laufe der Zeit dazu führt, dass die durch Symbole aufgeladene Natur kontinuierlich ›entzaubert‹ wird. Ab dem 11. Jahrhundert lässt sich bereits eine langsame Entwicklung eines – um eine moderne Nomenklatur zu verwenden – ›wissenschaftlichen Denkens‹ feststellen, das im 13. Jahrhundert durch die Übersetzung der aristotelischen Schriften und die allmähliche Entfaltung einer europaweiten Universitätslandschaft immer wichtiger wird. Heilkunde, Diätetik, Kosmologie und das Wissen um die Entstehung der Welt werden Themen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die in weiterer Folge einen Anstieg an der Produktion gelehrter Schriften und Kommentare nach sich zieht.2 All das führt zu einer ersten Forschungsfrage: Inwieweit beeinflusst dieses Denken über die Natur, die Entwicklung neuer naturphilosophischer Erkenntnismethoden und Fragestellungen auch die volkssprachliche – genauer: die deutschsprachige – Literatur der Zeit? Wenn Literatur Auskunft über die Welt, in 1 Vgl. Nobis, Heribert M.: Buch der Natur. In: LexMA Bd. 2, Sp. 814–815. 2 Obwohl diese Entwicklung im gesamten westeuropäischen Bereich festzustellen ist, bedeutet das jedoch nicht, dass ältere Vorstellungen über die Natur und deren Eigenschaften plötzlich verschwinden. Vielmehr werden über eine lange Zeit hinweg traditionelle Vorstellungen und Wissenskomplexe um neue erweitert. Alte, mythisch beeinflusste Konzepte werden von neuen überlagert oder leben auch ohne Berührungspunkte nebeneinander her. Das bewirkt die Herausbildung einer höchst spannenden und divergenten ›Wissenslandschaft‹, die sich in im populären Wissen (Definition Siehe S. 13) und der literarischen Produktion der Zeit widerspiegelt. DOI 10.1515/9783110486605-001
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Hinführende Überlegungen
der sie entstanden ist, gibt, dann muss sie sich auch auf gelehrte Errungenschaften beziehen, sind diese doch Produkte der gleichen Kultur, des gleichen sozialen Umfeldes, das wiederum auf literarische Texte zurückwirkt. Da das gelehrte Wissen über die Natur als Untersuchungsgegenstand zu breit gefasst ist, werden in dieser Arbeit die vier Elemente – Wasser, Feuer, Erde, Luft – im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Diese eignen sich sehr gut für eine erste Analyse, da sie u. a. über Medizin, Temperamentenlehre, Astronomie/ Astrologie und Kosmologie auf viele Bereiche des spätantiken und mittelalterlichen Lebens Einfluss nehmen. Die Elemente als Grundbausteine der Schöpfung prägen auch Theologie und Philosophie und sind damit Grundbausteine des gelehrten Wissens, das gerade im Hoch- und Spätmittelalter einem steten Wandel unterlegen ist. Auf Basis dieser Überlegungen soll in weiterer Folge die Frage beantwortet werden, ob sich die (Weiter-)Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens am Beispiel der Lehre zu den vier Elementen auch innerhalb der volkssprachlichen Literatur festmachen lässt und wenn ja, wie dieses gekennzeichnet ist und welche Funktion es im Text erfüllt. Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, muss zunächst ein Blick darauf geworfen werden, wie Natur und Naturerkenntnis im Hochmittelalter gedacht und verhandelt wurden.
1.1 Über die Naturphilosophie a) Lexikalische Übersicht – zum Terminus Als scientia naturalis, philosophia oder scientia physica wurde die Naturphilosophie als eine der drei theoretischen Wissenschaften (neben Theologie und Mathematik) in der Antike durch Aristoteles bekannt, deren Inhalt die Betrachtung der sinnlich wahrnehmbaren Substanzen war. Bereits bei den Vorsokratikern war jedoch die Erforschung der natürlichen Ursachen (die sich durch die Bezeichnung philosophia naturales von der auf Sokrates aufbauenden Philosophie abgrenzen) von großer Wichtigkeit: Schon die Stoa trennte Ethik, Logik und einen natürlichen Teil der Philosophie, zu dem auch die philosophische Theologie zu zählen ist. Diese Einteilung blieb auch bei Kirchenvater Augustinus noch bestehen und beeinflusste u. a. die Arbeiten Ciceros oder Isidors von Sevilla.3 Im Mittelalter zeichnete sich ab dem 9. Jahrhundert in der Naturphilosophie eine immer wichtiger werdende Tendenz zur strengeren naturwissenschaftli3 Vgl. Lorenz, Stefan/Mojsisch, Burkhard/Schröder, Winfried: Naturphilosophie. Antike bis 18. Jahrhundert. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 6, Sp. 535–548.
Über die Naturphilosophie
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chen Methode ab. Hierbei standen entweder wie bei Wilhelm von Conches die Elemente als kleinste Teile der Natur oder auch wie bei Adelard von Bath die biologischen oder kosmologischen Fragen des Menschen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit den Übersetzungen von Averroes gelangte Anfang des 13. Jahrhunderts verstärkt aristotelisches Wissen nach Westeuropa und führte dazu, dass die Naturphilosophie zur eigenständigen Wissenschaft wurde. Trotz der Pariser Aristoteles-Verbote verknüpften Gelehrte wie Robert Grosseteste die Naturphilosophie nun stärker mit der Mathematik. Bei Albertus Magnus (und auch bei seinem Schüler Thomas von Aquin) bildeten gegen Ende des 13. Jahrhunderts Mathematik, Metaphysik und Naturphilosophie (oder Physik) die drei großen Bereiche der Hauptdisziplin Philosophie und zugleich den Schwerpunkt seiner gelehrten Beschäftigung, die sich für Albert auf natürliche, bewegliche Körper konzentrierte (z. B. Kosmologie und Physik4, aber auch die Medizin). Die folgenden Jahrhunderte liefern eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie nach aristotelischem Vorbild, bereiten aber bereits im 15. Jahrhundert mit Nikolaus von Kues und seiner mathematischen Annäherung an die Welt bzw. seinen methodologischen Reflexionen den Weg für die exakte Naturwissenschaft der Neuzeit. Dennoch muss bis um ca. 1700 der Versuch, die Naturphilosophie von der Naturwissenschaft zu trennen, unweigerlich scheitern, da eine Ausdifferenzierung dieser Begriffe erst im 18. Jahrhundert beginnt.5 All das führt mich zu einem ersten Definitionsversuch für den Betriff der Naturphilosophie: Der Terminus ›Naturphilosophie‹ bezeichnet die gelehrte Auseinandersetzung mit der Natur (hierzu zählt die gesamte Schöpfung in ihrem Makro- und Mikrokosmos) und deren Wirkungsmechanismen, die sich das Erkennen, die Beschreibung und Vermittlung der natürlichen Dinge zum Ziel setzt. Oft sind theologische Fragestellungen der Ausgangspunkt für die angestellten Überlegungen, die sich deshalb in weiterer Folge mit dem Untersuchungsgegenstand überlagern. a) Zur Beschäftigung mit der Natur als Gegenstand des gelehrten Interesses im 13. Jahrhundert6 Das hochmittelalterliche Naturverständnis fußt weitgehend auf antikem Gedankengut und stellt eine Synthese von diesem mit der allgegenwärtigen christlichen 4 Hier ist die Physik im lateinischen Wortsinn als Lehre von der Natur zu verstehen. 5 Vgl. König, Gerhard: Naturwissenschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 6, Sp. 641–642. 6 Der folgende Abschnitt versteht sich als kurze Einführung zur Naturphilosophie Westeuropas im 13. Jahrhundert. In den einzelnen Kapiteln werden die dort relevanten Informationen zu
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Hinführende Überlegungen
Glaubensüberzeugung dar.7 Das antike Wissen war den Gelehrten jedoch nicht auf direktem Wege zugänglich, sondern begann sich erst mit dem 12. Jahrhundert aufgrund lateinischer Übersetzungen aus dem Arabischen zu verbreiten. Das Frühmittelalter beruft sich zwar auf platonisches Wissen (wie z. B. Isidor von Sevilla (ca. 560–636) in den Etymologiae oder auch in De natura rerum8, Beda Venerabilis (ca. 674–735) in De natura rerum9 oder auch Hrabanus Maurus (ca. Naturgeschichte und gelehrten Autoritäten detaillierter besprochen. Im Folgenden werden die Informationen u. a. bezogen aus (eine ausführliche Bibliographie findet sich ab S. 257): Gloy, Karen: Das Verständnis der Natur. 2 Bde. Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München 1995; Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Zweite, revidierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2000; Flasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. 3. Auflage. Darmstadt 1994; Speer, Andreas: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer scientia naturalis im 12. Jahrhundert. Leiden/New York/Köln 1995 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters); Science in the Middle Ages. Hrsg. von David C. Lindberg. Chicago/London 1978; Nitschke, August: Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter. Körper – Bewegung – Raum. Stuttgart 1967 (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 2); Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Hrsg. von Peter Dilg. Berlin 2003; Grant, Edward: Das physikalische Weltbild des Mittelalters. Üs. von Jan Prelog. Zürich/München 1980; Grant, Edward: The Foundation of Modern Science in the Middle Ages. Their Religions, Institutional, and Intellectual Contexts. Cambridge 1996; Gade, Dietlinde: Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie und Astronomie in der meisterlichen Lieddichtung des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts. Tübingen 2005; Blank, Walter: Naturanschauung im Mittelalter. Freiburg 1994 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie 1), S. 17–30; Schulthess, Peter/Imbach, Ruedi: Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium. Zürich/ Düsseldorf 1996; Gilson, Etienne: Der Geist der mittelalterlichen Philosophie. Üs. von Reinulf Schmücker. Wien 1950; Lutz, Eckart Conrad: Schreiben, Bildung und Gespräch. Mediale Absichten bei Baudri de Bourgueil, Gervasisus von Tilbury und Ulrich von Liechtenstein. Berlin/Boston 2013 (Scrinium Friburgense 31), hier vor allen Dingen die einleitenden Kapitel von S. 13–58; Schleicher, Franz: Cosmographia Christiana. Kosmologie und Geographie im frühen Christentum. Paderborn 2014; Epstein, Steven: The medieval discovery of nature. Cambridge/New York 2012. 7 Im Grunde unterscheidet sich das christliche Denken vom griechischen, auf dem es fußt, in drei Punkten: Erstens darf die Superiorität Gottes auf keinen Fall angezweifelt werden, zweitens stellt sich die Natur durch das geschaffene und das schaffende Sein in dessen Dualität als ambivalente Größe dar (Die Ambivalenz der Natur rührt vor allen Dingen daher, dass die Schöpfung zwar als Produkt Gottes existiert, diese dennoch aber – und nicht zuletzt wegen der Ebenbildlichkeit des Menschen – noch immer ein Teil Gottes ist.) und drittens steht der Mensch im Zentrum der Schöpfung und rechtfertigt dadurch einen nicht von der Hand zu weisenden Anthropozentrismus der mittelalterlichen Naturphilosophie. Vgl. Gloy: Das Verständnis der Natur, S. 139–144. 8 Isidorus Hispalensis: De Natura Rerum Ad Sisebutum Regem Liber. In: PL Bd. 83, Sp. 963– 1018A. 9 Beda Venerabilis: De Natura Rerum Liber. In: PL Bd. 90, Sp. 187–278A.
Über die Naturphilosophie
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780–850) in seiner Schrift De rerum naturis10)11, kennt aber nur den Timaios, der noch im 12. Jahrhundert lediglich in zwei unvollständigen Übersetzungen von Cicero und Chalcidius zugänglich war. Das gilt auch für Kirchenvater Augustinus, dessen gelehrte Autorität jahrhundertelang ungebrochen blieb und der auch für Hugo von Trimberg in seinem Renner noch eine der wichtigsten Bezugsquellen war.12 Die christliche Glaubensüberzeugung stand dabei im Mittelpunkt der Beschäftigung mit der Natur. Im Laufe des 12. Jahrhunderts beginnen jedoch – vor allem in den Städten Salerno, Bologna und später in Paris, Oxford und Cambridge13 – universitäre Bestrebungen, die das monastische Leben, Lernen und Lehren herausfordern. Das Verständnis für die Natur verändert sich, da die Gelehrten langsam die antiken Quellen als integralen Bestandteil ihrer eigenen Kultur betrachteten. An die Stelle der symbolisch-spekulativen Interpretation der Natur, die in hermeneutischer Parallele zum Buch der Schrift ebenfalls als ›Buch‹ gelesen wurde mit Bezug auf Gott als den Autor beider Bücher, durch welche der Mensch gleichermaßen den Schöpfer zu erkennen vermag, tritt zunehmend ein originäres Interesse an der Struktur, Konstitution und Eigengesetzlichkeit der physisch-physikalischen Realität, welche die Vernunft ohne Rückgriff auf traditionelle, theologisch bestimmte Deutungsmuster als in sich sinnvolle Größe zu erfassen vermag.14
Die Schule von Chartres15, die im 12. Jahrhundert ihre Hochblüte erlebte, war und ist bekannt für ihren Fokus auf der empirischen Naturforschung, als deren Hauptautoritäten Platon und der auf ihn aufbauende Boethius galten. Eingebettet in die antike Tradition der septem artes liberales war in Chartres die Beschäftigung mit 10 Rabanus Maurus: De Universo Libri Viginti Duo. In: PL Bd. 111, Sp. 9–614B. 11 Erste gebündelte und einführende Informationen zu diesen drei Gelehrten finden sich u. a. bei Fontaine, Jacques: Isidor v. Sevilla. In: LexMA Bd. 5, Sp. 677–680; Kottje, Raymund: Hrabanus Maurus. In: LexMA Bd. 5, Sp. 144–147; Fry, Donlad K.: Beda Venerabilis. In: LexMA Bd. 1, Sp. 1774–1779. 12 Vgl. dazu mehr im Kapitel zu Hugos von Trimberg Renner ab S. 100. 13 Vgl. Verger, Jacques: Die Entstehung der Universitäten. In: Geschichte der Universität in Europa. Hrsg. von Walter Rüegg. 4 Bde. Bd. 1: Mittelalter. München 1993, S. 58–65. 14 Speer: Die entdeckte Natur, S. 12. 15 Kurt Flasch weist darauf hin, dass sich der Name der Schule von Chartres nicht auf den Ort Chartres selbst bezieht, also nicht ausschließlich auf diesen einen Ort beschränkt ist, sondern vielmehr eine Bezeichnung für eine charakteristische philosophische Orientierung darstellt, welcher verschiedenste Gelehrte angehörten. Vgl. dazu Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 255. Zur Schule von Chartres und ihrer naturphilosophischen Grundlage vgl. im Folgenden auch: Pabst, Bernhard: Elemente und Atome als Träger der Naturprozesse – neue Wege in der Physik des 12. Jahrhunderts. In: Natur im Mittelalter. Hrsg. von Peter Dilg. Berlin 2003, S. 254–267 sowie Courth, Franz: Chartres, Schule v. In: LexMA Bd. 2, Sp. 1753–1759.
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Hinführende Überlegungen
den antiken Dichtern (z. B. Cicero, Horaz, Lukrez etc.) und den Philosophen, aber auch mit den Naturphilosophen der klassischen Antike wie Galen, Pythagoras, Euklid oder Chalcidius Teil der Ausbildung. Das medizinisch-naturphilosophische Wissen wurde u. a. auch mit Hilfe lateinischer Übersetzungen arabischer Texte von z. B. Abu Maʼšar vertieft. Im Zuge dessen entstanden auch Arbeiten zur Schöpfungsgeschichte, die den naturphilosophischen Gehalt des Sechstagewerkes zu greifen versuchten. Kosmologische und naturphilosophische Erklärungsversuche stehen hierbei sowohl bei Thierrys von Chartres (1085–1155) De sex dierum operibus16 als auch bei Bernardus Silvestris (1085–1160) Cosmographia17 im Zentrum. Wilhelm von Conches (ca. 1089–1154) kommentierte nicht nur Platon und Boethius, sondern versuchte sich in seiner Philosophia mundi18 auch an einer systematischen Gesamtdarstellung des europäischen Wissens der Zeit. Seit dem 12. Jahrhundert erreicht das ursprünglich lateinisch verfasste Buchwissen (und damit auch die gelehrte Naturkunde) ein größeres Publikum: Die weltliche Oberschicht beginnt, Interesse an gelehrtem Fachwissen zu entwickeln, das, von Frankreich ausgehend, sogar in den Volkssprachen, vornehmlich zur Laienbildung, zirkuliert. Auch der Schulbetrieb, der in der Gesellschaft einen immer höheren Stellenwert einnimmt, ist ein wichtiger Konsument dieser volkssprachlichen Wissensliteratur. Dabei gilt nicht nur Fachprosa (z. B. Imago-mundiTexte, Lehrdialoge, katechetische Texte, Evangelienharmonien, Etymologien oder Kräuterbücher), sondern auch Dichtung als Medium der Vermittlung.19 Das 13. Jahrhundert ist schließlich durch gesellschaftliche und wissenschaftliche Expansionen gekennzeichnet. Die Universitäten werden immer wichtiger und lösen sich langsam mehr und mehr von der Kirche ab; u. a. mussten die Artistenfakultäten des 13. Jahrhunderts per Eid schwören, sich nicht auf theologische Themen einzulassen. Die Schriften des Aristoteles, dessen Gesamtwerk um 1240 in lateinischer Sprache vorlag, wurden nunmehr an den Universitä-
16 Vgl. dazu Stollenwerk, Anneliese: Der Genesiskommentar Thierrys von Chartres und die Thierry von Chartres zugeschriebenen Kommentare zu Boethius ›De Trinitate‹. Diss. masch. Köln 1971. 17 Bernardus Silvestris: Cosmographia. Hrsg. von Peter Dronke. Leiden 1978 (Textus Minores 53). 18 Guilelmus des Conchis: Philosohpia mundi. Ausgabe des 1. Buchs von Wilhelm von Conches Philosophia. Mit Anhang, Üs. u. Anm. von Gregor Maurach. Pretoria 1974 (Studia 15). 19 Vgl. Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Hrsg. von Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1987 (Wissensliteratur im Mittelalter 1) – Hier vor allen Dingen die Einführung und der Beitrag von: Brunner, Horst: Literarische Formen der Vermittlung historischen Wissens an nicht-lateinkundiges Publikum im Hoch- und Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, S. 175–186. Zu den Imago-Mundi-Texten im Speziellen vgl. Luff, Robert: Wissensvermittlung im europäischen Mittelalter. Imago-mundi-Werke und ihre Prologe. Tübingen 1999 (Texte und Textgeschichte 47).
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ten studiert. Dass der lateinische Aristoteles mit den arabischen Kommentaren übersetzt wurde, führte jedoch zu Unstimmigkeiten auf Seiten der Kleriker, da die Auslegungen der Philosophen Widersprüche in Glaubensfragen aufwarfen (einer der wichtigsten Streitpunkte war die von Aristoteles postulierte Ewigkeit der Welt, die einen Schöpfungsakt nicht beinhaltete). Das führte zu einem ersten Verbot der naturphilosophischen und metaphysischen Schriften des Aristoteles in Paris im Jahre 1210 – ein sicherer Beleg dafür, dass die Texte schon zu dieser Zeit gelesen, gelehrt und kommentiert wurden. Nach dem ersten Verbot von 1210 wurden die französischen Universitäten von den Kirchenoberhäuptern in den Jahren 1231, 1245 und 1263 wiederholt abgemahnt, da offensichtlich weiterhin Aristoteles gelesen wurde. Darüber hinaus war den Studenten und Lehrenden auch das private Studium der Schriften untersagt. 1252 kam es zwischenzeitlich zur Legalisierung der Texte; ab 1255 galt das Studium des Aristoteles dann sogar an der Pariser Universität als verpflichtend. Die daraus resultierende intellektuelle Ablösung der Artisten von den Grundsätzen des christlichen Glaubens stellte jedoch weiterhin ein Problem dar und spitzte sich gegen Ende der 60er Jahre des 13. Jahrhunderts abermals zu. Das Ergebnis waren zwei weitere durch Bischof Étienne Tempier initiierte Verbote in den Jahren 1270 und 1277, wobei im Zuge des letzten Verbotes auch der Papst intervenierte und 219 Sätze und Aussagen verbieten ließ, die zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich Aristoteles betrafen (u. a. waren auch Schriften des Thomas von Aquin unter den verbotenen Texten).20 Die Aneignung der aristotelischen Schriften erfolgte weitgehend über die Bearbeitungen arabischer Kommentatoren wie Avicenna (ca. 980–1037)21 und Averroes (ca. 1126–1192)22, die bis ins 16. Jahrhundert für die Entwicklung des wis20 Vgl. Hödl, Ludwig: Aristotelesverbote. In: LexMA Bd. 1, Sp. 948–949; vgl. dazu auch Schulthess/Imbach: Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, ab S. 199. 21 Avicenna galt als Universalgelehrter und war einer der einflussreichsten Philosophen des islamischen Ostens im Mittelalter. Er setzte sich mit den griechischen Vorlagen auseinander und bearbeitete jene in arabischer Sprache. Seine Abhandlungen sind in den Bereichen der Astronomie, Kosmologie, Propädeutik, Logik, Mathematik, Biologie, Psychologie, Musik und v. a. Medizin und Metaphysik auch heute noch überliefert. Vor allen Dingen sein in 5 Büchern eingeteilter Kanon der Medizin wurde in Westeuropa ein wichtiges medizinisches Lehrwerk, nachdem Gerhard von Cremona es im 12. Jahrhundert erstmals als Canon Medicinae in Toledo ins Lateinische übersetzte. Vgl. dazu: Lauer, Hans H./Endreß, Gerhard: Avicenna. Leben und Werk. Medizinische Bedeutung. In: LexMA Bd. 1, Sp. 1298–1300. 22 Averroes war hauptsächlich als Rechtswissenschaftler und Jurist bekannt, kommentierte jedoch zur Verbesserung des Verständnisses dafür auch das gesamte Werk des Aristoteles. Sein umfangreiches Schaffen (auch zu den Schriften Platons) fand mit der Übersetzertätigkeit von Michael Scotus um 1230 Eingang in die philosophische Welt Westeuropas. Siger von Brabant und
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Hinführende Überlegungen
senschaftlichen Denkens in Westeuropa von großer Wichtigkeit waren. Auch jüdische Gelehrte wie Moses Maimonides (ca. 1135–1204)23, der von der Erkennbarkeit Gottes in der Physik, die er über die Genesis legitimiert sah, überzeugt war, übten erheblichen Einfluss auf die christlichen Lehren aus. Der aufkeimende Aristotelismus im 13. Jahrhundert brachte eine entscheidende Veränderung der Welt des Wissens in Westeuropa mit sich, die eine Verlagerung der naturphilosophischen Erkenntnis weg von der Theologie hin zur Philosophie zur Folge hatte. Die Rezeption der Schriften des Aristoteles verstärkten das Interesse an der Natur und damit auch an Physik und Metaphysik, wobei in weiterer Folge der daraus hergeleitete Gottesbegriff stark mit der Kosmologie verbunden wurde (das lässt sich auch an den Genesiskommentaren der Zeit erkennen). Albertus Magnus (ca. 1200–1280) war durch sein Vorhaben, die aristotelischen Schriften für den lateinischen Westen zu erschließen, maßgeblich an deren Verbreitung beteiligt. Die radikale Trennung von Philosophie und Theologie – Philosophie als vernunftbasierter Erkenntnisweg; Theologie auf Offenbarung und Inspiration fußend – war ihm ein Anliegen und führte zu Unstimmigkeiten mit der Kirche, aber auch mit seinem Schüler Thomas von Aquin (1225–1274), der zwar ebenfalls Aristoteliker war, aber versuchte, möglichst viele christliche Inhalte philosophisch zu ›beweisen‹. Des Weiteren sind auch Roger Bacon (1214–1292) und Siger von Brabant (ca. 1235–1284) als wichtige Vertreter des mittelalterlichen Aristotelismus zu nennen. Das Interesse am Aristotelismus weicht jedoch im ausgehenden Mittelalter einer Kritik an seinen Lehren und wendet sich zu Beginn der Neuzeit wieder den platonischen Ideen zu (erst im 15. Jahrhundert werden die Originaltexte Platons bekannt und damit auch populär). Das 13. Jahrhundert brachte der Naturphilosophie nicht nur die allmähliche Loslösung von der Theologie als deren übergeordneter Autorität, sondern zeichnete sich vor allem durch neue Erkenntnisse aus, die für die nächsten Jahrhun-
Albertus Magnus gelten als zwei der bekanntesten Anhänger seiner Lehren im 13. Jahrhundert. Das, was heute als Averroismus bezeichnet wird, lässt sich als jener heterodoxe Aristotelismus des Mittelalters verstehen, der von der Weltewigkeit, der Einzigkeit des Intellekts und dem determinierten Weltgeschehen als Erkenntnisgrundlagen ausgeht. All das führte gegen Ende des 13. Jahrhunderts und zu Beginn des 14. Jahrhunderts zu einer Spannung zwischen ›Glauben‹ und ›Wissen‹ – zwischen Theologie und Philosophie. Die Anhänger des Averroes setzten sich als ›radikale Aristoteliker‹ stärker für eine scharfe Trennung von Theologie und Philosophie ein, die bereits von Albertus Magnus gefordert wurde. Vgl. Anawati, Georges C./Höldl, Ludwig: Averroes, Averroismus. Leben, Werke und Lehre. Lateinischer Averroismus. In: LexMA Bd. 1, Sp. 1291–1295. 23 Moses Maimonides, Arzt und Richter, galt als bedeutendster, an Aristoteles orientierter jüdischer Religionsphilosoph des Mittelalters, der in Westeuropa bis ins 14. Jahrhundert als wichtige Autorität galt und bereits im frühen 13. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt wurde. Vgl. Schmitz, Rolf P./Höldl, Ludwig: Moses Maimonides. In: LexMA Bd. 6, Sp. 127–128.
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derte das Denken der Gelehrten bestimmten. Das neue Weltbild war rationaler geprägt und versuchte, die Entstehung der Welt und die Position des Menschen in ihr argumentativ logisch – modern formuliert: ›wissenschaftlich‹ – zu erklären und die religiös-moralischen Hintergründe in diese Erklärung einzubetten.24 Die daraus resultierenden Kommentare und Thesen der Gelehrten wurden nicht zuletzt aufgrund des sich zwar langsam, aber stetig erweiternden Universitätssystems verbreitet. Das dort aufkeimende Interesse an naturphilosophischen Fragestellungen regte in weiterer Folge zur vertieften Auseinandersetzung mit den philosophischen Fragestellungen an. Obwohl Latein die Sprache der Gelehrten und Kleriker war, muss man sich dennoch die Frage nach der Verbreitung dieses Wissens über jene Kreise hinaus stellen. Mit den wachsenden Städten, dem aufkeimenden Handel und einer Oberschicht, die Schulunterricht genoss, kann durchaus davon ausgegangen werden, dass auch eine Nachfrage nach Texten mit naturphilosophischem Gehalt in den jeweiligen Volkssprachen bestand.25 Inwieweit diese Art von Wissen auch in die Literatur26 der Zeit Eingang gefunden hat und dort verarbeitet wurde, soll der maßgebliche Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sein. Bevor die deutschsprachigen literarischen Texte im Mittelpunkt stehen werden, muss aber noch der Frage nachgegangen werden, wie die der These zugrundeliegende Berührung und gegenseitige Beeinflussung von lateini-
24 Diese Art der Welterkenntnis wird z. B. an den kosmologischen Theorien des 13. Jahrhunderts sichtbar: Mit Aristoteles (und auch Ptolemäus und dessen Almagest) wird die Erde als im Zentrum der Welt ruhend angenommen, um die sich die Planetensphären drehen. Darüber befindet sich die Sphäre der Fixsterne, die wiederum von einer äußersten kristallenen Sphäre umgeben ist, die vom unbewegten Beweger angestoßen wurde, der selbst jenseits der Sphären in einem Feuerhimmel ruht. Die einzelnen Schalen werden nach dieser Vorstellung von Engeln bewegt (v. a. Thomas von Aquin, der auch als doctor angelicus bekannt wurde, hatte hierzu sehr genaue Theorien). Auch verfestigte sich u. a. die These vom Äther im 13. Jahrhundert: Die Gelehrten gingen mit Aristoteles davon aus, dass bis zum Mond die vier Elemente für das Be- und Entstehen der Dinge verantwortlich waren. Alles, was jedoch supralunar verortet wurde, unterlag nur noch dem Einfluss des 5. Elements – dem Äther. 25 Mit dieser Frage hat sich bereits ein eigener Sonderforschungsbereich (SFB 226) in Würzburg und Eichstätt beschäftigt. Im Zentrum der Untersuchung stand die Vermittlung ursprünglich lateinischen Buchwissens (beginnend bei theologischen Fragestellungen über Geschichtswissen hin zu Medizin und Rechtswissen) in den volkssprachlichen Bereich im Laufe des Mittelalters; der Fokus lag dabei auf der deutschen und französischen Sprache. Vgl. Wolf (Hrsg.): Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. 26 Unter ›Literatur‹ verstehe ich das künstlerische Schrifttum, das uns im deutschen Hochmittelalter meist in gebundener Sprache begegnet. Konkret für diese Arbeit handelt es sich um: Versromane, Spruchdichtung, Minnesang und didaktische Texte.
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scher Gelehrsamkeit und der Volkssprache aussehen kann und was das für die folgende Analyse bedeutet. Literatur funktioniert anders als ein gelehrter Text, dessen Hauptanliegen, je nach inhaltlichem Fokus, das möglichst umfassende und argumentativ stichhaltige Vermitteln und Kommentieren theologischer, philosophischer oder naturkundlicher Thesen ist. Die Autoren des Hochmittelalters stützen sich dabei in den meisten Fällen auf gelehrte Autoritäten der Antike und des Frühmittelalters und arbeiten sich an deren Werken ab, die als Basis für jede weitere Auseinandersetzung mit der jeweiligen Fragestellung dienen. Der wissenschaftliche Kommentar, der an den Universitäten als Fingerübung gilt, dominiert hier und prägt die lateinische Gelehrsamkeit. Literatur auf der anderen Seite dient in erster Linie zur Unterhaltung – das wird bereits durch die verwendete Sprache, die meist nicht das Lateinische ist, ersichtlich. Obwohl klar ist, dass die Autoren des Hochmittelalters umfassende Bildung genossen haben mussten, beschäftigt sich die Literatur nicht vordergründig mit der Vermittlung und Kommentierung gelehrter Inhalte. Ob und wie diese dennoch in den Texten aufgegriffen werden, ist eine wichtige Frage, die sowohl ein neues Licht auf die Funktion deutschsprachiger Literatur werfen kann als auch die Berührungspunkte zwischen dem Lateinischen und den Volkssprachen nochmals überdenken lässt.
1.2 Die Naturphilosophie im literarischen, volkssprachlichen Text Zunächst möchte ich aber noch einen Blick darauf werfen, wie die Theoriebildung der letzten Jahrzehnte die Einbettung naturphilosophischer bzw. naturwissenschaftlicher Inhalte in literarische Texte erklärt und welche Mechanismen sich dabei beobachten lassen. Ziel ist es hier nicht, einen abgeschlossenen Erklärungsmodus für die Aufnahme von naturphilosophischem Wissen in die Volkssprache im 13. Jahrhundert zu erhalten, sondern kurz den zumindest für die jüngste Vergangenheit dokumentierten Übertragungsstrukturen auf den Grund zu gehen. Dass dies derzeit nur aus einer modernen Perspektive passieren kann, ist auf die bisherige Forschung zurückzuführen, die zwar sehr intensiv an der Verbindung von Literatur und Wissen arbeitet, aber dabei hauptsächlich die letzten beiden Jahrhunderte im Blick hat. Der sich so ergebende Überblick lässt sich nur unter Vorbehalten auf die Ältere deutsche Literatur übertragen, doch grundsätzlich können die hier dargestellten Mechanismen das Verstehen und den Ablauf der beschriebenen, mitunter auch komplexen Aneignungsprozesse in einem ersten Arbeitsschritt ein wenig erleichtern. Moderne Übertragungsprozesse und die damit in Verbindung stehen-
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den theoretischen Konzepte können zwar eine noch ausstehende Theoriebildung im Bereich der mediävistischen Literaturwissenschaft (der sich diese Arbeit, die als exemplarische Analyse konzipiert ist, nicht widmen kann) nicht ersetzen, doch zumindest in einem ersten Schritt unterstützen. Darüber hinaus legitimieren und begründen die in den einzelnen Kapiteln dargestellten Vernetzungs- und Beeinflussungsstrukturen von lateinischer Theologie, Wissenskultur und Volkssprache die dargestellten Analyseschritte. Die geschilderten Abhängigkeitsverhältnisse von gelehrter und volkssprachlicher Kultur bestätigen nicht nur über teilweise personelle (gelehrte Autoren) und lokale (Zentren der Gelehrsamkeit als Orte der Literaturproduktion) Überlappungen der verschiedenen Bereiche derartige Thesen, sondern erlauben vorerst auch ohne eine dezidiert auf die Mediävistik fokussierte theoretische Grundlage eine fundierte und ergebnisorientierte Analyse, der sich diese Arbeit verschrieben hat. Die Lektüre einiger moderner Theorien zur Übertragung von Wissen kann aber den Blick für gelehrtes Wissen im literarischen Text schärfen und die dahinterliegenden Mechanismen erkennbar machen: Wenn ein literarischer Text entsteht, geschieht das in einem sozialen Kontext. Da auch die Entwicklung des Gelehrtenwissens eine Gesellschaft prägt, müsste die Literatur einer bestimmten Zeit Spuren aufweisen, die Rückschlüsse auf das aktuelle Denken und Wissen einer Gesellschaft möglich machen. Im 13. Jahrhundert ist dieser Zusammenhang eindeutig, da die Dichter – auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht anders erscheinen mag – selbst Gelehrte, oftmals Kleriker sind, die eine gute Ausbildung genossen haben, mit großer Wahrscheinlichkeit Latein oder auch Französisch können und sich in einem geographischen Umfeld bewegen, das mit Sicherheit nicht der damaligen Norm entspricht. Kurzum: der Dichter ist ein gebildeter Mensch mit Welterfahrung, der dazu imstande ist, Wissen zu vermitteln. Die mittelalterliche didaktische Literatur, deren Ziel die unterhaltsame Belehrung des Publikums ist, ist hierfür ein gutes Beispiel. Das wiedergegebene Wissen – und im Folgenden werde ich mich explizit auf das naturphilosophische Wissen beziehen – ist von kontinuierlichen Veränderungsprozessen in Bezug auf die Wahrnehmung der Natur bestimmt, die sich aber nicht ausschließlich auf den Kreis der Gelehrten beschränken müssen. Gelehrtes Wissen ist nicht hermetisch von seiner Umwelt abgeriegelt; vielmehr steht es in regem Austausch mit ihr und unterliegt ständigen Vermittlungsprozessen, die wiederum auf jenes zurückwirken.
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Bereits Ludwik Fleck widmet sich in »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache«27 diesem Problem und geht dabei der Frage nach, wie wissenschaftliche Erkenntnis als soziales Phänomen funktioniert. Fleck geht dabei nicht von der Erkenntnisleistung aus, die ausschließlich von der Beschäftigung eines Subjekts mit einem Objekt herrührt, sondern verweist auf die Erkenntnisfunktion eines »Denkkollektivs«, das er wie folgt definiert: Definieren wir ›Denkkollektiv‹ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles.28
Dazu ergänzend sagt Fleck: Ein Denkkollektiv ist immer dann vorhanden, wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen.29
Das Denkkollektiv besteht zwar aus Individuen, ist aber nicht einfach deren Summe. Die Ursache liegt darin, dass in Flecks Betrachtung ein Individuum alleine nie oder fast nie das nötige Bewusstsein für einen innerhalb eines Denkkollektivs wesentlichen Denkstil besitzt. Vielmehr übt umgekehrt ein Denkstil einen Denkzwang auf ein Kollektiv aus.30 Auch wissenschaftliche Arbeit ist Kollektivarbeit, denn die Gedanken und Ideen, die weiterkreisen und bearbeitet werden, gehören auch hier nicht einem Individuum. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass sowohl die Erkenntnisse als auch die dahin führenden Denkprozesse kein Fixum darstellen, sondern sich mit der Zeit verändern. Kurzum: Das Wissen bleibt im Denkkollektiv, wird aber immer wieder umgearbeitet. Hier muss noch einmal auf den Begriff des Denkstils eingegangen werden, der als veränderlicher Wissens- bzw. Kulturbestand definiert wird. Fleck beschreibt weiter: »Er [der Denkstil] ist bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamt27 Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hrsg. von Lothar Schäfer/Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1980 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 312). 28 Ebda., S. 54–55. 29 Ebda., S. 60. 30 Vgl. ebda., S. 56–57. Einen Denkzwang sieht Fleck immer dann gegeben, wenn eine Anschauung ein Denkkollektiv so stark durchdringt, dass ein Widerspruch undenkbar wird (vgl. Fleck: wissenschaftliche Tatsache, S. 41). Für das 13. Jahrhundert könnte man hier z. B. den Glauben an die Erde als Zentrum des Universums anführen. Dieser Denkzwang ist so stark, dass für die beobachtbaren Bewegungen der Planeten unseres Sonnensystems komplizierte mathematische Theorien ersonnen werden mussten (z. B. die Epizykeltheorie), um diese Annahme zu stützen.
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heit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln.«31 Auch fügt er hinzu: »Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren.«32 Denkstile sind in weiterer Folge nicht voneinander abgegrenzt, sondern beeinflussen sich mehr oder weniger stark, je nachdem, wie verschieden sie sind.33 Wie sehr man innerhalb eines Denkkollektivs einem bestimmten Denkstil anhängt, kann differieren. Fleck unterscheidet zwischen dem inneren oder esoterischen und dem äußeren oder exoterischen Kreis. Er trennt damit die ›Eingeweihten‹ oder die ›Elite‹ von der ›öffentlichen Meinung‹ oder der ›Masse‹. Übersetzt in die Welt der Wissenschaft, spricht Fleck hier von einem esoterischen Kreis der Fachmänner und damit einem Kreis des spezialisierten Wissens im Gegensatz zu einem exoterischen Kreis des ›populären Wissens‹. Das populäre Wissen entwickelt sich aus dem fachmännischen Wissen heraus und zeichnet sich dadurch aus, dass komplexere Einzelheiten wegfallen und damit auch für Nichtfachleute verständliche Vereinfachungen erreicht werden. Für die Definition von ›populärem Wissen‹ möchte ich die Worte Flecks selbst heranziehen: Vereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft – das sind die wichtigsten Merkmale exoterischen Wissens. An Stelle des spezifischen Denkzwangs der Beweise, der erst in mühsamer Arbeit herauszufinden ist, entsteht durch Vereinfachung und Wertung ein anschauliches Bild. […] Es bildet die spezifische öffentliche Meinung und die Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück.34
Für das 13. Jahrhundert kann mit Hilfe dieser Begrifflichkeiten Flecks einiges an Anschaulichkeit gewonnen werden: Es ist unbestritten, dass im Zusammenhang mit der christlichen Theologie für die gelehrte Wissenschaft ein Denkzwang besteht. Möchte man die Naturphilosophie, das Arbeiten bzw. Nachdenken über natürliche Dinge, als eigenen Denkstil charakterisieren, dann ist jener eng mit dem theologischen Weltbild verbunden. Vielmehr noch, die jeweils esoterischen Kreise innerhalb der Denkkollektive überlappen, da Kleriker die Naturphilosophen ihrer Zeit sind. Erst die Etablierung eines Universitätssystems und die Wiederentdeckung der antiken Gelehrten bilden neue Denkstile aus, die nun auch
31 Fleck: wissenschaftliche Tatsache, S. 85. 32 Ebda., S. 130. 33 Fleck gibt hier als Beispiel die Nähe der Denkstile der Physiker und der Biologen. Hingegen differiert der Denkstil eines Physikers von dem eines Kabbala-Mystikers stark und macht daher auch die Beeinflussung der Denkstile untereinander unwahrscheinlicher (vgl. Fleck: wissenschaftliche Tatsache, S. 142). 34 Fleck: wissenschaftliche Tatsache, S. 149–150.
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langsam in Bezug auf die Theologie eine gewisse, wenn auch aus heutiger Sicht vielleicht kaum als solche erkennbare Eigenständigkeit entwickeln. Die allmähliche Auffächerung der Denkstile im Laufe des 12. bis 14. Jahrhunderts macht sich hauptsächlich in den esoterischen Kreisen bemerkbar. Während das populäre Wissen zwar an Reichweite gewinnt, unterscheidet es nur selten explizit zwischen den einzelnen Denkstilen. Das kann der vereinfachenden und anschaulichen Darstellung geschuldet sein, die über Details hinwegsieht und so ihren eigentlichen Zweck erfüllt. Explizit lässt sich das anhand der didaktischen Literatur festmachen, die das populäre Wissen volkssprachlich aufbereitet. Hier handelt es sich um eine vom Autor bewusst intendierte Wieder- und Weitergabe vereinfachten (naturphilosophischen) Wissens, die den Wissensstand des Autors zur Zeit der Abfassung des Textes widerspiegelt. Dass das populäre Wissen aber je nach Zweck moralisch ›eingefärbt‹ wird, ist hier auch nicht weiter überraschend, sind doch die Didaktiker hauptsächlich an einer ethisch motivierten Belehrung interessiert. Die Naturphilosophie dient in diesem Kontext als einer der vielen Inhalte, die für die anschauliche Ausgestaltung der meist vordergründig theologisch motivierten Lehre herangezogen werden. Diese bewusste und damit einfach zu beschreibende Wissensvermittlung ist jedoch nur ein kleiner Teil eines viel komplexeren Bildes, das die Funktion und Relevanz naturphilosophischen Wissens in volkssprachlichen literarischen Texten beschreibt. Eine genauere Auseinandersetzung mit diesem Forschungsgegenstand erfordert aber einen detaillierteren Blick auf mögliche Verbreitungsund Rezeptionsmechanismen – sei es innerhalb esoterischer Kreise oder auch darüber hinausgehend. Dass (naturphilosophische) Inhalte überhaupt vermittelt werden können, ist nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheint. John R. Searle setzt sich mit diesem Problem seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auseinander und prägte den Begriff des ›Background‹, des ›Hintergrunds‹, auf dessen Folie das Verstehen von sprachlichen Äußerungen sowie sozialer Praktiken und Gewohnheiten erst möglich werden.35 Searle geht in seinen Überlegungen davon
35 Ich beziehe mich hier auf zwei Texte von John R. Searle, die beide die Hintergrund-Netzwerkhypothese erläutern: Searle, John R.: Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Üs. von Harvey P. Gavagai. Frankfurt a. M. 1991, S. 180–202; Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind. Cambridge/Massachusetts 1992, S. 175–196.
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aus, dass alle intentionalen Zustände36 einen Hintergrund brauchen,37 vor dem sie gedacht werden können, der selbst jedoch nicht Teil eines semantischen Gehalts sein kann, da dieser dann selbst einen Hintergrund bräuchte, vor dem er verstanden werden kann. Deshalb spricht Searle vom ›vorintentionalen Hintergrund‹, der die Bedingungen bereitstellt, die es bestimmten Formen der Intentionalität erlauben, wirksam zu werden.38 Dabei unterscheidet er zwei Arten von Hintergründen, die er den ›tiefen‹ und den ›lokalen Hintergrund‹ nennt. Zum tiefen Hintergrund zählen die Hintergrund-Fähigkeiten, die allen Menschen aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit zu eigen sind, wie zu gehen, zu essen, die Festigkeit von Dingen festzustellen oder die unabhängige Existenz von anderen Menschen oder Gegenständen als solche anzuerkennen. Im Unterschied dazu bezeichnet der lokale Hintergrund bestimmte Kulturtechniken, die einem zeitlichen Wandel unterlegen sind bzw. sich nach sozialem Gefüge unterscheiden. Zu diesem lokalen Hintergrund gehören in unserer heutigen westeuropäischen Welt Dinge wie das Öffnen einer Tür (da man Türen kennen muss, um zu wissen, wie man sie öffnen kann), das Parken eines Autos, der Umgang mit Geld, das Telefonieren mit einem Handy etc. Obwohl Searle das Vorhandensein dieses Hintergrundes nicht eindeutig belegen kann, gibt er drei Beispiele, die dessen Existenz bestätigen: Erstens ermöglicht er das Verstehen von wörtlichen Bedeutungen, da diese bei unterschiedlichen Hintergründen unterschiedliche Wahrheitsbedingungen festlegen. Sätze, die semantisch und grammatikalisch korrekt sind, können vor einem
36 Alle intentionalen Zustände, also Wünsche und Überzeugungen, sind für Searle Teil eines größeren Komplexes, eines ›Netzwerks‹ von intentionalen Zuständen, die miteinander in Verbindung stehen. Die Vorbedingung für das Wirken von intentionalen Zuständen sieht Searle im vorintentionalen Hintergrund, der nicht mit dem Netzwerk identisch ist (vgl. Searle: Intentionalität, S. 180–182). Diese Hypothese überarbeitet er aber und kommt schließlich zu der Überzeugung, dass ein Netzwerk von nicht bewusst gemachter Intentionalität sehr wohl Teil des Hintergrunds ist, was die Unterscheidung von Hintergrund und Netzwerk in weiterer Folge ad absurdum führt (vgl. Searle: Rediscovery, S. 187–188). 37 Searle bringt das Beispiel eines Mannes, der die Absicht hat, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Um diese Absicht zu verfolgen, ist es jedoch unerlässlich zu wissen, was ein Präsident oder die Vereinigten Staaten sind. Darüber hinaus sind auch viele – in unseren Augen banale – Grundannahmen nötig, um jene Absicht wirklich verstehen zu können: z. B. muss das Konzept von Wahlen verstanden werden, dass jene auf der Erde stattfinden, dass Wähler dafür das Haus verlassen oder dass sie lesen können müssen etc. Ohne diesen ›Hintergrund‹ ist eine Absicht, z. B. Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, nicht zu verstehen (vgl. dazu Searle: Intentionalität, ab S. 180). 38 Vgl. Searle: Intentionalität, S. 200.
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bestimmten Hintergrund total unverständlich werden.39 Zweitens bedingt der Hintergrund auch das Verstehen von Metaphern, deren Verständnis nach Searle nicht aufgrund der Anwendung von Regeln oder von Ähnlichkeitsprinzipien möglich wird, sondern auf der Assoziationsfähigkeit des vorintentionalen Hintergrundes beruht.40 Drittens ist auch die körperliche Geschicklichkeit davon betroffen, wenn z. B. Sportarten wie das Skifahren mit Unterstützung von expliziter Repräsentation erlernt werden, jene Regeln dann aber im Laufe der Übung in den Hintergrund rücken, die zunächst intentionalen Gehalte (z. B. die Skier richtig belasten) nur noch unbewusst wirken und dafür anderen Intentionen Platz machen (z. B. muss der Ski-Rennläufer nicht mehr darüber nachdenken, wie er seine Skier belastet; seine Intention ist es, als Erster im Ziel anzukommen).41 Was als ›vorintentional‹ verstanden wird, ist demnach eng mit kultureller Entwicklung, kommunikativem Umfeld und wissenschaftlichem Fortschritt verknüpft. Man kann fast sagen, dass der Hintergrund mit dem, was sich auf ihm abspielt, untrennbar verbunden ist: In diesem Modell kann soziale, kommunikative, aber auch wissenschaftliche Entwicklung als etwas verstanden werden, das durch eine Art ›akkumulierter Vorintentionalität‹ vorangetrieben wird. Fachwissen kann durch Vereinfachung und Anschaulichkeit so sehr eine Denkkultur prägen, dass es selbst zum Verstehenshintergrund wird. Mit Sicherheit gilt das für das Viererschema der Elemente, das sich im Laufe der Jahrhunderte in immer mehr Lebensbereiche erstreckt und als Verständnisgrundlage für neue (wissenschaftliche) Debatten dient, die auf diesem Wissen aufbauen. Eine Erweiterung des Viererschemas hin zu den Evangelisten, Tonarten, Geschmacksrichtungen etc. ist nur dann ›sinnvoll‹, wenn die Vierheit selbst nicht mehr der Ausgangspunkt der Überlegung ist, sondern Inhalte im Zuge logischer Assoziation auf ihrem Hintergrund verhandelt werden.42 An diesem Beispiel lässt sich zeigen, 39 Hier führt Searle Beispiele an, die den Sachverhalt erklären sollen: In Sätzen wie »Sam cut the grass«, »Sally cut the cake« oder »Billy cut the cloth« bedeutet das Verb ›cut‹ in jedem Satz das gleiche, dennoch wird das Wort in jedem Kontext von den an der Kommunikation beteiligten Menschen aufgrund des gemeinsamen vorintentionalen Verstehenshintergrundes anders interpretiert. Wenn es diesen nicht gäbe, wäre denkbar, dass Sam, bei der Aufforderung die Torte zu schneiden, mit einem Rasenmäher anrücken würde oder Billy den Rasen mit einer Schere stutzt. Hier schafft erst der Hintergrund die Möglichkeit, wörtliche Bedeutung im sozialen Kontext richtig zu erfassen (vgl. Searle: Rediscovery, S. 178–179; vgl. auch Searle: Intentionalität, S. 185–188). 40 Vgl. Searle: Intentionalität, S. 189–190. 41 Vgl. Ebda., S. 190–195. 42 Eine neuere These aus der Metaphernforschung knüpft an diesen Searlschen Gedankenkomplex an (auch wenn er nicht explizit auf Searle zurückgeführt wird). Eva Johach beobachtet, dass es bei Metaphern vorkommen kann, dass sie lexikalisch werden. Ehemalige Sprachbilder werden in einem anderen Kontext weiterverwendet und können u. a. auch begriffsbildend relevant
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dass, wenn sich etwas in den Bereich des Vorintentionalen verschiebt, wir mit einer gewissen Selbstverständlichkeit über eine kulturelle Praxis oder über kulturelles Wissen verfügen, das keiner Erklärung, keines intellektuellen oder gesellschaftlichen Anverwandlungsprozesses mehr bedarf und auf diese Weise selbst zur Verstehensgrundlage wird. Umgekehrt ergibt sich daraus aber auch, dass ein derart variabler vorintentionaler Hintergrund nur in einem ganz bestimmten Kontext funktioniert; ein esoterischer oder exoterischer Kreis eines Denkkollektivs verfügt über einen spezifischen vorintentionalen Hintergrund, der sich von anderen Denkkollektiven unterscheidet. Das Studium deutschsprachiger literarischer Texte des 13. Jahrhunderts konfrontiert uns mit ebendiesem Problem: Ohne ein zumindest grundlegendes Verständnis dafür, auf welchen vorintentionalen Hintergründen sich verschiedene soziale, gelehrte und kommunikative Prozesse abspielen und wie jene innerhalb bestimmter Denkkollektive differieren, ist ein historischer Text nicht lesbar. Bei der Frage nach gelehrten Inhalten, die im Hochmittelalter je nach Bildungsschicht und -umfeld stark variieren, ist diese Überlegung noch wichtiger: Wenn z. B. jegliche Form von Wissen auf Gotteserkenntnis beruht, das Buch der Natur – und damit im weiteren Sinne auch das Prinzip der Allegorese – einen logischen Erkenntnisweg darstellt und die gelehrte Autorität als alleiniger Beleg für die Wahrheit gelten kann, dann beeinflusst das nicht nur das gelehrte Denken der Zeit, sondern zeigt sich auch an den kommunikativen Strukturen. Sprachliche Wendungen – seien es Metaphern, das Verstehen von wörtlicher Bedeutung oder auch die Vermittlung gelehrter Inhalte – brauchen einen gemeinsamen Verstehenshintergrund, um als semantisch sinnvoll gelten zu können. Die Literatur dieser Zeit lässt sich aus heutiger Sicht nicht unmissverständlich lesen, wenn der kulturelle Kontext außer Acht gelassen wird. Die Frage nach der Funktion naturphilosophischer Erkenntnis innerhalb deutschsprachiger Texte kann ohne diese Vorüberlegungen gar nicht beantwortet werden. Nicht nur der vorintentionale Hintergrund ist für das Verständnis eines literarischen Textes von Relevanz. Auch kulturelle und gesellschaftliche Faktoren beeinflussen dessen Entstehungsgeschichte: der subjektive Geschmack eines Mäzens, werden – dabei kann es passieren, dass der ursprünglich metaphorische Gehalt eines Begriffes (auch wenn dieser sprachhistorisch seinen metaphorischen Anteil beibehält) innerhalb eines neuen Denkkollektivs nicht mehr nachvollziehbar ist: Vgl. Johach, Eva: Metaphernzirkulation. Methodologische Überlegungen zwischen Metaphorologie und Wissenschaftsgeschichte. In: Metapherngeschichten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit. Hrsg. von Matthias Kroß/ Rüdiger Zill. Berlin 2011, S. 83–103, hier v. a. S. 97.
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der Geschmack des Publikums, andere (vielleicht erfolgreichere) Texte, die gewählte Textsorte etc. – kurzum, abgesehen vom Verstehenshintergrund gibt es zusätzlich eine Vielzahl von Faktoren, die nach Stephen Greenblatt als Träger einer ›Social Energy‹ fungieren, die eine Gesellschaft und deren kulturelle Praxis durchzieht43. Greenblatt fragt danach, wie kollektive Erfahrungen und Glaubensvorstellungen geformt werden bzw. wie sie innerhalb einer Gesellschaft zirkulieren und Einfluss auf das literarische Schaffen einer Zeit ausüben. Dafür wählt er den Begriff der ›Energie‹, die er nicht in einem physikalischen, sondern in einem sozio-historischen Kontext verstanden haben will. Ein Text spiegelt diese ›Soziale Energie‹ noch lange, nachdem er verfasst wurde, wider: The ›life‹ that literary works seem to possess long after both the death of the author and the death of the culture for which the author wrote is the historical consequence, however transformed and refashioned, of the social energy initially encoded in those works.44
Was genau nun diese ›Soziale Energie‹ wirklich ist, kann durch ihren Einfluss auf die Texte selbst erläutert werden. Sie manifestiert sich in der Kapazität von verbalen oder (im Falle des Theaters) visuellen Möglichkeiten, etwas zu produzieren, zu formen und kollektive Erfahrungen zu organisieren. Greenblatt geht davon aus, dass im Prozess des Schreibens ein komplexes System des Borgens und kollektiven Aneignens vonnöten ist, für das je nach Textsorte ein anderer Fokus relevant wird.45 Ob dieser Aneignungsprozess aktiv oder passiv stattfindet, erläutert Greenblatt nicht weiter. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass einerseits ganz bewusst gesellschaftlich relevante Themen, (Schreib-, Sprech-)Stile oder aktuelle Wissensbereiche in Texten verarbeitet werden, eben weil sie einer allgemeinen soziokulturellen ›Energie‹ der Zeit entsprechen; andererseits ist aber auch zu erwarten, dass auf der Folie des gesellschaftlichen Hintergrundes jene ›Soziale Energie‹ einfach zirkuliert und deshalb auch als passives Instrument im Zuge der Abfassung von Texten dient. Margaret Loftus Ranald, die sich ebenfalls mit Shakespeare auseinandersetzt, umschreibt derartige passive Austauschprozesse – auch wenn ihr Interesse 43 Vgl. Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotionations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley, Los Angeles 1988, hier v. a. das Kapitel »The Circulation of Social Energy« S. 1–20. 44 Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 6. 45 In der Historie sieht Greenblatt eine Aneignung von Charisma, in der Komödie von sexueller Spannung, in der Tragödie von religiöser Kraft durch Rituale und in den Liebesromanen die Aneignung einer heilsamen Beklommenheit durch die Erfahrung einer bedrohlichen Fülle (wörtlich spricht er von einer »salutary anxiety through the experience of a threatening plenitude«). Vgl. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 20.
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stärker der Übertragung von Wissen im Speziellen gilt – mit einem Ausdruck aus der Biologie: Sie spricht von osmotischen Aneignungsprozessen, bei denen Inhalte ohne bewusstes Zutun des Verfassers von außen in einen Text eindringen: »It is the sort of information that is obtained not through conscious effort, and not necessarily from instruction, but somehow absorbed.«46 Der Begriff des ›Osmotischen Wissens‹, der mit dem der ›Sozialen Energie‹ Hand in Hand geht, beschreibt auf sehr deskriptive und anschauliche Weise, wie Aneignungsprozesse in Hinblick auf wissenschaftliche Inhalte funktionieren. Ruth Finckh, die in ihrer Arbeit zum Mikrokosmos in der mittelalterlichen Literatur ebenfalls mit dem Konzept des Osmotischen Wissens arbeitet, spricht, ohne Searle zu erwähnen, von einem ›allgemeinen Bildungshintergrund‹, vor dem jene osmotischen Prozesse stattfinden, die sich nicht mehr eindeutig einer bestimmten Quelle oder einem bestimmten Textkorpus zuordnen lassen.47 Dass sich (auch schon im 13. Jahrhundert) Wissen über die Natur und deren Vorgänge in literarischen, volkssprachlichen Texten finden lässt, kann auf Basis dieser Analysen nunmehr als Tatsache verstanden werden.48 Auf welche Art und 46 Ranald, Margret Loftus: Shakespeare and his Social Context. Essays in Osmotic Knowledge and Literary Interpretation. New York 1989, S. XI. 47 Vgl. Finck, Ruth: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 1999 (Palaestra 306), hier vor allen Dingen das Kapitel zur Osmotischen Literatur S. 251–279, besonders S. 252. 48 Die Verbindung von Literatur und Wissen ist in der germanistischen Forschung der letzten Jahre keine unwesentliche Frage. Das Mittelalter bzw. die Zeit vor 1800 wird in diesen Analysen jedoch nicht oder nur sehr selten wahrgenommen. Die Frage nach Vernetzung von Wissenschaft (im Sinne von Technik und Wissensgewinnung) und Literatur wird erst mit dem Beginn der industriellen Revolution virulent. Hier wird Wissen nicht als etwas von der Literatur Entfremdetes verstanden, sondern als ein Korrelat gesellschaftlicher Kommunikation, das in alle Lebensbereiche eindringt und mit ihnen wechselwirkt. Das führt zu dem Schluss, dass Wissensproduktion auf dem Weg des Erzählens vonstattengehen kann – vor allem, da das Erzählen dann greift, wenn die Wissenschaft mit ihren Methoden (die empirisch überprüfbare Hypothese) nicht mehr weiter weiß. Vgl. dazu u. a.: Vogl, Joseph: Einleitung. In: Poetologien des Wissens um 1800. Hrsg. von dems. München 1999, S. 9–15; Begemann, Christian: Das ›Titelblatt der Seele‹. Stifter, Gesichter und das Dilemma der Physiognomik. In: Figuren der Übertragung. Adalbert Stifter und das Wissen seiner Zeit. Hrsg. von Michael Gamper/Karl Wagner. Zürich 2009 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 9), S. 15–44; Pethes, Nicolas: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003), H. 1, S. 181–231; Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philosophischen Erkenntnis. Frankfurt a. M. 2005; Richter, Karl/Schöner, Jörg/Titzmann, Michael: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Hrsg. von dens. Stuttgart 1997, S. 9–35; Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen.
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Weise sich dieses Wissen in den Texten bemerkbar macht und wie relevant es für das Verständnis der Literatur ist, gilt es im Zuge dieser Arbeit zu klären: Spielt es als Gegenstand der Vermittlung eine Rolle oder wird es zur Veranschaulichung bestimmter Sachverhalte herangezogen? Wird es im Kontext metaphorischer Sprache wichtig und ist jene lediglich vor einem bestimmten Verstehenshintergrund dekodierbar? Wird innerhalb eines Textes explizit oder implizit auf dieses Wissen verwiesen? Neben diesen Fragen nach den unterschiedlichen Funktionsmechanismen gelehrten Wissens in volkssprachlichen Texten sind auch die Textsorte und der Untersuchungszeitraum wichtige Analysekriterien, die ich in einem nächsten Schritt darlegen werde.
1.3 Zu Methode und Textauswahl In der vorliegenden Arbeit, die sich als exemplarische Analyse versteht, soll der Frage nachgegangen werden, wie sehr naturphilosophische Erkenntnisse und die Entwicklung des gelehrten Wissens im Laufe des 13. Jahrhunderts Einfluss auf volkssprachliche literarische Texte nehmen. Das 13. Jahrhundert stellt für diese Fragestellung einen idealen Untersuchungszeitraum dar, da sich zu dieser Zeit nicht nur das aristotelische Gesamtwerk in lateinischer Sprache in Westeuropa verbreitet, sondern auch das gelehrte Interesse an der Natur zunimmt, was sich nicht nur an den entstehenden Universitäten, sondern auch anhand der verstärkten schriftlichen Auseinandersetzung mit naturphilosophischen Themen beobachten lässt. Da Wissen, Wissensproduktion und Gesellschaft interagieren, kann die Annahme getroffen werden, dass auch im Hochmittelalter gelehrtes Wissen in Form von populärem Wissen verarbeitet und verbreitet wird und daher auch in volkssprachlichen literarischen Texten (mehr oder minder leicht les- und entschlüsselbar) zu verorten ist.
Berlin/New York 2008; Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Roland Borgards. Stuttgart 2013; Wechselwirkungen. Die Hersausforderung der Künste durch die Wissenschaften. Hrsg. von Renate Stauf. Heidelberg 2014 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 54). Zum Begriff des ›Wissenstransfers‹ und zum Wissensbegriff selbst ist 2013 ein Text erschienen, der sich aus einer historisch-interdisziplinären Perspektive heraus mit dem Enstehen, der Weitergabe und Veränderung von Wissen auseinandersetzt: Behrs, Jan/Gittel, Benjamit/Klausnitzer, Ralf: Wissenstransfer. Konditionen Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis; Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (II). Frankfurt a. M./Wien 2013 (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte 14).
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Da der Komplex des gelehrten naturphilosophischen Wissens im Laufe des 13. Jahrhunderts stark an Umfang und Tiefe gewinnt, werde ich mich auf einen Teilausschnitt beschränken: Die Lehre von den vier Elementen, die als Grundlage für die Beschäftigung mit der Medizin und dem Aufbau des Kosmos gelten kann, soll den Fokus meiner Frage nach der Naturwissenschaft im Text bilden. Dabei werde ich sowohl der expliziten Erwähnung der vier Elemente in literarischen Texten nachgehen als auch versuchen, Spuren übertragenen Gebrauchs (in bildhafter Sprache, im Zuge von Gleichnissen oder auch im Kontext graphischer Darstellungen) auszumachen. Um eine Entwicklung der Beschäftigung mit der Elementenlehre und die Verbreitung von naturphilosophischem Wissen feststellen zu können, wähle ich Texte, die als repräsentativ für die Zeit ihrer Entstehung gelten und die darüber hinaus auch das gesamte 13. Jahrhundert abdecken. Da die Auseinandersetzung mit literarischen Texten auf Basis einer Lesart, die sich streng der Analyse naturphilosophischer Einflüsse verschreibt, noch als Ausnahme in der literaturwissenschaftlichen Arbeit gilt, kann auf keine etablierte Untersuchungsmethode zurückgegriffen werden. Das hat zur Folge, dass ein methodisches Gerüst erst aufgebaut und dessen Funktionalität erprobt werden muss. Die Unzulänglichkeiten der Beschreibbarkeit einzelner Analyseteile sind ein Resultat, das der Beispielhaftigkeit dieser Arbeit geschuldet ist. Basierend auf der Grundannahme einer Wechselbeziehung von volkssprachlicher Literatur und naturphilosophischem Wissen, die durch meine Vorüberlegungen des letzten Kapitels gestützt ist, versuche ich, durch genaue Textarbeit Verweise auf einen Verstehenshintergrund zu finden, der von der Forschung bis jetzt übersehen oder als nicht relevant erachtet wurde. Ziel ist es, auf Basis dieser Analyse die Funktion naturphilosophischer Inhalte für deutschsprachige, literarische Texte des 13. Jahrhunderts auszumachen und potentiell ein tieferes Verständnis für Literatur und Gelehrtendiskurse der Zeit zu erhalten. Im Folgenden möchte ich eine Beschreibung der Vorgehensweise versuchen, die auf einer ersten Textlektüre49 beruht: 1) Abstecken des Referenzrahmens Da die Elementenlehre und deren Grundlagen für das 13. Jahrhundert ein fast unüberschaubares Feld darstellen, muss der Untersuchungsbereich sinnvoll eingeschränkt werden. Texte über die vier Elemente und die Bereiche, auf die sie wirken, stellen die Grundlage der Beschäftigung mit der Wissenschaftsge49 Anm.: Auf die Motivation hinsichtlich der Auswahl der Primärtexte werde ich später noch gesondert eingehen.
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Hinführende Überlegungen
schichte dar. Das Studium der einschlägigen wissenschaftshistorischen Arbeiten und der wichtigsten Originaltexte, die im deutschsprachigen Raum einflussreich und weit verbreitet waren, führt zu einem notwendigen Überblick über die existierende Wissenslandschaft und deren Einfluss auf andere Lebensbereiche. So kann eine Annahme darüber getroffen werden, was als populäres, universitäres und (mangels besserer Bezeichnungen greife ich auf den folgenden Begriff zurück:) ›geheimes‹ Wissen hinsichtlich der Lehre zu den vier Elementen und ihrer benachbarten Disziplinen verstanden werden kann. 2) Schlagworte- und Themenpool In einem nächsten Schritt ergibt sich aus der Erstlektüre ein Pool an Schlagworten, auf die bei der Textlektüre genau eingegangen werden muss.50 Damit meine ich ganz konkret Begriffe aus dem Bereich der Elementenlehre, Primär- oder Sekundäreigenschaften der Elemente, kosmologische Begriffe, medizinische Begriffe (für Menschen und Tiere), Beschreibungen von Physis und Psyche, Zuschreibungsversuche von Flora und Fauna zu bestimmten Elementarbereichen, theologische Schöpfungsbeschreibungen und damit einhergehende Verbindungen zu philosophischen Theorien etc. Eine vollständige Liste von Schlagworten ist zum jetzigen Forschungszeitpunkt nicht möglich, da ich beobachten konnte, dass eine weiterführende, über diese Arbeit hinausgehende Textlektüre neue Fragen hinsichtlich bestimmter naturphilosophischer Fragestellungen eröffnet und sich damit der Themenpool stetig erweitert. 3) Wiederholte Primärtextlektüre Eine wiederholte, genaue Primärtextlektüre, die auf die oben erwähnten Schlagworte und Themenbereiche Rücksicht nimmt, ermöglicht über eine erste Sammlung relevanter Verweise und Begriffe eine meist überschaubare Anzahl konkret zu bearbeitender Textstellen. Hier ist zu beachten, dass natürlich nicht alle zugehörigen Stellen ausgemacht werden können. Das liegt einerseits an einem sicherlich zu engen Schlagwortepool und andererseits auch an einer potentiellen Einkleidung relevanter Textpassagen in bildhafte Sprache. Verfremdungseffekte (z. B. in Frauen-
50 Bestimmte Themenfelder finden sich auch in Illustrationen wieder, die den Texten beigefügt wurden. Vor allem der Welsche Gast des Thomasin von Zerclaere arbeitet intensiv mit Bildern und überträgt das didaktische Konzept auch auf den visuellen Bereich. Daher werden im Zuge der Bearbeitung dieses Primärtextes auch die Illustrationen genauer in den Blick genommen – natürlich nur soweit ich als Literaturwissenschaftlerin diese Bilder in Zusammenhang mit dem Text analysieren kann. Eine Zusammenarbeit mit KollegInnen aus der Kunstgeschichte wäre in einem nächsten Schritt sehr wünschenswert und sinnvoll.
Zu Methode und Textauswahl
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lobs Leichs) erschweren die Analyse, da in vielen Fällen erst nach einer Entschlüsselung dunkler Begriffe die naturphilosophischen Verweise zum Vorschein kommen. 4) Kontextualisierung Die auf diese Weise identifizierten Textstellen werden dann innerhalb ihres textuellen Umfelds (semantische Einbettung), aber auch im Kontext der Textproduktion (Autor, Schreibstil, Entstehungszeitraum, Entstehungsort, Gattung) analysiert und auf deren potentielle Verweiskraft hin überprüft. Zusätzlich dazu werde ich auch versuchen, naturphilosophische Inhalte in Beziehung zu möglichen Quellen und damit in Beziehung zu einzelnen gelehrten Texten zu setzen. Natürlich sind derartige Zuordnungen bereits durch die Definition von populärem Wissen und auch hinsichtlich der Theorie des Hintergrundes schwierig und oft für das allgemeine Verständnis auch nicht nötig – doch manchmal zeichnen sich klare Beeinflussungen dennoch deutlich ab. 5) Mögliche neue Lesarten Schlussendlich sollen in dieser Arbeit punktuell neue Lesarten vorgestellt werden, auf Basis derer die Funktion naturphilosophischen Wissens innerhalb literarischer Texte exemplarisch deutlich gemacht wird. In den folgenden inhaltlichen Kapiteln liegt das Hauptaugenmerk auf der Vermittlung der Ergebnisse der Analyse – die ersten Arbeitsschritte werden je nach Relevanz erläutert, zugunsten des Ergebnisberichtes aber meist ausgespart. Die nötigen Informationen zu den behandelten naturphilosophischen Themen werden schrittweise im Zusammenhang mit der Textanalyse gegeben. Das führt dazu, dass hauptsächlich die Stellen besprochen und erläutert werden, die in Hinblick auf die Fragestellung zu einem klar sichtbaren Erkenntnisgewinn führen. Weniger signifikante Ergebnisse werden in der Arbeit zunächst nicht behandelt, da in diesem ersten Forschungsschritt zunächst die grundsätzliche Anwendbarkeit und der potentielle Erfolg einer derartigen Analysemethode im Vordergrund stehen müssen. Ich verstehe diese Analyse als einen ersten Referenzrahmen für eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Überlagerung und gegenseitigen Befruchtung von volkssprachlichen, literarischen Texten und naturphilosophischen Inhalten. In einem nächsten Schritt wäre auf Basis einer breiter angelegten Studie eine klar systematisierbare Methode wünschenswert, die ich aufgrund meines Untersuchungsgegenstandes derzeit aber noch nicht geben kann.
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Hinführende Überlegungen
Zu den Primärtexten ist zu bemerken, dass mehrere Kriterien für deren Auswahl zu berücksichtigen sind. Zunächst soll das gesamte 13. Jahrhundert in seiner vollen Breite abgebildet werden, um den potentiellen Einfluss von Veränderungen und Entwicklungen im Bereich der Naturphilosophie auch innerhalb der Literatur ausmachen zu können. Diesem Umstand wird durch die Auswahl sehr früher und möglichst später Texte Rechnung getragen. Einerseits werden Texte ausgewählt, bei denen ein starker Bezug zu naturphilosophischen Themen bereits in der Forschung verifiziert oder zumindest vermutet wurde, andererseits auch solche, die bis jetzt noch nicht mit der Elementenlehre und ihren weiterführenden Themen in Verbindung gebracht worden sind. Das soll zeigen, ob die Einflechtung naturphilosophischer Inhalte explizit vom Autor intendiert ist oder ob diese in Form von populärem Wissen in volkssprachliche Texte einfließen: sei es als Gegenstand der Vermittlung, in Form bildhafter Sprache oder über Verweise auf den zeitgenössischen Hintergrund. Da auch die Frage danach, Was und Warum erzählt wird, eine große Rolle in Bezug auf die Einbettung naturphilosophischen Wissens spielt, soll auch zwischen den einzelnen Gattungen unterschieden werden. –– Zur didaktischen Literatur Ziel dieser Gattung, die ganz am Anfang meiner Analyse stehen wird, ist die Belehrung des Publikums. Obwohl grundsätzlich moralisch relevante Lebensregeln im Zentrum der Texte stehen, werden auch gelehrte Inhalte an die Leserund Zuhörerschaft vermittelt. Ich werde mich mit den beiden wichtigsten didaktischen Texten des 13. Jahrhunderts beschäftigen: Thomasins von Zerclaere Der Welsche Gast, der zu Beginn des 13. Jahrhunderts verfasst wurde, und Hugos von Trimberg Der Renner, der um 1300 entstand. Obwohl beide Texte sich zum Ziel nehmen, ihre RezipientInnen zu belehren, ist die Art und Weise, wie das passiert und auch was gelehrt wird, sehr unterschiedlich. Thomasin steht als junger, neugieriger und an aktuellen Gelehrtendiskursen interessierter Kleriker in genauem Gegensatz zu Hugo, der zur Zeit der Abfassung seines Renner bereits über 70 war, um das Seelenheil seiner RezipientInnen bemüht ist und älteren, augustinischen Lehren anhängt. Hugo bedient sich oft einer eindeutig ausgelegten, bildhaften Sprache, um seine moraltheologischen Belehrungen anschaulich darzustellen. Der Wunsch, nicht missverstanden zu werden, steht im Vordergrund und unterscheidet sich klar von Thomasins anspielungsreicher, wenngleich repetitiver Sprache. –– Zur erzählenden Literatur Im Rahmen der erzählenden Literatur werde ich mich zunächst auf Wolframs von Eschenbach Willehalm und Parzival konzentrieren. Wolframs Texte integrieren
Zu Methode und Textauswahl
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nachweislich das Gelehrtenwissen seiner Zeit (um 1200) und liefern damit eine gute Vergleichsfolie für einen späten, nur in einer Handschrift anonym überlieferten Roman: Der Reinfried von Braunschweig handelt als unvollständiger Minne- und Abenteuerroman von den Erlebnissen des Titelhelden, wurde um 1300 verfasst und zeugt bereits von einem weiter gefassten Naturverständnis, das sich unterschiedlicher gelehrter Traditionen bedient. Alle Texte greifen naturphilosophisches Wissen auf, doch verfahren sie dabei sehr unterschiedlich. Wolfram arbeitet sich an seinen Vorlagen ab und schafft es durch die subtile Einbettung gelehrten Wissens, seinen Texten weitere Tiefe zu verleihen. Die fast enzyklopädisch anmutenden Naturbeschreibungen und -exkurse des Reinfried stehen dazu in krassem Gegensatz. –– Zur gelehrten Dichtung Als letzte Gattung wird die gelehrte Lyrik im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stehen. Hier beschränke ich mich mit Frauenlob auf einen Autor, der um 1300 dichtete und als Meister seines Faches galt. Seine sowohl semantisch als auch syntaktisch komplexen Leichs sind nicht nur Ausdruck seines dichterischen Könnens, das maßgeblich durch die Lobrede charakterisiert ist, sondern sie sind überdies von teilweise schwer entschlüsselbarem gelehrten Wissen durchzogen und daher für diese Analyse von großem Interesse. Die Ausnahmestellung Frauenlobs im Bereich der gelehrten Lyrik, seine außergewöhnlichen Bilder, seine komplexe Sprache und die Verschränkung inhaltlicher und formaler Aspekte erschweren einen direkten Vergleich mit anderen Autoren. Aufgrund dieser Sonderstellung und auch mangels vorhandener Forschung – auch in Bezug auf seine Leichs, die im Vergleich zum restlichen Opus stärker rezipiert werden – widme ich mich im sechsten Kapitel dieses Buches intensiv dem Minne- und dem Kreuzleich.
Zur Didaktischen Literatur
2 Der Welsche Gast Thomasins von Zerclaere Zu Beginn des 13. Jahrhunderts sieht sich ein italienischer Kleriker dazu genötigt, zum allgemeinen Sittenverfall der Zeit Stellung zu beziehen und für Bildung, Tugendhaftigkeit und die richtige Erziehung der Jugend eine Lanze zu brechen. Ich heiz Thomasîn von Zerclære (v. 7551), so stellt sich der junge Mann vor. Er berichtet: Ich bin von Frîûle geborn (v. 71) und rechtfertigt sich für sein nicht perfektes Deutsch: Ob ich an der Tiusche missespriche/ez ensol niht dunken wunderliche,/wan ich vil gar ein walich bin:/man wirtes an mîner Tiusche inn. (v. 67–70).52 Dennoch fühlt er sich dazu imstande, die deutschen Länder zu belehren, es soll disen dînen Welhschen gast/der dîn êre minnet vast53 (v. 89f.) empfangen, da dieser jene guotiu mære (v. 1) bringt, von denen Thomasin schon im ersten Vers seiner Vorrede spricht.54 51 Im Folgenden wird Der Welsche Gast nach der Ausgabe Rückerts, die der ältesten Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 389 folgt, zitiert: Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Berlin 1965. 52 »Wenn ich nicht richtig Deutsch spreche, darf das niemanden verwundern, da ich durch und durch Italiener bin: das erkennt man an meinem Deutsch.« (Anm.: Friedrich Neumann übersetzt walich – also ›welsch‹ – mit ›romanisch‹. Vgl. Der Welsche Gast des Thomasin von Zerclaere. Codex Palatinus Germanicus 389 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Einführung in Thomasins Verswerk von Friedrich Neumann. Die Handschrift und ihre Bilder von Ewald Vetter. Wiesbaden 1974 (Facsimilia Heidelbergensia 4), S. 3). 53 »diesen deinen welschen Gast, dem deine Ehre sehr am Herzen liegt« 54 Die immer noch sehr rege Forschung zum Welschen Gast hat im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Vielzahl an Arbeiten hervorgebracht, von denen ich im Folgenden die wichtigsten nennen möchte: Der Frage nach der Aufnahme von Wissen bzw. Bildung im Text widmeten sich in den letzten Jahren: Höfer, Susanne: Zur gesellschaftlichen Verortung und Funktion der Gelehrten und des gelehrten Wissens im Welschen Gast des Thomasin von Zerklaere. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Hrsg. von Nine Miedema/Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 865–877; Brinker-von der Heyde, Claudia: Durch Bildung zur Tugend: Zur Wissenschaftslehre des Thomasin von Zerclaere. In: Artes im Mittelalter. Hrsg. von Ursula Schäfer. Berlin 1999, S. 34–52; Stolz, Michael: Text und Bild im Widerspruch? Der Artes-Zyklus in Thomasins Welschem Gast als Zeugnis mittelalterlicher Memorialkultur. In: Wolfram Studien XV. Hrsg. von Joachim Heinzle u. a. Berlin 1992, S. 344–372; Ruff, Ernst Johann Friedrich: Der wälsche Gast des Thomasin von Zerklaere. Untersuchungen zu Gehalt und Bedeutung einer mittelhochdeutschen Morallehre. Erlangen 1982; Rockar, Hans-Joachim: Von Ziffern und Proportionen. In: Das Buch als Quelle historischer Forschung. Hrsg. von Joachim Dietze u. a. Leipzig 1977, S. 71–78; Kurdziałek, Marian: Der Mensch als Abbild des Kosmos. In: der Begriff der Repräsentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild. Hrsg. von Albert Zimmermann. Berlin/New York 1971 (Miscellanea Mediaevaila 8), S. 35–75; Von Benz, Helene: Die geistliche Gelehrsamkeit und die weltliche Bildung im Welschen Gast des Thomasin von Circlaria. Diss. masch. Wien 1911; zur Relevanz der Illustrationen in den einzelnen Handschriften vgl.: Starkey, Kathryn: Das unfeste DOI 10.1515/9783110486605-002
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Der Welsche Gast Thomasins von Zerclaere
Die 1215/16 entstandene Versdichtung, von der Thomasin selbst behauptet, sie sei in zehn Monaten entstanden55, gilt als erstes Lehrgedicht (in gebundener
Geschlecht. Überlegungen zur Entwicklung einer volkssprachlichen Ikonographie am Beispiel des Welschen Gasts. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel/C. Stephen Jaeger. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 99– 138; Wenzel, Horst: ›wan die vrumen liute sint/ unde suln sin spigel dem chint‹. Zum Verhältnis von Zeigen und Wahrnehmen im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von Christina Lechtermann/Carsten Morsch. Bern 2004 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N. F. 8), S. 181–215; Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des ›Welschen Gastes‹ von Thomasin von Zerclaere. Hrsg. von Horst Wenzel/Christina Lechtermann. Köln/Weimar/Wien 2002; Schumacher, Meinolf: Über die Notwendigkeit der ›kunst‹ für das Menschsein bei Thomasin von Zerklaere und Heinrich dem Teichner. In: ›Artes‹ im Mittelalter. Hrsg. von Ursula Schäfer. Berlin 1999, S. 376–390; Oechelhäuser, Adolf: Der Bilderkreis zum Wälschen Gaste des Thomasin von Zerclaere nach den vorhandenen Handschriften. Heidelberg 1890; zu Geschlechterverhältnissen und der Repräsentation von Männlichkeit vgl.: Starkey, Kathryn: Thomasins Spiegelphase. (Selbst)Reflextion und Bildfunktion bei der Formierung des höfischen Subjekts. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u. a. Königstein/Taunus 2005, S. 230–248; Weichselbaumer, Ruth: Der konstruierte Mann. Repräsentation, Aktion und Disziplinierung in der didaktischen Literatur des Mittelalters. Münster 2003 (Bamberger Studien zum Mittelalter 2); Weichselbaumer, Ruth: Normierte Männlichkeit. Verhaltenslehren aus dem Welschen Gast Thomasins von Zerclaere. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten. Münster/Hamburg/London 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 157–177; mit dem Lektürekatalog setzte sich auseinander: Engelen, Bernhard: Eine Studie zur Geschichte der Jugendlektüre um 1200. Zu Thomasin von Zirklaere, Vers 761–1166. In: ders.: Aufsätze zur Kinderliteratur. Geschichte – Rezeption – Sprache. Frankfurt a. M. 2005 (Kinderund Jugendkultur, -literatur und -medien. Theorie – Geschichte – Didaktik 39), S. 13–42; Starkey, Katherine: A Courtier’s Mirror: Cultivating Elite Identity in Thomasin von Zerclaere’s Welscher Gast. Notre Dame 2013; Schanze, Christoph: Die Konstruktion von höfischer Öffentlichkeit im ›Welschen Gast‹ Thomasins von Zerclaere und ihre Funktionalisierung in Wirnts von Grafenberg ›Wigalois‹. In: Artushof und Artusliteratur. Hrsg. von Matthias Däumer. Berlin 2010 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 7), S. 61–92. Darüber hinaus soll an dieser Stelle noch auf das aktuell laufende digitale Editionsprojekt ›Welscher Gast digital‹ der Universität Heidelberg hingewiesen werden (gefördert von der DFG), das es sich zum Ziel gesetzt hat, eine umfassende Text-Bild-Ausgabe des Welschen Gastes digital zugänglich zu machen. Dabei werden nicht nur alle vorhandenen Handschriften samt Abbildungen zur Verfügung gestellt, sondern auch Transkriptionen der Manuskripte erarbeitet: http:// digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/ (Stand: 2. Februar 2017). 55 in aht mânôden hân ich gar / diu aht teil ûz gemachet / […] / und sol ir noch zwei machen: / noch muostu zwên mânôde wachen (v. 12278–12282). »In acht Monaten habe ich die acht Teile gemacht und von diesen werde ich noch zwei machen: noch musst du [die Schreibfeder Thomasins] zwei Monate wachen.«
Zu Methode und Textauswahl
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Sprache) des deutschen Sprachraums.56 Dass sich der Text trotz seiner nüchternen Gelehrtensprache und den an den immer gleichen Reimwörtern und einem beschränkten Wortschatz erkennbaren Sprachschwierigkeiten Thomasins großer Beliebtheit erfreute, lässt sich anhand der auffallend reichen Überlieferung des Welschen Gastes erkennen. F. W. von Kries zählt 24 Handschriften aus der Zeit vor 150057, von 6 weiteren Handschriften, die in Inventaren genannt oder erwähnt werden, weiß er ebenfalls zu berichten. Von den 15 noch heute vollständig überlieferten Handschriften wurden 5 auf Pergament und 10 auf Papier geschrieben, 9 weitere Handschriften sind nur noch als Fragmente überliefert.58 Fast alle dieser Handschriften sind Bilderhandschriften oder nachweislich Abschriften von Bilderhandschriften.59 Die Überlieferung des Textes erfolgt in zwei Zweigen, die für die Analyse des Textes noch von Relevanz sein werden60: –– Überlieferungszweig A: Dieser folgt der ältesten Handschrift aus Heidelberg, Cod. Pal. germ. 389, die aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt, 105 farbige Illustrationen zählt und die Sigle A trägt.61 Heinrich Rückerts Ausgabe des Welschen Gastes stützt sich auf diese Handschrift. Da der Heidelberger Codex die älteste bekannte Textfassung bietet, ist davon auszugehen, dass 56 Vgl. Huber, Christoph: der werlde ring und was man tuon und lassen schol. Gattungskontinuität und Innovation in moraldidaktischen Summen: Thomasin von Zerklaere – Hugo von Trimberg – Heinrich Wittenwiler und andere. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 187–212, hier S. 188. 57 Auch der Handschriftencensus, der laufend auf den neuesten Stand der Forschung gebracht wird, zählt 24 vollständige und fragmentarisch überlieferte Handschriften. Vgl.: http://www. handschriftencensus.de/werke/377 (Stand: 2. Februar 2017). 58 F. W. von Kries bietet eine umfassende und genaue Darstellung aller bekannten Handschriften und Fragmente; auch weiterführende Literatur zu jeder Handschrift wird genannt. Vgl. Thomasin von Zerclaere. Der Welsche Gast. Hrsg. von F. W. von Kries. 4 Bde. Bd. 1: Einleitung, Überlieferung, Text, die Varianten des Prosavorworts. Göppingen 1984 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 425/I), S. 47–64. 59 Mit den Bilderhandschriften des Welschen Gastes beschäftigen sich auch Horst Wenzel und Christina Lechtermann, die am Ende ihrer Herausgeberschrift auf alle illustrierten Handschriften genauer eingehen und im Anhang eine Bilderkonkordanz zur Verfügung stellen. Vgl. Wenzel/ Lechtermann (Hrsg): Beweglichkeit der Bilder, S. 257–272. 60 Neben Kries und der Herausgeberschrift Wenzels und Lechtermanns finden sich auch bei Adolf Oechelhäuser und Eva Willms Details zu Überlieferungsgeschichte des Textes und den einzelnen Handschriften. Vgl. Oechelhäuser: Der Bilderkreis zum Wälschen Gaste; Vgl. Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast. Ausgewählt, eingeleitet, üs. u. mit Anmerkungen versehen von Eva Willms. Berlin/New York 2004. Auch Rückert beschreibt im Kapitel »Lesarten« zunächst alle ihm bekannten Handschriften, bevor er auf Details des Textes eingeht: Vgl. Rückert: Der Wälsche Gast, S. 402–423. 61 Vgl. Kries: Der Welsche Gast Bd. 1, S. 48.
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Der Welsche Gast Thomasins von Zerclaere
die in ihr überlieferte Dichtung dem Original Thomasins am nächsten steht. Daher wird im Folgenden der Text dieser Handschrift und somit die Ausgabe nach Rückert als Grundlage für die Analyse verwendet. Andere Textausgaben werden nur vergleichend herangezogen. –– Überlieferungszweig G: Im Zentrum dieses Zweiges steht die Handschrift Membrana I 120 aus Gotha, die mit der Sigle G versehen wurde. Sie entstand in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts, wurde mit 120 kolorierten Federzeichnungen ausgeschmückt und stellt eine Bearbeitung der Handschrift A dar.62 Neben zusätzlichen Illustrationen findet sich auch ein dem Lehrgedicht vorangestelltes Prosavorwort, welches einen Ausblick auf den vorliegenden Text gibt und wahrscheinlich von Thomasin selbst im Zuge eines zweiten Überarbeitungsschrittes verfasst wurde.63 Kries folgt in seiner Textausgabe des Welschen Gastes dieser Handschrift. Diese reiche Überlieferung wird im Bereich der lehrhaften Dichtung nur noch von Hugos von Trimberg Der Renner, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstand und von dem es 66 bekannte Textzeugen gibt, übertroffen.64
2.1 Zu Aufbau, Inhalt und Didaxe Im Prosavorwort der Gothaer Ausgabe heißt es ganz zu Beginn der Dichtung: Ditze bůch ist geteilet in zehen teil/und ein ieglicher teil hat siniu capitel./etlich teil hat zehen capitel,/etlichz mer, etlichz minner.65 Thomasin (wenn davon ausgegangen wird, dass Thomasin selbst es war, der seinen Text nochmals überarbeitet und mit einem Vorwort versehen hat) bemüht sich darum, ein Werk aus zehn Teilen, die wiederum in Unterkapitel eingeteilt sind, zu erstellen. Bei der Zahl der Unterkapitel spielt er auch auf die Zehn an, fügt aber hinzu, dass je nach Stoffumfang die Zehnzahl auch über- oder unterschritten werden kann. Zu Beginn des neunten Teils erfährt der/die LeserIn, dass der Welsche Gast in zehn Monaten entstanden sein soll; in jeweils einem Monat wurde ein Teil des Lehrgedichts vollendet. Diese Strapazierung der Zehnzahl ist sicher kein Zufall, deuten doch sowohl die Zehn als auch die Hundert zahlensymbolisch u. a. auf Vollkommenheit hin.
62 Vgl. ebda., S. 48. 63 Vgl. Neumann/Vetter: Der Welsche Gast, S. 16. 64 Vgl. http://www.handschriftencensus.de/werke/653 (Stand: 2. Februar 2017). 65 v. 3–6 der Ausgabe von Kries Bd. 1: »Dieses Buch ist in zehn Teile geteilt und ein jeder Teil hat seine Kapitel. Einige Teile haben zehn Kapitel, einige mehr, einige weniger.«
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Thomasin hatte vielleicht vor, ein rundes, aus hundert Kapiteln bestehendes Werk abzuliefern, ordnete sich dann aber doch der Relevanz der Materie unter.66 Jeder der zehn Teile beschäftigt sich mit einem Bereich der Sittenlehre bzw. einer (Un-)Tugend und ist in sich zwar gegliedert, doch unterlässt Thomasin es nicht, immer wieder seine vorgegebenen Grenzen zu verlassen und durch das gesamte Thema zu mäandern. Das führt dazu, dass bestimmte Gedankengänge wiederholt werden und sich während der gesamten 14752 Verse Inhalte überschneiden.67 Den zehn Teilen ist (auch in der ältesten Heidelberger Handschrift A und somit auch in der Rückertschen Ausgabe) eine kurze Einleitung (v. 1–140) vorangestellt, in welcher um Aufmerksamkeit gebeten wird, sich der Verfasser selbst und danach sein Werk vorstellt. Im ersten Teil (v. 141–1706) wird auf höfisches, zwischenmenschliches Verhalten eingegangen, Teil zwei (v. 1707–2528) beschäftigt sich mit der Lehre über staete und unstaete innerhalb und außerhalb des menschlichen Daseins, während der dritte Teil (v. 2529–4146) sich auf die unstaete im Menschen und der Welt konzentriert. Teil vier (v. 4147–5692) definiert sechs weltliche Güter, deren Folgen staete, unstaete und diverse Laster darstellen. Im fünften Teil (v. 5693–6789) werden das oberste Gute (also Gott) und das niedrigste Böse (der Teufel) eingeführt, während in Teil sechs (v. 6790–8470) erklärt wird, wie die Ritterschaft mit Tugenden gegen das Laster vorgehen kann. Der siebte Teil (v. 8471–9850) beschäftigt sich mit der Seele und dem Leib des Menschen, seinen (äußeren und inneren) Fähigkeiten und geht auf die septem artes liberales näher ein. Teil acht (v. 9851–12222) hat die mâze und die unmâze zum Inhalt, Teil neun (v. 12223–13564) das Recht und die Gerechtigkeit. Der zehnte und letzte Teil des Welschen Gastes (v. 13565–14752) konzentriert sich auf die Tugend der milte. Thomasin will belehren. Er will aber auch verstanden werden, dichtet hierfür in Versen, da er, wie Willms darlegt, sich damit die Aufmerksamkeit seiner ZuhörerInnen und LeserInnen sichern will, die er zeitgleich auch unterhalten möchte. Er richtet sich dabei vor allem an ein adeliges und klerikales Publikum, welches er durch rhetorische Figuren und die geschickte Verwendung zeithistorischen Schulwissens zu fesseln sucht.68 Seine Quellen lassen sich in der lateinischen Wissenstradition vermuten69, die ihm zugänglichen Lehren der Moralphilosophie stammen aus der Antike.70 Die Frage, ob die Schule von Chartres Einfluss auf
66 Vgl. Neumann/Vetter: Der Welsche Gast, S. 17. 67 Vgl. Willms: Thomasin von Zerklaere, S. 14–15. 68 Vgl. ebda., S. 6–7. 69 Vgl. Cormeau, Christoph: Tradierte Verhaltensnormen und Realitätserfahrung. Überlegungen zu Thomasins Wälschem Gast. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hrsg. von dems. Stuttgart 1979, S. 276–295, hier S. 276. 70 Vgl. Neumann/Vetter: Der Welsche Gast, S. 45–46.
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sein Wissen genommen hat, ist nicht eindeutig zu beantworten, da sich (wie bei allen in dieser Arbeit behandelten Autoren) seine Quellen nicht auf bestimmte Bücher oder Gelehrte eingrenzen lassen; vielmehr kann nur vermutet werden, dass die moralphilosophisch-kosmologische Grundlage seiner Moralvorstellungen jener Wissenstradition entsprungen ist.71 In jedem Fall stilisiert sich der Erzähler als Lehrerfigur, welche davon ausgeht, dass sein Publikum dazu bereit ist, sich belehren lassen zu wollen. Diese Ausgestaltung einer Lehrer-Autorität72 lässt es zu, einzelne Themenbereiche immer wieder willkürlich zu verlassen und einen fast spontanen, assoziativ anmutenden Schreibstil zu verfolgen. Das hinterlässt den Eindruck einer mündlichen Belehrung, die von der Entwicklung überraschender Erkenntnisse, die fast von selbst zu entstehen scheinen, lebt. In der Aufgabe, den Menschen wieder näher zu Gott zu bringen und in seiner Tugend zu festigen, werden Bildung und Belehrung als Korrektiv eingesetzt. Dass Thomasin durch sein Werk zum Seelenheil führen möchte, sieht Claudia Brinker-von der Heyde durch den Fokus auf die Belehrung gegeben. Sie erkennt die Bildung im Welschen Gast als eine Frage des individuellen menschlichen Willens, durch den gegen die Erbsünde und die von Untugenden geprägten unvollkommenen Menschen vorgegangen werden kann. Durch den Willen zur Bildung kann der Mensch sich entwickeln und wachsen – nicht zuletzt hin zu Gott.73 Der Welsche Gast und seine Lehre werden somit zum Vor-Bild für ein höfisches bzw. klerikales Publikum. Diese Vorbildfunktion ist nicht nur am Text festzumachen: Auch die Illustrationen, die dem Text beigefügt sind, wollen belehren. Da fast alle Handschriften des Lehrgedichts, beginnend beim ältesten Heidelberger Text, ein zwar an Umfang und Genauigkeit variierendes, aber ansonsten einheitliches Bildprogramm aufweisen, kann davon ausgegangen werden, dass jenes in seiner Relevanz für die Dichtung nicht zu unterschätzen ist. Brinker-von der Heyde konstatiert, dass nicht nur das Ohr, sondern auch das Auge den Menschen für Belehrung bereit machen.74 Wort und Bild sind dabei durch ihren Zeigegestus und den Charakter der Anschaulichkeit miteinander verbunden75, da geschriebenes Wort und gemaltes Bild zur Zeit Thomasins als 71 Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Thomasin von Zerclaere und die Tradition der Moralistik. In: Architektura Poetica. Hrsg. von Ulrich Ernst/Bernhard Sowinski. Köln/Wien 1990, S. 179–188, hier S. 179. 72 Vgl. Huber: der werlde ring, S. 203–204. 73 Vgl. Brinker-von der Heyde: Durch Bildung zur Tugend, S. 49–50. 74 Vgl. Brinker-von der Heyde, Claudia: Der Welsche Gast des Thomasin von Zerclaere: Eine (Vor-)Bildgeschichte. In: Wenzel/Lechtermann (Hrsg.): Beweglichkeit der Bilder, S. 9–33, hier S. 10. 75 Klare, Andreas: Thomasins unstete-Begriff in Wort und Bild. In: Wenzel/Lechtermann (Hrsg.): Beweglichkeit der Bilder, S. 174–199, hier S. 175.
