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German Pages 166 Year 2001
WOLFGANG STAPEL
Mikropolitik als Gesellschaftstheorie?
Soziologische Schriften Band 70
Mikropolitik als Gesellschaftstheorie ? Zur Kritik einer aktuellen Variante des mikropolitischen Ansatzes
Von
Wolfgang Stapel
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Stapel, Wolfgang: Mikropolitik als Gesellschaftstheorie? : zur Kritik einer aktuellen Variante des mikropolitischen Ansatzes I von Wolfgang Stapel. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Soziologische Schriften; Bd. 70) Zugl.: Oldenburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10155-3
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-10155-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068
Im Gedenken an Lucia KaUert
Vorwort Gegenstand dieser Arbeit ist eine bestimmte, strukturationstheoretisch inspirierte Variante der Mikropolitik-Theorie, für die vor allem die zwei neueren Arbeiten von Günther Ortmann, "Computer und Macht" und ,,Formen der Produktion", repräsentativ sind. Die Bearbeitung dieser Materie machte eine Auseinandersetzung mit ihrem zieltheoretischen Hintergrund notwendig und dieser wiederum hat mich mit einem theoriegeschichtlichen Vorgang konfrontiert, der mir so bemerkenswert erschien, daß daraus - mit dem o. g. thematischen Hauptmotiv aufs engste verbunden - ein zweites Motiv der Arbeit wurde: Damit ist die fundamentale "Konversion" von Günther Ortmann angesprochen, der vor 23 Jahren mit seiner Arbeit über "Unternehmensziele als Ideologie" in der zieltheoretischen Diskussion Furore machte. Die geduldigen Leser / Innen bitte ich höflichst um Beachtung folgenden Hinweises: In den Fußnoten der Arbeit finden sich neben den üblichen Quellenangaben und anderen "technischen" Hinweisen auch viele Kommentare, Gedankenfortführungen und andere Erweiterungen des Haupttextes, die, in diesem untergebracht, den Lesefluß möglicherweise stören würden, gleichwohl aber integrale Bestandteile der Gesamtargumentation sind. Insofern bitte ich, den optisch recht voluminösen Fußnotenapparat als Ausdruck des Respekts vor dem Leser zu betrachten. Bedanken möchte ich mich für die Betreuung, instruktive Förderung, Anregungen, Beiträge und Diskussionen bei Herrn Professor Dipl.-Ing. Apostolos Kutsupis. Mein Dank gilt weiterhin Herrn Professor Dr. Willi Küpper für das Korreferat und vor allem Frau Andrea Grotelüschen. Oldenburg, August 2000
Wolfgang Stapel
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ...................... . ..................................................
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2. Zur Grundstruktur einer strukturationstbeoretisch gestützten MikropoUtikTheorie ..... ...... ... ... .... ...... ..... ... ..... ...... ... ... ... ... ........... .......
22
2.1 Vorbemerkungen ...............................................................
22
2.2 Autonomie des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
2.3 Einige Anmerkungen zum Begriff der "Kontingenz" - einem Grundsachverhalt der mikropolitisch inspirierten Argumentationsstruktur .........................
29
2.4 Zur Ahistorizität kontingenztheoretischer Konstruktionen ......................
35
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur. Die zirkuläre Grundfigur der "Rekursivität und Dualität von Struktur" .... .. . . . .. .. . . . . . . . .. . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . .
43
2.6 ,,Dualität von Struktur" versus "Determination"? Einige Anmerkungen zum Verhältnis von Kausalität, Determination und Ätialität . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
3. Zur Rationalität einzelwir1schaftlichen HandeIns. Grundmuster der Diskussion um die Ziele der erwerbswirtschaftlichen Unternehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
3.1 Vorbemerkungen ...............................................................
65
3.2 Zur "ethisch-normativen" Position .............................................
68
3.3 Zur "neoklassischen" Argumentation...........................................
71
3.4 ,,zielrelativistische" Auffassungen .............................................
86
3.5 Zur marxistischen Position..................................................... 104 3.6 Ortmanns Mikropolitik-Theorie in zieltheoretischer Perspektive ................ 110
4. MikropoUtik-Theorie - Erklärungsansatz für die sozialökonomische Realität? 128 5. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung ..................................... "
139
Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 146 Personenverzeichnis .................................................................. 163
Abkürzungsverzeichnis a
Alternative(n)
a.a.O.
am angegebenen Ort
a.D.
außer Dienst
AER
American Economic Review Aktiengesellschaft amerikanische Ausgabe
AG amerik. Ausg. ap
ASQ
Associated Press
Aufl.
Administrative Science Quarterly Auflage
Bd. Bde.
Band Bände
bearb. bspw.
bearbeitet(e)
bzgl. bzw. d.h. DBW ders.
beispielsweise bezüglich beziehungsweise das heißt Die Betriebswirtschaft derselbe
DEWEZET
Deister- und Weserzeitung
dies. dpa
dieselben Deutsche Presse Agentur
dt. Ausg.
deutsche Ausgabe
dtv durchges. DZfp
Deutscher Taschenbuch Verlag durchgesehen(e)
e ed. Ed.
Deutsche Zeitschrift flir Philosophie Ergebnis(se) I Ereignis(se) I Folge(n) editiert(e) Editor
Eds. eingel.
Editors eingeleitet
engl. Ausg.
englische Ausgabe erweitert(e/r)
erw. et al. etc.(pp.) f.
et alii et cetera (perge perge) folgende Seite
Abkürzungsverzeichnis FAZ ff. Fn. franz. Ausg. ggf.
h Herv. HRK Hrsg. hrsgg. v. i,j, n Le.S. LS.v. LV.m. i.w.S. IG Jm Jg. korrig.
It. m m.e. Einf. m.e. Einl. m.e. Nachw. MEW Mitarb. neubearb. Nr. o.a. o.g. 0.0. o.V. p resp. rev. S. sec. sog. t U u. u. a.
Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende Seiten Fußnote französische Ausgabe gegebenenfalls Höhe Hervorhebung Hochschulrektorenkonferenz Herausgeber herausgegeben von Indices im engeren Sinn(e) im Sinne von in Verbindung mit im weitesten Sinn(e) Industriegewerkschaft Journal für Betriebswirtschaft Jahrgang korrigiert(e) laut Meter mit einer Einführung mit einer Einleitung mit einem Nachwort Marx-Engels-Werke Mitarbeit neubearbeitet(e) Nummer oben angegeben(en) oben genannt(en/er/es) ohne Ort ohne Verfasser Wahrscheinlichkeit respektive revidiert(e) Seite Sekunde(n) sogenannte(r I s) Zeit Ursache(n) und unter anderem I und andere
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u.ä. u.d.T. u.E. u.m.e.E. vers. u.zw. überarb. übers. n.d. unv. usw. v
v.a. verb. vers. vgl. Vol. vs. W
weggl. z Z z.B. z.T. z.Zt. ZfB ZfbF
ZfgS ZfhF
ZfO ZfP
Abkürzungsverzeichnis und ähnliches unter dem Titel unseres Erachtens und mit einer Einführung versehen(en) und zwar überarbeitet(e) übersetzt nach der unverändert(er) und so weiter Geschwindigkeit vor allem verbessert(e) versehenen vergleiche Volume versus Wirkung(en) I Folge(n) weggelassen Umweltzustand Zustandsraum zum Beispiel zum Teil zur Zeit Zeitschrift für Betriebswirtschaft Zeitschrift für betriebs wirtschaftliche Forschung Zeitschrift für die gesamte Staatswirtschaft Zeitschrift fllr handelswissenschaftliche Forschung Zeitschrift für Organisation Zeitschrift für Personalforschung