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vergleichbare Medien verstanden werden. Beim Welschen Gast wird aufgrund der einheitlichen Bildüberlieferung von einer engen Zusammenarbeit zwischen Thomasin und dem Illustrator ausgegangen. Neumann merkt zwar an, dass es seltsam anmutet, dass auf die zweite Hälfte der Handschrift A nur noch ein Fünftel der Illustrationen fällt, sieht darin aber keinen wirklichen Grund, davon auszugehen, dass Autor und Illustrator getrennt voneinander agierten.76 Auch lassen sich im Gedicht selbst immer wieder Hinweise darauf finden, dass der Welsche Gast von vornherein als bebilderter Text gedacht war. Im elften Kapitel von Teil acht heißt es: Wizzet daz ich niht enliege:/ir habt ez an der Helle stiege/ gemâlt, als ich gesprochen hân77 (v. 11969–11971). Hier verweist Thomasin zwar auf eine Illustration, die bereits im zweiten Kapitel des fünften Buches zum ersten Mal auftaucht, doch verwendet er explizit das Wort gemâlt und nicht etwa ›gehört‹ oder ›gelesen‹. Die Verbindung zur Illustration wird dadurch evident. Darüber hinaus zeigt sich an dieser Stelle auch sehr schön, dass Lehrinhalte über Kapitel- und Buchgrenzen hinweg immer wieder aufgegriffen, weitergeführt und kommentiert werden. Thomasin will zwar in erster Linie gesellschaftlich höhergestelltes Publikum, Kleriker und Adlige, belehren, dennoch erläutert er im achten Kapitel des ersten Buches, dass für Kinder und Bauern das Bild die Schrift ersetzt: Von dem gemâlten bilde sint der gebûre und daz kint gevreuwet oft: swer niht enkan verstên swaz ein biderb man an der schrift verstên sol, dem sî mit den bilden wol. Der pfaffe sehe die schrift an, sô sol der ungelêrte man diu bilde sehen, sît im niht diu schrift zerkennen geschiht.78 (v. 1097–1106)
Bei Thomasin dienen die Bilder der Belehrung. Damit ermöglicht er auch den Schriftunkundigen, seine Lehre aufzunehmen, die Illustrationen zu ›lesen‹.79 76 Vgl. Neumann: Einleitung. In: Rückert (Hrsg.): Der Wälsche Gast, S. IL–L. 77 »Ihr müsst wissen, dass ich nicht lüge: so wie ich gesagt habe, findet ihr es bei der Stiege zur Hölle aufgemalt.« 78 »An den gemalten Bildern freuen sich oft der Bauer und das Kind: wer nicht verstehen kann, was ein tüchtiger Mann an der Schrift versteht, dem sei mit den Bildern geholfen. So, wie der Pfaffe sich die Schrift ansieht, soll der ungelehrte Mann die Bilder sehen, wenn er die Schrift nicht zu erkennen/entziffern vermag.« 79 Es ist schwer zu sagen, ob, wenn in mittelalterlicher Literatur vom Lesen gesprochen wird, auch wirklich das selbstständige Studium von Texten oder nicht eher das gemeinsame Lesen, die
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Manfred Günter Scholz weist darauf hin, dass Lesefähigkeit in den ›tonangebenden‹ Ständen (Klerus, Adel und gebildetes Bürgertum) im 12. und 13. Jahrhundert durchaus der Normalität entsprach. Bereits seit Mitte des 13. Jahrhundert gibt es dafür Belege, dass auch in kleinen Städten Schulen errichtet wurden;80 adelige Kinder genossen zumindest eine elementare Schulbildung. Der Anstieg der Kommunikation (Briefe und Urkunden) im weltlichen Bereich seit dem 12. Jahrhundert lässt darauf schließen, dass der Terminus illiterati, mit welchem gerne auf die Ungebildetheit der Menschen in ebendieser Zeit hingewiesen wurde, sich nur auf ihre Unkenntnis bezüglich der lateinischen Sprache stützt. Dass die Fähigkeit des Lesens einigen Wenigen vorbehalten war, heißt demnach nicht, dass die volkssprachliche Literatur der Zeit nicht ›gelesen‹ wurde.81 Die Inhalte des Welschen Gastes, die Ermahnungen an Priester, Herrscher und die Ratschläge zur Erziehung junger Adliger (inklusive Leselisten und Vorschlägen für Freizeitaktivitäten) deuten auf ein auserwähltes, privilegiertes Publikum hin, welchem mithilfe von Illustrationen der Inhalt des Welschen Gastes nicht nur vorgelesen, sondern auch gezeigt wird. Die Bilder können nur schwer für sich alleine stehen – sie verdeutlichen den Inhalt des Lehrgedichtes. Auch die Spruchbänder in den Illustrationen – die ja ebenfalls gelesen werden mussten – zeigen, dass das Bild den Text nicht ersetzen, sondern ergänzen soll. Auch wenn die Handschrift Bilder für ein breiteres Verständnis des Textes anbietet, muss mit Searle ein bestimmtes grundlegendes (gelehrtes) Wissen vorhanden sein, das das Verstehen der Illustrationen ermöglicht: »An-sicht allein genügt nicht, um Ein-sicht zu gewinnen.«82 Die Einsicht ist erst dann möglich, wenn der Sinn, der der Illustration oder dem Text eingeschrieben ist, erkennbar wird, Schrift und kollektive Lektüre bestehend aus Lesen, Zuhören und Schauen bezeichnet wird. In den Texten des 12. und 13. Jahrhunderts wird zwar darauf hingewiesen, dass ›gelesen‹ wird, dennoch kann deshalb nicht eindeutig davon ausgegangen werden, dass das eigenständige Lesen und die Lesefähigkeit impliziert waren. Vgl. Scholz, Manfred Günter: Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert. Wiesbaden 1980, S. 52–57. Den Welschen Gast betreffend weist Scholz darauf hin, dass wenn sich in einem Werk im Umfeld des Wortes lesen Ausdrücke scharen, die das visuelle Moment und die intime Nähe zum Text bezeichnen (z. B. an gesehen (v. 14693), ze hant komen (v. 128) oder ûf sîn schôz sitzen (v. 14694)), das Wort lesen nur noch implizit das Vorlesen beinhalten kann. Vielmehr lässt die Verwendung dieser Ausdrücke darauf schließen, dass Thomasins Lehrwerk durchaus einem Lesepublikum zugedacht war. Vgl. Scholz, Manfred Günter: Die hûsvrouwe und ihr Gast. Zu Thomasin von Zerclaere und seinem Publikum. In: Festschrift für Kurt Herbert Halbach zum 70. Geburtstag am 25. Juni 1972. Arbeiten aus seinem Schülerkreis. Hrsg. von Rose Beate Schäfer-Maulbetsch u. a. Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 70), 247–270, hier S. 249. 80 Vgl. Scholz: Hören und Lesen, S. 205. 81 Vgl. ebda., S. 221–229. 82 Brinker-von der Heyde: (Vor-)Bildgeschichte, S. 12.
Zu Aufbau, Inhalt und Didaxe
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Bild ›dekodiert‹ werden.83 Dass Thomasin dennoch auf die gebûre und kint verweist, kann bedeuten, dass eine breitere Wirkung des Welschen Gastes durchaus intendiert war bzw. nicht nur die Schrift alleine das gesamte Bildungspotential beinhalten sollte. Scholz unterscheidet drei Funktionen, die Bilder in Handschriften haben können: 1. dienen sie (so wie Thomasin es andeutet) als ›Schrift für Laien‹, sie gelten 2. als Anschauungsmaterial, welches der Vorleser seinem Publikum präsentieren kann und 3. sind sie als Illustrationen für den Leser selbst gedacht, der durch eine illuminierte Handschrift vielleicht einen größeren Reiz verspürt, ein Buch zur Hand zu nehmen.84 Schreiben und Malen stehen sich als Medien der Vergegenwärtigung von Erfahrung und Überlieferung im 12. und 13. Jahrhundert sehr nahe. Schrift und Bild haben ein ähnliches Aufgabenfeld; bereits Aristoteles sah sowohl im Dichter als auch im Maler einen Nachahmer der Natur. Im Mittelalter wurde zwar die große Eindringlichkeit des Bildes in den Vordergrund gestellt, dennoch lässt sich im 13. und 14. Jahrhundert beobachten, dass Text und Bild einander bedingen: Initialen werden als Bilder ausgeführt und in Texten finden sich immer wieder Miniaturen.85 Horst Wenzel bringt die Beziehung von Text und Bild sehr präzise auf den Punkt, indem er festhält: »Schreiben und Malen sind zwei Weisen des ›Sprechens‹, der künstlerischen Abbildung ein und derselben Welt.«86 Dieser Konnex lässt sich überdies an einem weiteren Beispiel der mittelalterlichen Literatur zeigen, wenn im Prosalancelot der titelgebende Held während seiner Gefangenschaft bei der Fee Morgane seine eigene Geschichte mit der Königin Ginover ›erzählt‹.87 Dies geschieht, indem Lancelot zunächst von seinem Fenster aus einen Mann dabei beobachtet, wie er die Geschichte von Troja wiedergibt, indem er sie in Bildern festhält. Bereits hier vermischen sich die Ebenen
83 Vgl. ebda., S. 13. 84 Vgl. Scholz: Hören und Lesen, S. 193. 85 Vgl. Wenzel, Horst: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 293–298. 86 Ebda., S. 301. Zum Bildprogramm des Welschen Gastes und dem Zusammenhang zwischen Text und Bild vgl. auch Wenzel, Horst: Zur Poetik der Visualität im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere. In: ZfdPh 125 (2006), S. 1–28; vgl. Starkey: Thomasins Spiegelphase, S. 230–248; vgl. Wenzel: wan die vrumen liute sint/ unde suln sin spigel dem chint, S. 181–215. 87 Die Fresken Lancelots wurden in der Forschung bereits oft aufgegriffen. Vgl. dazu u. a. Huber, Christoph: Das Ende der Bilder. Artefakt und Bildtheologie im Prosalancelot. In: ZfdPh 128 (2009) Sonderheft: Interartifizialität, S. 187–201, besonders S. 196–198; vgl. hier nochmals Wenzel: Hören und Sehen, S. 293–298; vgl. auch Ridder, Klaus: Ästhetisierte Erinnerung – erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: Lili 27 (1997), H. 105, S. 62–85, besonders S. 74–80.
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von Bild und Text, da über jedem Bild der alt historien (Bd. IV S. 46, v. 1388) ergänzend auch Buchstaben zu finden sind. Daraufhin möchte Lancelot selbst seine Geschichte aufmalen, erbittet sich von dem Mann Farbe und beginnt mit seinem Werk (vgl. Bd. IV S. 46, v. 27–29). Die Malereien sind es schließlich, die im letzten Teil des Prosalancelot König Artus über den Ehebruch seiner Frau aufklären (vgl. Bd. V S. 638 v. 21–23). Artus, der von Morgane absichtlich in dieses Zimmer gebracht wird, erblickt die Gemälde und die Geschichte, die Lancelot dort hinterlassen hat [u]nd der konig kůnd als viel der schrifft das er das wol laß und verstund (Bd. V S. 642 v. 10–11). Der König beginnt, die schrifft (Bd. V S. 642 v. 20) zu lesen und er besah die bilde (Bd. V S. 642 v. 22) und schließt daraus, dass er betrogen wurde. An dieser Stelle des Textes wird die Erkenntnis des Königs durch eine Kombination aus Schrift und Bild herbeigeführt – Schreiben und Malen werden auf diese Weise überlagert und ergänzen sich zu einem ganzen, verständlichen und ›lesbaren‹ Werk. Diese Beobachtungen führen dazu, dass bei der Arbeit mit dem Welschen Gast der Bilderzyklus in die Analyse miteinbezogen werden muss. Auch die naturphilosophischen Inhalte der Lehrdichtung und deren Veränderung im Laufe der Überlieferungsgeschichte sind im Bereich der Text-Bild-Beziehung abzuhandeln. Ich werde daher nicht nur auf die im Text augenfälligen naturphilosophischen Bezüge eingehen, sondern auch versuchen, die Illustrationen in die Argumentation miteinzubeziehen, um so das Verständnis des Welschen Gastes als ›Bilderhandschrift‹ zu vertiefen.89
2.2 Das valsche wîp Die Begegnung mit den Elementen findet im Welschen Gast zum ersten Mal über eine Illustration statt. Im siebten Kapitel des ersten Buches spricht Thomasin 88 Der Prosalancelot wird hier und im Folgenden zitiert nach: Prosalancelot. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. Hrsg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Üs., kommentiert u. hrsg. von HansHugo Steinhoff. Frankfurt a. M. 1995 (Bde. I–II), 2003 (Bde. III–IV), 2004 (Bd. V) (Bibliothek des Mittelalters 17). 89 Im Folgenden wird bei der Analyse der Illustrationen von den beiden Haupthandschriften der einzelnen Überlieferungszweige ausgegangen. Der Heidelberger Codex aus dem 13. Jahrhundert dient auch hier als Leithandschrift; die Illustrationen der Gothaer Handschrift werden kontrastiv dazu herangezogen. Zur Verdeutlichung der Argumente werden punktuell auch die Bilder dreier Handschriften aus dem 15. Jahrhundert verwendet: zwei weitere Heidelberger Thomasin-Handschriften (Cod. Pal. germ. 320 und 330), sowie die wunderbaren Illustrationen aus der Dresdner Handschrift Mscr. M 67.
Das valsche wîp
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über die Frauen und deren Verführungskünste, stellt das valsche wîp in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und erklärt, dass, wenn eine schöne Frau voller untriwe und unzuht sei (vgl. v. 950), sie nicht als schön von innen gelten könne. Daher sind valsch schœniu wîp wie mit Gold überzogene Kupfermünzen (vgl. 959– 961) – auch wenn sie glänzen, sind sie eigentlich nichts wert. Das valsche wîp ist in den einzelnen Handschriften90 auch als Illustration ausgeführt. Abbildung 1 zeigt das valsche wîp, wie es in Handschrift A dargestellt wird: eine junge blonde Frau im blauen Kleid, die in ihrer linken Hand loderndes Feuer trägt, während sie rechts einen Eimer in der Hand hält. In der Gothaer Handschrift ist die Darstellung seitenverkehrt. Die Frau wirkt aufgrund ihrer Körperhaltung – die Hüfte nach links geknickt und der Eimer auf jener abgestützt –, der betonten Taille und den lockigen Haaren auch im Vergleich zu anderen Frauendarstellungen der Handschrift lasziver und verführerischer.91 Dennoch ist sie mit den beiden gleichen Attributen ausgestattet: Flammen und einem Eimer. Obwohl nicht festzustellen ist, was sich in dem Eimer befindet, wird wohl, der Logik der Illustration folgend, Wasser darin sein. Im Text wird das valsche wîp als eine Person dargestellt, die Gegensätze in sich vereint: außen schön, doch innen hässlich. Da die innere Hässlichkeit, das Kupfer unter der goldenen Oberfläche, nicht gut darstellbar ist, wird das valsche wîp mit Attributen ausgestattet, die ihre Zerrissenheit bzw. die Inkongruenz von Schein und Sein zum Ausdruck bringen. Feuer, das in seinen Primäreigenschaften heiße und trockene Element, in der einen Hand, das demgegenüber kalte und nasse Wasser in der anderen.92 Die Unvereinbarkeit und die völlige Ungleichheit dieser beiden Elemente stehen sinnbildlich für die Unvereinbarkeit von äußerer Schönheit und innerer Hässlichkeit des valschen wîp. 90 Laut Wenzel und Lechtermann fehlt die Darstellung des valschen wîps nur in einer Bilderhandschrift aus dem späten 14. Jahrhundert, die sich mittlerweile in New York befindet und die Sigle E trägt (die Handschrift hat die Signatur MS G. 54 und ist mittlerweile auch digital verfügbar: http://ica.themorgan.org/manuscript/76996 (Stand: 2. Februar 2017)). Vgl. Wenzel/ Lechtermann (Hrsg.): Beweglichkeit der Bilder, S. 267. 91 Die graphische Darstellung der verführerischen Frau, die in der digitalen Edition mit dem Begriff ›Treulosigkeit‹ betitelt wird, erinnert auch an die künstlerische Umsetzung der fünf törichten Jungfrauen (Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen bei Mt. 25, 1–13). Bereits seit byzantinischer Zeit bzw. im Altchristentum wurden die Jungfrauen langgewandet als Parabeln des Weltgerichtes dargestellt. Von der Gotik an werden jene auch zu beliebtem Kathedralschmuck (z. B. an den Kathedralen von Amiens, Straßburg oder Notre Dame in Paris). Vgl. Niehr, Klaus: Jungfrauen, kluge und törichte. In: LexMA Bd. 5, Sp. 807–808. 92 Wie weiter unten noch genauer erläutert wird, verfügen die vier Elemente sowohl über Primär- als auch Sekundärqualitäten. Die Primäreigenschaften belaufen sich auf Kälte, Hitze, Trockenheit und Nässe, die sich jeweils in Paaren auf die Elemente aufteilen: Feuer gilt als trocken und heiß, Luft als feucht und heiß, Wasser als feucht und kalt, Erde als trocken und kalt.
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Abb. 1: das valsche wîp, Cod. Pal. germ 389, 16r. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg
Abb. 2: das valsch wîp, Cod. Memb. I 120, 14rb. Quelle: Forschungsbibliothek Gotha
In der Illustration wird allgemein verbreitetes Wissen zu den Elementen verwendet, um Inhalte der christlichen Tugendlehre zu verdeutlichen. Innen und Außen sind nicht voneinander trennbar, sollen einander vielmehr ergänzen, wenn es
Das valsche wîp
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um Anstand und Wohlerzogenheit, um das Sozialverhalten der höfischen Gesellschaft geht.93 Ist das nicht der Fall, ist die betroffene Dame den Untugenden ausgeliefert. Sie ist dann das tumbe wîp (v. 988), das sich der unstætekeit (v. 990), der untriuwe (v. 991) und der hôhvart (v. 992) schuldig macht und ein Beispiel dafür, wie eine adelige Frau auf gar keinen Fall sein soll. In der Heidelberger Handschrift A trägt die junge Frau das Feuer in der linken und den Eimer in der rechten Hand. In der um rund 100 Jahre jüngeren Gothaer Handschrift erscheint die Darstellung seitenverkehrt. Natürlich kann es sich dabei um einen Kopierfehler oder künstlerische Freiheit handeln, möglich wäre aber auch, dass der Wechsel der Attribute in den Händen der Frau absichtlich vonstattenging und eine Art ›Korrektur‹ der Illustration darstellt. Bereits das lateinische Wort für rechts, dexter, ist nicht nur eine Richtungsangabe, sondern heißt auch soviel wie »gewandt, geschickt, glückbringend, heilbringend«94. Sinister, das lateinische Wort für links, verfügt auch über die Bedeutungsebene »linkisch, ungeschickt, verkehrt, unglücklich, unheilverkündend«95. Auch das Mittelhochdeutsche kennt diese Bedeutungsvarianten, wie an den jeweiligen Einträgen im Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von Matthias Lexer zu sehen ist: rehte lässt sich als »gerade«, »richtig« oder »dem Recht entsprechend«96 ins Neuhochdeutsche übertragen, rehtec bzw. rehtic zeigt aber auch den Weg rechter Hand an97. Ganz ähnlich ist das auch beim Eintrag linc, der sowohl auf »link«, »unwissend« als auch auf »linker Hand«98 verweisen kann. Das im Mittelhochdeutschen ebenso gebräuchliche winster für links ist darüber hinaus direkt mit dem Lateinischen sinister verwandt.99 Dass sich Thomasin dieser Bedeutungsvarianten von rechts und links bewusst war, zeigt eine Stelle im Welschen Gast, in der er die Herrscher kritisiert, die ihrem Volk nicht mehr als Vorbilder dienen, sondern das Gegenteil von dem machen, was eigentlich ihre Aufgabe ist:
93 Vgl. Ruff, Ernst Johann Friedrich: Der wälsche Gast des Thomasin von Zerklaere. Untersuchungen zu Gehalt und Bedeutung einer mittelhochdeutschen Morallehre. Erlangen 1982, S. 26–27. 94 Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch von J. M. Stowasser/M. Petschenig/F. Skutsch. München 1993, S. 154, Sp. 2. 95 Ebda., S. 471, Sp. 1. 96 Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Hrsg. von Matthias Lexer. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. 3 Bde. Stuttgart 1974, hier Bd. 2, Sp. 378f. 97 Vgl. ebda., Sp. 380; an dieser Stelle verweist das erläuternde dextrorsum bereits auf die rechte Seite. 98 Lexer (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch Bd. 1, Sp. 1924. 99 Vgl. Winster. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Bd 30, Sp. 417.
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Die uns solden tragen daz lieht vor, die gênt gerne bî der vinster. Diu zeswe hant ist worden winster. Diu lember sint ze wolven worden.100 (v. 8432–8435)
Die Attribute der jungen Frau in den Abbildungen 1 und 2 sind Feuer und Wasser, die in ihren elementaren Eigenschaften heiß und trocken bzw. nass und kalt auch den beiden Geschlechtern zugeordnet sind. Bereits Galen führt die Geschlechterunterschiede auf die Gegensätze der Qualitätenpaare und die entsprechenden Säfte im Körper zurück. Der Mann ist trockener und wärmer, demnach gallereicher und dem Element des Feuers näher, während die Frau feuchter und kälter, also schleimreicher und dem Wasser ähnlich ist.101 Wenn in der Heidelberger Handschrift das Feuer links getragen wird, verbindet sich im übertragenen Sinn das männliche Prinzip mit der ›falschen‹, der linken Seite, während das weiblich konnotierte Wasser auf der ›richtigen‹, der rechten Seite angesiedelt ist. Eine ›Korrektur‹ dieses Verhältnisses zu männlich-rechts-richtig und weiblich-links-falsch wäre denkbar. Die Heidelberger Handschrift 389 ist die einzige, in der das Feuer links und der Eimer rechts getragen werden.102 Auch in den zwei anderen Heidelberger Thomasin-Handschriften, die beide auf das 15. Jahrhundert zu datieren sind, findet sich die ›korrigierte‹ Darstellung. Abbildung 3 zeigt das valsch weip, wie es im Heidelberger Cod. Pal. germ. 330, der um 1420 entstanden ist, abgebildet wird. Die Illustrationen dieser Handschrift sind nur zum Teil fertig gestellt, die meisten Abbildungen – wie auch diese – sind anskizziert und nur teilweise ausgemalt. Dennoch lässt sich gut erkennen, dass auch hier in der linken Hand ein Eimer, in dem sich eine Flüssigkeit befindet, gehalten wird; rechts trägt die junge Frau aber, anders als in früheren Darstellungen, einen Topf, aus dem Flammen hervorzüngeln. Der Gegensatz zwischen den Elementen und die damit symbolisierte Falschheit der Frau bleiben klar erhalten.
100 »Die, die das Licht vor uns her tragen sollten, die gehen selber gerne im Dunklen. Die rechte Hand ist zur linken geworden. Die Lämmer sind zu Wölfen geworden.« 101 Vgl. Schöner, Erich: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Mit einem Vorwort und einer Tafel von Robert Herrlinger. Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 4), S. 91–92. 102 Vgl. Der Welsche Gast Bd. 4, S. 63.
Das valsche wîp
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Abb. 3: das valsche weip, Cod. Pal. germ. 330, 14r. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg
Abb. 4: das valsche wibe, Cod. Pal. germ. 320, 15r. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg
Anders ist das in Abbildung 4. Der reich verzierte Cod. Pal. germ. 320, dessen Entstehungszeit zwischen 1460 und 1470 liegt, zeigt eine gut gekleidete Dame, die in ihrer rechten Hand Flammen trägt, in ihrer Linken aber keinen Wassereimer
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hält, sondern diese elegant vor die Brust führt. Bei der Illustration ist die Unvereinbarkeit von innen und außen, dargestellt durch die Gegensätzlichkeit der Elemente, nicht mehr nachvollziehbar, da der Gegenpol zum Feuer fehlt. Das mit falsch überschriebene Bild zeigt vielmehr eine Frau, die auf den Betrachter trotz ihrer weiblichen Haltung und Gestik ein wenig gefährlich wirkt. Die Flammen entstehen unmittelbar in ihrer Hand und sie vermittelt somit den Eindruck einer Brandstifterin, die das Feuer beherrscht. Der Sinn der Darstellung in Bezug auf die obige Textstelle geht hier verloren. Fraglich bleibt, ob die Veränderung der Illustration absichtlich herbeigeführt wurde oder auf einen missverständlichen Umgang mit der Vorlage zurückzuführen ist. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Sinn der Illustration, die Bedeutung der Elemente in der Darstellung, nicht mehr erkannt und daher der Eimer als redundant interpretiert wurde. Wenn die Gegensätzlichkeit des Elementenpaares ›Feuer und Wasser‹ als Verdeutlichung der Inkongruenz von Innen und Außen unverständlich wird, ist die alleinige Darstellung des Feuers als jenes Element, das auch mit der Hölle und damit der Sünde verbunden werden kann, die logische Konsequenz. Höllenfeuer bzw. Sündhaftigkeit und Untugend sind dann nachvollziehbare Verbindungen zur Falschheit der abgebildeten Frau, die in ihrer Falschheit auch gefährlich wird.103 Neben diesem Analyseergebnis, das von einer ›Korrektur‹ der Attribute der falschen Frau ausgeht, muss auch eine zweite Lesart der ältesten Heidelberger Abbildung berücksichtigt werden: In Bezug auf ihre Körperhälften hält die junge Dame im Cod. Pal. germ. 389 Feuer und Wasser in einer Anordnung, die nicht ihren elementaren Ähnlichkeiten entspricht. Die Zuordnung ist in Hinblick auf die Primärqualitäten der Elemente verdreht, sie ist ›falsch‹. Somit würde in dieser ältesten uns erhaltenen Illustration nicht nur die Inkongruenz der elementaren Qualitäten von Feuer und Wasser auf das Wesen des valschen wîp verweisen, sondern bereits die Anordnung der Attribute. Wasser und Feuer sind auf ihren jeweils ›falschen‹ Seiten, was den Charakter der Falschheit dieser Abbildung noch verstärkt. Damit wären die ›Korrekturen‹ der späteren Handschriften keine Verbesserungen mehr, sondern lediglich Simplifizierungen eines womöglich zu komplexen Bildes und damit eine Anpassung an gängige, allgemein verständliche naturphilosophische Kenntnisse.
103 Teile des Kapitels zum valschen wîp wurden bereits in einem Sammelband zur Sommertagung an der Universität Klagenfurt 2009 veröffentlicht. Wiesinger, Michaela: Wasser, Feuer, Luft und Erde. Die Elemente und ihre Verbindung zur Naturwissenschaft im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere. In: Tagungsband zur interuniversitären Sommertagung für Absolvierende der Germanistik. Hrsg. von Constanze Drumm/Michaela Wiesinger. Wien 2010, S. 255–276.
Das Feuer und die Liebe
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2.3 Das Feuer und die Liebe Thomasin kommentiert im ersten Buch seines Welschen Gastes auch die Beziehung der Frau zum anderen Geschlecht. Das neunte Kapitel beschäftigt sich mit der minne kraft (v. 1176), also der Macht der Liebe, und ihren Auswirkungen. Über die Liebe weiß Thomasin zu berichten, dass sie die persönlichen Eigenschaften des oder der Verliebten verstärkt: Den Weisen mache sie angeblich noch weiser, den Narren aber verwandle sie in einen noch größeren Narren (vgl. v. 1179–1181). Wenn ein Mann mit der Liebe zur Frau nur spielt, erweist er sich als arm an Verstand und stürzt sich damit ins Unglück (vgl. v. 1185–1188). Die Liebe selbst – vor allem die falsche Liebe – wird mit dem Feuer und seinen Eigenschaften verglichen: daz viwer ist nütze unde guot, swer im niht unrehte tuot. gewinnt daz viwer überkraft, daz man im læt die meisterschaft, so ist verlorn und wüeste gar swaz ez begrîfet, daz ist wâr. al dazselbe ist umb die minne, ob si undermacht die sinne; si blendet wîses mannes muot und schendet sêl, lîp, êre und guot. swer zem viwer nâht ze hart, der besengt dick sînen bart.104 (v. 1189–1200)
Die Erwähnung des Bartes in Vers 1200 lässt darauf schließen, dass Thomasin vor allem die Männer belehren möchte, die in Liebesdingen offensichtlich sehr schnell ›Feuer fangen‹. Dass das Feuer und die Liebe in einem engen Zusammenhang stehen, ist nicht erst seit dem Welschen Gast bekannt; auch die Auswirkung der Liebe auf den Körper – und damit auf dessen vier kardinale Säfte – ist ein weit verbreiteter Topos:105 104 »Das Feuer ist nützlich und gut, wenn man es nicht falsch handhabt. Wird es zu gewaltig und weiß man es nicht zu meistern, so ist in der Tat alles, was es ergreift, verloren und verwüstet. Genauso steht es um die Liebe, wenn sie den Verstand unterjocht. Sie macht den Weisen blind und schädigt Seele, Leib, Ehre und Besitz. Wer dem Feuer zu nahe kommt, versengst sich oft den Bart.« 105 Vgl. zum Einfluss der Minne auf den Körper u. a.: Haferlach, Torsten: Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten. Heidelberg 1991; Crohns, Hjalmar: Zur Geschichte der Liebe als ›Krankheit‹. In: Archiv für Kultur-Geschichte 3 (1905), S. 66–86, hier S. 68; Hergemöller, Bernd Ulrich: Sexualität. Allgemein und westlicher Bereich. In: LexMA Bd. 7, Sp. 1812–1819, hier
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Bereits in der Antike wurden das Versagen der Stimme und der Selbstbeherrschung, heißer Schweiß und unregelmäßiger Atem als Symptome der Verliebtheit gedeutet.106 Galen äußert sich zur Pathologie der Liebe und deutet vor allem einen unregelmäßigen Puls und einen allgemeinen Verfall des Körpers durch Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit als Zeichen der Minnekrankheit.107 Akutes Liebesleiden lässt sich aber vor allem an einer erhöhten Körpertemperatur erkennen. Die vier kardinalen Körpersäfte sind in diesem Fall nicht mehr im Gleichgewicht, da zu viel heiße und trockene Galle produziert wird, die den Körper erhitzt und die Krankheit verursacht. Nach Galen ist die gelbe Galle der Saft, der in direkter Verbindung zum Feuer steht und sich durch Hitze und Trockenheit auszeichnet.108 Auch die europäische Medizin des 12. bis 14. Jahrhunderts, die unter starkem Einfluss der arabischen Lehren zu Gesundheit und Diätetik stand, argumentierte im Bereich der Sexualität mit der Humoralpathologie.109 Dem Element des Feuers glichen nicht nur der Körpersaft Galle, sondern auch das Lebenszeitalter der Jugend und das männliche Prinzip. Demnach verfügt ein junger, ohnehin schon ›heißblütiger‹ Mann über einen starken Geschlechtstrieb und ist aufgrund seiner körperlichen Attribute viel eher gefährdet, der Minnekrankheit zu erliegen, als eine Frau, die dem kalten und feuchten Element des Wassers zugeordnet wird.110 Auch die Literatur bedient sich dieses Wissens: Bereits in der Ars amatoria des Ovid, die großen Einfluss auf die Texte des Mittelalters hat, wird auf die Liebeskrankheit und deren Ursachen eingegangen. Im zweiten Buch der Liebeskunst, das
Sp. 1812f.; vgl. insbesondere zu Constantinus Africanus: Wack, Mary Frances: Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries, Philadelphia 1990; zu Galen vgl. Siegel, Rudolph Erich: Galen’s system of Physiology and Medicine. An Analysis of his Doctrines and Observations on Bloodflow, Respiration, Humors and Internal Diseases. Basel u. a. 1968; zu Avicenna vgl. u. a. Strohmaier, Gotthart: Avicenna. 2., überarbeitete Auflage. München 2006; vgl. auch: Avicenna: The Canon of Medicine (al-Qānūn fī’l-tibb). Adapted by Laleh Bakhtiar. From Translations of Volume I by O. Cameron Gruner/Mazar H. Shah. Correlated with the Arabic by Jay R. Crook with Notes by O. Cameron Gruner. Chicago 1999 (Great Books of the Islamic World); vgl. zum Einfluss der Säfte auf die Temperamente auch einen neueren Text von Arikha, Noga: Passions and Tempers. A History of the Humours. New York 2008; vgl. zum melancholischen Temperament im Besonderen auch Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Üs. von Christa Buschendorf. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 1998 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1010). 106 Vgl. Haferlach: Verletzungen und Krankheiten, hier S. 120. 107 Vgl. Crohns: Liebe als ›Krankheit‹, S. 68. 108 Vgl. Siegel: Galen’s system of Physiology and Medicine, S. 217; vgl. auch die Abbildung zu den vier Säften und deren jeweilige Entsprechungen bei Schöner: Viererschema, S. 91–92. 109 Vgl. Hergemöller: Sexualität. In: LexMA Bd. 7, Sp. 1812–1813. 110 Vgl. Crohns: Liebe als ›Krankheit‹, S. 83.
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sich mit den Anweisungen für Männer beschäftigt, heißt es im Kapitel »Leiden der Liebe«, dass die Pfeile, die die Männer treffen, mit viel Galle getränkt sind.111 Heinrich von Veldeke beschreibt in seinem Eneasroman die Symptome der Minnekrankheit und vergleicht diese auch mit dem Feuer. Didos Not vermehrt sich ständig, da Cupido ihr sein Feuer immer wieder in die Wunde legt (v. 39,5)112, Lavina leidet an Schweißausbrüchen und Schüttelfrost (v. 263,5–6) und vergleicht die Minne mit der Galle (v. 272,38–40), Eneas glaubt, krank zu sein (v. 292,23– 26). Sara Stebbins definiert die Leiden der Liebe als »Fieberkrankheit«113, deren Ursache ein Leiden der Galle ist. Die Disharmonie des Körpers aufgrund der Minnekrankheit wird als unmâze bezeichnet und führt in literarischen Texten oftmals zur Trennung von der höfischen Umwelt, zu körperlichem Leiden und manchmal – wie im Falle Didos – sogar zum Tode. Ein gut funktionierendes Heilmittel gegen die Minnekrankheit114 gab es nicht.115 Die arabischen Ärzte, allen voran Avicenna, rieten den Kranken zwar zu 111 Im Original lautet dieses Zitat: quae patimur, multo spicula felle madent (v. 520). P. Ovidis Naso: Ars amatoria. Liebeskunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 1992, S. 120. 112 Zitiert wird nach der Ausgabe: Heinrich von Veldeke. Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986 (Universal-Bibliothek Nr. 8303). 113 Stebbins, Sara: Studien zur Tradition und Rezeption der Bildlichkeit in der Eneide Heinrichs von Veldeke. Frankfurt a. M. 1977 (Mikrokosmos 3), S. 95. Sie weist auch darauf hin, dass alle Symptome nur in ihren Extremzuständen auftreten: vgl. ebda., S. 99. 114 Auch Ovid versuchte in seinen Remedia amoris den unglücklich Verliebten von seiner Minnekrankheit zu heilen. Er rät zu Aktivität (v. 135), der Vermeidung von Einsamkeit (v. 579) und meint, dass die Liebe zu einer anderen Frau sehr heilsam sein kann (v. 462). Man solle sich die Nachteile der früheren Geliebten gut einprägen (v. 325) und alle Erinnerungen an schöne Momente meiden (v. 729). Auch die Ernährung kann beim Vergessen helfen, da Zwiebel (v. 797–798) oder Rauke (799) liebeshungrig macht – genau wie der Wein, außer man nimmt ihn in rauen Mengen zu sich (v. 805–806). Am Ende seiner Remedia amoris argumentiert Ovid im Bereich der Diätetik mit der Elementenlehre: »Nahrung empfängt durch den Wind, und durch Wind gelöscht wird das Feuer, ein gelinder Luftzug unterhält die Flammen, ein stärkerer tötet sie. Entweder kein Rausch, oder er soll so stark sein, daß er deinen Liebeskummer hinwegnimmt; was dazwischen liegt, ist schädlich.« (v. 807–810) Im lateinischen Original: Nutritur vento, vento restinguitur ignis; / Lenis alit flammas, grandior aura necat. / Aut nulla ebrietas, aut tanta sit, ut tibi curas / Eripiat; siqua est inter utrumque, nocet. Zitiert wird nach der Ausgabe: Ovid: Heilmittel gegen die Liebe. Die Pflege des weiblichen Gesichtes. Lateinisch und deutsch von Friedrich Walter Lenz. Berlin 1960 (Schriften und Quellen der alten Welt 9). 115 Dass man eventuell über diätetische Maßnahmen einen Liebenden von seiner Krankheit kurieren konnte, ist auch am Ende einer Kurzdichtung des Stricker (zwischen 1220 und 1250 Berufsdichter v. a. in Österreich; vgl. dazu einführend Röcke, Werner: Stricker, der. In: LexMA Bd. 8, Sp. 242–244) zu sehen – wenngleich sehr deutlich ironisch und überzeichnet. In Die Minne-
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richtiger, den Körper kühlender Ernährung sowie ablenkender Beschäftigung und empfahlen ihnen, sich von Exzessen fernzuhalten, doch diese Form der Therapie versprach noch keinen sicheren Erfolg. In besonders hartnäckigen Fällen wurden »alte Weiber« hinzugezogen, die vor den Liebeskranken über deren Angebetete lästerten. Half auch das nicht, konnte nur noch die körperliche Vereinigung mit der Geliebten eine Chance auf Heilung geben.116 In Europa wurde diese Therapieform aber aufgrund kirchlicher Ge- und Verbote restlos verweigert.117 Das Feuer und die Liebe sind nützlich, solange man sie nicht falsch handhabt, sagt Thomasin. Wenn sie aber die Oberhand gewinnen, wenn also der Körpersaft, der dem Feuer gleicht – in diesem Fall die Galle – die restlichen Körperfunktionen bestimmt, verliert der Mensch sein Gleichgewicht, seine Beständigkeit und gibt sich der unmâze hin. Dann geschieht das, was im Welschen Gast in den Versen 1196 bis 1198 geschildert wird, als Motiv in der Literatur der Antike und des Mittelalters seine Verwendung fand und in der Medizin als Minnekrankheit bezeichnet wurde: Der Mann verliert seinen Verstand, die Liebe macht ihn dumm, sie bringt ihn um Seele, Körper, Ehre und Besitz. Thomasin bietet keinen Ausweg aus dieser eher verfahrenen Situation an. Als Kleriker darf er nicht die Meinung Avicennas vertreten und für den Geschlechtsverkehr als Form der Heilung plädieren. Dem Tenor seines Lehrgedichts folgend, bricht er vielmehr eine weitere Lanze für die Beständigkeit (die stætekeit) und rät dem Leser, auf Präventivmaßnahmen zu setzen, sich im Maßhalten (der mâze) zu üben und sich vom Feuer und der übermäßigen Minne fernzuhalten. Dann läuft man gar nicht Gefahr, sich den Bart zu versengen.
sänger wird in den letzten 20 Versen davon erzählt, dass wenn ein Liebender sich nach der Frau eines anderen verzehrt, er viel zu viel Hitze im Körper hat. Wenn man einem solchen Liebenden Pfeffer und Wein gibt, dann wird ihm noch heißer; viel besser und auch lebensverlängernder wäre es, kaltes Wasser zu geben, da es der Hitze im Körper widerstehen kann, die in diesem Fall aus der Hölle und damit vom Teufel kommt (vgl. v. 303–316 aus Die Minnesänger. In: Die Kleindichtung des Strickers. Hrsg. von Wolfgang Wilfried Moelleken/Gayle Agler-Beck/Robert E. Lewis. 5 Bde. Bd. 5: Gedicht Nr. 139–167. Göppingen 1978 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 107/V), S. 83–97). Der kurze Rat am Ende des Gedichtes verweist darauf, was bereits bei Ovid oder auch Avicenna zu finden ist: Wenn es jemandem mal aus Liebesdingen zu heiß wird, dann soll auf keinen Fall dessen Hitze vermehrt werden. Die Nahrung soll kalt sein, damit die Hitze aus dem Körper entweichen kann und der Betroffene letztlich nicht verbrennt (vgl. v. 319–324). Aus dieser kurzen Passage geht deutlich hervor, dass die Liebe als Krankheit (sowie deren Ursachen) Mitte des 13. Jahrhunderts bereits fest im Denken der Dichter – und aufgrund des scherzhaften Umgangs mit dem Thema auch im Denken der RezipientInnen – verankert gewesen sein musste. 116 Vgl. Crohns: Liebe als ›Krankheit‹, S. 73–75. 117 Vgl. Haferlach: Verletzungen und Krankheiten, S. 123.
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2.4 Die unstaetekeit und deren Ursachen – kosmologische Grundlagen Im zweiten Buch des Welschen Gastes dreht sich alles um die Unbeständigkeit, die laut Thomasin für all das verantwortlich ist, was mit Sünden, Lastern und dem Weg in die Hölle zu tun hat. Im zweiten Kapitel wird zum ersten Mal erklärt, dass die Unbeständigkeit nichts anderes als Beständigkeit an schlechten Dingen (v. 1839) ist. Auch die Unfähigkeit, sich für eine Sache zu entscheiden oder sich einer Sache ganz und gar zu widmen, wird als Unbeständigkeit ausgelegt. Die unstætekeit ist in den verschiedenen Handschriften auch als Illustration ausgeführt: Sie ist in fast allen Fällen118 als junge Frau dargestellt, die in vier Teile zerlegt ist. Die vier Bereiche, die in der Abbildung 5 gut sichtbar werden, sind von oben nach unten mit den Wörtern liep, leit, ia und niht überschrieben. In der jüngeren Darstellung aus der Gothaer Handschrift (Abbildung 6) erfolgt die Beschriftung in genau umgekehrter Reihenfolge. Der Text erläutert die Illustration wie folgt: ein teil ist liep, daz ander leit,/daz dritte jâ, daz vierde niht./Si ist zebrochen und zebricht.119 (v. 1970–1972). Die Unbeständigkeit macht, dass keine Entscheidung, kein emotionaler Zustand Bestand hat und ein Mensch sich zerrissen fühlt. In Vers 1972 sagt Thomasin auch explizit, dass die Unbeständigkeit nicht nur selbst zerbrochen120 ist, sondern auch die Fähigkeit besitzt, Dinge zu zerbrechen.
118 In vier späten Handschriften fehlen sowohl die Vierteilung als auch die Beschriftungen der Zeichnung, lediglich die Überschriften werden ausgeführt. In der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 320 sind die Wörter liep und leit quer über den Körper der Frau geschrieben. Vgl. Kries: Der Welsche Gast Bd. 4, S. 73–74. In einigen Handschriften – u. a. auch in der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 330 – findet sich anstelle des Frauenkörpers eine männliche Figur. Kathryn Starkey argumentiert, dass hier das Geschlecht von den Künstlern als ein redundantes Detail gesehen worden sein könnte, da sich die BetrachterInnen eher mit dem höfischen Status der Figuren als mit ihrem Geschlecht identifizieren. Dennoch ist zu vermuten, dass das grammatische Geschlecht der Tugenden und Laster zum Vorbild der Illustrationen genommen wurde. Vgl. dazu Starkey, Kathryn: Das unfeste Geschlecht. Überlegungen zur Entwicklung einer volkssprachlichen Ikonographie am Beispiel des Welschen Gasts. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel/C. Stephen Jaeger. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 99–138. 119 »Ein Teil ist das Angenehme, der andere ist das Leiden, der dritte ist ja, der vierte nein. Sie ist zerbrochen und zerbricht.« 120 Das mittelhochdeutsche zerbrechen kann neben den gängigen Bedeutungen »entzwei gehen, zerbrechen, auseinander fallen, bersten« auch mit »(von den Pferden) auseinandergerissen« übersetzt werden und zeigt damit auch einen durchaus gewaltsamen Aspekt des Wortes.
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Abb. 5: unstæticheit, Cod. Pal. germ. 389, 31v. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg (links)
Abb. 6: unsteticheit, Cod. Memb. I 120, 20va. Quelle: Forschungsbibliothek Gotha (rechts)
Dreihundert Verse später wird im fünften Kapitel des zweiten Buches eine weitere Unstimmigkeit im Körper des Menschen erklärt: Jeder Mensch ist aus vier Elementen gemacht, die einander aber nicht gleichen, sondern völlig entgegengesetzt sind. Daher ist es nur logisch, dass, wenn die vier Elemente untereinander uneins sind, auch der Mensch, der aus diesen Elementen besteht, mit Unbeständigkeit zu kämpfen hat und – genau wie die Figur der unstætekeit – zerrissen ist: Nu merke swer niht sî ein gouch,/sît sich vereinent dise vier/an unserm lîp, daz danne wier/an unserm willn vereinen niht.121 (v. 2294–2297). Gegensätzlichkeit und Unbeständigkeit122 können auf ein ganz bestimmtes Ereignis in der Menschheits- bzw. Heilsgeschichte zurückgeführt werden: Adam und der Sündenfall sind schuld. Die Welt wurde beständig geschaffen, doch davon 121 »Nun beachte, wer kein Narr ist, dass, wenn sich auch diese vier in unserem Körper vereinigen, wir in unserem Wollen nicht einig sind.« 122 Zur Unbeständigkeit der Welt und der Gegensätzlichkeit der Dinge kann auch Hugos Renner Auskunft geben (im Folgenden wird der Renner zitiert nach der Ausgabe: Der Renner von Hugo von Trimberg. Hrsg. von Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. 4 Bde. Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters)). Hugo erklärt den Zustand der Welt nicht über die Gegensätzlichkeit der Elemente, sondern argumentiert auf einer sprachlichen Ebene: Die werlt ist mit dem Wort werren verwandt und genau das ist der Grund, warum sie so chaotisch und unbeständig ist (vgl. v. 2250). Somit gelangen sowohl Thomasin als auch Hugo in ihren Betrachtungen über die Welt auf völlig unterschiedlichen Wegen
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ist offensichtlich nicht mehr viel übrig, da es jetzt Gewitter, Schnee, Regen und Wind gibt. Im Sommer ist es viel zu heiß, im Winter viel zu kalt, wenn man glaubt, dass das Wetter schön bleibt, dann ziehen dicke Wolken auf (vgl. 2151–2168). Ich getar sîn wol gejehen, jâne möht nimmer geschehen, wære unser unstæte niht, unstæt diu an der werlde geschiht. Nu zwiu wære regen od wint? Wær Âdâm und sîniu kint gewesen stæt, zwiu solt der snê? Uns würde nimer von kelte wê.123 (v. 2169–2176)
Zu Anbeginn der Zeit regiert in fast allen Schöpfungsgeschichten das Chaos124. Das ist auch in der Bibel nicht anders, wenn Gott erst durch den Schöpfungsakt Ordnung in die Welt bringt (vgl. 1. Buch Moses). In diese geordnete und beständige Welt wurde laut Thomasin Adam hineingeboren. Er selbst, der Stammesvater der Menschheit, hätte beständig bleiben müssen, dann wären die Welt und wir alle von der unstætekeit verschont geblieben. Der Erde ist aber, im Gegensatz zum Menschen, noch ein Teil ihrer Beständigkeit erhalten geblieben – und genau das kommt nun allen zugute: Die Jahreszeiten verhalten sich nach einem immer wiederkehrenden Schema (vgl. v. 2199– 2208). Es gibt einen konstanten Wechsel von Tag und Nacht (vgl. v. 2215–2221) und so, wie es schon immer war, kreist der Himmel um die schwache Erde, die nur durch die gegenläufige Bewegung der sieben Planeten in ihrer Position gehalten werden kann (vgl. v. 2222–2228). Die Bewegung der Planeten wird aber sofort wieder mit der Unbeständigkeit des Menschen verglichen: Ein ieglîchr sînen kreiz hât dâ er inne umbe gât: er vert ûz sînem ringe niht, als uns ze varn dicke geschiht. Wan wir varn hin und her und versuochen wege mêr
zum gleichen Ergebnis: Die Erde ist nicht beständig, sondern wirr, chaotisch und voller Gegensätze. Weiteres dazu im Kapitel zu Hugos Renner ab S. 100. 123 »Ich wage zu behaupten: Wäre unsere Unbeständigkeit nicht, gäbe es keine Unbeständigkeit, wie sie in der Welt geschieht. Wozu sollen Regen oder Wind gut sein? Wären Adam und seine Kinder beständig gewesen, wozu dann Schnee? Wir bräuchten niemals unter Frost zu leiden.« 124 Vgl. Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996, S. 34.
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denn einen, und sîn doch unstæte an alln von unser missetæte.125 (v. 2229–2236)
Jeder Planet umkreist in einer für ihn vorgesehenen Bahn die Erde, die im Zentrum des Universums ruht. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts errechnet Johannes Kepler die elliptischen Bewegungen der Planeten um die Sonne.126 Bis dahin gehen die Gelehrten von kreisförmigen Bahnen aus, so wie auch Platon und Aristoteles. In ihren Werken ist die Bewegung aber zweitrangig – die Ruhe wird viel höher geachtet.127 Um die Planetenbewegungen im Kontext der zeitgenössischen Naturphilosophie zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf Platons Timaios128 unerlässlich: Der Timaios, der um ca. 360 v. Chr. entstand, gilt als einer der schwierigsten Dialoge Platons und beschäftigt sich mit kosmologischen, ontologischen und theologischen Fragestellungen.129 Er war der einzige Text Platons, der in lateinischer Sprache bis zur ›Wiederentdeckung‹ der griechischen Philosophie im 12./13. Jahrhundert in Westeuropa zugänglich war. Er erfreute sich großer Popularität und war bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts einer der wichtigsten Texte der mitteleuropäischen Naturphilosophie. Vor allem in der Schule von Chartres wurde der Timaios ausgiebig gelesen und kommentiert. Allerdings kannte man zu dieser Zeit nur einen unvollständigen Text, da die beiden existierenden lateinischen Übersetzungen nur Auszüge überlieferten. Cicero (1. Jh. n. Chr.) widmete sich den Abschnitten 27D bis 47B; Calcidius (um 400 n. Chr.), dessen Text verbreiteter und bekannter war, hatte die Abschnitte 17A bis 53C übersetzt130. Der lateinische Timaios des Calcidius wurde von jenem mit einem ausführlichen Kommentarteil versehen, der die komplexen Themen des Textes eingehend erläutert. Damit wurde er zu dem 125 »Jeder [Planet] hat seine Kreisbahn, in der er umläuft. Er verlässt seinen Kreis nicht, so wie wir es häufig tun, denn wir ziehen hin und her und versuchen mehr als einen Weg und sind doch auf allen unbeständig unserer Sündhaftigkeit wegen.« 126 Vgl. Kepler. In: Der Brockhaus Astronomie. Planeten, Sterne, Galaxien. Hrsg. von der Lexikonredaktion des Verlags. Mannheim 2006, S. 214, Sp. 2–S. 215, Sp. 1. 127 Vgl. Nitschke: Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter, hier v. a. S. 36–45. 128 Zur Naturauffassung Platons und im Speziellen zur Wirkungsgeschichte des Timaios vgl. Gloy: Das Verständnis der Natur Bd. 1, S. 79–106. 129 Vgl. zum Timaios allgemein das Nachwort der Reclam-Ausgabe: Platon: Timaios. Griechisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Thomas Paulsen/Rudolf Rehn. Stuttgart 2003 (Universal-Bibliothek Nr. 18285), hier v. a. S. 237–244. 130 vgl. dazu: Speer, Andreas: Lectio Physica. In: Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von Thomas Leinkauf/Carlos Steel. Leuven 2005 (Ancient and Medieval Philosophy 34), S. 213–34, hier vor allem S. 214–15, vgl. auch: Meinhardt, Helmut: Platon, Platonismus. Das Frühmittelalter. In: LexMA Bd. 7, Sp. 11–12.
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Text, auf den später die christlichen Schöpfungstheologien aufbauten. Calcidius Timaios bildete die Arbeitsgrundlage für Gelehrte wie u. a. Bernardus Silvestris (Cosmographia) oder Wilhelm von Conches (dieser verfasste im 12. Jahrhundert seinen eigenen ausführlichen Kommentar zum Timaios und griff auch in seinen philosophischen Abhandlungen platonisches Gedankengut auf).131 Je nach Körper unterscheidet Platon eine bestimmte Art der Bewegung, die auch einem bestimmten Ort zugeordnet ist: Geradlinige Bewegung findet auf der Erde statt, die Kreisbewegung im Raum (vgl. 34A132). Der Kosmos, der als möglichst vollkommenes Wesen (perfectum animal) aus vollkommenen Teilen (corporibus perfectis) geschaffen wurde, erhielt die ihm entsprechende Gestalt und wurde daher kugelförmig gemacht, da das Kreisrunde als die vollendetste aller Formen gilt (vgl. 32D–33B133). Die Sterne wandern auf einem Kreis, in einer eigenen, der geradlinigen Bewegung aber übergeordneten Bahn, rund um die Erde (vgl. 38C–39A). All das ist das Werk des gütigen Demiurgen, der zu Beginn der Schöpfung alles, was nicht ruhte, aus der Unordnung in die Ordnung überführte (vgl. 30A) und damit den Kosmos und alles sich darin Befindliche regulierte. Innerhalb des Kosmos haben die Fixsterne im Gegensatz zu den Planeten eine ausgezeichnete Position, da sie, an sich ruhend, in den sich drehenden Himmel positioniert werden und dadurch als Zeichen des Göttlichen gelten (vgl. 40B134). Die Erde, die Platon als älteste Gott131 Vgl. Wesche, Markus: Calcidius. In: LexMA Bd. 2, Sp. 1391–92; vgl. auch: Ernst, Stephan: Wilhelm v. Conches. In: LexMA Bd. 9, Sp. 168–70. 132 Der lateinische Text nach Calcidius wird hier und im Folgenden zitiert nach: Plato Latinus. Hrsg. von Raymundus Klibansky. Volumen IV: Timaeus. A Calcidio translatus commentarioque instructus. London/Leiden 1962 (Corpus Platonicum Medii Aevi): […] quoniam ex septem motibus non locularis ei quisquam sed rationabilis competebat, qui animarum proprius est circuitus neque ullum locum ex loco mutans ideoque in orbem fertur et uelut fixo circumuolat cardine; Die sieben Bewegungen, von denen hier die Rede ist, sind jeweils zwei geradlinige in jede Richtung (auf und ab, links und rechts, vor und zurück) sowie die Kreisbewegung, die als siebte Bewegung jene der Vernunft ist (vgl. Paulsen/Rehn: Platon: Timaios, Nachwort, Fußnote 18, S. 219). Bei Platons Schüler Aristoteles sind es keine sieben Bewegungsarten mehr. Aristoteles unterscheidet zwischen drei natürlichen Bewegungsarten, von denen zwei als geradlinig bezeichnet werden: die Bewegung von der Mitte weg, die Bewegung zur Mitte hin und die Kreisbewegung, welche um die Mitte herum führt. Die Kreisbewegung zeichnet sich im Gegensatz zu den anderen beiden Bewegungen durch ihre Vollkommenheit aus (Vgl. Aristoteles: Über den Himmel. Vom Werden und Vergehen. Hrsg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke. Paderborn 1985, S. 21 u. 26). 133 Dazu Abschnitt 33B: globosam et rotundam, quae a medietate ad omnem ambitum extimarum partium spatiis aequalibus distat, quo totus sui similis foret, meliorem similitudinem dissimilitudine iudicans. 134 Dazu Abschnitt 40B: Qua ex causa facti sunt summa divinitate praediti omnes illi ignes siderei, qui nullos errores exorbitationesque patiuntur proptereaque in semet ipsos convertuntur aeterno circuitu.
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heit und auch als Wächterin und Gestalterin von Tag und Nacht ansieht, verfestigte der Schöpfer an der Achse in der Mitte des Kosmos135 (vgl. 40B,C). Thomasin spricht in Vers 2225 von der siben sterne widerganc, der Gegenläufigkeit der sieben Planeten, und begründet diese wie folgt: Während die antiken Gelehrten die Erde als in der Mitte des Universums ruhend voraussetzen136, geht Thomasin von einer schwachen – einer erde kranc (v. 2226) – aus, die nur deshalb in der Mitte des Sphärenmodells ruhen kann, weil sich die Planeten gegenläufig um sie bewegen.137 Mit einem Blick in den Himmel lässt sich leicht erkennen, dass durch die Drehung der Erde um ihre Achse die Fixsterne scheinbar von Ost nach West rotieren. Allerdings ist der beobachtbare Ausschnitt des Nachthimmels auch einer Veränderung unterworfen, da sich schließlich die Erde innerhalb eines Jahres einmal um die Sonne dreht. Die Planetenbewegung ist komplizierter und hängt davon ab, welcher Planet betrachtet wird. Die äußeren Planeten (Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun), die die einfachsten Bewegungen beschreiben,
135 Der Kommentarteil zur Reclam-Ausgabe weist darauf hin, dass bis heute in der Forschung umstritten ist, ob Platon an eine Bewegung der Erde glaubte oder nicht. Die Erde soll laut Platon an der durch das Weltall hindurchgehenden Weltachse befestigt sein (terram vero matrem et altricem omnium terrenorum animantium constrictam limitibus per omnia vadentis et cuncta continentis poli diei noctisque custodem locavit, antiquissimam et eximiae dignitatis deam ex eorum numero qui intra mundi ambitum continentur deorum.) – ob dies nun bedeutet, sie dreht sich mit dem Kosmos, ist in Ruhe oder macht die Bewegung der Sterne mit, die als ruhend im drehenden Kosmos und damit als quasi göttliche Instanzen gesehen werden, geht nicht klar aus diesem Abschnitt hervor (vgl. Paulsen/Rehn: Platon: Timaios, Nachwort, Fußnote 31, S. 224). 136 Vgl. Aristoteles: Über den Himmel, S. 83. 137 Das Modell der gegenläufigen Planetensphären findet sich schon bei Aristoteles in einer äußerst komplexen Form: Die Umlaufschale des Himmels, von der es nur eine einzige gibt, bewegt sich gleichmäßig im Kreis, die Sterne unterliegen unregelmäßigeren Kreisbewegungen, sind aber dem Äther, dem ewigen und ruhenden Urkörper, der eine Art vollkommenes Element darstellt und auch mit Gott gleichgesetzt wird, nahe (vgl. Aristoteles: Über den Himmel, S. 52). Dieser ›unbewegte Beweger‹ treibt die äußerste Schale des Himmels an, deren Bewegung überträgt sich auf die weiteren Schalen und gelangt so auch zu allem Irdischen. Die Planetenbewegung zeichnet sich laut Aristoteles durch mehrere Schalen pro Planet und deren Gegenläufigkeit zueinander aus, die eingeführt werden, um die teilweise komplizierten Bewegungen am Nachthimmel zufriedenstellend erklären zu können. Es muss laut Aristoteles Sphären geben, die sich gegen die Sphären drehen, in denen die Planeten um die Erde wandern, um jene zu ›verlangsamen‹ (vgl. Aristoteles: Über den Himmel, S. 89). 55 Sphären braucht Aristoteles, um sein Himmelsmodell zufriedenstellend argumentieren zu können (vgl. Mazal, Otto: Die Sternenwelt des Mittelalters. Graz 1993, S. 32).
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wandern tatsächlich von West nach Ost – »von links nach rechts«138 – also gegen die ›Bewegungsrichtung‹ des Fixsternhimmels. Claudios Ptolemäus verfasste im 2. Jahrhundert nach Christus seine für über tausend Jahre allgemein gültige Megale Syntaxis, genannt Almagest, in der er den Himmel und seine Bewegungen erklärt. Der Almagest wurde im 9. Jahrhundert ins Arabische übersetzt und war ab dem 12. Jahrhundert auch im lateinischen Westen bekannt, wo er von den Gelehrten verwendet und erweitert wurde.139 Bei Ptolemäus ruht eine kugelförmige Erde in der Mitte der Welt. Über dieser schichten sich acht Sphären unterschiedlicher Dicke auf, in deren ersten sieben jeweils ein Planet um die Erde wandert; in der achten sind die Fixsterne befestigt. Alle Sphären drehen sich – die äußerste von Ost nach West, alle anderen von West nach Ost. Eine Erdumdrehung bzw. -bewegung lehnte Ptolemäus strikt ab.140 Er folgt in seiner Beschreibung des Himmels platonischen Ideen, wenn er der Astro nomie alles Gute und Schöne – also alles Symmetrische und Einfache – gleichsetzt. Diesen Annahmen folgend, setzen sich auch bei Ptolemäus alle Bewegungen aus den als vollkommen angesehenen Kreisbewegungen zusammen.141 Ein ähnliches Gedankengebäude findet sich bei Thomasin. Auch hier hat jeder Planet seinen Kreis und zeichnet sich durch beständige Bewegung aus. Dass Thomasin die Gegenläufigkeit der Planeten erwähnt, zeugt davon, dass er entweder vom Sternenhimmel oder der Astronomie Ahnung hatte. Seine Ausführungen zur Kosmologie lassen darauf schließen, dass für ihn im Weltall kein Chaos herrscht. Wenn sich Sterne am Nachthimmel eigenartig verhalten, dann folgt auch das einer Regelhaftigkeit. Schließlich wurde ja alles oberhalb des Mondes von Gott als beständig geschaffen (vgl. dazu ab v. 2603; mehr zu diesem Thema weiter unten ab S. 64). Thomasin findet seine eigene, innerhalb des moraldidaktischen Systems schlüssige Erklärung für die beobachtbaren Planetenbewegungen. Die Ursache für unregelmäßige Planetenbewegungen kann nur auf der Erde liegen, da alles oberhalb des Mondes nicht der zerreißenden Kraft der vier Elemente ausgeliefert ist. Die in dieser Betrachtungsweise 138 Planetenbahnen. In: Der Brockhaus Astronomie. Planeten, Sterne, Galaxien. Hrsg. von der Lexikonredaktion des Verlags. Mannheim 2006, S. 339, Sp. 1. 139 Vgl. Mazal: Sternenwelt, S. 33. 140 Vgl. ebda., S. 33f; vgl. dazu auch die entsprechenden Abschnitte bei Ptolemäus: zur ruhenden Erde inmitten des Kosmos vgl. Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie. Aus dem Griechischen üs. und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Karl Manitius. 2 Bde. Bd. 1: Buch I–VI. Leipzig 1912, S. 16–20; zum Aufbau des Sphärenmodells vgl. Bd. 2, S. 92–94; zur Bewegung der Fixsterne vgl. Bd. 2, S. 12–15. 141 Vgl. Kanitscheider, Bernulf: Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive. Stuttgart 1984 (Universal-Bibliothek Nr. 8025), S. 79–80; vgl. dazu auch im Almagest selbst: Ptolemäus: Handbuch der Astronomie Bd. 1, S. 9–10.
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schwache (kranke) Erde würde von der Drehbewegung des Himmels, der schon seit jeher um die Welt kreist (vgl. v. 2223–2224), immer wieder umgedreht werden (vgl. v. 2227–2228), wenn nicht die Planeten gegenläufig wären. Die Stabilität des Himmels muss in dieser Argumentation die instabile, unstæte Erde in ihrer Position halten. Was die Rotation der Sphären anbelangt, zitiert Thomasin ptolemaisches Gedankengut. Dennoch stellt sich die Frage, warum er die Erde entgegen der landläufigen Meinung als grundsätzlich unstabil wahrnimmt. Beobachtet man den Himmel etwas genauer, lässt sich feststellen, dass die einzelnen Planeten von Zeit zu Zeit Schleifenbewegungen am Nachthimmel vollführen. Von der Erde aus gesehen, unterliegen sowohl die inneren (Merkur und Venus) als auch die äußeren Planeten (Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun) hin und wieder eigenartigen Rückwärtsbewegungen, die durch die Position der Planeten im Umlauf um die Sonne zustande kommen. Wenn einer der äußeren Planeten in Opposition zur Sonne steht,142 bewegt sich die Erde auf ihrer Innenbahn schneller als der äußere Planet weiter. Am Nachthimmel sieht das aus, als ob der Planet zunächst stehen bleiben würde, sich dann eine Zeit lang rückwärts bewegt, um dann wieder ›normal‹ weiter zu wandern. Bei den sonnennahen Planeten tritt dieses Phänomen in der unteren Konjunktion143 auf, wenn die inneren Planeten auf ihrer Bahn die Erde ›überholen‹.144 Hipparchos von Nikaia erarbeitete im 2. vorchristlichen Jahrhundert für dieses Phänomen ein zufriedenstellendes mathematisches Modell, das auf Kreisbahnen beruht und von Ptolemäus in seinem Almagest aufgegriffen wurde.145 Die sogenannte Epizykeltheorie146 erklärt die rückläufigen Planetenbewegungen mit Hilfe zweier zusammengesetzter Kreisbewegungen. Der entsprechende Planet 142 Das bedeutet, dass von der Erde aus gesehen der Winkel zwischen dem betreffenden Planeten und der Sonne 180 Grad beträgt, dass also – sehr plastisch gesprochen – sich die Erde genau in der Mitte zwischen Sonne und Planet befindet. Vgl. Konstellation. In: Der Brockhaus Astronomie, S. 225, Sp. 1. 143 Damit bezeichnet man innerhalb der Planetenbewegungen die Konstellation, in der sich ein innerer Planet zwischen Sonne und Beobachter – in diesem Fall ist das die Erde – hindurchbewegt. Vereinfacht ausgedrückt, befinden sich Merkur oder Venus genau zwischen Sonne und Erde. Vgl. Konstellation. In: Der Brockhaus Astronomie, S. 255, Sp. 1. 144 Vgl. Planetenbahnen. In: Der Brockhaus Astronomie, S. 339, Sp. 1. 145 Vgl. zur ›exzentrischen und epizyklischen Hypothese‹ Ptolemäus: Handbuch der Astronomie Bd. 1, S. 152–153; vgl. auch Gürtler, Joachim/Dorschner, Johann: Das Sonnensystem. Leipzig u. a. 1993 (Wissenschaftliche Schriften zur Astronomie). Mit großer Wahrscheinlichkeit leistete bereits Apollonius von Perge, der im 3. Jahrhundert vor Christus lebte, mit seinen Arbeiten zur Astronomie einen großen Beitrag zur Epizykeltheorie, die dann später von Hipparchos und Ptolemäus weiterentwickelt wurde. 146 Das griechische Wort epíkyklos bedeutet ›Nebenkreis‹. Vgl. Epizykeltheorie. In: Der Brockhaus Astronomie, S. 105, Sp. 2.
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bewegt sich dabei auf einem kleinen Kreis, dessen Kreismittelpunkt auf einer zweiten Kreisbahn liegt, die um die in der Mitte ruhende Erde führt und orthogonal zu jener ausgerichtet ist. Die Epizykeltheorie brachte gute Ergebnisse für die Berechnung der Planetenbewegungen, obwohl für Merkur und Sonne zusätzliche Annahmen getroffen werden mussten. Der Mond viel völlig aus der Reihe und unterlag einem ganz anderen Berechnungs- und damit Bewegungsschema.147 Wenn nun in Thomasins Welt am Himmel nichts wirklich ruht, sondern im Gegenteil alles wackelt und wandert, fällt es natürlich ein wenig schwer, an eine statische Erde zu glauben. Wenn noch dazu auch die als regelmäßig und stabil wahrgenommenen Planeten sich eigenartig bewegen, ist eine weiterführende Erklärung fast unerlässlich. Thomasin argumentiert wie Platon und auch Ptolemäus von einem Standpunkt der Symmetrie und Regelmäßigkeit aus, der auch die Beständigkeit mit dem ›moralisch Guten‹ verbindet. In seiner Erklärung versucht Thomasin nicht, die großen Lehrer seiner Zeit zu widerlegen. Er sagt auch nicht, dass die Erde nicht in der Mitte des Universums ruht. Es scheint vielmehr so, als ob er den Nachthimmel in sein äußerst moralisches, von dualistischen Ausprägungen gekennzeichnetes Weltbild eingliedern möchte. Dabei steht die Kreisbewegung im Mittelpunkt, die auch symbolische Relevanz hat: Der Kreis steht für Symmetrie, Beständigkeit, er hat keinen Anfang und kein Ende und ist daher die einzig logische geometrische Figur, die als Planetenbahn in Frage kommt. Doch warum ist, wenn alles so symmetrisch und logisch ist, das Ganze nicht viel einfacher? Warum wandert dann, wenn doch Ptolemäus erklärt, dass sich die Planetensphären von West nach Ost drehen, die Sonne von Ost nach West? Die einzige Erklärung, die eine zufriedenstellende Erkenntnis bieten kann, ist für Thomasin, dass der Mensch Schuld hat. Durch den Sündenfall kam die Unbeständigkeit in die Welt, mit der nun die Erde und auch die Menschen zu kämpfen haben. Die Erde dürfte eigentlich gar nicht ruhen, denn im platonischen Denken ist die Ruhe mit der Vollkommenheit gleichgesetzt (vgl. 30A).148 Dennoch behaupten die großen antiken Denker, auf die sich die Wissenschaft des 12. und 13. Jahrhunderts stützt, dass die kugelförmige Erde den Mittelpunkt des Universums darstellt und genau dort auch ruht. Wenn die Erde nun nicht mehr beständig und vollkommen ist, dann müsste sich das auch auf ihre Bewegung auswirken, da ja die Beschaffenheit des Körpers und seine Bewegung ursächlich miteinander verbunden sind. 147 Vgl. Poulle, Emmanuel: Planeten, -bewegung. In: LexMA Bd. 6, Sp. 2201–2202. 148 Auch bei Thomasin ist nachzulesen, dass der Ruhe eine Göttlichkeit innewohnt. Im siebten Buch denkt Thomasin über das Leben nach dem Tod bzw. den Weg in den Himmel und die Hölle nach und stellt fest, dass die Menschen entweder zur Ruhe oder zur Unruhe geschickt werden, je nachdem, wie sie im Leben gehandelt haben (vgl. v. 5479–5486). Die Ruhe wird dabei mit dem Bereich des Himmels und damit mit Gott und dem Göttlichen gleichgesetzt.
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Schon im 14. Jahrhundert finden sich mit Buridanus und Nicolaus von Oresme zwei Gelehrte, die dafür plädieren, von der Meinung, die Erde ruhe in der Mitte der Welt, abzurücken. Sie behaupten, dass sich die Erde einmal pro Tag um ihre eigene Achse dreht, da man ansonsten gegen Aristoteles argumentieren müsste, der die Ruhe mit den edleren Körpern verbindet. Wenn die Ruhe ein vornehmerer Zustand als die Bewegung ist, dann sollten, diesem Gedankengebäude folgend, viel eher die Himmelskörper in ihrer Beständigkeit ruhen als die Erde. Oresme ist auch der Meinung, dass eine rotierende Erde ein gottgefälligeres System darstellen würde, da, wenn Gott ruhe, die Erde in ihrer Unvollkommenheit auf keinen Fall ruhen dürfe.149 Gesetzt dem Fall, dass Thomasin bereits ähnlich denkt, dann muss all das, was im Universum nach dem Sündenfall noch beständig ist, dazu beitragen, das Stillstehen der Erde zu gewährleisten. Der Himmel dreht von links nach rechts, die Planeten (meistens) ausgleichend dazu von rechts nach links. Wenn in dieser Vorstellung am Nachthimmel etwas wackelt, dann geschieht das nicht, weil der Himmel durch Unbeständigkeit gekennzeichnet ist. Ganz im Gegenteil – das Beständige im Universum reguliert in diesem Fall die unterhalb des Mondes herrschende unstætekeit. Im zweiten Kapitel des dritten Buches kommt Thomasin noch einmal in einem etwas anderen Kontext auf die Bewegungen der Planeten zu sprechen: Von dem himel unz an den mân, als ich ê gesprochen hân, sint mit stæt die sterne siben an ir orden gar beliben. Von dem mân unz an die erd sint vier natûre widerwert beliben ouch nâch ir gewalte: diu heize ist hôher dan diu kalte. Ein ieglîch dinc sîn orden hât, daz ist von der natûre rât, âne alters eine der man der sînen ordn niht halten kan.150 (v. 2603–2614)
Thomasin sagt also erneut, dass in der Natur alles seine Ordnung und seinen Platz hätte, der Mensch diesen aber nicht halten kann – er verlässt immer wieder
149 Vgl. Grant, Edward: Das physikalische Weltbild des Mittelalters. Aus dem Amerikanischen üs. von Jan Prelog. Zürich/München 1980, S. 112–120. 150 »Vom Himmel [abwärts] bis an den Mond sind, wie ich zuvor gesagt habe, die sieben Planeten stets beharrlich in ihrer Bahn geblieben. Vom Mond bis an die Erde haben auch vier gegensätzliche Naturen ihrem Vermögen gemäß ausgeharrt; die heiße Natur lagert höher als die kalte. Jedes Ding hat seinen festen Platz, das entspricht dem Gesetz der Natur, nur der Mensch nicht, der seinen ihm gegebenen Platz nicht einzuhalten weiß.«
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seine ihm vorgezeichnete Bahn. Das äußert sich darin, dass er sich nicht wie die Tiere mit dem zufriedengeben kann, was er hat und ist, sondern immer nach etwas anderem strebt, das sich nicht in seiner Reichweite befindet. Genau das führt im Leben des Menschen zu großer Unbeständigkeit: anders uns zu tuon geschiht, wan wir welln behalten niht unsern ordn noch unser leben. Ein ieglîchr wolt daz sîne geben durch des andern arbeit; daz ist ein grôz unstætekeit.151 (v. 2634–2638)
Im Text heißt es weiter, dass die Bauern manchmal gerne Knechte wären und umgekehrt, dass die Ritter gerne mit den Pfaffen tauschen würden und die Handwerker die Kaufmänner beneiden. Die einen denken von den anderen, sie hätten ein besseres, leichteres Leben (vgl. v. 2639–2660) und sie beneiden ihre Mitmenschen um ihr vermeintliches Glück. Thomasin tut dieses Streben mit einem Seitenhieb auf die närrischen Menschen ab, vergleicht alle Unzufriedenen mit Affen und versichert seine LeserInnen und ZuhörerInnen, dass jede/r gut daran täte, bei dem zu bleiben, was er oder sie kann. Würde man das Leben eines anderen Menschen kennen, dann wäre das mit Sicherheit weniger erstrebenswert als gedacht (vgl. v. 2661–2676). Ausgehend von seinen kosmologischen Betrachtungen entwickelt Thomasin seine Ansichten zur Ständelehre. Man glaubte daran, dass Gott mit den Ständen eine große Ordnung geschaffen hatte, die es seit dem Sündenfall gab und die die Menschheit auch brauchte. Die Auffächerung in mehrere Stände bzw. Berufsklassen, Geschlechter, Bildungsschichten etc. schuf niedrig- und höhergestellte Menschen, die auch rechtlich nicht gleichgestellt waren.152 Der ›Stand‹ bezeichnete nichts weniger als »das Stehen in einer großen gottgewollten Ordnung«153, die aber nicht zwingend mit den drei Ständen der Antike gleichzusetzen ist; viel151 »Mit uns ist es anders, denn wir wollen weder unseren Platz [im Sinne von Stand] noch unsere Lebensweise einhalten. Jeder würde die seinen für die Mühen des anderen hergeben. Das ist eine große Unbeständigkeit.« 152 Vgl. zum Ordo-Gedanken: Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 12. Auflage. München 2008, S. 34–42; vgl. auch Borst, Otto: Alltagsleben im Mittelalter. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1983 (Insel Taschenbuch 513), hier v. a. S. 54–77; vgl. allgemein dazu Goetz, Hans-Werner: Leben im Mittelalter. Vom 7. bis zum 13. Jahrhundert. München 1986, S. 17, S. 130–146, S. 178–179; vgl. auch Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter. Neuausgabe. Berlin 1997; vgl. auch Duby, Georges: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Üs. von Grete Osterwald. Frankfurt a. M. 1981 (Suhrkamp Taschenbuch. Wissenschaft 596). 153 Bumke: Höfische Kultur, S. 40.
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mehr liegt dem Ordo-Gedanken ein grundsätzlich kategoriales Denken zugrunde, das sich zwar sehr grob auf die Dichotomie ›Herrschaft und Dienst‹ herunterbrechen lässt, in sich aber vielfach hierarchisch gegliedert ist und alle Lebensbereiche durchdringt.154 Das Gefühl einer allgegenwärtigen Gruppenzugehörigkeit, die auf mehreren Ebenen vonstattengeht, nimmt im Alltag großen Einfluss auf das Leben und Denken der Menschen. Das lässt sich daran erkennen, dass sich das Individuum in der Regel im Kontext einer Gemeinschaft lokalisieren lässt – sei es Familie, Beruf oder Kloster.155 Die Gelehrtenmeinung der Zeit besagt, dass es ursprünglich, also in einer ›idealen‹ Welt, noch keine Untergliederung der Menschen in verschiedene Stände gab. Erst – und hier gibt es drei verschiedene Theorien – der Sündenfall, die Ermordung Abels durch Kain oder Noahs Fluch über seinen Sohn Ham (der Hams Nachkommen zu Dienern deklassierte) führte dazu, dass die Gleichstellung der Menschen aufgehoben wurde. Die Schaffung von hierarchischen Strukturen gründet auf biblischem Gedankengut und ist nicht auf die Antike zurückzuführen, in der ganz im Gegensatz dazu von Gleichberechtigung die Rede war.156 Wenn Thomasin von den Bahnen der Menschen spricht und auch davon, dass sie ihren ordn (v. 2635) nicht einhalten können, immer danach trachten alliu ampt (v. 2672) – also alle Dienste oder Berufe – auszuüben und sich damit der Unbeständigkeit ausliefern, argumentiert er ganz im Sinne einer gottgewollten 154 Vgl. ebda., S. 40. Otto Borst weist darauf hin, dass das Wort ›Stand‹ in seiner mittelalterlichen Bedeutung einen von Gott geschaffenen Zustand darstellt: »›Stand‹ kommt von stare, stehen. Wer ›Stand‹ sagt, geht davon aus, daß die Gesellschaft nicht ›offen‹ und nicht veränderbar ist […]. Die Gesellschaft […] bewegt sich nicht, sondern ›steht‹ fest. […] Der Abstufungen und Gruppierungen sind ungezählt viele, vom Geburtsstand über die Berufsstände zu den Rechtsständen, vom Ehestand bis zum letzten Küchenmeister und zum letzten Küchen-Subdiakon.« Borst: Alltagsleben im Mittelalter, S. 62. 155 Vgl. Goetz: Leben im Mittelalter, S. 17. 156 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 36–39. Hierarchische Strukturen stellen ein bestimmtes Organisations- bzw. Ordnungsmodell dar, das bereits in Familienverbänden sichtbar wird. Auf genealogische Strukturen stützen sich im Mittelalter Familienordnungen (Abstammung, Kontinuität oder Tradition), die auch machtpolitische und legitimatorische Ansprüche rechtfertigen. Die Identität des Einzelnen, dessen Stellung in der Gesellschaft durch Genealogien beschrieben wird, ist vom Wissen um die Eltern und Ahnen bestimmt. Beate Kellner betrachtet Genealogien als Mittel zur Systembildung, als dominante mentale Strukur, der ein institutioneller Charakter zuzuschreiben ist (diese Genealogie der Menschheit lässt sich bei ihr auch auf eine Genealogie der Texte, der Dinge oder der Sprachen ausdehnen). Vgl. hierzu: Lange, Gunde: Nibelungische Intertextualität. Generationenbeziehungen und genalogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters. Berlin u. a. 2009 (Trends in Medieval Philology 17), hier v. a. den Methodenteil S. 11–44; vgl. Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004, hier v. a. S. 13–60; vgl. Bloch, Howard: Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages. Chicago 1983, hier S. 30–63.
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und rechtmäßigen Ständelehre. Die Planeten spiegeln noch einen letzten Rest der geordneten göttlichen Harmonie wider. Wenn es die Menschen den Planeten gleichtäten und in ihrer Bahn blieben, also an ihrem gesellschaftlichen ›Ort‹, der ihnen in diesem Gedankengebäude von Gott gegeben worden ist, dann wäre das ein Zeichen für die Beständigkeit auf Erden. Da dem aber nicht so ist, tritt Thomasin als Verfechter des Ordo-Gedankens auf. Er geht davon aus, dass jede/r Einzelne einen bestimmten Platz innerhalb eines großen Systems einzunehmen hat und unterstreicht damit die Ungleichheit der Menschen, die er als gottgewollt und damit unanzweifelbar darstellt. Seine Argumentation führt vom Allgemeinen ins Spezielle, von der Naturphilosophie und den Gesetzmäßigkeiten der sichtbaren Welt zur Moraldidaxe und zur Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Zugleich umreißt er innerhalb seiner Darstellung des besorgniserregenden Zustands der Welt auch immer einen utopisch anmutenden Gegenentwurf, der zeigt, wie gut es den Menschen ginge, wenn sie sich an das hielten, was Thomasin ihnen predigtartig als ›richtiges‹ (im Sinne von: gottgefälliges) Handeln vor Augen führt. Obwohl in diesem nicht kritisierbaren System, das sich auf Gott beruft, zweifelsohne große Unterschiede zwischen den einzelnen Ständen bestehen, versucht Thomasin im dritten Kapitel des dritten Buches, die Kluft zwischen Arm und Reich argumentativ zu überbrücken. Er gibt zu bedenken, dass die Leiden und Sorgen von allen im Grunde die gleichen sind: Der arm hât müe und ouch der rîche: ez ist allez geteilt gelîche. Derz wol mit sinne ersehen kan, jâ hât niht wirs der arme man. Dem armn ist wê mit der armuot, dem rîchen wê mit sînem guot. […] Der arme man muoz haben guot, so bedarf wol der rîche huot. Umbe guot der arme man bit, so ist der rîche gemuot dâ mit daz er umb helfe biten muoz. Wol gelîche gât ir vuoz. […] Der ist vil arm mit grôzem guot, swem mêre geret sîn muot. Der hât an kleinen dingen vil, swer danne niemêr haben wil.157 (v. 2677–2716) 157 »Der Arme hat seine Plage und der Reiche auch; es ist alles gleich verteilt. Betrachtet man die Dinge mit Verstand, hat es der Arme wirklich nicht schlechter. Der Arme leidet an Armut,
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Noch wichtiger als die Tatsache, dass jeder Stand sich mit Sorgen und Nöten auseinandersetzen muss, ist Thomasins Definition eines wirklich armen und eines wahrhaft reichen Menschen. Sie zeichnen sich nicht durch ihr tatsächliches monetäres Vermögen aus, sondern durch ihre Einstellung zum Reichtum. Als arm wird jemand bezeichnet, der trotz großem Vermögen danach trachtet, immer noch mehr zu besitzen, während hingegen auch ein armer Mensch reich sein kann, wenn er zufrieden mit seinem Schicksal und sich selbst ist. Diese auf den ersten Blick relativierenden Aussagen zum Ordo-Gedanken erweisen sich auf den zweiten Blick als schlecht getarnte Untermauerung desselben. Einen moralischen Reichtum einzuführen, der sich darauf begründet, mit der tatsächlichen Armut zufrieden zu sein, soll lediglich das Streben nach mehr Wohlstand unterbinden und trägt zur Zementierung der Ständelehre bei. Nicht mit dem Schicksal zu hadern, den emotionalen Reichtum in der völligen Genügsamkeit zu finden und über die Sorge und das Bitten (bzw. im Falle der minder Gutbetuchten wohl eher das Betteln) eine ›Gleichstellung‹ mit den Herrschern herbeizuführen, entlastet ausschließlich den Reichen von seinem eventuell vorhandenen schlechten Gewissen seinen Mitmenschen gegenüber. Vom moralischen Reichtum zu sprechen, hilft dem Armen weder aus seiner Misere, noch verhilft ihm das gleichmütige Verharren in seiner gesellschaftlichen Not zu mehr Ansehen, geschweige denn zu einer tatsächlichen Vergleichbarkeit mit den Reichen. Thomasin verstärkt durch seine Reflexion zur Gleichheit aller Menschen das Schubladendenken und stützt vor allem die herrschenden Stände des Adels und des Klerus, die ja auch sein intendiertes Publikum darstellen. All das geschieht unter dem Deckmantel des göttlichen Willens und möchte den Menschen in seinem Verhalten maßregeln. Als Lehrdichtung, die sich an Zuhörer aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten richten soll, übt Thomasin durchaus Kritik am vorherrschenden Zeitgeist und damit auch an der Haltung von Adel und Klerus. Dennoch wird immer wieder offensichtlich – oft auch indirekt –, dass er selbst diesen Ständen angehört und diese, auch wenn er sie rügt, verteidigt. Sich nicht gegen sein Schicksal aufzulehnen, demütig Gottes Aufgabe anzunehmen und in der vorgegebenen Bahn zu verharren, festigt vor allen Dingen die Position des Herrschers (sei dieser weltlich oder geistlich), der in dieser Weltsicht ganz absichtlich als solcher geboren wurde. Das macht ihn folglich über jeden Zweifel erhaben. Indem Thomasin, ausgehend von nicht anzweifelbaren Fakten – von der Reiche leidet an seinem Geld. […] Der Arme braucht Geld, der Reiche hat Schutz nötig. Der Arme bittet um Geld, entsprechend ist der Reiche damit geplagt, dass er um Hilfe bitten muss. Sie treten den gleichen [Bitt]Gang an. […] Der ist bei großem Vermögen sehr arm, den nach mehr verlangt. Der hat mit kleinem Vermögen viel, der nicht mehr haben will.«
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naturphilosophischen Tatsachen, die auch durch die Nennung gelehrter Meister Gewicht erhalten –, seine Lehre entwickelt, rückt er diese und damit auch seine Autorität in den Bereich des Nicht-Anzweifelbaren. Darüber hinaus gewährleistet eine weitere Instanz die Richtigkeit der Aussagen des Welschen Gastes. In Buch 9 heißt es am Ende des ersten Kapitels: Schrîb in mîm herzen reht vom reht, daz ez nin werd ûzen stênt unreht. Jane schrîbestu mit tinten niht: ez ist aver gar enwiht swaz ich mit tinten schrîben mac, dune sehest dar zuo durch den tac.158 (v. 12345–12350)
Zu Beginn von Buch 9 rekapituliert Thomasin seinen Schreibprozess, indem er einen Dialog mit seiner Feder führt (ab v. 1223), die sich darüber beschwert, dass sie in den letzten Monaten so viel arbeiten musste und ihr keine Ruhe gegönnt war. Thomasin beschwichtigt sie (ab v. 12269) und erklärt, dass auch er aufgrund seiner schreibenden Tätigkeit in letzter Zeit auf einiges hätte verzichten müssen, seine Aufgabe aber kein Zeitvertreib sei, sondern aus der nôt (v. 12289) heraus, also aus Notwendigkeit, geschehe. Er fasst dann die bisher behandelten Themen kurz zusammen und gibt einen Ausblick darauf, worüber noch zu reden ist: Das Recht muss er noch abhandeln und hierfür wendet er sich an eine Instanz, die in ihm, genauer in seinem Herzen, richtig vom Recht schreiben soll (v. 12345). Der, der ohne Tinte im Herzen schreiben kann und um Hilfe angerufen wird, lässt sich unschwer als Gott identifizieren. Thomasin bittet darum, dass Gott in seinem Herzen zunächst das aufschreibt, was er später aufs Papier bringen wird. Gott schreibt das Richtige in ihn hinein, damit es für Thomasin gar nicht möglich ist, etwas Falsches zu lehren (vgl. v. 12346). Diese Legitimation des Geschriebenen wird auf alle Gebiete des Lehrgedichts ausgedehnt, wenn in den letzten drei Versen des ersten Kapitels von Buch 9 zu lesen ist, dass alles, was Thomasin mit sichtbarer Tinte aufschreibt, völlig falsch wäre, wenn nicht Gott das Geschriebene jeden Tag überwachen würde. Gott als eigentliche Quelle des Gesagten ins Spiel zu bringen, führt dazu, dass erstens an der Richtigkeit des Dargestellten nicht gezweifelt werden kann und zweitens Anordnungen zum Verhalten in Gesellschaft und religiösen Dingen als indirekte Gebote zu verstehen sind.
158 »Schreib in meinem Herzen richtig über das Recht, damit es nicht unrichtig werde, wenn es draußen steht. Du schreibst nicht mit Tinte. Was ich mit Tinte schreiben kann, muss ganz untauglich sein, wenn du es nicht Tag für Tag überwachst.«
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Das ist auch in Hinblick auf die Ständelehre der Fall. Thomasin verwebt die sich auf gelehrte Autoritäten stützende Lehre zur Kosmologie mit seinem fundierten theologischen Wissen und ebnet dem Profanen den Weg zur Religion, indem er seine moraldidaktischen Ausführungen auf die Lehren der großen Philosophen aufbaut. Die Berufung auf die Naturphilosophie holt den Himmel – ganz wörtlich gesprochen – auf den Boden der Tatsachen, wenn das ›Verhalten‹ der Planeten auf der Erde imitiert werden soll. Die Wege zur Beständigkeit werden durch naturphilosophische Erkenntnisse legitimiert, die das bekannte Universum beschreiben. Das Universum und seine Bewegungen hingegen werden durch eine übergeordnete Instanz legitimiert, die sowohl die Gesetze der Welt als auch deren Bewohner überblickt. Thomasin erhält die Bestätigung seiner Lehren von beiden Instanzen und sichert somit auch seine Autorität bei Adel und Klerus. Er kann beraten, da er gut beraten ist.
2.5 Ober- und unterhalb des Mondes – das Modell der Sphären Die vorgezeichneten (Planeten-)Bahnen, die ein jeder tugendhafte Mensch nicht verlassen soll, werden in Kapitel 4 des zweiten Buches auch in Form einer Abbildung eingeführt. Die zugehörige Textstelle verbindet Naturphilosophie und Moraldidaxe: ein ieglîchr sînen kreiz hât/dâ er inne umbe gât:/er vert ûz sînem ringe niht, als uns ze varn dicke geschiht159 (v. 2229–2232). Neben diesen Versen findet sich in allen bekannten Bilderhandschriften (mit dem ohnehin spärlich bebilderten Erlanger Manuskript als einzige Ausnahme) eine Illustration160, die die sphärische Anordnung der sieben bekannten Planeten mit der Erde als Mittelpunkt der Welt darstellt. Abbildung 7 zeigt die Illustration, wie sie in der ältesten Handschrift Cod. Pal. germ. 389 auf Blatt 35v zu finden ist. Zehn annähernd gleichstarke Ringe, die die einzelnen Planetensphären repräsentieren sollen, ordnen sich um einen in der Mitte liegenden weißen Kreis, in dem deutlich das Wort erd zu lesen ist. Der Fixsternhimmel ist durch eine Vielzahl roter Sterne am äußersten Rand der Darstellung gekennzeichnet; auch die Himmelskörper sind als rote Sterne etwas willkürlich auf die einzelnen Sphären verteilt, die durch die Verwendung von vier Farben – weiß, grün, rot und blau – unterscheidbar gemacht werden. Die Zuordnung der Sphären zu einer bestimmten Farbe unterliegt keinem erkennbaren Muster; vielmehr vermute ich rein ästhetische oder sogar pragmatische Gründe 159 »Jeder [Planet] hat seine Kreisbahn, in der er umläuft. Er verlässt seinen Kreis nicht, so wie wir es häufig tun.« 160 Vgl. Wenzel/Lechtermann (Hrsg.): Beweglichkeit der Bilder, S. 268.
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für die Farbaufteilung. Der rote Schriftzug in der Mitte der Illustration kommt am besten auf weißem Grund zur Geltung, ein roter äußerster Ring – und bei starrer Wiederholung der Farbabfolge weiß, grün, rot, blau des Kreisinneren würde die äußerste Sphäre rot sein – ließe die rot eingezeichneten Fixsterne verblassen.
Abb. 7: Die Planeten und ihre Sphären, Cod. Pal. germ. 389, 35v. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg
Im mittelalterlichen Weltbild existieren sieben Planeten, die jeweils eine Sphäre besetzen. Das ist in dieser Illustration nicht ganz der Fall, da die Sterne, beginnend beim vierten Ring (der Kreis der Erde als Mittelpunkt nicht mitgerechnet), ohne System auf die verschiedenen Sphären aufgeteilt sind. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass hier das bekannte kosmologische Bild des Sphärenmodells reproduziert wird, in dem sich Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn (in dieser Reihenfolge) um die Erde drehen.161 Diese Anordnung inkludiert alle am Nachthimmel sichtbaren Planeten und erfüllt zugleich auch die heilige Siebenzahl.162 Da in den inneren drei Ringen und auch in dem mit erd überschriebenen Mittelpunkt keine roten Sterne zu finden sind und es insgesamt 11 voneinander abgegrenzte Kreisbahnen gibt163, kann daraus geschlossen werden, dass sich in den inneren vier Sphären keine Himmelskörper befinden.
161 Vgl. Neuenschwander, Erwin: Weltbild. Astronomisch-kosmologisch. In: LexMA Bd. 8, Sp. 2159–2162, hier Sp. 2161. 162 Vgl. Mazal: Sternenwelt, S. 8. 163 Anm.: An dieser Stelle zähle ich das Segment im Kreismittelpunkt zu den einzelnen Schalen hinzu.
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Betrachtet man spätere Abbildungen, finden sich innerhalb der Überlieferung Inkongruenzen, die jedoch zu einer genaueren Auseinandersetzung mit der Illustration anregen. In der Gothaer Handschrift, die in etwa hundert Jahre nach dem Cod. Pal. germ. 389 entstanden ist, ist die Darstellung der Planeten und ihrer Sphären etwas chaotisch. Die einzelnen Sterne werden aber im Unterschied zur Heidelberger Handschrift innerhalb der Illustration namentlich erwähnt und sind dort auch eingezeichnet. Auch in Abbildung 8 sind die Fixsterne in der äußersten Schale verortet und willkürlich über den letzten Ring verteilt. Bereits in der nächstinneren Schale beginnen aber schon die Fragen: In der Schale des Planeten Saturn sind zwei Sterne eingezeichnet; Jupiter und die Sonne, die in dieser unüblichen Darstellung noch vor dem Mars genannt wird, kreisen auf demselben Ring um das Zentrum. Die zwei innersten weißen Schalen kommen ohne Himmelskörper aus und ganz im Zentrum, dem eine Beschriftung fehlt, ist nicht mehr erkennbar, was dargestellt werden soll. Der Mittelpunkt des Kreises ist zwar dunkler als der Rest der Abbildung und es finden sich auch wie im Cod. Pal. germ. 389 mehrere Ringe ohne eingezeichnete Sterne, trotzdem ist hier keine Regelmäßigkeit ersichtlich.
Abb 8: Die Planeten und ihre Sphären, Cod. Memb. I 120, 22rb. Quelle: Forschungsbibliothek Gotha
Die Abbildung der Sphären auf Seite 20v in der Dresdner Handschrift Mscr. M 67, die in etwa um 1460 angefertigt wurde, weist im Gegensatz zur Abbildung 8 eine geordnetere Struktur auf, die an die Darstellung der Planeten und Sphären aus dem Cod. Pal. germ. 389 erinnert.
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Abb. 9: Die Planeten und ihre Sphären, Mscr. M 67, 20v. Quelle: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)
Wie in Abbildung 7 finden sich auch hier 11 Sphären. Am Rand der äußersten Schale sind die Fixsterne aufgehängt, die keinem eigenen Kreisring zugeordnet sind. Vom äußersten Planeten aus betrachtet, ordnen sich die Sterne in der üblichen Reihenfolge an, je ein Stern pro Schale. Unterhalb des Mondes befinden sich von innen nach außen die Erde, das Wasser, die Luft und das Feuer, jedes Element besetzt eine eigene Schale. Thomasin bezieht sich schon im zweiten Kapitel des dritten Buches auf genau diese Elementenanordnung, wenn er von der Unbeständigkeit im sublunaren Bereich berichtet164. Die Ursache für die allgegenwärtige unstætekeit liegt bei den sich widerstrebenden Eigenschaften der Elemente, die sich im Menschen vereinen: Swaz in der werlde gar ringe ist, daz ziuhet hôhe zaller vrist. Daz swære niht anders gert wan daz ez valle zuo der erd. Zem centrum ziuhet elliu swære: diu erd anders zervallen wære.165 (v. 2615–2620)
Jedes der vier Elemente unterliegt gewissen Eigenschaften, die es charakterisieren. Feuer und Luft zeichnen sich durch ihre Leichtigkeit aus, während Wasser und Erde aufgrund ihrer Schwere nach unten gezogen werden.166 Daraus resul164 Vgl. dazu v. 2603–2614. 165 »Was in der Welt sehr leicht ist, strebt immer nach oben. Das Schwere will nichts anderes als zu Boden fallen. Alles Schwere strebt zum Zentrum, die Erde wäre sonst auseinandergebrochen.« 166 Mehr zu den Eigenschaften der Elemente findet sich im nächsten Abschnitt dieses Kapitels.