1. Einleitung Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet die These von Unternehmen als zuvörderst politischer Arenen. Diese These hat in den letzten Jahren unter dem Stichwort "mikropolitischer Ansatz" eine recht umfangreiche Diskussion ausgelöst, vornehmlich auf dem Gebiet der Organisationstheorie sowie Organisations- und Industriesoziologie. Der ursprüngliche (nicht ganz neue) Kerngedanke, das Organisationsgeschehen sei Resultierende von vielfaltigen Teilprozessen und Auseinandersetzungen in Verfolgung individueller Ziele, erfuhr im Laufe dieser Diskussion eine Reihe von Erweiterungen über den Bezugsrahmen betrieblicher Organisation hinaus und Differenzierungen betreffend die Erklärungs- und Begründungszusammenhänge. Diese Weiterungen bzw. Differenzierungen haben inzwischen einen Stand erreicht, bei dem es angemessener erscheint, von "mikropolitischen Ansätzen" mit ihren jeweiligen Vertretern zu sprechen. Zwei Momente dieser Entwicklung verdienen u. E. besondere Aufmerksamkeit und haben auch dieser Arbeit den Anstoß gegeben: zum einen die theoretische Unterfütterung des Ansatzes durch den Rückgriff auf allgemeinere sozialwissenschaftliche Theorieansätze und zum anderen insbesondere die Erhöhung des ursprünglichen Anspruchs bzgl. der Erklärungsmächtigkeit des mikropolitischen Ansatzes. In besonders ausgeprägter Weise finden sich die zwei erwähnten Momente in neueren Arbeiten von Günther Ortmann 1, der zu Recht als einer der exponiertesten Vertreter eines mikropolitischen Ansatzes zumindest im deutschsprachigen Raum 1 Vgl. Ortmann, G. (1995a), Formen der Produktion. Organisation und Rekursivität, Opladen 1995; vgl. weiter: Ortmann, G. (l988a), "Macht, Spiel, Konsens", in: Küpper, W.I Ortmann, G. (Hrsg.) (1988a), Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, (1. Aufl., Opladen 1988),2., durchges. Aufl., Opladen 1992, S. 13ff.; ders. (1988b), "Handlung, System, Mikropolitik", in: Küpper, W./Ortmann, G. (Hrsg.) (Mikropolitik, 1988a), S. 217 ff.; ders. (1995b), "Unter der Hand. Über die Virulenz verpönter Interaktion", in: Volmerg, B.I Leithäuser, T. et al., Nach allen Regeln der Kunst. Macht und Geschlecht in Organisationen, Freiburg LBr. 1995, S. 251 ff.; ders. (1997), "Das Kleist-Theorem. Über Ökologie, Organisation und Rekursivität", in: Birke, M.I Burschei, C.I Schwarz, M. (Hrsg.) (1997), Handbuch Umweltschutz und Organisation. Ökologisierung - Organisationswandel - Mikropolitik, München I Wien 1997, S. 23ff.; Ortmann, G.lWindeler, A. et al. (1990), Computer und Macht in Organisationen. Mikropolitische Analysen, Opladen 1990; Ortmann, G.I Sydow, J./Windeler, A. (1997), "Organisation als reflexive Strukturation", in: Ortmann, G.I Sydow, J./Türk, K. (Hrsg.) (1997a), Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft,Opladen 1997, S. 315 ff.
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1. Einleitung
gelten darf. Die Auseinandersetzung mit seinen o. g. Arbeiten erscheint uns aus zwei Gründen ergiebig bzw. spannend: Zum einen, weil der mikropolitische Ansatz darin eine Erhöhung (und aus unserer Sicht: Überhöhung) des Erklärungsanspruchs erfährt, die den Stellenwert gleichsam einer Mutation hat: Mikropolitik-Theorie als ein Stück Gesellschaftstheorie. Zum anderen aber auch, weil Ortmann als ,,Mikropolitiker" alles buchstäblich auf den Kopf stellt, was er vor 23 Jahren als "Zieltheoretiker" über das Verhältnis von Organisation und Individuum - oder auch im weiteren Sinne: über Struktur und Handeln - formuliert hat. Die erste Untersuchung, die den Begriff ,,Mikropolitik" systematisch einsetzte, war wohl Tom Bums' ,,Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change", veröffentlicht 1961.2 Bums, selbst ein Anhänger des situativen Ansatzes, verwendete den Begriff ,,Micropolitics" als Erklärungsversuch für Dissonanzen zu seinen kontingenztheoretisch orientierten Anfangshypothesen. Der Begriff steht für die eigene Ziele verfolgenden Organisationsmitglieder, für ihre Macht-, Karriere- und Prestigeinteressen und damit einerseits für den "politischen" Charakter der Verhältnisse innerhalb von Organisationen und zwischen ihnen, andererseits für eine Autonomie, über die jede Organisation und jedes ihrer Mitglieder gegenüber Systemzwängen verfügt. Während bei Bums der Begriff der ,,Mikropolitik,,3 indirekt aus einem der Funktionsweise der Organisation zugrundeliegenden Machtsystem abgeleitet und damit 2 Vgl. Bums, T. (1961), ,.Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change", in: ,,ASQ", 6 (1961), S. 257ff.; vgl. zum Ansatz von Bums weiter: Bums, T./Stalker, G. M. (1971), ,.Mechanistische und organische Systeme des Managements", in: Mayntz, R. (Hrsg.), Bürokratische Organisation, (1. Aufl., KölnIBerIin 1968),2. Aufl., KölnlBerlin 1971, S. 147ff.; dies. (1977), Tbe Management of Innovation, (I. Aufl., London 1961), Reprint London 1977. 3 Zum Begriff ,.Mikropolitik", vgl.: KOpper, W.lOrtmann, G. (1986), ,.Mikropolitik in Organisationen. Handlungssystem; Kontingenzforschung; Machtpolitik; Organisationsforschung; Spiel; Strategie", in: ,,DBW", 46 (1986) 5, S. 590ff.; vgl. weiter: KOpper, W.lOrtmann, G. (1988b), "Vorwort. Mikropolitik - Das Handeln der Akteure und die Zwänge der Systeme", in: dies. (Hrsg.) (Mikropolitik, 1988a), S. 7ff.; Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 13ff.; ders. (Formen, 1995a); Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990); Vogel, C. C. (1990), Soziale Einflußprozesse in Organisationen: Mikropolitik, Augsburg 1990; Birke, M. (1992), Betriebliche Technikgestaltung und Interessenvertretung als Mikropolitik. Fallstudien zum arbeitspolitischen Umbruch, Wiesbaden 1992; Dick, P. (1993), ,.Mikropolitik in Organisationen", in: ,,zfP", 7 (1993) 4, S. 44Off.; Neuberger, O. (1995), Mikropolitik. Der alltägliche Aufbau und Einsatz von Macht in Organisationen, Stuttgart 1995, u. a. S. I ff., 14ff.; Ortmann, G./Becker, A. (1995), Management und Mikropolitik. Ein strukturationstheoretischer Ansatz, in: Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 43ff.; vgl. auch: Mintzberg, H. (1983), Power In and Around Organizations, Englewood Cliffs/New Jersey 1983, S. 171 ff.; Sandner, K. (1992), ..Unternehmenspolitik - Politik im Unternehmen. Zum Begriff des Politischen in der Betriebswirtschaftslehre", in: ders. (Hrsg.), Politische Prozesse in Unternehmen, (1. Aufl., Berlin/Heidelberg/u. a. 1989),2. Aufl., Heidelberg 1992,
1. Einleitung
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durchaus strukturtheoretisch fundiert ist, erfährt er bei Horst Bosetzky der Form und dem Inhalt nach eine Veränderung: Bosetzky, der diesen Begriff Anfang der 70er Jahre in die hiesige Organisationssoziologie einführte4 , verwendet ihn als eine verhaltenswissenschaftliche Kategorie, damit allerdings auf wenig Resonanz treffend. Mikropolitik wird bei ihm genuin zu einer auf Sozialisation beruhenden spezifischen Verhaltensdisposition und letztlich auf psychologistische Mechanismen reduziert; damit erscheint Organisation als vorwiegend von motivationalen Strukturen bestimmt. Diesem psychologischen Reduktionismus wird in neueren Ansätzen zur Mikropolitik zu entgehen versucht durch eine organisationstheoretische Perspektive bzw. Problematisierung. Als Vertreter dieser neueren mikropolitischen Ansätze müssen zunächst Michel Crozier und Erhard FriedbergS genannt werden, die das ..