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tiert eine schichtartige Anordnung der Elemente im sublunaren Bereich, die als rota elementorum bezeichnet wird und auf Aristoteles zurückgeht. Die rota spielt in kosmographischen Darstellungen eine wichtige Rolle, auch wenn sich im Laufe des Mittelalters schematisierte Darstellungen entwickeln, die nur noch mit einem großen Kreis operieren und die einzelnen Elemente als Bäume oder auch Wasser etc. auf der Oberfläche der Erde wiedergeben. Die Anordnung der Elemente innerhalb der rota ist topisch; eine andere Abfolge lässt meistens auf eine konkret identifizierbare Vorlage schließen. Die Erde als schwerstes Element bildet den Kern; darüber befindet sich das Wasser, gefolgt von Luft und Feuer.167 Die aus diesem Prinzip resultierende Schichtung der Elemente168 wird in der Dresdner Thomasin-Handschrift wiedergegeben, wenn die vier Elemente nach ihrem Gewicht angeordnet die untersten Sphären besetzen. Auch im Cod. Pal. germ. 389 könnte schon die rota elementorum im Inneren der Sphärendarstellung angelegt sein. Wie bereits weiter oben beschrieben, finden sich auch hier 11 Ringe gleicher Dicke; 7 rote Sterne verweisen auf die sieben Planeten. Die inneren Sphären sind aber leer. Demzufolge könnte die Anordnung der Sphären und Planeten in der Heidelberger Handschrift ganz ähnlich, wenn nicht sogar deckungsgleich zu jener aus der Dresdner Handschrift konzipiert gewesen sein – mit dem Unterschied, dass die Planeten nicht namentlich erwähnt werden. Das, was wir heute von Thomasins Bildung wissen, lässt diese Schlussfolgerung zu. Die inneren Ringe werden in der alten Heidelberger Illustration zwar nicht explizit als Sphären der Elemente ausgewiesen, doch der Text spricht von den Gewichten und Orten der Elemente. Wenn Thomasin sagt, dass […] oben bî/ dem lufte daz viuwer ist. (v. 2302f.) und dass zwischen wazzer unde erd/ist nihtes niht, der luft gert/ouch nihtes niht zwischen sî/unde dem wazzer (v. 2299–2302), dann ist das diese Schichtung der Elemente, die Anordnung, wie sie bereits seit der Antike überliefert ist.
167 Vgl. Wirth, Karl-August: Erde. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. 10 Bde. Bd. 5: Email – Eselsritt. Stuttgart 1967, Sp. 997–1104, hier Sp. 1021–1023; vgl. auch Böhme, Hartmut: Die vier Elemente: Feuer Wasser Erde Luft. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim/Basel 1997, S. 17–45, hier S. 24. 168 Um die Bewegung der Himmelskörper und die Gestalt des Kosmos zu beschreiben, argumentiert Aristoteles in seiner Schrift de caelo mit der Schwere und Leichtigkeit der einzelnen Elemente, die er auch mit deren Dichte gleichsetzt. Das Schwere besteht aus vielen Teilen der gleichen Art, während das Leichte aus wenigeren Teilen besteht (vgl. Aristoteles: Über den Himmel, S. 141). Das ›schlechthin Schwere‹ bildet für alles den Untergrund und alles fällt zu ihm hin, während das Leichte immer an der Oberfläche bleibt. Auch kommen das Schwere und das Leichte in fast allen Fällen gemischt vor und nicht im Reinzustand, denn alles hat Schwere außer dem Feuer und alles hat Leichte außer der Erde (Vgl. Aristoteles: Über den Himmel, S. 149–150).
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Dass Thomasin dieses Wissen tatsächlich bereits aus den Texten des Aristoteles schöpfte, ist sehr unwahrscheinlich, dennoch möchte ich dieser Hypothese kurz nachgehen: Johannes von Sacrobosco schuf mit seinem Tractatus de Sphaera, das wahrscheinlich um 1230 nach dem Vorbild der Megale Syntaxis des Ptolemäus in England entstand,169 eines der bekanntesten und bis ins 17. Jahrhundert hinein wichtigsten kosmologischen Lehrbücher. Aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades wurde es sogar in einige Volkssprachen übersetzt.170 Am Beginn seines Textes, im ersten Kapitel, in dem er sich u. a. den Elementen widmet, verweist Johannes auf die aristotelische Meteorologica.171 Im Text heißt es: Elementaris quidem […] in quattuor dividitur. Est enim terra tamquam mundi centrum in medio omnium sita: circa quam acqua: circa aquam era: circa aerem ignis est, illic purus et non turbidus, orbem Lunae attingens, ut ait Aristoteles in libro Metheororum.172 Die elementare [Region] ist in der Tat viergeteilt. Denn die Erde ist wie das Zentrum der Welt in der Mitte des Ganzen gelegen. Um diese herum befindet sich das Wasser, um das Wasser die Luft, rundum die Luft ist das Feuer, jenes ist rein und nicht unruhig, den Kreis des Mondes berührend, davon spricht Aristoteles im Buch der Meteorologie.
Eine verstärkte Rezeption der aristotelischen Lehre im westeuropäischen Raum setzte erst nach 1200 ein und erreichte in der Mitte des 13. Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt.173 Die Übersetzung einiger aristotelischer Werke begann aber – abgesehen von Boethius Übersetzertätigkeit im 6. Jahrhundert – bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Zwei dieser frühen Übersetzer sind Jacobus Venetius und Gerardus Cremonensis, die sich mit den naturphilosophischen Texten des Aristoteles beschäftigten und Physica, Meteorologica und De caelo ins Lateinische übertrugen.174 Dass Johannes von Sacrobosco sich auf Aristoteles 169 Vgl. Krafft, Fritz: J. de Sacrobosco. In: LexMA Bd. 5, Sp. 598–599. 170 Vgl. Konrad von Megenberg: Die deutsche Sphaera. Hrsg. von Francis B. Brévart. Tübingen 1980. 171 Der lateinische Text wird nach einer Neuedition zitiert, die sich auf einen venezianischen Druck aus dem 15. Jahrhundert stützt. Die in der Forschung maßgebliche Edition ist jene von Lynn Thorndike: The Sphere of Sacrobosco and its Commentaries. Hrsg. von Lynn Thorndike. Chicago 1949. 172 Johannis de Sacro Bosco: Tractatus de Sphaera. Venice: Adam de Rottweil, ca. 1478. Hrsg. von Roberto de Andrade Martins. Campinas 2003, Fol. 2v. 173 Vgl. Von Steenberghen, Fernand: Aristoteles. Lateinisches Mittelalter. In: LexMA Bd. 1, Sp. 936–939. 174 Vgl. Dod, Bernard G.: Aristotle in the Middle Ages. In: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100– 1600. Hrsg. von Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg. Cambridge u. a. 1982, S. 45–79, hier v. a. die Tabelle auf den S. 74–79. Jacobus Venetius übersetzte in der zweiten Hälfte des 12.
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als Meister beruft, zeigt, dass in den Jahren der Entstehung der Sphaera mundi dessen Lehre bereits autoritativen Charakter besaß und die Meteorologica schon zu dieser Zeit im englischsprachigen Raum Verbreitung gefunden hatte. Ob Thomasin, der, wie die frühen Aristoteles-Übersetzer Jacobus und Gerardus, aus Norditalien stammte, schon etwa 20 Jahre vor Johannes Sacrobosco Zugang zu den Handschriften hatte und diese auch studierte, bleibt Spekulation; die Illustration zu den Planetensphären des frühen Heidelberger Codex 389 lässt diese Hypothese aber doch zu. Es muss dennoch die Frage gestellt werden, ob die Schichtung der Elemente nicht losgelöst von ihrem Urheber in das naturphilosophische Wissen des Mittelalters Einzug hielt. Vielleicht wurde die rota elementorum mit der Wiederentdeckung des Aristoteles diesem dann zugeordnet – so wie das auch bei Johannes von Sacrobosco der Fall ist. Die Anordnung der Elemente nach ihrer Schwere ist allgemein zugängliches Wissen, das auch in den Enzyklopädien der Spätantike (z. B. Isidor von Sevilla175 oder Hrabanus Maurus176) und der Frühen Neuzeit vermittelt wird. Auch Hildegard von Bingen kennt – wenngleich ein wenig abgewandelt – die rota elementorum und geht in ihren Texten auch darauf ein.177 Thomasins Erläuterungen zur Anordnung der Elemente auch bildhaft darzustellen, steigert nicht nur die Anschaulichkeit der vermittelten Inhalte, sondern entspricht auch seinem didaktischen Konzept. Verschiedene Darstellungen in späteren Handschriften reproduzieren das Modell aus dem Cod. Pal. germ. 389 aber nicht mehr exakt. Das könnte daran liegen, dass vor allem die naturwissenschaftlichen Darstellungen des ältesten Heidelberger Codex sehr dicht gestaltet sind und sich daher auch einem sofortigen Verständnis widersetzen. Den interessierten RezipientInnen wird einiges an naturphilosophischer Kenntnis abverlangt; inwieweit Jahrhunderts die Physica aus dem Griechischen ins Lateinische, während Gerardus Cremonensis noch vor 1187 die Physica, De caelo und die Bücher I–III der Meteorologica aus dem Arabischen ins Lateinische übertrug. Das vierte Buch der Meteorologica wurde wahrscheinlich bereits vor 1162 von Henricus Aristippus übersetzt. 175 Isidorus Hispalensis: Etymologiae. In: PL Bd. 82, Buch XIII, Sp. 473: de mundo et partibus, 3: de elementis. 176 Vgl. Hrabanus Maurus: de rerum naturis. In: PL Bd. 111, Sp. 9–612. Liber IX, 9.2, Sp. 262: de elementis. Dort heißt es: Ut ignis quidem in aera desinat, aer in aquam densetur, aqua in terram crassescat. Rursusque terra diluatur in aquam, aqua rarescat in aerem, aer in ignem extenuetur. Quapropter omnia elementa omnibus inesse: sed unum quodque eorum ex eo, quod amplius habet, accepisse vocabulum. 177 Vgl. Hildegard von Bingen: Das Buch vom Wirken Gottes. Liberum divinorum operum. Erste vollständige Ausgabe. Üs. u. hrsg. von Mechthild Heieck. Augsburg 1998 – hier vor allem die 2. Vision »die Elemente im Bau der Welt« ab S. 35; vgl. dazu auch Böhme, Hartmut: Die hermetische Ikonologie der vier Elemente. In: Mediale Hamburg 1993. Ausstellungskatalog. Hamburg 1993, S. 84–97.
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die Kopisten Zugang zu und Interesse an derlei Wissen hatten, bleibt fraglich und beeinflusst auch die Qualität der Überlieferung. Dass in der Dresdner Handschrift die Planetensphären so detailliert und genau dargestellt werden, ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur einem genauen Redaktor, sondern auch der Entstehungszeit (15. Jahrhundert) zu verdanken, in der diese naturphilosophische Lehre bereits sicher im scholastischen Denken verankert war. Im Folgenden wird eine Illustration im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen, bei der in der Geschichte ihrer Überlieferung genau der umgekehrte Fall von Interesse sein wird: Wissen wird einer Darstellung hinzugefügt, die diese auf den ersten Blick zwar komplizierter erscheinen lässt, auf den zweiten Blick aber einen Einblick in eine für uns fremde, aber elegante Memorialkultur zulässt.
2.6 Feuer, Wasser, Luft, Erde – Gegensätze und deren Anziehungskraft Alles, was unterhalb der Sphäre des Mondes seinen Platz hat, ist der Kraft der vier Elemente unterworfen: Daz ist noch stæt swaz inder lebet,/kriuchet, gât, vliugt ode swebet,/und swaz ist niderhalbe des mân,/daz muoz vier elmente hân.178 (v. 2277–2280). Im fünften Kapitel des zweiten Buches setzt sich Thomasin mit den vier Elementen auseinander und beginnt zunächst damit, deren Primäreigenschaften anzugeben: Viuwer, luft, wazzer, erde, die vier natûr sint widerwerte. Diu erde ist trucken unde kalt. Daz wazzer in sînem gewalt kelte und ouch nezze hât. Der luft ouch des niht verlât ern sî heiz unde ouch naz. So ist daz viuwer ave baz heiz unde trucken ouch.179 (v. 2285–2294)
Hier gibt Thomasin Wissen wieder, das zur Zeit der Entstehung des Welschen Gastes leicht zugänglich war. Isidor von Sevilla spricht in den Etymologiae und 178 »Das ist noch beständig: was auch immer in der Welt lebt, kriecht, geht, fliegt oder schwimmt und was auch immer unterhalb des Mondes ist, das muss vier Elemente haben.« 179 »Feuer, Luft, Wasser, Erde, die vier Elemente sind gegensätzlich. Die Erde ist trocken und kalt. Das Wasser hat Kälte und auch Nässe in seiner Gewalt. Die Luft existiert nicht anders als heiß und auch nass. Dem Feuer ist wohler heiß und ebenfalls trocken.«
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in De natura rerum, Hrabanus Maurus in De rerum naturis libri XXII über sie, Martianus Capella beschäftigt sich in De nuptiis Mercurii et Philologiae damit und aus Beda Venerabilis De natura rerum beziehen Gelehrte ebenfalls ihre Kenntnisse.180 Isidor von Sevilla, auf den Beda sich stützt, geht in seinem Naturlehrwerk De natura rerum im Kapitel De partibus mundi auf die Elemente und deren Eigenschaften ein. Er beginnt zunächst damit, die vier Elemente aufzuzählen und ordnet dann jedem einzelnen dessen Sekundäreigenschaften zu. Feuer ist dünn, scharf und beweglich, Luft beweglich, scharf und dicht, Wasser zeichnet sich dadurch aus, dass es dicht, stumpf und beweglich ist, Erde hingegen ist dicht, stumpf und unbeweglich. Erst später kommt er auf die Primäreigenschaften zu sprechen.181 Thomasin verknüpft in seinem Lehrgedicht Primär- und Sekundäreigenschaften der Elemente auf etwas eigentümliche Art und Weise: Er beginnt in Kapitel fünf des zweiten Buches, über die Gegensätzlichkeit der Elemente hinsichtlich ihrer Primäreigenschaften zu sprechen und erklärt aufgrund der Unvereinbarkeit der elementaren Eigenschaften auch die Zerrissenheit des Menschen, der die Elemente in seinem Körper vereint (vgl. v. 2294–2298). Danach geht er auf die Ordnung der Elemente auf Basis ihrer Leichtigkeit und Schwere ein und verweist dann auf eine Illustration mit den Worten: Seht, wie einz bî dem andern vert,/swie si halt sîn widerwert.182 (v. 2307–2308) In der angesprochenen Darstellung finden sich die vier Elemente in aufsteigender Reihenfolge ihrer Schwere bzw. Leichtigkeit nach geordnet, so wie Thomasin das im Text erläutert. Dieses Zusammenspiel der Primär- und Sekundäreigenschaften der Elemente wird in der Forschung auch als ›Syzygie‹ (=Verbindung) bezeichnet. Das Wort widerwertich, das mit »entgegengesetzt, konträr«183 zu übersetzen ist, verbindet in der Illustration einander entgegengesetzte Eigenschaften mit Hilfe eines Bogens. Interessant ist, dass innerhalb des Textes auf die Gegensätzlichkeit der Primäreigenschaften Bezug genommen wird, während in der Darstellung die Sekundäreigenschaften in ihrer Unvereinbarkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Gegenüber stehen sich die Eigenschaften wehse (scharf) 180 Vgl. Böhme: Die vier Elemente, S. 33. 181 Vgl. Isidorus Hispalensis: de natura rerum. In: PL Bd. 83, Sp. 963–1379. Hier die relevante Stelle (Sp. 979B–982A): Partes mundi quatuor sunt: ignis, aer, aqua, terra. Quarum haec est natura: ignis tenuis, acutus et mobilis; aer mobilis, acutus et crassus; aqua crassa, obtusa et mobilis; terra crassa, obtusa, immobilis. Quae etiam sibi ita commiscentur. Terra quidem crassa, obtusa et immobilis, cum aquae crassitudine et obtusitate colligatur. Deinde aqua aeri crassitudine et mobilitate conjungitur. Rursus aer igni communione acuti et mobilis colligatur. Terra autem et ignis a se separantur, sed a duobus mediis aqua et aere junguntur. 182 »Seht, wie eins mit dem anderen einhergeht, obwohl sie einander entgegengesetzt sind.« 183 Lexer (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch Bd. 3, Sp. 871.
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und pulewehs (stumpf), ring (leicht) und swere (schwer) sowie gerurich (beweglich) und vngerurich (unbeweglich). Linien weisen die entsprechenden Sekundäreigenschaften den zugehörigen Elementen zu, die wiederum durch Bögen miteinander verbunden sind, wenn sie einander ähneln, also wenn sie sich zwei Sekundäreigenschaften teilen. Als unterstes Element ist die Erde unbeweglich, schwer und stumpf. Die Eigenschaften ›schwer‹ und ›stumpf‹ teilt sie sich mit dem Element Wasser, das aber im Gegensatz zur unbeweglichen Erde über Beweglichkeit verfügt. Die Luft zeichnet sich durch Stumpfheit, Beweglichkeit und Leichtigkeit aus; Feuer ist dem Element der Erde völlig entgegengesetzt und daher beweglich, leicht und scharf.
Abb. 10: Die Elemente und ihre Sekundäreigenschaften, Cod. Pal. germ. 389, 36v. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg
Gemäß dem Text zeigt die Illustration tatsächlich, wie verschieden die Elemente sind und wie sie sich zueinander verhalten. Im Text werden jedoch nicht die Sekundäreigenschaften behandelt; lediglich von der Leichtigkeit des Feuers ist einmal kurz die Rede (vgl. v. 2306), wenn erläutert wird, dass die einzelnen Elemente in Sphären angeordnet sind, die sich im kosmologischen Modell untereinander nicht vermischen. Gleich nach der Erwähnung des leichten Feuers wird in Vers 2307–2308 mit dem bereits zitierten seht auf die Darstellung der Elemente verwiesen. Im weiteren Textverlauf stehen dann die Primäreigenschaften im Mittelpunkt: Sie werden als charakteristisch und unveränderbar, also in ihrer Gegensätzlichkeit beständig und damit vom Menschen verschieden, geschildert. Die Darstellung erweitert das im Text erwähnte Wissen zu den Elementen. Während innerhalb des Lehrgedichts zu Gunsten von Anschaulichkeit und Moraldidaxe der wissenschaftliche Impetus zurückgedrängt wird, kommt in den Illustratio-
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nen die Gelehrsamkeit Thomasins184 und seiner Bearbeiter zum Ausdruck – so auch hier. In späteren Manuskripten kommt es zu Überarbeitungen, Erweiterungen und natürlich auch zu Abschreibfehlern und Missverständnissen. Kries beobachtet in seiner Bildanalyse der Handschriften, dass missverständliche Bogenverbindungen oder falsch gezogene Linien von einem Element zu dessen Sekundäreigenschaften eher die Regel als die Ausnahme bilden.185 Eine oft zu beobachtende Erweiterung der Illustration findet sich u. a. auch in der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 320 und dem Gothaer Manuskript Cod. Memb. I 120. Hier sind die Elemente und deren Verbindungen zu ihren jeweiligen Sekundäreigenschaften nicht nur durch Bögen, sondern auch durch Zahlen gekennzeichnet. In der Gothaer Handschrift lässt sich diese Zuordnung sehr gut erkennen:
Abb. 11: Die Elemente und ihre Sekundäreigenschaften, Cod. Memb. I 120, 22v. Quelle: Forschungsbibliothek Gotha
Obwohl bereits in dieser Darstellung zwei Inkongruenzen bezüglich der Verbindungslinien zu erkennen sind,186 ist die Abbildung in Hinblick auf ihre didaktische Intention noch gut verständlich. Auf der linken Seite neben den einzelnen Elementen finden sich Zahlen und auf Lateinisch hinzugefügte Rechenoperationen: 184 Vgl. Neumann: Einleitung. In: Rückert (Hrsg.): Der Wälsche Gast, S. IL–L; vgl. dazu auch Kries: Der Welsche Gast Bd. 4, S. 153. 185 Vgl. Kries: Der Welsche Gast Bd. 4, S. 80. 186 Anm.: Das Element Wasser wird missverständlich mit vier Sekundäreigenschaften verknüpft und die Luft wird nicht als leicht, sondern als scharf bezeichnet.
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Zuunterst und damit der Erde zugeordnet steht die 8, neben dem Wasser findet sich die 12, der Luft ist die 18 nebengeordnet und dem Feuer die 27. Die beigefügten Rechenoperationen verweisen auf die Multiplikatoren der einzelnen Zahlen und stellen deren Primfaktorzerlegung dar, die schematisch wie folgt aussieht: 8 12 18 27
bis duo bis bis duo ter ter tria bis ter tria ter
zweimal zwei zweimal zweimal zwei dreimal dreimal drei zweimal dreimal drei dreimal
2*2*2 2*2*3 3*3*2 3*3*3
Die Multiplikatoren sind jene Primzahlen, die sich bei der Zerlegung der Zahlen in ihre kleinsten Teiler errechnen lassen. Die kleinste Zahl, die bei der Multiplikation dreier Primzahlen errechnet werden kann, ist die 8. Tauscht man eine 2 gegen die nächsthöhere Primzahl – die 3 – aus, ergibt sich die 12, die dem Element des Wassers zugeordnet ist. Wird noch eine 2 durch eine 3 ersetzt, haben wir die 18 – das Element Luft; ein weiterer Austausch ergibt die Zahl 27, die nicht mehr durch 2 teilbar ist. Die Zahl 8 hingegen ist nicht durch 3 teilbar. Die Zahlen 12 und 18 sind jeweils durch 2 und 3 teilbar und in dieser Logik jeweils der 8 und auch der 27 ›ähnlich‹. In der Illustration werden die Verbindungen der Elemente zueinander mit Hilfe dieser Zahlenschemata reproduziert. Die Ähnlichkeiten der Elemente werden durch die ›Mischungen‹ von Multiplikatoren dargestellt. Daher ist die Erde über das Element Wasser, das noch direkt mit der Luft in Verbindung steht, auch indirekt mit der Luft verknüpft – diese Verbindung, bei der sich beide Elemente eine Sekundäreigenschaft ›teilen‹, kommt in den Zahlen zum Ausdruck. Inwieweit diese Zahlen bzw. die dahinterliegenden Rechenoperationen ein Mittel zur leichteren Memorierbarkeit der Elementenverbindungen darstellen187, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Ähnlichkeit der Primfaktorzerlegung zur Auffächerung der Sekundärqualitäten ermöglicht aber einen derartigen Rückschluss, da bei entsprechender Codierung nur vier Zahlen die Information der gesamten Illustration enthalten.188 187 Zur Kultur des Gedächtnisses und dessen Einfluss auf Buchkultur, gelehrte Autorität und das Lesen an sich vgl. Carruthers, Mary: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge u. a. 1990. 188 Rudolf Simek kommt im Zuge seiner Recherchen bezüglich dieses Themas zu einem etwas anderen Schluss (vgl. Simek, Rudolf: Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München 1992, S. 127–128): Indem er sich auf die PL und eine mir nicht mehr auffindbare Illustration aus einer Beda-Handschrift (De natura rerum) aus dem 12. Jahrhundert beruft, welche die Syzygie und die zugehörigen Zahlen zeigen soll, versucht er den Einfluss der Syzygie auf das isländische Hausbok, welches im 15. Jahrhundert entstand, auszumachen. Die Bedeutung
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Eine weitere Lesart dieser Darstellung, die ich an dieser Stelle vorschlagen möchte, verknüpft Thomasins Welschen Gast wieder mit der antiken Philosophie – konkret mit Platons Lehrgedicht Timaios189. Um darin die Erschaffung des Kosmos zu erläutern, muss Platon auf die Elemente und deren Verbindungen eingehen, auf denen alles Leben beruht: »Körperlich, sichtbar und berührbar muss das Gewordene sein, ohne Feuer aber könnte niemals etwas sichtbar werden, und nicht berührbar ohne etwas Festes, nicht fest ohne Erde« (31B)190. Weiter wird erläutert, dass, wenn zwei Elemente zusammengeschmiedet werden, das nicht ohne ein Band, ein drittes Element geschehen kann, welches, um die Schönheit dieses Bandes zu gewährleisten, bestimmten Proportionen unterworfen sein muss: Denn wenn von drei Zahlen […] sich die mittlere zur letzten so verhält wie die erste zur mittleren und umgekehrt die mittlere zur ersten so wie die letzte zur mittleren, dann folgt daraus notwendig, […] dass alles dasselbe ist. Wenn aber alles dasselbe geworden ist, dann ist alles miteinander ein Einziges. (31C–32A)191
der Abbildung erklärt Simek, indem er die Zahlen, die den Elementen zugeordnet sind, als deren spezifische Gewichte identifiziert. Die Überlieferung von Beda ausgehend ist jedoch anzweifelbar, da Jones darauf verweist, dass lediglich auf den britischen Inseln (und auch dort erst im 14. Jahrhundert), Beda-Handschriften nach dem Vorbild Isidors De natura rerum illustriert wurden. Auch die Darstellung innerhalb der PL ist in diesem Zusammenhang fraglich, da in jenen alle bekannten Überlieferungsträger berücksichtigt und zusammengeführt werden – es ist demnach innerhalb der PL nicht mehr feststellbar, wie der Text eines Beda-Manuskriptes aus dem 12. Jahrhundert aussah (vgl. De Natura Rerum. In: Bedae Venerabilis Opera. Pars I. Opera Didascalisca. Hrsg. von Ch. W. Jones. Turnhout 1975 (Corpus Christianorum. Series Latina 123A), S. 186–187). Die Annahme, dass Bedas De natura rerum als Quelle der Darstellung der Syzygie zu gelten hat, ist daher in Frage zu stellen. 189 Vgl. Platon: Timaios, Anmerkung 1, S. 217. 190 Ich zitiere hier und im Folgenden zum besseren Verständnis der Textstelle die Übersetzung ins Deutsche aus dem Griechischen nach Paulsen/Rehn: Platon. Timaios. 2003, S. 43; der lateinische Text nach Calcidius lautet im Original: Et quia corpulentus visibilisque et contiguus erat merito futurus, sine igni porro nihil visibile sentitur nec vero tangi quicquam potes sine soliditate, soliditas porro nulla sine terra. 191 Ebda., S. 44; bei Calcidius lautet die Stelle wie folgt: cum enim ex tribus vel numeris vel molibus vel ulla alia potentia medietas imo perinde quadrat ut summitas medio, rursumque ut imum medio, sic medietas summo, tunc certe medietas a summo et item imo nihil differt rursumque extimis illis ad medietatis condicionem atque ad eiusdem parilitatem redactis cum medietas quoque extimorum vicem suscipit, fit, opinor, ut tota materia una et eadem ratione societur eoque pacto eadem sibi erunt universa membra, quippe cum eorum sit una condicio; unis porro effectis membris unum erit atque idem totum.
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Da aber immer zwei Mittelglieder passend zusammengebracht werden müssen, wenn sich Körperliches zusammenfügt, braucht es bei der Erschaffung des Kosmos ganz bestimmte Proportionen: So setzte Gott Wasser und Luft in die Mitte zwischen Feuer und Erde und, indem er sie so weit wie möglich in Beziehung zueinander in demselben Verhältnis gestaltete, nämlich wie Feuer zu Luft, so Luft zu Wasser und wie Luft zu Wasser, so Wasser zu Erde, band er sie zusammen und schuf sich so einen sichtbaren und greifbaren Himmel. Und deshalb wurde aus diesen so beschaffenen Elementen, vier an der Zahl, der Körper des Kosmos durch eine Proportion in Einklang gebracht […]. (32B–32C)192
Nach Platon kann der Kosmos bzw. alles das, woraus die Welt besteht, nicht ohne ein gewisses Maß an Ordnung erschaffen werden. Die Elemente, aus denen die Dinge bestehen, müssen von einer alles beherrschenden Instanz, die in der christlichen Tradition mit Gott gleichgesetzt wird, im richtigen Mischungsverhältnis zueinander angeordnet werden, damit etwas Körperliches entstehen kann. Hier hilft einfache Mathematik. Die auf den ersten Blick etwas schwer verständlichen Zitate zu den Proportionen der Elemente lassen sich mit einer unkomplizierten Formel anschaulich erläutern: So wie sich Feuer (=F) zu Luft (=L) verhält, muss sich Luft zu Wasser (=W) und Wasser zu Erde (=E) verhalten. Das bedeutet, dass sich nach Platon die Elemente wie folgt anordnen:
F L W = = L W E Vergleicht man das mit der Illustration zu den Elementen aus dem Welschen Gast, machen sowohl die Erläuterungen Platons als auch die Zahlenverhältnisse innerhalb der Darstellungen bei Thomasin sofort Sinn: Jedem einzelnen der vier Elemente werden Zahlenverhältnisse und Rechenoperationen zugeordnet: Feuer = F = 27 = 3⁕3⁕3 Luft = L = 18 = 3⁕3⁕2 Wasser = W = 12 = 2⁕2⁕3 Erde = E = 8 = 2⁕2⁕2
192 Ebda., S. 45; auch hier wieder der lateinische Text nach Calcidius: idcirco mundi opifex inter ignem terramque aera et aquam inseruit libratis isdem elementis salubri modo, ut quae cognatio est inter ignem et aera, eadem foret inter aera et aquam, rursum quae inter aera et aquam, haec eadem in aquae terraeque societate consistere atque ita ex quattuor supra dictis materiis praeclaram istam machinam visibilem contiguamque fabricatus est.
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Überträgt man diese Zahlenwerte bzw. Rechenoperationen auf die im Timaios erwähnten Mischungsverhältnisse der Elemente, sehen wir Folgendes:
F 27 3*3*3 = = L 18 3*3*2
L 18 3*3*2 = = W 12 3*2*2
W 12 3*2*2 = = E 8 2*2*2
Die Erschaffung des Kosmos ist laut Platon an die Proportionen der einzelnen Elemente, aus denen die Welt besteht, gebunden. Die Beziehung der Elemente zueinander muss dabei immer in demselben Verhältnis gestaltet sein. Genau das ist in der Abbildung zur Syzygie der Fall und kann anhand von einfachem Kürzen anschaulich dargestellt werden:
F 27 3*3*3 L 18 3*3*2 W 12 3*2*2 = = = = = = = = L 18 3*3*2 W 12 3*2*2 E 8 2*2*2 Feuer verhält sich zu Luft wie Luft zu Wasser und Wasser zu Erde – bei den Ergänzungen zu Thomasins Illustration ist das im Verhältnis 3:2 der Fall.193 Aus der richtigen Zusammenfügung der Elemente entsteht nach Platon das Universum und damit auch unsere Welt. Bei Thomasin sind die Elemente ebenfalls die Grundlage des Lebens, aus denen alles auf der Erde, auch der Mensch, besteht. Dass Thomasin dezidiert platonisches Wissen in die Konzeption der Darstellung der vier Elemente hat einfließen lassen, kann zwar nicht zweifelsfrei belegt, aber durchaus vermutet werden, da bereits die Bögen, die innerhalb der Illustration auf der linken Seite die Elemente miteinander verbinden, auf Platon verweisen könnten. Im Timaios heißt es ja, dass sich, wie schon Feuer zu Luft, Luft zu Wasser und Wasser zu Erde verhält – und genau diese Elemente sind mit Hilfe dreier Bögen bereits in der ältesten bekannten Handschrift miteinander vernetzt. Ein weiteres Indiz für Thomasins mögliches Platon-Wissen liefert die Verwendung der Illustration selbst, die nicht nur im Welschen Gast in Verbindung mit den oben genannten Zahlenverhältnissen überliefert wird.194 193 Auf diese Verbindung zwischen der platonischen Theorie der Elemente und jener Art von Illustrationen wies bereits John E. Murdoch hin, der im Kapitel »The Basic Constituents of the Sublunar Realm: The Elements and Man and the World als Qadripartite« diverse Abbildungen (die meisten stammen aus dem 12. Jahrhundert) zur Verbindung der Elemente zueinander anbietet. An dieser Stelle sei v. a. auf Abb. 282–285 und die entsprechenden Erläuterungen verwiesen. Vgl. Murdoch, John E.: Album of Science. Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 348–355. 194 Bei Murdoch (dessen Schlussfolgerungen plausibler als jene von Simek scheinen und eindeutig belegbar sind) deutet alles darauf hin, dass die Illustration bereits seit dem 11. Jahrhundert zirkulierte und auf einen Gelehrten namens Adalbod von Utrecht zurückgeht, der seinerseits mit Hilfe des Timaios-Kommentars von Chalcidius einen Boethius-Text kommentierte. Murdoch vermutet, dass die Zahlenverhältnisse, die auf die Verbindung der Elemente zueinander verwei-
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Auch Thomasins Wissensstand und seine möglichen Quellen, denen ich mich kurz widmen möchte, sind hier von Interesse: Der Welsche Gast wurde – wie die heutige Handschriftenlage noch eindeutig erkennen lässt – viel gelesen und war weit verbreitet. Die Ergänzungen innerhalb der Illustrationen lassen auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem Lehrgedicht schließen und werfen die Frage auf, wie eng didaktische Literatur und naturphilosophisches Schreiben verzahnt sind. Dass Thomasin ehrgeizig und gebildet war, beweist nicht nur die Tatsache, dass er als Nicht-Muttersprachler innerhalb kürzester Zeit ein umfassendes Lehrgedicht in deutscher Sprache verfasst. Er versteht es gekonnt, sein breites Allgemeinwissen zwar unaufdringlich, doch unübersehbar in seinen Text einfließen zu lassen. Bereits am Ende des ersten Kapitels, in dem er sich mit den Verhaltensnormen am Hof befasst und Ratschläge zur Erziehung junger Menschen gibt, wird seine Belesenheit offenkundig, wenn er darüber schreibt, was Heranwachsende lesen sollen. Er weist darauf hin, dass die âventiure sint gekleit/ dicke mit lüge195 (v. 1118f.), räumt aber ein, dass derartige Phantasiegeschichten gut für die Erziehung und auch für das Erlernen der Wahrheit sind. Wahrheit ist oft mit Lüge eingekleidet (vgl. v. 1126), da über die Lüge darauf verwiesen werden soll, was jeder zu tun und zu lassen hat, der nach Tüchtigkeit strebt (vgl. v. 1131– 1134). Er bezieht sich mit dieser Aussage auf Figuren der höfischen Dichtung und der antiken Mythologie, die sich der junge Leser als Vorbild oder Abschreckung zu Herzen nehmen soll (vgl. v. 1023–1078). Es handelt sich dabei um eine Art ›Namedropping‹, in dem Thomasin in aller Kürze beweist, dass er die großen Helden des Artushofs und der Antike nicht nur dem Namen nach kennt, sondern auch weiß, welche Figuren in seinem Weltbild positiv oder negativ zu bewerten sind.196 Doch nicht nur in den lügnerischen Phantasiegeschichten kennt er sich aus: Auch die Philosophie, die Theologie und die Geschichte sind ihm nicht fremd, wie wiederkehrende Verweise auf z. B. Alexander den Großen (vgl. u. a. v. 6493) oder sen, von Adalbod erarbeitet wurden (vgl. Murdoch: Album of Science, S. 348–349). Dass dieses Wissen sich schnell verbreitete, kann er anhand einer Bibelillustration zum Buch Genesis (ca. 1070 in St. Hubert) belegen: Hier tauchen in einer Initiale (das Wort In des ersten Bibelverses In principio creavit Deus celum et terram) genau diese Zahlenverhältnisse auf, mit denen auf die Entstehung der Welt nach platonischem Sinn zu schließen ist (vgl. Murdoch: Album of Science, S. 350). 195 »Die Phantasiegeschichten sind oft äußerst gefällig in Lügen eingekleidet« 196 Vgl. zum Lektürekanon u. a. Ebenbauer, Alfred: Das Dilemma mit der Wahrheit. Gedanken zum ›historischen Roman‹ des 13. Jahrhunderts. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Gerhardt/Nigel F. Palmer/Burghart Wachinger. Tübingen 1985 (Publications of the Institute of Germanic studies. University of London 34), S. 52–71; vgl. auch Düwel, Klaus: Lesestoff für junge Adlige. Lektüreempfehlungen in einer Tugendlehre des 13. Jahrhunderts. In: Fabula (Berlin) 32 (1991), S. 67–93; vgl. auch Engelen: Eine Studie zur Geschichte der Jugendlektüre um 1200, S. 13–42.
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die antiken Gelehrten (vgl. z. B. die Ausführungen zu den sieben freien Künsten im 3. Kapitel des 7. Buches) zeigen. Dass davon ausgegangen werden kann, dass Thomasin die antiken Philosophen studiert hat, lässt sich indirekt anhand einer kurzen Passage aus dem 6. Kapitel des 5. Buches zeigen, in dem er Fürstenkritik übt und dann die Trägheit der Ritter und Pfaffen ankreidet. Hier schreibt er: Wâ ist nu Aristôteles, Zênô und Parmenides, Platô und Pytâgoras? Wâ ist ouch Anaxâgoras? Nu wizzet daz mich dunket des, und lebt hiut Aristôteles, im entæt dehein ander künic daz im Alexander ze êren tet di wîl er lebt. (v. 6409–6417)197
Die rhetorische Frage nach dem Verbleib der Philosophen impliziert, dass Thomasin klar ist, nach welchen wichtigen Namen er fragen muss. Auch ist ersichtlich, dass er mehr als nur die Namen dieser Gelehrten kennt, da er ja mit deren Hilfe die Unwissenheit seines eigenen Standes anklagt, von der er sich als Lehrmeister und vermeintliche Autorität zu distanzieren sucht. Dass er Pfaffen und Herrscher rügt, da sie nicht mal mehr Aristoteles, Platon oder Pythagoras kennen, verweist indirekt darauf, dass er selbst sehr wohl mit ihnen und – das kann an dieser Stelle vermutet werden – ihren Lehren vertraut ist. Ob Platons Timaios eines der Werke war, die Thomasin studiert hat, lässt sich zwar nicht völlig eindeutig belegen, doch noch weniger eindeutig lässt sich diese Annahme von der Hand weisen.
2.7 Der Weg zu Himmel und Hölle Thomasin liegt das Seelenheil seines Publikums am Herzen. Er will die ›guten‹ Menschen, die sich seiner Lehre öffnen, auf den rechten Pfad der Tugend führen, damit sie einen Platz im Himmel bekommen. Wie genau man dorthin kommt, ist Inhalt von Buch fünf; was einen in die Hölle bringt, wird dort auch erwähnt. Die erste Anspielung auf den Tod und den Weg ins Jenseits findet sich schon vorher, wenn Thomasin im siebten Kapitel des vierten Buches davon spricht, dass 197 »Wo ist heute Aristoteles, Zeno und Parmenides, Platon und Pythagoras? Wisst, mir scheint, dass wenn Aristoteles heute leben würde, ihm kein anderer König an Ehre erweisen könnte, was Alexander ihm an Ehre erwies, so lange er lebte.«
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man nicht darüber nachdenken soll, wie lange man lebt, sondern wie man lebt. Ein tugendhafter Mann brauche den Tod nicht zu fürchten und selbst der Ort und die Art und Weise, auf die man stirbt, hätten im Jenseits keine Relevanz (vgl. v. 5421–5492). Acht knappe Verse drücken diesen Sachverhalt sehr deutlich aus: Der wec in allen landen ist, der hin ze Got vert zaller vrist. Der wec in allen landen lît, der hin ze Hell vert zaller zît. Swâ der man sterben sol, dâ stirbet er übel ode wol. Swâ er stirbet, er wirt zehant ze ruowe od zunruowe gesant.198 (v. 5479–5486)
Neben diesen Versen findet sich in allen Bilderhandschriften mit Ausnahme des Erlanger Manuskripts199 eine Illustration, die den Weg ins Jenseits abbildet. Kries beschreibt die Abbildung aus der ältesten überlieferten Handschrift Cod. Pal. germ. 389 wie folgt: In der Mitte der Illustration ist die mit Sphären umgebene, schematische Darstellung der Erde, von der zwei diametral entgegengesetzte Bahnen nach unten, respektive nach oben führen und in zwei Sphärensegmente einführen, die den Himmel und die Erde darstellen. In der höllischen Sphäre wird die große Gestalt des Teufels sichtbar. Der Weg, der dahin führt: der helle wech. Die Bahn, die nach oben führt: des himels wech.200
Wie auch beim Sphärenmodell sehen die Darstellungen des Weges ins Jenseits in den späteren Handschriften teilweise ganz anders aus und lassen auch in diesem Fall die Frage zu, ob und wie die entsprechenden Vorlagen verstanden wurden.
198 »Es gibt in allen Ländern einen Weg, der immer hin zu Gott führt. Der Weg, der immer hin zur Hölle führt, liegt genauso überall. Wo auch immer ein Mensch sterben wird, dort stirbt er auf schlechte oder gute Weise. Wo auch immer er stirbt, wird er sofort zur Ruhe oder zur Unruhe geschickt.« Auch an dieser Stelle steht die Ruhe für den Himmel und damit für den Bereich des Göttlichen. 199 Vgl. Wenzel/Lechtermann (Hrsg.): Beweglichkeit der Bilder, S. 270. 200 Kries: Der Welsche Gast Bd. 4, S. 118.
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Abb. 12: Weg ins Jenseits, Cod. Pal. germ. 389, 86v. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg (links) Abb. 13: Weg ins Jenseits, Cod. Memb. I 120, 43v. Quelle: Forschungsbibliothek Gotha (mitte) Abb. 14: Weg ins Jenseits, Cod. Pal. germ. 320, 46r. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg (rechts)
In Abbildung 12 (Cod. Pal. germ. 389) ist gut erkennbar, dass das im Zentrum der Illustration stehende Sphärenmodell aus Abbildung 7 reproduziert wird. Von dort aus führt jeweils ein Weg in den Himmel und in die Hölle. Die Anzahl der Sphären entspricht zwar nicht dem ursprünglichen, genaueren Bild, das die rota und die Schalen der sieben Planeten wiedergibt, doch ist auf den ersten Blick erkennbar, dass auf diese Illustration angespielt wird. Die Hölle befindet sich unten, ist durch das Vorhandensein von Drachen und einen schwarzen Hintergrund gekennzeichnet, während der Himmel am oberen Ende der Darstellung angesiedelt ist und aus blauen, wolkenartigen Gebilden besteht, aus denen zwei Sterne hervorblitzen. Hundert Jahre später weist auch die Illustration der Gothaer Handschrift die gleiche Struktur auf (Abbildung 13): Drei Ringe, die um einen zentralen Punkt angeordnet sind, symbolisieren das Sphärenmodell, das vom Weg ins Jenseits durchbrochen wird. In der Hölle sitzt ein Teufel, während der Himmel mit Hilfe von Wolken dargestellt wird. In Abbildung 14 (Cod. Pal. germ. 320, 15. Jh.) ist zwar noch immer ein Rest der Himmelsschalen in der Mitte der Abbildung vorhanden; eine eindeutige
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Zuordnung zum Sphärenmodell auf Basis dieser Illustration ist aber aufgrund der sehr reduzierten Darstellung schwierig. Die Sphären sind lediglich anhand zweier gelber Ringe angedeutet; die Wegstrecke zwischen Himmel und Hölle, die sich innerhalb der äußeren Schale befindet, überschneidet sich mit dem inneren Ring. Der Himmel selbst hängt wieder voller Sterne und in der Hölle findet sich ein gehörnter Teufel.
Abb. 15: Der Weg ins Jenseits, Mscr. M 67, 43va. Quelle: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)
In der reich illustrierten Dresdner Handschrift, die zeitgleich mit dem Cod. Pal. germ. 320 entstanden ist, kann von einer kreisförmigen Darstellung der Planetensphären in der Mitte der Illustration nicht mehr die Rede sein. Der mittlere Teil der Abbildung, der mit die welt überschrieben ist, zeigt zwar eine leichte Ausbuchtung und vier verschiedene übereinandergelegte ›Schichten‹, eine Ähnlichkeit zum Sphärenmodell ist aber nicht festzumachen. Der Weg in den Himmel und die Hölle ist beschriftet, breit und in Blau gehalten. Im Himmel finden sich Wolken, zwei Sterne und ein sichelförmiger Mond, die Hölle ist als weit aufgerissenes Drachenmaul dargestellt, das mit herausgestreckter Zunge und klauenartigen Zähnen den Sünder zu verschlingen droht. In der um 1420 entstandenen Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 330 wird nochmals abstrahiert, wenn der Mittelteil, der strukturell noch immer kreisförmig konzipiert ist, durch einen horizontalen schwarzen Strich getrennt ist und so die Bereiche Himmel und Hölle voneinander trennt. In der ältesten Handschrift (Abbildung 12) wird am deutlichsten ersichtlich, dass der Weg ins Jenseits, in die Transzendenz, auf der Erde beginnt; einer Erde, deren Verortung innerhalb des Kosmos bereits im Text besprochen wurde und deren Einbettung in ein naturphilosophisch begründetes Weltbild auch anhand
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dieser Illustration zum Weg ins Jenseits erkennbar ist. Der Weg hin zu Gott oder in die Hölle impliziert eine Grenzüberschreitung, die im Heidelberger Codex 389 sehr anschaulich dargestellt wird. Den Ausgangspunkt des Weges stellt der Mittelpunkt der Abbildung – die Erde – dar, von der aus zwei Richtungen möglich sind. Diese Wege sind als hellere Streifen dargestellt, die, je weiter sich der Weg vom Inneren des Sphärenmodells entfernt, immer besser zu identifizieren sind. Der Übergang vom Diesseits zum Jenseits wirkt fast graduell. Die Nähe zum Inneren, also zur Erde und ihren natürlichen Gesetzmäßigkeiten, ist der Startpunkt, der in der Realität der Naturphilosophie verankert ist. Ein Ablösen von der Erde entspricht einer Ablösung von den irdischen Naturgesetzen, einem Auf- oder Absteigen über den noch vermeintlich bekannten Bereich des Äthers hinaus in eine für die zeitgenössischen Gelehrten unbekannte Welt, die keinen beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten mehr unterworfen ist. Dieser Übergang vom Diesseits zum Jenseits, vom Bekannten und Darstellbaren zum Unbekannten, vom Bereich des Beschreibbaren zum Transzendenten wird im Welschen Gastes durch eine Verbindung zweier Wissenssysteme dargestellt. Der diesseitige Bereich des Irdischen wird durch gelehrtes, naturphilosophisches Gedankengut dargestellt, während die Orte des Jenseitigen mit altbewährten und gängigen Bildern aus dem Bereich der christlichen Ikonographie – etwa Drachen und Teufel für die Hölle201 sowie Sterne und Wolken202 als Symbole für den Himmel – bestückt sind. In der Illustration wird ganz bewusst zeitgenössisches populäres Wissen eingesetzt und durchbrochen, um diesen Übergang zu markieren. Wo genau diese Grenze zwischen Diesseits und Jenseits liegt, lässt sich in Cod. Pal. germ. 389 nicht genau festmachen. Die Abstufungen hinsichtlich der Durchlässigkeit der einzelnen Sphären verschwinden aber in späteren Darstellungen. Stattdessen findet sich ein direkterer Weg zwischen Himmel und Hölle; der naturphilosophische Verweis wird damit immer stärker zugunsten der moralisierenden, theologischen Belehrung in den Hintergrund gedrängt. Zusammenfassend lässt sich bemerken, dass sich in der Illustration zum Weg ins Jenseits christliches Gedankengut und naturphilosophisches Wissen 201 Vgl. Hölle. In: LCI Bd 2, Sp. 313–321, hier besonders Sp. 314: Die Minimalelemente des christlichen Höllenbildes sind Dämonen, Finsternis, Feuer und dämonische Tiere. Ab dem 9. Jhdt. ist der Höllenrachen ein beliebtes Motiv für die Darstellung der Hölle und ab dem 11. Jhdt. werden auch groteske Strafschilderungen in die Illustrationen mit eingebettet. Zur Entwicklung der Ikonographie des Höllenschlundes vgl. besonders Schmidt, Gary D.: The Iconography of the Mouth of Hell. Eighth-Century Britain to the Fifteenth Century. Selinsgrove/London 1995. 202 Vgl. ebda., Himmel. In: LCI Bd. 2, Sp. 255–267, hier Sp. 264–265: Es wird darauf verwiesen, dass Sterne zu den regelmäßig wiederkehrenden Begleitmotiven der Sphaira gehören und Wolken »[…] die Erscheinungsformen jenseitiger Realität begleiten, indem sie eine Grenze bestimmen, ›hinter‹ der od. ›über‹ der die Erscheinung sichtbar wird.«
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überlagern. Die Erde und ihr weiteres Umfeld (Planeten und Sphären) sind nach naturphilosophischen Merkmalen beschreibbar und unterliegen auch diesen Gesetzmäßigkeiten. Die Welt ist andererseits in ein metaphysisches Konstrukt eingebettet, das über den kosmologischen Bereich hinaus für das Seelenheil des Menschen Relevanz hat. Das Verhalten auf Erden bestimmt den weiteren Weg der Seele in die Transzendenz; dieser kann nach oben in den Himmel oder nach unten in die Hölle führen. Da dem ewigen Leben nach dem Tod eine größere Bedeutung als dem zeitlich begrenzten diesseitigen Dasein zugesprochen wurde, hat auch die Erweiterung des naturphilosophischen Weltbilds um diese metaphysische Komponente Gewicht. Die anschauliche Darstellung dieser direkten Verbindung von Erde und Himmel bzw. Hölle lässt erkennen, wie eng Irdisches und Überirdisches miteinander verbunden sind und wie unausweichlich jedes Leben an einem dieser zwei Orte endet. An dieser Illustration ist darüber hinaus bemerkenswert, dass ausgerechnet das Sphärenmodell, das sich durch seine Kreisform und damit dadurch auszeichnet, dass es keine vertikale Unterscheidbarkeit gibt, in ein System eingebettet wird, dass zwischen Oben und Unten unterscheidet. Die Kreisform wird damit irrelevant, das System der Naturphilosophie einem metaphysischen untergeordnet.203 Dass innerhalb der Illustration nicht nur räumlich, sondern auch semantisch zwischen einem Oben und Unten unterschieden wird, wird in Verbindung mit dem Text und einer damit in Zusammenhang stehenden weiteren Illustration evident, der ich mich in weiterer Folge widmen möchte. Im ersten Teil des fünften Buches erzählt Thomasin noch mehr vom Weg in den Himmel und die Hölle. Er berichtet von fünf slahte, von fünf Wesenheiten, die dabei von Bedeutung sind. Das, was man im Allgemeinen als Gott bezeichnet, ist das ›oberste Gute‹, es handelt immer richtig und ist – wie die Bezeichnung bereits vorwegnimmt – oben, also im Himmel, angesiedelt (vgl. v. 5709–5718). Das ›Gute‹ sind die Tugenden, über die man zum ›obersten Guten‹ gelangt (vgl. v. 5719–5726), während hingegen die Schar der Untugenden das ›Böse‹ darstellt, die den Weg hin zum ›niedersten Bösen‹ ebnet (vgl. v. 5737–5742). Das ›niederste‹ oder ›erste Böse‹ ist der Teufel als Pendant Gottes und dieser ist unten, also in der Hölle, zu Hause (vgl. v. 5727–5736). Die fünfte Wesenheit ist als weder gut noch böse einzuordnen: Es handelt sich um die sehs dinc, adel, maht,/gelust, name, rîchtuom, hêrschaft (v. 5745–5746). Diese Prüfsteine sollen einen wahrhaft guten Mann als solchen ausweisen bzw. den untugendhaften Menschen verführen und in die Tiefe reißen. 203 Hinzu kommt, dass das Sphärenmodell von Thomasin ohnehin als Instrument zur Beschreibung von vertikalen bzw. hierarchischen Strukturen herangezogen wird, wenn er sich Gedanken zur Stellung der Menschen in der Welt macht und über das Ordo-Prinzip spricht.
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Im zweiten Teil des fünften Buches beginnt Thomasin, von einer Treppe204, die ins Jenseits führt, zu berichten. Die Treppe zum Himmel muss aus guten, soliden Steinen gemacht sein, jede Treppenstufe eine Tugend darstellen (vgl. v. 5785–5790), während die Treppe zum niedersten Bösen aus den Untugenden besteht. Die einzelnen Stufen sind zusätzlich nach unten ausgerichtet, damit die Menschen leichter fallen (vgl. v. 5869–5880). Interessant ist, wie man nach oben oder unten gelangt: Daz swære daz muoz ziehen nider und kumt von sîner kraft niht wider. Daz übel erreichet niht daz guot daz anderswâ hât sînen muot. Daz ringe ziuht hô zaller vrist. Ein guot bî dem andern ist, sô ist ouch reht daz zaller zît ein übel bî dem andern lît.205 (v. 5801–5808)
Ein paar Verse weiter kommt Thomasin noch einmal darauf zu sprechen, wie einfach es ist, in die Hölle zu fallen: Ôwê wie snelle man komen mac dâ nimmer schînt der liehte tac! Man kumt ze Himel sô lîhte niht. Mich dunkt daz ez dâ von geschiht daz daz swære schierre vellet nider dannez müge stîgen wider. Den man machent swær sîn sunde, daz er vellet lîhte zaller stunde.206 (v. 5889–5896)
204 Der Begriff der Himmelsleiter taucht bereits in der Genesis auf, wird später von Benedikt moralisch als Weg zur Vollkommenheit ausgelegt und auch bei Honorius Augustodunensis wieder aufgegriffen. Bereits im 12. Jhdt. findet sich in einer Erlanger Handschrift eine graphische Umsetzung der Himmelsleiter als Weg zum Himmel und zur Hölle (vgl. dazu: Himmelsleiter. In: LCI Bd. 2, Sp. 283–284). Das Bild der Treppe ins Jenseits ist bei Thomasin wahrscheinlich schon ein bekannter Topos, der innerhalb des Welschen Gastes seine Erweiterung findet. 205 »Das Schwere muss nach unten ziehen und kommt aus eigener Kraft nicht mehr hoch. Das Böse erreicht das Gute nicht, das anderswo angesiedelt ist. Das Leichte zieht immer nach oben. Das Gute ist immer bei einem anderen Guten, so ist es auch richtig, dass immer ein Böses bei einem anderen Bösen angesiedelt ist.« 206 »O weh, wie schnell kann man dorthin kommen, wo der helle Tag nie mehr scheint! In den Himmel kommt man nicht so leicht. Mir scheint, dass es daher kommt, dass das Schwere schneller hinabfällt, als es wieder aufsteigen kann. Seine Sünden machen den Menschen schwer, sodass er jederzeit leicht fällt.«
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Diese Treppe ist ebenfalls als Illustration ausgeführt, die sich wieder in allen Bilderhandschriften findet – einzige Ausnahme auch hier das Erlanger Manuskript.
Abb. 16: Treppe, Cod. Pal. germ. 389, 91v. Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg (links) Abb. 17: Treppe, Cod. Memb. I 120, 45va. Quelle: Forschungsbibliothek Gotha (mitte) Abb. 18: Treppe, Mscr. M 67, 45rb. Quelle: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) (rechts)
Die Abbildungen 16 bis 18 zeigen die Treppe, wie sie in drei Handschriften aus drei Jahrhunderten dargestellt wird. Dass die Illustration zum Weg in das Jenseits in allen drei Fällen einfach erweitert wird, lässt sich auf den ersten Blick erkennen. Die Darstellung aus dem Cod. Pal. germ. 389 hat noch immer einen blauen, wolkigen Himmel, die Hölle ist wie in Abbildung 12 schwarz hinterlegt, doch hier umgibt sie zusätzlich ein feuriger Kranz und ein bunter Teufel wirft die Verdammten mit dem Kopf nach unten in eine Art Rohr oder Schacht hinein.207 Auch in der Gothaer Handschrift wird das Schema der vorhergehenden Abbildung reproduziert; in der Dresdner Handschrift findet sich wieder das aufgeris207 Man kann die Frage stellen, ob hier tatsächlich die Hölle dargestellt wird, oder es sich nicht vielmehr um so etwas wie einen ›Vorhof‹ zur Hölle handelt, durch den die Sünder – so wie abgebildet – erst in die ›echte Hölle‹ gelangen.
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sene Drachenmaul, aus dem diesmal aber Flammen emporzüngeln. Der Himmel ist wie in Abbildung 15 durch stilisierte Wolken und Himmelskörper (in diesem Fall Sonne und Mond) gekennzeichnet. Allen drei hier gezeigten Abbildungen ist gemeinsam, dass ein Mann versucht, auf einer Leiter Richtung Himmel zu klettern, deren Sprossen Tugenden zugeordnet sind. Im Heidelberger Codex 389 sind diese Tugenden noch relativ leicht zu entziffern: Es handelt sich dabei um armuet, milt, lieb, senpht208, reht und warheit. Der Weg nach unten ist leichter zu meistern, da die Treppenstufen, die aus den Untugenden vbermut, gierd, Hass209, zorn, vnrecht und meineit bestehen, nach unten ausgerichtet sind, damit das Fallen ohne Hindernisse vonstattengeht. Links und rechts der Treppe finden sich in allen Abbildungen auch diverse Teufelchen, die versuchen, den Mann, der zu Gott gelangen will, mit langen Haken – den sehs dinc –, nach unten zu ziehen. In allen drei oben gezeigten Illustrationen ist in der Mitte der Zeichnung wieder der ausgesparte Kreis erkennbar, der in den vorhergehenden Darstellungen noch die Erde und die sie umgebenden Sphären umschloss. Hier ist das Sphärenmodell zwar nicht mehr ausgeführt, doch immer noch angedeutet und verweist daher auch in dieser Abbildung, wenngleich nur mehr indirekt, auf die Überlagerung von Naturphilosophie und Theologie. Die Treppe ins Jenseits geht völlig über den Bereich des Diesseitigen und damit über das naturphilosophisch Erklärbare hinaus, trotzdem wird durch die Andeutung des Kreises im Mittelteil ein irdischer Bezug offen gelassen; eine durch die Illustrationsabfolge innerhalb der Handschriften nachvollziehbare Rückkopplung an zeitgenössische kosmologische Inhalte kann von den Rezipienten ohne Schwierigkeiten hergestellt werden. Doch nicht nur innerhalb der eben besprochenen Abbildungen findet sich eine Überlagerung von naturphilosophischem Wissen und den metaphysischen Auslegungen dieses Wissens. Auch in einzelnen Textpassagen, die mit der Illustration zur Treppe in den Himmel und die Hölle in Verbindung stehen, ist diese Kopplung erkennbar. Wie bereits weiter oben angedeutet, berichtet Thomasin im zweiten Teil des dritten Buches, in dem die kosmologischen Phänomene im Zentrum stehen, über die Beschaffenheit der Elemente und deren natürliche Orte. Dort heißt es, dass seiner Natur nach das Leichte nach oben und das Schwere nach unten strebt (vgl. v. 2615–2618). Das führt dazu, dass alle Gegenstände auf der Erde je nach ihrer Beschaffenheit einem bestimmten Ort zustreben, an dem 208 Senpht ist die wahrscheinlichste Lesart; das Wort ist in der Handschrift sehr schwer zu entziffern, da an dieser Stelle der Fuß des Gläubigen einige Buchstaben verdeckt. 209 An dieser Stelle verlasse ich mich auf die Lesart von Kries und damit auf die Gothaer Handschrift, da dieses Wort in der Handschrift Cod. Pal. germ. 389 nicht zu entziffern ist.
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sich Dinge gleicher Art befinden: Schweres lagert unten bei Schwerem, während das Leichte nach oben zum Leichten strebt. Thomasin erklärt mit Hilfe der Eigenschaften der Elemente und Planeten nicht nur seine Ansichten zum Ordo-System, sondern geht sogar noch einen Schritt weiter und überträgt (wie auch in den Illustrationen) das naturphilosophische Wissen auf den Bereich der Moral: So wie im Diesseits ein schweres Element zu Boden fällt, wird ein moralisch ›schwerer‹, sündhafter Mensch im Jenseits immer nach unten in Richtung Hölle fallen (vgl. v. 5892–5893). Die Untugenden, die als ›böse‹ klassifiziert sind, machen einen Menschen schwer und lassen ihn schließlich fallen. Das geschieht, weil sich das Gute zum Guten gesellt und das Böse immer bei anderem Bösen lagert (vgl. ab v. 5806).
2.8 Der kalte Geiz und das Älterwerden Im zehnten und letzten Buch des Welschen Gastes nimmt Thomasin sich der Tugend der milte (der Freigiebigkeit) an, seiner Lieblingstugend (vgl. v. 13739– 13742). Er erläutert ihre Relevanz für den Menschen und geht auch auf die Dinge ein, die der milte abträglich sind. Die wichtigste Eigenschaft der milte ist, dass sie nichts wegnimmt, sondern ausschließlich gibt (vgl. v. 13615–13632) und damit in direktem Gegensatz zur erge, dem Geiz, steht. Auch Jugend und Alter stehen mit der Freigiebigkeit in Verbindung. Thomasin behauptet, dass, wenn jemand bereits in jungen Jahren von Herzen freigiebig ist, er/sie diese Tugend bis ins hohe Alter behält. Das sei auch eine Eigenschaft, die man von keiner anderen Tugend erwarten könne (vgl. 13715–13718). Sogar die Tugend der Beständigkeit unterliegt Veränderungen, da in der Kindheit die stæte noch nicht ganz ausgeprägt ist bzw. ein Mensch erst im Laufe der Jahre wahre Beständigkeit erlangen kann (vgl. 13719–13724). Thomasin erzählt vom Geiz und seinen Auswirkungen auf den Menschen. Für ihn haben der Geiz und das Feuer, auch wenn sie auf humoralpathologischer Ebene nicht aus der gleichen Quelle kommen, viele Gemeinsamkeiten: Daz viuwer und der arge man die gelîchent sich dar an, daz in bêden niht genüeget. Daz viuwer brinnt, diu erge vüeget wie si erviule daz guot. […] Diu erge samnet aller slaht; ir kelte dwingt. Des viuwers kraft verbrennet allez zaller vrist. Diu milte sô getempert ist
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daz ir kelte niht erviulen kan. Ir schât ir hitze ouch niht dar an, daz si daz ir verwerfe gar: si ist getempert wol ze wâr.210 (v. 13759–13776)
Und weiter wird über den Geiz berichtet: Von kalter natûre kumt diu erge; dâ von erwehset ouch ir sterke, swenn der man eraltet ist, wan er ist kelter zuo der vrist. Daz alter grôze erge bringet: der kelt natûre ist daz si dwinget. Dâ von mac der arc sîn baz der kelter ist, wizzet daz.211 (v. 13789–13796)
Es wird erklärt, dass das Alter einem jungen, unbeständigen Menschen noch Beständigkeit verleihen kann und dass auch die Untugenden der Maßlosigkeit (unmâze) und der Unkeuschheit (unkiuscheit) im Alter verschwinden oder schwächer werden können (vgl. v. 13797–13806), nicht aber der Geiz. Thomasin pocht wiederholt darauf, dass ein geiziger Jugendlicher im Alter noch viel gieriger werden wird und der Geiz deshalb eine so fürchterliche Untugend ist, da er den Menschen nicht mehr loslässt und sich die Betroffenen noch dazu vollkommen fühlen (vgl. v. 13807–13826). Doch was genau hat es mit der Kälte und dem Geiz auf sich? Warum das Alter den Geiz nährt, mag auf den ersten Blick nicht eindeutig zu beantworten sein. Wirft man aber einen Blick in den Bereich der Humoralpathologie, wird der Zusammenhang schnell klar. Die Lehre von den vier Säften fand ihren Ursprung bereits bei Hippokrates im Griechenland des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, von dem die ersten medizinischen Traktate in griechischer Sprache erhalten sind.212 Bereits dort ist die Verbindung der Säfte mit den einzelnen Jahreszei210 »Das Feuer und der geizige Mann sind gleich, da sie beide nicht genug kriegen. Das Feuer verbrennt, der Geiz sieht zu, wie er die Dinge aufzehren kann. […] Der Geiz häuft alles zusammen; seine Kälte ist beherrschend. Die Kraft des Feuers verbrennt alles zu jeder Zeit. Die Mildtätigkeit ist so temperiert, dass Kälte sie nicht faul/schlecht machen kann. Auch die Hitze schadet ihr nicht so, dass sie das ihre völlig ablegen/verwerfen würde. Sie ist wahrhaftig gut temperiert.« 211 »Der Geiz rührt von der kalten Natur her; deswegen wächst er auch an Kraft, wenn der Mensch alt geworden ist, denn in dieser Zeit ist er kälter. Das Alter bringt großen Geiz mit sich. Die Natur der Kälte ist es, dass sie (alles) beherrscht. Deswegen, merkt euch, muss der geiziger sein, der kälter ist.« 212 Vgl. Nutton, Vivian: Humoralims. In: Companion Encyclopedia of the Historic Medicine. 2 Bde. Bd. 1. Hrsg. von W.F. Bynum/Roy Porter. London/New York 1998, S. 281–291, hier S. 283–284.
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ten und den Lebensaltern des Menschen von großer Wichtigkeit für das Erkennen und die Therapie bestimmter Krankheiten.213 Ein unausgewogener Säftehaushalt führt zu physischen Problemen und kann anhand von Absonderungen anderer Säfte am Körper diagnostiziert werden. Das Gleichgewicht der vier Säfte war damit bestimmend für die Gesundheit des Menschen. Galen von Pergamon verband im 2. Jahrhundert nach Christus in Übereinstimmung mit Platons Timaios die Körpersäfte mit den Eigenschaften der vier Elemente. Seine Lehre führt noch ein Stück weiter als die Theorien von Hippokrates, da er auch davon ausging, dass ein Ungleichgewicht der Säfte nicht nur den Körper, sondern auch den Geist beeinflussen kann.214 Das Temperament des Menschen spielt eine wesentliche Rolle und ermöglicht über eine theoretische Weiterentwicklung des Viererschemas Verbindungen zu anderen Wissensgebieten wie der Musik oder der Diätetik. Auch die Astrologie und damit der Einfluss von Planeten und Sternzeichen auf die Physis des Menschen wurden schlagartig wichtig. Das lässt sich daran zeigen, dass Essen und Trinken, Schlaf, Bewegung, die Entleerung des Körpers sowie Emotionen relevant für die Aufrechterhaltung des Säftegleichgewichts werden.215 Das Leben eines Menschen verläuft in vier Phasen, die jeweils mit einem Körpersaft, einem Element und dessen Primäreigenschaften verbunden sind. Das Blut ist der Körpersaft, der mit der Luft in Verbindung steht, warm und feucht ist und dem Frühling und der Kindheit zugeordnet wird. Dem Lebensalter der Jugend entspricht das warme und trockene Feuer, das in seinen Eigenschaften der gelben Galle und dem Sommer gleicht. Der Herbst entspricht dem Mannesalter, ist dem Saft der schwarzen Galle zugeordnet, ist kalt und trocken und damit der Erde ähnlich. Schließlich ist das Wasser, in seinen Eigenschaften kalt und feucht, dem Körpersaft des Phlegmas ähnlich und damit dem Lebensalter des Greises und der Jahreszeit Winter zugeordnet. Auch die Temperamente sowie bestimmte Geschmäcker oder Sternzeichen lassen sich in dieses Viererschema einbetten.
213 Vgl. ebda., S. 286. 214 Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu fehlgeleiteten und übertriebenen Emotionen im Kapitel zu Reinfried von Braunschweig ab S. 175. 215 Vgl. Nutton: Humoralims, S. 286–288; vgl. auch Jankrift, Kay Peter: Krankheit und Heilkunde im Mittelalter. Darmstatt 2003; vgl. ders.: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter. Darmstatt 2005, v. a. S. 25–52; vgl. auch Schipperges, Heinrich: Der Garten der Gesundheit. Medizin im Mittelalter. München 1985; vgl. ders.: Arabische Medizin im lateinischen Mittelalter. Berlin u. a. 1976 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse 1976, 2. Abhandlung); vgl. auch Le Goff, Jacques/Truong, Nicolas: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. Aus dem Französischen üs. von Renate Warttmann. Stuttgart 2007.
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Der Körper eines Menschen ist demnach im Laufe seines Lebens von unterschiedlichen Einflüssen geprägt und reagiert aufgrund seiner sich verändernden Prädisposition anders auf bestimmte Umwelteinflüsse. Wegen der Kopplung der einzelnen Lebensalter an die vier Elemente kann im Verlauf der Zeit ein Erkalten des Menschen festgestellt werden. Die Kindheit und das Lebensalter der Jugend stehen im Zeichen der warmen Elemente Feuer und Luft, während das Mannesund das Greisenalter unter dem Einfluss der beiden kalten Elemente Erde und Wasser stehen. Die Mildtätigkeit ist wohltemperiert und ihr schadet weder Kälte noch Hitze, weswegen sie auch im Laufe eines Lebens beständig im Temperament eines Menschen bestehen bleibt. Dass das nicht bei allen Tugenden und Untugenden der Fall ist, wird ab Vers 13797 anhand der Beständigkeit erklärt: Wenn ein Mann in seiner Jugend unbeständig ist, kann das Alter noch eine Veränderung bringen, da Untugenden wie die Unmaße und die Unkeuschheit, die nach Thomasins Logik nur mit der Hitze konnotiert sein können, im Alter langsam abnehmen (vgl. v. 13790–13806). Der Ausbruch der Minnekrankheit wird maßgeblich durch ein Zuviel an gelber Galle und damit durch zu viel Feuer verursacht.216 Wenn der Körper im Alter kälter wird, ist auch weniger gelbe Galle vorhanden, was dazu führt, dass das sexuelle Verlangen zurückgeht. Dass dieser Umstand anderen Untugenden aber zum Vormarsch verhelfen kann, sieht man am Geiz, dessen Stärke aus seiner kalten Natur erwächst. Er wird nicht wie die Unkeuschheit im Alter schwächer, sondern im Gegenteil immer intensiver, da das Erkalten des Menschen im Laufe seines Lebens voranschreitet und die Kälte des Alters die Kälte des Geizes noch verstärkt. Daher ist es unerlässlich, sich bereits in jungen Jahren in Mildtätigkeit zu üben und dem Geiz entgegenzuarbeiten, da er sich später sowieso in das Leben der Menschen einschleicht. Nur in den Jahren, in denen die warmen Elemente den Körper regieren, kann dem Geiz aktiv abgeschworen werden, um zu verhindern, dass er später nicht völlig die Oberhand gewinnt. Die zusätzlich schlechte Nachricht ist, dass kein Mensch je vom Geiz geheilt werden kann, da das auf Ebene der Säftelehre unmöglich ist. Wer einmal geizig ist, der bleibt es auch – unterstützt durch das graduelle Kälterwerden des Menschen.
2.9 Das Feuer im Stein Thomasin nutzt den Schluss des Welschen Gastes, um auf seine Motivation einzugehen. Im siebten Kapitel des zehnten Buches erklärt er, warum er sein Lehr216 Vgl. dazu Kapitel 2.3. »Das Feuer und die Liebe« ab S. 45; speziell zu Galen vgl. Siegel: Galen’s system of Physiology and Medicine.
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gedicht verfasst hat und welche Leserschaft er sich für seinen Text vorstellt. Im letzten Kapitel heißt es, dass er ihn den Menschen widmet, die tugendhaft sind oder es noch werden wollen, damit sie sich durch die Lektüre bessern können (vgl. v. 14631–14638). Es kann aber nur ganz bestimmten Menschen geholfen werden: Nur die Tugendhaften oder diejenigen, in deren Wesen die Tugendhaftigkeit angelegt ist, können sich mit Hilfe des Welschen Gastes weiterentwickeln. Ohne grundlegende Tugend hat die Lehre Thomasins einfach keine Kraft (vgl. v. 14639–14643). Er vergleicht die Tugendhaftigkeit eines Menschen mit dem Feuer, das in einem Stein steckt: Man mac daz wazzer slahen zaller vrist, daz ez doch enviuwert niht, wan im daz viur ze hân niht geschiht. Swie kalt ein stein ist, man gewinnet doch mit list, viuwer drûz, wan ez ist drinn.217 (v. 14644–14649)
Auf Wasser einzuschlagen, wird keinen Funken erzeugen. Ein Stein hingegen, der ja auch kalt wie das Wasser ist, enthält Feuer, wenn man ihn richtig zu benützen weiß. Ein Mensch kann das Feuer zum Vorschein holen, muss sich darüber aber im Klaren sein, dass nicht er es ist, der es erzeugt: Daz wizzet vür die wârheit, der zunder218 enzündt daz viuwer wol: niemen doch des wænen sol daz er daz viuwer künne machen219. (v. 14654–14657)
Die Sache mit dem Feuer im Stein ist ein alter Topos, der bereits im 4. Jahrhundert in Hinblick auf christliche Glaubenslehren verhandelt wird. Dass alle Dinge in Abhängigkeit von ihrem Gewicht nach oben oder unten streben, war schon Augustinus klar. Diesen Gedanken weiterentwickelnd, folgerte er, dass in allen Dingen, 217 »Man kann das Wasser immerzu schlagen, es wird sich doch nicht entzünden, denn Feuer zu enthalten, ist ihm nicht gegeben. Wie kalt ein Stein auch ist, gewinnt man doch mit Geschick Feuer daraus, denn es steckt darin.« 218 Ich verstehe den zunder hier als Anzünder oder Zundmittel, aufgrund dessen ein Feuer entstehen kann. Ob Thomasin hier seine Begriffe durcheinanderbringt und eigentlich vom Funken spricht, der aus dem Stein geschlagen werden kann und den Zunder damit erst zum Glimmen bringt, lässt sich an dieser Stelle nicht genau sagen, ist aber ebenfalls möglich. 219 »Merkt euch das Faktum: Der Zünder entzündet das Feuer, aber niemand soll meinen, er könne das Feuer erzeugen.«
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die sich anders verhalten, ein Geist wirken muss, der die Natur besiegt.220 Ambrosius konstatierte, dass unnatürliche Verbindungen von Elementen – und eine solche glaubt er beim Feuer vorzufinden, das sich aus dem Stein herausschlagen lässt221– eine göttliche Kraft benötigen, die die Naturgesetze überwinden kann.222 Laut Beda Venerabilis (7. Jahrhundert) wirkt Gott, indem er entgegengesetzte Naturen miteinander verbindet – und genau das ist bei diesem Beispiel der Fall.223 Das Feuer dürfte gar nicht im Stein enthalten sein, da das für Beda, wie schon bei Ambrosius, gegen die Logik der Natur verstößt. Nur Gott und seine Allmacht können die Naturgesetze überwinden. Bei Thomasin sieht das ein wenig anders aus. Zunächst verwendet er das Bild der unvereinbaren Naturkräfte nicht, um die Allmacht Gottes zu erklären, sondern um sein dualistisch geprägtes Weltbild verständlich zu machen. Für Thomasin gibt es zwei Arten von Menschen: die tugendhaften und die tugendlosen. Ein Mensch ohne Tugenden wird in dieser Weltsicht niemals zu einem ›guten‹ Menschen werden können, da er nicht die Anlage zur Tugend hat – das Feuer steckt (um in der gewählten Metapher zu bleiben) nicht in ihm. Thomasins Buch richtet sich lediglich an die erste Gruppe, die (potentiell) Tugendhaften, die er vom richtigen Weg überzeugen will und denen er bei der Optimierung dieses Weges zur Seite steht. Der Stein in Thomasins Bild muss noch dazu mit list bearbeiten werden – also mit »Weisheit, Klugheit, Schlauheit«224. Eine unnatürliche Verbindung von zwei Elementen und die Überwindung der Naturgesetze durch Gott werden in der Passage nicht erwähnt. An dieser Stelle lohnt sich ein direkter Vergleich mit Hugos Renner: In der sechsten distinctio225 erzählt Hugo Von dem fiursteine, hat dabei aber einen völlig anderen Fokus als Thomasin. Die kurze Erzählung wird durch einen Verweis auf die Wunder Gottes eingeleitet, der die Macht besitzt, Feuer im Element des Wassers am Leben zu erhalten (vgl. v. 18829–18832). Im Text heißt es weiter:
220 Vgl. Nitschke: Naturerkenntnis, S. 52–53. 221 Feuer ist seiner Natur nach leicht und muss daher nach oben streben. Wenn sich dieses Element mit einem Stein verbindet, der aufgrund seiner Schwere nach unten gezogen wird, entspricht das nicht den Regeln der Natur. Es muss daher etwas Göttliches hinter dieser Mischung stecken. 222 Vgl. Nitschke: Naturerkenntnis, S. 54–55. 223 Vgl. ebda., S. 63. 224 Lexer (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Sp. 1936. 225 Zu Hugos von Trimberg Renner folgt Genaueres im nächsten Kapitel ab S. 100.
Das Feuer im Stein
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Ein stein in einem wazzer lît Tûsent jâr, daz alle zît Über in fliuzet und hât er doch Fiur in im behalten noch, Daz ûz im schône springet Swenne man in dazuo twinget.226 (v. 18833–18838)
In seiner Auslegung zitiert er die antike Gelehrtenmeinung, dass nur Gott in seiner Größe die Naturgesetze überwinden kann. Bei Hugo wird die Stelle noch deutlicher auf die göttlichen Wunder hin ausgelegt, da hier nicht nur Feuer in einem Stein steckt, sondern der Stein noch dazu tausend Jahre im Wasser liegt – in dem Element, das jedes Feuer zum Erlöschen bringen sollte. Dennoch lässt sich das Gegenteil beobachten. Für Hugo ist das der Beweis, dass Gottes Macht auch im Wasser das Feuer am Leben erhalten kann – ein Wunder, das die Gesetze der Natur außer Kraft setzt und die Größe Gottes zum Vorschein bringt. Die Elemente sind in dieser Episode nicht mehr, wie bei Thomasin, aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften ein Vergleichsmittel für menschliches Verhalten. Vielmehr erhalten sie bei Hugo aufgrund ihrer kollidierenden Primäreigenschaften eine deiktische Funktion, deren Fokus direkt auf Gott hin abzielt.227 Thomasin spielt mit dem Motiv des Feuers im Stein auf verschiedenen Ebenen. In erster Line benutzt er das Bild, um sein erzieherisches Konzept und seine didaktischen Überlegungen darzustellen. Es braucht Verstand und Geschick, um die Tugend und das tugendhafte Verhalten aus dem Menschen hervorzuholen. Obwohl man das Feuer der Tugendhaftigkeit bei anderen hervorbringen kann, ist es nicht möglich, tugendhafte Menschen zu ›erschaffen‹. Tugend bzw. deren Anlage ist genauso gottgegeben wie bei Hugo das Feuer im Stein. Das Bild und seine Übertragung auf eine moraldidaktische Ebene funktionieren, da auf vorhandenes praktisches Wissen angespielt wird. Von einem Wunder im Sinne Ambrosius oder Bedas ist aber nicht mehr die Rede. Thomasin baut das Bild aufgrund der Auslegung in den Text ein. Der Verweis auf das Wasser lässt aber vermuten, dass seine Überlegungen in einem tiefergehenden Verständnis für die Natur wurzeln, das über das Wissen älterer Gelehrter hinausgeht. Die Lehre von den vier Elementen ist ihm vertraut und auch mit der Säftelehre kennt er sich aus; er weiß daher, dass Wasser und Feuer in ihren Primäreigenschaften ganz konträr sind. Kaltes und feuchtes Wasser hat mit dem heißen und trockenen Feuer nichts 226 »Ein Stein liegt tausend Jahre im Wasser, das die ganze Zeit über ihn fließt, und doch hat er noch Feuer in sich behalten, das aus ihm herausspringt, wenn man ihn dazu zwingt.« 227 Mehr zum Vergleich zwischen Thomasin und Hugo in der Zusammenfassung zur Didaktischen Literatur ab S. 135.
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mehr zu tun und das eine aus dem anderen zu gewinnen, scheint bereits auf dieser Ebene unmöglich. Ein Stein hingegen, der dem Bereich der Erde zugeordnet wird, ist seiner Natur nach trocken und kalt; er teilt sich eine seiner zwei Primäreigenschaften mit dem Element Feuer. Die Trockenheit gewährleistet die Ähnlichkeit der Stoffe und genau diese Trockenheit ist es, die – einem moderneren Gedanken folgend – an das Phänomen der Reibung erinnert, die in der zitierten Passage der Erzeugung von Feuer zugrunde liegt. Dass Thomasin zunächst auf das Wasser anspielt, um auf den Kontrast von Feuer und Wasser zu verweisen, später aber auf das Vorhandensein des Feuers im kalten Stein eingeht und explizit sagt, dass es in ihm steckt, kann durchaus auf die Ähnlichkeit der beiden Stoffe abzielen, deren Trockenheit das Funktionieren des physikalischen Vorgangs möglich macht. Die Unaufgeregtheit, mit der über das Feuer im Stein berichtet wird, lässt auf ein rationales Naturverständnis schließen, in dem Gott zwar der Ursprung und das Ziel aller Dinge ist, wo aber dennoch über eine bloße Allegorese hinausgegangen wird, wenn die Natur oder natürliche Vorkommnisse im Zentrum des Textes sind. Gott steht zwar hinter allem und alles verweist auf ihn, doch gibt es gewisse Regeln und Schemata, nach denen die Welt funktioniert, die es zu begreifen, zu lernen und im Falle Thomasins auch zu lehren gilt. Belehrt werden aber im Welschen Gast nur diejenigen, in denen der Funke der Tugend steckt. Mit seinem Lehrgedicht stellt er genau jene list zur Verfügung, die benötig wird, um die Tugendhaftigkeit aus seinen Rezipienten hervorzulocken – der Text ist nichts anderes als der Zündstoff, der das Feuer so richtig in Gang bringt.
2.10 Schlussfolgerungen Die Lehre zu den Elementen und deren Eigenschaften beschreibt die Welt und darüber hinaus auch Teile des Universums. Sowohl der supra- als auch der sublunare Bereich unterliegen Gesetzmäßigkeiten, die analysierbar und rational nachvollziehbar sind: Planeten umkreisen in einer bestimmten Reihenfolge in ihren dafür vorgesehenen Sphären die Erde, die im Zentrum der Welt ruht; die Sphäre des Mondes, der aufgrund seiner Phasen ein Symbol des Wandelbaren darstellt228 und daher nicht mehr die ausschließliche und unfehlbare Beständigkeit der anderen Planeten vorweisen kann, trennt den supra- vom sublunaren Bereich, in dem auch der Mensch zu Hause ist229. Im zweiten und dritten Buch des 228 Vgl. Ruff: Der wälsche Gast des Thomasin von Zerklaere, S. 61. 229 Zum Einfluss des Mondes (und auch der übrigen Planeten) auf den Menschen und dessen Gesundheit vgl. Riha, Ortrun: Mikrokosmos Mensch. Der Naturbegriff in der mittelalterlichen Medizin. In: Dilg (Hrsg.): Natur im Mittelalter, S. 111–123, hier v. a. ab S. 116.
Schlussfolgerungen
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Welschen Gastes erläutert Thomasin mehrmals die Anordnung der vier Elemente unterhalb der Sphäre des Mondes und geht darauf ein, inwieweit die natürlichen Phänomene, insbesondere die Eigenschaften der Elemente, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, auch den Menschen bestimmen, der ja ebenfalls aus Feuer, Wasser, Luft und Erde besteht. Obwohl die Naturphilosophie hauptsächlich als Vehikel zur Sichtbarmachung von Missständen innerhalb der Gesellschaft dient, spielt sie im Welschen Gast keine unwesentliche Rolle. Innerhalb des Textes hat die Einführung kosmologischen Wissens vordergründig einen ganz bestimmten Zweck: Die unstæte im Menschen und in der Welt soll erklärt werden, und um das verständlich zu machen, braucht es naturphilosophische Belege.230 Die Natur dient dabei nicht nur als Vorbild für den Einzelnen, sondern aus ihr heraus werden auch Begründungen für das gute und schlechte Verhalten der Menschen abgeleitet. Bereits bei Augustinus gilt die Natur als Zeichen; die Natur als Buch, aus dem man neben der Heiligen Schrift auch lesen kann, verweist auf Gott und seine Schöpfung, da diese eine Erscheinung Gottes und damit eine zeichenhafte Repräsentation seiner selbst darstellt.231 Obwohl wissenschaftliche Neugierde und Genauigkeit in Bezug auf naturphilosophische Inhalte nicht zu leugnen sind, wird im Text immer wieder auf die Relevanz für den Glauben und auf die moralischen Konsequenzen hingewiesen. Im Welschen Gast ist ›Wissenschaft‹ bzw. Wissenschaftlichkeit an die Sündhaftigkeit des Menschen gekoppelt. Die Natur hat in ihrer Perfektion einen unrealistischen, weil unerreichbaren Vorbildcharakter. Dabei tastet sich Thomasin immer von der Natur ausgehend an die Moral heran. Er erklärt zunächst mit großer Sorgfalt und unter Autoritätenberufung die supra- bzw. sublunare Welt und deren Eigenschaften und geht erst danach auf die daraus abzuleitenden Bereiche wie Ordo, Tugend oder Untugend und den Weg ins Jenseits ein. Die Verweise und Rückbezüge auf naturphilosophische Lehren sind dabei eindeutig erkennbar und dienen als anschauliche Vergleichsfolie, die auch über einen ausschließlich moralischen Bereich hinausgehend verständlich ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es Thomasin wirklich nur um eine im Bereich der Moralphilosophie angesiedelte Tugendlehre geht. Seit dem Sündenfall setzt tugendhaftes Verhalten gelehrtes Wissen voraus – ist doch die einzige Möglichkeit, Gott zu erkennen, eine Schulung des Verstandes, die seelische Defizite ausgleichen soll. Das Bildungsziel ist zwar die Erkenntnis Gottes und eine gottgewollte, sittliche Lebensführung – das ist aber nur über den Weg
230 Vgl. Ruff: Der wälsche Gast des Thomasin von Zerklaere, S. 60. 231 Vgl. Kann, Christoph: Zeichen – Ordnung – Gesetz: Zum Naturverständnis in der mittelalterlichen Philosophie. In: Dilg (Hrsg.): Natur im Mittelalter, S. 33–49, hier ab S. 34.
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der Geistesbildung zu erreichen.232 Dass die Naturphilosophie daher zusätzlich zu ihrer Funktion als Vergleichsfolie für menschliches Handeln auch selbst ein Teilbereich dieser umfassenden Belehrung, dieser Geistesbildung sein könnte, ist nicht auszuschließen, sondern als wahrscheinlich anzunehmen, da über den Text hinausgehend auch die Illustrationen, die den naturphilosophischen Exkursen beigefügt sind, zeitgenössisches Wissen vermitteln. Wirft man einen etwas genaueren Blick auf die Abbildungen in den einzelnen Handschriften, zeigt sich, dass in den Darstellungen manchmal mehr Wissen verpackt ist, als zunächst im Text aufscheint. Das konnte anhand der Illustration zu den Sekundäreigenschaften der vier Elemente (Syzygie) gezeigt werden und ist auch an der Darstellung zum Weg in den Himmel und in die Hölle gut erkennbar.233 Text und Bild sind im Welschen Gast, wie Michael Stolz in seinem Artikel bemerkt, an manchen Stellen tatsächlich klar im Widerspruch und das wird besonders bei Illustrationen zur Naturphilosophie evident. Stolz bemerkt, dass Thomasin in den Illustrationen ein instrumentales Wissenschaftsverständnis inszeniert, während die sprachlichen Ausführungen immer in einer Moralisierung gipfeln.234 Er erklärt das, indem er auf die Memorialkultur der Zeit verweist und die Illustrationen als Merkbilder deklariert235, die wahrscheinlich aufgrund ihrer lateinischen Beischriften und dem fachlich anspruchsvollen Inhalt nicht direkt für das Laienpublikum gedacht waren.236 Das führt dazu, dass innerhalb des Artes-Zyklus unterschiedliche inhaltliche Aussagen getroffen werden, je nachdem, ob die RezipientInnen sich dem Text oder den Bildern widmen.237 Diese Schlussfolgerung gilt auch für die Illustrationen, die sich mit Kosmologie und Elementenlehre beschäftigen. Gerade bei der Darstellung zur Syzygie greift 232 Vgl. Höfer: Funktion der Gelehrten und des gelehrten Wissens, S. 865–877, hier S. 868–869. 233 Dieser Umstand wird auch im Illustrationszyklus zu den septem artes liberales, die im siebten Buch behandelt werden und auf die ich im Rahmen dieser Analyse nicht eingehen kann, offensichtlich. Zu den septem artes liberales im Welschen Gast und zur Divergenz von Text und Bild gibt es bereits einiges an Forschung: vgl. Stolz: Text und Bild im Widerspruch?, S. 344–372; vgl. auch Rockar, Hans-Joachim: Von Ziffern und Proportionen. In: Das Buch als Quelle historischer Forschung. Hrsg. von Joachim Dietze/Jutta Fliege/Karl Klaus Walther. Leipzig 1977, S. 71–78; vgl. auch Borst, Arno: Bild und Wort und Zahl bei Thomasin von Zerclaere. In: ders.: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters. München/Zürich 1988, S. 429–447; vgl. auch zur GenderThematik innerhalb der Abbildung: Starkey: Das unfeste Geschlecht, S. 99–138. 234 Vgl. Stolz: Text und Bild im Widerspruch?, S. 358–359. 235 Vgl. ebda., S. 362. 236 Stolz imaginiert einen (wenngleich fragwürdigen) ›gebildeten Vorleser‹, der im Zuge einer Erstrezeption zwischen Bild und Text vermittelt (vgl. ebda., S. 369–370). 237 »Der Text propagiert eine Moralisierung der Wissenschaften, im Bild werden operationale Verfahren anschaulich. […] text- und bildspezifische Verfahren folgen Ordnungsmustern, die der Speicherung von Wissensbeständen im Gedächtnis dienen.« Ebda., S. 372.
Schlussfolgerungen
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die These zur Memorialkultur der Zeit, da ja die später beigefügten Zahlen und Rechenoperationen, die den Inhalt der Illustration kodiert wiedergeben, nichts anderes als ein Merkbild darstellen. Der Welsche Gast schafft damit einen interessanten Brückenschlag: Nicht nur ist er als klassische Lehrdichtung in einem moralischen Sinn der Autorität eines allgegenwärtigen und allmächtigen Gottes unterstellt; es ist auf Basis komplexer Illustrationen und teilweise schwer entschlüsselbarer Anspielungen auch möglich, gelehrtes Wissen über die Vorgänge der Natur einzubringen, das Thomasins herausragende Bildung hervorhebt. Thomasin ist aller humilitasTopoi seines Textes zum Trotz kein bescheidener Autor. Er ist sich, obwohl (oder gerade weil) er nicht in seiner Muttersprache schreibt, seines Könnens und seines Wissens bewusst und bringt das auch sehr unverstellt zum Ausdruck. Text sowie Illustrationen können als Vehikel sowohl für seine moralischen Überzeugungen als auch für sein gelehrtes Wissen dienen, das wiederum eine Grundlage für moralische Überlegungen bildet. Einige wenige Illustrationen (Syzygie, die rota elementorum oder auch die Illustrationen zu den septem artes liberales) stellen einen Sonderfall dar, da sie ausschließlich komplexes Wissen vermitteln. Das ist bemerkenswert – dennoch muss darauf verwiesen werden, dass im Welschen Gast der Schritt von Wissen zu Glauben nur ein kleiner ist. Bildung stellt die Grundlage für die Wahrnehmung der Welt als Gottes Kreation dar; aufgrund des Wissens über die Natur können Gott und die Schöpfung in ihrer Relevanz für den Menschen besser verstanden werden. Wissensvermittlung ist damit nicht nur ein Beweis für die Gelehrtheit des Autors (was in diesem Kontext wiederum als Legitimation des eigenen Schaffens dient), sondern auch ein erster Schritt zur Erkenntnis Gottes. Dass Lehrdichtung über Sitte und Moral informiert und Gott den Menschen näherbringen soll, lässt sich auch anhand Hugos von Trimberg Der Renner zeigen. Grundsätzlich ist der didaktischen Literatur der Bildungsauftrag aufgrund der Gattung schon eingeschrieben – er kann aber im Detail variieren. Das zu vermittelnde Wissen hängt stark davon ab, wie sich die Autoren darstellen und was relevant erscheint. Im Folgenden möchte ich anhand der Analyse des Renners im Vergleich zum Welschen Gast auf den Unterschied zwischen ›Wissen‹ und ›Weisheit‹ zu sprechen kommen und zeigen, dass naturphilosophisches Wissen nicht nur aktiv in literarische Texte aufgenommen werden kann, sondern auch als im Hintergrund vorhandenes populäres Wissen ein Werk durchdringt.
3 Der Renner Hugos von Trimberg 3.1 Einführende Beobachtungen zum Text Eigenen Angaben zufolge war Hugo von Trimberg bereits 77 Jahre alt, als er sein letztes und zugleich auch umfangreichstes Werk, den Renner, verfasste.238 Vollendet wurde der Text 1300, die letzten Korrekturen lassen sich auf 1313 datieren, nicht sehr viel später muss Hugo dann auch verstorben sein.239 Geboren wurde er zwischen 1220 und 1240 in Wern, je nachdem, ob seine eigene Altersangabe bei der Fertigstellung des Renner um 1300 oder in einem der späteren Nachträge hinzugefügt wurde.240 Er blickt zurück auf ein Leben, das sich dem Lehren und Lernen verschrieben hat: 64 Jahre, sagt er, sei er zur Schule gegangen (vgl. v. 17906), und obwohl er nicht an einer der großen Universitäten studiert hat (vgl. v. 13950–13951), ist er magister und rector scolarum, ein Schulmeister also, der als Laie in der Domschule von St. Gangolf in der Bamberger Vorstadt Teuerstadt unterrichtet.241 Dass der Renner nicht der einzige von Hugo verfasste Text ist, erfahren wir ganz am Anfang seiner Dichtung, wenn es ab Vers 25 heißt: Vor het ich siben büechlîn/In tiutsch gemacht, und in latîn/Fünftehalbez, daz ist wâr. (v. 25–27). Sieben Bücher in deutscher Sprache und viereinhalb in lateinischer soll er bereits geschrieben haben, wobei er nicht zu erwähnen vergisst, dass er das halbe lateinische Buch zugunsten des Renner beiseitegelegt hat (vgl. v. 28–29).242 Hugo ist gebildeter als der Durchschnittsgeistliche seiner Zeit und auch wenn er
238 In den Versen 10494–10495 heißt es: […] siben und sibenzic jâren, / diu ich gelebet hân ûf erden. 239 Zu den biographischen Eckdaten und einer genaueren Untersuchung seiner Lebensgeschichte siehe Wölfel, E. J.: Untersuchungen über Hugo von Trimberg und seinen Renner. In: ZfdA 28 (1884), S. 145–206, hier S. 145–162. 240 Vgl. Sprandel, Rolf: Der Adel des 13. Jahrhunderts im Spiegel des Renner von Hugo von Trimberg. In: Otto von Botenlauben. Minnesänger. Kreuzfahrer. Klostergründer. Hrsg. von Peter Weidisch. Würzburg 1994 (Bad Kissinger Archiv-Schriften 1), S. 297–308; hier S. 297. 241 Vgl. Schweikle, Günther: Hugo von Trimberg. In: VL Bd. 4, Sp. 269. 242 Neben dem Renner ist heute noch ein weiterer Text in deutscher Sprache – Von der Jugend und dem Alter – bekannt; von den lateinischen Schriften sind laut Verfasserlexikon noch vier erhalten: Laurea Sanctorum, Registrum Multorum Auctorum, Solsequium und ein Epilog zur Vita beate virginis Marie rhythmica (vgl. VL Bd. 4, Sp. 276–282). Vor allem die Predigtsammlung Solsequium und das Registrum, in dem 100 Werk-Anfänge von 80 Schulautoren in Vagantenversen zusammengetragen sind, stellen eine wichtige Grundlage für den Renner aus Hugos eigenem Schaffen dar (vgl. Weigand, Rudolf Kilian: Der Renner des Hugo von Trimberg. Überlieferung, Quellenabhängigkeit und Struktur einer spätmittelalterlichen Lehrdichtung. Wiesbaden 2000 (Wissensliteratur im Mittelalter 35), S. 233–243.). DOI 10.1515/9783110486605-003
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über keine Universitätsbildung verfügt243, sieht er es als seine Pflicht und Notwendigkeit an, zu belehren. Seine Lehrdichtung ist im Gegensatz zur Didaxe des 13. Jahrhunderts nicht mehr nur an den Adel gerichtet, sondern stellt einen Versuch dar, alle Stände miteinzubeziehen244. Hugo ist es wichtig, so zu dichten, dass er von allen ZuhörerInnen und LeserInnen auch verstanden wird: Swer tihten will, der tihte alsô/Daz weder ze nider noch zu hô/Sînes sinnes flüge daz mittel halten,/Sô wirt er wert beide jungen und alten (v. 1207–1210)245. Er warnt auch davor, sich nicht von schönen Worten ›einlullen‹ zu lassen, wenn kein Sinn in ihnen steckt: Wie schon Thomasin vor ihm, geht auch Hugo auf die Unwahrheit in der höfischen Epik ein. Man darf ihr nicht glauben, denn das wäre unwîs. Aber im Gegensatz zu Thomasin, der die Texte als Bildungsgrundlage für junge Menschen gutheißt, sieht Hugo die Geschichten über Helden wie Êrec, Tristrant oder Parcifâl als moralisch verwerfliche Lügen, bei denen bereits ihre Dichter Sünde auf sich laden, indem sie diese Dinge niederschreiben (vgl. v. 1217–1230). Der Wunsch nach der rechten Mitte, dem Maßhalten, wird im Sinne des Fernhaltens von Extremen verstanden und ist bei Hugo auch im ethischen Bereich von großer Bedeutung.246 Mit einer einfachen Sprechweise und der Vermittlung der septem artes liberales will er gegen die Torheit der Menschen ankämpfen und zur Weisheit247 führen, die in seinem Wertesystem einen Zentralbegriff darstellt:
243 Vgl. Rosenplenter, Lutz: Zitat und Autoritätenberufung im Renner Hugos von Trimberg. Ein Beitrag zur Bildung des Laien im Spätmittelalter. Frankfurt a. M./Bern 1982 (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur 457), S. 519. 244 Vgl. Sowinski, Bernhard: Lehrhafte Dichtung des Mittelalters. Stuttgart 1971, S. 88. 245 »Wer auch immer dichten möchte, der dichte auf eine Art und Weise, dass die Flüge des Verstandes weder zu niedrig noch zu hoch das Mittelmaß halten, damit er sich sowohl bei den Jungen als auch bei den Alten auszeichnet.« 246 Vgl. Schmidtke, Dietrich: Die künstlerische selbstauffassung [sic!] Hugos von Trimberg. In: Wirkendes Wort 24 (1974), S. 325–339, hier S. 326. 247 Die Verbindung zwischen Weisheit, Klugheit und den Sieben Freien Künsten wird auch bei Strickers Daniel offensichtlich, wenn das Wort list in dieser breiten Worbedeutung eingesetzt wird. Die Klugheit wird auch über die septem artes mit den Wissenschaften verbunden, dennoch ist die Verbindung zur Lebensklugheit, der Prudentia als moralischer Tugend, stark in den Vordergrund zu rücken. Vgl. dazu die Aufsätze von: Huber, Christoph: Ars et Prudentia. Zum list-Exkurs im Daniel des Stricker. In: Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. Hrsg. von Cora Dietl/Dörte Helschinger. Tübingen/ Basel 2002, S. 155–171; vgl. auch: Wailes, Stephen L.: Stricker and the Virtue Prudentia: A Critical Review. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 13 (1977), S. 136–153.
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Der Renner Hugos von Trimberg
Es ist dies [Weisheit] primär für ihn ein metaphysisch gebundener begriff, der die forderung nach sündenvermeidender lebensführung und rechter gotteserkenntnis im blick auf das leben nach dem tode und das jüngste gericht umfasst.248
Bildung wird als Mittel zur Jenseitsgewinnung verstanden. Hugos Erziehungsideal ist ein mönchisches und wurzelt in den Klosterschulen des frühen Mittelalters, wo Bildung noch als Instrument der Sozialisation verstanden wurde und keine ›weltlichen‹ Ziele und Zwecke verfolgte. Diese Art der Gelehrsamkeit war wenigen Menschen vorbehalten, schuf eine Symbiose von Bildung und Herrschaft, die aber durch das Aufkommen des Handels und die Präsenz der Städte mehr und mehr ins Wanken geriet und schließlich in der Entstehung der ersten Universitäten gipfelte.249 Dieser gesellschaftliche Wandel und die Abkehr von den Klosterschulen war Hugo ein Dorn im Auge. Lutz Rosenplenter beobachtet, dass dort [w]o Hugo auf Tendenzen des zeitgenössischen Wissenschaftsbetriebes zu sprechen kommt (niuwe künste), da erblickt er nur selbstsüchtiges und sündhaftes Treiben, das der simplicitas des früher gelebten Glaubens widerspricht.250
Es geht ihm nicht wie den Theologen seiner Zeit um »methodisch betriebene geistige Neulandgewinnung«251, sondern darum, ältere Positionen gegen neue Lehrmeinungen zu verteidigen und für das System der Klosterschule und damit für den Weg hin zu Gott zu plädieren. Bei ihm zeichnet sich das ab, was als ›spätmittelalterlicher Augustinismus‹ bezeichnet wird und sich in einem einfachen Glauben und einer schlichten Lebensführung zeigt. Der Renner ist ein Zeugnis der Opposition gegen einen Wissenschaftsbetrieb, der nicht mehr an der Klosterschule beheimatet ist, sondern sich an die Universitäten verlagert hat.252 248 Schmidtke: Die künstlerische selbstauffassung, S. 327. 249 Vgl. Frey, Winfried: Schule und Ausbildung im 13. Jahrhundert. Die ›Lehrerklage‹ im Renner Hugos von Trimberg. In: Mittelalterliche Texte im Unterricht. Hrsg. von Helmut Brackert/Hannelore Christ/Horst Holzschuh. München 1973 (Literatur in der Schule 1), S. 162–212, hier S. 185–186. 250 Rosenplenter: Zitat und Autoritätenberufung, S. 520. 251 Ebda., S. 519. 252 Vgl. ebda., S. 520. Hier soll kurz auf die Verbindung von Hugos ›rückwärtsgewandter‹ Haltung und seinem umfassenden Bildungsanspruch eingegangen werden: Der Wunsch, nicht nur Angehörigen des Adels und des Klerus Bildung zukommen zu lassen, ist im Grunde seinem konservativen Gestus bezüglich der ›modernen‹ Wissensauffassung und Wissensvermittlung entgegengesetzt. Hugos Lehre richtet sich an alle Stände und alle Altersklassen und damit auch an diejenigen, die nicht in Domschulen unterrichtet werden können; Hugo ist in diesem Kontext alles andere als rückschrittlich. Das, was in der Forschung als die Sehnsucht nach den alten Zuständen beschrieben wird, verstehe ich als das Festhalten an den mittlerweile veraltet
Einführende Beobachtungen zum Text
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Auf 24611 Versen versucht Hugo eine Morallehre zu entwickeln, für deren Gliederung er die sieben Todsünden, die in sechs distinctiones abgehandelt werden, heranzieht. Ein ›naturkundlicher Exkurs‹, der um Vers 18000 beginnt, findet sich ebenfalls, bevor er am Ende der Dichtung noch auf die tugendhaften Menschen und auf alle Untugenden zu sprechen kommt.253 Der Text teilt sich damit in einen Bereich der Morallehre (6 distinctiones) und einen Bereich der Heilslehre (naturkundlicher Exkurs und Überlegungen zur Reue).254 Inhaltlich ist alles, mit Ausnahme des naturkundlichen Exkurses, miteinander verflochten und verweist in irgendeiner Form auf die Lasterhaftigkeit des Menschen und damit auch auf Gott und das Jenseits. Hugo denkt und schreibt assoziativ. Obwohl jede distinctio einer bestimmten Todsünde zugedacht ist und der Text damit einer konkreten Struktur unterliegt, werden in der Regel alle Tugenden und Laster zeitgleich behandelt. Ein titelgebendes ›Herumrennen‹ von einem Themenkomplex zum nächsten, das als Verflechtung von Allem mit Allem, als Ausdruck der Wirrnisse des Lebens
wirkenden Lehren, an Wissen, das noch vor der Wiederentdeckung Aristoteles und damit auch vor der intensiven Auseinandersetzung mit den antiken Texten verbreitet wurde. Ob das einer grundlegenden Skepsis, einem Unverständnis den neuen Lehren gegenüber oder auch – und hier kann u. a. auf das Aristoteles-Verbot von 1277 verwiesen werden – einer generellen Absage der auf aristotelischem Gedankengut beruhenden Lehren, die ja nicht selten als gottlos und ketzerisch bezeichnet wurden, geschuldet ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Die starke augustinisch (und damit platonisch) geprägte Gedankenwelt Hugos würde dies aber dennoch als Hypothese zulassen. 253 Der eher tadelnde Ton Hugos verleitete die Forschung dazu, den Renner als eine Tugendlehre im negativen Sinn zu bezeichnen. Der Text liest sich wie ein Lasterkatalog bzw. eine Lasterschelte, da immer von einem negativen Aspekt ausgegangen wird (vgl. Rupp, Heinz: Zum Renner Hugos von Trimberg. In: Typologia Litterarum. Hrsg. von Stefan Sonderegger/Alois M. Haas/ Harald Burger. Zürich/Freiburg 1969, S. 233–259, hier S. 237; vgl. auch Frey: Schule und Ausbildung, S. 182). Gustav Ehrismann bezeichnet den Renner als moralische Erkenntnislehre, bei der die Moral im Stil der Predigt durch ein Aufdecken der Unmoral vermittelt wird (vgl. Ehrismann, Gustav: Hugo von Trimbergs Renner und das mittelalterliche Wissenschaftssystem. In: Aufsätze zur Sprach- und Literaturgeschichte. Dortmund 1920, S. 211–236, hier S. 212–214). Predigtartige Elemente sieht auch Tobias Bulang, der Hugo als eine Art Laienprediger darstellt, der aufgrund einer Inszenierung von Mündlichkeit einer fingierten Gemeinde moralphilosophisches Wissen näher bringt (vgl. Bulang, Tobias: Enzyklopädische Dichtung im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Fallstudien zu Hugo von Trimberg, Heinrich Wittenwiler und Johann Fischart. Berlin 2011 (Deutsche Literatur 2), S. 55–57). Viele Passagen des Renner orientieren sich überdies an Freidanks Stilvorbild des knapp geprägten Spruches (vgl. de Boor, Helmut: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil 1250–1350. Fünfte Auflage neubearbeitet von Johannes Janota. München 1997 (Geschichte der deutschen Literatur 3,1), S. 330–331). 254 Vgl. Weigand: Der Renner des Hugo von Trimberg, S. 324.
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gilt,255 zeichnet den Renner aus, lediglich der Einsatz eines ›Refrains‹ gliedert den Text: Nu sül wir aber vürbaz rennen/Und unsern herren baz erkennen (vgl. u. a. v. 4365–4366), heißt es am Ende einer jeden distinctio, aber auch im restlichen Text kommt dieser Satz immer wieder vor.256 Hugo will die Welt nicht beschreiben, sondern möchte im Zuge seines Glaubens an die Erziehbarkeit des Menschen seine RezipientInnen durch Einsicht belehren. Das geschieht durch eine einfache und verständliche Darstellung der Dinge, in die nur so viel Gelehrsamkeit eingeflochten wird, wie der/die LeserIn braucht, um die Lehren als autoritativ abgestützt wahrzunehmen.257 Wichtig ist ihm, zu zeigen, dass die große, weltumspannende Ordnung, an der die Menschheit teilhat, erhalten bleiben muss. Damit das gewährleistet bleibt, muss der Mensch weise sein. Weisheit (nicht Wissenschaft258) bedeutet für Hugo, das Gottgemäße zu tun und die durch Theodizee und Morallehre geprägte Welt bzw. Natur zu kennen, da Naturerkenntnis zugleich auch immer Gotteserkenntnis ist. Auch seine Naturlehre ist im Gegensatz zu Thomasin nicht durch aktuelles zeitgenössisches Wissen und komplexe Fragestellungen gekennzeichnet, sondern richtet sich im Sinne der Allegorese auf die Dingbeschreibung und deren Auslegung. Aber nicht nur Belehrung im scholastischen Sinn steht im Zentrum von Hugos Aufmerksamkeit; es geht ihm vielmehr darum, über lebensweltliche Tatsachen und über das Beschreiben der Welt, so wie er sie sieht, eine größere, allumfassendere Wahrheit zu finden. Ein starker Einfluss des Physiologus und der antiken Fabeltradition ist zu beobachten, wenn erzählende Passagen mit breiten 255 Vgl. dazu Rupp: Zum Renner Hugos von Trimberg, S. 239. Rudolf Kilian Weigand bestätigt das wie folgt: »Der Dichter kann zur nächsten Birne, zum benachbarten Ast oder auch zur Wurzel [auf die Eingangsallegorie komme ich im Folgenden noch zu sprechen] zurück springen, ohne ein ›System‹ zu verletzen. Hugos Ziel war nicht die Gestaltung eines streng scholastisch durchgeformten Gebildes, sondern die Präsentation eines offenen und damit auch ständig entwicklungsfähigen Gedankengeflechts, das zu jeder Zeit Einstieg und Ausstieg erlaubt, ohne die vordringliche Lehrabsicht in Frage zu stellen.« (Weigand: Der Renner des Hugo von Trimberg, S. 362). 256 Vgl. de la Cuadra, Ines: Der Renner Hugos von Trimberg: Allegorische Denkformen und literarische Traditionen. Hildesheim u. a. 1999 (Germanistische Texte und Studien 63), S. 124–125. 257 Vgl. de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1997, S. 328–329. Zu den auctoritates: Im Renner spielt vor allen Dingen die Bibel eine große Rolle, doch auch Kirchenväter wie Bernhard de Clairvaux und Gregor der Große, antike Dichter und Philosophen sowie oft wortgetreu zitierte Sprüche Freidanks finden sich im Text (vgl. Rosenplenter: Zitat und Autoritätenberufung, S. 26–33). Des Weiteren stützt sich die Auswahl seiner Themen innerhalb des naturkundlichen Exkurses hauptsächlich auf das Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré, das später von Konrad von Megenberg übersetzt und bearbeitet und als Buch der Natur bekannt wurde (vgl. Rosenplenter: Zitat und Autoritätenberufung, S. 473–479). 258 Vgl. Bulang: Enzyklopädische Dichtung, S. 134–139.
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allegorisch-belehrenden Auslegungen versehen werden, um neben der Vermittlung der Geschichte auch moralisch zu belehren sowie Kritik an der Zeit und an den sozialen Verhältnissen zu üben.259 Zum Kontext: Metapher260, Allegorie, Allegorese Dass die Sprache ohne die Metapher nicht funktionieren würde, war bereits für Aristoteles selbstverständlich. Für ihn ist sie Teil des sprachlichen Ausdrucks und zeichnet sich durch veranschaulichende Wirkung und erkenntnisfördernde Funktion aus. Auch Cicero spricht davon, dass sie dazu da ist, um etwas im Geiste vor die Augen zu stellen und verweist damit schon in der Antike auf die Bildhaftigkeit der Metapher.261 Vor allem die Verarbeitung von innovativen Metaphern erfordert die Fähigkeit, bildlich denken zu können und die Bedeutung von Wort und Bild produktiv zu verknüpfen, was nur durch ein gewisses Vermögen zur Abstrahierung funktionieren kann. Sprachlich schafft die Metapher zunächst eine Störung der Ordnung (Petra Gehring spricht vom Kontextbruch, der notwendig ist, um eine Metapher überhaupt erzeugen zu können262), aber in dieser Störung artikuliert sie die Erkenntnis einer Verwandtschaft der Dinge, auf der ihre Funktion letztlich aufbaut. Die Antike definiert den Begriff der Metapher, der sich aus dem 259 Vgl. Vomhof, Fritz: Der Renner Hugos von Trimberg. Beiträge zum Verständnis der nachhöfischen deutschen Didaktik. Diss. masch. Köln 1959, S. 93–99. 260 Die Beschäftigung der Forschung (innerhalb einzelner Fachrichtungen aber auch interdisziplinär) mit Metapher, Metaphorologie und Metapherntheorien produzierte in den letzten Jahrzehnten eine fast unüberschaubare Menge an Literatur. Ich werde deshalb nicht inhaltlich auf die aktuellen Debatten zur Metapher in der Forschung eingehen, sondern einen kurzen Abriss über die Relevanz der Metapher und der Allegorese für das Hochmittelalter und die für diese Arbeit wesentlichen Texte geben. Dabei wird die Verbindung von Metapher und Allegorie bzw. Allegorese im Fokus der Betrachtung stehen. Es sei aber auf einige wesentliche Texte zur Metaphernforschung der letzten Jahre verwiesen: Kohl, Katrin: Metapher. Stuttgart/Weimar 2007 (Sammlung Metzler 352) – hier v. a. das ausführliche Literaturverzeichnis zur Metapher und zur Metapherntheorie ab S. 157; Haverkamp, Anselm: Metapher. Die Ästhetik der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs. München 2007; Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1301); Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 2009 (Kleine Reihe V&R 4032); Kohl, Katrin: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin 2007; Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Hrsg. von Anselm Haverkamp/Dirk Mende. Frankfurt a. M. 2009 (Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 1982); Metapherngeschichten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit. Hrsg. von Matthias Kroß/Rüdiger Zill. Berlin 2011. 261 Vgl. Kohl: Metapher, S. 108–113. 262 Vgl. Gehring, Petra: Erkenntnis durch Metaphern? Methodologische Bemerkungen zur Metaphernforschung. In: Metaphern in Wissenskulturen. Hrsg. von Matthias Junge. Wiesbaden 2012, S. 203–220, hier S. 204.
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Griechischen als ›Übertragung‹263 übersetzen lässt, als Wortverwendung in übertragener, uneigentlicher Bedeutung; Quintilian spricht von einem verkürzten Vergleich.264 Die Voraussetzung für das Gelingen einer Metapher ist dabei die logische Beziehung zwischen dem ›eigentlichen‹ (oder: Bildempfänger) und dem ›uneigentlichen‹ Wort (oder: Bildspender).265 Seit der Antike werden zwei Arten der Metapher unterschieden: Bereits Aristoteles spricht in seiner Rhetorik von der konventionellen Metapher, die in der Alltagssprache ihren Einsatz findet, für die Kommunikation unerlässlich ist und erkenntnisfördernde Funktion hat (Franziska Wessel266 verwendet den klassischen Terminus der necessitas-Funktion der Metapher). In der Poetik ist von der kreativen Metapher die Rede (Wessel spricht von der ornatus-Funktion, vom Redeschmuck, der die Dichtung lebendig und bildhaft machen soll, und verweist auch auf die geblümte Sprache Gottfrieds), die es schafft, komplexe Sprachbezüge herzustellen: »Sie [poetische Metaphern] arbeiten mit den Konventionen der Alltagssprache, nutzen jedoch für spezielle Wirkungen häufig gerade ungewöhnliche Kombinationen und unkonventionelle Richtungen.«267 Um eine Metapher verstehen zu können, ist aber immer auch die Wechselwirkung von Text und Intertext auf die Metapher relevant, da es keine allgemeingültige Regel für deren Lesbarkeit gibt. Die Antike (Aristoteles, Quintilian) spricht von der ›Angemessenheit‹ der Metapher und verweist dafür auf deren sprachlichen Kontext.
263 Kohl geht in ihrem Buch auf die verschiedenen Begriffe ein (z. B. ›Substitution‹, ›Übertragung‹, ›Interaktion‹, ›Projektion/Mapping‹), die durch die jüngste Metaphernforschung relevant wurden, plädiert aber dafür, sich aufgrund der Weite des Gegenstandes nicht auf einen Begriff festzulegen, da immer nur ein Bruchteil des vollen Funktions- und Bedeutungsspektrums der Metapher ins Blickfeld genommen werden kann. Vgl. Kohl: Metapher, S. 41–42. 264 Vgl. Metapher. In: Metzler Lexikon Sprache. Hrsg. von Helmut Glück. Elektronische Ausgabe der zweiten, überarbeiteten und erweiterten Ausgabe. Berlin 2000 (Digitale Bibliothek 34), S. 437–438. 265 Das etymologische Wörterbuch von Kluge fasst im Einführungskapitel kurz und präzise zusammen: »Dabei wird ein Wort, das sonst X bezeichnet […] dazu verwendet, auch Y zu bezeichnen, weil sich X und Y in mindestens einem Merkmal ähnlich sind.« Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Auflage. Berlin 2002, S. XIX. 266 Vgl. Wessel, Franziska: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Strassburg Tristan und Isolde. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 54), hier vor allem die Einführung zu den Theoriekapiteln S. 5–38. 267 Kohl: Metapher, S. 38.
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Moderne Metaphern268 zeichnen sich durch eine Bedeutungsoffenheit aus, die im 12. und 13. Jahrhundert noch nicht gegeben war, da eine Gebundenheit an antike Theorien herrschte, die davon ausgehen, dass jedes Ding über eine ihm zugehörige Bedeutung verfügt. Diese Festigkeit zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden gerät durch die Metapher in Spannung und bringt als Abweichung vom eigentlichen Ausdruck ein großes Potential für die Aktivierung der Imagination mit sich. Das Metapherninventar des Hochmittelalters ist sehr begrenzt, da die antiken und mittelalterlichen Rhetoriker in ihrer Interpretationsarbeit mit einer großen Selbstverständlichkeit für einen bestimmen Kontext eine bestimmte Bedeutung festsetzen. Dieser interpretatorische Habitus ist eine Konsequenz der Einschätzung, daß die Metapher dem eigentlich Gemeinten mittels einer begrifflichen Analogie eine Eigenschaft prädiziert, die das eigentlich Gemeinte ontologisch hat. […] Metaphern können […] leicht oder schwer verständlich sein, insofern die zugrunde liegende Analogie leicht oder schwer zu durchschauen ist. Das führte gerade die Theoretiker des 12. und 13. Jahrhunderts zu der Mahnung, beim Metapherngebrauch auf Eindeutigkeit zu achten.269
Selbst bei den dunklen Metaphern handelt es sich – so Gert Hübner weiter – nicht um bedeutungsoffene Metaphern, sondern um solche, bei denen der Code lediglich weiter entfernt ist.270 Dass Metaphern aus dieser Zeit die Phantasie entzücken können, hält er für unwahrscheinlich.271 Mit dieser uneigentlichen Sprechweise steht auch die Trope der Allegorie in engem Zusammenhang:
268 Gert Hübner spricht von zwei wichtigen Schwellen in den letzten Jahrhunderten, die den Zu- und Umgang mit Metaphern nachhaltig verändert haben. Eine dieser Schwellen sieht er im 18. Jahrhundert, im Übergang von der Substitutions- zur Bildtheorie; eine zweite Schwelle lokalisiert er Anfang des 20. Jahrhunderts mit der sprachanalytischen Interaktionstheorie. Vgl. Hübner, Gert: Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Hrsg. von Arthur Groos/Hans-Jochen Schiewer unter Mitarbeit von Jochen Conzelmann. Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Frühe Neuzeit – Transatlantic Studies on Medieval and Early Modern Literature and Culture 1), S. 113–154, hier S. 116–117. 269 Hübner: Historizität von Metapherntheorien, S. 131. 270 In diesem Zusammenhang wird bei Frauenlob auf die Rätselhaftigkeit der Sprache noch einzugehen sein. Ich wage zu behaupten, dass Frauenlobs Leichs eine Ausnahme der Regel darstellen, da sie zwar letzten Endes auslegbar sind, sich jedoch ganz und gar nicht auf eine eindeutige Lesbarkeit hin festlegen lassen. Vgl. dazu das Kapitel zu Frauenlob ab S. 209. 271 Vgl. Hübner: Historizität von Metapherntheorien, S. 153.
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Die Allegorie konstituiert sich wie die Metapher aus zwei konzeptuellen Bereichen, wobei der bildlich konkrete Herkunftsbereich narrativ ausgestaltet wird und mit seinen Elementen einer ebenfalls kohärenten Sinnfolge im abstrakten Zielbereich entspricht. 272
Die Allegorie kann auch als fortgeführte Metapher, als Abfolge von Metaphern verstanden werden, auf deren Basis ein Text generiert wird, der eine systematische, doppelte Lesbarkeit nach sich zieht.273 Das ›Anders-Reden‹ der Allegorie wird oft für moralisch-didaktische Zwecke oder zur Erbauung des Glaubens eingesetzt, wenn eine abstrakte Lehre in einen narrativen Prozess eingebettet wird. Der Modus der allegorischen Rede enthält darüber hinaus auch explizite Anweisungen, wie sie zu verstehen ist; diese Form der ›explikativen Allegorie‹ lässt sich im Renner gut beobachten.274 Nicht zu verwechseln ist das Stilprinzip der Allegorie (auf der Produktionsseite des Textes angesiedelt) jedoch mit der exegetischen Methode der Allegorese (Technik der Rezeption).275 Hierbei wird ein nichtallegorischer Text so behandelt, als ob er eine Allegorie wäre. Hinter dem Wortsinn eines Textes werden andere Sinnebenen postuliert, die es aufzudecken gilt. Die Allegorese macht damit einen Text durch die ihm unterstellte, zusätzliche Tiefendimension bedeutsam; diese Methode wird vor allem im Bereich der Bibelinterpretation relevant und führt zur Textauslegung nach dem vierfachen Schriftsinn.276 Der Renner ist eine der meistüberlieferten mittelhochdeutschen Dichtungen. Das Verfasserlexikon zählte im Jahre 1972 64 Handschriften und einen Druck277; im Handschriftencensus sind derzeit 66 Manuskripte verzeichnet.278 Die Überlieferung des Textes erfolgt nach Ehrismann in zwei Klassen, die Weigand als zwei 272 Kohl: Metapher, S. 87. 273 Vgl. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, S. 30. 274 Vgl. ebda., S. 38–41; vgl. dazu auch: Walde, Christine: Allegorie. In: Der Neue Pauly. Hrsg. von Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Antike)/Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online: http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/ allegorie-e115970 (Stand: 2. Februar 2017). 275 Vgl. in Hinblick auf die Auslegung der Bibel und frühmittelalterlicher volkssprachlicher Texte Freytag, Hartmut: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten. Besonders des 11. und 12. Jahrhunderts. München 1982 (Bibliotheca Germanica 24), hier S. 22–24. 276 Vgl. Cancik-Lindemaier, Hildegard/Sigel, Dorothea: Allegorese. In: Der Neue Pauly: http:// referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/allegorese-e115900 (Stand: 2. Februar 2017). 277 Vgl. Hugo von Trimberg. In: VL Bd. 4, Sp. 271–272. 278 Vgl. http://www.handschriftencensus.de/werke/653 (Stand: 2. Februar 2017).
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Fassungen des Renner versteht: Handschriften der Klasse I zeichnen sich durch die Gliederung aus, die Hugo seinem Text angedeihen ließ; sie sind in distinctiones und dazugehörige Unterkapitel eingeteilt. Manuskripte der Klasse II, denen ein wenig mehr als die Hälfte der 66 überlieferten Handschriften zuzuordnen sind, folgen der Einteilung nach Michael de Leone, der den Renner 50 Jahre nach Hugo bearbeitet und ihn in 42 Kapitel gliedert. Beim Renner handelt es sich aber insgesamt um kein konstantes Textkorpus, sondern um ein über Jahrhunderte hinweg beliebtes und vielfach überliefertes Werk, das durch die Hände vieler verschiedener Redaktoren ging und dementsprechende Inkonsistenzen aufweist.279 Unbestritten in ihrer Relevanz für den restlichen Text ist die mit großer Genauigkeit ausgeführte Eingangsallegorie vom Birnbaum, die eine Art Gliederung für das umfangreiche Lehrgedicht darstellt. Ab Vers 37 erzählt Hugo von einer Heide voller Blumen in einem Tal, das von hohen Bergen umkreist ist (vgl. v. 37–47). Auf dieser Heide steht auf einem kleinen Hügel ein Baum in voller Blüte auf schönem Gras inmitten eines Dornbusches, einer Quelle und einer Lache (vgl. v. 48–62). Der Baum verliert schließlich seine Blüten und Birnen reifen heran, die, von einem Wind geschüttelt, zu Boden fallen und entweder im Dornbusch, der Quelle, der Lache oder dem grünen Gras landen (vgl. v. 63–104). Mit Vers 105 beginnt die Auslegung dieses Bildes: Die Heide bedeutet die Welt, in der sich der Hügel findet, der für Adam steht. So wie aus der Rippe Adams die erste Frau gemacht wurde, wächst auf dem Hügel der Birnbaum, der auf Eva verweist. Die Früchte des Baumes sind wir Menschen, der Wind der Neugierde lässt uns zu Boden fallen und in die Quelle der Gier, den Dornbusch der Hochfahrt oder die Lache der übrigen Sünden stürzen. Nur wenige fallen auf das grüne Gras, das für die Reue steht (vgl. v. 105–268). Diese Eingangsallegorie hat strukturgebende Funktion, da sich Hugo immer wieder, wenn er von den einzelnen Todsünden spricht, auf die Orte bezieht, an denen sich die vom Baum gefallenen Birnen befinden. Grundsätzlich lässt sich der Renner aber als heterogener Text identifizieren, der sich durch assoziatives Verknüpfen von Themen und Geschichten auszeichnet. Auch Wissensvermittlung funktioniert auf diese Weise, wenn verschiedene exempla oft mehrfach erwähnt, umgebaut und neu akzentuiert werden.280 Im Folgenden soll auf die Relevanz und die Art der Wissensvermittlung im Lehrgedicht genauer eingegangen werden, um die Funktion von Lehre und Belehrung sichtbar zu machen. Dabei stehen auch hier wieder die vier Elemente und die Frage, ob und wie diese Inhalte vermittelt werden, im Zentrum der Analyse. 279 Vgl. Weigand: Der Renner des Hugo von Trimberg, S. 163–228. 280 Weigand nennt dieses Verfahren der Belehrung ›verschränkte moralisatio‹. Vgl. ebda., S. 324.
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3.2 Die vier Elemente Die vier Elemente und deren Eigenschaften werden in der zweiten distinctio, die dem Geiz gewidmet ist, eingeführt. Nachdem zunächst im Rahmen verschiedener bîspel von der Gier der Menschen berichtet wird und auch die Pfaffen nicht ungeschoren davonkommen, ist unmittelbar nach dem Rat, sich beim Sprechen möglichst kurz zu halten, zum ersten Mal von den Elementen die Rede: Vier dinc von gote der krefte waltent, Daz si die werlt alle ûf haltent Und alliu dinc nâch irem werde: Fiur, luft, wazzer und erde. Wazzer und erde wegent nider, Fiur und luft diu strebent wider, Zwei sint lîhte, zwei sint swêr, Die swêren vol, diu lîhten lêr.281 (v. 6053–6060)
Weiter heißt es, dass Gott uns mit den vier Elementen eine Stütze und Hilfe für unser Leben gegeben hat. Während die Luft und das Feuer in uns nach oben streben, ziehen Wasser und Erde uns nach unten. Gott hat das so eingerichtet, weil er uns aus Erde gemacht hat und unser Körper nach dem Tod auch wieder zu Erde wird. Der Himmel und die Erde sind sehr verschieden (vgl. v. 6063–6072) und daher verlangen Seele und Körper, die jeweils einem der beiden Bereiche ähnlich sind, auch nach unterschiedlichen Dingen: Unser lîp sich ze der erden senket, Unser sêle gein himel ûf gedenket, si will hin, der lîp will her Also wirde ich ofte mir selber swêr Und gên einveltigem gelouben nach Und spriche, als wîlent her Frîdanc sprach: ›Ich enweiz wâ von mîn lîp hie lebet, Denne daz ein sêle dâr inne swebet. Wie diu sêle geschaffen sî, Der gedanke wirde ich nimmer frî, Wenne si vert von mir als ein blâs 281 »Vier Dinge haben die von Gott gegebene Kraft, dass sie die Welt und alle Dinge nach ihrem Wert erhalten: Feuer, Luft, Wasser und Erde. Wasser und Erde bewegen sich nach unten, Feuer und Luft, die streben in die andere Richtung, zwei sind leicht, zwei sind schwer, die schweren voll, die leichten leer.« Schon hier besteht eine Ähnlichkeit zum Welschen Gast, wenn die Leichtigkeit und Schwere der Elemente, ihre allgmeinen physikalischen Eigenschaften, als natürliche Gegebenheiten geschildert werden, die von Gott in die Welt gebracht wurden. Die Eigenschaften der Elemente dienen als Ausgangspunkt für weitere (moralisch auszulegende) Überlegungen.
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Und lêt mich ligen als ein âs. Alsus enweiz ich wer ich bin: Got gibt die sêle, der neme si hin‹ 282 (v. 6078–6089)
Wenn also die Seele den Köper wie einen Hauch verlässt und der Leib wie ein Aas auf der Erde zurückbleibt, was ist dann das, was der Mensch als Ich identifiziert? Steckt das, was als Ich bezeichnet wird, in dem erdgebundenen Teil des Menschen, der auf sehr unschöne Art und Weise der Vergänglichkeit unterworfen ist? Hugo geht auf diese Frage nicht näher ein; ob das Ich nun in Seele oder Körper steckt, sich der Mensch mit der Vergänglichkeit oder der Ewigkeit in Gott identifiziert, wird nicht hinterfragt283. Die Beschaffenheit des Körpers wird dazu herangezogen, zur Bescheidenheit aufzurufen, da ein Mensch in seinem physischen Dasein nichts weiter ist als Erde. Und genau diese Tatsache macht ihn sehr gewöhnlich – schließlich ist nicht nur der Mensch, sondern alles um ihn herum aus den vier Elementen gemacht: Bedenke, mensche, daz du bist Ein kranc ertknolle, ein fûler mist, Und daz durch dich gemachet doch ist Swaz lebt ûf erden! wenne dîn list Vêht den vogel in den lüften, Wildiu tier in velsen krüften, Vische in wazzern, grôze und kleine, Slangen und würme, reine und unreine. 284 (v. 6447–6454)
282 »Unser Körper senkt sich zur Erde, unsere Seele richtet ihre Gedanken auf den Himmel aus. Sie will dorthin, der Leib will hierher. So wird mir oft selbst schwer und ich gehe schlichten Glauben/Gedanken nach und spreche, wie zuvor Herr Freidank gesprochen hat: ›Ich weiß nicht, wovon mein Körper hier lebt, außer dadurch, dass sich eine Seele darin bewegt. Wie die Seele geschaffen sei – von diesen Gedanken kann ich nicht mehr lassen, denn sie fährt von mir wie ein Hauch und lässt mich liegen wie ein Aas. Von daher weiß ich nicht, wer ich bin: Gott gibt die Seele, er nehme sie hin.‹« 283 An dieser Stelle muss auf Susanne Köbeles Überlegungen zum Ich im Minnesang und zum Ich in den Liedern Frauenlobs verwiesen werden: Köbele erläutert, dass das Ich in Minneliedern einer Differenz von innen und außen entspringt und damit eine Spaltung des Ichs in seine personifizierenden Instanzen nach sich zieht (als Beispiele nennt sie Gefühls-Personifikationen und Allegorien, die eine distanzierende Instanz darstellen). Diese Ich-Spaltung steigert sich in den Texten Frauenlobs zum Teil so weit, dass das Ich innerhalb seiner Lieder sogar zum Verschwinden kommen kann, sich auf die Wirkung der Minne im Ich reduzieren lässt. Vgl. dazu Köbele, Susanne: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarischen Standortbestimmung. Tübingen/Basel 2003, hier S. 117–162, v. a. S. 117–137. 284 »Bedenke, Mensch, dass du nichts weiter als ein schwacher Erdklumpen bist, fauler Dreck, und dass dennoch um deinetwillen alles, was auf Erden lebt, gemacht ist. Denn dein Verstand
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Der Mensch ist also laut Hugo nichts Besonderes. In seinem irdischen Dasein gleicht er den Dingen, die rund um ihn herum aus derselben erdgebundenen Substanz geschaffen sind. Ein Unterschied zwischen Körper und Seele wird evident, da die beiden schon aufgrund ihrer Beschaffenheit voneinander getrennt werden. Dass die Elemente sich in leichte und schwere trennen und diese Eigenschaften auch ihre Bewegungsrichtungen bestimmen, bedarf zur Zeit Hugos keiner weiterführenden Erklärung mehr. Im Bereich der Seelenlehre, mit der Hugo die Leichtigkeit bzw. Schwere der Elemente verknüpft, ist die Sache jedoch etwas komplizierter: Bei Aristoteles besteht die Seele nicht aus Feuer oder Luft, sie ist auch keine immaterielle Substanz, sondern die Grundlage des Lebens.285 Leib und Seele sind in dieser Theorie verbunden und untrennbare Bestandteile von ein- und derselben Substanz.286 Da Aristoteles aber nicht die individuelle Unsterblichkeit der Seele lehrt, die das Christentum verspricht, bereitete De anima den Gelehrten des 13. Jahrhunderts große Schwierigkeiten. Die platonisch-augustinische Tradition vertritt die These einer unsterblichen Seele, die vom Körper völlig unabhängig ist; die Seele ist dem Körper sogar übergeordnet.287 Mit der einsetzenden Aristoteles-Rezeption werden diese Thesen aber in Frage gestellt. Vor allem die aristotelische Einheit von Körper und Seele und die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele gelangen in den Fokus der Kommentatoren. Mit Thomas von Aquin erhält die aristotelische Seelenlehre Ende der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit, als er 1266/67 als seinen ersten Aristoteles-Kommentar jenen zu De anima verfasst.288 Bei Thomas ist der Mensch im Gegensatz zur platonischaugustinischen Lehre nicht nur Seele. Leib und Seele sind vielmehr komplementäre Prinzipien. Die Seele, auch wenn sie ehrwürdiger als der Körper ist, stellt wie bei Aristoteles das Prinzip der Lebendigkeit, die Form des Körpers dar. Rolf Schönberger spricht im Vergleich zur platonisch-augustinischen Tradition von einer ›Aufwertung des Leiblichen‹.289 Obwohl Thomas aristotelisch argumentiert, fängt den Vogel in der Luft, die wilden Tiere in felsigen Höhlen, Fische im Wasser, große und kleine, Schlangen und Gewürm, rein und unrein.« 285 Vgl. Schulthess/Imbach: Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, S. 208; in De anima heißt es gleich zu Beginn der Abhandlung: »denn sie (die Seele) ist gleichsam Prinzip der Lebewesen« [402a]. In: Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 6: Physik. Vorlesung über die Natur. Üs. von Hans Günter Zekl. Über die Seele. Nach der Üs. von Willy Theiler bearbeitet von Horst Seidl. Darmstadt 1995, hier: Über die Seele, S. 1. 286 Vgl. Gilson: Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, S. 201. 287 Vgl. ebda., S. 197–198. 288 Vgl. Forschner, Maximilian: Thomas von Aquin. München 2006, S. 25. 289 Vgl. Schönberger, Rolf: Thomas von Aquin zur Einführung. 3. Auflage. Hamburg 2006, S. 104–106.
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gelingt es ihm, das Prinzip der individuellen Unsterblichkeit der Seele in seine Überlegungen einzubeziehen.290 Für Hugo ist klar, dass die Seele nach oben in Richtung Himmel strebt, während der Mensch in seiner Körperlichkeit erdgebunden ist und infolgedessen auch die Seele zu Boden zieht. Hugos Unklarheit darüber, was nach dem Tod passiert, wird aber deutlich: Wenn die Seele Gott gehört, strebt sie dann nicht einfach als Bestandteil Gottes in den Himmel und lässt den Körper, also das, was dann eigentlich menschlich sein muss, auf Erden zurück? Darf sich der Mensch aber mit etwas identifizieren, das göttlich ist?291 In augustinisch-platonischer Tradition erhält die Seele den Vorzug gegenüber dem Körper. Damit muss alles, was der Mensch zu seinen Lebzeiten auf der Erde macht, auf das Jenseits ausgerichtet sein: Hugo sagt mehr als einmal, dass, wer die Seele um des Körpers willen für eine Frau oder für Ehre oder ein anderes irdisches Gut aufs Spiel setzt, in den Dornenbusch fallen wird.292 Der Körper ist lediglich ein Mittel zum Zweck der Jenseitsgewinnung und sowieso zu gewöhnlich, zu vergänglich, um in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden zu können. Doch die Trennung von Körper und Seele ist unscharf und spiegelt die ungeklärten Fragen, die Freidank und damit auch Hugo äußern, wider. Freidank, der bereits 1233 verstarb, galt als gelehrter und weitgereister Dichter, der u. a. Thomasins von Zerclaere Der Welsche Gast kannte.293 Obwohl zu Beginn des 13. Jahrhunderts bereits die Rezeption der Werke des Aristoteles einsetzte294 und auch 290 Dazu unterscheidet er zwischen Sein, Form und Materie. Die Seele ist die Form des Körpers und das Sein folgt aus der Form. Sein und Form können nicht getrennt, nicht aufgelöst werden. Zerstörung betrifft also nicht Sein und Form, sondern die Materie, die dem Wandel unterworfen ist. Die Einheit von Materie und Form kann aufgelöst werden und genau das geschieht beim Tod eines Lebewesens, wenn die Form nichts mehr hat, das sie formen kann. Da der Mensch erkenntnisfähig ist, folgert Thomas, dass der Verstand, der die Seele bestimmt und eine materielle Form ist, selbst ein Sein besitzt. Wenn nun gilt, dass Form und Sein nicht wie Form und Materie auflösbar sind, kann die menschliche Seele in dieser Überlegung keiner Zerstörung ausgesetzt sein, der ja nur materielle Dinge unterliegen (vgl. dazu Schönberger: Thomas von Aquin, S. 128–132). 291 Dazu ein Gedanke von Augustinus, den er in De civitate dei formuliert: Im 11. Buch fragt Augustinus danach, ob die Seele des Menschen wirklich ewig und damit wie Gott sein kann, da sie – wenn das der Fall sein sollte – eigentlich auf Erden keine Pein verspüren dürfte; das Göttliche kann keinen Schmerz kennen. Vgl. dazu Augustinus: Vom Gottesstaat. 2 Bde. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. München 1977 u. 1978; hier vgl. Bd. 2. 1978, S. 8. 292 Vgl. dazu u. a. v. 2611–2616, v. 3277–3278 oder auch v. 4241–4246. 293 Vgl. Neumann, Friedrich: Freidank. In: VL Bd. 2, Sp. 897f. 294 Schon 1224 gründete Kaiser Friedrich II in Neapel eine Universität als Gegenpol zu Bologna, an der die einsetzende Aristoteles-Rezeption ohne Verbote seitens der Autoritäten vonstatten ging. Thomas von Aquin erhielt dort seine philosophische Grundausbildung und kam in unmittelbaren Kontakt mit der noch nicht weit verbreiteten griechischen und arabischen Philosophie
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Averroes und Avicenna gelesen und verbreitet wurden, ist es höchst unwahrscheinlich, dass Freidank deren Lehren kannte. Es spricht jedoch für die Stimmung der Zeit, dass er im Zuge seines Spruches die Frage nach der Identität des Menschen, nach der Identifikation mit Leib und/oder Seele aufwirft und somit, wenn auch indirekt, die augustinisch-platonische Theorie der Trennung von Leib und Seele und die Frage danach, was den Menschen zum Menschen macht, thematisiert. Hugo hätte, anders als Freidank, um 1300 die Debatten um Aristoteles bereits mitverfolgen können. Die Akzentuierung des Problems ist bei ihm auf den ersten Blick aber etwas anders, da die Identität des Menschen eindeutiger mit der Seele als mit dem Körper verbunden ist. Trotzdem kann der Körper Einfluss auf die Seele nehmen und sie nach unten ziehen, wenn der Mensch sich zu sehr auf das Irdische konzentriert. Die Tragweite des Körper-Seele-Dilemmas wird innerhalb des Freidank-Zitates offensichtlich, da Hugo den Text abgewandelt wiedergibt295 und damit den Zweifel stärker in den Vordergrund rückt, als das in der Bescheidenheit der Fall ist. Der wichtigste Unterschied296 findet sich in der ersten Zeile des Zitates, wenn die Verse mîn lîp von anders niht enlebet/wan daz ein sêle drinne swebet297 zu Ich enweiz wâ von mîn lîp hie lebet,/Denne daz ein sêle dâr inne swebet (v. 6081f.) werden. Erst bei Hugo gelangen durch das einleitende ich enweiz das Nicht-Wissen und damit der Frage-Gestus direkt in den Fokus. Dass Freidank diese Worte in den Mund gelegt und als einveltige[r] geloube, als schlichter bzw. einfacher Glaube bezeichnet werden, kann als tröstliche Versicherung des zu Wissenden verstanden werden. Hugo bestätigt damit seine Ansichten über die Worte Freider Zeit. Rolf Schönberger behauptet über die Universität in Neapel: »An keinem anderen Ort in Europa war zu dieser Zeit ein so unmittelbarer Kontakt mit der Wissenschaft der Antike und Arabiens möglich.« In: ders. Thomas von Aquin, S. 18. 295 Rosenplenter beschäftigt sich eingehend mit der Freidank-Zitation innerhalb des Renners und kommt zu dem Schluss, dass Hugo Freidank sicher schriftlich kennengelernt hat, jedoch auch oft aus dem Gedächtnis zitiert. Vieles wird aber ohne einen Fehler wiedergegeben – Rosenplenter stützt sich dabei auf die Grimmsche Freidank-Ausgabe, deren Leithandschrift die im 13. Jahrhundert entstandene Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 394 ist. Dabei wird die Frage nach editorischen Eingriffen relevant: Er versucht zwischen drei Arten des Texteingriffes zu unterscheiden: 1. sinnverändernde Anpassungen an den Rennerkontext; 2. Füllwörter als stilistische Merkmale Hugos; 3. Umgestaltungen von Versen, die zeigen, dass aus dem Gedächtnis zitiert wurde. Vgl. Rosenplenter: Zitat und Autoritätenberufung, S. 402–406. 296 Da es leider bis dato keine kritische Freidank-Ausgabe gibt, kann nur auf die Edition von Grimm zurückgegriffen werden, der mit einigen wenigen Handschriften arbeitet. Die im Folgenden zitierte Passage findet sich im Cod. Pal. germ. 349 (4. Viertel 13. Jahrhundert); weitere Textzeugen aus dem 13. Jahrhundert überliefern hauptsächlich fragmentarisch und weisen den Abschnitt zur Seele nicht auf. 297 Grimm, Wilhelm: Vridankes Bescheidenheit. Göttingen 1834, S. 17, v. 21–22.
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danks und versucht, seine im Text durchscheinenden Unsicherheiten als nichtig darzustellen. Dennoch lassen sie sich nicht ganz verbergen. Ob die Unterschiede in dem betreffenden Zitat von Hugo absichtlich herbeigeführt wurden, lässt sich natürlich nicht mehr feststellen. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte, deutet Hugos Wiedergabe des Freidank-Zitates auf etwas sehr Wesentliches hin: Die Frage nach dem Körper und der Seele und damit die Schwierigkeit der Rezeption und der Gültigkeit der aristotelischen Lehre stehen bereits stark im Zentrum der gelehrten Aufmerksamkeit und damit auch im Zentrum der klerikalen Welt. Um 1300 hat Aristoteles in Europa bereits so viel Aufsehen erregt, dass die Kenntnis seiner Lehren – sei es direkt durch das Studium der Texte oder indirekt über Predigten, Diskussionen und Unterricht – nicht mehr zu unterschätzen ist. Die Fragen, die Hugo in dem kurzen Abschnitt zur Seele offenlässt, legen die Vermutung nahe, dass seine Überlegungen zu diesem Thema über die Lehren von Augustinus hinausgehen. Es wird aber hier schon deutlich, welchen Stellenwert die Naturphilosophie in Hugos Denksystem einnimmt: Die Diskussion um die Gemachtheit des Menschen knüpft direkt an die Elemente und deren Eigenschaften an und bedient sich der naturphilosophischen Tatsachen exemplarisch, um etwas darüber Hinausgehendes zu erläutern. Wissen oder Wissenschaft fungieren als eine Art Ordnungselemente innerhalb der sichtbaren Welt und sind für Hugo im Dienste der dahinterliegenden Weisheit oder Wahrheit zu verstehen. Indirekt ist von den vier Elementen zum ersten Mal bereits im Zuge der Eingangs allegorie die Rede, wenn in der Auslegung der Berge, die die Heide umgeben, vom Tod gesprochen wird, der alle Lebewesen betrifft: […] allez daz nu lebt,/ Kriuchet, fliuget oder swebt298 (v. 241–242). Der sublunare Bereich ist dadurch gekennzeichnet, dass er aus den vier Elementen besteht, aus denen auch die dort beheimateten Lebewesen gemacht sind. Jede Sphäre, also jedes Element, bietet für eine andere Art von Tier die richtige Lebensumgebung – Vögel fliegen in der Luft, Fische schwimmen im Wasser, Würmer und Schlangen kriechen unterirdisch im Feuer299 und die übrigen Tiere leben auf der Erdoberfläche. Damit steht 298 »Alles, was nun lebt, kriecht, fliegt oder schwimmt« 299 Es ist ein wenig paradox, dass das Feuer als unterirdisch bezeichnet und damit dem Bereich der Hölle und den Würmern zugeordnet wird, aber in der Darstellung der rota elementorum das oberstes und leichtestes Element und damit Gott am nächsten ist. Die Elemente sind – und das Feuer in seiner Funktion als Höllenqual umso mehr – durch eine Dualität gekennzeichnet, die bereits bei Augustinus zum Ausdruck kommt. Im 12. Buch seines De civitate dei, in dem er über die Ursachen des Engelfalls und der Erschaffung der Menschen nachdenkt, heißt es: sic est et natura ignis aeterni sine ulla dubitatione laudabilis, quamuis damnatis inpiis futura poenalis. quid enim est igne flammante uigente lucente pulchrius? quid calfaciente curante coquente utilius? qua-
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im Sinne eines pars pro toto eine Bewegungsart für eine ganze Sphäre, die dann akkumuliert in Form der Aufzählung schließlich auf die gesamte Welt unterhalb des Mondes verweist. Diese Form der Umschreibung für die Gesamtheit der von den Elementen bestimmten Welt findet sich innerhalb des Renner wiederholt (z. B. v. 215, ab v. 21365 oder ab v. 23665), die verwendeten Begriffe können dabei aber durchaus variieren. In Vers 215 werden die Bewohner der Elemente aufgezählt, wenn von Vogel, vische, würme und tier (v. 215) die Rede ist; gegen Ende der Dichtung ab Vers 23665 wird wieder auf die bereits bekannte Formulierung Swaz kriuchet, fliuget, swimmet, lebet (v. 23668) zurückgegriffen, die dann einige Verse später nochmals variiert innerhalb eines Zitates auftaucht: Alles daz ûf erden lebet,/Kriuchet, fliuget, loufet, swebet (v. 23671–23672). Die unumstößliche Vierteilung der Gesamtheit der Lebewesen und damit auch die Vierteilung der bewohnbaren Welt stehen mit deren Erschaffung in Zusammenhang und verweisen auch unmittelbar auf eine das gelehrte Mittelalter durchdringende Relevanz der Zahlensymbolik: »Zeichen der von Gott geschaffenen Welt ist die Vierzahl wie alle von ihr geprägte räumlich-dingliche Ordnung wegen der vier Elemente […]«300, heißt es bei Heinz Meyer und Rudolf Suntrup. Auch die vier Himmelsrichtungen, die Jahreszeiten, die Lebensalter und sogar die Heilsgeschichte, die sich in vier Zeitstufen ereignet, knüpfen daran an. Die Vier steht für die von Gott geschaffene, irdische Welt, während die Drei als göttliche Zahl auf das Überirdische hin ausgelegt wird.301 Was bei vielen Autoren – auch bei Hugo – zur Floskel wird, zu einem rhetorischen Element, wurzelt in der Kulturgeschichte der Elemente, auf der sich das Viererschema gründet.
muis eo nihil sit urente molestius. idem igitur ipse aliter adpositus perniciosus, qui conuenienter adhibitus commodissimus inuenitur (zitiert nach: Sancti Aurelii Augustini Episcopi De Civitate Dei libri XXII. Lib. I–XIII. Hrsg. von Bernd Dombart/Alfons Kalb. Duas Epistulas ad Firmum addidit Johannes Divjak. Ed. 5. Darmstadt 1981. In der Übersetzung von Thimme lautet diese Stelle wie folgt: »So ist auch ohne Zweifel die Natur des ewigen Feuers Lobes würdig, obschon sie zur Bestrafung der verdammten Gottlosen dienen wird. Denn was ist schöner als flammendes, loderndes Leuchten des Feuers? Was nützlicher zum Erwärmen, Heilen und Kochen? Obwohl auch nichts peinlicher sein kann als brennendes Feuer. Also dasselbe Feuer erweist sich bei zweckmäßigem Gebrauch höchst vorteilhaft, aber, anders angewandt, geradezu verderblich.« (Augustinus: Vom Gottesstaat Bd. 2, S. 64.)). 300 Meyer/Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 332. 301 Vgl. ebda., ab Sp. 214.
Zur Kosmologie
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3.3 Zur Kosmologie Die Heide, von der in der Eingangsallegorie die Rede ist, repräsentiert die von Gott geschaffene Welt, der alles dient: alle Lebewesen, alle Pflanzen, die vier Jahreszeiten, die Menschen mit ihren Gedichten und Liedern sowie alle Dinge, ob groß oder klein, eng oder weit und egal von welcher Farbe (vgl. v. 212–228). Auch vor dem Himmel macht die Vorrangstellung der Welt nicht Halt: Ir [der Welt] dient der mâne und ouch diu sunne/Und ouch des firmamentes schîn302 (v. 210f.). Die Gestirne stehen im Dienst der Welt, die aber in all ihrer wunne (v. 209 u. 229) im Vergleich zum Paradies nichts anderes als ein Jammertal ist (vgl. v. 230–234). Fast 3000 Verse später ist wieder vom Firmament und den Gestirnen die Rede, doch diesmal in einem ganz anderen Kontext. Hugo beklagt sich darüber, dass unter den Menschen – sogar unter Geistlichen – die Nächstenliebe fehlt und stattdessen Schadenfreude und Unbeständigkeit Einzug halten. Er führt das auf den Sturz Satans, der alte[n] slange (v. 3055) zurück, der im Fallen in Kopf, Torso und Schwanz geteilt wurde und dessen Körperteile Untugenden unter die Menschen brachten. Diese Dreiteilung des Teufels taucht in der Bibel nicht auf – auch im apokryphen Buch Henoch, das den Fall der Engel und ihre Bestrafung schildert, ist davon nicht die Rede.303 Es gibt aber einen für das Mittelalter wichtigen Text, in dem sich Parallelen zum Teufelssturz finden lassen, wie ihn Hugo schildert: Schon im griechischen Physiologus304 ist vom Wildesel und dem Affen die Rede, die beide auf den Teufel hin ausgelegt werden können. Der Affe hat danach Ähnlichkeit mit dem Satan, da er zwar einen Kopf, aber keinen Schwanz hat – genau wie der Teufel einen wunderbaren Anfang im Himmel aber kein Ende hat.305 Die frühmittelhochdeutschen 302 »Ihr dient der Mond und auch die Sonne und auch der Glanz des Firmaments.« 303 Vgl. dazu den ersten Teil des äthiopischen Buchs Henoch: »Das angelologische Buch. Der Fall der Engel, ihre vorläufige und endgültige Abstrafung«. In: Weidinger, Erich: Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel. Augsburg 1995, S. 303–306. Im Neuen Testament heißt es bei Lukas, dass Satan wie ein Blitz vom Himmel fiel (Lk 10,18); in den Offenbarungen des Johannes ist ab Kapitel 12 von einem Drachen die Rede, der als Satan bekämpft und schließlich gestürzt wird (vgl. Offb 12). 304 Vgl. dazu allgemein: Physiologus. In: LexMA Bd. 6, Sp. 2117–2122. 305 Im ausführlichen Kommentarteil der Monographie zum Millstätter Physiologus wird auf die Äffin näher eingegangen. Vgl. Schröder, Christian: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar. Würzburg 2005 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 24), hier zur Äffin im griechischen Physiologus sowie zur Verbindung des Affen mit dem Teuflischen ab S. 203. Auch Hartmut Böhme verweist auf das Teuflische im Affen, wenn er über das Faustbuch und die kulturhistorischen Wurzeln des Affen spricht. Vgl. Böhme, Hartmut: Der Affe und die Magie in der Historia von D. Johann Fausten In: Thomas Mann. Doktor Faustus 1947–1997. Hrsg. von Werner Röcke. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, N. F., 3 (2001), S. 109–145.
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Fassungen des Physiologus (Wiener und Millstätter Physiologus) erzählen nicht nur vom schwanzlosen Affen, sondern vergleichen das Aussehen des Tieres auch mit dem Sturz Satans. Im Millstätter Physiologus heißt es: daz houbet er do verlos, des zageles ward er ouch belost./Also er von himile verstozzen wart her nidere,/so wirt er noch verdamnot mit allen den, die im volgont.306 Der Verlust von Schwanz und Kopf findet sich auch in der Prosafassung des Wiener Physiologus: want er ave truginare unt unchustich was, do verlos er daz houbet unt nehabite zagiles trost./Als er vone himile verstozziner florn wart, so wirdit er ouch zi jungist verdamnot mit allen, die ime volgint.307 Dass gerade Hugo, der ja zur Zeit der Abfassung des Renner bereits lange Jahre als Lehrer tätig gewesen war, den Physiologus, einen klassischen Schultext, gut gekannt haben musste, ist einleuchtend und erklärt auch, warum er von der Dreiteilung des Teufels berichtet. Hugo nutzt die drei Körperteile des Teufels, die auf die Erde fallen, um allegorische Ausdeutungen vorzunehmen: Mit dem Kopf kam Hochfahrt unter die Laien, der Torso brachte Gefräßigkeit und Unkeuschheit zu den Priestern und der Schwanz Neid und Feindseligkeit zu den Klosterleuten (vgl. v. 3055–3066). Dass ausgerechnet der Kopf des fallenden Wurmes mit der Untugend der Hochfahrt in Verbindung gebracht wird, ist für das lateinische Mittelalter nichts Ungewöhnliches: In der Psychomachia des Prudentius308, die Ende des 4. Jahrhunderts verfasst wurde, bereits seit dem 5. Jahrhundert zum Standard-Bildungswerk des Christentums zu zählen war und von der heute noch über 300 Textzeugen erhalten sind (die meisten aus der Zeit zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert), kämpfen Tugenden und Laster gegeneinander. Der Kampf in der Seele – denn das ist die wörtliche Übersetzung des Titels – findet in sieben Einzelkämpfen zwischen einer Tugend und einem Laster über 915 Hexameter hinweg statt und natürlich siegt das im christlichen Glauben als moralisch gut Angesehene über das ›Böse‹. 306 »[…] da verlor er den Kopf, auch des Schwanzes wurde er beraubt. Wie er vom Himmel herab verstoßen wurde, so wird er noch mit allen, die ihm folgen, verurteilt.« Zitat und Übersetzung: Schröder: Der Millstätter Physiologus, S. 86–87. 307 »Da er aber trügerisch und arglistig war, da verlor er den Kopf und hatte auch nicht mehr den Trost des Schwanzes/hatte auch keine Hoffnung mehr auf einen Schwanz. So, wie er eine vom Himmel verstoßene Blume wurde, wird er auch zuletzt mit allen verdammt, die ihm folgen.« Der Mittelhochdeutsche Text wird zitiert nach dem Online-Portal TITUS der Universität Frankfurt a. M.: http://titus.fkidg1.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/mhd/physiol/phys2.htm (Stand: 2. Februar 2017). 308 Vgl. Die Psychomachie des Prudentius. Lateinisch-Deutsch. Eingeführt und übersetzt von Ursmar Engelmann OSB. Basel u. a. 1959, hier v. a. die Einführungskapitel zum Text S. 9–24. Im Folgenden wird auch nach dieser Ausgabe zitiert.
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Mit Vers 178 beginnt der vierte Zweikampf der Psychomachia zwischen Superbia, der Hochfahrt, und Mens Humilis, der Demut. Superbia fällt im Zuge des Kampfes von ihrem Pferd und wird von der Demut getötet. An dieser Stelle ist die Todesart von Interesse, wenn die Demut zunächst ihre Feindin am Haar herbeizieht, dann deren Kopf hochhebt, ihn mit einem Schwert abschlägt und zu guter Letzt den abgetrennten Kopf emporhält, um mit dieser Geste vor der Untugend der Hochfahrt zu warnen.309 Dass der Kopf der Superbia auf derartig grausame Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird und auch bei Hugo der abgetrennte Kopf der fallenden Schlange die Hochfahrt unter die Menschen bringt, kann zwar ein Zufall sein, ist aber aufgrund der großen Popularität der Psychomachia anzuzweifeln; ganz im Gegenteil ist nicht zuletzt aufgrund der einschlägigen Bildung Hugos ein direkter Zusammenhang wahrscheinlich. Die drei Teile des Teufels richteten nicht nur unter den Menschen Unheil an: Der Schwanz der Schlange riss viele Sterne des Firmaments herab und zog sie mit sich nach unten (vgl. v. 3063–3064). Auch wurde nicht allein der Teufel des Himmels verwiesen. Mit ihm wurden – und auch das deckt sich mit der Darstellung im Physiologus – seine genôzen/Von himel […] herab gestôzen (v. 3055–3056): Die Engel, die sich von Gott abwandten, wurden ebenfalls auf die Erde verbannt. Hugos Vorstellung vom Kosmos und seinen Bestandteilen ist stark von biblischer Mythenbildung geprägt. Der Sturz der Schlange hat Konsequenzen, die sich sowohl im täglichen Leben der Menschen abzeichnen als auch am Firmament nicht spurlos vorübergehen, wenn der zagel sogar Sterne mit sich reißen kann. Hugo zitiert die Offenbarungen des Johannes, in griechischer Sprache verfasst, in denen ein Drache und seine Engel aus dem Himmel gestoßen werden (vgl. Offb 12,7–9). Michael Koch erläutert, dass das Wort δράκων, das den Widersacher der Engel bezeichnet, sowohl ›Drache‹ als auch ›Schlange‹ bedeutet und synonym verwendet werden kann.310 Die von Hugo verwendete Bezeichnung alte slange ist eine direkte Übersetzung aus der Vulgata, in der es heißt: […] draco ille magnus serpens antiquus qui vocatur Diabolus et Satanas […] (Offb 12,9), der Drache, jene große alte Schlange, die Teufel oder Satan genannt wird. Auch in der Apokalypse fegt der Schwanz der Schlange die Sterne vom Firmament, jedoch nicht wie im Renner im Zuge des Falls, sondern bereits vorher, wenn der Drache der apoka-
309 Im Lateinischen Original lautet die Stelle wie folgt: illa cruentatum correptis crinibus hostem / protrahit, et faciem laeua reuocante supinat; / tunc caput orantis flexa ceruice resectum / eripit ac madido suspendit colla capillo (v. 280–283). 310 Vgl. Koch, Michael: Drachenkampf und Sonnenfrau. Zur Funktion des Mythischen in der Johannesapokalypse am Beispiel von Apk 12. Tübingen 2004 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe 184), S. 238.
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lyptischen Frau gegenübertritt: »Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab« (Offb 12,4).311 Hier wird das Bild der Sterne mehrdeutig, da weiter vorne im Text, in Offb 1,20, die Sterne als Engel identifiziert werden, wenn es heißt: septem stellae angeli sunt septem ecclesiarum […] (»die sieben Sterne sind die Engel der sieben Gemeinden […]«). Schon im Alten Testament findet sich diese Gleichsetzung, da von den Engeln als dem Heer des Himmels gesprochen wird. Das äthiopische Buch Henoch berichtet von der Schöpfung und auch dort werden die Engel explizit als Sterne bezeichnet (vgl. äthHen 83–90). Der Fall der Engel, der nichts mit einem Fallen zu tun hat, sondern den moralischen Abfall der Engel meint, wird mit dem Sturz des Drachen und seiner Engel aus der Apokalypse inhaltlich zusammengeführt. Dabei stellt sich die Frage, ob die Sterne, die vom Schwanz der fallenden ›alten Schlange‹ mitgerissen werden, nicht symbolisch bereits für die Engel des Teufels stehen, die mit ihm verstoßen werden.312 Koch weist darauf hin, dass die Abwärtsbewegung des Drachensturzes, der als »das zentrale und zugleich unumkehrbare Ereignis des Kapitels [Offb 12]« gelesen werden muss, durch das Herabwerfen der Sterne verstärkt wird.313 Hinzu kommt, dass diese aggressive Handlung mit einem unteren Körperteil – dem Schwanz – assoziiert wird, der zwar über ein hohes Gewaltpotential verfügt, dem Kopf aber unterlegen ist. In biblischer Tradition wird mit dem Schwanz Geringschätzung und Schwäche in Verbindung gebracht, wovon auch die Aggression des Drachen geprägt ist, wenn er ein Drittel der Sterne vom Firmament fegt.314 Semantisch gehören diese beiden Fallbewegungen zusammen und prägen das Bild des Sturzes. Dass der Himmel Sterne lassen muss, wenn der Drache verstoßen wird, zeugt – wie an vielen anderen Stellen im Renner – von Hugos Gelehrsamkeit. Dass der Drache auf die Erde stürzt, ist eine biblische Tatsache, doch in den Offenbarungen des Johannes wird die alte Schlange nicht getötet und zerstückelt, sondern bedroht die apokalyptische Frau und bringt Krieg über die Menschheit. 311 In der Vulgata lautet diese Stelle: et cauda eius trahebat tertiam partem stellarum caeli et misit eas in terram 312 Vgl. dazu: Losekam, Claudia: Die Sünde der Engel. Die Engelfalltradition in frühjüdischen und gnostischen Texten. Tübingen 2010 (TANZ 41), v. a. S. 48–85; vgl. auch Koch: Drachenkampf und Sonnenfrau, S. 238–273, v. a. ab S. 256; vgl. auch Hafner, Johann Ev.: Angelologie. Paderborn 2010 (Gegenwärtig Glauben Denken. Systematische Theologie 9), S. 132–156; vgl. auch Dochhorn, Jan: Schriftgelehrte Prophetie. Der eschatologische Teufelsfall in Apc Joh 12 und seine Bedeutung für das Verständnis der Johannesoffenbarung. Tübingen 2010. Anschließend an die Verbindung der Engel mit den Sternen entwickelt sich auch die Vorstellung, dass die Sternen- bzw. Planetenbewegung am Firmament von den Engeln beeinflusst ist (vgl. dazu Hafner: Angelologie, S. 115). 313 Vgl. Koch: Drachenkampf und Sonnenfrau, S. 264. 314 Vgl. Dochhorn: Schriftgelehrte Prophetie, S. 220–221.
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Hugo erzählt die Geschichte vom Fall des Drachen anders und verändert sie so, dass sie in den Kontext seines Gedichtes passt und sich in sein Bildungsprogramm einfügt. Er nimmt den Höllensturz zum Anlass, um zu erklären, wieso die Menschen sündigen und warum sie welche Sünden begehen. Auch schließt er niemanden aus seinen Überlegungen aus: sowohl Laien als auch Pfarrer und Klosterleute werden erwähnt. Fünf der sieben Todsünden sind an die Körperlichkeit der Schlange gebunden, werden durch deren Fall auf die Erde gebracht und über die Menschheit verteilt. Kopf, Torso und Schwanz des Drachen bringen Superbia (Hochmut), Gula (Völlerei), Luxuria (Wolllust), Invidia (Neid) und Ira (Zorn) zu den Menschen und bewirken sogar, dass die Klosterleute, die in Worten, Taten und durch ihr reines Leben so strahlen sollten wie die Sterne, sich mit Zorn, Neid und Argwohn herumschlagen müssen (vgl. v. 3066–3070). Damit erhält der Sturz des Drachen eine weitgreifende Relevanz, die sowohl die supra- als auch die sublunare Welt umfasst und deren Unmittelbarkeit sich niemand entziehen kann. Dass Hugo am Ende seiner Schilderung des Drachensturzes noch einmal auf die Sterne zu sprechen kommt und sie den Klosterleuten als Vorbild anbietet, ruft nochmals die mögliche Verbindung oder Gleichsetzung von Sternen und Engeln in Erinnerung: Würden sie ein Leben wie die Engel führen, dann würden auch sie wie die Sterne strahlen. Dabei ist die Vorbildfunktion der Klosterleute von Relevanz: Sterne gelten nicht nur als praktische Orientierungshilfe im Raum, sondern – und das zeigte sich bereits bei Thomasin – haben auch moralisch leitende Funktion. Die Beständigkeit, mit der sie ihre Bahnen am Nachthimmel ziehen, soll Vorbild für die Menschen auf der Erde sein. In diesem Kontext wird weiter unter auch die Verbindung von Sternenbewegung und Angelologie noch von Interesse sein.
3.4 Die Ordnung im Himmel und auf der Erde – Planeten und Engel Mit Hilfe der Kosmologie wird jedoch nicht nur christlich motiviertes Gedanken- und Bildungsgut in Bezug auf die Heilsgeschichte vermittelt. Die Ordnung des Himmels hilft Hugo auch dabei, irdische Hierarchien zu erläutern und die damit in Zusammenhang stehenden Macht- und Rechtsverhältnisse zu legitimieren. Ab Vers 8999 heißt es: Waz hête diu werlt fröude oder wunne,/Swenne der mâne und ouch diu sunne/Tunkel wêrn und die planêten/Stille stüenden an siben steten? (v. 8999–9002)315 Diese rhetorische Frage bleibt zwar unbeantwortet, doch ist klar, dass es nichts Gutes verheißt, wenn derartige Dinge geschehen. 315 »Was an Freude und Wonne hätte die Welt noch, wenn der Mond und auch die Sonne dunkel wären und die Planeten an ihren sieben Orten (in ihren sieben Sphären) stehen blieben?«
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Denn, so Hugo weiter, genauso wenig Freude und Wonne hätten wir Menschen, wenn der Staat und der Papst nicht aufleuchteten und die Richter, so wie die Planeten, still stünden, ihrem Beruf nicht mehr nachgingen und kein Recht mehr sprechen würden (vgl. v. 9003–9006). Um die Bilder nicht der Gefahr der Uneindeutigkeit zu überlassen316, wird klargestellt, dass die Sonne den Papst bezeichnet, der aufgrund der Freude am geistlichen Recht aufleuchten und strahlen soll (vgl. v. 9007–9009). Der Mond steht stellvertretend für den Staat und verweist auf weltliches Recht und Gericht (vgl. v. 9009–9011). Ähnlich wie im Welschen Gast Thomasins haben auch bei Hugo der Umlauf der Planeten und das kosmologische System etwas mit Ordnung und Hierarchie zu tun. Während Thomasin das Verharren eines Planeten in seiner Bahn und damit das geduldige Ausharren aller Menschen im eigenen Stand als gottgewollt darstellt, bezieht sich im Renner die himmlische Ordnung auf die herrschenden Stände und deren Autorität. Ohne die weltliche und geistliche Gerichtsbarkeit wäre es auf Erden so, als ob weder Sonne noch Mond scheinen würden, da Hugo die beiden wichtigsten der damals bekannten sieben Planeten mit den Oberhäuptern der geistlichen und weltlichen Rechtsprechung gleichsetzt. Dieser Vergleich stellt auf mehreren Ebenen einen Kunstkniff Hugos dar: Indem er die Sonne mit dem Papst, das Reich aber nur mit dem Mond gleichsetzt317, der durch die Sonne sein Licht erhält,318 legitimiert er nicht nur das Pontifikat und stellt es über die weltliche Herrschaft, sondern konstatiert auch dessen Unabkömmlichkeit. Schon in den ersten Versen der Eingangsallegorie wird thematisiert, dass Gott die gesamte Schöpfung auf die Erde hin ausgerichtet hat. Wenn Hugo die Planeten mit weltlichen und geistlichen Herrschern gleichsetzt, stehen sie innerhalb seiner Weltanschauung im Dienste der Menschheit. Sie erhalten just hierüber ihre Funktion und werden gleichzeitig innerhalb des Systems der auf den Menschen ausgerichteten Schöpfung legitimiert und ausgezeichnet. Damit werden geistliche und
316 Hier kann genau das beobachtet werden, was bei den obigen Ausführungen zu Metapher und Allegorie bereits anzitiert wurde: Uneindeutigkeiten durch bildhafte Sprache werden oft durch explizite Verknüpfungen ausgemerzt. Die Lesbarkeit muss eindeutig und vom Autor auf eine bestimmte Auslegung hin konzipiert sein. 317 Die Auszeichnung der Sonne als größtes Gestirn findet sich bereits im Schöpfungsbericht in der Genesis, wenn es heißt: »Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere […]« (Gen 1,16). In der Vulgata lautet diese Stelle: fecitque Deus duo magna luminaria luminare maius ut praeesset diei et luminare minus ut praeesset nocti et stellas. 318 Um 1300 war bereits bekannt, dass der Mond von der Sonne sein Licht erhält. Vgl. dazu – gerade weil Hugo in augustinischer Tradition verankert ist – u. a. Augustinus: Vom Gottesstaat Bd. 1, S. 467 (Kapitel zwei des zehnten Buches). Im Kommentarteil wird darauf verwiesen, dass Augustinus sich an dieser Stelle auf die Schriften Plotins stützt (vgl. ebda. S. 611).
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weltliche Gerichtsbarkeit unantastbar; vielmehr wird ihre Autorität als Notwendigkeit dargestellt, die dem Dienst an der Menschheit verpflichtet ist. Wie genau sich Hugo die Bewegung der Planeten vorstellt, wird ab Vers 11025 offensichtlich: Sît ein ieglich stern hât/Einen engel, der in an die stat/Wîset dâ er hin sol gên (v. 11025–11027). Schon Augustinus setzt in seiner Auslegung des Schöpfungsberichts das von Gott erschaffene Licht mit den Engeln gleich.319 Auch in der Bibel wird darauf angespielt, dass Sterne und Engel synonym zu verstehen sind, wie u. a. in der Apokalypse oder im Buch Daniel zu beobachten ist. Die Idee, dass den Sternen Engel vorangestellt sind, die diese führen, ist – so Michael Koch – ein Konzept, das dem jüdischen Glauben entspringt, dem zufolge einem gleichmäßig bewegten Objekt keine Göttlichkeit zugewiesen werden kann.320 Im astronomischen Teil des äthiopischen Henochbuchs (äthHen 72–82) werden die Engel explizit als Führer der Planeten vorgestellt und Uriel wird als Führer von allem bezeichnet (vgl. äthHen 72,1 und 74,2). Zu Beginn des 75. Kapitels wird überdies von den Führern der Sterne berichtet, die »an der Oberfläche des Himmels herrschen, über der Erde erscheinen und Führer seien für den Tag und die Nacht, Sonne, Mond und Sterne und alle dienstbaren Geschöpfe, die in allen Wagen des Himmels ihre Umfahrt machen (äthHen 75,3).« Thomas von Aquin, der Doctor Angelicus, berichtet in seiner Summa ausführlich über die Engel Gottes und deren Aufgaben in dieser Welt. In der 110. Untersuchung beschäftigt er sich mit dem Vorsitz der Engel über die körperliche Schöpfung und erläutert, dass diese von den Engeln verwaltet wird, da die geistige Natur der Engel über der körperlichen steht. Um eine körperliche Bewegung vollziehen zu können, muss die geistige Natur als Führer der Körper diese veranlassen.321 Die Ausführungen von Thomas von Aquin zeigen, dass die Vorstellung der 319 Vgl. Augustinus: Vom Gottesstaat Bd. 2, S. 15–16 oder S. 31. 320 Vgl. Koch: Drachenkampf und Sonnenfrau, S. 257. Im Denken der antiken Naturphilosophen ist die gleichmäßige, kreisförmige Bewegung zwar der ungleichförmigen Bewegung vorzuziehen, dennoch ist im christlichen Weltverständnis lediglich die Ruhe – der unbewegte Beweger – als göttlich anzusehen. Wie die Theorie, dass Engel die Sterne schieben, entstanden sein könnte, erläutert Johann Hafner: Er behauptet, dass die Idee der beseelten Sterne, die von speziellen Lebewesen bewegt werden, die biblische Übernahme der griechischen Astralgeister darstellt. Anlass für diese Vermutung soll die Beobachtung gewesen sein, dass nicht alle Planeten und Fixsterne am Nachthimmel in derselben Richtung um die Erde rotieren; vgl. Hafner: Angelologie, S. 119. Leo Scheffczyk widmet in seiner »Einführung in die Schöpfungslehre« den Engeln ein ganzes Kapitel und beschreibt darin die bewahrende Funktion, die Engel einnehmen, und deren Aufgabe, Sinn in die Schöpfung zu bringen. Vgl. Scheffczyk, Leo: Einführung in die Schöpfungslehre. Darmstadt 1975, S. 103–118, hier besonders S. 114. 321 Vgl. Thomas von Aquin: Summe der Theologie. Zusammengefasst, eingeleitet u. erläutert von Joseph Bernhart. 3 Bde. Bd. 1: Gott und die Schöpfung. 3., durchgesehene und verbesserte Auflage. Stuttgart 1985 (Kröners Taschenbuchausgabe 105), S. 388.
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von geistigen Naturen bewegten Himmelskörper nicht nur über die Auslegung der Heiligen Schrift fest im Denken der Kleriker verankert ist, sondern auch bei den Gelehrten der Zeit eine große Rolle spielt. Es handelt sich dabei um eine ›wissenschaftliche Tatsache‹, eine durch logisches Denken herbeigeführte Schlussfolgerung, die sich auf beobachtbare Himmelsphänomene stützt. Hugo schreibt und lebt innerhalb dieser Welt, in der mythologisch-biblische Bezüge fest in der Realität verankert sind, den Wissenshorizont konstituieren und somit auch einen vorherrschenden Denkstil prägen. Wenn im Renner die Engel als Vergleichsfolie für irdisches Verhalten herangezogen werden, ist nicht nur ein Verweis auf religiös-spirituelle Inhalte impliziert, sondern auch auf zeitgenössisches populäres Wissen, auf kosmologische Tatsachen. Aber Hugo verweilt nicht bei der Beschreibung der Bewegung der Himmelskörper, sondern verändert bereits nach nur drei kurzen Versen seinen Fokus, wenn er bemerkt, dass Engel nicht nur die Planeten leiten, sondern auch den schwachen Menschen (vgl. v. 11028), der Führung braucht. Die Wunder, die Gott dabei wirkt, sind mannigfaltig und für Hugo sehr offensichtlich: Swelch mensche an daz gestirne siht Und gotes wunder niht merket dâr an, Der ist guoter witze wan. Swenne ich niht mac gesehen diu wunder, Diu unser herre hât besunder Oben behalten in sînem tougen, Sô merke ich diu, diu menschen ougen Alle zît sehent ob in sweben, Fligen, swimmen als ob si leben, Nu rôt, nu gel, nu brûn, nu wîz: Swenne ich dar an mîns herzen flîz Besunder lege, sô wundert mich, Ûf welherleie underschôz sich Daz wazzer ûf habe, daz ob uns fliuzet, Daz ez ze mâl her ab niht giuzet.322 (v. 11030–11044)
322 »Welcher Mensch hinauf zu den Sternen blickt und Gottes Wunder daran nicht erkennt, der ist ohne guten Verstand. Wenn ich die Wunder nicht sehen kann, die unser Herr so vorzüglich in seiner Heimlichkeit oben behalten hat, dann merke ich die, die der Mensch mit seinen Augen die ganze Zeit über ihm schweben, fliegen, schwimmen sieht, als ob sie leben würden, mal rot, gelb, braun oder weiß: wenn ich daran aufmerksam den Eifer meines Herzens lege, so wundert mich, auf was für einer Art von Unterlage das Wasser aufliegt, das über uns fließt, dass es nicht plötzlich herab regnet.«
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Für Hugo ist offensichtlich, dass bereits ein Blick in den Himmel genügt, um die Größe Gottes festmachen zu können. Der Lauf der Gestirne ist für ihn ein Beweis für die Wundertätigkeit Gottes, die jeder Mensch, der ein wenig Verstand besitzt, ganz leicht erkennen sollte. Für diejenigen, die nicht mit der Bewegung der Planeten vertraut sind (denn das kann unter Umständen einiges an Vorbildung verlangen), bietet Hugo auch eine einfachere Erkenntnismöglichkeit an, die ebenfalls am Himmel zu beobachten ist: die Gesamtheit der atmosphärischen Phänomene in all ihrer Farbenpracht. Das, was über uns fast auf lebendige Art und Weise herumschwebt, -fliegt oder -schwimmt und in seiner Buntheit geschildert wird, lässt sich als Wolken, Sonnenuntergänge oder Gewitterstimmung begreifen, die Hugo in ihrer Veränderlichkeit als ein weiteres Zeichen für Gottes Präsenz auf Erden interpretiert. Obwohl er seine RezipientInnen dazu anhält, durch das Bestaunen der Wunder Gottes ihren Glauben zu festigen, stellt er auch hier Fragen, die über den einfachen Glauben hinausgehen und von Erstaunen bzw. von einer Neugierde zeugen, die nicht leicht befriedigt werden kann. Auf welcher Unterlage liegt das Wasser auf, das über uns fließt, und warum regnet es nicht auf uns herab, fragt Hugo. Hier bezieht er sich ganz explizit auf die Schöpfungsgeschichte und damit auf eine Passage, die im Zuge der Bibelauslegungen über Jahrhunderte hinweg immer wieder zu Verständnis- und Erklärungsnöten führte: et fecit Deus firmamentum divisitque aquas quae erant sub firmamento ab his quae erant super firmamentum (Gen 1,7).323 Bereits frühchristliche Genesiskommentare konzentrieren sich auf das Problem der oberen Wasser und des damit verbundenen Dilemmas, dass in den ersten Zeilen der Bibel von zwei Himmeln die Rede ist.324 Am ersten Tag erschafft Gott Himmel und Erde; am zweiten Tag erschafft er aber noch einen Himmel, den er zwischen die Wasser setzt, um Wasser von Wasser zu trennen: dixit quoque Deus fiat firmamentum in medio aquarum et dividat aquas ab aquis (Gen 1,6). Was genau dieses obere Wasser sein soll, wird in der Bibel weiter nicht erwähnt. Hier muss auf andere Quellen zurückgegriffen werden: Augustinus325, der Ende des 4. Jahrhunderts seine Genesis-Kommentare verfasste326, widmet sich der Frage, ob es Wasser oberhalb des Firmaments geben 323 »Und Gott machte das Firmament und teilte die Wasser, die unterhalb des Firmaments waren von denen, die oberhalb des Firmaments waren.« 324 Vgl. zu den Genesiskommentaren und dem Problem der oberen Wasser das Kapitel zu Frauenlobs Kreuzleich ab S. 214. 325 Ich werde hier ausschließlich auf den Genesis-Kommentar des Augustinus eingehen, da dieser viel stärker als Hugos Zeitgenossen sein Denken und Schreiben beeinflusst hat. Auf die weiteren wichtigen Genesis-Kommentare des 11.–13. Jahrhunderts nehme ich im Kapitel zu Frauenlobs Kreuzleichs eingehend Bezug. 326 Augustinus Faszination mit der Schöpfungsgeschichte wird in all seinen Werken deutlich, doch hat er sich mehrere Male auch direkt mit der Genesis auseinandergesetzt: Um 388/389 ent-
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kann, im zweiten Buch seines Kommentars De Genesi ad litteram. Zunächst erinnert er alle, die zu wissen glauben, dass abhängig vom spezifischen Gewicht der Elemente Wasser nicht über dem Firmament existieren kann327, daran, dass Gott in seiner Größe alles zu tun vermag: selbst Öl könne er unterhalb von Wasser fließen lassen, wenn er das wolle (Buch II, Abschnitte 1,1 und 1,2).328 Dennoch sieht er es als seine Aufgabe an, herauszufinden, was es mit diesen oberen Wassern auf sich hat, da Gott die Welt nach einem logischen und der Natur entsprechenden Muster erschaffen hat; Wasser kann nicht ausschließlich als Demonstration von Gottes Macht über dem Firmament gelagert sein. Augustinus folgert (auch hier wieder in Gegenposition zu anderen Gelehrtenmeinungen, auf die er selbst verweist), dass Gott, der allen Dingen einen angemessen Platz zuweist, einen solchen für das Wasser nicht nur rund um die Erde, sondern auch über dem Firmament geschaffen hat. Dieses verfestigte sich, nachdem zuvor das schwere Wasser vollständig aus der Luft ›herausgeregnet‹ wurde (vgl. Buch II, Abschnitt 1,3). In weiterer Folge stützt er sich auf einen ihm bekannten, aber nicht näher bezeichneten Gelehrten (die älteren Kommentare verweisen auf das Hexameron von Basileus; Hill stellt das aber bereits in Frage329), der ein wenig anders argumentiert: Wolken, Nebel und auch fliegende Vögel zeigen, dass es Dinge gibt, die schwerer als Luft sind und dennoch nicht unter ihr lagern. Folglich muss Wasser stand De Genesis contra Manichaeos, von 393–395 versuchte er sich an einer wörtlichen GenesisAuslegung (De Genesis ad litteram liber unus imperfectus), die jedoch unvollständig blieb. Erst nach seiner Arbeit an den Confessiones kehrte er zur Genesis zurück und arbeitete schließlich 15 Jahre (401–416) an einem vollständigen und später sehr einflussreichen Kommentar De Genesi ad litteram, der nicht allegorisch, sondern wörtlich die Schöpfung (die ersten drei Bücher der Genesis) erläutert. Vgl. dazu Aurelius Augustinus: On Genesis: A Refutation of the Manichees: Unfinished Literal Commentary on Genesis. The Literal Meaning of Genesis. Introductions, translation and notes by Edmund Hill, O. P. Hrsg. von John E. Rotelle, O. S. A. Hyde Park, New York 2002 (The Works of Saint Augustine. A Translation for the 21st Century 1,13), hier S. 13–14; vgl. auch: Oesterle, Hans-Joachim: Augustinus, hl. Kirchenlehrer, lat. Kirchenvater. Werke. In: LexMA Bd. 1, Sp. 1225–1227; vgl. auch St. Augustine: The Literal Meaning of Genesis. Translated and annotated by John Hammond Taylor, S. J. New York, Mahwah 1982 (Ancient Christian Writers 41), hier v. a. die Einführung zum Text auf den Seiten 1–16. 327 In den Abschnitten 2,5 und 3,6 erläutert er die Schichtung der Elemente nach ihren spezifischen Gewichten und bezieht sich dabei auch auf andere Gelehrte, die behaupten, dass Wasser nicht über dem Feuer lagern kann, da, wenn davon ausgegangen wird, dass die schweren Elemente nach unten sinken bis zu dem Platz, an den sie gehören, niemals etwas so Schweres wie Wasser über dem Bereich des reinen Feuers (da nicht einmal die viel leichtere Luft dort oben verweilen kann) sein kann, aus dem das Firmament und die darin befindlichen Sterne gemacht sind (vgl. Augustinus: On Genesis, S. 192–193). 328 Vgl. Augustinus: On Genesis, S. 190–191. 329 Vgl. Augustine: The Literal Meaning of Genesis, S. 232; vgl. auch Augustinus: On Genesis, S. 194.
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in einem gasförmigen Zustand existieren, bei dem die Tropfen so klein sind, dass sie über den feurigen Himmel des Firmaments hinausgelangen können. Von einer soliden Schicht zwischen den beiden Wassern ist hier nicht die Rede (vgl. Abschnitte 4,7 und 4,8). Als Beweis für seine Theorie gibt er den Planeten Saturn an, der als kältester Planet überhaupt gilt und der Natur seines Ortes nach (er lagert bei den Fixsternen und dort regiert das feurige Element) heiß sein sollte. Was ihn kalt macht, ist seine Nähe zu den Wassern über dem Firmament, die ihrer Natur nach kalt sein müssen. Wenn andere Gelehrte behaupten, Wasser könne in Form von Dampf dort oben nicht existieren, dann können sie auch nicht an einen kalten Saturn glauben.330 Augustinus schließt die Abhandlung mit der Beobachtung ab, dass Wasser, in welcher Form auch immer es über dem Firmament existiert, auf jeden Fall dort ist – denn die Autorität Gottes in Form der Bibel übersteigt für ihn alles, was der Mensch sich mit Hilfe seines Verstandes erdenken kann (vgl. Buch II, Abschnitt 5,9). Hugo fragt nach diesen oberen Wassern und stellt – wie viele Gelehrte vor ihm – fest, dass es verwunderlich ist, dass sie nicht auf uns herabregnen. Dass er nach der Unterlage fragt, auf der das Wasser aufliegen soll, geht über simples Bibelwissen hinaus, da dort nur davon die Rede ist, dass Gott das Firmament macht und so die oberen von den unteren Wassern trennt. Erst die Kommentare sprechen von einer festen Schicht, auf der die Wasser oberhalb des Himmels aufliegen müssten. Dass diese Überlegungen zu kontroversen Meinungen führen, lässt sich bereits an Augustinus Kommentar erkennen, der auch nur nach einer sinnvollen Lösung für das Wasser-Dilemma sucht: Er versucht etwas plausibel zu machen und eine ›wissenschaftliche‹ Erklärung für ein Phänomen zu finden, das seiner Natur nach nicht logisch nachvollziehbar sein kann. Hugo kommt auf eine ganz simple Lösung: Des vinde wir genuoc geschriben nâch wân: Swaz man niht wol bewêren kann, Nâch dem sol man niht vil trahten. Swenne man wol bezzer dinc mac ahten: Unseres herren wunder sül wir merken Und mit den unsern gelouben sterken331 (v. 11045–11050).
330 Anm.: Interessanterweise erklären sich viele Gelehrte zu dieser Zeit den kalten Saturn mit der These, dass das Wasser oberhalb des Firmaments aus Eis besteht. 331 »Darüber [über die Wasser oberhalb des Firmaments und über die Ursache, warum sie nicht auf die Menschen herabregnen] finden wir genug aufs Geratewohl Geschriebenes: Was man nicht gut beweisen kann, über das soll man nicht so viel nachdenken. Denn man kann gut
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Diese Verse zeigen, dass Hugo sein Wissen über die Unterlage, auf der das Wasser aufliegt, aus den Texten bezogen haben muss, die er hier als nach wân Geschriebenes bezeichnet. Die Erklärungen, die er dort zu den oberen Wassern gefunden hat, müssen aber wenig befriedigend gewesen sein, wenn sein nunmehriger Rat lautet, dass man das Nachdenken über nicht beweisbare Dinge besser lassen sollte. Er kommt zu einem ähnlichen Schluss wie Augustinus: Wie das Phänomen der oberen Wasser zustande kommt, ist letzten Endes zwar nicht egal (seine Neugierde lässt Hugo die entsprechenden Fragen stellen und nach Informationen suchen), aber aufgrund der Komplexität des Themas erscheint die Beschäftigung damit unbefriedigend, da es keine eindeutige Erklärung dafür gibt. Das bedeutet, dass der Mensch nicht weiter danach trachten soll, verquere Erklärungsmodelle für etwas zu ersinnen, was in sich mit Sicherheit stimmig sein muss – denn ansonsten hätte Gott es ja gar nicht erst erschaffen. Wenn der Verstand des Menschen nicht dazu ausreicht, hier hinter die Kulissen der Schöpfung zu blicken, dann schlägt Hugo vor, die Anstrengungen doch lieber auf etwas auszurichten, das mit Sicherheit Erfolg zeigt: Gottes Wunder sollen bestaunt und als solche erkannt werden, denn diese sind es, die den Glauben der Menschen stärken können.
3.5 Der naturkundliche Exkurs im Renner Wenn Hugo mit Vers 18673 seinen naturkundlichen Exkurs beginnt, kommt er nach einigen hundert Versen auf den Aufbau der Welt zu sprechen. Als Vergleich zieht er das Ei heran: Ein ei hat diu vier elemente In im: sîn schal daz firmamente Bezeichent, diu vil fensterlîn Hât: diu bediutet der sterne schîn; Der schaln vel dünne und linde Bediutet den luft; daz wazzer ich vinde Bezeichent bî dem wîzen dâr under; Der toter in im hât fiures zunder; Der tropfe bezeichent uns die erden (v. 19808–19817)332 auf bessere Dinge Acht geben: Die Wunder unseres Herren sollen wir bemerken und mit ihnen unseren Glauben stärker machen!« 332 »Ein Ei beinhaltet die vier Elemente: Seine Schale steht für das Firmament, die [die Schale] viele kleine Fenster hat, die für den Schein der Sterne stehen; Das Häutchen der Schale, dünn und weich, bedeutet die Luft; Das Wasser finde ich bei dem Weißen darunter bildlich vorgestellt; Der Dotter in ihm [dem Weißen] hat den Zunder des Feuers; Der Tropfen stellt uns die Erde dar.«
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Dass die Welt einem Ei gleicht, ist eine Vorstellung, deren Wurzeln bereits in der griechischen Antike zu finden sind und an die Lehre von den vier Elementen bei Empedokles und Aristoteles anschließt. Neben dem seit 1200 durch die Wiederentdeckung aristotelischen Wissens immer komplizierter werdenden Sphärenmodell stellt das Welt-Ei333 eine populäre, symbolische Variante dar, sich dem Aufbau des Kosmos zu nähern. Während des gesamten Mittelalters wird immer wieder auf diese Darstellung zurückgegriffen: u. a. verweisen Honorius Augustodunensis, Hildegard von Bingen und auch Wilhelm von Conches auf das Welt-Ei-Modell, sowohl in der Mainauer Naturlehre als auch im Buch der Natur Konrads von Megenberg finden sich Erwähnungen.334 Die Zuordnung der einzelnen Teile des Eis zu den vier Elementen ist innerhalb der Beschäftigung mit dem Welt-Ei-Modell aber nicht kohärent, sondern variiert im Laufe der Zeit und auch je nach Autor stark. Die Schale wird entweder dem Firmament oder dem Element des Feuers zugedacht, manchmal wird der Äther erwähnt, manchmal das Wasser oberhalb des Firmaments, in manchen Darstellungen bildet das Tröpfchen im Inneren des Dotters den Mittelpunkt des Modells, bei anderen ist der Dotter selbst das Zentrum. Dadurch, dass die Teile eines Eis lediglich begrenzte Vergleichsmöglichkeiten zulassen, hinkt das Modell und bleibt oft unvollständig. Erst im Laufe der Zeit setzte sich ein vereinfachtes, aber in sich kohärentes Schema durch, in dem den Bestandteilen des Eis die vier Elemente in der bekannten Abfolge zugeordnet werden: Die Schale entspricht dabei dem Feuer, das Häutchen der Luft, das Eiweiß wird dem Wasser gleichgesetzt und der Dotter der Erde.335 333 Dass das Ei aufgrund seiner Bestandteile als Symbol für die Welt gilt, stimmt nach Helmut Gebelein auch damit überein, was die Alchemie über das Ei zu sagen hat. Es enthält drei für die Alchemie sehr wichtige Prinzipien, die für die Veredlung der Dinge vonnöten sind: Der Dotter entspricht dem Sulfur, das Eiweiß dem Merkur und die Schale dem Sal (vgl. Gebelein, Helmut: Alchemistisches im Roman Iwein, Der Ritter mit dem Löwen, von Hartmann von Aue. In: Die Romane von dem Ritter mit dem Löwen. Hrsg. von Xenia von Ertzdorff unter redaktioneller Mitarbeit von Rudolf Schulz. Der tschechische ›Bruncvík‹ sowie das Abenteuer mit dem zweiten Löwen aus dem russischen ›Bruncvik‹ übersetzt von Winfried Baumann. Amsterdam/Antlanta 1994 (Chloe 20), S. 313–330, hier S. 322). Die vier Elemente bezeichnen in ihrer Funktion als Bestandteile der Welt den Stoff, aus dem alles entsteht, aus dem das Leben gemacht ist. Damit ist das Welt-Ei mit seinen elementaren Bestandteilen dem Ei, wie es die Alchemie versteht, sehr ähnlich – beide sehen das Leben in jenem begründet. 334 Vgl. dazu Gade: Wissen – Glaube – Dichtung, S. 50–69, bes. S. 57–60; vgl. auch Vogel, Klaus Anselm: Sphera terrae – das mittelalterliche Bild der Erde und die kosmographische Revolution. Diss. masch. Hamburg 1995, S. 143–152; vgl. auch Dronke, Peter: Fabula. Explorations into the Uses of Myth in Medieval Platonism. Leiden u. a. 1974 (Mittellateinische Studien und Texte 9), hier v. a. S. 79–99 sowie S. 154–166. 335 Vgl. Simek, Rudolf: Altnordische Kosmographie. Studien und Quellen zu Weltbild und Weltbeschreibung in Norwegen und Island vom 12. bis 14. Jahrhundert. Berlin/New York 1990 (Ergän-
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Der Vergleich mit dem Ei bietet seit der Antike die Möglichkeit, auf eine einfache und anschauliche Art und Weise sowohl die Form als auch die Struktur der Welt darzustellen. Dietlinde Gade weist darauf hin, dass der explizit naturkundliche Hintergrund dieser Kosmos-Vorstellung eigen ist und geistliche Anklänge eine Ausnahme bilden.336 Wenn Hugo im Renner das Welt-Ei erwähnt, möchte er damit weder exaktes kosmologisches Wissen vermitteln, noch nutzt er das Bild für eine komplexe geistliche Auslegung – seine Darstellung der Welt als Ei liegt vielmehr irgendwo zwischen diesen beiden Ansprüchen. Er bedient sich des Vergleichs im Zuge seines naturkundlichen Exkurses, in dem es ihm darum geht, die Welt und ihre Bestandteile näher zu beschreiben. Er möchte zeigen, dass etwas so Kleines wie ein Ei die großen Wunder der gesamten Schöpfung beschreiben kann, und lobt dafür Gott, der alles geschaffen hat (vgl. v. 19818–19821). Dabei ist nicht relevant, dass die Zuordnung der einzelnen Ei-Bestandteile zu den vier Elementen nicht der gängigen Abfolge entspricht und Hugo sich sogar innerhalb seines Werkes selbst widerspricht. In der zweiten distinctio, im Zuge der ersten Erwähnung der vier Elemente, erläutert er, dass Luft und Feuer nach oben streben, während Erde und Wasser nach unten sinken. Nun siedelt er das Feuer aber in der Nähe der Erde an, wenn er es mit dem Dotter vergleicht, während er Luft und Wasser mit dem Häutchen und dem Eiweiß in Verbindung bringt. Eine derartige Zuordnung mag diverse Gründe haben: eine Textvorlage, in der sich diese Zuordnung findet, oder – und diese Hypothese halte ich für sehr wahrscheinlich – eine Gleichsetzung, die auf der Ähnlichkeit der Elemente mit den Bestandteilen des Eis fußt. Firmament und Erde als äußerster und innerster Bestandteil der Welt gleichen dieser Logik zufolge ohne Zweifel der Schale und dem Dottertropfen. Wasser als durchsichtiges und flüssiges Element mit dem Eiweiß, der durchsichtigen und flüssigsten Substanz des Eis, in Verbindung zu bringen und den gelben Dotter dem hellen, ›gelben‹ Feuer zuzuweisen, macht durchaus Sinn. Derartige Analogiebildungen sind schlüssig und entsprechen – auch wenn sie nicht mit gängigen Vorstellungen konformgehen – dem Bildungsauftrag Hugos, der sich nicht auf wissenschaftliche Exaktheit, sondern auf moraltheologische Grundlagen und ein gottgefälliges Leben stützt.
zungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 4), S. 32–33; vgl. zu Hildegard von Bingen auch: Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 212–221, bes. S. 216. 336 Als Beispiele für diese Ausnahmen werden Abaelards Schöpfungsbericht und das Lied eines unbekannten Verfassers im Langen Ton Regenbogens erwähnt, das sich durch die Ausschöpfung des symbolischen Potentials des Bildes auszeichnet. Vgl. Gade: Wissen – Glaube – Dichtung, S. 59–60.
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Das Bild mit dem Welt-Ei funktioniert, auch wenn die naturphilosophischen Details ein wenig wackeln, da es Hugo weniger auf ›wissenschaftliche Wahrheit‹ als auf den allegorischen Gehalt des Vergleichs ankommt: Gott in seiner Größe schafft es, etwas so Großes wie die ganze Welt in einem so kleinen, alltäglichen Ding wie einem Ei zu zeigen. Das ist ein Wunder, das Gottes Allmacht vor Augen führt – und genau diese Botschaft ist Hugo wichtig. Obwohl Hugos assoziativer Stil zunächst dazu verleitet, eine Art Willkür in der Aneinanderreihung der Gedanken und der Auswahl der Themen zu vermuten,337 zeigt der Aufbau der Welt-Ei Stelle, dass die Unmittelbarkeit bestimmten Regeln folgt: Er teilt seinen RezipientInnen mit, dass er noch nicht gleich von den Wunderbrunnen der Welt berichten wird, sondern davor noch auf andere Dinge eingehen möchte, die ihm am Herzen liegen (vgl. v. 19800–19802). Schon Lutz Rosenplenter konnte zeigen, dass Hugo in seinem Naturexkurs Teile des Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré als Vorlage benutzt und dessen Kapiteleinteilung übernommen hat. Hugo lehnt sich dabei stark an Thomas an, verweist auf die gleichen Quellen und benutzt teilweise auch die gleichen Motive, die sich bei Konrad von Megenberg, der kurze Zeit später das Liber de natura rerum ins Deutsche überträgt, so nicht finden lassen.338 Konrad verändert die Abfolge der Kapitel, wenn er zwar zunächst noch wie Thomas mit der Beschreibung des menschlichen Körpers beginnt, dann aber auf die Beschreibung des Kosmos, der Planeten, der vier Elemente und der Naturereignisse überleitet – eine Abfolge, die, beginnend beim Menschen als Krone der Schöpfung, vom Allgemeinen ins Spezielle geht. Rosenplenter hebt hervor, dass die letzten fünf Kapitel des Liber de natura rerum, die sich mit dem Kosmos und den Elementen beschäftigen, nicht mehr im Zentrum von Hugos Aufmerksamkeit standen; dennoch ist aber erstaunlich, dass, wenn vom Aufbau der Welt die Rede ist, sowohl bei Thomas339 als auch bei Konrad340 und Hugo die Elemente und das 337 Hugo beschreibt zunächst einen außergewöhnlichen, griechischen Brunnen, spricht dann davon, dass ein Ei im Trinkwasser nach unten sinkt, im Salzwasser aber (einem Wunder gleich) oben schwimmt. Erst danach kommt er darauf zu sprechen, wofür das Ei und seine Bestandteile stehen und wie diese ausgelegt werden können (vgl. v. 19787–19808). 338 Vgl. Rosenplenter: Zitat und Autoritätenberufung, S. 481–484. 339 Thomas Cantimprensis: Liber de Natura Rerum. Edition Princeps Secundum Codices Manuscriptos. Teil 1: Text. Berlin/New York 1973; vgl. Incipit Liber XIX. De Quatuor Elementis, S. 404– 414. Zu Beginn des Buches ist von der rotierenden Bewegung der Welt und deren Aufbau in der Rota-Form, die mit dem Ei verglichen wird, die Rede (vgl. S. 404, v. 1–7). 340 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861; im Kapitel Von dem luft heißt es zum Welt-Ei wie folgt: der luft ist das næhst element nâch dem feur wann dâ des feurs huot ain end hât, dâ hebt sich
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Welt-Ei erwähnt werden und damit in direktem Zusammenhang zu stehen scheinen. Hier offenbart sich eine topische Ordnung von Gedanken. Eine historisch gewachsene Selbstorganisation von Wissen, eine innerhalb des Themenkomplexes logische Anordnung von Inhalten dürfte die Ursache dafür sein. Auch für den Renner ist das der Fall – selbst wenn der Text vom titelprägenden Herumrennen und dem assoziativen Entspinnen von Gedankengängen geprägt ist. Dass ein chaotischer, ungeordneter Zustand der Welt der Normalität entspricht, ist nach Hugo bereits in ihrer Benennung erkennbar: Und daz diu werlt in werren lebet,/ Dâ von ist si werlt genannt341(v. 2250–2251). Die Urstruktur von allem ist das Chaos und der Zustand des werrens, der Wirrnisse, fungiert als Namensgeber der Welt; dieses werren geht auch mit dem Stil Hugos, seinem thematischen und inhaltlichen Mäandern, konform. Hugo kokettiert mit dieser Ungeordnetheit,342 die ein stilistisches Merkmal des Renner darstellt. An vielen Stellen im Text entwickelt sich aber ein systematischer Ablauf der Gedanken, der sich – wie das Beispiel des Welt-Eis zeigt – aus einer Bearbeitung von Vorlagen (wie im Falle des Liber de natura rerum), aber auch durch eine ›Selbstorganisation von Wissenskomplexen‹ ergibt. In der obigen Textstelle schafft die Darstellung der Entwicklung einer kosmologischen Ordnung nicht nur eine Ordnung auf Textebene, sondern auch hinsichtlich der Organisation von Wissen und Wissensvermittlung.
3.6 Schlussfolgerungen Dass Hugo Ende des 13. Jahrhunderts schreibt – und damit in einer Zeit, in der bestimmte naturphilosophische Inhalte bereits stark im Denken der Menschen verankert sind –, kann man in seinem Renner sehr deutlich erkennen. Das ist selbst dann der Fall, wenn die moralisch-heilsgeschichtliche Belehrung seiner LeserInnen im Zentrum seines Textes steht und alles andere diesem Zweck untergeordnet wird. Auch das Wissen über die Natur und die vier Elemente wird nicht im Sinne einer Vermittlung von naturphilosophischen Inhalten eingearbeitet, des luftes huot an und gêt umb und umb daz mer und umb die erden, reht als daz weiz in ainem ai gêt umb den totern (S. 73–74). »Die Luft ist das nächste Element nach dem Feuer, denn wenn der Bereich des Feuers ein Ende hat, hebt sich dort der Bereich der Luft an und geht von allen Seiten um das Meer und um die Erde, so wie das Weiße in einem Ei um den Dotter geht.« 341 »Und dass die Welt in Wirrnissen lebt – daher heißt sie Welt!« 342 Hier nehme ich die Grundstruktur des Renner aus, die sich aus der Eingangsallegorie entwickelt und der der Aufbau des Textes folgt. Auch der formelhafte Gebrauch der Phrase Nu sül wir aber vürbaz rennen / Und unsern herren baz erkennen gilt als strukturgebendes Element, das sich durch den gesamten Text zieht.
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sondern dient als Verweismittel. Es wird meist im Zuge sprachlicher Tropen auf einen bestimmten, dem Wörtlichen überlagerten Sinn hin ausgelegt. Um die intendierten Anspielungen und Verweise nachvollziehen zu können, ist jedoch ein gewisses Vorwissen, ein Wissenshintergrund vonnöten, um zu verstehen, was gemeint ist, wenn z. B. von den oberen Wassern die Rede ist oder wenn Hugo die Planeten mit kirchlichen und adeligen Herrschern vergleicht. Auch die Eigenschaften der Elemente werden nicht genauer erläutert; das Faktum, dass bestimmte Tiere oder bestimme Fortbewegungsarten einer elementaren Sphäre zugeordnet sind, wird nicht einmal thematisiert. Es muss den RezipientInnen klar sein, dass auf einer poetischen Ebene die Gesamtheit der irdischen, sublunaren Welt und damit auch die Gesamtheit der vier Elemente gemeint sind. So werden bestimmte Verwendungen naturphilosophischen Wissens innerhalb der Sprache topisch (z. B. das Welt-Ei und dessen Kontext) und es kann passieren, dass zuvor metaphorisch Gebrauchtes sich seines übertragenen Gehalts entledigt und als simples Lexem in den Sprachgebrauch eingeht343 (z. B. Bilder wie die ›heiße Liebe‹ oder eben die sublunare Welt als Summe ihrer elementaren Bestandteile und Bewohner). Möglich wird das erst durch einen intensiven Gebrauch und durch eine Anverwandlung bildhafter Inhalte, die in einer Gesellschaft so allgegenwärtig sind, dass sie nicht erklärt werden müssen, sondern selbst als Erklärungsgrundlage fungieren. Hier zeichnet sich das, was zuvor als schrittweise Akkumulation der Vorintentionalität bezeichnet wurde, klar auf einer sprachlichen Ebene ab, wenn vorintentionale Hintergründe im Zuge der Anverwandlung verschoben und damit schrittweise erweitert werden. Hugos Natur-Verständnis ist stark mythisch geprägt. Biblische und apokryphe Texte bilden die Basis für seine Auffassung der Welt, des Kosmos und deren Zustandekommen. Es geht nicht um die Präsentation und Vermittlung von naturphilosophischem Wissen, sondern um die moraltheologischen Implikationen der sichtbaren Welt im Sinne der Allegorese.344 Die sichtbare Welt ist dazu da, um die theologisch relevanten Details, die an ihr hängen, zu erklären und deren Auslegung zu erleichtern. Wenn Hugo die Elemente einführt und auf ihre Eigenschaften verweist, hat das wenig bis gar nichts mit einer Vermittlung von Wissen über die Natur zu tun. Aber die Naturphilosophie ermöglicht das Verständnis
343 Dieser Gedanke schließt an Eva Johachs Idee der Metaphernzirkulation an. Vgl. Johach: Metaphernzirkulation. 344 Allegorische Sprache, der er sich in seinem Text bedient, ist bereits bei Augustinus von großer Relevanz (vgl. Augustinus: On Genesis, ab S. 168), da sie es möglich macht, hinter den wörtlichen Gehalt eines Textes zu blicken. Hugo beugt Fehllesungen seiner Lehre dahingehend vor, dass er die Art und Weise, wie sein Text zu verstehen ist, explizit macht und den übertragenen neben den wörtlichen Sinn stellt.
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der dahinterliegenden göttlichen Wahrheit; zugleich wird die Natur auch durch diese legitimiert. Die Eigenschaften der Elemente und deren Bewegungen, die im Sinne zeitgenössischer Naturauffassung korrekt wiedergegeben werden, finden sich daher nicht – wie das u. a. in den Illustrationen Thomasins der Fall ist – um ihrer selbst willen im Text, sondern fungieren als Verweismittel auf die Schöpfung Gottes und werden in einem heilsgeschichtlichen Kontext lesbar gemacht: Z. B. wird die Inferiorität des Menschen mit seiner physischen Gemachtheit aus dem untersten Element (Erde) erklärt, und von Hugo als Aufruf zur Bescheidenheit und zur Orientierung an das Jenseits verstanden. Hugos Belehrung ist von praktischer, lebensweisheitlicher Art und auch die Eingliederung naturphilosophischen Wissens in seinen Text ist dieser belehrenden Funktion verpflichtet. Eine bestimmte Neugierde Hugos, die Fragen in Bezug auf naturphilosophische Themen innerhalb seines Textes aufwirft und seine Belesenheit zeigt, lässt sich aber nicht leugnen. Sie richtet sich auf weit verbreitetes Wissen (z. B. die Seelenlehre oder die oberen Wasser), das in Gelehrtenkreisen im Laufe des 13. Jahrhunderts bereits zu bröckeln beginnt. Hugo, der stark den Lehren des Augustinus anhängt und verständlicherweise mit dem neuen aristotelischen Denken seine Schwierigkeiten haben muss, zeigt durch seine Fragen, dass ihm entweder der sich weiterentwickelnde gelehrte Diskurs bekannt war oder, dass er in seiner Beschäftigung mit den augustinischen Lehren auf Ungereimtheiten stieß. Beides zeugt von einer ›gelehrten Offenheit‹, die zwar durch den beständigen Verweis auf Gott relativiert zu werden scheint, die aber dennoch trotz allem augenfällig ist. Hugo müsste – Gottesbeweis hin oder her – derart schwierige Fragen innerhalb seines Textes, der stark der Autorität Gottes und seiner Allmacht unterstellt ist, nicht stellen, seinen Zweifel an althergebrachten Theorien nicht einmal äußern, gerade weil er ihn später immer wieder unterminiert. Doch dieser Zweifel ist es, der letztlich den Schluss zulässt, dass gelehrte Diskussionen und Entwicklungen indirekt selbst in Texte eindringen, die vordergründig nichts mit diesen zu tun haben. Entweder zeigt Hugo als Teil eines kleinen esoterischen Kreises selbst Interesse an aktuellen naturphilosophischen Themen oder diese Art des Naturverständnisses ist weiter verbreitet als gedacht und durchdringt als populäres Wissen bereits die Gesellschaft.
Zusammenschau didaktische Literatur
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Zusammenschau didaktische Literatur Thomasin von Zerclaere und Hugo von Trimberg Sowohl Thomasins Welscher Gast als auch Hugos Renner haben sich der Belehrung ihres Publikums verschrieben. Diese Belehrung ist in erster Linie eine moralisch-sittliche, die sich der Erkenntnis Gottes verschrieben hat. Die Texte sind sich auf formaler Ebene sehr ähnlich: In gebundener Sprache wird in lose miteinander verwobenen Unterkapiteln beispielhaft über die Tücken des Lebens, die Verlockungen der Untugenden und die moralischen und religiösen Ziele des Menschseins berichtet. Obwohl die Texte in einem Abstand von fast 100 Jahren verfasst wurden, ähneln sie sich in ihrem Belehrungsgestus, in ihrer Intention (den Verfall der Tugenden zu stoppen) und auch in ihrer allgemeinen Erkenntnis, dass Gott als allem zugrundeliegende Instanz in seiner Allmacht unbestritten ist. Es sind aber die Unterschiede zwischen den beiden Texten (und den beiden Autoren), die einen Vergleich letztlich relevant machen: Thomasin als junger Autor, der sowohl auf seine Gelehrsamkeit (er schreibt in einer Fremdsprache und lässt immer wieder gelehrtes Wissen in seinen Text einfließen) als auch auf seine Abfassungsgeschwindigkeit verweist, steht in einem direkten Gegensatz zu einem hochbetagten Hugo, der auf ein langes Leben als Lehrer und Kleriker zurückblicken kann, bereits einige Bücher verfasst hat und nun in seinem Alterswerk von einem Gedanken zum nächsten wandert. Obwohl in beiden Texten die Natur in erster Linie auf die Größe Gottes verweisen soll, zeigt deren Einbettung in den jeweiligen Textverlauf markante Unterschiede in der Verhandlung gelehrten Wissens auf. Hugo, der mit seinem naturkundlichen Exkurs der Beobachtung der Natur einen eigenen Abschnitt widmet, beruft sich auf enzyklopädisches Wissen der Zeit, folgt in seiner Darstellung Thomas von Cantimpré und dessen Liber de natura rerum und damit einer Wissenstradition, die sich pädagogisch-didaktische und moralisch-seelsorgerische Ziele setzte. Deutschsprachige Enzyklopädien dienten – allen voran der Lucidarius – zu Belehrungszwecken im Schulunterricht, sollten sowohl Glauben als auch Wissen vermitteln und vorhandene lateinische Texte näher erläutern. Auch das Buch der Natur als deutsche Bearbeitung des Liber de natura rerum wurde für den Schulunterricht verfasst und im Gegensatz zu seiner Vorlage um allegorische und moralische Auslegungen ergänzt.345 Die Natur steht zwar ganz wesentlich im Zentrum der Auseinandersetzung mit der Welt, dennoch gilt sie in erster Linie als allegorisches Verweismittel. 345 Vgl. Schmitt, Peter: Enzyklopädie, Enzyklopädik. Deutsche Literatur. In: LexMA Bd. 3, Sp. 2035–2036.
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Der Renner Hugos von Trimberg
Im Renner sind einige naturphilosophische Erkenntnisse bereits selbstverständlich (z. B. die vier Elemente als Bild für die Gesamtheit der Welt) und zeigen, wie sich vorintentionale Wissenshintergründe verschieben können. Dass die Elemente und deren Funktion als Bausteine der Welt schon über die Vierzahl lesbar gemacht werden können, ist ein Resultat dieser Verschiebung. Es handelt sich dabei um eine Erweiterung des symbolischen Gehalts der Zahl Vier, die durch eine Erweiterung des vorintentionalen Hintergrunds ermöglicht wird. Hugo nimmt auch auf andere aktuelle Gelehrtendiskurse Bezug (z. B. die Seele des Menschen oder das Wissen zur Genesis). Im Zentrum der Verhandlung steht bei ihm aber eindeutig das mythisch geprägte und auf Gott hin auslegbare Wissen. Hugo geht es nicht um Wissen im Sinne von ›Wissenschaft‹. Er spricht im Gegensatz dazu von der ›Weisheit‹, die man über den Glauben an die Wundertätigkeit Gottes und dessen Repräsentation in der physischen Welt gewinnen kann. Das ist bei Thomasin etwas anders. Auch wenn sich sein Text ebenso auf die moralische Belehrung und den Weg zu Gott konzentriert, sind seine Verweise auf die Natur von anderer Struktur – an manchen Stellen steht ausschließlich die Vermittlung gelehrten Wissens im Vordergrund. Vor allem anhand der beigefügten Illustrationen, die sich mit den vier Elementen, den septem artes liberales und der Kosmologie beschäftigen, wird das deutlich erkennbar. Bei beiden Texten lässt sich die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Denkstil erkennen. Die Auslegung der Natur nach allegorischen Prämissen und die allgegenwärtigen Gottesverweise prägen nicht nur die didaktische Struktur der Texte, sondern auch die allgemeine Auffassung von gelehrtem Wissen. Dass innerhalb dieser Denkstile auch ein klarer Denkzwang herrscht, kommt in beiden Lehrgedichten deutlich zum Vorschein und lässt sich beispielhaft anhand einer Stelle aus dem Welschen Gast auch gut belegen: Thomasin vermutet eine bewegte Erde im Zentrum der Welt, darf das aber nicht als Hypothese in den Raum stellen, da er ansonsten gegen anerkannte gelehrte und theologisch gestützte Thesen anschreiben würde. Das bedeutet, dass die (aus heutiger Sicht) einfache, logische Erklärung nicht sein darf, weswegen eine viel komplexere, aber theologisch saubere Lösung angeboten werden muss. Genau so entstand auch die Epizykeltheorie, die die These von der in der Mitte der Welt ruhenden Erde stützt. Dieser Denkzwang ist so stark, dass er durchaus kreative Problemlösungsstrategien erfordert, um beobachtbare Naturphänomene in ihn einzubetten. Thomasins Erklärung für die Himmelsphänomene ist hierfür ein schönes Beispiel. Der Vergleich des Welschen Gastes mit dem Renner macht es möglich, zwischen der Vermittlung von ›Wissen‹ und ›Weisheit‹ innerhalb didaktischer Literatur zu unterscheiden. Das Wissen als das, was sich der Beschäftigung mit der Naturphilosophie (oder innerhalb der universitären Landschaft des 12. und 13. Jahrhunderts einfach ›Philosophie‹) widmet, steht dabei der Weisheit, die in
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diesem Kontext der Theologie zuzuschreiben ist, entgegen. Der Theologie und damit der Weisheit liegen in ihrem Denken die Heilsgeschichte und der Weg zu Gott zugrunde. Obwohl im 13. Jahrhundert nichts ohne Gott funktioniert, versucht die Philosophie, die ein Weiterdenken der antiken Gelehrsamkeit zum Ziel hat, sich von den theologischen Restriktionen zu befreien. Das zeigt sich u. a. an der Aufarbeitung des aristotelischen Wissens im weiteren Verlauf des Jahrhunderts, welches einerseits in den Aristotelesverboten gipfelt, aber andererseits auch dazu führt, dass Gelehrte wie Albertus Magnus für eine strikte Trennung von Philosophie und Theologie an den Universitäten plädieren.346 Dieser Unterschied im Denken und der Darstellung der Natur kommt in den beiden bearbeiteten didaktischen Texten eindeutig zum Vorschein: Das, was Thomasin anhand der Lehre über die vier Elemente und der angrenzenden Wissensgebiete abhandelt, resultiert aus einer Beschäftigung mit den naturphilosophischen Lehren der Zeit, ist ein Beispiel für seine (jugendliche) Gelehrsamkeit und steht in dieser Hinsicht in einem deutlichen Gegensatz zu den Anliegen Hugos. Dessen Zugang zu den Elementen lässt sich als ›naturkundlich‹ beschreiben und ist einer enzyklopädischen, dem Schulunterricht dienlichen Wissensvermittlung, die explizit auf Gott hin ausgerichtet ist, viel näher.
346 Hier verweise ich auf das Einführungkapitel und die entsprechenden Erläuterungen.
Zur Erzählenden Literatur
4 Wolfram von Eschenbach 4.1 Willehalm Anfang des 13. Jahrhunderts entstehen einige Texte aus der Feder eines sehr selbstbewussten und schlagfertigen Autors, die uns heute als einige der wichtigsten Zeugnisse der mittelhochdeutschen Dichtkunst gelten: Von Wolframs von Eschenbach Werk sind zwar lediglich neun Lieder und drei Romane – zwei davon nicht vollständig – überliefert, dennoch schaffen es diese wenigen Texte, die Forschung seit Lachmanns erster Edition 1833 zu immer wieder neuen Beobachtungen und Analysen anzuregen. Über Wolfram selbst ist nur sehr wenig bekannt, aus seinen Texten geht jedoch hervor, dass er umfassend gebildet gewesen sein musste. Nicht nur das Französisch seiner Vorlagen meisterte er; auch lateinische Quellen und Wissen aus den Bereichen der Medizin, Astrologie, Naturkunde, Theologie oder der Rechtswissenschaft finden sich in seinen Texten.347 Von seinen drei überlieferten Romanen dürfte der Willehalm als Wolframs zweites Werk gleich nach dem Parzival noch vor dem Titurel entstanden sein.348 Als Vorlage dient ihm auch hier wie beim Parzival (dazu mehr weiter unten) ein französischer Text: die Chanson d’Aliscans bildet den Mittelpunkt eines im 12. Jahrhundert in Frankreich entstandenen Epen-Zyklus um Guillaume d’Orange, ein Graf aus Toulouse, der zur Zeit Karls des Großen gelebt hat. Seine Kämpfe gegen die Sarazenen zu Beginn des 9. Jahrhunderts wurden im Laufe der Zeit zu Heldensagen, die auch heute noch in 24 Epen überliefert sind. Die Aliscans ist dabei das meist- und bestüberlieferte Epos um Guillaume d’Orange und heute noch in 13 Handschriften und 2 Fragmen-
347 Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. In: VL Bd. 10, Sp. 1376–1418, hier Sp. 1376– 1377. Auf die umfassende Forschungsliteratur zu den Texten Wolframs kann hier nicht näher eingegangen werden; weitere Literatur zum Willehalm und zum Parzival findet sich aber in der Bibliographie ab S. 257. Die für diese Analyse relevanten Texte werden im Zuge der Verhandlung des Themas entsprechend zitiert. 348 Bumke weist darauf hin, dass mit der Erwähnung der von Pferden zertrampelten Weinberge bei Erfurt (Parz. ab v. 379,18) die Belagerung von Erfurt 1203 gemeint sein könnte. Im Willehalm wird die Krönung Ottos IV. zum Kaiser erwähnt, die 1209 stattfand; überdies spielt Wolfram am Ende des uns erhaltenen Willehalm-Textes auf den Tod von Hermann von Thürigen – seinen mutmaßlichen Auftraggeber – an, der 1217 verstorben ist. Daher wird der Willehalm üblicherweise auf eine Entstehungszeit zwischen 1210 und 1220 datiert. Als jüngster Text gilt der Titurel, in dem Hermann von Thüringen als Totem gedacht wird und der demnach nicht vor 1217 entstanden sein konnte. Vgl. Bumke: VL Bd. 10, Sp. 1378. DOI 10.1515/9783110486605-004
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ten zugänglich.349 Wolframs Bearbeitung des Stoffes wurde zu einem großen Erfolg: Vom Willehalm sind mit 12 vollständigen Handschriften und über 60 Fragmenten fast so viele Textzeugen wie vom Parzival vorhanden, die dessen Popularität bezeugen.350 Dass der Text auch lange nach seiner Entstehung noch populär und einflussreich war, kann Joachim Bumke zeigen, indem er auf die durch den Willehalm inspirierte Literatur (Legendendichtung, Kaiserchronik oder auch die Österreichische Reimchronik) und auf die Weiterdichtungen verweist, die der fragmentarischen Struktur des Romans geschuldet sind.351 Im Willehalm dreht sich alles um die kriegerische Begegnung zwischen Christen und Heiden: Der Text beginnt mit der Schlacht von Alischanz. König Terramer reist in die Provence, um sich an seiner vom Glauben abgefallenen Tochter Arabel zu rächen, die den Markgrafen Willehalm geheiratet hatte, sich taufen ließ und nun den Namen Gyburg trägt. Das christliche Heer wird vernichtend geschlagen, woraufhin Willehalm den mit ihm verschwägerten König Loys um Hilfe bittet, der nach anfänglichen Schwierigkeiten ein Heer unter Willehalms Befehl aussendet. Darunter befindet sich der junge Heide Rennewart – Terramers Sohn – der als Kind entführt und nach Frankreich gebracht wurde. Rennewart will den christlichen Glauben nicht annehmen, muss dafür als Strafe trotz seiner adligen Herkunft als Küchenknecht arbeiten, kämpft aber gegen die Heiden, da er sich von seiner Familie verraten glaubt. Mit der Hilfe Rennewarts und dem Beistand Gottes kann bei der zweiten Schlacht von Alischanz das heidnische Heer besiegt werden. Willehalm zeigt sich als toleranter Herrscher, der die gefangenen Heiden zurück in ihre Heimat reisen lässt. Rennewart bleibt am Tag nach der Schlacht jedoch verschwunden. An dieser Stelle bricht Wolframs Dichtung ab, ohne einen Hinweis auf den Fortgang der Handlung zu geben. Im Folgenden möchte ich anhand einer Detailanalyse aus der ersten Schlacht von Alischanz zeigen, dass ein Fokus auf naturphilosophische Inhalte bestimmte Motive der Erzählung und in weiterer Folge auch einzelne Szenen und Handlungssequenzen in ihrem Aufbau und ihrer Abfolge schlüssig erklären kann. Die Logik innerhalb der Elementenlehre und die Wirkung der einzelnen Elemente 349 Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearbeitet Auflage. Stuttgart/ Weimar 2004, vgl. hier v. a. das Kapitel »Der Stoff und seine Bearbeitung. Geschichte – Legende – Sage – Dichtung«, S. 375–390. 350 Vgl. ebda., S. 390; vgl. zu den Handschriften auch den entsprechenden Eintrag im Handschriftencensus: http://www.handschriftencensus.de/werke/440 (Stand: 2. Februar 2017). 351 Vgl. ebda., S. 395–401. Eine Fortsetzung des Textes schrieb Mitte des 13. Jahrhunderts Ulrich von Türheim mit seinem Rennewart; auch der Vorgeschichte widmete sich dieser unter dem Titel Arabel. Die drei Texte werden in weiterer Folge oft gemeinsam überliefert: In 8 der 12 Handschriften, in denen der Willehalm vollständig überliefert wird, ist er chronologisch kohärent zwischen den beiden Weiterdichtungen platziert.
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aufeinander strukturieren dabei die entsprechenden Passagen. Es zeigt sich, dass eine zunächst in ihrem Aufbau nicht ganz nachvollziehbare Szene durch das Miteinbeziehen naturphilosophischer Grundlagen an Kohärenz gewinnt; darüber hinaus wird auch die Motivation der Erzähllogik klarer.
4.1.1 Liebe, Pfeile und das Feuer352 Im ersten Zweikampf des Willehalm treffen der Heidenkönig Noupatris, der als vorbildlicher, nach Frauenlohn strebender Minneritter geschildert wird, und Vivianz, der junge Neffe des Markgrafen Willehalm, aufeinander. Dass die beiden vorzüglichen Helden im Kampf sterben, wird gleich nach Einführung der Charaktere zum ersten Mal erwähnt und bereits an dieser Stelle bedauert. Vivianz ist der schöne Jüngling, dem noch kein Bart wächst (vgl. 67,15353), Noupatris hingegen ein erfahrener Krieger, der sich nicht nur durch seine Tapferkeit auszeichnet, sondern auch kostbar geschmückt und gut gerüstet in den Kampf reitet: er trägt eine Krone aus Rubin (v. 22,26), einen strahlenden Helm (v. 22,27) und seine Lanze, deren Schaft aus Rohr gemacht wurde, verfügt über eine eiserne Spitze, die scharpf und breit (v. 23,22–23) ist. Diese Lanze zersplittert im anschließenden Zweikampf; sie durchbohrt Schild, Harnisch und Körper des jungen Kontrahenten. Auch Noupatris ereilt dasselbe Schicksal, welches – wie der Erzähler nicht müde wird zu erwähnen – den Tod beider Ritter zur Folge hat. Vivianz erschlägt seinen Gegner mit einem Schwerthieb, der ihm den Schädel spaltet, woraufhin dieser, eines funktionstüchtigen Gehirns beraubt, schlichtweg zu leben vergisst (v. 24,30). In Vivianz’ Bauch steckt die Lanze des Noupatris und an dieser Lanze wurde ein ganz besonderes, sehr kostbares Banner befestigt, das der Minne zu Ehren den Liebesgott Amor abbildet: von gesteine und von golde was rîchiu kost niht vermiten, in die banier was gesniten Amor der minne zêre, 352 Teile der folgenden Analyse zum Willehalm wurden bereits als Aufsatz in einem Sammelband zu den Pöchlarner Heldenliedgesprächen veröffentlicht: Vgl. Wiesinger, Michaela: Wenn die Liebe durch den Magen geht… Vivianz’ Tod durch die Amorlanze in Wolframs von Eschenbach Willehalm im Kontext humoralpathologischen Wissens. In: Mittelalterliche Heldenepik – Literatur der Leidenschaften. Hrsg. von Johannes Keller/Florian Kragl. Wien 2011 (Philologica Germanica 33), S. 203–205. 353 Im Folgenden zitiert nach (auch die Übersetzung der Textstellen wird nach dieser Ausgabe zitiert): Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Hrsg. von Werner Schröder/Dieter Kartschoke. 3., durchgesehene Auflage. Berlin/New York 2003.
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mit eime tiuren gêre, durh daz wan er nâh minnen ranc. (v. 24,2 – 24,7)354
Das Aufeinanderprallen der beiden Ritter wird als so heftig geschildert, die Lanze wird so tief in den Körper von Vivianz hineingetrieben, dass sogar das Banner durch ihn hindurchgeht: Amor der minnen got und des bühse und sîn gêr heten durchvartlîchen kêr in der baniere durch in genomen schiere, daz man si rükeshalben sach, vons küneges hant, der si dâ stach Vivîans durch den lîp; […] sô daz imz geweide ûz der tjost übern satel hienc. der helt die banier dô gevienc und gurtz geweide wider în, als ob in ninder âder sîn von deheinem strîte swaere: der junge lobesbaere hurte vürbaz in den strit. (v. 25,14–26,1)355
Trotz seiner tödlichen Wunde zieht sich Vivianz die Lanze aus dem Leib, bindet sich seine Eingeweide, die nach der Tjost über seinen Sattel hängen, mit dem Amorbanner hoch und stürzt sich zurück in die Schlacht. Dieser Szene wurde in der Forschung bereits einige Aufmerksamkeit geschenkt356. Der Frage nach Funktion und Wesen der Minne sowohl auf Seiten 354 »Mit Edelsteinen und Gold war großer Aufwand getrieben worden; auf das Banner war, der Liebe zu Ehren, Amor mit einem kostbaren Pfeil aufgenäht, weil er für die Minne kämpfte.« 355 »Amor, der Liebesgott, sein Köcher und sein Pfeil hatten durch ihn hindurch mit dem Lanzenbanner ihren Weg genommen, dass man sie auf seinem Rücken sah, geführt von der Hand des Königs, der sie Vivianz durch den Leib gebohrt hatte […] sodass ihm das Eingeweide nach dem Zweikampf über den Sattel hing. Der Held zog die Lanze heraus und band das Eingeweide hoch, als ob ihn kein Nerv vom Kampf schmerzte; der rühmenswerte Jüngling stürzte sich wieder in die Schlacht.« 356 Vgl. u. a. Bumke, Joachim: Wolframs Willehalm. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Blütezeit. Heidelberg 1959; Palgen, Rudolf: Willehalm, Rolandslied und Eneide. In: PBB 44 (1920), S. 191–241; Greenfield, John: Vivianz. An analysis of the Martyr Figure in Wolfram von Eschenbach’s Willehalm and in his Old French Source Material. Erlangen 1991 (Erlanger Studien 95); Miklautsch, Lydia/Greenfield, John: Der Willehalm Wolframs von
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der Christen als auch unter den heidnischen Gegnern wurde nachgegangen. Die Suche nach eventuellen Einflüssen Wolframs führte nicht nur zur französischen Vorlage, der Chanson d’Aliscans, sondern auch zum Eneasroman, dem Rolandslied und zurück zu Wolfram selbst, wenn Anfortas Verletzung aus dem Parzival mit den Wunden des Vivianz verglichen wird. Manfred Kern beschäftigt sich in seinem Aufsatz zu »Amors schneidende[r] Lanze«357 mit dieser Bildallegorie, zeigt die Relevanz der Pervertierung und Dekonstruktion des höfischen Minneideals und der höfischen Minnekonzeption und folgert daraus, dass die Amorallegorie des Eneasromans im Willehalm ihre Zeichenhaftigkeit verliert. Für eine differenzierte Lesart der Szene mit der Amorlanze kann aber unabhängig von jüngsten Forschungsergebnissen eine ganz andere Wissenstradition als Analyseinstrument zu Rate gezogen werden: Es lässt sich eine Brücke zwischen antiker Mythologie, Antikenrezeption und Humoralpathologie nach Galen und Avicenna schlagen, um den Fragen nachzugehen, warum ausgerechnet Amor auf dem Lanzenbanner abgebildet ist und was es mit dem tiuren ger auf sich hat. Die M-Version der Chanson d’Aliscans, die von John Greenfield358 und Gillian M. Humphrey359 als wichtigste Vorlage vergleichend zum Text Wolframs aufbereitet wurde, beginnt genau wie der Willehalm mit dem Neffen des Markgrafen und seiner Verletzung. Vivien ist auf dem Schlachtfeld von Aliscans, mitten im Kampf und sehr schwer verwundet. Die Eingeweide hängen aus seinem Körper, er stopft sie mit beiden Händen zurück in seinen Bauch, bindet sie mit einem Banner, das er von einer Lanze nimmt, wieder hoch und kämpft weiter.360 Es wird nicht erzählt, wie Vivien sich diese Wunde zugezogen hat, und auch kein konkreter Gegner wird genannt. Wolfram übernimmt die Episode mit dem Banner zwar, Eschenbach. Eine Einführung. Berlin u. a. 1998; Fischer, Hubertus: Tod unter Heiden. Gahmuret und Vivianz. In: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Susanne Knaebele. Berlin 2011 (Bayreuther Forum Transit 10), S. 135–147; Jones, Martin H.: Vivianz, der reuige Schächer und das gute Sterben im Willehalm Wolframs von Eschenbach. In: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Ralf Plate. Berlin 2011, S. 118–131. 357 Vgl. Kern, Manfred: Amors schneidende Lanze. Zur Bildallegorie in Willehalm 25,14ff., ihrer Lesbarkeit und ihrer Rezeption im späthöfischen Roman. In: DVJS 73 (1999), H. 4, S. 567–591; vgl. dazu auch: Kern, Manfred: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180–1300. Amsterdam 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), S. 450–452. 358 Vgl. Greenfield: Vivianz. 359 Vgl. Humphreys, Gillian Mary: Wolfram von Eschenbach’s Willehalm. Kinship and Terramer. A comparison with the M version of Aliscans. Göppingen 1999 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 657). 360 Vgl. ebda., S. 13.
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sie erhält aber aufgrund weiterer Handlungselemente und der Verbindung mit dem Liebesgott eine völlig andere Bedeutungsdimension. Amor oder auch Eros, ausgestattet mit Pfeil und Bogen oder Fackel, ist seit der Antike eine der ambivalentesten Figuren des mythologischen Kosmos. Als Sohn oder Begleiter der Venus hat er über Menschen und auch Götter Macht, wird von Hesiod sogar als Urgewalt bezeichnet und tritt über lange Zeit sowohl als destruktive Potenz als auch als lebens- und liebesstiftendes Prinzip auf.361 Das frühe Christentum nimmt Amor hauptsächlich als eine Art Dämon der körperlich-sexuellen Liebe wahr. Auch Augustinus verbindet den Liebesgott mit irdischer Begierde und dem Bösen, Isidor von Sevilla spricht von ihm als »Teufel der Hurerei«.362 Erst im höfischen Roman erfolgt eine Umdeutung, in der Amor das richtige Liebesverhalten repräsentiert und die erotische Liebe als hohe, veredelte Daseinsmacht wahrgenommen wird.363 Amors Attribute schildert zum ersten Mal Ovid, wenn er in seinen Metamorphosen von Apollo und Daphne erzählt. In dieser Episode wird von der Liebe als saeva Cupidinis ira364 (liber primus v. 453), als ›wilder Zorn des Cupido‹ gesprochen und Amor als mächtiger aber bösartiger Gott dargestellt, der willentlich und wissentlich Leid und Leidenschaft über seine Opfer bringt. Über dessen Waffen schreibt Ovid wie folgt: […] eque sagittifera prompsit duo tela pharetra diversorum operum: fugat hoc, facit illud amorem; quod facit, auratum est et cuspide fulget acuta, quod fugat, obtusum est et habet sub harundine plumbum. (liber primus v. 468–471) Aus dem Köcher, der die Pfeile barg, nahm er [Amor] zwei Geschosse von entgegengesetzter Wirkung: Das eine vertreibt, das andere erregt Liebe. Der Pfeil, der Liebe erregt, ist vergoldet und hat eine blinkende, scharfe Spitze; der sie vertreibt, ist stumpf und trägt Blei unter dem Schaft.365
361 Vgl. Eros. In: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart/Weimar 2008 (Der neue Pauly, Supplemente 5), S. 262–275, hier S. 262–263; vgl. auch Eros. In: Moormann, Eric M./ Uitterhoeve, Wilfried: Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik. Üs. von Marinus Pütz. Stuttgart 1995 (Kröners Taschenausgabe 468), S. 202–267. 362 Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption, S. 226, Sp. 2. 363 Vgl. ebda., S. 267, Sp. 1; vgl. dazu auch: Schnell, Rüdiger: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern/München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), hier vor allem die Kapitel zur Entstehung der Liebe in der Eneide und in Wolframs Parzival sowie zu den natürlichen Ursachen der Liebe ab S. 212. 364 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Üs. u. hrsg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2010 (Universal-Bibliothek 1360). 365 Ebda., S. 40–41.
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Im Eneasroman nimmt Heinrich von Veldeke diese Attribute auf und drückt Amor noch ein weiteres in die Hand: Nicht nur einen goldenen Pfeil, der Liebe und auch Mühen verursacht (vgl. v. 9924–9925), und einen Pfeil aus Blei, der für Liebe unempfänglich macht (vgl. ab v. 9930), führt er mit sich, sondern auch eine Büchse, in der sich eine Salbe befindet, die die Wunden der Minne wieder heilen kann (vgl. v. 9944–9947). Das körperliche Leid, dem die Liebe zugrunde liegt, die Minnekrankheit, zeigt sich – wie bereits im Kapitel zu Thomasins Welschem Gast näher erläutert366 – an ganz konkreten Symptomen wie körperlicher Unruhe, Appetit- und Schlaflosigkeit, einem raschen Wechsel der Gesichtsfarbe und einem Anstieg der Körpertemperatur. Vor allem die erhöhte Körpertemperatur galt als wichtigstes Indiz für die Minnekrankheit, da der oder die Verliebte an einem Überschuss gelber Galle im Körper litt,367 die mit dem Element des Feuers in Verbindung gebracht wurde. Nicht ohne Grund hantieren Venus und Amor mit dem Liebesfeuer und der Fackel, ›entfachen‹ Leidenschaft und lassen Menschen füreinander ›entflammen‹. Nicht erst in den mittelhochdeutschen Texten ist Amor als ambivalente Figur gezeichnet. Schon in der Antike kann er Freude durch erfüllte Liebe und Leiden durch nicht erwiderte Liebe verursachen; er ist aber auch dazu imstande, das von ihm initiierte Leid wieder zu heilen. Im Willehalm wird dieser Bildbereich erweitert, wenn nicht nur ein Pfeil, sondern mit dem Amorbanner auf der Lanze gleich der ganze Gott durch Vivianz hindurchgeht und ihn in weiterer Folge tödlich verletzt. Hier ist Amor nicht mehr ambivalent gezeichnet, sondern eindeutig gefährlich und sogar todbringend. Dass Wolfram den antiken Liebesgöttern nicht traute, zeigt sich schon im zweiten Minne-Exkurs des Parzival, der sich mit der rehten minne auseinandersetzt: Manec mîn meister sprichet sô, daz Amor unt Cupîdô unt der zweier muoter Venûs den liuten minne gebn alsus, 366 Vgl. hierzu das Kapitel »Das Feuer und die Liebe« zu Thomasins von Zerclaere Der Welsche Gast in dieser Arbeit. 367 Nicht nur Hitze zeichnet einen Liebeskranken aus, sondern auch der Gemütszustand der Melancholie. Das liegt daran, dass es nicht nur den cholerischen Typ des Liebenden, sondern auch den melancholischen Liebeskranken gibt. Hier wird ein Überschuss an schwarzer Galle als verursachendes Prinzip gesehen, die den Körper austrocknet und ihn zeitgleich erkalten lässt. Die beiden Typen der Liebeskrankheit lassen sich daher in die Bereiche der Melancholie und der Manie einordnen, die beide mit den zugehörigen Gallensäften in Verbindung stehen. Die Liebesschilderungen in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters spielen mit beiden Motiven – in dieser Arbeit steht die Liebe als Manie im Vordergrund. Vgl. dazu Wack: Lovesickness, S. 3–30.
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mit geschôze unt mit fiure. diu minne ist ungehiure. […] reht minne ist wâriu triuwe. (Parz. 532, 1–10)368
Die Liebe, die durch die Götter und ihre Attribute – seien es nun Amor oder Cupido mit ihren Pfeilen oder Venus mit ihrer brennenden Fackel – verursacht wird, zeichnet sich für Wolfram durch ihre Ungeheuerlichkeit und damit durch eine inhärente Unaufrichtigkeit aus. Wahre Liebe muss für ihn von innen kommen und aus einer aufrichtigen Treue und Zuneigung zu einer Person erwachsen – um Termini der Elementenlehre zu gebrauchen: Das Feuer der Liebe, das in einem Menschen entfacht werden kann, ist für ihn nur dann gut, wenn es von innen kommt und nicht durch ein Feuer von außen entzündet wird. Obwohl Wolframs Texte auf ganz bestimmten Minnekonzeptionen basieren369, sind die Themenkomplexe Minne und maßvolles Handeln bzw. Minne und Abenteuer oft nicht miteinander vereinbar. Eine Liebe, die sich nicht in die Gesellschaft eingliedern lässt, bezeichnet Danielle Buschinger als wân-minne370, als gefährliche Liebe. Sie raubt dem Betroffenen den Verstand und ist durch unbeständige, wilde Gefühle charakterisiert, die durch Venus und Amor verursacht werden. Durch die Auserzählung solcher Liebesbeziehungen übt Wolfram Kritik an der hohen Minne und verweist auf die physischen und psychischen Gefah-
368 »Etliche von den Gelehrten, zu deren Füßen ich gesessen habe, behaupten, daß Amor und Cupîdô und die Mutter von den zweien, Venûs, die Liebe mit Schießen und mit Feuer zu den Menschen brächten: Diese Art Liebe ist ein gewalttätiges und unheimliches Ding. […] Rechte Liebe ist wahre Treue.« Der Parzival Wolframs wird hier und in weitere Folge zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Üs. von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin/New York 1998. 369 ›Minne‹ und ›Aventiure‹ werden als die zwei Eckpfeiler der Dichtungen Wolframs betrachtet, nach denen sich die Handlungen ausrichten. Vgl. Riemer, Waldemar/Egert, Eugene: Deconstructing an Established Ideal: Wolfram von Eschenbach’s Criticism of the Minne/Aventiure System in Parzival. In: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 35 (1992), S. 65–86, hier v. a. S. 66–68; vgl. auch Wolf, Norbert: Die Minne als Strukturelement im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Euphorion 64 (1970), S. 59–74, hier S. 61, 63 u. 74. 370 Buschinger geht von drei Liebeskonzepten aus, die sich in Wolframs Texten beobachten lassen: erstens die bereits erwähnte wân-minne, die sich durch Anbetung der Minnedame ohne Aussicht auf Erfüllung auszeichnet; zweitens spricht sie von minne als Vorstufe der Ehe, wenn die Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruht und drittens existiert minne auch als Inhalt der Ehe. Vgl. Buschinger, Danielle: Der Gralsroman. Die Minne-Idee in Wolframs Parzival. In: Studien zur deutschen Literatur des Mittealters. Greifswald 1995 (Wodan 53), S. 109–112.
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ren des Minnedienstes.371 Das Problem der Unvereinbarkeit von Ritterlichkeit und Minnedienst spitzt sich im Parzival am Beispiel der Gralsgesellschaft zu. Auf der Gralsburg wird ein Liebesverbot ausgesprochen, das bei einer Übertretung zu schwerwiegenden Problemen führt. Dass auch hier wieder die Liebe, die von außen kommt, die größte Gefahr darstellt, passt in das Wolframsche Minnebild. Anfortas, der im eigentlich verbotenen Liebesdienst – noch dazu kämpft er im Namen von Orgelûse, deren spätere Verbindung mit Gâwân von Buschinger explizit und eindeutig als wân-minne eingestuft wird372 – so schwer am Unterleib verwundet wird, dass er nur noch mit Hilfe des Grals am Leben erhalten werden kann, hat sich als Kampfschrei das Wort »Amor« gewählt und sich damit eindeutig einer ungeheuerlichen, gefährlichen Liebe verschrieben. Diesen Kampfschrei bezeichnet Peter H. Salus als »not proper« und folgert daraus, dass deshalb auch Anfortas Interesse an der Liebe nicht angemessen ist. Nicht die Liebe selbst (das, was Wolfram als rehte minne bezeichnet) leitet ihn, sondern der fervor, die Leidenschaft, die Lust an der körperlichen Liebe, deren allegorischer Patron in dieser Szene eindeutig als Amor zu identifizieren ist.373 Das Ergebnis dieser Liebe ist ein Leben im Leid, in einer dauerhaften Krankheit, die durch keine Heilkunst der Welt auszumerzen ist. Dass die Wunde des Anfortas ausgerechnet durch einen Speerstich in die Lenden verursacht wird, verbindet diese Episode nicht nur mit dem Tod von Vivianz, sondern zeigt Wolframs fast sarkastische Adaption des antiken Mythos, wenn der Gott der Leidenschaft (des fervor) diese ausgerechnet durch einen Stich in den Unterleib und damit durch Impotenz stillt. Der goldene Pfeil, der in der Welt des Mythos über das Auge, das als Tor zum Herz galt,374 in dieses eindrang, wurde von Ovid mit der Eigenschaft ›schneidend‹ – im Original acutus, »scharf, spitz« – versehen. Lavinia trifft im Eneasroman ein scharpfer strâle (v. 10037) und auch die Lanze des Noupatris, an der das Amorbanner befestigt wurde, wird explizit als scharpf bezeichnet. Die Schärfe bzw. Spitzheit des Amorpfeils liegt bereits in der antiken Philosophie begründet. Im Timaios verbindet Platon375 – dem griechischen Prinzip der Kalokagathia folgend – das Gute mit dem Schönen und koppelt die vier Elemente an das Weltall als das, 371 Vgl. ebda., S. 111; vgl. auch Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 164 – hier geht Bumke darauf ein, dass die Minne-Exkurse im Parzival in erster Linie dazu da sind, um in Form von Zwiegesprächen mit Frau Minne Kritik am Konzept der höfischen Minne und auch an der Minne im Allgemeinen zu üben. 372 Vgl. Buschinger: Der Gralsroman, S. 110. 373 Vgl. Salus, Peter H.: Amor was sîn krîe (Parzival IX, 478,30). In: Philological Quarterly 46 (1967), S. 557–560. 374 Vgl. Bein, Thomas: Liebe und Erotik im Mittelalter. Graz 2003, S. 12. 375 Vgl. allgemein zu Platons Timaios die entsprechenden Passagen im Kapitel zu Thomasins Der Welsche Gast.
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was alles in sich trägt, mit den schönsten, weil regelmäßigsten geometrischen Figuren: den platonischen Körpern. Die Zuordnung zu den einzelnen Elementen erfolgt nach genau erläuterten Kriterien und setzt die Eigenschaften der Elemente mit denen der Körper gleich. Die Erde, als unbeweglichste Form, entspricht dem Würfel (vgl. 55D–56A). Das Feuer ist durch seine außerordentliche Beweglichkeit charakterisiert und muss daher dem kleinsten und spitzesten Körper ähneln, der am einfachsten zerlegbar ist, über die wenigsten Grundflächen verfügt und deshalb auch wenig wiegt, was wiederum die Flüchtigkeit und Leichtigkeit, das Nach-Oben-Streben des Feuers erklärt (vgl. 56A,B). Im Körper verfügt das Feuer aufgrund seiner Wärme über trennende und schneidende Eigenschaften (vgl. 61E), die für die Verdauung, den Stoffwechsel und die Atmung wichtig sind. Platon erläutert, dass das Feuer aufgrund seiner Beschaffenheit Speisen zu zerschneiden vermag (vgl. 80D) und aufgrund seiner Winzigkeit und seiner Schärfe sich durch jede Art von Materie hindurch schneiden und durch nichts aufgehalten werden kann (vgl. 78A). Diese Argumentation nimmt später Galen auf und koppelt die Eigenheiten des Feuers an den Saft der gelben Galle. Wenn nun Amor mit Pfeilen auf seine Opfer schießt und möchte, dass sie in Liebe entflammen, korreliert bereits die Form seiner Waffe, deren Spitze und Schärfe, mit dem Element des Feuers und wiederum mit dem Körpersaft der gelben Galle, der bei einem Treffer angeregt werden soll. Die Flüchtigkeit, das leichte Durchdringen von Materie, das dem Feuer zugeschrieben wird, muss auch dem Gegenstand anhaften, der die Liebe verursacht – denn schließlich soll der Pfeil ja über die Augen bis ins Herz vordringen und dort das Feuer der Liebe in Gang bringen. Der zweite ovidianische Pfeil, der für die Liebe unempfänglich macht, wird in den Metamorphosen als stumpf bezeichnet und ist damit völlig gegensätzlich charakterisiert. Im Zentrum aller Überlegungen, die die Eigenschaften der Liebeswaffe mit den Auswirkungen der Liebe verbinden, steht das Feuer. Die kulturgeschichtliche Relevanz der Sprachbilder und deren implizite Verbindung zum Element des Feuers wird noch Anfang des 16. Jahrhunderts deutlich, wenn der deutsche Kupferstecher Virgil Solis nicht nur Ovids Metamorphosen mit Illustrationen versieht, sondern auch seine Version der vier Temperamente bildlich darstellt. Das Temperament des Cholerikers ist dabei mit einer brennenden Fackel auf wild züngelnden Flammen sitzend dargestellt. Neben ihr befindet sich der Vogel Phönix, der Die von mir hier zitierten Textstellen sind zwar nicht in der Übersetzung des Chalcidius enthalten, spielen aber für das medizinische Wissen der Zeit eine Rolle, da Galen sich ja mit Platon auseinandergesetzt hatte und sich in seinem Kommentar in den überlieferten Textpassagen immer wieder auf die für meine Überlegungen relevanten Stellen bezieht (vgl. dazu: Larrain, Carlos J.: Galens Kommentar zu Platons Timaios. Stuttgart 1992 (Beiträge zur Altertumskunde 29)).
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in der Tradition des Physiologus eng mit dem Feuer in Verbindung steht, da er im Alter in Flammen aufgeht, um dann aus seiner Asche wiedergeboren zu werden. Zu ihren Füßen lagert ein Löwe, der als eines der drei Feuerzeichen auf die Astrologie verweist. Das interessanteste Detail des gesamten Stiches stellt aber die Bildmitte dar bzw. das, was die cholerische Dame in ihrer linken Hand hält: ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz, das in dieser Wissenstradition sowohl auf das Entfachen der Liebe, als auch auf deren Folgen verweisen kann.
4.1.2 Vivianz und das Banner Vivianz wird als sehr junger Mann dargestellt, der sich trotz oder vielmehr wegen seiner Jugend tapfer in den Kampf stürzt. Das Lebensalter der Jugend entspricht in seiner Heißblütigkeit dem Element des Feuers und dem Saft der gelben Galle. Ein junger, körperlich heißer Mann bietet damit den idealen Nährboden für die Minnekrankheit und ist aufgrund seiner körperlichen Prädisposition am ehesten gefährdet, ihr zu erliegen.376 Im Willehalm rammt der Minneritter Noupatris Vivianz seine Lanze und das Amorbanner in den Leib, auf dem der Liebesgott mit seinen Attributen abgebildet ist. Die Amorlanze verursacht eine äußert schwerwiegende physische Wunde, bei der nicht nur der goldene Pfeil sein Opfer trifft, sondern – und hier ist der hyperbolische Gebrauch der Amorallegorie gut zu erkennen – der gesamte Liebesgott mitsamt seinem Pfeil und der Salbenbüchse, also mit Liebeswaffe und Heilmittel, durch einen Körper wandert und am Rücken wieder austritt. Vivianz zieht sich die Lanze aus dem Leib, bindet mit dem Banner, das eben noch in seinem Körper steckte, seine Eingeweide zurück in den Bauch und wirft sich wieder in den Kampf. Joachim Bumke sagt über diese Stelle: »Mit einer ans Wunderbare grenzenden Wendung fängt er sich noch einmal und verschwindet wieder aus dem Blick.«377 Das, was Bumke als Wunderbares bezeichnet, kann auch anders verstanden werden: Jenes Banner, welches, an die Lanze geheftet, an den Verletzungen in Vivianz Körper Anteil hat, ist auch das Banner, mit dem der junge Ritter seine Wunden vorübergehend versorgt. Es ist sowohl verursachendes als auch heilendes Element innerhalb der Logik des Textes und nicht nur bildhaft, sondern auch funktional eng an die Figur des Amor gekoppelt, der ja auf dem Banner mit Pfeil und Büchse ausgestattet ist und mit Hilfe seiner Attribute Liebeswunden schlagen, aber auch wieder heilen kann, wenn sie mit dem goldenen Pfeil verursacht werden – und im Willehalm trägt Amor den tiuren ger mit sich. 376 Vgl. Crohns: Liebe als ›Krankheit‹, S. 83. 377 Bumke: Wolframs Willehalm, S. 19.
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Da in der Chanson d’Aliscans von all diesen Dingen nicht die Rede ist und sich Vivien dort einfach mit irgendeinem Banner die heraushängenden Eingeweide zurück in den Körper gürtet, scheint die doppelte Verwendung des Amorbanners bei Wolfram signifikant dafür zu sein, dass seine Amorallegorie nicht nur im Sinne Kerns auf das Sichtbarmachen des pervertierten Minnekonzepts378 hin lesbar ist, sondern textintern auch auf die mythologischen und die daran gekoppelten naturphilosophischen Hintergründe verweisen kann. Der Handlungsablauf ist dahingehend stringent und auch der neuerliche Kampfgeist von Vivianz hat in dieser Denkweise nichts Wunderbares an sich, sondern resultiert aus einem einfachen Erhitzen des Körpers aufgrund von stark fließender gelber Galle, die kühn und kampflustig macht und damit die physischen Folgen der Liebe auf der humoralpathologischen Ebene mit der Kampfeslust verbindet. Das Banner – also Amors Salbe – heilt dieser Logik folgend den durch die Minne verletzten Vivianz zunächst von seinen Wunden. Im weiteren Textverlauf stellt sich natürlich die Frage, warum die Heilung nicht nachhaltig funktioniert. Die Antwort hierfür findet sich wenig überraschend auch in den Elementen wieder. Der Zweikampf von Noupatris und Vivianz sowie dessen erste Folgen sind zunächst von Bildern geprägt, die in ihrer übertragenen Bedeutung immer wieder auf das Feuer verweisen. Vivianz ist der feurige junge Held, den der spitze Pfeil Amors trifft, der wiederum den feurigen Körpersaft der gelben Galle anregt und damit Kühnheit und Tapferkeit schürt. Direkt nach dem Zweikampf mit Noupatris ist bei Vivianz trotz seiner Wunde zunächst noch nichts von einer Schwäche zu bemerken. Erst einige hundert Verse später berichtet Wolfram von einer Begebenheit, die nun wirklich an Vivianz Kräften zehrt: Vivianz wird während des Kampfes abgedrängt und kommt im Zuge dessen mit etwas in Berührung, das ihn erheblich zu schwächen scheint: dem Element Wasser. gein dem wazzer Larkant von dem velde Alyschans wart der fürste Vivîans gehurt in diu rivier. nu was diu tiwer banier gerucket von den wunden, diu drüber was gebunden: daz kreftelôst in sêre […] (v. 40,20–40,28)379
378 Vgl. Kern: Amors schneidende Lanze. 379 »Auf den Larkant zu von der Ebene von Alischanz aus wurde Fürst Vivianz in die Flußniederung abgedrängt. Dabei wurde das kostbare Fahnentuch von der Wunde gelöst, über die es gebunden worden war. Das schwächte ihn entscheidend […]«
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Vivianz wird in der Version von Wolfram in die Flussniederung des Larkant abgedrängt und dort passiert etwas, das auf humoralpathologischer Ebene in genauem Gegensatz zu all dem zuvor Erläuterten steht: Er kommt mit Wasser in Berührung, das in seinen Primäreigenschaften ›kalt‹ und ›nass‹ dem Element des Feuers genau entgegengesetzt ist. Steht Feuer für die Männlichkeit, die Jugend und das cholerische Temperament, so ist Wasser mit dem Weiblichen, dem Alter und dem Phlegmatischen verbunden.380 Amors Pfeil und seine physischen Auswirkungen stehen in direkter Verbindung zum Saft der gelben Galle und damit zum Element des Feuers. Wenn nun Wasser das Banner, das zuvor als Heilmittel für Vivianz Bauchwunde gelesen wurde, durchtränkt und schwer macht, kann es sich am Körper nicht mehr gut halten und es passiert das, was nicht passieren dürfte: Das Amorbanner löst sich von der Wunde und macht Vivianz schwach. Das Wasser löscht an dieser Stelle in der Geschichte all die Feuer, von denen bei der Tjost mit Noupatris die Rede war und der Liebesgott Amor verlässt wirklich das Geschehen. Weder Noupatris noch Amor schwächen Vivianz. Es wird zwar immer wieder darauf hingewiesen, dass die Folgen der Wunde tödlich sein werden, doch Vivianz Kampfgeist entbrennt nach der Verletzung wie zuvor und seine Kraft scheint ungemindert. Erst das Wasser des Flusses Larkant kreftelôst Vivianz sêre und nimmt in zweierlei Hinsicht Einfluss auf ihn: Erstens macht es den Stoff des Banners schwer, verrückt es nach unten und hebt damit die Wirkung als remedia amoris, also als reales Wundpflaster auf. Zweitens kühlt das kalte und nasse Wasser auf humoralpathologischer Ebene Vivianz Körper ab, der bis dahin durch das Feuer der gelben Galle erhitzt wurde, und drosselt damit die durch Hitze frei gesetzte Energie. Vivianz wird schwach. Das Banner selbst wird in der Larkant-Episode als tiur bezeichnet, wobei aber offen bleibt, ob Wolfram damit auf dessen aufwändige Machart oder seine Funktion als temporäres Wundpflaster für Vivianz anspielt. Ein Verweis auf den tiuren ger Amors, der sich auf dem Stück Stoff befindet, ist natürlich auch nicht ganz auszuschließen, aber in Hinblick auf die Tatsache, dass im gesamten Willehalm das Wort tiur und seine Variationen über dreißig Mal zu finden sind, eher unwahrscheinlich. In der Chanson d’Aliscans gibt es diese Anspielungen nicht. Die gesamte Wasser-Szene fehlt, es wird lediglich einmal gesagt, dass Vivien beim Anblick fließenden Wassers seine Tapferkeit wiederfindet381, doch einen Zusammenhang mit Viviens Wunde sucht man vergeblich. Das Banner, dem Wolfram so viel Aufmerksamkeit schenkt, ist in der Chanson ein beliebiges, wird nur ein einziges Mal 380 Vgl. u. a. bei Schöner: Viererschema, S. 92. 381 Vgl. Humphreys: Wolfram von Eschenbach’s Willehalm, S. 14.
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erwähnt und dient einfach dazu, Viviens Wunde zu bedecken. Das Abdrängen in den Fluss und das Abwaschen des Wundverbands sind Ergänzungen Wolframs, die sich aber in Hinblick auf die Kohärenz innerhalb der Amorallegorie und deren Verbindung zu den erwähnten humoralpathologischen Elementen als relevant und sinnstiftend erweisen. Dass die vier Elemente bei Wolfram nicht nur im Willehalm eine wichtige Rolle spielen, lässt sich auch am Parzival zeigen, der im Folgenden am Beispiel zweier Frauenfiguren und deren Verbindung zur Elementenlehre besprochen wird. Sowohl der Weg zu den Damen im Text als auch die Motivation der Charaktere im Verlauf der Handlung zeichnen sich durch naturphilosophische Bezüge aus, deren Analyse im nächsten Kapitel im Mittelpunkt stehen wird.
4.2 Parzival Der Parzival war und ist ein Dauerbrenner. 87 Einträge listet der Handschriftencensus in seiner Datenbank auf, 16 Manuskripte überliefern das vollständige Werk.382 Die Überlieferung beginnt bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und damit schon einige wenige Jahre nach der Abfassung, die auf ca. 1200 datiert wird.383 Schon im 13. Jahrhundert war der Parzival ein großer Erfolg. Kein anderer erzählender Text wurde zu dieser Zeit so oft abgeschrieben oder von anderen Autoren zitiert. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts verfasst Albrecht seinen Jüngeren Titurel und liefert damit auch die Fortsetzung dieser beliebten Geschichte.384 Im 16. Jahrhundert wird es kurz ein wenig still um den Text, doch ab dem 18. Jahrhundert erlebt der Parzival-Stoff eine Renaissance. Der mittelhochdeutsche Text wird schließlich 1833 von Karl Lachmann bearbeitet und herausgegeben.385 Seither erfreut sich der Roman nicht nur bei seinen LeserInnen wieder großer Beliebtheit, auch Arbeiten zu und über Parzvial finden sich mittlerweile in einer kaum überschaubaren Größenordnung.386 Ein eigenständiger Forschungsbereich 382 Vgl. http://www.handschriftencensus.de/werke/437 (Stand: 2. Februar 2017). 383 Vgl. Bumke: VL Bd. 10, Sp. 1381. 384 Vgl. Huschenbett, Dietrich: Albrecht, Dichter des Jüngeren Titurel. In: VL Bd. 1, Sp. 158–173, hier Sp. 160. 385 Vgl. Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 255–257. Zur modernen Bearbeitung des ParzivalStoffes vgl. S. 257. 386 Aufgrund der vielen Arbeiten zum Parzival verzichte ich auf einen allgemeinen Forschungsüberblick und verweise auf die Bibliographien von Joachim Bumke: Vgl. Bumke: Wolfram von Eschenbach, sowie vgl. Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (Hermaea N. F. 94). Ich verweise ebenso auf die Bibliographie am Ende dieser Arbeit ab S. 257.
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widmet sich überdies den naturphilosophischen Hintergründen des Textes und setzt sich hauptsächlich mit der Medizin, dem astrologischen/astronomischen und mit dem enzyklopädischen Wissen der Zeit auseinander.387 Die rege Beschäftigung mit der Naturwissenschaft in Wolframs Werk und die Frage nach dem Bildungshorizont des Autors führten zu der Ansicht, dass Wolfram nicht nur Französisch, sondern auch Latein konnte und die entsprechenden Quellen auch in den Parzival einarbeitete.388 Aufgrund der Tatsache, dass die umfangreiche Forschung zum Parzival bereits viele der naturphilosophischen Bezüge, die mich im Zuge meiner Arbeit interessieren, aufgegriffen und analysiert hat, möchte ich mich im Anschluss an die Analyse der Vivianz-Szene im Willehalm an einem einzelnen Element, dem Wasser, festhalten, um zu zeigen, dass dieses nicht nur für den Ablauf bestimmter Szenen und Handlungsstränge, sondern auch im Kontext einzelner Figuren ein wesentliches Interpretationsmerkmal darstellt.389
387 Zur Medizin im Parzival vgl. u. a. Haage, Bernhard Dietrich: Medizin im Parzival Wolframs von Eschenbach in ihrem Bezug zur ›Schule von Chartres‹. Ein Forschungsbericht. In: Begegnungen mit Literaturen. Festschrift für Carola L. Gottzmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Petra Hörner. Berlin 2008, S. 173–197; vgl. auch Haage, Bernhard Dietrich: Studien zur Heilkunde im Parzival Wolframs von Eschenbach. Göppingen 1992 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 565). Haage bemüht sich auch um eine historische Aufarbeitung der Medizin, die über lateinische und französische Quellen (hier geht er auch auf das medizinische Wissen in literarischen Texten ein) im Parzival Niederschlag fand. Darüber hinaus stellt er ein umfangreiches und umfassendes Literaturverzeichnis zum Bereich der Medizingeschichte und zur Medizin im Parzival zur Verfügung. Mit den naturphilosophischen Einflüssen Wolframs in Hinblick auf deren poetologische Relevanz beschäftigt sich Arthur Groos; eine zentrale Stelle in seinem Buch ist der Heilversuch an Anfortas und dessen astrologische und medizinische Hintergründe. Vgl. Groos, Arthur: Romancing the Grail. Genre, Science, and Quest in Wolfram’s Parzival. Ithaca/London 1995. Mit der Astrologie und der Astronomie im Parzival setzt sich Wilhelm Deinert auseinander: Deinert, Wilhelm: Ritter und Kosmos im Parzival. Eine Untersuchung der Sternenkunde Wolframs von Eschenbach. München 1960. Zur Relevanz der Gensis und der Schöpfung im Parzival vgl. Schwietering, Julius: Natur und Art. In: ZfdA 91 (1961/1962), S. 108–137. Zum Wissen und der Wissenschaftskritik im Parzival allgemein vgl. auch: Bumke: Die Blutstropfen im Schnee, hier besonders das Kapitel »Wissenschaftskritik im 12. Jahrhundert« ab S. 135. 388 Vgl. dazu u. a. Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 5–9; vgl. auch Bumke: VL Bd. 10, Sp. 1377. 389 Ich werden im Folgenden darauf verzichten, die Handlung von Wolframs Parzival zusammenzufassen, da sie hinreichend bekannt sein dürfte. Ansonsten verweise ich auf die Zusammenfassung der 16 Bücher von Joachim Bumke in: Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 47–127.
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4.2.1 Die Weiblichkeit im Wasser – der Weg zu Condwiramurs Nachdem Parzival seinen Lehrer Gurnemanz, der ihm in kürzester Zeit höfisches Benehmen und die Grundzüge des Rittertums nähergebracht hat, verlässt, führt ihn sein Weg zunächst nach Pelrapeire und damit zu seiner künftigen Frau Condwiramurs (vgl. ab v. 179,13). In der französischen Vorlage gestaltet sich Percevals Weg ebenso: Nachdem er von Gornemant de Goort seine Erziehung erhalten hat (vgl. ab v. 1305390), verlässt er diesen, um seine Mutter zu suchen, findet aber den Weg zu Blancheflor. Bei Chrétien gestaltet sich der Weg zur künftigen Gattin relativ unproblematisch; in neun kurzen Versen wird er bestritten,391 bevor der Erzähler die Episode um die Belagerung und Befreiung der Burg durch Perceval schildert. Bei Wolfram sieht dieser Weg ein wenig anders aus. Parzival reitet gedankenverloren von Gurnemanz weg und überlässt seinem Pferd die Führung. Unwirtlich ist die Gegend, und viele Berge und Täler, die ihm unbekannt sind, durchschreitet er, bis er an ein hohes Gebirge kommt, das ihn in das Königreich Brôbarz führt. Während seines Ritts spricht der Erzähler auch davon, dass es eine Redensart gäbe, die besage, dass swer irre rite/daz der den slegel fünde (v. 180,10–11), dass wer umher irrt am leichtesten den – Peter Knecht übersetzt mit – goldenen Schlegel findet, sprich, Glück hat, und deutet damit schon an, dass Parzival sich auf dem richtigen Weg befindet. Das Herumirren findet sein Ende392, als es Abend 390 Im Folgenden werden der französische Primärtext und die Übersetzung zitiert nach: Chrétien de Troyes: Der Percevalroman (Le Conte du Graal). Üs. u. eingeleitet von Monica SchöerBeinhauser. München: 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 23). 391 LI noviuas chevaliers s’an part / De son oste, et mout li est tart / Que a sa mere venir puisse / Et que sainne et vive la truisse, / Si se met es forez soutainnes, / Que assez miuas qu’as terres plainnes / Es forez se reconoissoit, / Et chevauche tant que il voit / Un chastel fort et bien seant; (v. 1699–1707) (»Der neu geschaffene Ritter scheidet von seinem Gastgeber, und es verlangt ihn sehr, zu seiner Mutter zu gelangen und sie gesund und lebendig anzutreffen, so begibt er sich in die einsamen Wälder, denn viel besser als auf dem flachen Land, kannte er sich in den Wäldern aus, und er reitet so lange, bis er eine befestigte und gut gelegene Burg erblickt;«). 392 Zur Funktion des ›Herumirrens‹ für den Text vgl. Glaser, Andrea: Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2004 (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur 1888), hier v. a. das Kapitel »Bewegungsräume: Bewegung von Figuren« ab S. 129. Glaser kommt zu dem Schluss, dass die Art und Weise, in der Parzival sich bewegt, eng mit seinen Lebensstationen verbunden ist und seine Orientierung im Raum mit seiner inneren Orientierung zusammenhängt. Vgl. dazu auch: Wynn, Marianne: Wolfram’s Parzival. On the Genesis of its Poetry. Second revised Edition. Frankfurt a. M. 2002 (Mikrokosmos 9), hier das Kapitel »Scenery and Chivalrous Journeys« ab S. 83, in dem Wynn zu dem Ergebnis gelangt, dass die Veränderung der Landschaft mit der Stimmung des Protagonisten einhergeht. Vgl. dazu auch einen Aufsatz von Wynn, in dem sie genauer auf die Geographie und deren Relevanz für den Text eingeht:
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wird, und Parzival zu einem reißenden Wasser gelangt, dessen Tosen von Fels zu Fels hallt (vgl. ab v. 180,21). Wieder Herr seines Weges, reitet er zu diesem Wasser hinab und folgt ihm, bis er die Stadt Pelrapeire sieht. Wolfram erzählt weiter: daz wazzer fuor nâch polze siten,/die wol gevidert unt gesniten/sint, sô si armbruste span/mit senewen swanke trîbet dan.393 (v. 180,29– 181,2). Dass Wolfram hier nochmals auf das Wasser und dessen Beschaffenheit zu sprechen kommt, es näher beschreibt, wirkt auf den ersten Blick etwas überflüssig. Der Fokus darauf ist aber in zweierlei Hinsicht in Hinblick auf die Gestaltung der Erzählung relevant: Erstens steuert das Wasser den Blick der RezipientInnen, führt verbindend von einer Episode zur nächsten und spielt – so meine These, die im Folgenden auch anhand anderer Frauenfiguren weiter ausgeführt wird – aufgrund seiner elementaren Zuordnung zum Weiblichen auch indirekt auf den inhaltlichen Schwerpunkt der nächsten Episode und auf die in ihr relevanten Figuren an. Zweitens vergleicht Wolfram die Schnelligkeit des Wassers mit dem Bolzen einer Armbrust und schafft damit eine bildhafte Verbindung zu seinem Bogengleichnis, in dem er darüber Auskunft gibt, wie er seine Geschichte erzählt.394 Im Bogengleichnis (vgl. ab v. 241,8)395 erläutert Wolfram, dass man auf unterschiedliche Art und Weise erzählen kann: Es gibt eine Erzählweise, die einem Wynn, Marianne: Geography and Fact in Wolfram von Eschenbach’s Parzival. In: The Modern Language Review 56 (1961), H. 1, S. 28–43. 393 Die neuhochdeutsche Übersetzung der Textstellen folgt der von Peter Knecht: »Das Wasser fuhr dahin, wie es die Bolzen tun, wenn sie recht befiedert und geschnitzt die Spannung der Ambrust mit losgeschnellter Sehne schießen läßt.« 394 Auf diesen Zusammenhang – im Speziellen auf den Pfeil – geht bereits Bernd Schirok ein; vgl. Schirok, Bernd: diu senewe ist ein bîspel. Zu Wolframs Bogengleichnis. In: ZfdA 115 (1986), S. 21–36, hier S. 27. 395 Zum Bogengleichnis und dessen poetologischer Relevanz gibt es natürlich einiges an Forschungsliteratur. Ich führe sowohl die für mich wichtigsten als auch die jüngst erschienenen Arbeiten zum Bogengleichnis an: vgl. Kaminski, Nicola: ich sage die senewen âne bogen. Wolframs Bogengleichnis, slehte gelesen. In: DVJS 77 (2003), S. 16–44 – Kaminski bemüht sich um eine außergewöhnliche Lesart des Bogengleichnisses, die den Erstrezipienten des Parzival, der nicht im Text vor- und zurückblättert, in den Vordergrund rückt. Sie geht dabei von der Sehne ohne Bogen aus, die dann nur noch eine Schnur ist und somit die Aussage ad absurdum führt (vgl. S. 23). Die weiteren Verse liest sie als Dialog mit den RezipientInnen, mit denen diese Unmöglichkeit des Erzählens verhandelt wird. Vgl. auch Rausch, Thomas: Die Dekonstruktion der Fiktion. Beobachtungen zu den poetologischen Passagen in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: ZfdPh 119 (2000), S. 46–74, zum Bogengleichnis ab S. 660; vgl. Kern, Peter: ich sage die senewen âne bogen. Zur Reflexion über die Erzählweise im Parzival. In: Wolfram Studien XVII. Wolfram von Eschenbach – Bilanzen und Perspektiven. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs/Eckart C. Lutz/Klaus Ridder. Berlin 2002, S. 46–62 – Kern, der das Bogengleichnis auf die Gattung des Romans umlegt, verweist auf den Seiten 49–50 und den entsprechenden Fußnoten 5–17 auf Forschungsergebnisse und weiterführende Literatur; vgl. Groos, Arthur: Wolfram von Eschenbach’s
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Bogen gleicht, die krumm und über Umwege zum Endpunkt der Geschichte führt (so wie das auch im Prolog mit dem Hasen-Gleichnis von ihm dargestellt wurde (vgl. v. 1,19)); auch kann man wie die gespannte Sehne dieses Bogens erzählen, die ohne Umschweife und Ablenkungen zum Ziel kommt. Der Kniff dieses Gleichnisses besteht jedoch darin, dass Wolfram darauf hinweist, dass, wenn man den Bogen verwenden möchte, man die gerade Sehne spannen müsse, die dann aber eben die Form des Bogens annimmt und somit dem ›krummen‹ Erzählen gleicht. Dieses Sehnen-Spannen gibt dem Pfeil, der damit abschossen wird, erst seine Schnelligkeit und »[p]lötzlich ist die erzählte Geschichte nicht mehr die Sehne, sondern der Pfeil, den der Erzähler den Zuhörern zuschießt.«396 Hinter dem scheinbar ›Krummen‹, dem Komplexen, versteckt sich ein zielgerichtetes Erzählen, das komplex erscheint, um der Geschichte die nötige Spannung zu verleihen. Die Erzählung selbst schießt entgegen aller Annahmen wie ein Pfeil geradlinig zum Ziel. Geht man davon aus, dass beim Ritt nach Pelrapeire und dem Vergleich des Wassers mit dem Pfeil einer Armbrust aufgrund der Ähnlichkeit der verwendeten Sprachbilder auf das Bogengleichnis angespielt wird, ergeben sich daraus aufschlussreiche Beobachtungen: Das Bogengleichnis als Sinnbild für eine bestimmte Erzählweise gibt Auskunft über die Machart des Textes, erklärt, wie eine Geschichte erzählt wird und in weiterer Folge auch, wie sich Handlung organisiert. Wird das Wasser auf dem Weg nach Pelrapeire als der Pfeil verstanden, der eine Erzählung vorantreibt, übernimmt der Fluss in dieser Szene eine handlungssteuernde Funktion. So schnell wie ein Pfeil treibt das Wasser die Geschichte voran und führt den Protagonisten zum nächsten Schauplatz. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden – und hier komme ich auf den ersten Punkt meiner Überlegungen zurück –, dass auch Bow Metaphor and the Narrative Technique of Parzival. In: MLN 87, Nr. 3 German Issue (1972), S. 391–408. – Groos hebt hervor, dass das Bogengleichnis »[…] seems to characterize the relationship between the natural or expected order of events and their displacement by Wolfram to a later place in the romance. The image of the ›krumpheit‹ of a bow made ›sleht‹ by the bending of the string follows the claim of some rhetorical handbooks that the artistic arrangement does not pervert the natural order of a text, but actually makes what is crooked straight.” (S. 395); vgl. auch Willson, Bernard: Wolframs Bogengleichnis. In: ZfdA 91 (1961/62), S. 56–63 – Willson weist in seinen Erläuterungen darauf hin, dass das Krumme, von dem Wolfram redet, vor allen Dingen im Bogengleichnis und im Prolog zum Ausdruck kommt und schlägt in weiterer Folge mit einer Umstellung der Verse eine verständlichere und meines Erachtens eingängigere Lesart des Bogengleichnisses vor: » […] auch wenn man eine Sehne zeitweise zer biuge erdenen muß, kann sie nie richtig krump werden. Auf ähnliche Weise kann ein Bogen, auch in gespanntem Zustand nie sleht sein.« Dumme Leute verstünden das nicht, weswegen sie der Pfeil – die Erzählung selbst – nicht erreicht, wenn Wolfram damit auf sie schießt (hier S. 62); vgl. auch Schröder, Werner J.: Zum Bogengleichnis Wolframs, Parz. 241,1–30. In: PBB 78 (1956), S. 453–457. 396 Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 205.
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das Wasser in dieser Episode von Bedeutung ist. Nicht umsonst scheint dieser Wegweiser gewählt zu sein; schon die Intensität, mit der der Fluss sich seinen Weg durch das Tal bahnt, verweist auf mehr als nur auf die Geradlinigkeit des Erzählens. Wie eine Naturgewalt, wie die Kraft dieses reißenden Baches, zieht es Parzival zu seinem Ziel, an dem eine Frau steht, die noch dazu seine künftige Partnerin werden soll. Das Wasser, das im System der Elemente dem weiblichen Bereich entspricht, fungiert an dieser Stelle als Verweismittel: Es ›führt‹ den Helden zur Frau und steht metonymisch für die Weiblichkeit bzw. für die Begegnung mit ihr. Damit verfügt dieser Fluss auch auf einer semantischen Ebene über handlungssteuernde Funktion. Der Ritt Parzivals nach Pelrapeire ist aber nicht die einzige Episode, bei der Wasser diese handlungssteuernden und ›vorausdeutenden‹ Funktionen übernimmt. Obwohl ich im Folgenden die Begegnungen der beiden Haupthelden mit ihren jeweiligen Minnedamen aus dem Parzival herausgreifen und näher analysieren werde, soll dennoch darauf verwiesen werden, dass weitere Wasserläufe und -motive im Zusammenhang mit der Einführung weiblicher Charaktere zu finden sind. Exemplarisch dafür möchte ich kurz darauf eingehen, wie Gahmuret seinen beiden Ehefrauen begegnet: Gahmuret trifft auf seine erste Frau Belakane, indem ihn ein Sturm übers Meer direkt zu ihrer Burg trägt: daz mer warf in mit sturme dar,/sô daz er kûme iedoch genas./gein der künigîn palas/kom er gesigelt in die habe397 (v. 16,20–23). Gahmuret begibt sich auf der Suche nach Abenteuer in den Orient und sein erster Weg bringt ihn gleich vor den Palast der Königin. Auch hier sind das Wasser, der Weg des Helden zur Frau und die erste Erwähnung der Königin eng miteinander verbunden. Vielmehr noch: Das wilde Wasser des Meeres ›wirft‹ Gahrmuret vor Belakanes Füße; der Weg wird als ein unausweichlicher geschildert. Das stürmische Wasser, das ihn zu seiner künftigen Frau bringt, lässt sich auch mit der Liebe der beiden zueinander vergleichen, die ebenso abrupt und stürmisch vonstattengeht. Bereits bei ihrem ersten Anblick verliebt sich Belakane schmerzvoll (hôhe pîn (v. 23,23)) in Gahmurt, die ihn sogleich (entgegen ihrer sonstigen Art, wie der Erzähler nicht zu erwähnen vergisst) in ihr Herz schließt und ihn um einen Kuss bittet (vgl. v. 23,22–30). Diese Liebe wird von Gahmuret ebenso emotional erwidert (vgl. v. 35,2–4). Auch bei der ersten Erwähnung von Herzeloyde findet sich die Verbindung von Wasser und Weiblichkeit; der Weg zu dieser Königin könnte aber kaum konträrer gestaltet sein: Nicht Gahmuret selbst folgt dem Wasser, sondern einer seiner
397 »Das Meer hatte ihn mit Sturm dorthingeworfen, so daß er kaum, doch immerhin, am Leben geblieben war.«
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Knappen, der in seinem Auftrag die Königin ausspioniert und damit in dieser Episode stellvertretend für jenen steht: Ein schifprücke ûf einem plân gieng übr einen wazzers trân, mit einem tor beslozzen. der knappe unverdrozzen tetez ûf, als im ze muote was. dar ob stuont der palas: ouch saz diu küneginne zen venstern dar inne […]398 (v. 60,27–61,4)
Der Knappe muss, um die Dame erspähen zu können, durch ein verschlossenes Tor, das auf einer Brücke über einem Wasserlauf zu finden ist. Dass es nicht Gahmuret ist, der diesen Weg bestreitet, deutet bereits an dieser Stelle auf seine Uninvolviertheit hin, die sich im weiteren Verlauf des Textes auch darin zeigt, dass ein Richter ihn dazu zwingen muss, Herzeloyde zu heiraten (vgl. v. 95,27). Das Motiv des Spähers, das auf eine gewisse Verstohlenheit hindeutet, die auch mit dem verschlossenen Tor über dem Wasserlauf korrespondiert, geht mit Herzeloydes Handeln konform, die nicht über den Weg der aufrichtigen, gegenseitigen Liebe ihren Mann gewinnt. Diese beiden Passagen zeigen, dass Wasser nicht nur vorausdeutend auf die einzuführenden Frauenfiguren hin ausgelegt werden kann, sondern darüber hinaus auch die Beschaffenheit des Wassers bzw. der Weg, der mit dem Wasser in Verbindung steht, Auskunft über den Charakter der Dame und die Beziehung der beiden Eheleute zueinander gibt.399
4.2.2 Die Weiblichkeit im Wasser – Orgelûse Auch bei der Begegnung von Gâwân mit Orgelûse lässt sich Ähnliches beobachten. Bei Chrétien trifft Gauvain auf einer gut befestigten Burg400 eine junge Dame, die ihr Antlitz in einem Spiegel betrachtet: 398 »Da war nun ein weites Feld, und über einen Wasserlauf ging eine Schiffbrücke mit einem Tor davor. Das Tat der Knappe ohne Scheu auf, weil es ihm so gefiel. Da oben stand der Palas, und darin saß die Königin […] bei den Fenstern.« 399 Nach der Verbindung zwischen Wasser und Weiblichkeit kann auch bei der Einführung des Gralskönigs in die Geschichte gefragt werden: Anfortas, der im Liebesdienst für Orgelûse von einem vergifteten Speer im Unterleib verletzt wurde, hält sich, als Parzival ihn zum ersten Mal sieht, auf einem See auf und wird von ihm auch als Fischer oder Fischerkönig erkannt. 400 Gauvain betritt die Burg zwar über eine Brücke, dennoch ist von Wasser hier nirgends die Rede (vgl. v. 6672–6673).
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Et quant il fu venuz amont, El plus fort de tot le chastel Desoz un orme an un prael Trova une pucele sole, Qui miroit sa face et sa gole, Qui plus estoit blance que nois. (v. 6674–6679)401
Inmitten eines locus amoenus trifft Gauvain auf la male pucele, das böse Mädchen, das zwar als wunderschön beschrieben wird, ihren Namen aber aufgrund ihres zweifelhaften Charakters erhält. Die Figur der male pucele ist im Bereich des Märchenhaften und Wunderbaren angesiedelt und weist feenhafte Züge auf.402 Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Fee (aber auch Nymphen oder Sirenen) in ihrer Weiblichkeit stark mit dem Element des Wassers verbunden ist.403 Wolfram, der diese Züge der Anderswelt aus seiner Vorlage aufgreift, bringt die Verbindung 401 »Und als er oben angekommen war, im wehrhaftesten Teil der ganzen Burg, traf er auf einer Wiese unter einer Ulme ein junges Mädchen alleine an, welches sein Gesicht und seinen Hals, die weißer waren als Schnee, im Spiegel betrachtete.« 402 Vgl. Zimmermann, Gisela: Untersuchungen zur Orgelûseepisode in Wolfram von Eschenbachs Parzival. In: Euphorion 66 (1972), S. 128–150, hier S. 128f.; vgl. v. a. aber Döffinger-Lange, Edelmuthe: Der Gauvain-Teil in Chrétiens Conte du Graal. Forschungsbericht und Episodenkommentar. Heidelberg 1998 (Studia Romanica 95), ab S. 208 – Döffinger-Lange (die in Anm. 73–77 auf die Forschungsliteratur zu diesem Themenkomplex verweist) bemerkt, dass das Fräulein dem ›morganischen‹ Typus der Fee angehört, die ihre menschlichen Liebhaber ins Verderben stürzen möchte. Sie versucht den Feenbegriff auch für moderne Text andwendbar zu machen und gibt Charakteren wie jenem der male pucele die Bezeichnung femme fatale. Zum Märchenhaften und Wunderbaren bei Chrétien und Wolfram vgl. Neugart, Isolde: Wolfram, Chrétien und das Märchen. Erzählstrukturen und Erzählweisen in der Gawan-Handlung. Frankfurt a. M. u. a. 1996 (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur 1571). 403 Die Feen der arthurischen Tradition gehören dem Stoffkreis der elbischen Feen an, die als erotische Wesen geschildert werden und ihre Wurzeln in Naturmythen haben. Im Bereich der Artusliteratur ist die Fee eine Nymphe. Der bretonische Stoffkreis, aus dem sich diese Vorstellungen bedienen, lokalisiert diese Feen in Unterwasserpalästen, Brunnen oder im Meer. Diese Wassersymbolik ist es auch, die die Feengestalten der arthurischen Lais und Romane prägt. Vgl. Wolfzettel, Friedrich: Fee, Feenland. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke. 13 Bde. Bd. 4: [Ent. – Fors.]. Berlin/New York 1984, Sp. 945–964, hier Sp. 950–951; zur Feenfigur in der mittelalterlichen Literatur an sich vgl. Harf-Lancer, Laurence: Les Fées au Moyen Âge. Morgane et Mélusine. La naissance des fées. Genève 1984 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 8) – Harf-Lancer weist in ihrem Einführungskapitel zu den Liebes- und Meeresfeen bereits darauf hin, dass seit der säkularen Dichtung des Mittelalters, die Verbindung zwischen den Feen und dem Wasser topisch geworden ist: »Le thème folklorique des fées marraines se développe comme un véritable topos dans la littérature vernaculaire, tout en restant solidement ancré dans l’imaginaire collectif.« (S. 27).
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zwischen dem Wasser und dem Bereich des Wunderbaren bereits bei der Begegnung von Gâwân und Orgelûse zum Ausdruck404: Gâwân die strâze al ûf hin reit: da ersaher niderhalben sîn freude und sîns herzen pîn. ein brunne ûzem velse schôz: dâ vander, des in niht verdrôz, ein alsô clâre frouwen, dier gerne muose schouwen, aller wîbes varwe ein bêâ flûrs.405 (v. 508,14–21)
Bevor Gâwân Orgelûse erblickt, fällt sein Blick auf eine Quelle, die dort aus dem Felsen hervorbricht.406 Wieder steuert zunächst das Wasser den Blick sowohl des Protagonisten als auch der RezipientInnen. Die Vorwegnahme des Weiblichen durch das Wasser ist in dieser Episode jedoch unmittelbarer. Das Wasser führt Gâwân nicht – wie das bei Condwiramurs oder auch den Frauen Gahmurets der Fall ist – gleich einem Weg zu Orgelûse, sondern ist noch viel enger mit der Dame verbunden. Der Erzähler spricht in den Versen 508,15–16 davon, dass Gâwân nun sein ganzes Glück und zeitgleich all sein Leid erblicken wird, woraufhin nun sinnvollerweise und erzähltechnisch kohärent die Erwähnung der Dame folgen sollte. Entgegen dieser Erwartung fällt der Blick des Erzählers aber zunächst auf eine Quelle, die er in ihrer Schönheit erst zwei Verse später mit der von Orgelûse vergleicht. Hier deutet zwar auch, wie bei Parzivals Ritt nach Pelrapeire, das Wasser in seinen weiblich geprägten Elementareigenschaften auf die Begegnung mit der Frau hin, die Bildbereiche überlagern sich in der Gâwân-Orgelûse-Episode aber noch stärker, fallen durch die Blickführung des Erzählers sogar in eins: Quelle und Dame werden zum Synonym.
404 Vgl. Dieterich, Barbara S.: Das venushafte Erscheinungsbild der Orgelûse in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 41 (2000), S. 9–65, hier S. 18. Dieterich spricht davon, dass Wolfram anders als Chrétien Motive der keltischen Fee mit Motiven der Quelle verarbeitet. 405 »Gâwân ritt die Straße bis ganz hinauf: Da sah er unter sich am Hang das Glück und seines Herzens Leiden. Eine Quelle sprang aus dem Felsen; da sah er, und das gefiel ihm gar nicht übel, eine Dame, die schimmerte so schön, daß er sie mit Verlangen anschauen mußte: la belle fleur über aller Frauen Pracht.« 406 Marion E. Gibbs zitiert in ihrer Analyse der Frauenfiguren des Parzival zwar diese Stelle, weist aber lediglich darauf hin, dass es fast so erscheint, als wäre eine Frau wie in einem schönen Bild in der prächtigen Natur dargestellt. Vgl. Gibbs, Marion E.: Wîplîchez wîbes reht. A Study of the Women Characters in The Works of Wolfram von Eschenbach. Duquesne 1972 (Duquesne Studies. Philological Series 15), S. 197–214, hier v. a. S. 200.
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Es ist die einzige Stelle im Text, an der das passiert. Hier muss über die allgemeine Verbindung von Wasser und Weiblichkeit hinausgegangen werden, um die Passage wirklich zu verstehen. Vielmehr kommt eine engere Verwobenheit der beiden Bereiche zum Tragen, die durch die bereits bei Chrétien angelegte und bei Wolfram deutlich hervorgehobene Feenhaftigkeit der Orgelûse erklärbar wird. Die Verschränkung der Orgelûse-Figur mit dem Bildbereich des Wassers ist es schließlich auch, die ein zentrales Abenteuer des Textes und einen damit einhergehenden und in der Forschung noch weitgehend ungeklärten Sinneswandel der Dame verständlich machen soll. Doch werfen wir zunächst einen Blick auf Chrétiens Schilderung dieses Abenteuers der Gefährlichen Furt: Das böse Mädchen407 belügt Gauvain und erzählt ihm, dass ein Ritter den Sprung über die Gefährliche Furt regelmäßig ausgeführt hätte, um vom anderen Ufer Blumen zu holen (v. 8481–8484). Gauvain rüstet sich zum Sprung, als la male pucele ihm sagt, er wäre sowieso nicht mutig genug, diesen tatsächlich zu wagen: Tantost jusqu’a la rive amainne Mes sire Gauvains son cheval Et voit l’eve parfonde aval Et la rive contremont droite; Mes la riviere estoit estroite. Qant mes sire Gauvains la voit, Si dit que ses chevaus avoit Maint greignor fosse tressailli Et panse qu’il avoit oï Dire et conter an plusors leus Que cil qui del Gué Perilleus Porroit passer l’eve parfonde Qu’il avroit tot le pris del monde. Lors s’esloingne de la riviere Et vient toz les granz sauz arriere Por saillir outre, mes il faut, Qu’il ne prist mie bien son saut, Einz sailli droit anmi le gué.408 (v. 8498–8515) 407 Die Motivation der male pucele ist Liebeskummer: Sie möchte Gauvain gegen sich erzürnen, da sie hofft, von ihm getötet zu werden, wenn dieser die Lüge durchschaut. Sie möchte ihrem Leben ein Ende setzen, das nach dem Tod ihres Geliebten nur noch wenig Sinn für sie hat (vgl. ab v. 8927). 408 »Sogleich führt mein Herr Gauvain sein Pferd bis an das Ufer heran und erblickt unten das tiefe Gewässer und das steil aufragende Ufer; der Fluß war jedoch schmal. Als mein Herr Gauvain ihn sieht, sagt er, daß sein Pferd manchen breiteren Graben übersprungen habe, und er denkt [daran], daß er an mehreren Orten hatte sagen und erzählen hören, daß derjenige, der das tiefe Wasser der Gefährlichen Furt zu überqueren vermöchte, den größten Ruhm der Welt erlangen würde. Darauf entfernt er sich von dem Fluß und kommt in scharfem Galopp zurück, um darüber
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Alleine sein Pferd, das weiterschwimmt, bis es Boden unter den Füßen hat, rettet Gauvain in einem letzten Kraftakt durch einen Sprung ans Ufer vor dem sicheren Tod. Am anderen Ufer trifft Gauvain auf Guiromelant, der ihm von der Verschlagenheit der male pucele berichtet und ihm mitteilt, dass noch nie zuvor irgendein Ritter den Sprung über die Gefährliche Furt geschafft hätte (vgl. ab v. 8597). Guiromelant will Gauvain für den Rückweg einen einfacheren Übergang über den Fluss zeigen, den er beschreibt als: »so reißend und so tief, daß kein lebendes Wesen dort hinübergelangen, noch bis zum anderen Ufer springen kann«409 (v. 8904–8906). Doch Gauvain lehnt ab, da er vor dem Fräulein nicht als feige dastehen will und springt nun geradewegs über die Furt hinüber und damit zu ihr zurück: Lors point et ses chevaus sailli/Outre l’eve delivremant;/Que point n’i ot d’anconbremant410 (v. 8914–8916). Die Furt stellt kein tödliches Hindernis mehr dar und die Dame, die ihn am anderen Ufer empfängt, bittet Gauvain plötzlich um Verzeihung für die ihm angetane Pein.411 Wolfram übernimmt diese Episode im Parzival, verändert jedoch einige für die Interpretation des Textes wesentliche Kleinigkeiten in seiner Geschichte: Orgelûse verlangt von Gâwân, dass er um ihrer Liebe willen einen Kranz vom Zweig eines Baumes pflückt (v. 600,20–24), der von dem Ritter bewacht wird, der ihren Geliebten getötet hat (vgl. ab v. 601,25). Um dorthin zu gelangen, muss Gâwân den Sprung über Li gweiz prelljûs wagen. Orgelûse wünscht ihm zwar noch, dass Gott ihn behüte, mahnt ihn aber zur Eile (v. 602,1–6), woraufhin Gâwân losreitet: er rehôrte eins dræten wazzers val: daz het durchbrochen wît ein tal, tief, ungeverteclîche. Gâwân der ellens rîche nam daz ors mit den sporn: ez treip der degen wol geborn, daz ez mit zwein füezen trat
hinwegzusetzen, aber er verfehlt es, denn er hatte seinen Sprung nicht gut genommen, vielmehr stürzte er geradewegs mitten in die Furt.« 409 Im Französischen Original lautet diese Stelle wie folgt: Ceste eve est si roide et parfonde / Que passer n’i puet riens qui vive / Ne saillir jusqu’a l’autre rive. (v. 8904–8906) 410 »Darauf gibt er die Sporen und sein Pferd sprang glatt über das Wasser hinüber; denn es gab dort keinerlei Behinderung.« 411 Diesen Wandel der male pucele begründet Zimmermann: Orgelûseepisode, S. 129 wie folgt: »Während er das Abenteuer unter höchster Lebensgefahr meistert, sieht sie dann aber ein, daß es falsch war, die Ritter zu verachten und für ihre Zwecke zu mißbrauchen. Bei Gauvains Rückkehr hofft sie nun, daß er sie richten wird, d.h. aber wohl wiederum, sie hofft, daß er sie tötet: Jetzt will sie sterben, um allen Frauen ein abschreckendes Beispiel zu geben (8960ff.).«
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hin über an den andern stat. der sprunc mit valle muoste sîn. des weinde iedoch diu herzogîn. der wâc was snel unde grôz. Gâwân sîner kraft genoz: doch truoger harnasches last. dô was eines boumes ast gewahsen in des wazzers trân: den begreif der starke man, wander dennoch gerne lebte. sîn sper dâ bî im swebte: daz begreif der wîgant. er steic hin ûf an daz lant.412 (v. 602,9–28)
Im Unterschied zur Schilderung bei Chrétien, der von einer schmalen Schneise spricht, die der Fluss durch die Schlucht gegraben hat, berichtet Wolfram von einem weiten Durchbruch. Auch die Lüge der Dame fehlt im Parzival, Gâwân springt ohne gekränkten Stolz ausschließlich in der Hoffnung auf Liebeslohn. Auch der Sprung selbst geht anders vonstatten: Gâwân stürzt nicht wie Gauvain mitten in die Fluten und kann nur aufgrund einer Kraftanstrengung seines Pferdes gerettet werden; bei Wolfram landet Gringuljete – Gâwâns Pferd – sogar mit zwei Füßen am anderen Ufer, stürzt dann aber dennoch in die Schlucht, aus der Gâwân sie erretten muss. Hier ist Gâwân eindeutig der Held, der nicht nur sich selbst, sondern auch sein Pferd vor dem sicheren Tod bewahrt. Wie bei Chrétien nimmt Gâwân, nachdem er den Kranz gebrochen hat und auf den Ritter Gramoflanz getroffen ist, den gleichen Weg zurück über die Schlucht und auch hier gelingt wie bei Chrétien der Sprung mühelos: Gringuljet nam bezîte/sînen sprunc sô wîte/daz Gâwân vallen gar vermeit.413 (v. 611,13–15). Auch bei Wolfram erlebt Orgelûse nach Gâwâns Rückkehr vom Abenteuer zur Gefährlichen Furt einen Wandel – jedoch nicht mit der Absicht, von ihrem Ritter getötet und damit von ihrem Liebeskummer befreit zu werden. Nachdem Orgelûse vor Gâwân auf
412 »Er hörte ein reißendes Wasser dahinschnellen, das hatte sich einen weiten Durchbruch geschaffen, tief war es und ohne Furt. Der starke Gâwân gab seinem Roß die Sporen, so gewaltig trieb er es hinüber, der adelige Mann, daß es wirklich, aber nur mit zwei Füßen, auf festen Boden trat am andern Ufer: Der Sprung ging nicht ohne Fallen ab. Da mußte sogar die Herzogin einmal weinen. Die Strömung war mächtig und reißend. Den Gâwân mußte seine Stärke retten – noch dazu trug er ja die Last der Rüstung. Da war nun der Ast eines Baums hinausgewachsen in des Wassers Fluß. Den ergriff der starke Mann, er wollte doch noch länger leben. Neben ihm schwamm der Speer: den ergriff der Ritter. Er stieg hinauf ans Land.« 413 »Gringuljete tat den Sprung gerade richtig und weit genug, daß Gâwân diesmal nicht herunterfiel.«
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die Knie fällt (v. 611,23), erzählt sie die Geschichte von der Ermordung ihres Geliebten und gesteht ihre Rache-Absicht. Sie erklärt auch, warum sie zu Gâwân so böse war: Sie wollte prüfen, ob er ihrer Liebe auch wirklich würdig sei. Da sie dies nun wisse, solle er bitte von seinem Zorn ihr gegenüber ablassen. Er sei nun wie das Gold, das in der Glut geläutert wird; sein Mut wäre durch ihre Prüfungen geläutert worden (v. 614,1–14). Der Sinneswandel der Orgelûse bzw. der male pucele geht sowohl bei Wolfram als auch bei Chrétien schnell vonstatten und wird in der Forschung noch immer als schwierig oder ungenügend motiviert bezeichnet: Bumke spricht von einem schwach begründeten Wechsel von Hass zu Liebe414, Friedrich Dimpel sieht in Orgelûses Stimmungsumschwung deren Hoffnung auf eine mögliche Rache an Gramoflanz415, Dieterich spricht zwar die Verbindung vom Furt-Abenteuer und Orgelûses Wandlung an, sieht als Ursache dafür aber ausschließlich den Umschlag der venusartigen, mythischen Figur zu einer höfischen Dame416. Auch Zimmermann spricht von diesem Umschlag vom Wunderbaren ins Höfische und merkt an, dass der Sinneswandel bei Wolfram besser vorbreitet und nicht so unmotiviert wie bei Chrétien wirke. Sie sieht den Wandel im Bestehen des Abenteuers von Schastel marveile begründet, auch das Weinen der Orgelûse während des Sprungs über die Gefährliche Furt schreibt sie jenem zu.417 Was allen Analysen fehlt, ist eine Erklärung der grundlegenden Motivation des Abenteuers der Gefährlichen Furt. Warum muss Gâwân diesen Sprung überhaupt tun?
414 vgl. Bumke, Joachim: Geschlechterbeziehung in den Gawanbüchern von Wolframs Parzival. In: Mittelalterliches Schauspiel. Festschrift für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Mehler/Anton H. Touber. Amsterdam/Atlanta 1994 (Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 38–39). S. 105–122, hier S. 110, Anm. 2. Auch in seiner Wolfram-Monographie gibt Bumke für diese Episode keine weitere Erklärung ab: Er fragt nach deren Sinn, da, falls es sich beim Überspringen der Furt um die Hauptprobe an Gâwân handeln sollte, er an ihr scheitert und somit das Abenteuer erst beim zweiten Anlauf am Rückweg besteht. Auch die GramoflanzHandlung ist ihm unklar: Wenn es einen anderen Weg zu ihm gibt (und der Text gibt darüber ja Auskunft), warum muss Gâwân über die Furt springen wenn es nur um Rache an Gramoflanz geht? Falls der Ritter durch den Sprung stirbt, gibt es keine Rache mehr. Bumke fragt nach der Motivation der Handlung, wenn Orgelûse Gâwân nach dem Sprung empfängt, als hätte er »die größte Heldentat vollbracht«. Vgl. Bumke: Wolfram von Eschenbach 2004, S. 103–104. 415 Vgl. Dimpel, Friedrich: Dilemmata: die Orgelûse-Gawan-Handlung im Parzival. In: ZfdPh 120 (2001), S. 39–59, hier S. 53. 416 Vgl. Dieterich: Das venushafte Erscheinungsbild der Orgelûse 2000, S. 41–50. 417 Vgl. Zimmermann: Orgelûseepisode, S. 131 u. S. 144–145. Zum Weinen der Orgelûse meint Dieterich, dass es auch den Frust über das mögliche Scheitern ihres Plans zur Ursache haben kann. Wenn Gâwân in die Schlucht stürzt, kann niemand Rache an Gramoflanz nehmen. Vgl. Dieterich: Das venushafte Erscheinungsbild der Orgelûse, S. 49.
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Die male pucele – doch auch auf Orgelûse trifft das zu – ist vor dem Sprung über die Gefährliche Furt klar dem Mythischen und damit dem Wunderbaren zuzuordnen. Dieser Umstand korrespondiert mit entsprechenden Erzählmustern: Bei Chrétien wird der Sprung oft einer keltischen Tradition zugeschrieben, bei der die Überquerung eines Flusses einer alten Form der Freierprobe entspricht. Dass der Sprung letztlich nicht gleich klappt, zeigt den RezipientInnen, wie gefährlich nicht nur die Furt, sondern auch die Dame ist, die den Sprung initiiert.418 Das Wasser stellt dabei eine schwer zu überwindende Grenze dar,419 die den Punkt der Überquerung in eine Anderswelt markiert.420 Diese Schwellenfunktion des Wassers macht deutlich, dass bei der Episode um die Gefährliche Furt nicht das Brechen des Kranzes, sondern der Sprung selbst es ist, der das Abenteuer darstellt. Es geht um die Bezwingung dieser Schwelle, dieses Wassers, das unmittelbar mit der Person der Orgelûse verwoben ist. Ruft man sich nochmals die Begegnung von Orgelûse und Gâwân in Erinnerung (und macht man sich die Verbindung der male pucele mit dem Bereich der Feen klar), machen Gâwâns Sprung und Orgelûses Sinneswandel mehr Sinn: Die Figur der Orgelûse wird bei ihrer ersten Erwähnung mit einer Quelle enggeführt und aufgrund der Blickführung sogar mit dieser überblendet: Dieser ›Ineinsfall‹ von Weiblichkeit und Wasser kommt auch beim Sprung über die Furt zum Tragen. Sowohl die Furt als auch Orgelûse werden als gefährlich beschrieben, beide haben am Tod ehrbarer Ritter Schuld und beide müssen unter Einsatz des Lebens ›bezwungen‹ werden. Die Feenhaftigkeit der Orgelûse, ihre Nähe zum Bildbereich des Wassers, lässt die Schlussfolgerung zu, dass Gâwâns wahres Abenteuer nicht das Bezwingen der Furt, sondern das Bezwingen der Orgelûse ist. Genau deshalb gilt das Abenteuer auch als bestanden, selbst wenn Gâwân zunächst samt Rüstung und Pferd in das reißende Wasser stürzt. Der Sturz liest sich fast wie eine Kurzzusammenfassung der Geschichte von Orgelûse und Gâwân: Der Ritter ›fällt‹ Orgelûse zum Opfer. Er kann sich so wenig gegen ihren Einfluss wehren, wie er sich gegen den Sturz in die Schlucht wehren kann. Dort stellt das Wasser die gleiche Gefahr für Gâwân dar wie die ihm von Orgelûse auferlegten Abenteuer, die ihn immer wieder an seine Grenzen bringen. Alle Abenteuer, denen Gâwân sich stellen muss, zeichnen sich durch große Gefahren aus, doch 418 Vgl. Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, S. 287–291. 419 Mit der Geographie im Parzival und auch mit der Relevanz von Flüssen, Seen und Wasser hinsichtlich des landschaftlichen Aspekts hat sich Marianne Wynn eingehend beschäftigt: Vgl. Wynn, Marianne: Wolfram’s Parzival; zum Thema des Flusses als Grenze und dessen Verbindung zum Parzival bzw. der höfischen Gesellschaft vgl. auch Wynn, Marianne: Geography of Fact and Fiction, S. 28–43. 420 Vgl. dazu Glaser: Der Held und sein Raum, S. 50–51. Zu Gâwâns Abenteuer an der Gefährlichen Furt vgl. ab S. 97.
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er kann jedes einzelne bestehen. Auch hier zeigt sich eine wichtige Verbindung zum Sprung über die Furt: Letzten Endes gelingt es Gâwân, sich selbst aus dem Wasser zu befreien – und das ist ein deutlicher Unterschied zu Chrétiens Vorlage. Aus eigener Kraft rettet er sich vor dem sicheren Tod und sein Pferd dabei gleich mit. Vor diesem Hintergrund ist schließlich auch klar, warum der Sprung zurück nun kein Hindernis mehr darstellen kann: Die Dame ist bezwungen und damit von ihrer Gefährlichkeit befreit. Gâwân kann ohne Schwierigkeiten ans andere Ufer zu ihr zurückkehren und genau aus diesem Grund begegnet sie ihm auch nicht mehr so wie zuvor. Die Überwindung des Wassers führt dazu, dass Gâwân durch die Begegnung mit Gramoflanz die eigentliche Motivation von Orgelûses Handlungen erfahren kann. Er lernt aufgrund des Sprunges etwas über seine Minnedame, das sie selbst nicht preisgeben wollte und damit Teil ihrer Eroberung wird. Orgelûses plötzlicher Sinneswandel, ihr nunmehriger Gehorsam Gâwân gegenüber mag zwar auf den ersten Blick ungenügend motiviert und damit ein wenig an den Haaren herbeigezogen wirken, ist aber auf den zweiten Blick das Resultat des vollzogenen Sprunges über die Gefährliche Furt und damit die bildhafte Bezwingung einer gefährlichen, unberechenbaren Weiblichkeit, die durch das Wasser der Furt zum Ausdruck kommt. Wenn dieses Wasser keine Gefahr mehr darstellt, tritt auch das märchenhafte und wunderbare Wesen der Dame in den Hintergrund. Die Verbindung der Frau zum Element des Wassers wird abgeschwächt und Orgelûse kann nun als exemplarisch höfische Dame im Text auftreten. Der Sprung über die Furt markiert daher eine ›umgekehrte Schwelle‹ keltischer bzw. arthurischer Tradition, durch deren Überschreitung die mythischen und wunderbaren Motive, in deren Zusammenhang die feenhafte Figur der Orgelûse zu sehen ist, abgeschwächt oder gar reversibel gemacht werden. Bereits bei Chrétien ist diese Verbindung zwischen dem Element des Wassers und der Frau von Relevanz: Die Gefährliche Furt und der Sturz in das trügerisch tiefe Wasser bezeichnen im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn die Bedrohung, die von der male pucele für den um sie werbenden und ihrem tyrannischen Treiben sich unterwerfenden Mann (Gauvain) ausgeht.421
Obwohl Döffinger-Lange die Figur der male pucele und das Wasser in der Gefährlichen Furt nicht explizit gleichsetzt, geht die Verbindung zwischen der reißenden Kraft des Elements und der Frau klar aus ihren Überlegungen hervor. Sie spricht vom Bild des reißenden Wassers, das die Angst des Mannes vor der verschlingenden Weiblichkeit symbolisiert. Auch Paule Le Rider spricht vom Zusammenhang 421 Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, S. 291.
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zwischen der male pucele und dem Wasser und vergleicht sie mit Sirenen und Undinen: Obwohl sie eine reale Gefahr darstellen, verfallen ihnen die Männer, auf die sie große Faszination ausüben.422 Wolfram greift den motivischen Zusammenhang der Orgelûse-Figur mit dem Element des Wassers auf und führt ihn noch ein wenig weiter: Im Parzival wird Orgelûse durch das Abenteuer der Gefährlichen Furt zu einer angemessenen Partnerin für Gâwân; Gâwân wirkt durch die kleinen Veränderungen Wolframs in Gegensatz zu seiner Vorlage423 situationsmächtiger als bei Chrétien, scheint mehr Herr der Lage zu sein und nicht nur ein Spielball der male pucele. Chrétien hatte offenbar keine Verbindung zwischen den beiden Figuren im Sinne und wollte lediglich die ›Bekehrung‹ der unhöfischen Dame ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wissen.424 Wolfram hingegen bereitet durch die Schilderung des Sprunges über die Furt und durch die Verbindung von Orgelûse mit dem Bereich des Wassers sowohl den Sinneswandel als auch die Gewinnung der Dame durch den Helden vor. Die Episode des Sprunges und auch der Aufbau des Abenteuers lassen sich damit plausibler in den größeren Kontext der Gâwân-Handlung einbetten und werden ein unverzichtbarer Bestandteil der Minnebeziehung von Gâwân und Orgelûse. An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf Hartmanns von Aue Iwein. Der Iwein, um 1200 verfasst, ist mit 32 Textzeugen der am weitesten verbreitete Text Hartmanns und war, wie aus Anspielungen im Parzival hervorgeht, auch Wolfram ein Begriff.425 Hartmann folgt in der Erzählung seiner Geschichte dem Le chevalier au lion Chrétiens de Troyes, der seinerseits den Stoff wohl keltischer Erzähltradition aus dem Umkreis der matière de bretagne verdankt.426 Auch die Lais der Marie de France und der Roman de Brut von Wace gelten als relevante Einflüsse und siedeln damit den Ursprung des Stoffes im walisischen und bretonischen Bereich an.427
422 Vgl. Le Rider, Paule: Le chevalier dans le Conte du Graal de Chrétien de Troyes. Paris 1978, S. 280. 423 Orgelûse lügt nicht, um Gâwân durch gekränkten Stolz zum Sprung zu motivieren, sondern lockt mit Liebeslohn; der Sprung gelingt fast, da zwei Hufe des Pferdes bereits am anderen Ufer landen; Gâwân befreit sich selbst aus dem Wasser der Furt. 424 Vgl. Zimmermann: Orgelûseepisode, S. 130. 425 Vgl. Mertens, Volker: Kommentar. In: Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. u. üs. von dems. Frankfurt a. M. 2008 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 29), S. 774–777. 426 Vgl. Cormeau, Christoph: Hartmann von Aue. In: VL Bd. 3, Sp. 500–520, hier Sp. 516; vgl. auch Hammer, Andreas: Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im Tristan Gottfrieds von Straßburg und im Iwein Hartmanns von Aue. Stuttgart 2007, S. 212. 427 Vgl. Mertens: Kommentar, S. 951.
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All das lässt die These zu, dass die Figur der Laudine und ihr Reich, das um die Gewitterquelle angesiedelt ist, über den Bereich des Wassers eng mit dem Weiblichen verbunden sind. Die Forschung sieht Spuren des keltischen Feenmärchens428, in dem Laudine als Fee agiert, deren Land (das bereits durch seine Unzugänglichkeit und Abgeschiedenheit vom höfischen Artusreich als Anderswelt markiert ist429) durch eine ganz besondere Quelle gekennzeichnet ist, die als Metonymie für Laudine und ihr gesamtes Reich gelesen werden kann.430 Die Figur der Laudine, die ihren Wurzeln nach in der keltischen Mythologie angesiedelt ist, hat sich jedoch im Iwein von ihren mythischen Grundstrukturen bereits sehr weit abgelöst – aber nicht weit genug, um kohärent in ein höfisches Umfeld eingebettet zu werden. Das führt oftmals zu Verständnisschwierigkeiten in Zusammenhang mit den mythischen Residuen innerhalb des Textes. Eine dieser Verständnisschwierigkeiten ist immer noch der Schluss des edierten Textes, in dem Laudine sich völlig unvermittelt mit einem Kniefall ihrem Gatten unterwirft (vgl. v. 8130431). Iwein wird durch eine List Lûnetes zu seiner Frau gebracht, die sich nur deshalb zu einer Versöhnung überreden lässt, da sie zuvor geschworen hatte, den Ritter mit dem Löwen als Verteidiger ihrer Quelle anzusehen. Nachdem Lûnete sie an diesen Eid erinnert, bittet sie Iwein für das ihm angetane Leid um Verzeihung (vgl. 8050–8129). Dass dieser Schluss wahrscheinlich nicht von Hartmann stammt, sondern von einem späteren Schreiber hinzugefügt wurde, ist schon länger Thema der Forschung; dass die Bearbeitung 428 Ralf Simon geht sogar so weit, von einer Interferenz von Feenmärchen und Artusprogramm im Iwein zu sprechen, da er die Überschneidung zweier narrativer Schemata sieht. Vgl. Simon, Ralf: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Würzburg 1990 (Epistema. Reihe Literaturwissenschaft 66), hier ab S. 47. 429 Darauf verweisen Hammer: Tradierung und Transformation, S. 227 oder auch Mertens: Kommentar, S. 952. Zur Anderswelt und ihrer Verbindung zum Bachtinschen Chronotopos vgl. v. a. Störmer-Caysa, Uta: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin u. a. 2007. 430 Da die Quelle auch im Iwein metonymisch für eine durch feeische Eigenschaften gekennzeichnete Frau steht, ist der Akt des Stein-Übergießens als erotische Handlung zu verstehen. Das Wasser wallt auf dem Stein über und erzeugt ein Naturereignis, das im Protagonisten eine Verschmelzung von Neugierde bzw. Lust und Angst hervorruft. Gertraud Steiner spricht von einer erschütternd-verunsichernden Kraft der Quelle, die mit einer Weiblichkeit verbunden ist, die Iwein nicht bezwingen kann. Vgl. Steiner, Gertraud: ›Unbeschreiblich weiblich‹. Zur mythischen Rezeption von Hartmanns Iwein. In: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Hrsg. von Jürgen Kühnel u. a. Göppingen 1985 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 431), S. 243–257, hier v. a. S. 245, 249 u. 253. 431 In der Zitation folge ich der Ausgabe von Volker Mertens: Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. u. üs. von dems. Frankfurt a. M. 2008 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 29).
Parzival
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des Hartmann-Textes (die B-Version des Iwein) bis auf die Kniefallepisode kaum Spuren in anderen Handschriften hinterlassen hat, jedoch viel besser als der originale Text überliefert war, konnte Werner Schröder zeigen. Das führte in weiterer Folge zu editorischen Schwierigkeiten.432 Da diese Szene an Orgelûse und Gâwân erinnert, möchte ich mich kurz dem Vergleich der beiden Texte widmen und damit Schröders Ergebnisse bekräftigen. Im Parzival unterwirft sich eine Dame, die als mythische Figur in die Stofftradition eingeführt wurde, einem höfischen Ritter. Danielle Buschinger liest diese Unterwerfung als Korrektur einer in Schieflage geratenen Beziehung zwischen Mann und Frau. Orgelûse beleidigt durch ihr Verhalten den Ritterstand, Laudine verweist ihren Mann, der zugleich Herrscher über ihr Reich ist, des Landes und will ihn partout nicht mehr zurücknehmen. Beiden Episoden ist gemeinsam, dass die dort geschilderte Liebe als wân-minne bezeichnet wird, in der Männer sich den Frauen Untertan machen und welche die Betroffenen um den Verstand bringen kann.433 Dieses Missverhältnis muss laut Buschinger im Laufe der Handlung des höfischen Romans wieder korrigiert werden. Hinzu kommt – und hier möchte ich wieder auf die Feenhaftigkeit der beiden Damen verweisen –, dass nicht nur eine unhöfische Minne korrigiert werden muss, sondern auch eine unhöfische Dame. Orgelûse und Laudine zeichnen sich (und das lässt sich auch an den ihnen zugeordneten Wassern erkennen) durch eine starke Weiblichkeit aus, die ihre männlichen Gegenspieler dominiert. Iwein wird in den Wahnsinn getrieben und muss sich seinen Weg zurück in die höfische Welt erst mühevoll erkämpfen.434 In dem Maß, in dem Iwein wieder höfisch werden muss, muss auch die Figur der Laudine daran angepasst werden. Die mythischen Reste ihres Charakters sollten so gut wie möglich beseitigt werden, um einen anderen, höfischen Zustand herstellen zu können, der am Ende des Romans stehen kann. Nur gelingt das im Iwein nicht so recht: Laudine ist am Ende des Textes zwar lediglich über ihre Schutzbedürftigkeit gekennzeichnet (sie muss sich einen Mann suchen, der ihr Reich verteidigt, da die Quelle zu viel Schaden im Land anrichtet), doch der Trotz, mit dem sie sich zunächst gegen die Versöhnung wehrt, steuert dem heftig entgegen. Bei Chrétien gibt es keinen Kniefall und Yvain erscheint fast unterwürfig dankbar, dass die Angst davor, einen 432 Vgl. Schröder, Werner: Laudines Kniefall und der Schluß von Hartmanns Iwein. Stuttgart 1997 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1997, 2). 433 Vgl. Buschinger: Der Gralsroman, S. 110. 434 Vgl. Quast, Bruno: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 111–128.
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Meineid zu begehen, ihn wieder mit Laudine versöhnt.435 Auch Hartmann behält wahrscheinlich diesen ›harten‹ Schluss, der in der ältesten Heidelberger Handschrift A zu finden ist, bei.436 Der Bearbeiter ändert aber den Schluss des Iwein im Vergleich zur Vorlage und beschreibt Laudine in den letzten Versen als verständige, höfische Dame, die zugibt, ihrem Mann unrechtmäßig Leid angetan zu haben. Auf der Oberfläche ist damit der Herstellung eines höfischen Zustandes mit der Unterwerfung Laudines genüge getan, auch wenn diese nicht ins restliche Textgefüge passt. Das Ende des Yvain und Hartmanns ›harter‹ Schluss erscheinen unter diesem Blickwinkel jedoch logischer und im Textganzen kohärenter zu sein: Laudine fügt sich ihrem Versprechen und nimmt ihren Mann zurück; es bleibt aber klar, dass sie durch diese Handlung ihrem Mann nicht unterlegen ist, dass es nichts gibt, was sie verzeihen muss. So wie bei Chrétien ist auch hier das Thema der Weiblichkeit nicht ›bewältigt‹437 – doch im Iwein wird durch die hinzugefügten Schlussverse und den Kniefall Laudines der Versuch unternommen, dieses Faktum zu überspielen. Der angehängte Schluss wirft größere Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den mythischen Residuen der Vorlage auf, wenn diese in einen kohärenten Handlungsablauf eingeflochten werden sollen. Im Parzival – dessen Vorlage ja auch ein Text Chrétiens war – oder dem Iwein-Schluss der A-Version lässt sich das so nicht finden. Wolfram greift die mythischen Anklänge sogar auf und verstärkt im Falle der Figur der Orgelûse diese Bezüge durch die enge Verbindung mit dem Element des Wassers noch zusätzlich, um sie dann letztlich bewusst aufzulösen, seine Dame zu ›entmythifizieren‹ und somit zur geeigneten Partnerin für einen höfischen Ritter zu machen.
4.3 Schlussfolgerungen Wolframs Texte sind für die Analyse der Einbettung naturphilosophischer Verweise nicht zuletzt aufgrund des direkten Vergleiches mit seinen Vorlagen von großem Interesse. Sowohl Chrétiens Perceval als auch die Chanson d’Aliscans zeigen, dass vor allem im Bereich der Ausarbeitung einzelner Szenen Wolfram 435 Vgl. Chrétien de Troyes: Yvain. Üs. u. eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff. München 1983 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), hier v. 6759– 6813. Laudine ist über die List Lunetes so entzürnt, dass sie sogar meint, Sturm und Gewitter das ganze Jahr wären ihr lieber, als sich wieder mit Yvain zu versöhnen. Wenn nicht ein Meideid so schrecklich wäre, dann würde er nie Frieden und Verzeihung mit ihr finden, da der Konflikt ihr Leben lang wie ein Feuer unter der Asche in ihr schwelen solle (vgl. v. 6760–6776). 436 Vgl. Schröder: Laudines Kniefall, S. 5–6. 437 Vgl. Steiner: ›Unbeschreiblich weiblich‹, S. 253.
Schlussfolgerungen
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aufgrund von kohärent ausgeführter Verweise auf das Wissen zu den vier Elementen an Klarheit gewinnt und auch die Relevanz einzelner Passagen im Kontext der Handlung herausarbeiten kann. In den obigen Beispielen erscheinen naturphilosophische Bezüge bei Wolfram handlungs- und szenensteuernd, indem sie einerseits (für moderne LeserInnen) vordergründig unmotiviert erscheinende Passagen vernetzen und andererseits relevante HandlungsträgerInnen vertiefend charakterisieren. Sowohl im Willehalm als auch im Parzival unterscheidet sich Wolframs Herangehensweise innerhalb bestimmter Passagen deutlich von seiner Vorlage. Obwohl manchmal nur minimale Veränderungen initiiert werden, die den Handlungsablauf an sich nicht verändern (z. B. das Hinzufügen des Gottes Amor auf dem Banner, das Vivianz um seine Wunden gürtet, und das abschließende Abdrängen in den Larkant), gewinnen Wolframs Texte aufgrund dieser Eingriffe jedoch an Klarheit und gestalterischer Tiefe. Chrétien lässt im Perceval seinen Helden einfach losreiten, während Wolfram über den Fokus auf die Elemente bereits vorwegnimmt, was in den kommenden Szenen passieren wird. Die indirekten Verweise auf die Weiblichkeit über das Wasser sind sinn- und strukturprägend und erzeugen ein innerhalb des Szenenverlaufs vorausdeutendes Moment, das so bei Chrétien nicht zu finden ist. Wolfram schafft es, durch eine einfache Steuerung des Blicks der RezipientInnen, den Ablauf seines Parzival (und auch des Willehalm) kohärenter zu gestalten und damit semantische Lücken seiner Vorlage auf Basis seines naturphilosophischen Wissens zu schließen. Auch die Episode mit der Gefährlichen Furt gewinnt in der Darstellung Wolframs an Klarheit, da dessen Fokus auf die Feenhaftigkeit Orgelûses und damit auch auf ihre mit dem Wasser verbundene Weiblichkeit nicht nur die Motivation des Sprunges, sondern auch ihren Sinneswandel nach Gâwâns Rückkehr schlüssig erklären kann. Im Perceval sind diese Motive zwar bereits angelegt, aber nicht in dieser Deutlichkeit ausgeführt. Bei Wolfram handelt es sich um einen belesenen, selbstsicheren Autor, dem klar ist, wie er mit seiner Vorlage umzugehen hat, welches Potential in den Texten steckt. Das hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten bereits hinreichend beweisen. Auch sein Wissen zu Kosmologie und Medizin, welches er immer wieder an prominenter Stelle in seine Werke einfließen lässt (z. B. Anfortas und dessen Wunde), wurde schon vielfach debattiert und bezeugt: einzelne Stellen innerhalb seiner Texte, in denen auf die Sterne, medizinisches Wissen oder Edelsteinkunde angespielt wird, können mit entsprechenden Kenntnissen besser verstanden werden. Auf Seiten der RezipientInnen bedeutet das, dass die Lesbarkeit der naturphilosophischen Anspielungen (zumindest für ein bestimmtes Publikum) gegeben sein muss. Eine bewusste Veränderung der Vorlage, die sich oft lediglich auf Details bezieht, wäre völlig redundant, wenn Wolfram gar nicht ver-
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standen worden wäre. Hier muss von einem gemeinsamen Wissenshintergrund ausgegangen werden, um die Subtilität der sprachlichen Strukturen erkennen und verstehen zu können. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass das Wissen zu den Elementen bei Wolfram auch auf einer textorganisierenden Ebene von Relevanz ist. Es fungiert strukturprägend, indem es über indirekte Verweise den Aufbau einzelner Passagen unterstützt, und steuert die Abläufe bestimmter Textabschnitte. Die Verwendung naturphilosophischen Wissens zu diesen Zwecken zeugt nicht nur von der handwerklichen Geschicklichkeit Wolframs, sondern deutet auch darauf hin, dass innerhalb erzählender Texte das Wissen zu und über Natur deutlich über den Vermittlungs- bzw. Belehrungszweck hinausgehen kann und in weiterer Folge auch von textgestalterischer Relevanz ist.
5 Reinfried von Braunschweig Nur ein einziges Manuskript des Reinfried von Braunschweig ist uns erhalten geblieben; die Forschungsbibliothek in Gotha beherbergt diesen im 14. Jahrhundert entstandenen Codex. Der darin enthaltene Text, der mit 27672 Versen unvollendet überliefert ist, muss nach 1291 entstanden sein, da die Eroberung von Akkon darin explizit erwähnt wird.438 Dieser kuriose Minne- und Abenteuerroman439, der zum ersten Mal im Jahre 1851 von Karl Gödecke bearbeitet440 und von Karl Bartsch ediert wurde441, hatte noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Forscherurteil zu kämpfen, wenig gelungen und aufgrund seiner vielen Exkurse, Kommentare und eines hohen Grades an Intertextualität442 stilistisch
438 Vgl. Ebenbauer, Alfred: Reinfried von Braunschweig. In: VL Bd. 7, Sp. 1171–1176. 439 Obwohl sich für den Reinfried von Braunschweig die Zuordnung zur Gattung des Minneund Abenteuerromans durchgesetzt hat, gibt es diesbezüglich in der Forschung sehr wohl verschiedene Meinungen und exaktere Definitionen. Walter Haug spricht von einer Kreuzung des Tristanstoffes mit dem arthurischen Roman (vgl. Haug, Walter: Der Tristan – eine interarthurische Lektüre. In: Artusroman und Intertextualität. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Gießen 1990, S. 57–72). Klaus Ridder spricht von einer Überlagerung der zweiteiligen Struktur des Artusromans (der Doppelweg des Helden, der zweimal ausziehen muss, um Abenteuer zu bestehen) und der Dreiteilung des Minne- und Abenteuerromans (dieser ist von Findung der Geliebten, Trennung und Wiedervereinigung gekennzeichnet) (vgl. Ridder, Klaus: Erzählstruktur und Schemazitate im Reinfried von Braunschweig. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Unter Mitwirkung von Peter Ihring. Tübingen 1999, S. 331–345, hier S. 339). Derk Ohlenroth wiederum spricht von einer Nähe des Textes zur Alexanderdichtung und dem Herzog Ernst, der sich erst später in einen Minneroman verwandelt (vgl. Ohlenroth, Derk: Reinfrid von Braunschweig. Vorüberlegungen zu einer Interpretation. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 67–96, hier S. 67 u. S. 77). 440 Gödecke, Karl: Reinfrît von Braunschweig. Hannover 1851. 441 Reinfrid von Braunschweig. Hrsg. von Karl Bartsch. Tübingen 1871 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 109); nach dieser Textausgabe wird im Folgenden auch zitiert. 442 Zum Begriff der Intertextualität sei vor allem auf Julia Kristevas Arbeit verwiesen: Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972 (Ars poetica 8), S. 345–375. Hier heißt es: »[…] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.« (S. 348). In weiterer Folge spricht sie davon, dass Texte sich dialogisch aufeinander beziehen; Texte entstehen damit aus anderen Texten oder Diskursen (vgl. Kristeva, Julia: Probleme der Textstrukturation. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Blumensath. Köln 1972, S. 243–262). DOI 10.1515/9783110486605-005
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schwach zu sein.443 Erst in den letzten Jahren setzte sich allgemein das Urteil durch, dass der Autor ganz bewusst bekannte Bauformen benutzte, um sie in einen anderen Kontext zu setzen und damit neue Bedeutungsebenen zu schaffen. Von einer letzten Belebung der höfischen Dichtung444 spricht Beat Koelliker, der später noch hinzufügt: Mit einer raffinierten Technik von Anspielungen und Motivzitaten deckt er [der Dichter] die Gemeinsamkeiten und Grenzen zwischen seinem Werk und dessen literarischen Vorläufern auf. Freie Verfügungskraft nicht sklavische Abhängigkeit kennzeichnen sein Verhältnis zur Tradition.445
Zu diesem Schluss kommen immer mehr LiteraturwissenschaftlerInnen, die auch davon ausgehen müssen, dass, um all die Anspielungen und Verweise zu verstehen, belesene und informierte RezipientInnen unerlässlich sind.446 Literatur ist immer auch eine Verständigung über die Welt und Verweise aller Art innerhalb eines Textes sind bisweilen vom Autor gar nicht bewusst intendiert447; das 443 Die ersten Arbeiten zum Reinfried sprechen dem Text jeden poetischen Wert ab und unterstreichen die Rückwärtsgerichtetheit des Romans durch eine Auflistung aller intertextuellen Verweise (vgl. Gereke, Peter: Studien zu Reinfried von Braunschweig. In: PBB 23 (1898), S. 358–483, hier S. 379). Noch 1991 spricht Ohlenrot davon, dass mit diesem Text das epische Erzählen einen Tiefpunkt erreicht hat, der sich durch gedrückte Erzählerexistenz und politische Schmähreden auszeichnet (vgl. Ohlenroth: Reinfrid von Braunschweig, S. 96). 444 Vgl. Koelliker, Beat: Reinfrid von Braunschweig. Bern 1975 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 51), S. 14. 445 Ebda., S. 69. 446 Vgl. Neudeck, Otto: Continuum historale: Zur Synthese von tradierter Geschichtsauffassung und Gegenwartserfahrung im Reinfried von Braunschweig. Frankfurt a. M. u. a. 1989 (Mikrokosmos 26), vgl. Harms, Wolfgang: ›Epigonisches‹ im Reinfried von Braunschweig. In: ZfdA 94 (1965), S. 307–316; vgl. Ridder: Erzählstruktur und Schemazitate 1999, S. 331–345; vgl. Schröder, Werner: Zur Wolfram-Kenntnis im Reinfrit von Bruneswic. In: Aspekte der Germanistik. Hrsg. von Walter Tauber. Göppingen 1989 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 521), S. 123–145; vgl. Röcke, Werner: Lektüren des Wunderbaren. Die Verschriftlichung fremder Welten und abenthewer im Reinfried von Braunschweig. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 285–301; vgl. Scheremeta, Renee: Hybridization as a Compositional Technique in the Middle High German Narrative of the Later Middle Ages. Diss masch. Toronto 1982; vgl. Ridder Klaus: Mittelhochdeutscher Minne- und Aventiureroman. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben. Berlin u. a. 1998 (Quellen und Forschungen zu Literatur- und Kulturgeschichte 12 (246)), hier v. a. S. 37–87. 447 Hier möchte ich wieder auf die im Einführungskapitel dargelegte Theorie zum Verständnishintergrund und der Vermittlung von (Wissens-)Inhalten über unbewusste Aneignungsprozesse verweisen.
Schlussfolgerungen
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trifft im Reinfried u. a. auch auf das naturphilosophische Wissen zu. Klaus Ridder meint hierzu: Charakteristisch für die Erzähltechnik der Romane [Ridder setzt sich mit Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich und Friedrich von Schwaben auseinander] sind Fremdtextbezüge, die einen Erzähltyp oder literarischen Traditionszusammenhang in Erinnerung rufen. Bezugnahmen eines Textes auf einen gattungsspezifischen, strukturellen oder episodisch-motivlichen Zusammenhang sind aber nicht in jedem Falle vom Autor – bewußt – markiert.448
Peter Gereke kommt hinsichtlich der Quellenfrage im Reinfried zu einem ähnlichen Urteil: Es lässt sich nicht mit sicherheit behaupten, woher der dichter z.b. seine kenntnis des heiligen landes oder sein naturwissenschaftliches wissen schöpft. Er hatte dafür vielleicht gar keine directe quelle. Denn was er berichtet, und wie er es berichtet, das ist meist gemeinsames wissen der zeit.449
Aufgrund der Orientfahrt des Titelhelden (auf den Aufbau des Textes gehe ich noch genauer ein) ergeben sich genug Möglichkeiten, um Wissen aus Enzyklopädien und Chroniken oder Motive aus dem Alexanderroman und dem Herzog Ernst einzubetten, sowie über Erzählerexkurse Kommentare zu Politik, Zeitklage, Minne oder Wissenschaft einzuflechten.450 Herfried Vögel widmet sich in seiner Dissertation ausschließlich der Natur im Reinfried von Braunschweig und versucht, »[m]it Blick auf das Sach- und Bedeutungswissen der Zeit [...] die in den Handlungsverlauf des Romans integrierten naturkundlichen Kenntnisse«451 zu analysieren und zu interpretieren. Dabei geht es ihm hauptsächlich darum, »[...] den Zugang zu einem dem modernen Leser fremden Naturverständnis zu gewinnen.«452 Vögel beschränkt sich in seiner Arbeit hauptsächlich auf Tiere, Pflanzen und Edelsteine. Er erläutert die Episoden, die in naturkundlichen Texten der Zeit (mit Fokus auf Enzyklopädien, Fabeln und dem Physiologus) ihren Ursprung haben und versucht, durch Hinweise auf den allegorischen Gehalt der Naturdarstellun448 Ridder: Mittelochdeutscher Minne- und Aventiureroman, S. 39. 449 Gereke: Studien zu Reinfried von Braunschweig, S. 433. 450 Vgl. u. a. Dittrich-Orlovius, Gunda: Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion im Reinfried von Braunschweig. Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 34); vgl. auch Röcke: Lektüren des Wunderbaren; vgl. auch Scheremeta: Hybridization. 451 Vögel, Herfried: Naturkundliches im Reinfried von Braunschweig. Zur Funktion naturkundlicher Kentnisse in deutscher Erzähldichtung des Mittelalters. Frankfurt a. M. u. a. 1990 (Mikrokosmos 24), hier S. 15. 452 Ebda., S. 15.
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gen sinnstiftende Interpretationsansätze für die relevanten Textstellen zu finden. Damit nimmt Vögels Analyse bereits einiges für diese Arbeit Relevantes vorweg und ermöglicht es, in vielen Dingen an seine Arbeit anzuknüpfen. Im Folgenden wird die Analyse des Reinfried von Braunschweig wiederum in Hinblick auf die Einbettung von Wissen rund um die Elementenlehre in und dessen Funktion für den literarischen Text aufgebaut sein. Mit Hilfe der bereits vorhandenen Forschungsliteratur wird versucht, auch die naturphilosophischen Bezüge aufzugreifen, die bei Vögel keinen Platz fanden. Darüber hinaus konzentriert sich die folgende Analyse darauf, Naturkundliches auch intertextuell zu begreifen. Doch zunächst zum Inhalt des Romans: Die Handlung des Reinfried von Braunschweig gliedert sich in zwei Teile, von denen sich der erste mit der Minne zwischen Reinfried und Yrkane beschäftigt, der zweite von der Kreuzzugs- und Orientfahrt des Protagonisten erzählt. Reinfried erkämpft in einem Turnier den Kuss der dänischen Königstochter Yrkane, die er bereits, bevor er sie gesehen hat, (fern)liebt. Yrkane erwidert die Liebe, doch ein privates Gespräch der beiden Liebenden wird von einem Ritter belauscht, der daraufhin Yrkane erpresst. Erst in letzter Minute kann Reinfried durch seine heldenhafte Kampfkunst doch noch alles zum Guten wenden. Reinfried und Yrkane heiraten, ihre Liebe ist beispiellos, dennoch bleiben sie jahrelang kinderlos, weswegen Reinfried nach einem Traum, in dem ihm Maria eingibt, er müsse gegen die Heiden kämpfen, zum Kreuzzug aufbricht, um das Heilige Land für die Christen zu erstreiten. Das gelingt ihm, indem er einen ruhmreichen persischen König besiegt, den er daraufhin zum Freund gewinnt. Gemeinsam unternehmen die beiden dann eine Reise durch den Orient und bestaunen dessen Wunder. Ihren Höhepunkt hat diese Reise in der Fahrt zum Magnetberg, wo Reinfried und der Perser über die Zauberkünste von Savilon und Vergil lernen. Nachdem Reinfried einer Sirene begegnet und den Magnetberg wieder verlässt, erfährt er durch einige Briefe, dass ihm Yrkane zu Hause einen Sohn geboren hat und ihn bereits sehnlich erwartet. Nach weiteren Kämpfen bricht Reinfried schließlich aus dem Orient auf und geht auf einer einsamen Insel verloren. An dieser Stelle (bei v. 27627) bricht der Roman ab, aber nicht, ohne dass der Erzähler dem Protagonisten noch diverse leidvolle Abenteuer in Aussicht stellt. Wie der Reinfried dann wirklich endet, bleibt leider unbekannt. Ganz zu Beginn des Textes, im Prolog, nimmt der Dichter bereits vorweg, dass es im Folgenden allerlei wunderliche Dinge zu lesen geben wird – u. a. verspricht er über der welt ende und ir ursprinc (v. 38) zu berichten.
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5.1 Genesis und die Elemente Bis es aber zur Erfüllung dieses Versprechens kommt, stehen noch 10500 Verse und damit der Turniergewinn Reinfrieds, die Liebe zwischen den beiden Protagonisten, der Verrat durch den Ritter und die Rettung Yrkanes durch Reinfried ins Haus. Just nach der Ehrenrettung Yrkanes und ihres Vater Fontanagris dankt dieser voller Freude Gott für dessen Güte und erklärt, wie groß die Macht des Schöpfers ist: Got der alliu dinc vermac, der vinster naht und liehten tac mit sîner kraft gemachet hât und nâch des gebote stât daz firmament, der spêren kreiz, der sternen louf, und der ouch weiz aller herzen meine, niemen wan er eine, der alliu dinc von nihte geschuof, und ouch berihte den luft wazzer erde fiur, von dem alle crêâtiur getempert und gemachet sint [...] (v. 10589–10601)453
Die Erschaffung des Himmels, der Erde und der Lebewesen stehen im Mittelpunkt dieser Verse und erinnern an die ersten Verse der Genesis und damit an den alttestamentarischen Schöpfungsbericht. Der Dichter des Reinfried hält sich im Ablauf seiner groben Aufzählung der von Gott geschaffenen Dinge an die biblische Reihenfolge: Gott macht zuerst die Finsternis (Gen 1,2) und dann das Licht (Gen 1,3), die Finsternis nennt er Nacht und das Licht Tag (Gen 1,5). Dann macht Gott den Himmel – in der Vulgata findet sich das Wort: firmamentum – und scheidet den Himmel (caelum) vom Himmelsgewölbe (Gen 1,7–8). Dann entsteht die Erde, auf ihr Samen und Pflanzen, und schließlich macht Gott Lichter ins Himmelsgewölbe und nennt sie Sterne (Gen 1,14–16). Weiter wird in der Genesis von der Bevölkerung der Meere durch die Wassertiere, der Luft durch die Vögel und des Festlands durch allerlei andere Tiere berichtet, bevor der Mensch erschaf453 »Gott, der alle Dinge zuwege bringen kann, der die dunkle Nacht und den hellen Tag durch seine Kraft geschaffen hat und nach dessen Gebot das Firmament, der Kreis der Sphären, der Lauf der Sterne steht und der auch weiß, wenn Falschheit das Herz regiert – niemand außer der Eine, der alle Dinge aus dem Nichts geschaffen hat, und der auch die Luft, das Wasser, die Erde und das Feuer ordnet, aus denen alle Lebewesen im richtigen Verhältnis gemischt und gemacht sind [...]«
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fen wird (Gen 1,20–25). Im Reinfried spricht der Erzähler ab Vers 10608 über die Gesamtheit der Schöpfung, die allein durch die Gnade Gottes existiert: die Tiere im Wasser und in der Luft, alle Lebewesen am Land, sowie alle Naturphänomene wie Regen, Tau, Donner, Schnee und Eis. Bevor Fontanagris in seinem Monolog Yrkane auffordert, Gott im Gebet zu danken, weist er sie noch darauf hin, dass Swaz der tac beliuhtet, swaz menge tou erfiuhtet, von aller slahte wurzen fruht, das liez sîn gotelîchiu zuht allez hie ûf erden ze dienst dem menschen werden. (v. 10621–10626)454
Damit wird am Ende der Aufzählung der von Gott geschaffenen Dinge darauf hingewiesen, dass alles dem Menschen zur freien Verfügung überantwortet wird. Auch im ersten Kapitel der Genesis bildet jener Auftrag Gottes an die Menschheit den Abschluss der Schöpfung (Gen 1,28–30). Das Bibelwissen des Reinfried-Dichters ist sattelfest. Vielmehr noch – die Verwendung der Bezeichnungen spêren kreiz und sternen louf sowie der Hinweis darauf, dass alle Lebewesen aus den vier Elementen gemacht (getempert) sind, die Gott zuvor geordnet hat, gehen über das rein biblische Faktenwissen hinaus. Dass Gott zunächst die Elemente schafft, aus denen sich dann alle Lebewesen entwickeln, ist Wissen, das in dieser Form nicht in der Bibel zu finden ist. Erst die Kommentare zur Genesis455 stellen diese Verbindung her und versuchen, das erste Buch des Alten Testaments über seine wörtliche Bedeutung hinaus zu verstehen.456 Die ersten Genesiskommentare tauchen bereits im 3. Jahrhundert auf (Origines ist hier als wichtigster Autor zu nennen); im 5. Jahrhundert schreibt Augusti454 »Was auch immer der Tag beleuchtet, was auch immer von Tau nass wird, die Frucht aller Arten von Pflanzen, das ließ seine göttliche Gnade alles hier auf Erden dem Menschen zu Dienste werden.« 455 Auf die Relevanz der Genesiskommentare in Zusammenhang mit naturphilosophischem Wissen wird auch im Abschnitt über Hugos von Trimberg der Renner und im Kapitel zu Frauenlobs Leichs eingegangen. 456 Als Bearbeitungsgrundlage und Stütze der folgenden Analyse ziehe ich Johannes Zahltens Buch »Creatio mundi« heran, in dem Zahlten einen Überblick über die (künstlerischen und wissenschaftlichen) Arbeiten zur Schöpfungsgeschichte im Mittelalter gibt. Bei den schriftlichen Quellen bezieht er sich hauptsächlich auf solche aus dem 12. Jahrhundert, vergleicht aber mit den wichtigsten Autoren des Frühmittelalters und der Spätantike. Er sichtet insgesamt 192 Werke zum Sechstagewerk der Genesis und geht auf deren Relevanz ein: vgl. Zahlten, Johannes: Creatio mundi. Darstellungen der sechs Schöpfungstage und naturwissenschaftliches Weltbild im Mittelalter. Stuttgart 1979 (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 13), hier v. a. ab S. 86.
Genesis und die Elemente
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nus seine vier einflussreichen Kommentare, die lange Zeit das Gelehrtenwissen in Westeuropa prägen. Isidor von Sevilla, Beda Venerabilis und Hrabanus Maurus schreiben noch vor dem 10. Jahrhundert über die Genesis, bevor dann 200 Jahre später eine wahre Kommentar-Explosion in Europa stattfindet. Nachdem der Schöpfungsbericht im 10. und 11. Jahrhundert nur wenige Gelehrte zu interessieren scheint, beschäftigen sich im 12. und 13. Jahrhundert viele namhafte Theologen und Wissenschaftler damit: Honorius Augustodunensis, Rupert von Deutz, Alanus ab Insulis, Hugo von Saint-Victor, Thierry von Chartres oder Thomas von Aquin – um nur einige wenig zu nennen.457 Da Christologie – vor allem Schöpfung und Erlösung – und Kosmologie im mittelalterlichen Gelehrtenwissen zusammengehören, lässt sich anhand des zunehmenden Interesses an der Schöpfungsgeschichte auch ein erwachendes Interesse an ›wissenschaftlichen Fragestellungen‹ erkennen. Die Kommentare zum Schöpfungsbericht sind eine wichtige Quelle für die Geschichte der Naturwissenschaft im Mittelalter. Zahlten stellt fest »[...] daß das 12. Jahrhundert einen wichtigen Wendepunkt in der mittelalterlichen Wissenschaft bildete, sowohl von den Inhalten als auch von der äußeren Form des Wissenschaftsbetriebs her.«458 Dass die Kommentare sich so rasch in Europa verbreiten, liegt daran, dass deren Urheber zumeist auch unterrichten: an Kloster-, Kathedral- oder Kapitelschulen bzw. an den nun immer wichtiger werdenden Universitäten.459 Damit werden die Kommentare zum Sechstagewerk zu Schulwissen und Inhalt dessen, was in den Kirchen in Europa von der Kanzel gepredigt wurde und damit auch zu den Laien gelangte. Wann genau Gott die Elemente formte, ob sie sich aus der prima materia bildeten oder ob sie bereits von Beginn an in ihrer jeweiligen Form existierten, variiert je nach Kommentar. Klar ist, dass Gott, wenn in der Bibel von der Erschaffung von Himmel und Erde die Rede ist, die Materie (entweder in einem chaotischen Zustand oder bereits geordnet) und damit auch die Elemente als Bausteine für alles Leben schafft. Der Reinfried-Dichter gibt im Fontanagris-Monolog seinem Publikum zu verstehen, dass die Lebewesen auf der Welt aus Wasser, Feuer, Erde und Luft gemacht werden. Diese Elemente müssen aber richtig getempert sein: Die Schöpfung kann ausschließlich auf Basis eines stimmigen Mischungsverhältnisses funktionieren. In der Genesis findet sich dazu noch nichts Explizites – weder der Verweis auf das Sphärenmodell noch der Lauf der Planeten (vgl. v. 10593) lässt sich dort belegen.
457 Vgl. hier besonders die tabellarische Zusammenstellung der Genesiskommentare des Mittelalters von Zahlten. Ebda., S. 230–234. 458 Ebda., S. 96. 459 Vgl. ebda., S. 99–101.
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Dass sich dieses naturphilosophische Wissen aber schnell verbreitete, lässt sich mit Hilfe von Illustrationen aus dem 11. bis 14. Jahrhundert zeigen, mit denen die Schöpfungsgeschichte ausgeschmückt wurde. Bereits ab dem 11. Jahrhundert weisen die Bilder zum ersten Schöpfungstag ein Motiv auf, das durch den biblischen Bericht nicht erklärbar ist. Es handelt sich um die graphische Darstellung der Erschaffung der Elemente – meist durch schematische, vierfarbige Illustrationen in Kreisform realisiert –, die sich mit der immer reger werdenden Kommentartätigkeit der Gelehrten im 13. und 14. Jahrhundert rasch in Europa verbreitet.460 Zu dieser Zeit findet sich in den Illustrationen zur Erschaffung der Lebewesen (fünfter und sechster Tag der Schöpfung) auch eine auffällige Teilung zwischen Tieren, die man dem Wasser, der Luft oder der Erde zuordnete. Feuer und Luft als die Elemente, die nach oben streben, richten einen Körper auf und ermöglichen einen aufrechten Gang, während Erde und Wasser nach unten drücken. Das Mischungsverhältnis der Elemente im Körper bestimmt das physische Erscheinungsbild der Lebewesen und deren Nähe zu einem bestimmten Element – das ist in den Illustrationen auch umgesetzt.461 Das Sphärenmodell ist seit Ptolemäus Almagest und seiner Vorstellung einer in der Mitte der Welt ruhenden Erde, um die sich die Planeten bewegen, bekannt und verbreitet sich zusehends in ganz Europa. Platons Timaios in den Fassungen des Calcidius und Ciceros, der von Macrobius kommentierte Somnium Scipionis462 Ciceros und die aristotelischen Texte zur Astronomie und den Planeten (»Über den Himmel« oder »Vom Werden und Vergehen«463) tragen u. a. zur Verfestigung dieser Vorstellung der um die Erde kreisenden Planeten bei.464 Dass sich derartige Illustrationen in Bibeln finden, die keine Kommentartexte enthalten, sondern lediglich den Text des Alten und Neuen Testaments überliefern, zeigt, wie weit verbreitet das Kommentar- und damit auch das naturkundliche Wissen zu dieser Zeit bereits war. Am ersten Tag der Schöpfung schematisch auf die vier Elemente zu verweisen, verlangt von den RezipientInnen die Fähig460 Vgl. ebda., S. 133–144. 461 Vgl. ebda., S. 191–195. Vgl. hier auch die Kosmographien von Bernardus Silvestris und Alanus ab Insulis, bei denen die Mischung der Elemente im Körper ein wichtiges Merkmal der göttlichen Schöpfung darstellt und auch den Charakter der Lebewesen bestimmt: Bernardus Silvestris: Cosmographia; Alanus ab Insulis: de planctu naturae. Hrsg. von Nikolaus M. Häring. Spoleto 1978 (Studi Medievali 19). 462 Ambrosii Theodosii Macrobii commentarii in somnium Scipionis. Hrsg. von James Willis. Stuttgart/Leipzig 1994. 463 Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 12,3: Über den Himmel. Üs. u. erl. von Alberto Jori. Berlin: Akademie Verlag 2009. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 12,4: Über Werden und Vergehen. Üs. u. erl. von Thomas Buchheim. Berlin 2010. 464 Vgl. hierzu Zahlten: Creatio mundi, S. 178–184; vgl. auch Randles: Medieval Christian Cosmos.
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keit, dies auch entsprechend entschlüsseln zu können. Biblisches und naturkundliches Wissen stehen in einem engen Verhältnis und die Genesis465 ist als das Vehikel anzusehen, auf dessen Rücken sich naturphilosophische Erkenntnisse im Rahmen einer theologischen Belehrung verbreiteten. Das gilt auch für den Reinfried. Fontanagris möchte mit der Aufzählung der Wunder der Genesis Gottes Allmacht als Schöpfer bezeugen; im Bericht werden jedoch ohne weiteren Kommentar, ohne einen Unterschied zwischen den verschiedenen Quellen zu machen, naturphilosophische Verweise und biblische Referenzen ineinander verwoben. Vielmehr noch: Es handelt sich nicht mehr um intertextuelle Verknüpfungen, sondern um eine vollständige Assimilation des naturphilosophischen Wissens an die biblischen Inhalte und damit um ein Ineinanderfallen oder gegenseitiges Ergänzen von theologischem und philosophischem Gedankengut. Die Art und Weise, wie der Reinfried-Dichter in der Rede des Fontanagris das Wissen über die Welt wiedergibt, deutet darauf hin, dass es sich um leicht zugängliches und weit verbreitetes populäres Wissen (im Sinne Ludwik Flecks) handeln muss. Ein weiterer Kommentar oder eine nähere Auseinandersetzung mit dem Präsentierten ist nicht vonnöten, da klar zu sein scheint, wovon die Rede ist. Bibelwissen und naturphilosophisches Wissen verschmelzen und prägen damit auf einem theologischen Boden das Weltverständnis der Menschen.
5.2 Minne als Naturgewalt Nachdem Reinfried seine Yrkane errungen hat, berichtet der Erzähler von ihrer unfehlbaren, grenzenlosen Minne füreinander und schildert auch ihre erste Liebesnacht: Selbst Ovid, sagt er, könnte nicht beschreiben, wie sie sich da mit nackten Körpern aneinanderschmiegen und die längste Nacht wie im Nu verfliegt (ab v. 10767). Die explizite Schilderung des Geschlechtsverkehrs wird mit einigen sehr anschauliche Metaphern gespickt, wenn davon die Rede ist, dass der süezen minne stam/nach hoher frucht gewürzet oder der minnen lanze (v. 10792–10793) Mann und Frau trifft und dadurch aneinanderheftet (beheftet). All das kommt von der großen Macht der Minne: diu kraft mac überkreftet ûf aller dirre erden mit keinen sachen werden, 465 Doch nicht nur die Bibel dient als Medium der Wissensverbreitung; Zahlten konnte zeigen, dass auch Fresken oder Plastiken in europäischen Kirchen diese Motive aufweisen, die somit noch viel stärker als die kostbaren Handschriften einem Laienpublikum zugänglich sind. Vgl. dazu den Abbildungsteil bei Zahlten: Creatio mundi.
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wan sî bindet sich in ein. ein lîp zwô sêle wirt den zwein und ein einlîch lîden. [...] diu minneclîche minne und ir lobelîchez amt, swâ sich liep gên liebe schamt, wirt gesûmet dicke, sô daz sî an dem stricke nênt rehter liebe væle. (v. 10794–10809)466
Die Minne hat die Kraft, zwei Menschen aneinander zu binden, aus zwei Seelen einen Körper zu machen. Dadurch wird sie zur größten Naturgewalt, die der Reinfried-Dichter kennt. Diese Macht, die der Minne zugesprochen wird, erinnert an den Minnleich Frauenlobs, in dem das verbindende Prinzip der Liebe noch stärker in den Vordergrund gerückt wird. Dort vereinigen sich männliches und weibliches Prinzip, indem die forme die Primäreigenschaften der Elemente miteinander verwebt.467 Die Nähmetaphern in Zusammenhang mit der körperlichen Liebe lassen die Frage nach einem poetischen Topos zu, der bei Frauenlob auf naturphilosophische Details hin erweitert wird. Auffällig ist, dass sich auch im Reinfried diese Textpassage mit dem Lobpreis der Frau – genauer: der Ehefrau – beschäftigt, die auch für ihre Sexualität gepriesen wird; jedoch nicht, ohne zuvor mit Adam und Eva die Ehe und auch den ehelichen Geschlechtsverkehr zu legitimieren (vgl. 10872–10881). Beginnend mit Vers 10916 setzt ein Lobpreis des wîp ein, der erst in Vers 10979 seinen Abschluss findet. Darin finden sich Anrufungen wie: wîp ist ein spiegel den man treit schôn für gotes angesicht. [...] wîp, swaz man guotes ie gesprach, das lâst du überkrœnet. wîp, dîn name schœnet in himel dort, ûf erden hie. (v. 10916–10934)468 466 »Die Kraft kann auf der ganzen Erde von keiner Sache überwältigt werden, da sie sich in eins verbindet (da sie sich hinein fesselt). Ein Körper, zwei Seelen werden die beiden und ein einheitliches (in eins geflochtenes) Leiden. [...] Die liebevolle Minne und ihr löbliches Amt werden, wo auch immer sich zwei Menschen in Liebe annähern, fest umsäumt, sodass sie [die Liebenden] an dem Band, dem Mantel rechter Liebe nähen.« 467 Vgl. das Kapitel zu Frauenlobs Minneleich ab S. 227. 468 »Frau ist ein Spiegel den man trägt, anständig (fein) vor Gottes Angesicht. [...] Frau, was auch immer Gutes man je sagte, das übertriffst du an Herrlichkeit. Frau, dein Name verschönert, im Himmel dort, auf Erden hier.«
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Die Frau wird auch mit der Freude des Ostertages und einem blühenden Reisig verglichen (vgl. v. 10940–10941), als Paradies der Wonne bezeichnet (vgl. v. 10942), als Wünschelrute (vgl. v. 10944), Gral (vgl. v. 10946) und Krone aller Ehren (vgl. v. 10948). Auch der Name der Frau wird als Stamm aller Seligkeit (vgl. v. 10959) gepriesen. Am Ende der Passage heißt es sogar: wîp, dîn nam hat sich gezogen hôch dur aller himel trôn. vor got dîn hôhiu wirde schôn in gar durliuhter schouwe swebt. swaz fliuget fliuzet loufet lebt ald swaz bedecket hât der luft, der himel trôn, der erden kruft, und swaz fiur ald wazzer treit, sol dir ze dienste sîn bereit [...] (v. 10966–10974)469
Der Lobpreis der Frau geht an dieser Stelle in eine Erhöhung über, die sie fast schon in die Nähe Gottes rückt. In allen Bereichen der Welt – in allen Himmelsthronen – ist der Name der Frau bekannt; Gott tritt sie auf Augenhöhe gegenüber. Er blickt sie an und sie fungiert als dessen Spiegel (vgl. v. 10916–10917). Die Spiegelmetapher ist aus der Mariendichtung bekannt, in der Maria als der reine Spiegel bezeichnet wird, in dem Gott sich erkennt.470 Schon ab dem 2. Jahrhundert wird Maria im Frühchristentum und der Ostkirche als jungfräuliche Gottesgebärerin verehrt. Im lateinischen Mittelalter beginnt ihre Glorifizierung in der karolingischen Renaissance, die sich im 12. Jahrhundert, als die Marienverehrung ihren Höhepunkt erreicht, soweit steigert, dass sie als Königin von Himmel und Erde wahrgenommen wird, sich die marianische Mystik sowie die liturgische Marienverehrung entwickelt.471
469 »Frau, dein Name hat sich durch alle Himmelsthrone bewegt. Vor Gott schwebt deine hohe Würde lieblich in ganz und gar alles durchstrahlendem Blick. Was fliegt, fließt (schwimmt), läuft und lebt oder was auch immer sonst die Luft bedeckt, der Himmelsthron, die Höhle der Erde und was auch immer Feuer oder Wasser trägt, soll dir zu Dienst bereit sein [...]« 470 Vgl. Salzer, Anselm: Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-historische Studie. Linz 1893, S. 76–77. Salzer verweist hier u. a. auf Frauenlob, Iacobus de Voragine oder Thomas von Aquin. 471 Vgl. Biedermann, Hermengild M.: Maria, hl. Mariologie. Frühchristentum und Ostkirche. In: LexMA Bd. 6, Sp. 243–245; vgl. auch Scheffczyk, Leo: Maria, hl. Mariologie. Mariologie im lateinischen Mittelalter. In: ebda., Sp. 245–249; vgl. ebenso: Schäfer, Gerhard M.: Untersuchungen zur deutschsprachigen Marienlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 48), hier vor allen Dingen S. 1–9.
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Im Reinfried ist nicht nur der Spiegel ein Verweis auf die Gottesmutter: Anselm Salzer verzeichnet die Wünschelrute als altes marianisches Symbol, das seine Wurzeln in der Bibel hat,472 sowie das Reisig473 oder die Beiworte, die sich auf das Paradies, den Himmel, die Erde und die erhabene Stellung der Frau beziehen.474 Die oftmalige Verwendung der Anrede wîp am Versanfang und der repetitive Charakter der Aufzählung ihrer Vorzüge erinnern an die Dichtung Frauenlobs, in der das wîp, also die verheiratete, sexuell aktive Frau, eine wichtige Position innehat. Im Minneleich heißt es u. a., dass die einzelnen Buchstaben im Wort wîp für wunne, irdisch und paradis stehen (vgl. ML 22, 2–4475). Die Frau wird als Lustbringerin und potentielle Lebensspenderin wahrgenommen – zwei Attribute, die Frauenlob auch Maria nicht abspricht. Ein weiterer Hinweis darauf, dass im Reinfried eventuell mariologische Bezüge relevant sind, findet sich in den letzten Versen des Frauenpreises, wenn der Frau die gesamte Natur unterstellt wird: Alles soll ihr zu Diensten sein, auch die Welt, die in ihrer Gesamtheit auf zweierlei Art gekennzeichnet sein kann: erstens durch die vier Elemente oder zweitens durch die Tiere, die in den Elementen leben. Diese Tiere sind im Text entweder über ihre Gattungszugehörigkeit (z. B. Würmer, Vögel, Fische und Landtiere) oder über ihre Fortbewegungsart (z. B. Fliegen, Schwimmen, Kriechen, Gehen) geordnet.476 Im Reinfried findet sich beides: In Vers 10970 wird auf die Fortbewegung der Tiere und damit auf die Elemente verwiesen; die nächsten Zeilen spielen auf die Gesamtheit aller Dinge an. Nicht nur alle Lebewesen und alle zugehörigen irdischen Bereiche sollen der Frau zum Dienst unterstellt sein, sondern auch die einzelnen Teile des Kosmos – bei den Sphären der Elemente beginnend bis hinauf zum Firmament. Dass Verweise auf Maria mitschwingen, kann Zufall, aber auch aufgrund des so populären Marienpreises unbewusst eingeflossen sein. Durch derartige Anklänge an die Gottesmutter wird aber sowohl ein weiterer intertextueller Verweis geöffnet, als auch die Frau an sich durch die Bezüge zu Maria erhöht. 472 Vgl. Salzer: Sinnbilder und Beiworte Mariens, S. 504–506. 473 Vgl. ebda., S. 70. 474 Vgl. ebda., S. 504–506, 70, 373–417; vgl. zu Maria als Baum oder Stamm und ihre Verbindung zur Freude des Osterfestes: Gerstl, Karen: Die Lieder Heinrichs von Morungen und mittelalterliche Marienlyrik – Ein Vergleich. Diss. masch. Wien 2002, hier S. 79–81. 475 Die Leichs Frauenlobs (Minneleich = ML, Kreuzleich = KL, Marienleich = UFL) werden hier und in weiterer Folge zitiert nach: Heinrich von Meißen: Leichs, Sangsprüche, Lieder. Aufgrund der Vorarbeiten von Helmut Thomas hrsg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. 2. Bde. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Kl. III. 119–120). 476 Vgl. dazu das Kapitel zu Hugos von Trimberg Der Renner.
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Im Textbeispiel zum Frauenpreis wird die Gesamtheit der Natur in ihre Einzelteile zerlegt, die Elemente bzw. die Elementarzonen bilden die Grundbausteine; wie wichtig die Mischung der unterschiedlichen Teile innerhalb des Ganzen ist, zeigt sich 15000 Verse später, wenn der Reinfried-Dichter über die Salamander und damit über die Tiere spricht, die nur in einem einzigen Element überleben können.477 Hier wird erläutert, wie es sich mit den Elementen und deren Mischung in den Lebewesen und Pflanzen verhält: der elementen viere sint[.] von der conplexen stiure hât alle crêâtiure lîp und lebelîche pfliht. ân ir temperunge niht mac lebende sîn ûf erden. ez moht noch kond ûf werden krût holz loup noch stein ân diu elementen rein diu sô in ein sich flehtent daz sî stæte vehtent mit zwilîcher nâtiure. dürr heiz ist an dem fiure, fiuht und kalt daz wazzer hât, kalt und dürr diu erde stât, heiz und fiuht sô hât der luft (v. 26404–26419)478
Wie bereits bei Fontanagris Lobrede auf Gott erklärt der Reinfried-Dichter, woraus die Lebewesen auf der Erde gemacht werden. Im Vordergrund steht dabei die richtige Mischung der Elemente, die erst gewährleisten kann, dass alles auch wirklich beständig und gut ist. Dabei wird das Viererschema etwas genauer ausgeführt und auch die Sekundäreigenschaften der einzelnen Elemente werden relevant 477 Zur Salamander-Episode (sowie den weiteren Tieren, die nur in einem einzigen Element überleben können) und ihren Wurzeln in der enzyklopädischen bzw. lateinischen Literatur gibt es bereits einige sehr gute Darstellungen. Vgl. u. a. Vögel: Naturkundliches im Reinfried von Braunschweig, S. 118–132; Vgl. Achnitz, Wolfgang: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt. Tübingen 2002 (Hermaea 98), hier S. 145–149. 478 »Es gibt vier Elemente. Durch die Kraft des Zustandes nach einem bestimmten Mischungsprozess (oder: Elementareigenschaften) hat jedes Lebewesen Körper und Lebendigkeit. Ohne ihre ausgewogene Mischung kann nichts Lebendiges auf Erden sein. Es vermag nicht, noch kann Kraut, Holz, Laub oder Stein wachsen (sich aufrichten) ohne die vollkommenen Elemente, die sich in solcher Weise ineinanderflechten (verbinden), dass sie Beständigkeit gewährleisten aufgrund einer zweifädigen Natur. Trocken und heiß ist das Feuer, feucht und kalt hat das Wasser, trocken und kalt ruht die Erde, heiß und feucht, so hat es die Luft.«
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– denn jedes einzelne Element ist von ›zweifacher‹ Natur. Diese Naturen weben sich ineinander, damit letztendlich überhaupt irgendetwas entstehen kann. Interessant ist, dass der Reinfried-Dichter dafür nicht nur die Bezeichnung temperunge, also Mischung bzw. »im gehörigen Verhältnis«, wie es im Lexer heißt479, verwendet, sondern auch auf das in mittelhochdeutscher Literatur selten anzutreffende Wort conplexen (von lat. complexio, was sich mit »Verknüpfung« übersetzen lässt480) zurückgreift. Auch Frauenlob verwendet in seinem Minneleich im Zuge der Selvon-Versikel das Wort complexen (vgl. ML III,9 und ML III,13), wenn er von der Neuordnung der Elementarqualitäten bei der Erschaffung neuen Lebens berichtet.481 Dass der Reinfried-Dichter auf diesen Begriff zurückgreift, hat – bis auf die inhaltlichen Ähnlichkeiten, auf die ich später noch ausführlicher eingehen werde – nichts mit Frauenlob zu tun, sondern lässt auf eine andere Quelle schließen, die als wichtige Einflussgröße für den Reinfried gilt: der Jüngere Titurel Albrechts482: Um 1270 gedichtet, galt der Jüngere Titurel lange Zeit als Werk Wolframs von Eschenbach – nicht zuletzt, da Albrecht Fragmente von Wolfram in seinen Text einarbeitete. Mit heute 57 erhaltenen Textzeugen handelt es sich beim Jüngeren Titurel um eines der beliebtesten Bücher seiner Zeit, das mit über 25.000 Versen auch einen beträchtlichen Umfang vorzuweisen hat. Der Fokus liegt auf dem Gralsgeschlecht und der Geschichte um das Brackenseil, bedient sich des Figurenrepertoires Wolframs und hat auch dessen Romane zur Quelle. Dietrich Huschenbett hält fest, dass Albrecht nur wenig selbst erdichtet hat, sondern fast durchgehend auf andere Quellen zurückgreift483: auf die Werke Wolframs und Hartmanns, die Alexandersage und den Herzog Ernst, die Crône oder den Wigalois, um nur einige zu nennen. Für den Jüngeren Titurel sind auch die religiösnaturkundlichen Quellen (Bibel, Bibel-Exegese, Physiologus, Reisebeschrei479 Lexer (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch Bd. 2, Sp. 1421–1422. 480 Stowasser: Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, S. 102, Sp. 2. 481 Vgl. dazu die Diskussion zu den complexen bzw. den complexiones im Frauenlob-Kapitel ab S. 227. 482 Vgl. dazu u. a. Gereke: Studien zu Reinfried von Braunschweig; vgl. Ohlenroth: Reinfried von Braunschweig, S. 80–83. Ohlenroth beschäftigt sich vor allem mit der Salamander-Episode in den beiden Texten; vgl. Schröder: Zur Wolfram-Kenntnis im Reinfrit von Bruneswic oder vgl. Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, dort v. a. das Kapitel zur Intertextualität ab S. 37. Die allgemeinen Informationen zum Jüngeren Titurel sind u. a. folgenden Quellen entnommen: Huschenbett, Dietrich: Albrecht, Dichter des Jüngeren Titurel. In: VL Bd. 1, Sp. 158–173; Einleitung zur Edition des Jüngeren Titurels von Kurt Nyholm/Werner Wolf: Albrecht von Scharfenberg: Jüngerer Titurel. 4 Bde. Nach den Grundsätzen von Werner Wolf kritisch hrsg. von Kurt Nyholm. Berlin 1955–1995, hier v. a. die S. IX–CXXII des ersten Bandes. 483 Vgl. Huschenbett: Albrecht. In: VL Bd. 1, Sp. 166–168.
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bungen etc.) von großer Bedeutung – nicht zuletzt, da Albrecht Interesse an technischen Wundern und Edelsteinen hatte, wie bei seiner Beschreibung des Gralstempels offensichtlich wird. Albrecht spricht zweimal von der complexie: einmal, wenn von den Vorzügen von Kondwiramurs und Sigune die Rede ist: 681 Ir natur complexio getempert und gemezzen mit elementen was also, daz rechter forme wart da nicht vergezzen ze wunsche wol nach hochgelobtem prise, also daz in nicht gebrach wan vite lignum obz zu paradise484;
ein zweites Mal, wenn er von minne und unminne und vom Gott Amor erzählt: 4038 Niht gar wol underbinden kann si der varw gesihte. swer sie zereht ervinden wil, daz můz ein fisicus die richte sin gelert von der natur conplexte. ich vind si mit der tate zeprim, zenon, zevesper oder zu sexte.485
Das Wort complexio wird einmal in seiner ursprünglich lateinischen Form verwendet, ein zweites Mal in einer eingedeutschten Form: conplexte. In beiden Stellen geht es um die Natur, um Physik und um ein rechtes Mischungsverhältnis. Wie genau der Ausdruck nun zu übersetzen ist, lässt sich nicht eindeutig festmachen. Die direkte Übersetzung aus dem Lateinischen, die »Verknüpfung«, macht im zweiten Textbeispiel durchaus Sinn, da der Physiker, auf den hier angespielt wird, die Natur und deren Verbindungen, also die Art und Weise, wie alles zusammengesetzt ist, zum Beruf hat. Im ersten Textbeispiel, das die natur complexio zum Inhalt hat, wird wohl auf so etwas wie eine ›zusammengesetzte Natur‹ angespielt, auf das Ergebnis einer komplexen und perfekten Mischung aus den 484 Der Jüngere Titurel wird hier und im Folgenden zitiert nach: Albrecht von Scharfenberg: Jüngerer Titurel. Nach den ältesten und besten Handschriften kritisch herausgegeben von Werner Wolf und Kurt Nyholm. 5 Bde. Berlin 1955–1992 (DTM 45, 55, 61, 73, 77). »Die Mischung ihrer Natur war mit den Elementen auf eine Art und Weise im richtigen Verhältnis gemischt und abgemessen, sodass die richtige (vollkommene) Form nicht vergessen wurde, vollkommen schön nach ausgezeichnetem Lobpreis, so, dass ihnen nichts fehlte, außer die Frucht des Lebensbaums im Paradies.« 485 »Nicht gut auseinanderhalten kann man sie [die minne und die unminne] durch die Gesichtsfarbe. Wer auch immer sie zu recht ausfindig machen will, das muss ein Arzt sein, der richtig gelehrt ist von den Elementareigenschaften/Mischungen/Verknüpfung der Natur. Ich finde sie [die complexiones] am Werk zur Prim, zur Non, zur Vesper oder zur Sext.«
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Elementen. Auszuschließen ist die wörtliche Bedeutung ›Element(e)‹, da von ihnen in Vers 2 der 681. Strophe explizit die Rede ist und im zweiten Beispiel eine derartige Übersetzung noch dazu keinen rechten Sinn ergibt. Anhand dieser Beispiele aus dem Jüngeren Titurel lässt sich zeigen, dass die direkte Übersetzung aus dem Lateinischen zwar den Sinn der mittelhochdeutschen conplexte prägt, die Bedeutung jedoch erweitert wird. Die ursprüngliche ›Verknüpfung‹ wird noch angedeutet, da ein Zustand der Natur nach einem Mischprozess beschrieben wird, der durch den Einsatz der Elemente zustande kommt und so komplex ist, dass es einen Physiker braucht, um ihn zu durchschauen. Beim Reinfried (v. 26405) ist diese Bedeutung durchaus sinnstiftend, doch auch eine erweitere Lesart im Sinne Frauenlobs hin zu den Elementareigenschaften wäre denkbar. Aus allen Textbeispielen – und hier möchte ich auch Albrechts Jüngeren Titurel und Frauenlobs Minneleich miteinbeziehen – geht aber eindeutig hervor, dass das Wort conplexte bzw. complexiones immer in Verbindung mit den Elementen (genauer: der Mischung der Elemente oder auch der Elementareigenschaften und den sich hieraus ergebenden beständigen Naturen) steht und dabei im Vergleich mit anderen Texten hervorsticht. Die lateinischen Einsprengsel sind innerhalb volkssprachlicher Dichtungen untypisch – nicht nur aufgrund der Gelehrtensprache, sondern hauptsächlich, weil dadurch auf natur›wissenschaftliche‹ Zusammenhänge verwiesen wird. Dass in Hinblick auf die Mischungsverhältnisse der Elemente auf ›Fachvokabular‹ zurückgegriffen wird, zeugt davon, dass man sich der Komplexität des Gegenstandes und auch der ›Wissenschaftlichkeit‹ des beschriebenen Sachverhaltes bewusst war. Dass ein ausgewogenes Mischungsverhältnis der Elemente für den Körper wichtig ist, kann an zwei weiteren Episoden im Reinfried von Braunschweig beobachtet werden, in denen indirekt über den ausgewogenen Säftehaushalt des Körpers auf die Gesundheit des Menschen angespielt wird.
5.3 Von gebrochenen Herzen Im Orient, nachdem der Perser und Reinfried im Magnetberg von Vergil und Savilon erfahren haben, treffen die beiden Abenteurer auf einen Kapitän und dessen Mannschaft aus dem Lande Ejulat, die von einer unglücklichen Begegnung mit einer Sirene berichten, die eines ihrer Schiffe durch ihren Gesang zum Kentern gebracht haben soll (vgl. v. 22010–22015). Reinfried setzt sich in den Kopf, die Sirene mit eigenen Augen zu schauen und zwingt einige Männer der Schiffsbesatzung dazu, mit ihm nochmals aufs Wasser zu fahren, um nach ihr Ausschau zu halten. Dabei bedient er sich der List des Odysseus, lässt sich selbst
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an den Mast binden und den anderen Männern die Ohren verstopfen (diese List wird ab v. 22273 genau geschildert). Die Sirene taucht tatsächlich auf und verzaubert Reinfried mit ihrem Gesang. Der Erzähler versäumt nicht zu erwähnen, dass Reinfried sicher an einem gebrochenen Herzen gestorben wäre, wenn das Schiff sich länger in der Gegenwart der Sirene aufgehalten hätte. Da jedoch die Männer die Schreie des Reinfried nicht hören konnten und einfach weiterfuhren, retteten sie ihm so das Leben (vgl. v. 22430–22455). Die Sirene kann aber offensichtlich nicht glauben, dass sie dieses Schiff nicht zum Kentern bringen kann und schwimmt ihm singend nach; so sehr versucht sie, die Männer in ihren Bann zu ziehen, dass sie sich sogar über die Wasseroberfläche schwingt und ihren Körper erblicken lässt. Dabei stellt sie sich als ein noch größeres Wunder heraus, als alles, was Alexander mit seinen eigenen Augen erblickt hat (vgl. v. 22514–22533): nâ einer schœnen frouwen was si geformieret. ein guldîn krône zieret ir minneclîchez houbet. […] obwendic gürtels was sî blôz und was ir minneclîcher lîp ûf alle mâze als ein wîp gescheffet und gestellet. […] under dem gürtel was ir vel geschüppet, wan ez was ein visch. sî spranc ûf von dem wazzer frisch dem kiele nâ untrâge. mit manges dônes lâge hette sî daz selbe schif verleitet gern in tôdes grif.486
Das Schiff ist aber so schnell unterwegs, dass die Sirene von ihm ablassen muss. Dieser Umstand ist für sie derart schmerzhaft, dass sie wenig später an einem gebrochenen Herzen stirbt:
486 »Nach einer schönen Frau war sie geformt. Eine goldene Krone zierte ihren liebreizenden Kopf. Oberhalb des Gürtels (der Taille) war sie nackt und ihr liebreizender Körper war ganz genau wie eine Frau geschaffen und gestaltet. Unterhalb des Gürtels (der Taille) war ihre Haut schuppig, da sie ein Fisch war. Sie sprang keck und ohne zu zögern vom Wasser hoch und dem Kiel nach. Mit so manch hinterhältigem Ton hätte sie dasselbe Schiff gerne in die Klauen des Todes geführt.«
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diu Sîrêne offenbar fuor iemer mê dem schiffe nâch. ir was ze singende sô gâch, dô sî daz schif entrinnen sach, daz ir in dem lîbe brach von überdon das herze. sô bitterlîcher smerze twanc sî inwend des lîbes brust um die schedelîch verlust der sî sicher wânde sîn. solich nôt ist dicke schîn in gîteclîchem orden ûf dirre erden worden, […] gîtekeit diu schaffet daz, wan sî niht benüeget.487 (v. 22608–22629)
Die Sirene stirbt an einem übermäßig großen Schmerz infolge der Enttäuschung darüber, das Schiff nicht zum Kentern bringen zu können. Das vergleicht der Dichter mit der Emotion der Gier, die es schafft, dass ein Herz sich viel zu sehr nach etwas sehnen kann und dadurch letztendlich zerbricht.488 Dass es einer Emotion möglich ist, so nachhaltig auf einen Körper einzuwirken, dass dieser sich davon nicht mehr oder nur sehr schwer erholen kann, ist im Rahmen der Lehre zu den vier Säften keine Seltenheit und tritt auch im Reinfried noch zwei weitere Male beispielhaft zu Tage: In einer Episode berichtet der Erzähler davon, dass der Baruc von Babylon, als er den Perser und Reinfried tot glaubt, nur wie durch ein Wunder nicht aufgrund seiner Trauer an einem gebrochenen Herzen stirbt (vgl. v. 24083–24085). Dass er sich in einem so leidensvollen, traurigen Zustand befindet, rettet ihm aber daraufhin das Leben, als ein Bote mit der gegenteiligen Nachricht an seinen Hof kommt. Dort heißt es: 487 »Die Sirene folgte dem Schiff sichtbar immer weiter nach. Sie war so begierig darauf zu singen, dass, als sie das Schiff entrinnen sah, ihr in dem Köper aufgrund von übermäßiger Anstrengung (von übermäßigem Ton/Singen) das Herz brach. Ein so schrecklicher Schmerz drückte sie im Inneren des Körpers bei der Brust zusammen wegen des Schaden bringenden Verlustes, dessen sie sich bereits sicher wähnte. Solche Not ist oft in Zusammenhang mit gierigem Verhalten (in gieriger Art) auf dieser Erde sichtbar geworden […] Der Geiz (die Gier) schafft das, da er nie genug hat.« 488 Achnitz versteht das mittelhochdeutsche Wort gîtekeit nicht in seiner gängigen Bedeutung als »Gierigkeit, Habgier, Geiz« (Lexer (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch Bd. 1, Sp. 1024), sondern gibt als Übersetzung das lateinische Wort cupiditas an, in welchem zwar die Habgier als Wortbedeutung mitschwingt, das aber vordergründig als Leidenschaft, Begierde bzw. auch als starker Wunsch zu übersetzen ist. Vgl. Achnitz: Babylon und Jerusalem, S. 197–198.
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als er diz mære hât vernomen, vor fröude im wart, geloubent mirs, tûsentfalteclîche wirs dann im vor leide ê wære. […] daz herz sich wol vergâhet an unmæziger fröude grôz, daz ez im selben tuot den stôz mit snelleclîchem gufte nâch fröudenrîchem lufte der im gât ûf sin ende vor. daz mac ûf trûreclîchem spor niht gesîn, dâ sinket nider herze und alles lîbes lider mit bedæhteclîcher klage. alsus von wârlîcher sage stirbet man von fröuden wol und ê, ob ich ez sprechen sol, denn von rehtem leide. (v. 24166–24129)489
Der Baruc stirbt nur deshalb weder am Leid noch an der Freude (und dieser Tod wäre ihm ja noch viel sicherer gewesen als der aus dem Schmerz heraus), da sich die beiden Emotionen auf wunderbare Art und Weise ergänzen, die Sinne völlig verwirren und damit dem Tod ein Schnippchen schlagen (vgl. v. 24144–24153). Auch Reinfried ergeht es ähnlich, als er von der Geburt seines Sohnes erfährt. Hier gibt es aber keine ausgleichende Emotion und die große Freude kostet ihn daher fast das Leben: Von fröuden wart der fürste gar Geschickes als er wære tôt. Nâch grüener bleiche wart er rôt Und wunderlîch geschicket.. Sîn herze wart gestricket Ze fröuden sô unmæzic grôz Daz im daz bluot wallende flôz Von nasen und von munde. Er viel an der stunde 489 »Als er diese Geschichte vernommen hatte, wurde ihm aus Freude – glaubt es mir – noch tausendmal schlechter als es ihm aus Leid je gewesen war. […] Das Herz übereilt sich an übermäßig großer Freude so sehr, dass es sich selbst einen Stoß versetzt, mit einem plötzlichen freudigen Schrei nach sehr erfreulicher Luft, der seinem Ende vorausgeht. Das kann auf der traurigen Fährte nicht sein, da sinken das Herz und der gesamte Körper nieder mit bedachtsamer Klage. So stirbt man – auf wahren Aussagen begründet – aufgrund von Freude gewiss und noch eher, wenn ich es sagen darf, als von richtigem Leiden.«
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Von fröuden in sô tiefez leit Daz sî tôdes arebeit Sich al an im versâhen. (v. 24441–24453)490
Seit der Antike wird die Gesundheit eines Menschen darüber definiert, wie ausgeglichen seine vier kardinalen Körpersäfte sind. Schon Hippokrates geht davon aus, dass Krankheiten nicht nur aufgrund von Einflüssen aus der Umwelt, aus der täglichen Nahrung und aufgrund von mangelhafter Ausscheidung verursacht werden, sondern dass darüber hinaus auch ein fehlgesteuerter Affekthaushalt maßgeblich die Gesundheit eines Menschen beeinflussen kann.491 Galen prägte den Begriff des ›Pathos‹, der sowohl auf das Leiden als auch auf die Leidenschaften anspielt, die einen Menschen im Laufe seiner Entwicklung affizieren.492 Das europäische Mittelalter kennt die Autoren der klassischen Antike und damit auch die antike Heilkunde. Obwohl das Schema der Viersäftelehre übernommen wird, wird Krankheit nicht mehr nur ausschließlich als Auswirkung eines Säfteungleichgewichts verstanden; hinzu kommt die Eigenverschuldung des Menschen, da Krankheit als Zeichen der menschlichen Kreatürlichkeit verstanden wird und damit Ursachen im persönlichen Verhalten haben kann, das wiederum das Gleichgewicht der vier humores beeinflusst.493 Die Erhaltung der Gesundheit – auf seelischer und körperlicher Ebene – ist den Lehrmeistern der Scholastik bereits seit dem 11. Jahrhundert ein Anliegen und findet vom 13. bis ins 15. Jahrhundert in der weiten Verbreitung der Regimina sanitatis, die in der hippokratisch-galenischen Medizin verwurzelt sind, ihren Höhepunkt.494 Darin finden sich sechs fundamentale Lebensbereiche, denen man, um das Gleichgewicht der Gesundheit zu erhalten, seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Diese sex res non naturales beziehen sich auf 1. die Luft als Inbegriff der Umwelt (auch Jahreszeiten, Wind und Klimazonen); 2. Speise und Trank, sowie
490 »Aus Freude sah der Fürst ganz so aus (wurde der Fürst ganz und gar so gestaltet), als wäre er tot. Nach grünlicher Bleiche wurde er rot und erstaunlich (seltsam) gestaltet. Sein Herz wurde wegen der unmäßig großen Freude so festgeschnürt, dass ihm das Blut wallend aus Nase und Mund strömte. Er fiel sogleich aus der Freude in so tiefes Leid, dass sie alle die Arbeit des Todes an ihm zu sehen glaubten.« 491 Vgl. Schipperges, Heinrich: Krankheit und Kranksein im Spiegel der Geschichte. Berlin u. a. 1999 (Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 5), S. 31–32. Zusätzlich zu den oben genannten Einflussfaktoren können auch die Jahreszeiten, das Alter, Geschlecht und die individuellen Lebensgewohnheiten auf die Gesundheit eines Menschen einwirken. 492 Vgl. ebda., S. 37. 493 Vgl. ebda., S. 44–45. 494 Vgl. Schmitt, Wolfram: Regimina. In: LexMA Bd. 7, Sp. 575–577.
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deren Verdaulichkeit; 3. Bewegung und Ruhe (wobei die maßvolle Bewegung wichtig ist – von übermäßiger oder gar keiner Bewegung ist abzusehen); 4. Schlafen und Wachen, die eng mit der Aufnahme der richtigen Speisen verbunden sind (im Schlaf erholt sich das Gehirn und reguliert die Verdauungsabläufe, während das Wachen den Körper austrocknet, aber die Sinne stärkt); 5. Füllung und Entleerung des Körpers – dazu gehören sowohl die tägliche Körperpflege als auch der Aderlass und die Sexualität; 6. die Gemütsbewegungen, affectus animi, da Gesundheit oder Krankheit entschieden von einem maßvollen Umgang mit den Leidenschaften und Emotionen abhängen.495 Der jüdische Arzt und Gelehrte Maimonides496 sieht im Tod das Erlöschen der im Menschen angeborenen Wärme und damit einen Verlust des natürlichen Gleichgewichtssystems im Organismus. Für ihn sind die physiologischen Grundfunktionen des Menschen auf Wärme, Feuchtigkeit und Pneuma zurückzuführen. Die schlechte Mischung der Säfte kann dabei das Organsystem der Wärme verderben – die davon betroffenen Organe sind das Gehirn, die Leber und das Herz. Mit diesen drei Organen (und damit auch mit der Regulierung des Wärmehaushalts) ist der wichtigste der vier Körpersäfte verbunden, das Blut, das in der Leber produziert wird und dann im Körper zirkuliert.497 Laut Maimonides gibt es verschiedene Wege, auf denen die lebenswichtige Wärme im Körper verloren gehen kann. Er unterscheidet zwischen inneren und äußeren Ursachen, wobei die inneren Ursachen im Erkranken eines Organs oder einer qualitativen Veränderung der Wärme im Körper zu suchen sind. Bei den äußeren Ursachen handelt es sich um das Austreiben oder Umkehren der Wärme durch die Überfüllung des Körpers mit Fremdstoffen oder aufgrund einer mangelhaften Atemtätigkeit.498 Auch Emotionen können das Gleichgewicht der Wärme im Körper stören und schwerwiegende Auswirkungen für die Gesundheit des Menschen haben.499 495 Vgl. Schmitt, Wolfram: Res non naturales. In: LexMA Bd. 7, Sp. 751–752. 496 Maimonides lebte und arbeitete im 12. Jahrhundert in Fez und Alt-Kairo und wurde bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Palermo zum ersten Mal übersetzt. Er galt in der gesamten mittelalterlichen Philosophie und Theologie als wichtige Autorität, baute sein Wissen wie alle Mediziner dieser Zeit auf die Lehren von Hippkrates und Galen auf und beeinflusste Gelehrte wie Wilhelm von Auvergne, Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder auch Aegidius Romanus. Vgl. Hödl/Schmitz: Maimonides. In: LexMA Bd. 6, Sp. 127–128. 497 Vgl. Moses Maimonides: Medical Writings. The Medical Aphorisms of Moses Maimonides. Translated and annotated by Fred Rosner, M.D. with bibliography by Jacob I. Dienstag. 7 Bde. Bd. 3. Haifa 1989, S. 26. 498 Vgl. Schipperges: Krankheit und Kranksein, S. 66. Maimonides rät daher dazu, zuallererst auf die Erhaltung der Wärme im Körper zu achten, wenn eine gute und stabile Gesundheit angestrebt wird. Vgl. Maimonides: Medical Writings Bd. 3, S. 272. 499 In den medizinischen Aphorismen des Maimonides findet sich der Aufruf zum Mittelmaß, wenn von den unterschiedlichen Temperamenten der Menschen die Rede ist: »The proper path is
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Starke Freude kann Wärme ganz plötzlich aus dem Körper austreten lassen; das geschieht unmittelbar, dem ähnlich, wenn ein starker Wind die Flamme einer Kerze oder Lampe auslöscht. Auch das Gegenteil kann der Fall sein, wenn sich die natürliche Wärme nach innen kehrt, wie es bei Angst oder Erschrecken passiert. Dann zieht sich die Wärme ins Innere des Körpers zurück und wird so unterdrückt, dass sie erlischt und zum plötzlichen Tod führt.500 Der Baruc von Babylon erfährt das am eigenen Leib. Seine großen Sorgen und die anschließende übermäßige Freude bringen ihn in akute Lebensgefahr, da er sich nicht an die Regeln für eine gute Gesundheit hält, die ja besagen, dass nur die regulierten, maßvollen Affekte vor einem plötzlichen Tod bewahren können. Auch abseits von Maimonides und den großen arabischen Gelehrten ist in Westeuropa bekannt, dass zu starke, unkontrollierte Affekte den Körper negativ beeinflussen. Hildegard von Bingen, die im 12. Jahrhundert lebte und schrieb, machte sich als Mystikerin und Heilerin einen Namen.501 In ihrer Heilkunde beschäftigt sie sich explizit mit den Gemütsbewegungen und erläutert, welchen Einfluss diese auf die Physis des Menschen haben. Gemütsstörungen sind in ihrer Weltsicht eine Folge des Sündenfalls und werden am Beispiel Adams erklärt. Traurigkeit und Verzweiflung werden auf ein Gerinnen der Schwarzgalle im Blut zurückgeführt, außerdem kann diese Schwarzgalle einen zusammenziehenden Effekt auf Blut und Fleisch haben und den gesamten Organismus stören. Bei der Freude wird laut Hildegard die Milz angegriffen, die dann auf das Herz übergreift und letztlich die Leber anfüllt. So, wie die Traurigkeit und der Zorn den Menschen
the middle (or intermediate) tendency to each of the temperaments with which man is endowed. It is the temperament which is equidistant from the two extremes and is closer to one extreme than the other. Therefore the early Sages instructed that a man should constantly reevaluate his temperaments and weigh them and direct them to the middle path, in order that his body be perfect.” Moses Maimonides. Medical Writings. The Medical Aphorisms of Moses Maimonides. Translated and annotated by Fred Rosner, M.D. with bibliography by Jacob I. Dienstag. 7 Bde. Bd. 4. Haifa 1990, S. 183. 500 Vgl. Schipperges: Krankheit und Kranksein, S. 66–67. Maimonides verweist auf einen direkten Zusammenhang mit den Lungenkrankheiten. Starke negative Emotionen beeinträchtigen die Atemfunktion und führen zu einem Versagen der Stimme; in weiterer Folge droht der Tod. Obgleich gemäßigte Freude sich positiv auf den Körper und die Gesundung auswirkt, kann zu große Freude (und damit ist auch übermäßige körperliche Leidenschaft gemeint) schnell gesundheitsschädigend sein, da »[…] one becomes ill and may even die because the soul is destroyed and corrupted and leaves [the body], and the heart becomes cold and the person dies.« Moses Maimonides. Medical Writings. The Medical Aphorisms of Moses Maimonides. Translated and annotated by Fred Rosner, M.D. with bibliography by Jacob I. Dienstag. 7 Bde. Bd. 6. Haifa 1994, S. 73–74. 501 Vgl. Gössmann, E.: Hildegard v. Bingen. In: Lex MA Bd. 5, Sp. 13–15.
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schwächen und austrocknen502, kann auch die Freude den Säftehaushalt erschüttern und alles wild durcheinanderfließen lassen.503 Die aufschlussreichste Schilderung der Folgen fehlgeleiteter oder übermäßiger Emotionen findet sich aber in einem Brief Hildegards an den Abt vom Michelsberg bei Bamberg, den Heinrich Schipperges in seinem »Garten der Gesundheit« zitiert. Dort heißt es, dass wenn Menschen zu zornig, traurig oder furchtsam sind oder aus irgendeinem anderen Grund zum Spielball ihrer Gemütsregungen werden, […] dann bersten oder zerbrechen bisweilen infolge dieses zweckwidrigen Verhaltens die Gefäße an Gehirn, Hals und Brust und fließen über den Geruchsweg der Nase nach draußen. […] Derart […] törichte Gemütsbewegungen lassen nämlich die erwähnten Gefäße anschwellen und schließlich das Blut austreten.504
Genau das passiert mit Reinfried, als er von der Geburt seines Sohnes erfährt. Die übermäßige Freude schädigt seinen Organismus so sehr, dass ihm das Blut aus Nase und Mund schießt und ihn fast das Leben kostet. Auch der plötzliche Tod der Sirene lässt sich anhand mittelalterlicher diätetischer Regeln erklären. Auf der einen Seite steht die Aufforderung zur Zügelung der Leidenschaften aus der Regimen sanitatis und damit die Vorbeugung der Fehlleitung übermäßiger Emotionen im Körper. Wenn der Erzähler von der Gier und dem anschließenden Tod der Sirene berichtet, dann gilt diese unstillbare Sehnsucht durchaus als ungezügelte Leidenschaft, als übermäßige Emotion. Es kommt hinzu, dass Sirenen bereits seit der Spätantike als Lockvögel des Lasters gelten. Bei Ambrosius werden sie als Sinnbilder der singenden Wollust der 502 Dass nicht nur der Verlust der Wärme, sondern auch das Austrocknen der Lebensfeuchtigkeit, die bei Maimonides zu einer der drei Grundfunktionen des Lebens zählt, zum Tod führen kann, schildert Schipperges in einem zusammenfassenden Absatz im Kapitel »Krankheitslehren im hohen Mittelalter«, in dem er auf Maimonides und Petrus Hispanus verweist: »Rein biologisch gesehen wäre daher die Krankheit durchaus als Verlust des elementaren Gleichgewichts (defectus aequalitatis) zu begreifen. Die Schwächung (detrimentum) an Lebenswärme und Lebensfeuchte zieht einen Abbau (destructio) der Lebensgeister nach sich; diesem folgt dann die Abnahme der Lebenskräfte (defectus virtutum) auf dem Fuße und schließlich mit Abbau der Lebensfunktion die Auflösung der Gesamtorganisation (dissolutio machinae membrorum). Der Mensch stirbt also am Verbrauch der Lebensfeuchte (propter consumptionem humiditatis substantialis) wie auch am Verlust der Lebenswärme (propter extinctionem caloris naturalis).« Schipperges: Krankheit und Kranksein, S. 73. 503 Vgl. Hildegard von Bingen: Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen der Heilung der Krankheiten. Nach den Quellen üs. u. erläutert von Heinrich Schipperges. 2. Auflage. Salzburg 1957, S. 220–225. 504 Schipperges: Der Garten der Gesundheit, S. 267–268.
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Welt geschildert und gelten als »Inbegriff verlockender, weiblich konnotierter Versuchung.«505 Auch Reinfried scheint dieser Versuchung zu erliegen, wenn er während des Sirenenabenteuers seine geliebte Ehefrau Yrkane völlig vergisst und sich in übermäßiger Leidenschaft nach der Sirene verzehrt. Er möchte ihr blind nachfolgen, ist aber aufgrund seiner Fesseln körperlich dazu nicht fähig. Bevor er sich wieder liebevoll an seine Frau erinnert und die Minne zu ihr spürt, bereut er es aber noch, der Sirene nicht nachgefolgt und nachgestorben zu sein (vgl. v. 22670–22673). Diese unminne, die das direkte Resultat einer fehlgeleiteten curiositas darstellt, hat durchaus lebensbedrohliche Auswirkungen.506 Auf der anderen Seite erinnern die Schilderung der Leiden der Sirene und auch die Art und Weise, wie ihr Tod erzählt wird, an die physiologische Reaktion auf Überanstrengung und akute Luftnot. Auch wenn Maimonides die gesundheitsfördernde Wirkung von Sport bekräftigt, weist er darauf hin, dass der Mensch bei körperlicher Anstrengung ganz besonders auf seine Ernährung achten und zusätzlich zu einer gesunden Diät auch Medizin einnehmen muss, um seine Gesundheit nicht zu gefährden.507 Darüber hinaus wird erwähnt, dass Emotionen und emotionaler Stress starken, schädigenden Einfluss auf die Stimme und die Atmung haben können; bisweilen kann das sogar zum Tod führen.508 Die Sirene muss sterben. Nicht nur, da sie sich übermäßigen Leidenschaften hingibt, sondern auch, da sie sich in zweierlei Hinsicht völlig überanstrengt, was einen Zusammenbruch des physiologischen Gleichgewichts zur Folge hat. Einerseits schwimmt sie dem Schiff über eine lange Strecke nach, springt sogar so weit aus dem Wasser, dass die Mannschaft den zweigeteilten Körper des Meerwesens 505 Hinz, Berthold: Sirenen. In: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart/ Weimar 2008 (Der Neue Pauly. Supplemente 5), S. 655–661, hier S. 656, Sp. 2. 506 Vgl. Vögel: Naturkundliches im Reinfried von Braunschweig, S. 105–107; vgl. auch Baisch, Martin: durchgründen. Subjektivierung und Objektivierung von Wissen im Reinfried von Braunschweig. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u. a. Königstein/Taunus 2005, S. 186–199, hier S. 192–194; vgl. auch Haug, Walter: Von aventiure und minne zu Intrige und Treue. Die Subjektivierung des hochhöfischen Aventürenromans im Reinfried von Braunschweig. In: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Hrsg. von Paola Schulze-Belli/Michael Dallapiazza. Göppingen 1990 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 532), S. 7–22, hier S. 18–19; vgl. auch Achnitz: Babylon und Jerusalem, S. 193–201. 507 Vgl. Maimonides. Medical Writings Bd. 3, S. 281. 508 Vgl. Maimonides. Medical Writings Bd. 6., S. 73–74. Auch Schipperges zitiert in diesem Zusammenhang Maimonides und spricht davon, dass der Tod eintritt, »wenn bei mangelnder Respiration die Luft verhindert wird, in die Lunge zu kommen. Dann häufen sich nämlich die rauchigen Abfallstoffe im Herzen derart, daß die natürliche Wärme erlischt. Dies passiert auch dem Licht einer Lampe, wenn ein dicht abschließendes Gefäß darüber gestülpt wird; dann häuft sich der Rauch an, und die Flamme erlischt.« Schipperges: Krankheit und Kranksein, S. 67.
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bewundern kann. Andererseits singt sie, so laut und so inbrünstig sie kann, in der Hoffnung, das Schiff doch noch zum Kentern zu bringen. Sie zeigt somit körperliche Anzeichen fehlgeleiteter Emotionen, die schließlich ihren Tod herbeiführen. Reinfried steht vor einer ganz ähnlichen Gefahr, die sich jedoch in einem wichtigen Punkt vom Schicksal der Sirene unterscheidet: Der Text berichtet, dass Reinfried aufgrund seiner quälenden Leidenschaft der Sirene gegenüber jener eigentlich am liebsten nachsterben würde. Ihr betörender Gesang hat ihn in einen Zustand völliger Willenlosigkeit versetzt; die Stimme der Sirene entfacht in ihren Zuhörern eine derart übersteigerte Leidenschaft, ein so unstillbares Begehren, dass der einzige Ausweg der Tod – im Falle der Schiffsbesatzungen das Ertrinken – zu sein scheint. Obwohl das Sirenenmotiv ein altes ist509, kann im Falle Reinfrieds eine neue Lesart, die auf den Zusammenhang zwischen übermäßiger Leidenschaft (hier spielt auch das Motiv der übersteigerten curiositas mit hinein) und dem Willen zum Freitod verweist, Sinn stiften. Der Text spielt an mehreren Stellen mit den physiologischen Ursachen und Auswirkungen starker Emotionen, ist sich also ihrer fatalen Folgen bewusst. Reinfried aufgrund seiner physischen Immobilität davor zu bewahren, einen sicheren Tod zu erleiden, ist nicht nur die Verhandlung eines mythologischen Motivs, sondern impliziert auf einer bildlichen Ebene im Kontext der humoralpathologischen Hintergründe auch das ›Still‹-Halten, das Verharren, die erzwungene körperliche Mäßigung, die wahrscheinlich das Schlimmste gerade noch verhindert. Bevor ich mich Frauenlobs Leichs widmen werde, noch eine kurze Bemerkung zur Sirene510 und ihrem Medium – dem Wasser: Die Sirene steht im Reinfried von Braunschweig nicht nur über ihre Emotionalität und über den Bereich der Säftelehre in Zusammenhang mit den Elementen. Obwohl sie in ihren mythologischen Ursprüngen noch nicht als Fischfrau geschildert wird, hat sie dennoch bereits bei Homer starke Bezüge zum Meer und damit zum Wasser, da sie durch ihren Gesang Schiffe zum Kentern und deren Besatzungen zum Ertrinken bringt. 509 Diese Figuren aus der antiken griechischen Mythologie tauchen zum ersten Mal in der Odyssee Homers auf und werden ursprünglich als Mischwesen aus Mensch und Vogel beschrieben. Sie haben Macht über Wetter und Meer und betören durch ihren lieblichen Gesang vorbeifahrende Schiffer, die dann an den Meeresklippen scheiterten und umkommen. Die Vorstellungen darüber, wie Sirenen auszusehen haben, verselbstständigen sich aber schnell; sie werden mit Flügeln abgebildet oder als Mischwesen aus Mensch und Fisch beschrieben. Vgl. Hinz: Sirenen. In: Mythenrezeption, S. 655–661; vgl. auch Sirene. In: Lexikon der Antike. Hrsg. von Johannes Irmscher in Zusammenarbeit mit Renate Johne. Berlin 1999 (Digitale Bibliothek 18), S. 542; vgl. auch Sirene. In: Wörterbuch der Mythologie. Hrsg. von Willhelm Vollmer. Berlin 2004 (Digitale Bibliothek 17), S. 415. 510 Zu den Wasserfrauen und deren Motivgeschichte bis in die Gegenwartsliteratur hinein: Vgl. Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a. M. 2010.
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Im Mittelalter taucht die Vogelfrau kaum mehr auf, die Sirene wird (wie im Älteren Physiologus oder dem Buch der Natur Konrads von Megenberg nachzulesen ist511) als Meerwesen nun endgültig dem Element Wasser zugeordnet.512 Lässt man sich auf eine von den Wurzeln der Säftelehre geprägte Lesart ein, verschmilzt die Sirene mit dem Element, in dem sie wohnt. Es überlagern sich sowohl die elementaren Primärqualitäten von Wasser und dem weiblichen Geschlecht als auch die von beiden ausgehende bedrohliche und mitunter sogar tödliche Qualität.513 Der Reiz des Weiblichen, stark Erotisierten in der Sirene korreliert mit der ›urweiblichen Qualität‹ des Wassers als Träger der weiblichen Elementareigenschaften ›kalt‹ und ›feucht‹. Dass die Verlockung der Sirene zugleich die größte Gefahr in sich birgt, stellt sich als weitere Parallelisierung zum Wasser heraus, da dieses Element, auf das man sich einlassen muss, um überhaupt einer Sirene begegnen zu können, auch den Tod herbeiführt. Das geht aus der Erzählung des Kapitäns aus Ejulat hervor, der den Verlust seines zweiten Schiffes und damit auch den Tod der gesamten Mannschaft betrauert: sus kan Sirêne ertrenken swel ir stimme nement war. die tœret sî biz daz sî gar in voller lust ertrinkent und willeclîch versinkent nâ dem süezen dône. (v. 22056–22031)514 511 Konrad von Megenberg bezeichnet die Sirenen als Merweiben. Er beschreibt sie als Monstren, die ein Gemisch aus Frau, Fisch und Vogel sind, mit großen Brüsten, an denen ihre Kinder saugen. Er schildert, wie sie durch ihren süßen Gesang, der an den Gesang der Vögel erinnert, die Seefahrer einlullen und sie in süßen Schlaf versetzen, woraufhin die Meerfrauen über jene herfallen. Konrad sieht in den Sirenen diu untugenthaften weip, diu weipleicher zuht verlaugent habent, diu lockent mangen man ze pôshait. Vgl. Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur, S. 240. Konrads Schilderungen weichen nur wenig von denen aus dem Älteren Physiologus (ca. um 1070 entstanden) ab, in dem die Sirenen als uunderlihu uuihtir, als wundersame Gestalten beschrieben werden, die im Meer hausen. Auch sie locken durch ihren Gesang die Seeleute an und fallen später, wenn diese schlafen, über sie her. In der abschließenden allegorischen Auslegung der Sirenenepisode, wird im Physiologus darauf hingewiesen, dass sie […] bezeinet […] den fiant, der des mannis muot spenit ze din uueriltlihen lusten. Auch hier steht die Sirene bereits für die weltliche Verlockung, doch ist im Vergleich zum Buch der Natur nicht die Frau die Verführerin, sondern der Teufel. Vgl. Der Ältere Physiologus. In: Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII–XII Jahrhundert. Hrsg. von Karl Müllenhoff/Wilhelm Scherer. 1. Bd.: Texte. Berlin 1892, S. 262–266. 512 Vgl. Hinz: Sirenen. In: Mythenrezeption, S. 658, Sp. 1. 513 Zur Verbindung von höfischer Weiblichkeit und feenhaften, mythischen Residuen in erzählender Literatur vgl. das Kapitel zu Wolframs Parzival. 514 »Wer/Was auch immer ihre Stimme wahrnimmt, kann die Sirene auf diese Weise ertränken. Sie betört sie, bis dass sie ganz und gar in voller Lust ertrinken und freiwillig versinken, dem süßen Ton nach.«
Schlussfolgerungen
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Der Kapitän erzählt weiter, dass die Betörten nicht mehr von der Sirene ablassen können und letztendlich am Grund des Meeres liegen bleiben (vgl. v. 22035– 22039). In der Klage des Kapitäns verbinden sich Wasser und Sirene zu einem verlockenden und zugleich gefährlichen Motiv. Die beiden Bereiche verschmelzen soweit, dass es nicht das Wasser zu sein scheint, das die Seeleute um ihr Leben bringt, sondern die Stimme der Sirene, die zu ertränken vermag (vgl. v. 22056). Auch der Fokus auf die erotisierte Weiblichkeit verstärkt den Ineinsfall der Sirene mit dem Element, wenn Männer voller Lust in den Tod gehen und ohne sich zu wehren im Wasser versinken. Sie lösen sich in dieser Weiblichkeit auf, deren Verlockung sie nicht widerstehen konnten.
5.4 Schlussfolgerungen Der Reinfried von Braunschweig ist unserem heutigen Wissensstand nach sehr wahrscheinlich kein Text, der zu seiner Zeit weit verbreitet war und viel gelesen wurde. Mit nur einer unvollständigen Handschrift bildet er innerhalb des Kapitels zur erzählenden Literatur den genauen Gegenpol zu den Texten Wolframs. Es handelt sich wahrscheinlich um keinen außergewöhnlich bekannten Text, keinen außergewöhnlich bekannten Autor und damit auch um kein außergewöhnlich besonderes Stück mittelhochdeutscher Literatur. Die Annahme, es mit einem typischen und durchschnittlichen Text dieser Zeit zu tun zu haben, ermöglicht in Bezug auf die Verhandlung naturphilosophischen Wissens einige interessante Beobachtungen: Wie in Fontanagris Gotteslob gezeigt werden konnte, verwendet der ReinfriedDichter eine sehr bildhafte Sprache in Bezug auf die Darstellung der Schöpfung. Die Genesiskommentare des 12. und 13. Jahrhunderts dürften um 1300 bereits Teil eines alltäglichen Wissensbestandes sein (wohl vermittelt über Illustrationen, Predigten oder im Rahmen anderer erzieherischer Maßnahmen), sodass sie – um mit Fleck zu sprechen – zu populärem Wissen werden, auf das ohne weitere Erläuterungen verwiesen werden kann. Ein Rückschluss auf spezifische Quellen ist dabei nicht möglich und bestätigt im Umkehrschluss die Annahme, dass derartiges Wissen nichts Besonderes mehr ist. Das Wissen zu den Elementen, zur Entstehung der Welt und auch zur Diätetik ist breit im Text verarbeitet, ohne dass explizit darauf verwiesen werden oder eine moralische Ausdeutung den entsprechenden Stellen folgen muss. Der Umgang mit diesen Inhalten lässt sich am ehesten als ›selbstverständlich‹ beschreiben. Auch der Hinweis auf die conplexen in Zusammenhang mit der Lehre zu den vier Elementen bestätigt diese These. Die Verwendung des Wortes, das ursprünglich
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in einem sehr natur-›wissenschaftlichen‹ Sinn gebraucht wurde, lässt Rückschlüsse darauf zu, dass dieses Vokabular und seine Verwendung (eine dem lateinischen und damit gelehrten Bereich zugehörige Weltsicht) in ein populäres Wissen Eingang gefunden haben. Ähnliches gilt auch für die Diätetik. Zur Zeit der Abfassung des Reinfried dürften die physischen Folgen übermäßiger Leidenschaften wie Freude, Trauer oder Begierde bereits wesentlich das Verständnis von Gesundheit und Krankheit bestimmt haben. Schon seit der Antike erfreuen sich diätetische Lehrschriften, die auf der Humoralpathologie beruhen und daher die Aufrechterhaltung des körpereigenen Säftehaushalts zum Mittelpunkt haben, großer Beliebtheit. Unterschiedliche Anweisungen für Kranke und Gesunde waren der Ausgangspunkt eines Regelsystems, das sich im Laufe der Zeit immer weiter verästelte. Hildegard von Bingen bringt schon die benediktinischen Klosterregeln mit der Diätetik in Verbindung; im Spätmittelalter weiten sich die Lebensregeln auf immer mehr Bereiche aus, da der Einfluss der arabischen Medizin immer größer, das Viererschema nun auch in Bezug auf u. a. Jahreszeiten oder Lebensalter relevant wird. Schließlich wird auch zwischen den Bedürfnissen einzelner Menschen und Bevölkerungsgruppen (z. B. Männer, Frauen, Schwangere oder auch verschiedene Berufsgruppen) unterschieden.515 Die diätetische Durchdringung aller Lebensbereiche muss sich daher auch in der Literatur der Zeit widerspiegeln und lässt sich anhand des Reinfried sehr schön belegen.516 Die praktischen Leitlinien der Regimina sanitatis, die Zügelung der Leidenschaften betreffend, korrelieren darüber hinaus mit zwei der wichtigsten Tugenden des höfischen Systems, die gerade in der Literatur wieder und wieder verhandelt wurden. Nicht in ein Extrem zu verfallen und beständig zu sein, kennzeichnet die Tugenden der mâze (Mäßigung) und der stæte (Beständigkeit), die nicht nur als christliche Kardinaltugenden von großer Bedeutung waren, sondern auch im höfischen Kontext eine wichtige Rolle spielten. Dichtung und Didaxe517, die sich an ein Adelspublikum richtet, plädieren für das Maßhalten, das richtige Mittel zwischen zwei Extremen zu wahren, und sehen die mâze damit als eine der wich515 Vgl. Schipperges, Heinrich: Diätetik. In: LexMA Bd. 3, Sp. 972–973. 516 Natürlich gilt nicht nur der Reinfried von Braunschweig als ein Beispiel für die Relevanz der Diätetik im Hochmittelalter. Bei Thomasin von Zerclaere und im Renner finden sich ebenfalls Anweisungen zur korrekten Lebensführung, die direkt mit diätetischer Lebenspraxis in Verbindung stehen. Auch dem Parzival Wolframs sind diese Lebensregeln nicht fremd, wie z. B. am kranken Gralskönig Anfortas deutlich wird. Vgl. dazu das Kapitel »The Enchanted Body: Treating the Fisher King«, das sich mit der Behandlung des Gralskönigs auseinandersetzt, in: Groos, Arthur: Genre, Science and Quest in Wolfram’s Parzival. Ithaca, NY 1995, S. 144–169. 517 Hier ist vor allem Thomasins von Zerclaere Der Wälsche Gast zu nennen, der als wichtigste Tugend die Beständigkeit anführt.
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tigsten ritterlichen Tugenden an.518 Obwohl der Reinfried von Braunschweig nicht mehr als höfischer Roman gilt, spielen höfische Regelsysteme noch immer eine wichtige Rolle. Die Tugendlehre ist dabei in Zusammenhang mit der Diätetik und der damit verbundenen Zügelung der Leidenschaften (und hier kommt wieder das in der Sekundärliteratur so häufig verhandelte Motiv der fehlgeleiteten curiositas ins Spiel) deshalb von Relevanz, da mâze und stæte nicht nur einen Helden kennzeichnen, sondern bei Reinfried und seinem Abenteuer mit der Sirene sogar überlebenswichtig werden.
Zusammenschau erzählende Literatur Wolfram von Eschenbach und Reinfried von Braunschweig Die Werke Wolframs von Eschenbach mit dem Minne- und Abenteuerroman Reinfried von Braunschweig zu vergleichen, stellt sich als schwieriges Unterfangen dar. Der Reinfried von Braunschweig steht als späthöfischer Text, der um 1300 gedichtet wurde, den ›klassischen‹, hochhöfischen Romanen Wolframs gegenüber. Wolfram hatte sowohl beim Willehalm als auch beim Parzival eine klar identifizierbare französische Vorlage zur Hand. Dieser Umstand macht es möglich, relativ leicht auf stoffliche Erweiterungen, Umdichtungen, Streichungen oder stilistische Änderungen hinzuweisen und auch im Vergleich zur Vorlage etwas über das Können und Wissen des Dichters zu erfahren. Beim anonym überlieferten Reinfried, der sich aus nur teilweise identifizierbaren Quellen verschiedenster Art speist, sind Bearbeitungen schwieriger festzustellen und auch die Frage nach der Originalität des Textes stellt sich immer wieder. Sowohl die Texte Wolframs als auch der Reinfried wurden in der Forschung bereits hinsichtlich ihres Wissens in Bezug auf die Natur und deren Aufbau befragt. Einzelne Passagen, die sich mit Krankheit, Kosmologie oder allgemeinem Wissen zu Pflanzen und Tieren auseinandersetzen, konnten zufriedenstellend geklärt werden und zeigen die Relevanz naturphilosophischer Inhalte für das Verständnis literarischer Texte auf. Dass ein bestimmter Wissenshintergrund vonnöten ist, um einzelne Anspielungen und Passagen zufriedenstellend lesen zu können, wird deutlich. Vielmehr noch: Die Analyse hat gezeigt, dass die vier Elemente oft ohne Erklärung auf andere Bildbereiche übertragen werden. Hier kann durchaus von Greenblatts ›Sozialer Energie‹ gesprochen werden. Die Weiblichkeit des Wassers oder auch die Nöte der Sirene werden nur mit Hilfe der Eigenschaften der Elemente lesbar. Eine didaktische Intention der Autoren lässt sich an diesen 518 Vgl. Bumke: Höfische Kultur, S. 418–419.
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Stellen nicht beobachten, auch eine mögliche Auslegung des Sprachbildes oder eine weiterführende Erläuterung fehlt. Das gestattet die Annahme, dass derartige Übertragungsprozesse einer allgemein vorherrschenden Wissensgrundlage geschuldet sind, die den RezipientInnen ein inhaltliches, aber auch formales Verständnis ermöglicht. Hier von ›Sozialer Energie‹ zu sprechen, von einem allgemeinen Vorhandensein eines kulturellen Codes, halte ich als Erklärungsmöglichkeit für plausibel und auch sinnvoll. Dass in einer derartigen Umwelt Übertagungsvorgänge ›osmotisch‹ sein können, ist eine logische Schlussfolgerung. Bereiche, die auf den ersten Blick vielleicht fremd wirken, befruchten einander scheinbar zufällig; der Rückgriff auf den gemeinsamen Code, auf diese ›Soziale Energie‹, fungiert aber als Katalysator für derartige Übertragungsprozesse und ermöglicht die breit angelegte Erweiterung des Viererschemas der Elemente. Wolframs Texte streben im Vergleich zu seinen Vorlagen danach, strukturelle und semantische Brüche zu beseitigen. Das kann sowohl beim Willehalm als auch beim Parzival innerhalb einzelner Episoden beobachtet werden, wenn aufgrund indirekt angelegter Verweise auf die Elementenlehre der Text an Kohärenz gewinnt. Im Willehalm wird nicht explizit gesagt, dass die Lanze des Amor in Vivianz das Feuer der Liebe entzündet; dennoch ist der Ablauf dieser Szene erst auf Basis eines breit ausgeführten und fast wörtlich zu verstehenden Sprachbildes verständlich.519 Dass Vivianz ins Wasser abgedrängt wird, ist aus der Bildlogik heraus erklärbar und für die Kohärenz des zu Erzählenden nötig. Dasselbe gilt auch für die Wasserläufe im Parzival, die einzelne Szenen über das Motiv der Weiblichkeit des Wassers miteinander verbinden. Dass Wolfram seine Protagonisten zufällig zu den Wassern führt, von denen in seiner Vorlage nie die Rede ist, scheint wenig plausibel und macht vor allem in Hinblick auf die als gefährlich anzusehende feenhafte Weiblichkeit Orgelûses keinen Sinn. Wolfram ist sich der deiktischen Kraft seines Umgangs mit der Lehre zu den vier Elementen mit Sicherheit bewusst und nutzt diese, um innerhalb seiner Texte schlüssige Abläufe zu kreieren, die seinen Vorlagen fehlen. Beim Reinfried ist der Umgang mit den Elementen auf einer textstrukturierenden Ebene anders angelegt. Die Anspielungspluralität innerhalb des Reinfried beschränkt sich nicht auf einen freien Umgang mit Quellen und literarischen Topoi, sie geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur verschiedenste Themen werden vom Reinfried-Dichter in seinem Text verarbeitet, sondern auch unterschiedliche literarische Stile und Gattungen: Die Gewinnung Yrkanes bzw. der Beginn des Reinfried lesen sich wie ein klassischer höfischer Roman; die Orient519 Anm.: Amor agiert als Person; seine Attribute bringen das Feuer der Liebe und ein vorübergehendes Heilmittel für die Minnekrankheit. Was mit einem Menschen passiert, wenn ihn ein Liebespfeil trifft, gilt als vorausgesetzt, um die Passage verstehen zu können.
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fahrt, das Wunderschauen lässt an Alexanderromane oder die Herzog-Ernst-Dichtung denken; die detaillierten Schilderungen fremder Gegenden und Gebräuche erinnern an enzyklopädische Darstellungen oder auch an die Lehrdichtung; die Kämpfe gegen Riesen oder Zwerge wecken Verbindungen zur Heldendichtung; das Ende des bekannten Textes spielt auf die Dichtung der Antike und ganz konkret auf Odysseus an (wie auch schon das Sirenenabenteuer zuvor); das Lob auf die Frau und die Erscheinung der Maria erinnern an Marienpreislyrik etc. Die unterschiedlichen ›Textsorten‹ lassen auch einen anderen Umgang mit der Naturphilosophie und der Lehre zu den vier Elementen erkennen. Zu Beginn des Textes ist von der Liebe die Rede und die Verbindung von Minne und Feuer sowie der Weg des Liebesfeuers über die Augen ins Herz werden thematisiert (vgl. Reinfried v. 220, v. 1101, v. 1395 etc.). Im Gotteslob des Fontanagris, das an die mittelalterliche Lehrdichtung erinnert, dienen die naturphilosophischen Verweise und die Beschreibung der Schöpfung zur Sichtbarmachung der Wundertätigkeit und der Größe Gottes. Die Erscheinung Marias und das Lob auf die Frau, das repetitiv mit wîp eingeleitet wird, erinnern an das Marienlob des 13. Jahrhunderts (z. B. Konrad von Würzburg und dessen Goldene Schmiede oder auch Frauenlob) und dessen dichte Sprache. Die Natur dient hier vor allem dazu, in all ihrer Fülle das Wesen und die Kraft der Frau zu preisen und teilweise sogar, ähnlich zu Frauenlob, auf die Weiblichkeit in ihrer Gottähnlichkeit anzuspielen. Der ReinfriedDichter ahmt dafür die unterschiedlichen Erzählstile und damit auch die Art und Weise, wie das Wissen zu den vier Elementen in verschiedenen Textsorten auftreten kann, gekonnt nach. Wie Wolfram und der Reinfried-Dichter mit naturphilosophischem Wissen umgehen, wirft schließlich zwei Fragen auf: Erkannte das Publikum diese Anspielungen (sei es auf textstrukturierender Ebene oder im Zuge stilistischer Nachahmungen), konnten sie ›gelesen‹ werden? Oder sind diese Texte Beispiele für die Gelehrsamkeit ihrer Dichter und damit Zeugnisse einer inhaltlichen Überdeterminiertheit, die in dieser Form vom Publikum nicht verstanden wurde? Ohne zweifelsfrei feststellen zu können, welche der beide Varianten letztlich die plausiblere ist, kann grundsätzlich gesagt werden, dass zumindest der Autor wissen muss, was in den Texten präsentiert wird. Darüber hinaus muss er auch intellektuell und artistisch dazu befähigt sein, diese Art von Text zu verfassen und mit derartigen Anspielungen zu versehen. All das führt zu der Schlussfolgerung, dass ein anspruchsvoller Umgang mit dem naturphilosophischen Wissen der Zeit auf verschiedenen Darstellungsebenen während des gesamten 13. Jahrhunderts zu beobachten ist – wenngleich nicht angenommen werden darf, dass das die Regel ist (der kurze Vergleich mit dem Iwein Hartmanns von Aue deutet bereits darauf hin, dass nicht jeder Roman Interesse an einer tieferen Auseinandersetzung mit naturphilosophischen Themen hat).
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Dass die in dieser Arbeit behandelten Erzählungen auch gelesen und für gut befunden werden können, wenn die Verweise nicht verstanden werden, ist offensichtlich – das gilt vor allem für die Texte Wolframs, die auch hinsichtlich ihrer heilsgeschichtlichen Botschaft für ein breites Publikum von Interesse waren. Dennoch bleibt die Möglichkeit, dass zumindest eine kleine, belesene Gruppe von RezipientInnen die Texte auch aus anderen Gründen schätzte –Wolframs Werke aufgrund ihrer bemerkenswerten Art, das konkrete Wissen über die Natur nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell zu präsentieren bzw. den Reinfried von Braunschweig aufgrund seiner stilistischen Pluralität und seiner vielschichtigen Anspielungen, die große Belesenheit voraussetzen.
Zur gelehrten Lyrik
6 Frauenlobs Leichs Einige Jahre nach dem Tod Heinrichs von Meißen genannt Frauenlob, rankte sich bereits eine Legende um dessen Begräbnis, die in der um 1350 entstandenen Chronik des Matthias von Neuenburg nachzulesen ist. Klagende Frauen sollen den Dichter wegen seines Lobpreises auf das weibliche Geschlecht zu Grabe getragen und dort eine so beträchtliche Menge an Wein ausgeschüttet haben, dass der Kreuzgang des Mainzer Doms davon überflutet war. Genau dort findet sich auch heute noch seine Grabplatte520, auf der das Sterbedatum vermerkt ist. Dass ein Dichter im Kreuzgang eines Doms beigesetzt wurde, ist äußerst ungewöhnlich. Im Falle Frauenlobs ist das darauf zurückzuführen, dass er einerseits schon zu Lebzeiten aufgrund seines Werkes hohes Ansehen genoss und andererseits der damalige Erzbischof von Mainz Peter von Aspelt einer seiner wichtigsten Gönner war.521 Sein sehr umfangreiches Werk ist zwar in vielen Handschriften, aber nicht geschlossen überliefert. Aufgrund zahlreicher Nachahmer, die bereits früh Frauenlobs geblümten Stil mit seinen charakteristischen dunklen und hermetischen Sprachbildern imitierten, ist eine Trennung zwischen echten und unechten Frauenlob-Strophen noch immer schwierig. Einen unverzichtbaren Beitrag hierzu und zur Erforschung dieser schwierigen Texte im Allgemeinen haben Karl Stackmann und Karl Bertau mit der Edition von Frauenlobs Werk geleistet, indem sie die zweibändige Göttinger Ausgabe522 und ein dazugehöriges Frauenlob-Wörterbuch523 herausgaben. Obwohl Frauenlob seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Renaissance erfährt, gilt sein Werk noch immer als relativ unerforscht. Die meiste Aufmerksamkeit wird seinen drei großen Texten entgegengebracht: Mit dem Marienleich, in dem kunstvoll die Mutter Gottes gepriesen
520 Der ursprüngliche Grabstein wurde im Jahr 1774 bei Bauarbeiten zertrümmert; 9 Jahre später wurde eine neue Grabplatte nach dem Vorbild des alten Grabsteins angefertigt, dessen Inschrift durch zwei ältere Aufzeichnungen belegt war. Vgl. dazu: Stackmann, Karl: Frauenlob; (Meister) Heinrich Frauenlob; Meister Heinrich von Meißen der Frauenlob. In: VL Bd. 2, Sp. 865–877, hier Sp. 868. 521 Vgl. dazu Bertau, Karl: Heinrich ›v. Meißen‹ (Frauenlob). In: LexMA Bd. 4., Sp. 2097–2100; vgl. auch Stackmann, Karl: Frauenlob. In: VL Bd. 2, Sp. 865–877. 522 Heinrich von Meißen: Leichs, Sangsprüche, Lieder. Aufgrund der Vorarbeiten von Helmut Thomas hrsg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. 2. Bde. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Kl. III. 119–120). 523 Stackmann, Karl: Wörterbuch zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe. Unter Mitarbeit von Jens Hauenstein redigiert von Karl Stackmann. Göttingen 1990 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Kl. III. 186). DOI 10.1515/9783110486605-006
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wird, beschäftigen sich die meisten Analysen524, gefolgt von diversen Arbeiten zum Minneleich525, der das Lob der Frau zum Inhalt hat. Der Kreuzleich526, in dem die Trinität, das Kreuz Christi und die Heilsgeschichte besungen werden, ist der am wenigsten bearbeitete Leich Frauenlobs und wird im Folgenden gemeinsam mit dem Minneleich im Zentrum der Analyse stehen. Frauenlobs Leichs527, die sich durch ein äußerst gekonntes und außergewöhnliches Zusammenspiel von Text, Form und Musik auszeichnen, gelten 524 Literatur zum Marienleich in Auswahl: Eine erste Edition des Marienleichs wurde vorgenommen von Pfannmüller, Ludwig: Frauenlobs Marienleich. Strassburg 1913 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der Germanischen Völker 120); frühe Auseinandersetzungen mit diesem Leich bei Peter, Brunhilde: Die theologisch-philosophische Gedankenwelt des Heinrich Frauenlob. Speyer 1957 (Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte 2); Krayer, Rudolf: Frauenlob und die Natur-Allegorese. Motivgeschichtliche Untersuchungen. Ein Beitrag zur Geschichte des antiken Traditionsgutes. Heidelberg 1960; Völker, Barbara: Die Gestalt der vrouwe und die Auffassung der minne in den Dichtungen Frauenlobs. Diss. masch. Tübingen 1966; Schäfer, Gerhard M.: Untersuchungen zur deutschsprachigen Marienlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 48). Neuere Arbeiten zum Marienleich: März, Christoph: Frauenlobs Marienleich. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Monodie. Erlangen 1987 (Erlanger Studien 69); Wolfram Studien X. Cambridger ›Frauenlob‹-Kolloquium 1986. Hrsg. von Werner Schröder. Berlin 1988; Wachinger, Burghart: Frauenlobs Cantica canticorum. In: Literatur, Artes und Philosophie. Hrsg. von Walter Haug/ Burghart Wachinger. Tübingen/Niemeyer 1992 (Fortuna Vitrea 7); Huber, Christoph: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in Mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl. Zürich/München 1988 (Münchner Texte und Untersuchungen zur dt. Literatur des Mittelalters 89); Newman, Barbara: Frauenlobs song of songs. A medieval German poet and his masterpiece. Pennsylvania 2006. 525 Zum Minneleich u. a.: Bein, Thomas: Sus hup sich ganzer liebe vrevel. Studien zu Frauenlobs Minneleich. Frankfurt a. M./Wien 1988 (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur 1062); Steinmetz, Ralf-Henning: Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob. Ein volkssprachlicher Weltentwurf in der europäischen Dichtung um 1300. Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 106); Fritsch-Staar, Susanne: Androgynie und Geschlechterdifferenz. Zu Frauenlobs Minneleich. In: Zeitschrift für Germanistik 9 (1999), H. 1, S. 57–71; Diehr, Achim: Mediale Doppelgestalt: Text und Melodie in Frauenlobs Minneleich. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 10 (1998), S. 93–110. 526 März, Christoph: Zum musikalischen Stil in Frauenlobs Kreuzleich. In: Wolfram Studien X, S. 125–134; Gröchenig, Hans: Ein neues Fragment aus Frauenlobs Kreuzleich. In: ZfdA 113 (1984), S. 246–286; Kirsch, Walter Friedrich: Frauenlobs Kreuzleich. Diss. masch. Bonn 1930; Kern, Peter: heilvlies und selden holz. Überlegungen zu Frauenlobs Kreuzleich. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota u. a. Tübingen 1992, S. 743–757. 527 Ein Leich bezeichnet eine Großform der mittelhochdeutschen Lyrik, die vom Ende des 12. bis ins 14. Jahrhundert gebräuchlich war. Formal ist ein Leich durch eine längere Abfolge von metrisch, musikalisch und formal verschiedenen Einheiten gekennzeichnet, die Versikel genannt werden. Diese sehr anspruchsvolle Gattung zeichnet sich durch formales und sprachliches Kön-
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als Höhepunkte der Gattung. Sein schwer zugänglicher, dunkler und dichter Stil bereitete schon vielen Bearbeitern große Schwierigkeiten und ist einer der Gründe, warum Frauenlob für längere Zeit von der Forschung nicht weiter beachtet wurde. Ludwig Pfannmüller fühlte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar dazu verleitet, ihn geisteskrank zu nennen und ihm ›Strudelköpfigkeit‹ und heftigste Reimnöte zu unterstellen. Er sei unfähig, etwas Verständiges zu äußern, und überdies mit Sicherheit kein bisschen schlauer als der Durchschnittsgelehrte seiner Zeit.528 Erst in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts setzte sich Gustav Ehrismann wieder mit den Texten auseinander; in den Fünfzigerjahren versuchte Bert Nagel, Frauenlob zu entschlüsseln.529 Mittlerweile gilt Heinrich von Meißen wieder als einer der bedeutendsten Vertreter des geblümten Stils. Mit Hilfe der Verwendung immer neuer Sprachblumen, ungewöhnlicher Satzkonstruktionen, Reime und Wortneuschöpfungen gelingt es ihm, den Sinn seiner Texte zu verkürzen, zu verrätseln und seinen ihm eigenen, dunklen Stil zu schaffen.530 Der Versuch einer Auflösung dieser Sprachbilder kann durchaus zur Überinterpretation verleiten und ließ Karl Stackmann daher nicht zu Unrecht von Frauenlob als einem »Verführer zu einer gränzenlosen Auslegung«531 sprechen. Dennoch erkannte er, dass die wörtliche und allegorisch-übertragene Bedeutung seiner Bilder nicht unverbunden sind und diese rational entschlüsselt werden können. Karl Bertau ist es, der am Ende seines Eintrags zu Heinrich von Meißen im Lexikon des Mittelalters dessen Relevanz für die mittelhochdeutsche Literatur in zwei kurzen Sätzen beschreibt: Die Bedeutung Frauenlobs liegt darin, zuerst im deutschen Kulturraum musikalisch und poetisch einen strengen hermetischen Stil geschaffen zu haben. Dessen Prinzip ist die melodische und metaphorische Verselbständigung von verschlüsselnden Abbildungen genau bestimmter Verhältnisse, ohne deren Kenntnis jede Deutung an der faszinierenden Oberfläche der Form haftet.532
nen aus, insbesondere auch durch die Verwendung des geblümten Stils (vgl. Egidi, Margreth: Leich. In: LexMA Bd. 5, Sp. 1850); vgl. auch Apfelböck, Hermann: Tradition und Gattungsbewußtsein im deutschen Leich. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte mittelalterlicher musikalischer ›discordia‹. Tübingen 1991 (Hermea N. F. 62). 528 Vgl. Pfannmüller: Frauenlobs Marienleich, hier vor allem S. VII, 14, 17 und 22. 529 Vgl. Huber, Christoph: Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob. Zürich/München 1977 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 64), S. 179–181. 530 Vgl. Stackmann: Frauenlob. In: VL Bd. 2, Sp. 873; Vgl auch Kretschmann, Herbert: Der Stil Frauenlobs. Jena 1933 (Jenaer Germanistische Forschungen 23). 531 Stackmann, Karl: Frauenlob, Verführer zu einer ›gränzenlosen Auslegung‹. In: Wolfram Studien X, S. 9–25. 532 Bertau: Frauenlob. In: LexMA Bd. 4, Sp. 2100.
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Mit der Frage danach, was den geblümten Stil als solchen auszeichnet, beschäftigt sich die germanistische Forschung bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts.533 Mittlerweile wird er nicht so sehr als Summe bestimmter Merkmale definiert, sondern als ästhetische Sprachgestaltung verstanden. ›Blümen‹ meint damit das Erzeugen eines Textes mit Hilfe sprachästhetischer Mittel, die aber von Text zu Text variieren; genau das führt letztlich aber zur schwierigen Bestimmung des Begriffs. Jens Hauenstein sieht den geblümten Stil im »[…] erkennbar gehäuften Einsatz von sogenannten Verschiebungstropen wie Metapher, Vergleich, Metonymie bis hin zur Katachrese, die sich ja häufig mit Genetivkonstruktionen oder anderen Auffälligkeiten der Syntax verbinden.«534 Darüber hinaus gilt für ihn auch die überraschende Verbindung zweier Vorstellungsbereiche oder die assoziative Vermischung verschiedener Bildebenen als Kennzeichen für den geblümten Stil. Das kann durch Aufzählungen geschehen, indem Bildebenen über Schlagwörter verknüpft werden; umso mehr Bilder aufeinander folgen, desto schwerer 533 Gustav Ehrismann gilt als der Philologe, der den Terminus des geblümten Stils erstmals in einem wissenschaftlichen Kontext gebrauchte. 1897 spricht er von der ›geblümten Rede‹, die sich durch seltsame Sprachbilder, fremdartige Worte und Wortbilder auszeichnet. Ehrismann verwendet diesen Terminus zunächst jedoch sehr abwertend; für ihm greifen nur schlechte Dichter zu rhetorischen Mitteln (vgl. Ehrismann, Gustav: Untersuchungen ueber das mhd. Gedicht von der Minneburg. In: PBB 22 (1897), S. 257–342, hier S. 313–314). Weitere Untersuchungen zum geblümten Stil in den folgenden Jahren in Auswahl: Mordhorst, Otto: Egen von Bamberg und ›die geblümte Rede‹. Berlin 1911 (Berliner Beiträge zur germanistischen und romanischen Philologie 43; Germanische Abteilung 30) – Mordhorst geht darauf ein, dass das Blümen durch eigene Stilmittel gekennzeichnet ist, wie z. B. Wortwahl und Tropen sowie eine Neigung zu Wortneubildungen und zum Fremdwortgebrauch (S. 134); Henning Brinkmann siedelt den geblümten Stil beim ornatus difficilis an und spricht von der dunklen Sprache: Brinkmann, Henning: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung. Halle/Saale 1928; Hugo Kuhn weist Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Konnex zwischen Blümen und der Allegorie hin: Kuhn, Hugo: Minnesangs Wende. Tübingen 1952 (Hermaea N. F. 1); Karl Stackmann arbeitet 1958 zu Heinrich von Mügeln und beschreibt ihn als Blümer für dessen Stil komplexe Genetivstrukturen, Worstellungsfreiheiten, Verfremdungen und Variationen bezeichnend sind. Für Stackmann zeichnet sich diese Art des Schreibens nicht nur durch eine spezifische Sprachästhetik aus, sondern ist auch durch eine konkret hermeneutische Funktion gekennzeichnet (vgl. Stackmann, Karl: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), ab S. 157 u. ab S. 170; Gert Hübner verfasste 2000 eine umfassende Monographie über das Blümen in der deutschsprachigen Dichtung des Mittelalters: Hübner, Gert: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ›Geblümten Rede‹. Tübingen/Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41); vgl. auch Nyholm, Kurt: Studien zum sogenannten geblümten Stil. Abo 1971 (Acta Academiae Aboensis, Ser. A Humaniora 39,4). 534 Hauenstein, Jens: Geblümte Rede als Konvention? In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von Ludger Lieb/Otto Neudeck. Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40 (274)), S. 45–54, hier S. 46.
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können sie entschlüsselt werden – ein Kennzeichen der Sprache Frauenlobs, den Hauenstein als Meister dieses Stils identifiziert.535 Auch Herbert Kretschmann sieht diese Tendenzen: Er spricht von einer dauernd bewegten Sprache, davon, dass ein Wort oder Satz das bzw. den vorhergehende/n verdrängt und damit die Dynamik der Sprache steigert. Das wird durch die Wortwahl und die Wortstellung noch verstärkt.536 Er stellt fest: Daß der Dichter manchmal in seiner Metaphorik mehr auf den äußeren prächtigen Eindruck der Ornamentik der Bilder und Klänge als auf einen verständlichen Sinn abzuzielen scheint, ist ihm als manierierte Dunkelheit oft vorgeworfen worden, ebenso wie die reichliche Verwendung von Gelehrsamkeit in seiner Dichtung.537
Die Dunkelheit der Bildfülle sieht Kretschmann aber nicht als undichterisch an. Gert Hübner kommt in seiner Monographie zu dem Schluss, dass man weniger von einem geblümten Stil als vom geblümten Lob sprechen sollte,538 das mit Frauenlob und Konrad von Würzburg seinen Höhepunkt erreicht. In deren Marienpreis tritt der Glanz der Ausdrucksform, gepaart mit Bibelparaphrasen und Wissenschaftsterminologie, immer mehr in den Vordergrund: »Je mehr die Zeichen glänzen, um ihren Gegenstand angemessen abzubilden, umso mehr verweisen sie auf sich selbst – und die technische Brillanz des Autors.«539 Der Minneleich Frauenlobs gilt Hübner als eine Art des Frauenpreises, der in der höfischen Lyrik kein Pendant hat; die geblümten Passagen des Leichs bezeichnet er als »artistische Paradestücke«.540 Ähnlichkeiten zum italienischen Stil der Zeit sieht Susanne Köbele und vergleicht die Sprache Frauenlobs mit Dante und dessen Gelehrsamkeit. Durch die Öffnung der Diskurse von Poesie und gelehrtem Wissen kommt es zu einem engen Kontakt zwischen der Bildungssprache Latein und den jeweiligen Volkssprachen. Der daraus entstehende Zusammenfall von weltlichen und geistlichen Inhalten lässt eine Lyrik entstehen, die zwar nur für einen relativ homogenen Rezipientenkreis Gelehrter zugänglich und verständlich, jedoch äußert innovativ ist. Köbele spricht von einem […] unvoreingenommenen, nichtdogmatisch eingestellten und entschieden volkssprachlichen Umgang mit den Themen und Theorien der verschiedenen Wissenschaftsdiskurse.
535 Vgl. ebda., S. 50. 536 Vgl. Kretschmann: Der Stil Frauenlobs, S. 267. 537 Ebda., S. 269. 538 Vgl. Hübner: Lobblumen, S. 446. 539 Ebda., S. 217. 540 Ebda., S. 390.
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Neues ergibt sich als literarischer Entwurf: durch unorthodoxe Zusammensetzungen, Umperspektivierungen und durch eine mehr oder weniger ausdrückliche Aufwertung der dichterischen Phantasie […]541
Bei Frauenlob sind eine schwer zu durchblickende Vielschichtigkeit von Begriffsund Metaphernketten sowie eine Verfremdung der traditionellen Metaphorik erkennbar. Diese teilweise schwer verständliche Sprache ist es, die Pfannmüller schließlich zu seinem Urteil führt, dass Frauenlob verrückt sein müsse. Hinzu kommt, dass, obwohl das Blümen und sprachliche Verfremdungseffekte um 1300 keine Seltenheit mehr sind, Frauenlob darin dennoch ein Niveau erreicht, das seinesgleichen sucht. Hier muss nun die Frage gestellt werden, ob für Frauenlob tatsächlich noch das gilt, was Hübner als eindeutige Regel für das Verstehen von Metaphern im Mittelalter erkannt hat: Sind die Metaphern(ketten) in Frauenlobs Texten tatsächlich durch eindeutige Analogiebildung mit Hilfe eines zugrundeliegenden Codes lesbar? Zu grenzenloser Auslegung, wie Stackmann behauptet, kann ein Text nur dann verführen, wenn eine gewisse Freiheit (sowohl semantisch als auch syntaktisch) besteht, wenn kein eindeutiger Code eine bestimmte Lesart stützt. Hierfür muss gegeben sein, was Gehring als ›Deutungsoffenheit‹ in Zusammenhang mit der Lesbarkeit von Metaphern bezeichnet.542 Erst diese lässt eine hermeneutische Tiefe zu, die letztlich auch unkonventionelle Lesarten möglich macht. Wenn Frauenlobs Texte als unverständlich bezeichnet werden, kann das an dieser Bedeutungspluralität liegen, die für das 13. Jahrhundert im Allgemeinen nicht zu beobachten ist.
6.1 Der Kreuzleich und die Schöpfung Der Kreuzleich ist neben dem Marienleich, der als ältester der drei Leichs Frauenlobs gilt, der zweite religiöse Leich und sehr wahrscheinlich als letztes der drei großen Werke des Dichters entstanden.543 Barbara Newmann konnte zeigen, dass der Umfang des Kreuzleichs (22 Versikel) zahlensymbolische Bedeutung hat und für Vollkommenheit steht: U. a. hat das hebräische Alphabet 22 Buchsta541 Köbele, Susanne: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestim mung. Tübingen/Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 43), hier S. 212. 542 Vgl. Gehring: Erkenntnis durch Metaphern?, S. 209. 543 Vgl. Stackmann: Frauenlob. In: VL Bd. 2., Sp. 868–869.
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ben und auch die Apokalypse (Offenbarungen des Johannes) zählt 22 Kapitel.544 Auch Isidor von Sevilla spricht in seinen Etymologiae von der Zahl 22 und koppelt diese an die Erschaffung der Welt – ein Zusammenhang, der für den Kreuzleich von großer Bedeutung ist: Gott vollbrachte am Anfang 22 Arbeiten und erschuf dadurch in 6 Tagen die Welt.545 Der Kreuzleich gliedert sich in zwei Teile: Versikel 1 bis 14 beschäftigen sich mit Christus, dem crucifixus, und seinen Erscheinungsformen, die letzten 8 Versikel haben das Kreuz Christi, die Kreuzholzlegende und das Lob des Kreuzes zum Inhalt.546 Der Beginn des Kreuzleichs – die ersten sechs Versikel – widmet sich der Trinität und der Schöpfung und zeichnet sich durch einen Fokus auf formale und inhaltliche Dreiergruppen aus. Die Geburt und das präfigurale Dasein Christi stehen im Zentrum der ersten Verse und werden in Versikel 3 ausformuliert: KL II,3 Sam von der sunnen tut der schin, ouch sam von den brunnen schiuzet, diuzet, vliuzet ein rivier, daz die wurze ergiuzet, runsic, seffec unde fin, Wie biltsam uz des herzen schrin Sich daz wort in willen dringet, swinget, slinget, swenn ez die zunge luftic twinget, sust gebar der vater sin KL II,4 Den sun. [...]547
544 Vgl. Newman: Frauenlobs Song of Songs, S. 79f; Auf die Bedeutung der Zahl 22 ging bereits Ernst Robert Curtius in seinem Standardwerk zur lateinischen Gelehrsamkeit in der mittelalterlichen Kultur ein: vgl. dazu Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen/Basel 1993, S. 495. 545 Vgl. Etymologies of Isidor of Seville. Hrsg. von Stephen A. Barney u. a. Cambridge u. a. 2006, S. 334. Unter dem Eintrag »Measures (de mensuris)« wird die Relevanz der Zahl 22 dargestellt. Auch auf die Anzahl der Bücher des Alten Testaments, die Buchstaben des Hebräischen Alphabets und auf die 22 Generationen zwischen Adam und Jakob wird verwiesen, doch als wichtigster Grund für die Heiligkeit der Zahl werden die 22 Arbeiten Gottes zur Erschaffung der Welt angegeben. In der Übersetzung der Herausgeber sind jene wie folgt: »Thus on the first day he created seven works, that is, the formless matter, angels, light, the upper heavens, earth, water, and air. On the second day, only the firmament. On the third day, four works: the seas, seeds, sowing, and gardens. On the fourth day, three works: the sun, the moon, and the stars. On the fifth day, three works: fish, reptiles of the water, and flying creatures. On the sixth day, four things: beasts, livestock, reptiles of the land, and the human being. And all twenty-two kind of things were created in six days.« 546 Vgl. Kirsch: Frauenlobs Kreuzleich, S. 34. 547 Alle Textzitate folgen der Ausgabe: Stackmann/Bertau (Hrsg.): Heinrich von Meißen: Leichs, Sangsprüche, Lieder. Bd. 1. Übersetzung der Textstelle: KL II,3
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Mit Versikel 3 des Kreuzleichs setzte sich die Forschung bereits eingehender auseinander. Die Verse werden in Bezug auf die generatio Christi des Augustinus gelesen, wenn Gott durch das Wort aus dem Herzen seinen Sohn erschafft;548 die Sonnen- und Flussvergleiche sind bereits bei Basilius, Augustinus und Thomas von Aquin belegt.549 Dennoch möchte ich noch einen genaueren Blick auf diese Verse werfen: Versikel 3 fokussiert nicht nur inhaltlich die Trinität. Die sechs Verse sind in zwei Halbversikel zu je drei Versen aufgeteilt, Vers 2 und 4 – also die mittleren Verse der beiden Halbversikel – sind durch einen dreifachen Schlagreim gekennzeichnet, der sich im darauffolgenden Vers nochmals wiederholt. Daraus ergibt sich folgendes Reimschema: a – b/b/b – b/a --- a – c/c/c – c/a550 Weitere formale Dreiergruppen sind etwa in Vers 3 zu finden, wenn die wurze mit drei Adjektiven (runsic, seffec unde fin) beschrieben wird. Überdies taucht gemeinsam mit dem im Enjambement über die Versikelgrenze hinaus erwähnten Sohn auch die Trinität auf551: Gott Vater wird in Vers 6 erwähnt, der Heilige Geist, dem die Zunge und das damit in Verbindung stehende Adjektiv luftic zugeordnet wird, ebenso. Auf den ersten Blick berichtet Frauenlob von der Erschaffung des Gottessohns: Aus Gott Vater entsteht Jesus Christus. Dieser wird aus dem Vater geboren, wie sich das Licht von der Sonne löst oder wie ein Fluss aus seiner Quelle entspringt. Quelle und Licht bestehen aus der gleichen Substanz dessen, woraus sie gespeist werden, sind somit Teil des Ursprungs, der in diesen Beispielen nicht vergeht, sondern lediglich eine andere Gestalt annimmt – ebenso verhält es sich mit Christus in Bezug auf Gott Vater. In Versikel 3 werden verschiedene Anfänge verhandelt, die Frauenlob gekonnt miteinander verschränkt. Das Wort, das sich im zweiten Halbversikel aus dem Herzen Gottes löst und den Sohn gebiert, ist nicht nur eine Anspielung auf die Ver-
So, wie aus der Sonne das Licht entsteht auch, wie von der Quelle ein Fluss schießt, rauscht, fließt, der die Pflanzen (Kraut, Wurzel) begießt, fließend, saftig und rein, Wie ein Bild erzeugend aus dem Schrein des Herzens sich das Wort in ein Wollen drängt, schwingt, windet, wenn es die Zunge luftig zwingt, auf diese Weise gebar sein Vater KL II,4 Den Sohn. 548 Vgl. Huber: Wort sint der dinge zeichen, S. 183. 549 Vgl. Kirsch: Frauenlobs Kreuzleich, S. 36–37. 550 Auf das Reimschema und auch auf den Binnenreim sunnen – brunnen, der in den ersten beiden Versen auftritt, komme ich noch genauer zu sprechen. 551 Darauf weist bereits Huber hin; vgl. Huber: Wort sint der dinge zeichen, S. 184.
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kündigungszene und damit die Geburt Christi, sondern lässt auch an das Johannesevangelium erinnern, in dem das Wort am Beginn der Schöpfung steht: in principio erat verbum et verbum erat apud deum et deus erat verbum, heißt es in der Vulgata. Bei Johannes ist die Schöpfung an das Wort, d. h. an die Sprache gebunden. Hartmut und Gernot Böhme erläutern in ihrer Kulturgeschichte der Elemente, dass bereits in babylonischen Mythen Sprache an die Schöpfung gekoppelt ist, da Sprache ein Instrument der Ordnung darstellt, das Urchaos verdrängt und somit die Erschaffung der Welt ermöglicht: »Daher erklärt sich die überragende Bedeutung, die in biblischer Tradition der Sprache bei der Schöpfung zukommt. Sprechen ist schaffen.«552 Im zweiten Vers der hebräischen Genesis ist von jenem tohû-wa-vohû553, dem ungeordneten Zustand, die Rede, der in der Vulgata mit inanis et vacua (Gen 1,2), »wüst und leer«, übersetzt wird. Die Genesis ist der Anfang schlechthin – und der Text, an dem seit Jahrhunderten die Synthese von christlicher Schöpfungsgeschichte und antikem naturphilosophischen Gedankengut versucht wurde. Frühscholastische Genesiskommentare bildeten die Grundlage für das christliche Verständnis von Natur, indem die vier Elemente als Erscheinungen Gottes gelesen wurden. Sie spielen eine grundlegende Rolle in der Erklärung der Weltentstehung und werden zum selbstverständlichen Bildungsgut der Theologie. In principio creavit Deus caelum et terram (Gen 1,1) – so lautet der erste Satz der Genesis: Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. Die Ähnlichkeit in der Formulierung zum ersten Satz des Johannesevangeliums verleitete Gelehrte bereits früh dazu, die Erschaffung der Welt mit der Erschaffung Christi zu verbinden. Beda Venerabilis versteht unter der Schöpfung den Beginn der Zeit und noch vor dem Wort creavit, das heißt noch vor der Zeit, existiert Gott und mit ihm Christus, der sich im Anfang, in principio, versteckt.554 Diese Vorstellung findet sich auch bei Frauenlob, wenn er im zweiten Versikel des Kreuzleichs zu Jesus Christus spricht und dessen Seins-Zustand vor der zit (KL II,2.1), also bevor es die Zeit und
552 Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 38. Für Augustinus sind die Anfänge der Genesis und des Johannesevangeliums aneinandergebunden. Das Wort ist in Augustinus Interpretation der Schöpfungsgeschichte unvergänglich und ewig: »For the Word of God, true God in the bosom of God and the only Son of God, is coeternal with the Father; and yet through this utterance of God in the eternal Word, creation has been brought about in time.” St. Augustine: The Literal Meaning of Genesis. Üs. u. kommentiert von John Hammond Taylor, S. J. 2 Bde. Bd. 1: Books 1–6. New York/Mahwah 1982 (Ancient Christian Writers 41), S. 22. 553 Anm.: tohû-wa-vohû lässt sich mit »Wüste« oder »Öde« übersetzen. Vgl. dazu: Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Hrsg. u. bearb. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Bearb. von Ursula Kraif. 4., aktualisierte Auflage. Mannheim u. a. 2007, S. 1355. 554 Vgl. Ramonat, Oliver: Lesarten der Schöpfung. Moses als Autor der Genesis im Mittelalter. Frankfurt a. M. 2010 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 36), S. 85–86.
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damit die Schöpfung gab, erwähnt. Am Anfang, bei dem auch der Beginn, wie er im Johannesevangelium geschildert wird, mitgedacht werden muss, erschafft Gott Himmel und Erde. Das beinhaltet auch die Erschaffung der Materie und die Erschaffung der vier Elemente, da sie die Grundlage der Welt bilden. Es gibt zwei Szenarien, die einander sehr ähnlich sind: Gelehrte wie Isidor von Sevilla, Abaelard oder auch Petrus Cantor denken bereits im Moment der Erschaffung von Himmel und Erde die der Elemente implizit mit, während Thierry von Chartres oder auch Bernardus Silvestris zunächst von der Erschaffung einer noch ungeordneten Materie sprechen, aus der dann die Elemente geformt werden.555 Bereits die Neuplatoniker des 12. Jahrhunderts unterscheiden bei der Erschaffung von caelum und terram zwischen der sub- und der supralunaren Welt und greifen damit auf das Konzept des Pseudo-Clementinus (ca. 325–380) zurück, der die obere Region des Universums den Engeln und allen anderen himmlischen Geschöpfen zugesteht, die unteren Regionen hingegen den Menschen zuordnet. Mit der Wiederentdeckung des Aristoteles und des 5. Elements, dem Äther, wurde diese dualistische Ordnung bekräftigt.556 Denn der Himmel befindet sich im Bereich des 5. Elements jenseits des Mondes und ist nicht den wandelbaren Kräften der vier irdischen Elemente ausgesetzt, aus denen unterhalb des Mondes alles besteht. Daher spielt die Erschaffung von Himmel und Erde in diesem naturphilosophischen System (oder auch: Denkstil) bereits auf die Erschaffung der vier Elemente an. Einer der wichtigsten und einflussreichsten Genesiskommentare des 12. Jahrhunderts stammt von Thierry von Chartres, der aufgrund eines neu erwachenden Interesses an der Natur und den Wissenschaften sehr viel stärker als seine gelehrten Vorgänger an ein physikalisch bestimmtes Weltbild anschließt. Brian Stock be zeichnet Thierrys Genesiskommentar als »[...] the only purely naturalistic exegis of the text«557 und hebt hervor: »Instead of following the traditional method of fitting natural philosophy into the historical framework of the Bible, it fits the opening
555 Vgl. ebda. das Kapitel »Der Anfang«, S. 82–128, besonders S. 83–84, S. 98–99 und S. 117; zu Isidor vgl. Barney (Hrsg.): Etymologies of Isidor of Seville, S. 334; in Bernardus Silvestris Kosmographie werden die vier Elemente erst auf Bitte der Natura im Zuge einer Neuordnung oder Neuschaffung der Welt aus Hyle/Silva geschaffen, die die prima materia symbolisiert (vgl. dazu: Bernardus Silvestris: The Cosmographia of Bernardus Silvestris. A Translation with Introduction and Notes by Winthrop Wetherbee. New York/London 1973). 556 Vgl. Randles, W. G. L.: The Unmaking of the Medieval Christian Cosmos, 1500–1760. From Solid Heavens to Boundless Aether. Aldershot u. a. 1999, S. 2–7; laut Randles arbeiteten die Astronomen hauptsächlich mit dem etwas komplexeren System der 10 Sphären, das von Isidor eingeführt und u. a. von Michael Scotus, Albert Magnus oder Thomas von Aquin bearbeitet wurde (vgl. ebda., S. 7–19). 557 Stock, Brian: Myth and Science in the Twelfth Century. A Study of Bernard Silvester. Princeton, New Jersey 1972, S. 240.
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chapters of Genesis into the framework of natural philosophy.«558 Jeder der sechs Tage der Schöpfung wird darin als dies naturalis bezeichnet und mit Hilfe einer Erdrotation beschrieben. Die erste Rotation setzt – als Interpretation des ersten Satzes der Genesis – mit der Erschaffung der Materie ein, die sich dann in Elemente ordnet, welche sich an die für sie vorgesehenen Orte begeben und sich schließlich auch vermischen. Für Thierry gibt es vier Ursachen für die Schöpfung: Gott Vater stellt die Wirkursache dar; sein Sohn Jesus Christus wird mit der Weisheit gleichgesetzt und ist die Formalursache; der Heilige Geist als Wille bildet die Finalursache. Zu diesen drei göttlichen Ursachen gesellen sich die vier Elemente, die in dieser Weltordnung die materielle und somit vierte Ursache darstellen.559 Im dritten Versikel von Frauenlobs Kreuzleich überlagern sich verschiedene Schöpfungsvorstellungen. Die ersten drei Verse (der erste Halbversikel) erzählen von schöpferischen Vorgängen in der Natur und deren Auswirkungen. Von der Sonne und ihrem Licht, einer Quelle, dem Fluss, der aus ihr entspringt, und der Wurzel bzw. den Kräutern, die dadurch bewässert werden, ist die Rede. Liest man diese drei Naturerscheinungen als pars pro toto für den Bereich, aus dem sie stammen, stecken in den ersten drei Versen bereits drei der vier Elemente, in die sich die Materie ordnet. Die Sonne steht für das Feuer, die Quelle und der Fluss gehören in den Bereich des Wassers und die Wurzel steht für die Erde, aus der sie hervorgeht. Element Nummer 4, die Luft, findet sich im letzten Vers des zweiten Halbversikels (vgl. v. 6), wenn von dem Wort und der Zunge die Rede ist. Alle vier Ursachen der Welt, von denen Thierry von Chartres in seinem Schöpfungsbericht spricht, sind in diesen wenigen Versen vereint: die Trinität und die vier Elemente als Grundvoraussetzungen der Existenz der Welt, als Anfang der Dinge. Darüber hinaus verschränkt Frauenlob auch die ersten Verse der Genesis und des Johannesevangeliums, wenn er im zweiten Halbversikel die Erschaffung Christi durch das Wort Gottes schildert. Damit gilt nicht nur die Materie in der Gestalt der Elemente als Grundlage der Welt, sondern auch das Wort wird als Schöpfungsinstrument innerhalb des Versikels wirksam. Dass das Thema der Schöpfung auch auf formaler Ebene den dritten Versikel durchzieht, zeigt sich durch eine genauere Analyse des Reimschemas, welches hier der Übersicht halber nochmals angeführt wird: a – b/b/b – b/a --- a – c/c/c – c/a. Obwohl sich dieser Versikel auf den ersten Blick in Dreiergruppen organisiert, treten die drei Reime jeweils viermal auf. Der Endreim a aus Vers 1 wiederholt sich in den Versen 3, 4 und 6, die Schlagreime b und c finden jeweils viermal in den Versen 2 und 3 bzw. 5 und 6 Verwendung. Diese Anordnung in Vierergruppen bekommt mit der formalen (drei Verse pro Halbversikel, Adjektive und Verben, 558 Ebda. 559 Vgl. ebda., S. 241–249.
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die in Dreiergruppen angeordnet sind) und inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf die Drei eine umso größere Bedeutung, wenn der Fokus auf die zahlensymbolische Relevanz der Drei und der Vier gelegt wird. Die Zahl 3 steht im Kontext der theologisch-philosophischen Auslegung für die göttliche Dreifaltigkeit und deren Verehrung und ist damit mit der göttlichen Schöpfung verbunden. Die Zahl 4 ordnet die gesamte irdische Schöpfung durch die vier Elemente, die vier Himmelsrichtungen und Jahreszeiten, Temperamente sowie Lebensalter.560 Zahlen, die sich aus einer Kombination der Drei und der Vier errechnen lassen (Sieben durch Addition, Zwölf durch Multiplikation) sind daher von großer Bedeutung, da sie die Gesamtheit der göttlichen und irdischen Schöpfung anzeigen.561 Somit gehen in Versikel 3 des Kreuzleichs inhaltliche und formale Interpretation konform, da in beiden Fällen sowohl die göttliche als auch die irdische Schöpfung im Zentrum stehen. Wirft man einen noch genaueren Blick auf die ersten beiden Verse dieses Versikels, fällt auf, dass ein ungewöhnlicher Binnenreim vorkommt, der sich im zweiten Halbversikel nicht wiederholt: sunnen und brunnen bezeichnen die beiden Emanationsquellen, aus denen sich Licht und Wasser ergießen. Dass ausgerechnet diese beiden Wörter durch einen Reim miteinander verbunden sind, kann, muss aber kein Zufall sein: Die Sonne, die für das Feuer steht, ist in ihrer Hitze und Trockenheit elementar dem Bereich des Männlichen zugeordnet, während die Quelle, also das Wasser, in ihrer Kälte und Feuchtigkeit der Frau entspricht. Auch wenn hier nicht explizit von einem Akt der Zeugung menschlichen Lebens gesprochen wird, ist in der Wahl der Sprachbilder und in der Art und Weise, wie sie formal aufeinander bezogen werden, bereits diese Verbindung angelegt, die semantisch der Schöpfung und auch der Menschwerdung Gottes in Jesus zuzuordnen ist. In Zusammenhang mit Versikel 3 muss auch der Beginn des Kreuzleichs betrachtet werden, da hier weitere Anfänge zu beobachten sind: KL II,1 Wie wunder wernder süze ursprinc, ho swebendes vluzzes nam, so willeclich begin, der ersten sache sechic dinc, ir wesen, ir ewic und ir immer wegender sin! Wie tirmic, spiegel sehender kunft gruntsippic blic, der zit gewegen in geschicht:
560 Vgl. Suntrup, Rudolf: Zahlensymbolik, -mystik. In: LexMA Bd. 9, Sp. 443–457; hier vor allem der Unterabschnitt »Theologisch-philosophische Aspekte«, Sp. 444–446. 561 Vgl. Meyer/Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 635.
Der Kreuzleich und die Schöpfung
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mit im wart bündic sigenunft in dir, du griffic, sichtic, immer gebendez icht.562
Der Kreuzleich beginnt formal einfach mit zwei durch Kreuzreime gekennzeichneten Halbversikeln, deren Reimschemata sich wie folgt darstellen lassen: a – b – a – b --- c – d – c – d Der Eingang beider Halbversikel ist durch ein vergleichendes bzw. rhetorisch gebrauchtes Wie gekennzeichnet und weist darauf hin, dass hier etwas oder jemand in seinen Eigenschaften beschrieben wird. Auch im ersten Versikel finden sich Dreiergruppen, doch treten sie hier im Vergleich zu Versikel 3 lediglich am Rande auf: In Vers 4 werden drei Eigenarten von der ersten sache sechic dinc aufgezählt, Vers 8 beschreibt durch drei Adjektive das mit du angesprochene Wesen näher.
6.1.1 Zum ersten Halbversikel Frauenlob spricht in Vers 2 vom ho swebenden vluz und spielt damit – so meine These – auf die in der Genesis erwähnten oberen Wasser an, die im Zuge der Bibelauslegungen immer wieder zu Verständnis- und Erklärungsnöten führten: et fecit Deus firmamentum divisitque aquas quae erant sub firmamento ab his quae erant super firmamentum (Gen 1,7).563 Am ersten Tag erschafft Gott Himmel und Erde; am zweiten Tag erschafft Gott jedoch noch einen Himmel, den er zwischen die Wasser setzt, um Wasser von Wasser zu trennen. Die Meinung darüber, was genau diese beiden Himmel 562 KL II,1 Wie Wunder wirkend der Ursprung der Süße/der süße Ursprung (Oder auch: Oh, was für eine Quelle wunderbar andauernder Süße/Heiligkeit), der Name des hoch schwebenden/schwimmenden Flusses/Wassers (der hoch schwebenden Emanation), so ein bereitwilliger Beginn, das ursächliche Ding der ersten Sache, ihr Dasein, ihr ewiger und ihr immer sich bewegender Sinn! Wie schöpferisch der, der im Spiegel gesehenen Ankunft / dem im Spiegel gesehenen Kommen von Grund auf verwandte Blick der Zeit überantwortet (=gewogen) in einem Ereignis: Mit ihm wurde in dich hineingebunden der Sieg, du greifbares, sichtbares, immer gebendes Etwas. 563 »Und Gott machte das Firmament und teilte die Wasser, die unterhalb des Firmaments waren von denen, die oberhalb des Firmaments waren.«
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voneinander unterscheidet und wo sie sich im kosmologischen System befinden, variiert im Laufe der Zeit. Dennoch lassen sich einige wesentliche Gemeinsamkeiten ausmachen, die für die Auslegung der Genesis und das Verstehen des Kreuzleichs relevant werden. Bereits im 4. Jahrhundert wird zwischen einem ersten oder äußersten Himmel, dem Empyreum, der die Seelen der Gesegneten aufnimmt, und dem Firmament unterschieden. Das Empyreum ist der Himmel, der am ersten Tag erschaffen wurde, während das Firmament die oberen von den unteren Wassern trennt. Das Firmament und alles andere, was sich zwischen dem ersten Himmel und der Erde befindet, bestehen in dieser Vorstellung aus solidem Eis und sind hart wie Kristall.564 Die Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften führt zu einer Erweiterung dieses kosmologischen Systems (u. a. durch zwei der wichtigsten Gelehrten des 13. Jahrhunderts: Albertus Magnus und dessen Schüler Thomas von Aquin). Albertus Magnus bemüht sich bei seiner Lesart der Schöpfungsgeschichte um eine Synthese von Genesis und aristotelischem Wissen und setzt die kristalline Sphäre der Wasser über dem Firmament mit dem aristotelischen ersten Beweger gleich – dem primum mobile, der im achten Buch der Physik des Aristoteles die Bewegung der Welt verursacht. Für Albert ist das Wasser oberhalb des Firmaments nicht mit dem Element Wasser gleichzusetzen, wie es unterhalb des Mondes zu finden ist. Vielmehr folgt er auch hier Aristoteles, für den der supralunare Bereich aus einem perfekten fünften Element, dem Äther, besteht.565 Frauenlob spricht im ersten Versikel des Kreuzleichs vom Namen des hoch fließenden Wassers und setzt diesen mit dem süßen Ursprung gleich. Dass der süße Ursprung nur Gott sein kann, zeigt bereits das Wort ›Ursprung‹, das in Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt lediglich Gott als Schöpfer bezeichnen kann. Auch die süeze verweist auf Gott, wie das Frauenlob-Wörterbuch zur Göttinger Ausgabe bestätigt: Unter der Überschrift »mit Beziehung auf religiöse Vorstellungen«566 findet sich ein Hinweis auf den ersten Vers des Kreuzleichs.
564 Vgl. Randles: Medieval Christian Cosmos, S. 2–7. 565 Vgl. ebda., S. 12–14. Alberts Schüler Thomas von Aquin veränderte dieses Modell noch einmal, indem er die kristalline Sphäre vom primum mobile trennt. Somit erweitert er das bislang aus 10 Schalen bestehende kosmische Sphärenmodell um eine weitere Schale – die des primum mobile; später in seiner Summa Theologica hält er trotzdem an den 10 Sphären des Isidor fest, wenn er zu klären versucht, ob es mehr als einen Himmel gibt. Vgl. Thomas de Aquino: Summa theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte dt.-lat. Ausgabe. 36 Bde. Bd. 5: Das Werk der sechs Tage. Hrsg. von Heinrich M. Christmann. Salzburg u. a. 1934, S. 76–80 (q 68,4). 566 Stackmann: Wörterbuch zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, S. 353, Sp. 2; auch Kirsch spricht in seinem Kommentarteil zu Frauenlobs Kreuzleich von der mystischen Süßigkeit Christi und
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Der süße Ursprung, der Wunder bewirkt, ist also Gott und somit hat auch der Name des hoch fließenden Wassers etwas mit dieser Göttlichkeit zu tun. Nach Albertus Magnus ist die Sphäre des oberen Wassers die Kristallsphäre und zugleich die Sphäre des ersten Bewegers, der wiederum Gott ist. Der süße Ursprung ist dieser Lesart folgend nichts anderes als das primum mobile und damit eine andere Bezeichnung für Gott, der – und das wird in der zweiten Hälfte von Vers 2 ausgedrückt – wieder mit einem begin, einem Anfang, in Verbindung gebracht wird. Vers 2 ist syntaktisch an den dritten Vers gekoppelt, der von der ersten sache sechic dinc spricht, deren Dasein in Vers 4 als ewic beschrieben wird. Die erste sache, von der Frauenlob berichtet, lässt sich in diesem Kontext auf zwei Arten verstehen: 1. Als prima materia, die, ausgehend von Aristoteles, als Urmaterie (hylê prôtê) am Beginn von allem Geschaffenen steht. Die prima materia ist noch ohne Form, sie ist ungeordnet, reine Potenz und bei Gelehrten wie Albertus Magnus oder Thomas von Aquin ist sie die Urmaterie, aus der alles entsteht; die vier Elemente, aus denen dann die sichtbare Welt aufgebaut wird, lösen sich zuerst aus ihr.567 Bei Bernardus Silvestris, einer der wichtigsten Autoritäten für Alanus ab Insulis,568 wird aus der ungeordneten prima materia, die Bernardus auch Hyle oder Silva569 nennt, die Welt geformt. Die prima materia entsteht aus Gott; er existiert bereits vor ihr und ist für deren Erschaffung verantwortlich. Wenn nun Frauenlob vom ursächlichen Ding der ersten Sache spricht, dann würde er, dieser Lesart folgend, auf die Instanz verweisen, die die prima materia erschafft. Das kann nur Gott sein, denn zeitlich ist vor der prima materia noch nichts anderes als ihr Schöpfer existent. 2. Die erste Sache kann aber auch als erste Ursache übersetzt werden und bezeichnet dann nicht die prima materia sondern die prima causa, die in der scholastischen Philosophie einen hohen Stellenwert erlangt. Alles Sein geht auf die erste Ursache zurück, die Thomas von Aquin in seinem Gottesbeweis in der zweiten Untersuchung seiner Summa Theologica explizit Gott nennt, verweist auf deren Vorkommen im Eingang lateinischer Hymnen und Sequenzen (vgl. Kirsch: Frauenlobs Kreuzleich, S. 35). 567 Detel, Wolfgang/Schramm, Matthias: Materie [Antike und Mittelalter]. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5, Sp. 870–904. 568 Vgl. Stock: Myth and Science, S. 281–282. 569 Das griechische Wort Hyle bedeutet ursprünglich ›Holz‹ oder ›Wald‹ und wurde auch als Bauholz verstanden. Daraus entwickelte sich dann die später so wichtige Bedeutung ›Material‹, die sich bei Aristoteles zu einem philosophischen Terminus wandelt und zur abstrakten ›Materie‹ wird. Silva ist damit die lateinische Übertragung des griechischen Wortes für Holz – vgl. Oeing-Hanoff, Ludger: Form und Materie (Stoff). In: Historisches Wörterbuch der Philosphie Bd. 2, Sp. 977.
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da dieser die Wirkursache von allem sein muss, was entsteht.570 Frauenlob spricht vom ursächlichen Ding der ersten Sache und zitiert, so Kirsch, scholastisches Gedankengut, wenn tautologisch von der causae primae causa causata571, der ursächlichen Ursache der ersten Ursache, die Rede ist. Obwohl es für die Interpretation des Textes natürlich einen Unterschied macht, ob die erste sache als prima materia oder prima causa gelesen wird, ist in Hinblick auf den Gottesverweis aber irrelevant, wie diese Stelle verstanden wird. Sowohl die prima materia als auch die prima causa verweisen unmittelbar auf Gott; sie sind in diesem Kontext und in der im dritten Vers von Frauenlob vorgenommenen Formulierung sogar noch viel mehr, sie sind Gott selbst. Gott ist allgegenwärtig – zumindest ist er das im ersten Halbversikel des Kreuzleichs. Dort fällt nicht einmal der Name Gottes und doch steckt er in jeder Verszeile, in jeder Formulierung, fast schon in jedem Wort. Es geht um den Anfang der Dinge und dieser Anfang kann nur Gott sein; in logischer Folge gehört auch der Anfang des Kreuzleichs diesem Gott in all seinem Facettenreichtum. Dabei schreckt Frauenlob auch nicht vor sehr elaborierten und kunstvollen Umschreibungen zurück, die erst im Kontext scholastischer Lehren lesbar werden. Anspielungen an die erste Sache oder die oberen Wasser erfordern bereits für deren begriffliche Entschlüsselung Kenntnis des gelehrten Wissens der Zeit. Doch auch die Kontextualisierung benötigt einiges an Erfahrung und Geschick im Lesen poetischer Texte und zudem ein umfangreiches Allgemeinwissen. Die Komplexität des ersten Versikels wird jedoch in den nächsten Versen fast bis zur Unverständlichkeit gesteigert, wenn von der schöpferischen Kraft Gottes die Rede ist.
6.1.2 Zum zweiten Halbversikel Auch hier steht der Anfang im Zentrum der Aufmerksamkeit Frauenlobs, doch im Vergleich zu den ersten vier Versen werden die Bilder nun verstellter, die Syntax komplexer und die Sprache dichter.572 Dass etwas erschaffen wird, wird bereits durch das zweite Wort in Vers 5 ausgedrückt: tirmic ist bei Frauenlob nicht in 570 Vgl. Christmann, Heinrich M. (Hrsg.): Thomas de Aquino: Summa theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte dt.-lat. Ausgabe. 36 Bde. Bd. 1: Gottes Dasein und Wesen. Hrsg. von dems. Salzburg u. a. 1933, S. 43–49 (q 2,3). 571 Vgl. Kirsch: Frauenlobs Kreuzleich, S. 3. 572 Vor allem die Verse 5 und 6 bereiten große Übersetzungs- und Verständnisschwierigkeiten, die sogar im Kommentarteil zur Göttinger Ausgabe vermerkt sind, da auch die Herausgeber bezüglich dieser schwierigen Stelle uneins waren (vgl. Stackmann/Bertau (Hrsg.): Heinrich von Meißen: Leichs, Sangsprüche, Lieder. Bd. 2, ab S. 665).
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seiner ursprünglichen Bedeutung mit ›erhaben‹ oder ›hoch‹ zu übersetzen, sondern als ›formen, bilden, schöpfen‹ zu verstehen.573 Damit wird der Blick aus Vers 6 zu einem schöpferischen Blick, der mit der Ankunft, von der in Vers 5 die Rede ist, grundlegend verwandt ist. Diese Ankunft bzw. dieses Kommen wurde im Spiegel gesehen574, der mit der Jungfrau Maria zu identifizieren ist, denn »Gott Vater spiegelte in der Jungfräulichkeit Marias sein Ebenbild im Sohne.«575 Sowohl der schöpferische Blick als auch die Ankunft sind göttlichen Ursprungs und nichts anderes als Umschreibungen für Gott Vater und Sohn, die als grundlegend verwandt beschrieben werden und bereits vor der Schöpfung da sind. Auch Maria ist als Spiegel Gottes präfigurativ in der Dreifaltigkeit existent.576 Der Sieg aus Vers 7 ist ein Vorausgreifen auf die Heilsgeschichte und damit auf die Auferstehung Christi, die auch hier schon mitschwingt. Diese Lesart folgt den Kommentarteilen der Göttinger Ausgabe sowie Kirschs Edition des Kreuzleichs und erweist sich als sinnstiftend und kohärent. Gemeinsam mit dem ersten Halbversikel wird damit in Versikel 1 des Kreuzleichs nicht nur der Anfang des Alten Testaments, sondern auch das grundlegende Ereignis des Neuen Testaments – die Geburt Christi und deren Folgen – vorweggenommen. Somit ist der formale Beginn des Kreuzleichs auch inhaltlich durch Anfänge charakterisiert; vielmehr noch, der physische Anfang von allem, die Schöpfung, wird mit dem metaphysischen Anfang von allem, Gott, und der Geburt Christi als Ausgangspunkt der Heilsgeschichte, verwoben. Erlaubt man dem Text (und damit seinem Verfasser) einen noch umfangreicheren Anspielungshorizont, findet sich ein weiterer Anfang zwischen den Zeilen des ersten Versikels versteckt. Huber konnte anhand der Analyse von einigen Sprüchen Frauenlobs bereits zeigen, dass dessen Werk in Hinblick auf kosmologisch-schöpferisches Gedankengut chartrensisch geprägt ist. Er macht das anhand des platonischen Emanationsgedankens fest, der sich als kosmologische Kausalkette in den Texten Frauenlobs finden lässt, die durch den schöpferischen Gott als höchste Instanz geprägt sind.577 In diesem Zusammenhang wird wieder die Cosmographia des Bernardus relevant, die kosmologisches, mythologisches 573 Vgl. ebda., S. 666. 574 Einem Hinweis von Matthias Meyer folgend, ist eine weitere Lesart möglich, in der der Spiegel als die Bibel verstanden wird, in die der Mensch zum Erkenntnisgewinn blicken kann. 575 Kirsch: Frauenlobs Kreuzleich, S. 35; vgl. auch Stackmann/Bertau (Hrsg.): Heinrich von Meißen: Leichs, Sangsprüche, Lieder. Bd. 2, S. 666. 576 Der Marienleich Frauenlobs widmet sich zu einem großen Teil der ›Göttlichkeit‹ Marias, ihrer Stellung zwischen Gottheit und Mensch als Mutter Christi. Auch im 12. Versikel des Marienleichs wird Maria mit dem reinen, klaren Spiegel, in dem Gott sein Antlitz ohne Verzerrung erblicken kann, verglichen und somit in die Nähe göttlicher Identifikation gerückt (vgl. UFL I,12 v. 3). 577 Vgl. Huber: Alanus ab Insulis, S. 161–166.
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und enzyklopädisches Wissen verarbeitet und nicht nur Alanus ab Insulis als wichtige Quelle dient, sondern auch direkt Einfluss auf Frauenlob nimmt578: In der Cosmographia findet Schöpfung in mehreren Schritten statt, die durch Gott als höchste aller Instanzen ihren Anfang nimmt. Des Weiteren sind im ersten Buch der Cosmographia, das dem Megacosmos gewidmet ist, drei allegorische Figuren relevant, die den Prozess der Schöpfung in die Wege leiten. Die Figur der Noys wird als die Vorhersehung und als der Intellekt Gottes, als dessen Emanation verstanden579; Natura ist die Tochter der Noys und koordiniert die Schöpfung.580 Sie hat eine Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde inne und bringt Noys dazu, die Welt zu ordnen und vom Chaos zu befreien. Im Zuge dieser Neuordnung bildet Noys aus Hyle/Silva, der wilden, ungeordneten prima materia, zunächst die vier Elemente und dann den Rest der Welt. Noys wird mit dem Bild des blankpolierten Spiegels gleichgesetzt, in dem der höchste Gott den Ablauf der Zeiten sieht. Dieser Spiegel der Providentia (Noys wird als göttliche Voraussicht mit diesem Beinamen bedacht) wird später im Microcosmos-Teil der Urania als Schöpfungswerkzeug zur Schaffung der Seele des Menschen zur Verfügung gestellt.581 Betrachtet man unter diesen Voraussetzungen den ersten Versikel von Frauenlobs Kreuzleich noch einmal, werden Anspielungen auf Bernardus Cosmographia erkennbar. Die erste sache aus Vers 3 kann als prima materia und damit als Hyle/Silva, als ungeordnete noch chaotische Materie vor der Ordnung durch Gott, verstanden werden. Folgt man dieser Lesart, spielt der ho swebendes vluzzes nam aus Vers 2 auf den platonischen Emanationsgedanken an und bildet damit als Umschreibung für den schöpferischen Gott den Ausgangspunkt der kosmischen Kausalkette. Auch kann der in Vers 5 erwähnte spiegel sehender kunft nicht nur als mariologisches Symbol verstanden werden, sondern – wenn man eine freie Übertragung ins Lateinische gestattet – zugleich auf den Spiegel der Providentia/Noys verweisen.582 So, wie Gott in Maria bereits seinen Sohn sieht, geht bei
578 Huber konnte zeigen, dass das Minne-Prinzip und auch die Hierarchie der Instanzen in den Texten Frauenlobs dem stark platonisch geprägten Denken Bernardus sehr nahe stehen. Huber macht das an der Einbettung des Konzeptes der anima mundi, der Weltseele (bei Bernardus auch Endelechia genannt) fest, der Eigenschaften des Heiligen Geistes zugesprochen werden. Diese ist bei Frauenlob positiv besetzt und rezipiert somit Vorstellungen von vor 1140, da später das Konzept der anima mundi einer ›Verketzerung‹ unterworfen wurde. Huber folgert daraus einen direkten Einfluss chartrensischen Gedankenguts und betont dabei die Relevanz von Bernardus Cosmographia (vgl. Huber: Alanus ab Insulis, S. 172–175 sowie ab S. 197). 579 Vgl. Bernardus Silvestris: Cosmographia, S. 69. 580 Vgl. ebda., S. 35. 581 Vgl. ebda., S. 114. 582 Christoph Huber erwähnt, dass bei Frauenlob die Spiegel-Metapher häufig in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen verwendet wird, dass in der bisherigen Forschung der durchaus
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Bernardus der Entwurf der Welt im Geiste Gottes, dem Spiegel der Providentia, voraus. Beide Spiegelungen sind von präfigurativem Charakter: Heilsgeschichte sowie Schöpfung sind bereits mit Gott vor ihrem Eintreten vorhanden und werden anhand der Spiegelung in Maria/Noys evident.583 Gestattet man diese Anspielung auf Bernardus Cosmographia in Frauenlobs Kreuzleich, überlagern sich im ersten Versikel Schöpfungsvorstellungen aus verschiedensten Quellen zu einem wahrlich fulminanten Leicheingang. Die christlichen Motive zeigen sich durch Verweise auf Bibel und Heilsgeschichte. Naturphilosophische Anspielungen finden sich zunächst in einzelnen Begriffen, erstrecken sich aber in einem weiter gefassten Kontext auf die gesamte Schöpfungsgeschichte, da in den Genesiskommentaren des 12. und 13. Jahrhunderts eine Zusammenführung von wissenschaftlicher Lehre und Mythos versucht wurde. Dabei wird die Naturphilosophie für die Erklärung und Entschlüsselung des Mythos immer relevanter. Die Verweise auf die Cosmographia zeigen diese mythische Dimension der Schöpfung im Kreuzleich. Jeder dieser Modi der Erschaffung ist jedoch durch eine sie vereinende Instanz gekennzeichnet, die in allen Umschreibungen unmissverständlich als Gott zu erkennen ist. Frauenlobs Minneleich ist ebenfalls durch einen Fokus auf die Erschaffung von etwas Neuem gekennzeichnet, doch gilt hier das Interesse weniger den kosmologischen Prozessen, sondern der Vereinigung von männlichem und weiblichem Prinzip sowie der schöpferischen Kraft der Natura und der Frau.
6.2 Der Minneleich und die Androgynie Frauenlobs Minneleich entstand als zweiter seiner drei Leichs um 1300 und hat das Lob des weiblichen Geschlechts in seiner Unterschiedlichkeit zum Inhalt.584 Gepriesen werden meit, die Jungfrauen, wîp, verheiratete Frauen, die noch keine Kinder geboren haben, und die vrouwe, der als verheirateter Frau und Mutter der höchste Lobpreis gebührt. Die Grenzen zwischen den einzelnen Formen der Weiblichkeit lassen sich aber nicht immer klar ziehen; vielmehr laufen auch hier, wie das bei Frauenlob oft der Fall ist, die einzelnen Bilder und Begriffe ineinander. sinnstiftende chartrensische Hintergrund jedoch noch zu sehr außer Acht gelassen wurde (vgl. Huber: Alanus ab Insulis, S. 161). 583 Auf die strukturelle Ähnlichkeit der Maria, wie sie in der Dichtung Frauenlobs porträtiert wird, mit den Figuren der göttlichen Noys und der Natura aus Bernardus Cosmographia verweist auch Huber: Alanus ab Insulis, S. 186. 584 Vgl. Bertau: Frauenlob. In: LexMA Bd. 4, Sp. 2098–2099.
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Aus 33 Versikeln besteht der Minneleich, die insgesamt aus 33 mal 33 Hebungen aufgebaut sind585. Zahlensymbolisch verweist das einerseits auf die Trinität, andererseits wird damit auch auf die Heilsgeschichte und Jesus Christus als Erlöser der Menschheit angespielt, da dieser mit 33 Jahren gekreuzigt wurde und wieder auferstand.586 Der Minneleich gliedert sich in drei Teile plus je einem Versikel Einleitung und Ende. Im Einleitungsversikel legt Frauenlob seine Gründe für die Notwendigkeit des Frauenpreises dar. Der erste inhaltliche Hauptteil erstreckt sich von Versikel 2 bis 7 und hat ein Gespräch zwischen dem Verstand, her sin, und dem Dichter zum Inhalt, das sich um eine Frau dreht, die durch die verbindenden und schöpferischen Fähigkeiten der Natura des Alanus ab Insulis gekennzeichnet ist. Nach einem Versikel des Frauenlobpreises beschäftigt sich der zweite inhaltliche Hauptteil mit der Alchemie, einem androgynen Wesen und der Vereinigung der Geschlechter auf elementarer Ebene. Der dritte Teil, der sich über die Versikel 14 bis 32 erstreckt, ist ein klassischer Lobpreis der Frauen und ihrer Tugenden. Der Schlussversikel des Minneleichs widmet sich letztlich einer ganz speziellen Frau und Mutter, wenn Frauenlob die Jungfrau Maria als jene Frau preist, durch die man alle vrouwen eret! (ML III,33.8). Im Folgenden wird mein Interesse den Versikeln 9 bis 13 gelten, in denen ein von der Forschung bis heute noch nicht näher identifiziertes Wesen namens Selvon und dessen Vision im Mittelpunkt stehen: ML III,9 Selvon, der sach ein dunstlich bilde, halp maget, halp man, geteilet nach der lenge, Daz truc die vier complexen wilde in siner hant, es vloz in twalmes henge. ML III,10 Kalt unde trucken truc ez in der vrouwen hant, warm unde viuchte truc sin manlich ellen. Ein sinnic man, der sinnet, waz es tut bekannt. spreche ich da von icht mere, es were gevelle. ML III,11 Die forme, halp gecrönet nach küniges recht und halp ein meitlich borte. Sie was so clar geschönet. Selvon der knecht, ein got wart in ir worte.
585 Vgl. ebda. 586 Vgl. Meyer/Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 704–705.
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ML III,12 Swa sie vant bröde sinne, der warf sie nach gewinne der brödekeit gelichen twalm. Swa danne der twalm erkante sin art, gelich dar sante die forme ir stricken sunder galm. ML III,13 Sus hup sich ganzer liebe vrevel, die forme worchte sunder wevel die vier complexen dicke in ein Niur mit der ougen widerhaft. die forme hiez der minnen kraft. an tougen buchen daz erschein.587 587 ML III,9 Selvon, der sah ein nebeliges Bild, halb Jungfrau, halb Mann, der Länge nach geteilt, das trug die vier Komplexen (Elemente bzw. Elementarqualitäten) durcheinander in seiner Hand, es floss/verströmte sich mit Erlaubnis (?) des Dunstes. ML III,10 Kalt und trocken trug es in der Hand der Frau, warm und feucht trug sein männlicher Arm. Ein weiser Mann, der weiß, was das bedeutet. Würde ich noch mehr davon sprechen, wäre das ein Unglück. ML III,11 Die Form, halb gekrönt wie es dem König gebührt und halb ein jungfräuliches[r] Band [Gürtel]. Sie war so glänzend schön. Selvon der Knecht wurde ein Gott durch ihre Worte / in ihrem Wort. ML III,12 Wo auch immer sie für geschlechtliche Reize empfängliche Sinne fand, dorthin warf sie um siegreich zu sein Dunst [Qualm], welcher der Empfänglichkeit gleich war. Wo auch immer der Dunst dann seine Art erkannte, dorthin sandte gleichermaßen die Form ihr Wirken ohne Lärm. ML III,13 Auf diese Weise erhob sich die Verwegenheit ganzer/vollständiger Freude [Lust], die Form arbeitete ohne Saum die vier Elemente sehr hinein nur mit den Widerhaken der Augen. Die Form hieß die Kraft der Liebe. In geheimen Büchern offenbarte sich das.
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Diese fünf Versikel wurden in der Forschung bereits oft diskutiert: Unter anderem setzte sich Thomas Bein mit der alchemistischen Tradition des Hermaphroditen auseinander.588 Ralf-Henning Steinmetz versuchte, den twalm in Kombination mit medizinischen Texten zur Zeit Frauenlobs als Pneuma in einem sexualhistorischen Kontext zu lesen.589 Susanne Fritsch-Staar weist diese Lesart aber zurück, da sie dort den twalm als zu männlich konnotiert sieht und schlägt stattdessen vor, von Androgynie im Minneleich zu sprechen und den Hermaphroditen als Metapher zu verstehen, die die Gegensätze von männlich und weiblich aufhebt und harmonisiert.590 Ich möchte nun zunächst unabhängig von den bisherigen Forschungsergebnissen auf einen Aspekt innerhalb dieser Versikel hinweisen, der bis jetzt noch nicht als wesentlich wahrgenommen wurde, der aber in Kombination mit den gängigen Interpretationen plausibel erscheint und sich thematisch mit dem im Kreuzleich so wesentlichen Thema der kosmologisch-naturphilosophisch argumentierten Schöpfung verbindet. Daraus resultiert überraschenderweise eine für Frauenlob untypische Reduktion der Komplexität innerhalb der Auslegung, die zum Verständnis der Versikel beitragen kann. In Versikel 9 erblickt ein gewisser Selvon591 ein dunstlich bilde, ein nebeliges Bild eines Wesens, das zur einen Hälfte Frau, zur anderen Mann ist und die complexen wilde, also ungeordnet, in seinen Händen trägt. Der Begriff der complexen meint dabei nicht die vier Elemente, sondern verweist in Anlehnung an die lateinische Grundbedeutung auf die charakteristische Verknüpfung der den Elementen zugehörigen Eigenschaften.592 Dass es sich bei den complexen im 588 Vgl. Bein: Sus hup sich ganzer liebe vrevel, S. 179–208. 589 Vgl. Steinmetz: Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob. 590 Vgl. Fritsch-Staar: Androgynie und Geschlechterdifferenz. 591 Die Identität dieses Selvon lässt sich nicht eindeutig klären, auch wenn immer wieder auf diverse Zauberer aus der mittelhochdeutschen Literatur verwiesen wird. Siehe dazu den Kommentar zu Versikel 9: vgl. Stackmann/Bertau (Hrsg.): Heinrich von Meißen: Leichs, Sangsprüche, Lieder Bd. 2, S. 693. Auch dem Zusammenhang zwischen Frauenlobs Selvon, dem Zauberer Savilôn aus dem Reinfried von Braunschweig und dem Zauberer Zabulon aus dem Wartburgkrieg wurde bereits nachgegangen (vgl. Kreibich, Christina: Der mittelhochdeutsche Minneleich. Ein Beitrag zu seiner Inhaltsanalyse. Würzburg 2000 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 21), hier ab S. 211). Kreibich liest Selvon als eine Kunstfigur, die bei Frauenlob verschiedene Traditionsstränge miteinander vereint – u. a. den des Zauberers Savilôn/Zabulon und des Königs Salomon aus dem Alten Testament. 592 Der Begriff der complexiones bei Frauenlob wurde in der Forschung bereits eingehend diskutiert und führte zu unterschiedlichen Ergebnissen: Bein liest in Anlehnung an den altfranzösischen Gebrauch des Wortes die complexiones als Eigenschaften der vier Elemente und schlägt zwei Lesarten in Hinblick auf die mittelhochdeutsche Literatur vor. Entweder wird auf die Beschaffenheit der Elemente – also auf das perfekte Mischungsergebnis der Elementarverbindung – angespielt, oder
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Minneleich sehr wahrscheinlich um die Primäreigenschaften der Elemente (kalt – warm, trocken – feucht) handelt, lässt sich zeigen, wenn Versikel 10 in die Überlegungen miteinbezogen wird. Nachdem in Versikel 9 davon die Rede ist, dass ein androgynes Wesen die complexen ungeordnet in seinen Händen hält, wird dies in Versikel 10 näher ausgeführt: Kalt und trocken trägt die weibliche Hand, warm und feucht die männliche. wilde ist diese Zuordnung deshalb, da die Elementareigenschaften nicht mit den Eigenschaften der geschlechtsspezifischen Seiten des Wesens konformgehen. Die Frau ist aus der Sicht der Humoralpathologen dem Wasser gleich und somit von Natur aus kalt und feucht, während ihr elementarer Gegenpart, der Mann, dem Feuer entspricht und heiß und trocken zu sein hat. Wenn nun die weibliche Seite das Kalte und Trockene trägt, bezieht sich das auf das Element Erde, warm und feucht gleicht der Luft und wird in Versikel 10 dem Mann zugeordnet. Bein und Steinmetz, die in ihren Lesarten einer alchemistischen Theorie folgen, sehen diese Unordnung durch die in Versikel 12 und 13 angedeutete sexuelle Vereinigung von Mann und Frau aufgelöst, indem sich die Prinzipien verbinden.593 Da Frauenlob aber explizit das Wort wilde, also »ungeordnet«594 in Bezug auf die Verteilung der Elemente verwendet, erscheint es schlüssig, dass gerade der chaotische Zustand relevant für das Verständnis dieser Stelle ist. Da sich diese dunkle Textpassage einer eindeutigen Lesart entzieht und erst mit Hilfe vieler komplexer Zusatzannahmen einen in sich kohärenten Sinnzusammenhang zu erhalten scheint, werde ich im Folgenden etwas für Frauenlob sehr Untypisches versuchen: Ich werde ihn beim Wort nehmen.
die Elemente und deren Eigenschaften werden direkt bezeichnet (vgl. Bein: Sus hup sich ganzer liebe vrevel, S. 131–133); Steinmetz stellt diese Lesart in Frage und verweist auf die Vermischung von Körpersäften innerhalb der Humoralpathologie (vgl. Steinmetz: Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob, S. 77); Huber unterscheidet nach chartrensischem Vorbild zwischen elementum – dem Urstoff – und elementatum – dem zusammengesetzten Stoff (vgl. Huber: Alanus ab Insulis, S. 147); Völker übersetzt den Begriff gar nicht, sondern paraphrasiert die Stelle, wenn sie erläutert, dass neues Leben durch die Mischung der Elemente aus den complexen entsteht (vgl. Völker: Die Gestalt der vrouwe, S. 173). Zum Begriff der complexiones vgl. auch die entsprechenden Ausführungen im Kapitel zu Reinfried von Braunschweig. 593 Vgl. Steinmetz: Liebe als universale Prinzip bei Frauenlob, S. 79; vgl. auch Bein: Sus hup sich ganzer liebe vrevel – zu den complexiones S. 131–138. 594 Im Lexer finden sich zum Eintrag wilde auch die weiteren Bedeutungen »fremd, seltsam oder ungewohnt« (Lexer (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch Bd. 3, Sp. 884–885). Obwohl diese Übersetzung nicht so stark wie ein konkret ›ungeordneter Zustand‹ auf ein chaotisches Bild der Elementareigenschaften schließen lässt, bleibt die eigenartige, vom Normalzustand der Anordnung abweichende Zuordnung auch hier bestehen.
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In der Genesisexegese des 12. und 13. Jahrhunderts wird Schöpfung als Prinzip der Ordnung verstanden.595 Wenn nun in Versikel 9 die Elemente als wilde bezeichnet werden, kann das auf einen noch chaotischen Zustand vor einem schöpferischen Akt verweisen. Nicht nur die Elementareigenschaften zeichnen sich durch ›Vermischtheit‹ aus, bereits das Wesen, das für die Erschaffung von diesem neuen Zustand verantwortlich zeichnet, wird in Vers 2 des neunten Versikels als sowohl weiblich als auch männlich geschildert. Hier sind beide geschlechtsspezifischen Ausprägungen in einem androgynen Wesen vorhanden und bilden daher im Sinne von Steinmetz oder auch Bein die Grundvoraussetzung für eine sexuelle Vereinigung von Mann und Frau, die zur Zeugung neuen Lebens führt. An dieser Stelle in Versikel 9 steht zunächst nur der Zustand der Vermischung, der elementaren Unordnung im Vordergrund. Das dunstlich bilde aus Vers 1, das oft als die nebelumwölkte Vision Selvons verstanden wird, kann bereits auf diese Vermischung hinweisen, wenn bedacht wird, dass Nebel oder Dunst nichts anderes als die Vermengung zweier gegensätzlicher Elemente ist. Wird Wasser erhitzt, entsteht Dampf, der ebenso wie der Hermaphrodit männliches und weibliches Prinzip – also die Elemente Feuer und Wasser – in sich trägt. Das vielumrätselte Wort twalm596 kann sich auf genau diese Mischung der beiden Elemente beziehen, wenn man – so wie im Wörterbuch zur Göttinger Ausgabe für Frauen595 Vgl. Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 27–43; vgl. auch Zahlten: Creatio mundi, S. 140–148. 596 Steinmetz schlägt vor, auf medizinische Theorien zum Geschlechtsverkehr zurückzugreifen und mit Verweisen auf Wilhelm von Conches und Constantinus Africanus den twalm als Pneuma zu verstehen. Obwohl er in seiner Übersetzung den Begriff des Pneumas verwendet, weist er darauf hin, dass bei Frauenlob der twalm auch immer etwas Flüchtiges und Dunstiges bezeichnen kann (vgl. Steinmetz: Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob, S. 81–124). Auch Huber kennt diese spiritus-fumus-Theorie (vgl. Huber: Alanus ab Insulis, S. 171). Bernhard D. Haage (dessen Interpretation der Stelle meines Erachtens an den wesentlichen Punkten zu kurz greift) spricht über den twalm auch als »Dunstgebilde« und stützt sich auf eine Lesart, die dem Pneuma-Begriff nachgeht. Er sieht in der Schilderung der Vermischung der elementaren Prinzipien keine Anspielungen auf einen Liebesakt, da er die Vereinigung alleine durch den Blick, durch die ›Wiederhaken der Augen‹, legitimiert sieht. Er erweitert seine Analyse auf die platonische Emanations- und Strahlentheorie hin. Der twalm wird dabei als weibliches Prinzip, als Lebenspneuma verstanden, die kraft der minne ist zwar durch die ideale Verbindung von männlicher und weiblicher Qualität charakterisiert, sie wird aber auf die Kraft des Blickes reduziert; die Vertauschung der Elementarqualitäten in den Händen des Hermaphroditen liest er als Zeichen »inniger Vermischung« (vgl. Haage, Bernhard D.: Selvons ›visio‹. In: Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. Hrsg. von Dominik Groß/Monika Reininger. Würzburg 2003, S. 245–257, hier v. a. S. 247–248 u. 252). Auch im Zusammenhang mit der Schlafforschung wurde auf den twalm verwiesen, wenn Gabriele Klug diesen im Wolfdietrich als betäubende Substanz liest und mit der Wirkung der Heilpflanze Mandragora engführt (vgl. Klug, Gabriele: Slâftrinken und twalm.
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lob mehrere Male belegt597 – den twalm einfach als Dunst liest. Damit würde das Prinzip der Vermischung in Versikel 9 auf verschiedenen Ebenen durchexerziert werden und den Ausgangspunkt der folgenden Schilderung einer (körperlichen) Vereinigung bilden. Versikel 10, der wie Versikel 9 aus vier Versen im Reimschema a – b --- a – b aufgebaut ist, schildert im ersten Halbversikel genauer, wie die wilden complexen auf die beiden Hälften des Mischwesens verteilt sind, bevor im zweiten Halbversikel davon die Rede ist, dass es sich dabei um geheimes, den Eingeweihten vorbehaltenes Wissen handelt. Im Zusammenhang mit dem vieldiskutierten Wort complexen möchte ich auf eine weitere Passage aus Bernardus Cosmographia hinweisen: Im zweiten Teil des Textes, dessen Aufmerksamkeit dem Microcosmos gilt, steht die Vollendung der Schöpfung durch die Erschaffung des Menschen im Vordergrund.598 Den Allegorien Urania und Physis wird von Noys der Auftrag erteilt, den Menschen zu erschaffen, wobei Urania sich um die Seele des Menschen und Physis um den Körper zu kümmern hat. Natura fällt die Aufgabe zu, Seele und Körper zusammenzuführen.599 Physis formt den Körper des Menschen nach dem strukturellen Vorbild des Kosmos und vereint in ihm die vier Elemente. Diese Aufgabe stellt sich als schwieriger als gedacht heraus, da die vier Elemente in ihrer Grundstruktur als unvereinbar gekennzeichnet sind – Feuer und Wasser werden als beispielhafte Gegensatzpaare angeführt. Hyle/Silva wird sogar mit dem Attribut des Bösen versehen, als trennendes Prinzip und Gegenpart zur göttlichen Einheit verstanden. Bei der Erschaffung eines Körpers kann sich daher etwas Böses einschleichen, wenn die Elemente in Reinform enthalten sind. Physis greift auf einen Kunstkniff zurück, der ihr dabei hilft, dieses Risiko zu umgehen. Sie benützt nicht die Elemente selbst, sondern deren Qualitäten. Dabei achtet sie darauf, dass die Mischung, aus der die Menschen bestehen, auf den Ähnlichkeiten der Elementarqualitäten beruht.600 Auch die Körpersäfte sind durch diese elementaren Primäreigenschaften geprägt; Bernardus beschreibt die Temperamente der einzelnen Charaktertypen und erläutert, dass ein unausgeglichener Säftehaushalt zu Krankheiten und verzerrtem Aussehen führt – bestes Beispiel dafür seien die
Schlaflosigkeit, Schlafmittel und deren Anwendung in der Literatur des Mittelalters. In: Somnologie 11 (2007), Bd. 4, S. 300–312). 597 Vgl. Stackmann: Wörterbuch zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, S. 381, Sp. 2. 598 Nähere Ausführungen zur Erschaffung des Menschen in der Cosmographia im Kapitel »The Creation of Man. Granunison, Physis and Man« bei Stock: Myth and Science, S. 187–226. 599 Vgl. Bernardus Silvestris: Cosmographia, S. 114. 600 Im Kommentar wird darauf hingewiesein, dass in der Cosmographia explizit das Wort complexiones verwendet wird (vgl. Bernardus Silvestris: Cosmographia, S. 120).
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Fratzen der Tiere, deren Körpersäfte nicht in der Balance sind.601 Werden die fünf Selvon-Versikel auf dieser Folie gelesen, können die complexen als elementare Primäreigenschaften identifiziert werden; auch die von Steinmetz und Huber vorgeschlagene Lesart, die einen Schwerpunkt auf humoralpathologisches Wissen legt, schwingt hier implizit mit, da die Körpersäfte über die Primärqualitäten der Elemente definiert werden. Doch nun zurück zum androgynen Wesen des Minneleichs und damit zu Selvons Vision: Der elfte Versikel geht näher auf den Hermaphroditen ein, auf den im ersten Vers mit dem Wort forme602 Bezug genommen wird. In Verbindung mit den kosmologischen Schöpfungstheorien und den ungeordneten Elementen in den Händen des Mischwesens kann die forme als tatsächliche ›Form‹ verstanden werden, die im Sinne antiker Wissenstradition schon in der Schule von Chartres und auch später bei Thomas von Aquin gemeinsam mit der Materie als Akt und Potenz aufgefasst wurde. Der Form als Akt gebührt ein Primat der Materie gegenüber, die erst durch die Form ihr Sein erhält. Aristoteles entwickelt seine Lehre von Form und Materie (zum ersten Mal im ersten Buch der Physik) aus der Frage nach dem Werden und dem Sein der Dinge. Dabei bestimmen Form und Materie den Bereich des Bewegten und Vergänglichen und somit die sublunare Welt.603 In seiner Metaphysik überträgt Aristoteles das Form-Materie-Problem auch auf den Bereich des Supralunaren und damit auf den Bereich des Ewigen und Unbewegten. Jenes ist ohne Stoff und damit reine Form, reine Wirklichkeit, die alles formen kann, aber selbst von niemandem geformt wurde – es ist die Form aller Formen und damit niemand geringeres als Gott.604 Kirchenvater Augustinus führt das Primat der Form auf das Wort Gottes zurück, das ja unvergänglich und ohne jemals entstanden zu sein, selbst erschaffen und formen kann. Das Wort existiert bereits vor der Zeit und damit vor der ordnenden Kraft der Schöpfung.605 Thomas 601 Vgl. ebda., S. 120. 602 Mit »Form, Gestalt« zu übersetzen. Lexer (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch Bd. 3, Sp. 474–475. 603 Alles Seiende, das durch Veränderung gekennzeichnet ist, ist aus Form und Materie zusammengesetzt. Ein Seiendes kann erst durch eine Kombination von Form und Materie zu diesem werden. Aristoteles erklärt die Materie in seiner Physik als etwas, woraus etwas wird, aber noch nicht dieses konkrete Sein ist, sondern vielmehr die Voraussetzung des Werdens darstellt, die Möglichkeit, die durch die Form (den Wesensbegriff eines jeden Dinges bzw. deren ursprüngliches Wesen) zur Wirklichkeit wird (vgl. Oeing-Hanoff: Form und Materie (Stoff). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, S. 979–984). 604 Vgl. ebda., S. 984. 605 »Gott ist aber als schöpferisches Prinzip jeder Form zugleich auch deren Vorform oder Urbild: Das ›Wort Gottes‹, in dem die Ideen oder Formen sind, ist selber ›eine Form, aber eine nicht geformte Form, sondern die Form aller geformten Dinge‹, in der und unter der alles ist.« Soweit Oeing-Hanoff über Augustinus; ebda., S. 987. Einige Jahrhunderte später herrschte in der Schule
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von Aquin greift in seinen Definitionen auf die arabischen Aristoteliker zurück und sieht Form und Materie als unselbständige Prinzipien im Hinblick auf die durch sie erst konstituierte körperliche Substanz, wobei die materia prima als reine Potenz jedem substantialen Werden zugrunde liegt, welches durch die jeweilige Form erst seine artgemäße Bestimmtheit erhält.606
Dabei erhält die Materie ihr Sein erst durch die Form und auch hier wird der Form als Akt eindeutig eine Vorrangstellung gegenüber der Materie als Potenz eingeräumt. Frauenlobs forme aus Versikel 11 trägt die ungeordneten Primärqualitäten der Elemente, das, was als Materie erst eine Gestalt, eine Form finden muss, in ihren Händen. Nimmt man Frauenlob beim Wort, kann die forme als Form, als Akt, verstanden werden, die für die Gestaltwerdung der Materie zuständig ist. Die forme kann sowohl als stofflicher Gegenpart zur Materie – so wie das auch die mittelalterlichen Gelehrten verstanden haben – aufgefasst werden, oder in den Selvon-Versikeln auch ein Hinweis auf Gott sein, auf die reine Form, aus der alles entsteht. Die forme wird zum ersten Mal im ersten Vers des 11. Versikels erwähnt, in dem sie als zwitterhaftes Wesen beschrieben wird; von einer königlichen männlichen Seite, die eine Krone trägt, und einer jungfräulichen weiblichen Hälfte, die ein meitlich borte ziert, ist die Rede. In Versikel 12, in dem damit begonnen wird, eine Situation der Vereinigung zu schildern, ist es die forme, die in Vers 6 ihr stricken sunder galm, ihr Wirken ohne Lärm, beiträgt. Auch im 13. Versikel taucht die forme auf: Sie ist es, die im ersten Halbversikel sunder wevel, ohne Saum, die vier complexen ›einarbeitet‹. In Vers 5 wird schließlich preisgegeben, wobei es sich bei der forme handelt – sie heißt der minnen kraft, die Kraft der (geschlechtlichen) Liebe. Wie so oft bei Frauenlob fließen auch in dieser Textstelle unterschiedliche Verweise und Lesarten zu einem komplexen Bild zusammen. Die grundlegende Bedeutung der Selvon-Versikel ist die Vereinigung eines männlichen und weibvon Chartres zwar Uneinigkeit darüber, was genau unter der Materie zu verstehen sei (Thierry von Chartes argumentiert mit den aristotelischen Begriffen von Akt und Potenz – Materie als reine Potenz wird erst durch die Aktualität der Form bestimmt und verwirklicht; Bernardus Silvestris sieht die Materie als raue, ungeformte, chaotische Stoffmasse an; Wilhelm von Conches hat eine völlig andere Auffassung darüber, was Materie sein kann, und sieht sie als Urmaterie bereits in Form der vier Elemente existent), aber auch hier wird die wahre und reine Form wieder mit Gott gleichgesetzt. Vgl.: Mörschel, Ulrike: Form/Materie. Antike Voraussetzungen; Patristik u. Scholastik; Arab. Philos. In: LexMA Bd. 4, Sp. 636–644. 606 Mörschel: Form/Materie. In: LexMA Bd. 4, Sp. 636–644.
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lichen Prinzips, indem die vier Elementareigenschaften miteinander vermischt werden. Das spielt sich aber auf verschiedenen Ebenen ab. Auf die naturphilosophisch-medizinischen Grundlagen wurde in der Forschung bereits eingegangen607; diese überlagern sich mit philosophisch-theologischen Verweisen zu einem dichten Netz von Anspielungen, die im schöpferischen Grundtenor der Textstelle ihren gemeinsamen Bezugspunkt haben. Die Form als philosophisches Grundprinzip des Lebens wird mit der geschlechtlichen Vereinigung, die eine profane Art der Neuformung von Materie darstellt, überlagert und in den Bereich der menschlichen Fortpflanzung übertragen. Die minne, die Kraft der geschlechtlichen Liebe oder auch der Geschlechtstrieb des Menschen, wird dabei als die Form verstanden, durch die die neu geformte Materie ihr eigentliches Sein erhält. Darüber hinaus kann die forme auch als reine Form, als gottgleiche Kraft verstanden werden, die als Grundlage aller physischen Dinge hinter der Schöpfung steht. Frauenlob schildert das androgyne Wesen als halb männlich und gekrönt, nach küniges recht, die andere Hälfte trägt ein meitlich borte, was entweder als Haarband oder Gürtel zu verstehen ist, aber in beiden Fällen mit dem Adjektiv meitlich, jungfräulich, in Verbindung gebracht wird. Mehr über das Aussehen dieses Wesens erfahren wir von Frauenlob jedoch nicht. Frauenlobs Zwitterwesen scheint nicht dem typischen Bild eines Hermaphroditen (das sich überdies in alchemistischer Tradition erst ab dem 15. Jahrhundert finden lässt) zu entsprechen. In antiker Tradition wurden Zwitterwesen nicht der Länge nach geteilt dargestellt, sondern hatten meist zwei Oberkörper und auch die Genitalien beider Geschlechter waren deutlich erkennbar. Die Krone wirft ebenfalls Fragen auf, da Hermaphroditen in alchemistischem Kontext zwar oft mit einer Krone dargestellt werden, diese in Referenz zur quinta essentia aber fünfzackig ist und auf dem ganzen Kopf aufsitzt bzw. infolgedessen sowohl die männliche als auch die weibliche Seite des Zwitterwesens bedeckt608 – anders bei Frauenlob, der die Krone explizit dem männlichen, königlichen Teil zuordnet. Bein konstatiert, dass es sich trotz vieler Ungereimtheiten bei Frauenlobs Wesen um einen alchemistischen Hermaphroditen handelt muss, ist sich der Schwierigkeit seiner Argumen-
607 Vgl. dazu u. a. Bein: Sus hup sich ganzer liebe vrevel; Huber: Alanus ab Insulis; Huber: Wort sint der dinge zeichen; Steinmetz: Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob – die tougen buchen aus Vers 6 des 13. Versikels werden in dieser Lesart als geheime Lehrbücher der Alchemie oder der Medizin aufgefasst. 608 Vgl. Bein: Sus hup sich ganzer liebe vrevel, S. 170–173 sowie S. 183; vgl. dazu auch Aurnhammer, Achim: Zum Hermaphroditen in der Sinnbildkunst der Alchemisten. In: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von Christoph Meinel. Wiesbaden 1986 (Wolfenbütteler Forschungen 32), S. 179–200, hier v. a. S. 196.
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tation jedoch bewusst, da frühere Quellen für das Zwitterwesen in Zusammenhang mit der Alchemie nicht zu finden sind.609 Dass Frauenlob Zugang zu alchemistischen und medizinischen Texten hatte und diese in seinem Minneleich auch verarbeitet, halte ich durchaus für wahrscheinlich (auch aufgrund der mit Sicherheit sehr bewusst eingesetzten Anspielung auf die tougen bücher und jenes Wissen, das nicht weiter verbreitet werden darf). Dennoch erscheint mir das als alleinige Erklärungsmöglichkeit zu weit gegriffen, da sich erste einschlägige Vergleichstexte erst sehr viel später (etwa 150 Jahre nach Frauenlob) finden lassen. Es ist daher sinnvoll – wie so oft bei Frauenlob – eine Überlagerung verschiedener Bedeutungsebenen in Betracht zu ziehen, um eine sinnstiftende Lesart zu ermöglichen. Neben der Annahme, dass es sich beim Zwitterwesen aus dem Minneleich um einen alchemistischen Hermaphroditen handeln könnte, ist auch ein Zugang über den Mythos möglich.610 Peter Dronke analysiert in seinem Buch »Fabula« die Verwendung von Mythen in mittelalterlichen Texten und verweist auf den Welt-Ei Mythos und die damit in Zusammenhang stehende Neuordnung und Erschaffung der Welt nach Pseudo-Clementinus (Recognitiones) in der Übersetzung des Rufinus. Noch heute existieren über 120 Handschriften; 50 davon wurden bereits vor 1200 angefertigt.611 Im dreißigsten Kapitel des zehnten Buches wird die Kosmogonie des Orpheus erwähnt, die berichtet, dass alles im Chaos beginnt, in dem weder Licht noch Dunkelheit herrscht und die Elemente zunächst nur in einem vermischten Zustand vorliegen. Doch dann ist von einem riesigen Ei die Rede, aus dem eine Doppelform schlüpft, die von den Übersetzern als masculo-feminine bezeichnet wird. Das Wesen wird als Prinzip aller Dinge bezeichnet und formt
609 Vgl. Bein. Sus hup sich ganzer liebe vrevel, S. 184–188. Bein argumentiert wie folgt: In alchemistischer Literatur sind die Zwitterwesen auch der Länge nach geteilt und tragen in ihren Händen Symbole, die die zu vereinenden Gegensätze darstellen. In Caspar Hartungs Büchlein zur Alchemie sind diese Symbole die Primäreigenschaften der Elemente (weibliche Seite: kalt und trocken; männliche Seite: warm und feucht) – so, wie sie auch von Frauenlob beschrieben werden. Wenn sich diese vereinen, werden die charakteristischen Eigenschaften von Mann und Frau ausgebildet (dabei verbinden sich dann die Eigenschaften kalt und feucht zum weiblichen Prinzip, sowie trocken und warm zum männlichen). Auch Aurnhammer schildert den alchemistischen Hermaphroditen auf diese Weise; er weist aber explizit darauf hin, dass die wohl früheste Belegstelle für dieses ikonographische Grundmuster sich in Frauenlobs Minneleich findet (vgl. Aurnhammer: Hermaphrodit, S. 180–181). 610 In der Forschung wird auch auf das mythische, platonische Wesen verwiesen, das beide Geschlechter in sich birgt. 611 Vgl. Dronke: Fabula, S. 83–84.
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zunächst die Elemente, aus denen Himmel und Erde und dann auch die gesamte Welt gemacht werden.612 Das Doppelwesen als schöpferisches Prinzip aufzufassen, erinnert an Frauenlob, dessen Hermaphrodit zwar nicht explizit als gottgleiches Wesen bezeichnet wird, wohl aber derartige Qualitäten besitzt. Um diese auszumachen, muss ein Blick auf die beiden anderen Leichs Heinrichs von Meißen geworfen werden. Dort werden religiöse Motive verhandelt, zugleich operieren sie aber auch mit ähnlichen Bildern wie der Minneleich. Vor allem die Krone der männlichen Seite und der Hinweis auf die Jungfräulichkeit der weiblichen Seite können dabei als Schlüsselverweise dienen. Im Marienleich ist an mehreren Stellen stellvertretend für Gott und die Jungfrau Maria von einem König und seiner Braut die Rede. In Versikel 4 wird in Anlehnung an das Hohelied des Alten Testaments von der Vereinigung der Braut, der ver meit, der Jungfrau, und dem König, der als König Salomon identifiziert wird, in einem Keller berichtet (Vgl. UFL I,4.1–9). Auch die Pforte Ezechiels, die im fünften Versikel erwähnt wird und durch die der König kommen und gehen kann, wie es ihm beliebt, obwohl sie verschlossen ist und verschlossen bleibt, dient als Metapher für die Empfängnis Christi und damit für die Doktrin der immerwährenden Jungfräulichkeit der Gottesmutter Maria. Auch hier wird Maria als meit (UFL I,5.1) angesprochen und explizit mit dem künig (UFL I,5.4) in Verbindung gebracht. Wenn es in den Versikeln 12 und 13 des Minneleichs heißt, dass die Form lautlos wirkt und ohne Saum nur mit dem Widerhaken der Augen die Elemente ineinanderarbeitet, klingt Versikel 14 des Marienleichs an, in dem die Empfängnis und Geburt Christi mit Hilfe einer Schneider- bzw. Gewandmetapher umschrieben wird. Hier erzählt Maria davon, dass ein meisterhafter Schneider (der mit Gott gleichzusetzen ist) aus ihrem Kleid, das jedoch ganz bleibt, neue Gewänder macht, die ihn selbst, der Himmel und Erde in Händen hält, einhüllen (vgl. UFL I,14.1–19). Das saumlose Ineinanderarbeiten der Form erinnert an dieses Kleid – in beiden Fällen wird mit Hilfe dieses Bildes von der Erschaffung neuen Lebens gesprochen. Im Marienleich sind Gott Vater und Maria die beiden Prinzipien, aus denen durch die unbefleckte Empfängnis der Sohn Gottes entstehen kann, im Minneleich vereinigen sich weibliche und männliche Seite in Form ihrer zugehörigen Elementarqualitäten zu etwas Neuem. Überlagert man die Verweise aus Minne- und Marienleich, ist es durchaus plausibel, den männlichen, königlichen Teil des Hermaphroditen als Gott Vater zu identifizieren. Die weibliche Hälfte ist dann als Gottesmutter Maria zu ver612 Vgl. Recognitions of Clement. In: The Ante-Nicene Fathers. Translations of the Writings of the Fathers down to A. D. 325. Hrsg. von Alexander Roberts/James Donaldson. New York 1906, S. 75–211, hier S. 200.
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stehen, die bei Frauenlob die höchste aller Frauen ist und der auch der letzte Versikel des Minneleichs gewidmet wird. In den Leichs Frauenlobs ist aber nicht nur die männliche Seite als gottgleich zu verstehen: Maria wird im Marienleich immer wieder mit göttlichen Attributen versehen. Frauenlob erweitert die göttliche Trinität innerhalb seines Marienpreises fast zu einer Quaternität hin, wenn er Maria im zwölften Versikel ich got (UFL I,12.33613) sagen lässt und sie als Mittlerin zwischen Gott und Menschheit darstellt: zwischen menscheit unde gote/sten ich rechte mitten uf der marke (UFL I,20.11–12). Folgt man dieser Lesart, kann die forme des Minneleichs als reines schöpferisches Potential verstanden werden; sie besitzt durch die Neuordnung der Elementarqualitäten die Macht, etwas Neues zu kreieren. In einem etwas weiter gefassten Kontext lässt sich folgern, dass die schöpferische Kraft selbst göttliches Prinzip ist, das aus einer Verbindung von Weiblichem und Männlichem resultiert und sich auf der profaneren Ebene der geschlechtlichen Vereinigung und in der Zeugung neuen Lebens widerspiegelt. Selvons Vision wird damit zu einer Variante der unbefleckten Empfängnis, die in ihrer Geschlechtlichkeit explizit wird, indem die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau zur Zeugung neuen Lebens mit dem Beginn allen Lebens enggeführt wird. Damit erlangt in Frauenlobs Werk nicht nur der Prozess der Zeugung und des Gebärens einen hohen Stellenwert, sondern auch die vrouwe614 selbst, die verheiratete Frau und Mutter, der eine Vor613 Anm.: Dass sich diese Aussage ausgerechnet im 33. Vers des 12. Versikels findet, ist mit Sicherheit kein Zufall, verweisen doch diese beiden Zahlen in der christlichen Zahlenmystik auf das Göttliche. Die Zwölf birgt als Multiplikation von 3 und 4 sowohl die Zahl der göttlichen Schöpfung und der Trinität als auch die Zahl der irdischen Schöpfung in sich und ist neben der Sieben und der Drei eine der wichtigsten Zahlen in der Bibel; 33 als Zahl des Lebensalters Christi gilt als Zahl der Erlösung (Meyer/Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 625–626 u. Sp. 704–705). Wenn Maria im 33. Vers des 12. Versikels von ihrer Göttlichkeit spricht, schwingen Schöpfung, Heilgeschichte und Erlösung implizit mit. 614 Die Relevanz der vrouwe innerhalb von Frauenlobs Texten und ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären (ein Rückgriff auf das schöpferische Potential der Frau und die Neuordnung der Elemente zur Zeugung neuen Lebens), wird im Minneleich sogar thematisiert. Im 29. Versikel heißt es: III,29.1–4 Ich swere, ob mir die volge enget, luft, viure, centrum noch das vret nicht hoher dinc besliezen Noch edeler vrucht dan vrouwen last. Ich schwöre, selbst, wenn mir niemand beipflichtet, weder Luft, Feuer, Erde noch das Wasser (Meer) verbinden sich zu keiner wichtigeren (ausgezeichneteren) Sache und keiner edleren/wertvolleren Frucht als zur Last der Frauen.
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rangstellung gegenüber dem wîp, der verheirateten Frau, die noch keine Kinder hat, und der meit, der unverheirateten Frau, zukommt. Das göttliche Prinzip in der Gestalt des Frauenlobschen Hermaphroditen besitzt im Minneleich noch eine weitere Eigenschaft, die dessen Göttlichkeit bekräftig und wiederum an den christlichen Schöpfungsmythos geknüpft ist: Im letzten, sehr schwer zu lesenden Vers des elften Versikels heißt es, dass Selvon, der Knecht, durch die oder in den Worte/n der forme in einen Gott verwandelt wird. Die schöpferische Kraft des Wortes ruft das Johannesevangelium und die in der christlichen Tradition verankerte Relevanz der Sprache in Erinnerung, wenn das Wort der Ursprung und Anfang von allem ist. In der Bibel geht das sogar noch einen Schritt weiter, da das Wort und Gott in eins fallen bzw. ein- und dasselbe sind: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. (Joh 1,1–4)615
Da Gott das Wort ist, entsteht alles aus ihm heraus; es ist nicht nur ein Teil des schöpferischen Prozesses, es ist der Schöpfer selbst.616 Doch nicht nur im Johannesevangelium ist das schöpferische Wort von Relevanz. Auch in der christlichen Liturgie, die auf der Bibel als ›Wort Gottes‹ beruht, ist es ein machtvolles Mittel zur Transformation, wenn die Performativität der Sprache dazu benutzt wird, Objekte oder auch Menschen in der Anwendung ritueller Formeln – wie das bei Taufen oder Eheschließungen der Fall ist – in die Nähe Gottes zu rücken. Der Frauenlob weist explizit darauf hin, dass sich die Elemente zu nichts Perfekterem verbinden können, als zu einem neuem Leben, das im Körper der Frau heranwächst. Er macht auch die Männer darauf aufmerksam, dass sie sich freuen sollen, wenn sie das Anschwellen eines Leibes bei der Frau bemerken, mit der sie geschlafen haben – deren minneclicher gast sie waren. Da in Versikel 29 noch einmal davon die Rede ist, dass die vier Elemente Leben formen können, bekräftigt das den schöpferischen Unterton der sexuellen Vereinigung in den Selvon-Versikeln; hier fehlen jedoch die vielschichtigen Anspielung auf andere schöpferische Prozesse. 615 Die hier wiedergegebene Version in den Worten der Einheitsübersetzung lesen sich in der Vulgata wie folgt: in principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbumhoc erat in principio apud Deum omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil quod factum est in ipso vita erat et vita erat lux hominum 616 Vgl. dazu Reuter, Josef: Wort Gottes und Buch der Liturgie. Der Umgang des Menschen mit Wörtern und dem Wort, mit Büchern und dem Buch. In: Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches. Hrsg. von Hanns Peter Neuheuser. St. Ottilien 1995, S. 17–54, vgl. hier v. a. das Kapitel »Gott und das Wort« S. 21–30; vgl. auch: Logos. In: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 6. 1961, Sp. 1119–1128, v. a. S. 1122–1128.
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Priester ist dabei als ›Stellvertreter Gottes‹ die wirkmächtige Instanz; symbolische Handlung und die Sprache sind die Hilfsmittel zur Durchführung des Ritus. Dass etwas oder jemand durch ein Wort zu einem Gott werden kann, mag seltsam wirken, doch neben der Verkündigung von Gottes Wort basiert der zweite zentrale Punkt eines Gottesdienstes auf einer derartigen Transformation. Beim Abendmahl passiert genau das: Ein Priester transformiert durch seine Worte Wein und Brot in das Fleisch und Blut Christi, das dann von der Gemeinde der Gläubigen inkorporiert wird. Dabei wird angenommen, dass Christus, also Gott, in einer seiner trinitarischen Ausprägungen tatsächlich in Form der Hostie anwesend ist.617 Selbst bei Umzügen an hohen Festtagen wird das sichtbar, wenn die Hostie in einer Monstranz herumgetragen wird. Nur der Priester darf sie mit einem Tuch berühren, um den Leib Gottes den Gläubigen zu zeigen.618 Anhand dieses liturgischen Vergleichs lässt sich zeigen, dass die Transformation von etwas Profanem hin zu etwas Göttlichem dem christlichen Glauben nicht fremd ist. Sie muss aber von Gott oder einem geweihten Stellvertreter Gottes ausgehen, um wirksam zu werden. Wenn nun Selvon in Versikel 11 aufgrund der Worte der forme zu einem Gott wird, liegt die Vermutung nahe, dass dieser etwas Göttliches zugrunde liegt. Da es das Wort ist, dem die transformative Kraft zukommt, kann davon ausgegangen werden, dass sich Frauenlob der schöpferischen Kraft des Wortes bewusst war. Sprache kann etwas erzeugen, sie kann verändern und im Falle Selvons sogar jemanden zu einem Gott machen. All das ist aber nichts anderes als die Sprache Frauenlobs, der in seinem schöpferischen Akt – dem Erdichten der Verse – den Worten erst diese Macht verleiht. Das lässt die These zu, dass Frauenlob sich innerhalb des Minneleichs selbst zu einem Gott macht, sich schöpferische Fähigkeiten ›zuschreibt‹ – »[...] denn was ist ein Autor anderes als ein got seiner von ihm aus vorgefundenen Materialien geschaffenen werlt?«619, schreibt Matthias Meyer, wenn er vom Dichten Heinrichs von dem Türlin spricht. Meyer erwähnt den Sentenzenkommentar des Bonaventura, um zu zeigen, dass bereits
617 Vgl. Transubstantiation. In: Lexikon für Theologie und Kirche Bd 10. 1965, Sp. 311–314. 618 Monstranzen sind liturgische Schaugeräte zur Verehrung und Anbetung einer konsekrierten Hostie und seit dem 13. Jahrhundert üblich. Monstranzen dürfen nur von Priestern oder Diakonen und lediglich mit dem Schultertuch berührt werden; gelagert werden sie auf einem Podest, damit sie leichter sichtbar für die Gemeinde der Gläubigen sind. Der eucharistische Segen wird mit Monstranzen erteilt; darüber hinaus stellen sie auch ein Heiligenattribut dar (vgl. dazu im Lexikon für Theologie und Kirche Bd VII, Sonderauflage 2006, Sp. 432–433). 619 Meyer, Matthias: Sô dunke ich mich ein werltgot. Überlegungen zum Verhältnis Autor-Erzähler-Fiktion im späten Artusroman. In: Fiktionalität im Artusroman. Hrsg. von Volker Mertens/ Friedrich Wolfzettel. Max Niemeyer 1993, S. 185–202, hier S. 196.
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in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Ähnlichkeit von dichterischem Schaffen und göttlicher Schöpfung bemerkt und aufgezeichnet wurde.620 Diese Engführung von göttlicher und künstlerischer Schöpfung sehen wir bereits seit der Antike. Platon ist es, der zuerst zwischen Poesie und Wissenschaft unterscheidet und damit die Dichtung eindeutig in den Bereich der göttlichen Inspiration rückt. Die Inspiration wird als göttliche Wahrheit verstanden, als rauschhafte Extase, als ›Eingeistung‹, die durch eine Muse oder einen Gott geschehen muss.621 Das Mittelalter, das in seinen Quellen nicht zwischen Dichtung und Gelehrtenwissen unterscheidet, zieht keine eindeutige Grenze zwischen Poesie und Wissenschaft. Die auctores sind genauso wichtig wie die Schönheit, die durch deren Nachahmung oder durch die Imitation der Natur entsteht. Der Künstler als Schöpfer seines Werks nimmt die freiwerdende Rolle Gottes ein und wird zum alter deus; sein Werk wird zum sympathetischen, inspirierten Kunstwerk, in dem sich – wie auch bei Frauenlob der Fall – alles zusammenfügen sollte: Inhalt, Form, Reim, Zahlenmystik etc.622 Frauenlob fällt eine ähnliche Rolle wie Selvon zu, wenn er beschreibt, was er sieht. Als Künstler, als Schöpfer seiner erdichteten Welt, wird er im Akt der Erschaffung des Gedichts zum Gott desselben. Die Beschreibung von Selvons Vision ist dem dichterischen Prozess sehr ähnlich, weshalb die These aufgestellt werden kann, dass der Dichter selbst durch die Worte der forme zur Gottheit transformiert wird. Frauenlob nimmt sowohl die gottgleiche Position des schaffenden Künstlers als auch jene des Akteurs innerhalb des Gedichtes ein, der einer Wandlung hin zum Göttlichen unterliegt. Damit sind die Verweise auf eine göttliche Instanz auch an den Dichter, den Künstler als Schöpfer gebunden und kulminieren in der Person Frauenlob und im vom gottgleichen Künstler inspirierten Lob der Trinität. Der Versuch, die Selvon-Versikel des Minneleichs sehr wörtlich zu nehmen und mit anderen Texten Frauenlobs zu verschränken, führt zu der Beobachtung, dass das Thema der Schöpfung, der Neu- und Umordnung und des damit in Zusammenhang stehenden göttlichen Primats auf verschiedenen Ebenen verhandelt wird. Der alchemistische Hermaphrodit ist dabei nur eine Ausprägung, eine mögliche Lesart von vielen. Es geht nicht nur um die Vereinigung von Gegensätzen, sondern auch die Neuordnung der Materie im Zuge eines Schöpfungsgestus steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei spielen göttliche und mythische 620 Vgl. ebda., S. 197. 621 Vgl. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. 2005, S. 20–27. 622 Vgl. ebda., S. 117–121.
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Grundstrukturen eine wichtige Rolle, die mit alchemistischen und medizinischhumoralpathologischen Verweisen gespickt sind. Erst durch die Überlagerung vieler Bilder werden diese sinnstiftend. Die tougen buchen aus Versikel 13 müssen daher nicht zwingend auf die alchemistischen Traktate der Zeit verweisen: Nicht nur die Alchemie, sondern auch das Christentum ist lediglich Eingeweihten zugänglich und zirkuliert um ein sehr wichtiges und lebensbestimmendes Buch, das einer genauen Auslegung bedarf – die Bibel. Somit macht die kunstvolle Überlagerung vieler Bildbereiche die Anspielungen an unterschiedliche Wissenstraditionen erst möglich und nimmt Bezug auf Biologie (Medizingeschichte und die Zeugung neuen Lebens), Philosophie (Form und Materie), Alchemie und die Neuordnung der Elemente sowie auf die Theologie und die Allmacht und Allgegenwärtigkeit des Schöpfergottes. Der Kunstkniff dabei, das verbindende Element, das all die auf den ersten Blick losen Bereiche miteinander verwebt, ist das Prinzip der Ordnung, der Neuschöpfung aus dem Chaos – sei es auf der Ebene des Menschen, der Welt, der Elementarordnungen oder der Materie. Sogar die Zeugung und Geburt Christi können auf Basis dieser Bilder verhandelt werden. Dass Frauenlob als geisteskrank bezeichnet wurde, verwundert bei einer genaueren Analyse seiner Texte nicht, sperren sich diese doch zunächst völlig der Annäherung. Erst eine intensivere Auseinandersetzung mit Frauenlobs Werk zeigt, dass die Bildkompositionen nicht dem Zufall überlassen wurden, sondern dass wörtliche und allegorisch-übertragene Bedeutung verbunden sind und die kodierte, dunkle Sprache durchaus dechiffrierbar ist.623 Das gilt sowohl für das naturphilosophische Wissen rund um die Tradition der Genesis-Kommentare, das im Kreuzleich relevant wird, als auch für das Zusammenspiel der unterschiedlichen Wissenstraditionen in den Selvon-Versikeln des Minneleichs. Den Fokus auf die Zusammenschau verschiedener Lesarten zu legen, hilft dabei, vordergründig verstellte Sprachbilder zu entwirren, inhaltliche Zusammenhänge innerhalb der Versikel, aber auch darüber hinaus aufzuzeigen und den Blick auf um 1300 aktuelle theologische und naturphilosophische Fragen freizulegen. Erst so wird eine wirkliche Annäherung an die Texte möglich, die schließlich zu einem tieferen Verständnis der Leichs führt und auch das historische Umfeld ihrer Entstehung berücksichtigt. Naturphilosophische Inhalte sind ein wesentliches 623 Ruth Finckh meint, dass Frauenlobs Sprache »[...] zwar ein gewisses Eingeweihtsein voraussetzt, sich aber nicht in mysteriösen Andeutungen erschöpft, sondern das jeweils Gemeinte innerhalb eines konsequenten Bezugssystems verschlüsselt.« Finckh, Ruth: Minor mundus homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 1999 (Palaestra 306), S. 379.
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Mittel zum Erkenntnisgewinn und helfen dabei, dunkle Stellen für eine moderne Leserschaft in einem historischen Kontext transparenter zu machen. Für die Leichs Frauenlobs lässt sich zusammenfassend eine sehr erstaunliche Bewegung feststellen: Eine Steigerung der interpretatorischen Komplexität, eine Auslegung, die auf immer mehr Ebenen stattfindet, kann eine Vereinfachung verstellter Bilder nach sich ziehen. Das hat eine Lockerung von Frauenlobs hermetischer Sprache zur Folge und kann dabei helfen, so manche schwierige Stelle weiter zu erläutern – auch wenn viele Passagen und Metaphern mit Sicherheit noch länger dunkel und undurchdringlich bleiben werden.
6.3 Schlussfolgerungen Dass Frauenlobs außergewöhnlicher Stil zweifelsohne Verständnisschwierigkeiten herbeiführen kann, lässt sich bereits nach kurzer Beschäftigung mit seinen Texten leicht verifizieren. Seine dichte, metaphernreiche Sprache ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Seine Wortwahl ist kreativ und unterstützt auf einer klanglichen Ebene auch den Inhalt des Gesagten, wobei es oft zu Wortneuschöpfungen kommt, die das Verstehen zusätzlich erschweren und sich mit vielfach auslegbaren grammatischen Strukturen überlagern. Hinzu kommt, dass Frauenlobs Sprache mit einer Anspielungs- und damit Auslegungspluralität arbeitet, die auf unterschiedlichste Themenbereiche zurückgreift: Liturgische Kenntnisse sind für das Verstehen seiner Leichs ebenso notwendig wie ein Studium der Bibel und Wissen zu Kosmologie, Schöpfungsgeschichte, Alchemie oder Geschichte. Sein Stil ist zu einem großen Teil sicherlich ein deutliches, von ihm selbst gesetztes Zeichen für sein dichterisches Können, oft verlangen die von ihm verhandelten Themen aber auch nach einer derartigen Sprache. Von der Größe Gottes zu reden, ihn in seiner Schöpfung zu preisen, ist ein Unterfangen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muss: Etwas so Großes wie die Erschaffung der Welt innerhalb einer dichterischen Arbeit zu behandeln, sich bei der ›Erschaffung‹ eines Textes eines derartigen Themas anzunehmen, kann bereits auf formaler Ebene nur in einer verstellten, anspielungsreichen Sprache enden. Gottes Größe sprachlich zu erfassen wird zu einem Akt der Unmöglichkeit, da Gott nichts gerecht werden kann. Die Überlagerung mythischer, liturgischer, höfischer und naturphilosophischer Inhalte trägt hierzu bei, indem eindeutige Auslegungen erschwert und Metaphern ineinander verschränkt werden, was diese Unbeschreiblichkeit (und damit auch Unlesbarkeit) noch verstärkt. Ebendies führt dazu, dass formalen Aspekten auch inhaltliche Relevanz zukommt: Reimschema, Versanordnungen und sogar Musik werden in den dichterischen Prozess und damit in den vorhandenen Modus der Unverständlichkeit integriert.
Schlussfolgerungen
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Auf diese Art und Weise passiert in den Texten Frauenlobs zweierlei: Erstens ergibt sich eine Poetologie, die stark mit der Verschränkung von Inhalten (einer dieser Inhalte ist die Naturphilosophie) arbeitet und sogar so weit geht, auch Formales inhaltlich relevant zu machen. Damit wird eine Sprache erzeugt, die die Komplexität der behandelten Themen widerspiegelt: Gottes Schöpfung, eine gottgleiche Maria oder Geschlechtsverkehr (der auch im Kontext der Empfängnis Jesu relevant wird) sind alles Themen, die sprachlich nicht erfasst werden können oder – um den Gedanken weiterzuspinnen – auch gar nicht erfasst werden dürfen. Das führt dazu, dass es zweitens genau diese Sprache ist, die aufgrund ihrer Unverständlichkeit Tabuisiertes thematisieren kann. Dadurch, dass eine Auslegungspluralität besteht, ist es möglich, innerhalb einer dieser Lesarten Aussagen zu treffen, die einer eineindeutigen Sprache untersagt sind: Zum Beispiel kann die Relevanz der sinnlich konnotierten Geschlechtlichkeit – vor allem auch hinsichtlich einer weiblichen Sexualität, die mit Maria verschränkt wird – im Minneleich nur deshalb beschrieben werden, da Selvons Vision zeitgleich alchemistisches Denken, die unbefleckte Empfängnis, liturgische Sprache, medizinische Diskurse und Anspielungen auf die Schöpfung Gottes zugrunde liegen. So wird eine unerhörte Aussage gesellschaftskonform, da sie von einem breiten Publikum nicht ohne Weiteres gelesen und verstanden werden kann. An dieser Stelle möchte ich meine oben formulierte These bezüglich der Modernität der Sprache Frauenlobs nochmals aufgreifen: Petra Gehring weist darauf hin, dass das Funktionieren von Metaphern auf einem Kontextbruch beruht bzw. die Metapher dieser Bruch ist, der die Übertragung von Bedeutung zulässt624. Dieser Bruch kann so groß werden, dass bestimmte Bildbereiche nicht mehr miteinander verknüpft werden können. Das passiert, wenn eigentliche und übertragene Bedeutung nicht mehr zueinander in Beziehung gesetzt werden können – sei es aufgrund eines fehlenden Verstehenshintergrundes, aufgrund fehlenden (naturphilosophischen) Wissens oder einfach nur aufgrund der Tatsache, dass (wie Hübner625 bemerkt) der entsprechende Code, der der Lesbarkeit einer Metapher zugrunde liegt, zu weit entfernt ist. Wenn das passiert, wird ein Text verstellt, da ein eindeutiger Sinn nicht mehr herstellbar ist; es entwickelt sich eine Art der ›Störung‹, die Michel Serres in seiner entsprechenden Monographie als »Parasit« bezeichnet. Jede Kommunikation, jeder sprachliche Prozess ist seiner Ansicht nach von Störungen durchsetzt, von einem Rauschen, das Verzerrungen und Verzögerungen nach sich zieht. Dieses Rauschen kann so groß werden, dass es ein Kommunikationssystem zerstört; zeitgleich kann aber aus
624 Vgl. Gehring: Erkenntnis durch Metaphern?, S. 204 u. 214. 625 Vgl. Hübner: Historizität von Metapherntheorien, S. 131.
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der Uneindeutigkeit des Rauschens heraus ein neues, komplexes System erschaffen werden.626 Frauenlobs Texte sind durch eine Vielzahl solcher Störmomente und Brüche gekennzeichnet, die so tief gehen können, dass die Verknüpfung mancher Bildbereiche nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar ist. Erst dann aber kann ganz im Sinne Serres eine Bruchstelle kreativ werden und neue Verbindungen zulassen, die letztlich die Aussagekraft eines Textes um eine Dimension erweitern. Ein derartiger Text kann sich einerseits aufgrund historisch gewachsener Verständnisschwierigkeiten ergeben oder – und diese These halte ich in Bezug auf Frauenlob auch aufgrund seiner Themen für wahrscheinlicher – schlichtweg gewollt sein. Die Erzeugung einer semantischen Pluralität auf Basis kontextueller Brüche erscheint innerhalb seiner Texte so konsequent, dass sie durchaus als Stilmittel verstanden werden kann. Das ist deshalb so bemerkenswert, da Frauenlob in einer Zeit dichtet, in der eindeutige Verweise der Normalität entsprechen. Uneindeutigkeit wird nicht nur in der Bibel mit Hilfe des vierfachen Schriftsinns vorgebeugt: Auch Lehrdichtung, Enzyklopädien oder Schultexte zeichnen sich durch explizite Auslegungen aus.627 Frauenlobs Leichs können nicht einfach verstanden werden; ich möchte sogar behaupten, dass sie das auch gar nicht wollen – zumindest nicht bei allen RezipientInnen. Was sie aber mit Sicherheit zum Ziel haben: zu beeindrucken bzw. mit ihrer Sprachfülle, Bilddichte und in ihrer Klanglichkeit zu überwältigen. Erst in einem zweiten Schritt, der dem Hören der Leichs folgt und eine direkte Auseinandersetzung mit den Handschriften voraussetzt, kommen die Themen der Texte zum Vorschein. Deren Verstehen ist letztlich aber grundlegend mit einer über das populäre Wissen hinausgehenden Bildung verschränkt und operiert auf einem Verstehenshintergrund, der lediglich auf einen kleinen Kreis gelehrter LeserInnen zugeschnitten ist.
626 Vgl. Serres, Michel: Der Parasit. Üs. von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1987 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 677), siehe v. a. die Kapitel »Rattenmahlzeit«, S. 11–30, und »Abnehmende Erträge«, S. 34–40. 627 Diese Eindeutigkeit der Auslegung konnte schon im Kapitel zur didaktischen Literatur am Beispiel des Welschen Gastes und v. a. im Renner beobachtet werden. Hugo von Trimberg beugt Missverständnissen akribisch vor, indem er alle Sprachbilder, die er verwendet, minutiös ausführt und erläutert. Kein Detail steht ohne Erklärung für sich, sondern wird auf das übergeordnete didaktische Ziel hinaus ausgelegt.
7 Schlussbetrachtungen Am Beispiel der in dieser Arbeit analysierten Texte lassen sich ganz konkrete Funktionen naturphilosophischen Wissens innerhalb deutschsprachiger literarischer Texte des 13. Jahrhunderts ausmachen. Auf deren Relevanz für die entsprechenden Gattungen bzw. ob sich eine zeitliche Entwicklung der Einarbeitung der Elementenlehre beobachten lässt (und wenn ja, wie diese vonstattengeht), wird am Ende dieses Kapitels eingegangen.
7.1 Funktionen naturphilosophischen Wissens in der deutsch sprachigen Literatur des 13. Jahrhunderts 7.1.1 Wissen als Vermittlungsgegenstand Die didaktische Literatur des 13. Jahrhunderts hat sich die Belehrung ihrer RezipientInnen zum Ziel gesetzt. Diese Belehrung muss sich aber nicht nur auf den Bereich des Moralisch-Sittlichen beziehen, sondern kann auf das gesamte Umfeld des Menschen Einfluss nehmen. Sowohl im Welschen Gast Thomasins von Zerclaere als auch im Renner Hugos von Trimberg ist naturphilosophisches Wissen nicht nur als Verweismittel auf die Größe Gottes zu verstehen, sondern selbst ein Gegenstand der Vermittlung. Beide Dichter führen die vier Elemente als Grundbausteine des Lebens in ihre Texte ein (vgl. Welscher Gast ab v. 2277; Renner ab v. 6053). Thomasin erläutert u. a. anhand der beigefügten Illustrationen die septem artes liberales, den Aufbau des Kosmos sowie die Verknüpfung der Elementareigenschaften. Hugo widmet sich in einem eigenen Exkurs (vgl. Renner ab v. 1800) den natürlichen Dingen und kommt nicht nur auf die Tiere der Erde und die Brunnen der Welt zu sprechen, sondern im Zuge des Welt-Ei-Vergleichs (vgl. Renner ab v. 19808) auch auf die Elemente und deren Bewohner. Auch wenn in beiden Texten grundsätzlich Gott im Zentrum der Vermittlung steht, kann bei den eben genannten Passagen beispielhaft beobachtet werden, dass das naturphilosophische Wissen und die Weitergabe desselben ein wichtiger Bestandteil der didaktischen Literatur sind. Belehrung findet auf vielen Ebenen statt. Eine davon ist die Erkenntnis Gottes über dessen Schöpfung, deren Vorbildcharakter aber erst über Bildung ersichtlich wird: Dafür muss die Natur ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Dass auch Zweifel an den gelehrten Erkenntnissen aufkommen, lässt sich vor allem bei Thomasin beobachten, der immer wieder eigene Thesen aufstellt und Fragen formuliert, die einen kritischen Umgang mit dem Wissen der Zeit bezeugen. DOI 10.1515/9783110486605-007
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Schlussbetrachtungen
Obwohl auch in den erzählenden Texten des 13. Jahrhunderts kurze Passagen zu finden sind, die Wissen vermitteln sollen (z. B. Fontanagris Exkurs zur Schöpfung (vgl. Reinfried ab v. 10589), die Schilderung des Goldes am Kaukasus (vgl. Reinfried ab v. 18225), die Beschreibung der Wundervölker (vgl. Reinfried ab v. 19285), die Aufzählung der Planeten auf Arabisch (vgl. Parzival 15. Buch, Dreißiger 782) oder die medizinisch-naturphilosophischen Beweggründe für die Heilversuche an Anfortas (vgl. Parzival 9. Buch, Dreißiger 479–493)), sind diese dort von anderer Qualität. Der Fokus liegt sowohl im Reinfried als auch im Parzival auf der Beschreibung des Wunderbaren und geht in den meisten Fällen mit der Beschreibung des Orients und dessen Besonderheiten einher. Passagen der Wissensvermittlung dienen natürlich auch dazu, dass sich der Autor in einem guten Licht präsentieren kann: Sowohl Thomasin als auch Wolfram weisen sich auf diese Weise als Gelehrte aus, die über Medizin und Heilkunde, Edelsteine, Kosmologie und arabische Naturphilosophie Bescheid wissen.
7.1.2 Wissen als Gottesbeweis Die zweite Funktion des naturphilosophischen Wissens in literarischen Texten ist ebenso wichtig wie offensichtlich: Die Natur und die aus ihr gewonnene Erkenntnis können aussagekräftige Indizien für die Größe Gottes sein. Über die Natur und deren Beschaffenheit ist eine Annäherung an Gott und seine Wunder(-Tätigkeit) möglich, die allen Gläubigen – nicht nur den Gelehrten – offensteht. Der Topos des Buches der Natur, in dem jeder Mann und jede Frau unabhängig von der jeweiligen Bildung ›lesen‹ kann, wird hier relevant. Sowohl bei Thomasin von Zerclaere als auch bei Hugo von Trimberg zieht sich diese Verbindung von naturphilosophischer und Gottes-Erkenntnis durch den gesamten Text: Sittliche Belehrung findet nur über den Weg zu Gott statt und dieser beginnt bereits hier auf Erden und damit inmitten der von ihm geschaffenen Natur. Am Beispiel irdischer Wunder verweist Hugo oft explizit auf Gottes Größe, die damit auf der Erde sichtbar wird. Unerklärbare Naturphänomene oder die Art und Weise, wie der Kosmos angeordnet ist, sind derart unbegreiflich, dass lediglich ein Schöpfergott, dessen Macht den Menschen vielfach überlegen ist, als Erklärung für das Zustandekommen dieser Phänomene dienen kann (vgl. die Episode mit den oberen Wassern (Renner, ab v. 11025) oder das Welt-Ei (Renner, ab v. 19808)). Auch in den erzählenden Texten und der Spruchdichtung findet sich diese Art der Verwendung von naturphilosophischem Wissen. Wenn Fontanagris Gottes Allmacht lobt und dabei auf die Schöpfung und den Aufbau der Welt aus
Funktionen naturphilosophischen Wissens
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den vier Elementen verweist (vgl. Reinfried ab v. 10589), bedient sich der Erzähler des Reinfried desselben Motivs wie die Dichter der didaktischen Texte: Die Größe Gottes wird anhand seiner Schöpfung festgemacht, die Naturphänomene sollen der Beweis für die Existenz und das Wirken Gottes auf Erden sein. Auch Frauenlob verfährt in seinem Kreuzleich auf diese Weise. Dort wird in vielfach miteinander verschränkten Sprachbildern, die von der Schöpfung und den daraus hervorgehenden Elementenverbindungen berichten, die Allgegenwärtigkeit Gottes verhandelt, die nicht nur mit den naturphilosophischen Inhalten verbunden ist, sondern vers- und versikelumspannend als Angelpunkt für das Verstehen der Dichtung anzusehen ist.
7.1.3 Wissen als handlungs- bzw. szenensteuerndes Instrument Auf einer textorganisierenden Ebene kann naturphilosophisches Wissen in erzählender Literatur auch die Abfolge einzelner Szenen oder ganze Handlungssequenzen beeinflussen und erklärbar machen. Wie anhand von Wolframs von Eschenbach Parzival und Willehalm gezeigt werden konnte, dienen die Eigenschaften der Elemente dort nicht nur zur Charakterisierung der (in meinen Beispielen v. a. weiblichen) Figuren, sondern lassen sich auch in das Handlungsgefüge einbetten und haben dort auf einer strukturellen Ebene sowohl eine vorausdeutende als auch eine ordnende Funktion. Bei Wolfram geschieht das vor allem durch die Überblendung der Elementareigenschaften mit jenen der Humoralpathologie und führt zu einer eigenen Textdynamik. Es lässt sich zeigen, dass im Parzival die Wege der Helden zu ihren jeweiligen Minnedamen an Wassern entlanggehen; im Willehalm stirbt Vivianz erst, nachdem er das Wasser des Larkant durchschritten hat. Der Ablauf dieser Beispielszenen folgt den Gesetzen der Humoralpathologie, die teils direkt, teils über Verweise in die Handlung eingeflochten wird und sie damit mitstrukturiert. Im Parzival findet sich diese Überlagerung von Bildbereichen auch in der Szene mit der Gefährlichen Furt, wenn nicht nur Wasser und Weiblichkeit, sondern auch Höfisches und Anderweltiges überlagert werden und damit erst den Ablauf der Geschehnisse nachvollziehbar machen.
7.1.4 Wissen im Dienste der Textpoetologie Dass nicht erst seit der industriellen Revolution Wissen und Literatur in fruchtbarer Verschränkung miteinander gelesen werden können und naturphilosophische Erkenntnisse auch auf einer poetologischen Ebene einen Text bereichern,
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Schlussbetrachtungen
wird schon mit Frauenlob mehr als offensichtlich. Die in dieser Arbeit behandelten Versikel aus dem Kreuz- und dem Minneleich sind nur kurze Ausschnitte seines umfassenden literarischen Schaffens, das mit der Vernetzung verschiedenartiger Bildbereiche spielt. Der sich daraus ergebende Schreibstil wurde nicht zu Unrecht als ›dunkel‹ und ›unverständlich‹ bezeichnet, verlangen Frauenlobs Texte doch nach intensiver Auseinandersetzung mit den einzelnen Passagen. Die vordergründige Verstelltheit der Sprache, die erst nach und nach beseitigt werden kann und dabei immer mehr Lesarten aufzeigt, ist aber nicht nur dazu da, entschlüsselt zu werden: Frauenlob setzt die Unverständlichkeit auch um ihrer selbst willen als Stilmittel innerhalb brisanter Abschnitte und als Zeichen seines dichterischen Könnens ein. Die Aneinanderreihung von für das Mittelalter als relativ deutungsoffen zu verstehenden Metaphern, die Frauenlob in seinen Leichs verwendet, führt zu einem Variantenreichtum in der Lesbarkeit einzelner Versikel. Deutlich wird das z. B. anhand des Kreuzleichs, wenn im ersten Versikel Gott in seiner Allmacht gepriesen und auf die Schöpfung und die Präexistenz der Trinität verwiesen wird. Die damit einhergehende Ordnung des Chaos, die Entstehung der Elemente und deren Zugehörigkeit zu einzelnen Teilbereichen der Welt werden nicht explizit angeführt, klingen aber aufgrund teilweise recht verspielter Wortverwendung und Syntax sowie über die Anordnung von Reimschema und Versaufbau auch auf einer semantischen Ebene mit. Diese Art des poetischen Sprechens führt dazu, dass auch ›Unerhörtes‹ verhandelt werden kann: Maria als Mutter Gottes in die Nähe der Trinität zu rücken und fast eine Quaternität aus dieser zu machen (vgl. UFL I,12.33), ist ebenso Stoff der Frauenlobschen Leichs wie die sehr direkte Schilderung von Geschlechtsverkehr im Minneleich (vgl. ML III,12 u. ML III,13).
7.1.5 Wissen als ›Hintergrundphänomen‹? Die eben umrissenen Funktionen von naturphilosophischem Wissen finden sich in allen in dieser Arbeit analysierten deutschsprachigen Texten des 13. Jahrhunderts. Weitere Funktionen werden sicherlich bei einer eingehenderen Beschäftigung mit derartigen Fragestellungen zum Vorschein kommen. An dieser Stelle kann bereits festgehalten werden, dass ein Fokus auf gelehrte Inhalte bekannte literarische Texte um eine weitere Facette bereichert und manchmal sogar völlig neue Lesarten zulässt. Die Einzelanalysen können zeigen, dass sich die Texte einer Sprache bedienen, die an vielen Stellen ungewöhnliche Bilder benützt. Hier stützen sich die Autoren auf populäres Wissen, das in dieser Form für moderne RezipientInnen manchmal nicht ohne Schwierigkeiten abrufbar ist. Viele Redewendungen und
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Metaphern finden aber auch indirekt Eingang in die Texte; sie sind über den Verstehenshintergrund, den kulturellen Code der Zeit, entschlüssel- und damit lesbar. Das erschwert nicht nur das Verständnis einzelner Textpassagen, sondern hat auch zur Folge, dass die Texte einen eigentümlichen Charakter der Fremdheit gewinnen, der in erster Linie auf diesem heute schwer fassbaren Verständnishintergrund fußt. Konkret wird das über unklar bleibende Metaphern, eigentümliche Textabläufe und unverständlich wirkende wörtliche Textbedeutungen evident. Wenn im Welschen Gast von der Kälte des Geizes die Rede ist (vgl. Welscher Gast ab v. 13789) und Thomasin von der unweigerlichen Verschlimmerung dieser Untugend im Alter spricht, spielt er auf damals gängiges humoralpathologisches Wissen an, das heute nur mehr rudimentär vorhanden ist. Auch Hugo verweist in seinem Renner auf diese Verbindung von Geiz und Kälte (vgl. Renner ab v. 7811); auf eine ähnliche Verrätselung der Sprache stoßen wir, wenn die ›oberen Wasser‹ zum Gegenstand der Verhandlung werden (vgl. Renner ab v. 11025). Auch in der erzählenden Literatur lassen sich derartige Beispiele finden: Wenn Reinfried im gleichnamigen Text, nachdem er von der Geburt seines Sohnes erfährt, fast an einem Blutsturz stirbt (vgl. Reinfried ab v. 24440), mutet das zunächst seltsam an, ergibt aber in der Tradition der Humoralpathologie und der darin verwurzelten Zügelung der Leidenschaften zum Zweck der guten Lebensführung sehr wohl Sinn. Im Parzival lassen sich u. a. die Verletzung des Anfortas, die damit in Zusammenhang stehende Kopplung von Liebe und Feuer sowie die zugehörigen Heilversuche als Beispiele nennen (vgl. Parzival ab v. 478,30). In Frauenlobs Leichs ist dessen bildhafte Sprache nicht nur auf einer poetologischen Ebene von Bedeutung. Auch das Verstehen einzelner Metaphern und ganzer Metaphernketten wird nur unter der Annahme eines historisch bedingten kulturellen Codes möglich. Die Verweise auf die vier Elemente in der Schöpfungsepisode des Kreuzleichs (vgl. KL II,3) oder die Anspielungen auf deren (Ver-) Mischung in der Vision Selvons im Minneleich (vgl. ML III,9) können nur dann verstanden werden, wenn die den Sprachbildern zugrunde liegenden Anspielungen, die auf dem Gelehrtenwissen der Zeit fußen, klar sind. Nach der intensiven Beschäftigung mit den ausgewählten Primärtexten wird deutlich, dass naturphilosophisches Wissen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht nur im ›Hintergrund‹ vorhanden ist. Ein Rückgriff auf diese Inhalte bei der Lektüre eröffnet neue Lesarten, die aufgrund der Einbettung gelehrter Diskurse einen umfassenderen Blick auf die Literatur der Zeit erlauben. Natürlich muss beachtet werden, dass unterschiedliche soziale Verhältnisse oder unterschiedliche Denkkollektive auch das prägen, was als vorintentionaler Hintergrund verstanden wird. Dennoch konstituiert es als – vielleicht nicht universell, aber durchaus großflächig – abrufbares populäres Wissen (hier greift eventuell der Terminus der ›Social Energy‹ besser) das Verständnis der Texte.
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Schlussbetrachtungen
7.2 Zu den Gattungen Innerhalb der einzelnen Gattungen können Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede bei der Einbettung naturphilosophischen Wissens in den Text beobachtet werden, die zum Teil als charakteristisch anzusehen sind: Während die Einflechtung von Wissen zur Sichtbarmachung von Gottes Allmacht in allen Texten deutlich erkennbar ist, sind bereits aufgrund der Text sorte szenenorganisierende Verweise auf die Elementenlehre in gelehrter Lyrik und didaktischer Literatur nur sehr beschränkt möglich. Vorausdeutungen oder Zusammenhänge innerhalb einzelner Passagen über Anspielungen auf die Elementenlehre herbeizuführen, funktioniert lediglich im Rahmen eines erzählenden Textes, der sich anhand einer kohärenten Abfolge von Geschehnissen konstituiert. Dasselbe gilt auch für die poetische Nutzung der naturphilosophischen Inhalte: Frauenlob, der sich dieses Stilmittels in allen seinen Leichs bedient, stellt für die in dieser Arbeit behandelten Texte eine Ausnahme dar. Die Einbettung komplexer Metaphernketten, innerhalb derer dem Klang des Gesagten gegenüber dem Inhalt (gerade im Rahmen einer Erstrezeption) Vorrang gegeben wird, funktioniert ausschließlich in der Lyrik. Kein didaktisches Werk, dessen Ziel die Vermittlung von Inhalten sein muss, oder auch die erzählende Literatur, die über viele Verse hinweg eine kohärente Geschichte aufbauen möchte, kann sich einer derartigen Verwendung naturphilosophischer Inhalte verschreiben, ohne den eigentlichen Zweck der Abfassung ad absurdum zu führen628. Die schlichte Darlegung des Wissens zu den Elementen, die Belehrung des Publikums (auch innerhalb kurzer Anekdoten, wie das beim Renner der Fall ist) ist in der Lehrdichtung am häufigsten anzutreffen, da hier neben der sittlichen Erziehung der RezipientInnen auch deren Bildung relevant ist. Diese Häufungen einzelner Funktionen von naturphilosophischem Wissen innerhalb bestimmter Gattungen lassen sich in allen in dieser Arbeit behandelten Texten feststellen. Der Reinfried von Braunschweig hat als sehr später Text, der auch in seiner Machart bereits vom ›klassischen‹, hochhöfischen Roman zu unterscheiden ist, eine Sonderstellung inne. Neben der strukturierenden Verwendung von naturphilosophischen Verweisen wird die Lehre von den vier Elementen auch innerhalb enzyklopädisch aufgebauter Textteile (vgl. u. a. Reinfried ab v. 10589 (Fontanagris lobt Gott), ab v. 20725 (der Magnetstein wird in den Text 628 Dennoch muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass der Reinfried von Braunschweig sehr wohl in einigen Passagen, jedoch nicht textübergreifend, hier eine Ausnahme darstellt. Dass das der Imitation unterschiedlicher Gattungsstile geschuldet ist, wurde bereits oben bei der Analyse des Textes evident.
Zur zeitlichen Entwicklung
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eingeführt), ab v. 26240 (über Elefanten) oder auch ab v. 26462 (über den Salamander)) oder im Zuge eines emphatischen Frauenpreises (vgl. Reinfried ab v. 10912) relevant, das aufgrund der poetischen Sprache an die Lyrik Frauenlobs erinnert. Ob der Reinfried-Dichter hier mit unterschiedlichen Sprachstilen spielt oder ob ein gattungsspezifisches Sprechen um 1300 der Norm entspricht und daher je nach Sprechsituation auch der Sprechstil durch den Dichter angepasst wird, lässt sich anhand des in dieser Arbeit behandelten Textkorpus nicht hinreichend belegen. Auch um eine eindeutige Charakteristik innerhalb einzelner Gattungen festmachen zu können, müssten in einem nächsten Schritt weitere Texte untersucht werden.
7.3 Zur zeitlichen Entwicklung Das 13. Jahrhundert ist aus wissenschaftshistorischer Perspektive eine Zeit der großen Veränderungen. Aristoteles wird immer wichtiger, Universitäten etablieren sich und auch die Produktion gelehrter Schriften steigt an. Diese Entwicklungen beeinflussen auch das populäre Wissen der Zeit. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts ist der lateinische Aristoteles in Europa noch wenig verbreitet; die Lehren Platons, die mit dem Timaios in der Schule von Chartres große Wichtigkeit erlangen, haben Vorrang und beeinflussen auch das Denken der Zeit. Vor allem bei Thomasins Welschem Gast ist der platonische Einfluss unübersehbar. Seine Anordnung der Elementareigenschaften im Rahmen der Illustration zur Syzygie entspricht dem platonischen Aufbau der Welt und beruht auf dessen harmonischen und geometrischen Grundlagen. Auch bei Wolfram ist ein großes Interesse an der Natur zu beobachten: Er weiß über Edelsteine, Pflanzen, Planeten und Heilkunde Bescheid und hat sich sogar mit den Lehren des Orients auseinandergesetzt. Seine Verweise sind zu einem großen Teil schlüssig nachvollziehbar und wurden von der Forschung bereits eingehend behandelt. Das dezidierte Interesse an der Natur und an ihren Erscheinungen kann als Phänomen der Zeit verstanden werden. Schon während des 12. Jahrhunderts ist ein Wandel in der Naturwahrnehmung hin zum universitär geprägten, gelehrten Denken auszumachen, der Dichter wie Thomasin oder Wolfram mit Sicherheit nicht unbeeindruckt lässt. Naturphilosophisches Wissen wird zu etwas Besonderem und damit zu einer Möglichkeit, die eigene Belesenheit unter Beweis zu stellen.
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Schlussbetrachtungen
Natürlich ist auch um 1300 gelehrtes Wissen noch immer ein Ausweis für Belesenheit und Gelehrsamkeit, wie an den Texten Frauenlobs zu erkennen ist. Diesen in seiner Sonderstellung als außergewöhnlichen Lyriker kurz außer Acht lassend, ist der Umgang mit Wissen über die Natur bereits einem Wandel unterlegen. Wissen ist leichter verfügbar, ist in einer umfassenderen Fülle zugänglich; darüber hinaus gelangt mit den Lehren des Aristoteles auch eine neue Denkweise in den Westen Europas, die weit über das gelehrte Umfeld hinaus prägend ist. Das lässt sich an Texten wie dem Reinfried von Braunschweig gut zeigen: Die Anspielungen auf gelehrtes Wissen sind zahlreich und lassen sich in den meisten Fällen schwer einordnen. Wissen ist dort viel mehr als ein Ausweis von Belesenheit und ein Gegenstand der Vermittlung – es ist ein allgegenwärtiger, zur Normalität gewordener Teil des Alltags und verliert damit auch etwas von seiner Besonderheit. Deutlich wird das daran, dass die Wiedergabe des gelehrten Wissens weniger behutsam und genau vonstattengeht, sondern zu einem fixen Bestandteil der Sprache und des Erzählens wird: Auf der Medizin aufbauende Lebensregeln prägen das Sprechen über den Menschen und seinen Körper, die sinnliche Welt wird viel selbstverständlicher als noch vor 100 Jahren als Produkt der vier Elemente verstanden, die selbst wiederum als Summe ihrer Teile für die Welt als Ganzes stehen. Das Sprechen über die Natur fußt auf vielen unterschiedlichen Quellen – Enzyklopädien, Genesiskommentaren, astronomischem Wissen u. Ä. – die sich überlagern, ergänzen und manchmal auch widersprechen; auch Hugos Renner ist dafür ein gutes Beispiel. Geht man einen Schritt weiter, lassen sich sprachliche Muster erkennen, die in manchen Fällen schon fast als Topoi verstanden werden müssen. Es kann auch passieren, dass sich im Fall übertragener Wortbedeutung Bildspender und -empfänger langsam voneinander lösen und die Anknüpfung an die Elementenlehre nicht mehr erkennbar ist. Einige Beispiele sollen dieses ›Topisch-Werden‹ kurz illustrieren: –– Wenn von der Gesamtheit der sublunaren Welt die Rede ist, dann wird diese oft über die Tiere, die den einzelnen Elementarsphären zugeordnet werden, oder über deren Bewegungen umschrieben. Alles, was kriecht, fliegt, schwimmt oder geht, meint daher nicht nur die Lebewesen selbst, sondern auch die Bereiche, in denen sie durch ihre Bewegungsart verortet sind – und damit die gesamte Welt. –– Dass die Geschichten von Melusinen, Feenwesen und Nixen und deren gefährlicher Charakter ursprünglich auf der Humoralpathologie und der Verbindung der Frau mit dem Element Wasser beruhen, ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Dabei dienen das Wasser und dessen Eigenschaften als Charakterisierungsmerkmale für die jeweiligen Frauenfiguren. Deren oft ambivalente Schilderung lässt sich über das Viererschema und die zugehö-
Zur zeitlichen Entwicklung
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rigen Merkmale erklären (z. B. Planeten – der wandelbare Mond, der dem Wasser ähnlich ist, Körpersäfte – das Phlegma regelt auch die Emotion der Melancholie). –– Die Regulierung der Leidenschaften gilt im Rahmen der Diätetik bereits seit der Antike als wichtiges Lebensziel, ist es doch der ausgewogene Säftehaushalt, der einen Menschen gesund und munter hält. Deshalb werden übermäßige Freude, Treue, Eifersucht etc. immer wieder mit körperlichen Schäden in Verbindung gebracht. Der Aufruf zur Mäßigung und Regulierung der Emotionen ist die logische Folge dieser Lehren. –– Als letzten Punkt möchte ich die topische Anordnung von Wissen anführen, wenn z. B. beim Renner das Welt-Ei und dessen Eigenschaften in Zusammenhang mit den Elementen nach einem bestimmten Erzählmuster abgehandelt werden, das sich auch bei späteren Texten (z. B. Konrads von Megenberg Buch der Natur) etabliert. Inwieweit sich diese Tendenzen zum motivischen Gebrauch der Lehre von den vier Elementen, der sich um 1300 bereits erahnen lässt, in den kommenden Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten verstärken, bleibt noch zu untersuchen. Dass sich der topische Gebrauch der Elementenlehre sogar zur entleerten Floskel weiterentwickelt, kann bereits durch das von Ulrich Füetrer Ende des 15. Jahrhunderts verfasste Buch der Abenteuer gezeigt werden. Die Anrufungen Gottes, durch dessen Gnade das Buch erst geschrieben werden kann, verlaufen immer nach dem gleichen Schema: Gott (oder auch die Trinität) wird in seiner Allmacht gepriesen und dieser Lobpreis wird durch Verweise auf die Planeten, den Himmel und die vier Elemente verstärkt.629 Erst dann wird weitererzählt. Hier hat die Erwähnung der Elemente keine Funktion mehr – sie ist lediglich ein schmücken629 Vgl dazu: Füetrer, Ulrich: Das Buch der Abenteuer. Zwei Teile. Nach der Handschrift A (Cgm. 1 der Bayerischen Staatsbibliothek) in Zusammenarbeit mit Bernd Bastert hrsg. von Heinz Thoelen. Göppingen 1997 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 638). Beispiele für die oben zitierte Verwendung der Lehre von den vier Elementen sind u. a. der Beginn des Abschnitts Von den Templeysen: Alpha et O, du rainer, / Emanuel genennt, / du dreyer und doch ainer: / der himel höch und alle element, / planeten siben an der hymel strassen / dy lauffen hin ir richte, / alls sy dein göttlich chraft hat angelassen! / An angenng und an ende / hastu in deinem zesen / beschlossen in deiner hende / hymel, erd, unnd waz drinn hat sein wesen / in erd, in wag, in luft und fewres hytze, / was schwimbt, lauft, chreucht und schwebet (Teil 1, S. 9). Auch die ersten Verse des Teils Von Parzival und Gaban lesen sich ähnlich: O súesser gott gedreyet, / geist, vater unnd auch chind, / mein tummer syn, der schreyet / an dein genad, seint dir gehorsam sind / planeten, steren, lufft, wag, fewr und erde; (Teil 1, S. 293). Als letztes Beispiel möchte ich auch den Beginn der Erzählung Von Melerans zitieren: Got ewig in deinem zesen, / orthaber aller ding, / dy haben geschepff und wesen, / der aller bistu urhap und urspring, / dy sein in lufft, wag, fewer und in therre: / sinnlichait und nature / naigen deinr macht, du súesser got unnd herre! (Teil 2, S. 168).
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Schlussbetrachtungen
der Zusatz zur Größe Gottes, der dadurch aber auch nicht weiter charakterisiert wird. Die Lehre von den vier Elementen verkommt so zur Phrase.
7.4 Schlussbemerkung Für die mittelalterliche Literatur im Allgemeinen kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Lehre von den vier Elementen und damit das gelehrte Wissen über die Natur einen stärkeren Einfluss auf literarische Texte hat, als zunächst gedacht. Auch wenn Wissensvermittlung nicht im Vordergrund steht und sich auch der Autor nicht als Gelehrter in Szene setzt, findet die Naturphilosophie – sei es über populärwissenschaftliche Verweise oder gängige Metaphern, die sich dieses Bildbereiches bedienen – Eingang in die volkssprachlichen Texte. Da die Elemente im 12. und 13. Jahrhundert durch die vielseitige Einsetzbarkeit des Viererschemas fast alle Lebensbereiche durchdringen, ist das rückblickend nicht weiter verwunderlich. Dennoch ist es von einem modernen Standpunkt aus schwer, derart durchlässige, nicht von Disziplinen und Fachrichtungen geprägte Wissens- und Denkstrukturen wie die des Hochmittelalters zufriedenstellend nachzuvollziehen und mit einer entsprechenden Offenheit auf die Texte dieser Zeit zuzugehen. Dass mythisches und wissenschaftliches Denken zeitgleich existieren und ihre Berechtigung finden, damit auch die gelehrte Kultur der Zeit prägen und sich gegenseitig beeinflussen und erweitern, ist bemerkenswert und resultiert in teilweise höchst komplexen und anspielungsreichen Texten, deren Quellen und Grundlagen noch lange nicht zufriedenstellend erklärt sind. Eine genauere Untersuchung der Vernetzung von Naturphilosophie und Literatur auch über das 13. Jahrhundert hinaus wäre daher wünschenswert, um die Dynamiken der gegenseitigen Beeinflussung der lateinischen und volkssprachlichen Denkkulturen ausmachen und verstehen lernen zu können – nicht zuletzt auch deshalb, da die Lehre von den vier Elemente noch bis ins 18. Jahrhundert ganz wesentlich für die Entwicklung der Naturwissenschaften ist. Für die Lektüre und Analyse mittelhochdeutscher literarischer Texte bedeutet dies, dass es sehr wohl lohnenswert ist, die zugegebenermaßen oft komplexen naturphilosophischen Gegebenheiten im Blick zu behalten, da sich auch für weitgehend erforschte Texte noch immer neue und erhellende Lesarten ergeben können.
8 Bibliographie Wichtige Abkürzungen PL – Patrologia Latina ZfdA – Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur PBB – Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur ZfdPh – Zeitschrift für deutsche Philologie MLN – Modern Language Notes DVJS – Deutsche Vierteljahresschrift LexMA – Lexikon des Mittelalters VL – Verfasserlexikon LCI – Lexikon der christlichen Ikonographie
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9 Sach- und Personenregister Abaelard: 218 Alanus ab Insulis: 181, 223, 226ff. Albertus Magnus: 3, 8, 137, 222f. Albrecht von Scharpfenberg; Der Jüngere Titurel: 154, 188ff. Alchemie: 129, 228, 236ff., 243 Allegorese: 17, 96, 104, 105ff. Allegorie: 105ff., 109, 115 Ambrosius: 94f., 197 Amor; Amorbanner; Amorlanze: 143-154 Aristoteles-Verbote: 3, 7, 103, 137 Aristoteles: 6-9, 54, 68ff., 112ff., 222f., 234 Astrologie/Astronomie: 55, 91, 151, 182 Äther; 5. Element: 54, 84, 129, 218 Augustinus: 5, 97, 113, 115, 122ff., 216f., 234 Averroes: 3, 7f., 114 Avicenna; Kanon der Medizin: 7, 46ff., 114, 145 Basilius: 216 Beda Venerabilis; De natura rerum: 4f., 72, 75f., 94f., 181, 217 Bernardus Silvestris; Cosmographia: 6, 53, 218, 223, 226, 233, 235 Birnbaumallegorie: 109 Boethius: 5f., 69 Bogengleichnis: 157f. Buch der Natur: 17 Chalcidius: 5f., 78, 150 Cholera; Choleriker: 150 Chrétien de Troyes; Perceval; Chanson d’Aliscans: 156, 160-173 Cicero: 2, 5f., 52, 105, 182 Complexiones; Verknüpfungen: 188ff., 228-235 Denkstil: 12ff., 124, 136, 218 Denkzwang: 12f., 136 Diätetik: 46f., 91, 201ff., 255 Distinctiones (Der Renner): 103, 109 Drache; Schlange; Wurm; Teufel; Teufelssturz: 33, 48, 81-84, 87f., 112, 115f., 117-121 Emanation: 220f., 225f., 232 Empedokles: 129 Empyreum: 222 Engelsturz: 117, 120 DOI 10.1515/9783110486605-009
Enzyklopädien: 70, 135, 177, 246, 254 Epizykeltheorie: 56f., 136 Fee, Feenfiguren: 37, 161ff., 167f., 170-173, 204, 254 Feuer im Stein: 92-96 Fleck, Ludwik; »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache«: 12f., 183, 201 Form und Materie: 113, 223, 234f., 243 Freidank; Bescheidenheit: 103f., 111, 113ff. Galen: 6, 42, 46, 91f., 145, 150, 194f. Galle, gelbe; schwarze: 42, 46ff., 91f., 147, 150-153, 196 Geblümte Rede: 109, 209, 211ff. Geiz: 89-92, 110, 192, 251 Genesiskommentare: 6, 8, 125, 180f., 201, 217f., 227 Greenblatt, Stephen: 18, 203 Hartmann von Aue; Iwein: 129, 169-172, 205 Heinrich von Veldeke; Eneasroman: 47, 145, 147, 149 Hermaphrodit: 230-242 Hildegard von Bingen: 70, 129f., 196f., 202 Himmelsleiter: 86 Hintergrund, Background: 14-21, 23f., 99, 133, 136, 174, 203, 245f., 250f. Hippokrates: 90f., 194 Hrabanus Maurus: 4f., 70-72, 181 Humoralpathologie (Viersäftelehre): 46, 90, 145, 194, 202, 249, 251 Intentionalität; Vorintentionalität: 15f., 133 Intertextualität: 175 Isidor von Sevilla; Etymologiae: 4, 6, 70f., 215 Johannes von Sacrobosco: 69f. Konrad von Megenberg; Buch der Natur: 104, 129, 131, 135, 200, 255 Konrad von Würzburg; Die goldene Schmiede: 205, 213 Kristallsphäre: 223 Leidenschaften, übermäßige; Zügelung: 194-203 Lucidarius: 135 Magnetberg: 178, 190 Marienpreis: 186, 205, 213, 239
Martianus Capella; De nuptiis Mercurii et Philologiae: 72 Melancholie; Melancholiker: 147, 255 Metapher: 16f., 105-108, 133, 183ff., 212, 214, 230, 238, 244f., 250ff. Michael de Leone: 109 Milte: 33, 89 Morallehre: 103f. Moses Maimonides: 8, 195-198 Naturkundlicher Exkurs; Der Renner: 103 Obere Wasser: 125-129, 222 Offenbarungen des Johannes/Apokalypse: 119f., 215, 123 Ordo; Ständelehre: 59-62, 85, 89, 97 Origines: 180 Osmotisches Wissen: 19, 204 Ovid; Ars amatoria; Remedia amoris: 46ff., 146, 149f., 183 Phlegma: 91, 153, 255 Physiologus; Millstätter Physiologus; Wiener Physiologus; Älterer Physiologus: 104, 117ff., 151, 177, 188, 200 Planetenbewegung: 52-57, 120 Platon; Timaios: 4-7, 52-57, 76-80, 91, 112ff., 149f., 182, 225f., 242, 253 populäres Wissen: 13f., 20, 22ff., 84, 99, 124, 134, 183, 201f., 246, 250f., 253 Primärqualitäten (Elemente): 44, 200, 234f. Prosalancelot: 37f. Prudentius; Psychomachia: 118f. Pseudo-Clementinus; Recognitiones: 237 Ptolemäus; Almagest: 55f., 182 Regimina sanitatis: 194, 202 Res non naturales: 194f.
Sach- und Personenregister
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Schule von Chartres: 5, 33, 52, 234, 253 Searle, John R.: 14ff., 19, 36 Sekundärqualitäten; Elementenlehre: 39, 75 Septem artes liberales: 5, 33, 98f., 101, 136, 247 Serres, Michel: 245f. Sirene: 161, 169, 178, 190-201 Soziale Energie: 18, 204 Sphärenmodell; Rota elementorum: 54, 65, 68, 70, 81-85, 88, 99, 115, 181f., 222 Spiegelmetapher: 225ff. sublunarer Bereich: 67f., 96f., 115, 121, 133, 234, 254 Sündenfall: 50, 57-60, 97, 196 supralunarer Bereich: 9, 218, 222, 234 Syzygie: 72, 75f., 78, 98f., 253 Temperamente, Temperamentenlehre: 46, 91f., 150, 153, 195f., 220, 233 Thierry von Chartres: 6, 181, 218f., 235 Thomas von Aquin; Summa Theologica: 3, 7ff., 112ff., 123, 181, 216, 222f., 234 Thomas von Cantimpre; Liber de rerum natura: 104, 131, 135 Twalm: 228ff., 232f. Ulrich Füetrer; Buch der Abenteuer: 255 Universitäten: 5ff., 102, 137, 181, 253 Venus: 146ff., 166 Vergil: 178, 190 Welt-Ei: 129-133, 237, 247f., 255 Wilhelm von Conches: 3, 6, 53, 129, 332, 235 Zahlensymbolik: 116