(Macht-) Spiel" zur zentralen Kategorie ihrer strategischen und systemischen Organisationsanalyse machen. Bei ihnen wird Organisation interpretiert als Ergebnis einer Reihe von sog. (Macht-)Spielen, d. h. die Funktionsweise einer Organisation wird nicht mit Anpassungen ihrer Mitglieder an eine ihnen vorgegebene Organisationsstruktur bzw. ein dem Unternehmen vorgegebenes (Ober-)Ziel erklärt, sondern vielmehr wird sowohl die Funktionsweise als auch die Struktur einer Organisation (Unternehmung) als Resultat einer Folge von ..(Macht-)Spielen" relativ autonom handelnder individueller und kollektiver Akteure interpretiert6 (wogegen Bosetzky im S. 56ff.; TOrIe, K. (1993), ,,Politische Ökonomie der Organisation", in: Kieser, A. (Hrsg.), Organisationstheorien, Stuttgart I Berlin I Köln 1993, S. 319f. 4 Vgl. Bosetzky, H. (1972), ,,Die instrumentelle Funktion der Beförderung", in: ..Verwaltungsarehiv", 63 (1972) 4, S. 372ff.; vgl. weiter: Bosetzky, H. (1980), ,,Macht und die möglichen Reaktionen der Machtunterworfenen", in: Reber, G. (Hrsg.), Macht in Organisationen, Stuttgart 1980, S. 135 ff.; ders. (1988), ,,Machiavellismus, Machtakkumulation und Mikropolitik", in: KOpper, W./Ortmann, G. (Hrsg.) (Mikropolitik, 1988a), S. 27ff.; ders. (1991), ,,Managementrolle: Mikropolitiker", in: Staehle, W. H. (Hrsg.), Handbuch Management. Die 24 Rollen der exzellenten FOhrungskraft, Wiesbaden 1991, S. 285 ff.; Bosetzky, H.I Heinrich, p. (1980), Mensch und Organisation. Aspekte bürokratischer Sozialisation. Eine praxisorientierte Einführung in die Soziologie und Sozialpsychologie der Verwaltung, (1. Aufl., Köln 1980),5., Oberarb. u. erw. Aufl., Köln 1994. 5 Vgl. Crozier, M.I Friedberg, E. (1979), Die Zwänge kollektiven Handeins. Über Macht und Organisation, Königstein/Taunus 1979. Interessanterweise findet sich bei Crozier und Friedberg der Terminus ..Mikropolitik" nicht expressis verbis. 6 Vgl. Crozier, M./Friedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), vgl. weiter: Friedberg, E. (1980), ..Macht und Organisation", in: Reber, G. (Hrsg.), Macht in Organisationen, Stuttgart 1980, S. 123 ff.; ders. (1988), ,,zur Politologie von Organisationen", in: KOpper, W.I Ortmann, G. (Hrsg.) (Mikropolitik, 1988a), S. 39ff.; ders. (1995), Ordnung und Macht. Dynamiken organisierten Handeins, Frankfurt a.M.1 New York 1995. Crozier I Friedberg fUhren aus: ..So definiert, ist das Spiel ein menschliches Konstrukt. Es· ist an die kulturellen Muster einer Gesellschaft und an die spezifischen Fähigkeiten der Spieler gebunden, bleibt aber kontingent wie jedes Konstrukt. Die Struktur ist im Grunde nur eine Gesamtheit von Spielen. Die Strategien jedes der Teilnehmer sind nur Spielweisen, und es ist die Beschaffenheit des Spiels, die ihnen ihre Rationalität verleiht" (Crozier, M./Friedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), S. 68), d. h. es liegt eine ..... Konzeptualisierung der Organisation als Gesamtheit aneinander gegliederter Spiele ... " (ebenda, S. 69) vor, die sich
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1. Einleitung
Rahmen seiner Untersuchungen Spiele in Organisationen behandelt; aus seinem Blickwinkel geht es also um Spiele innerhalb bestehender (Organisations-)Strukturen, die neben anderen Elementen auch Raum für sog. Spiele lassen)? Nicht unerwähnt bleiben sollte, daß sich auch bei Crozier und Friedberg durchaus bestimmte Elemente eines psychologischen Reduktionismus finden, etwa bei der Frage nach der Quelle von Organisationszielen. Im übrigen zeigen diese Auseinandersetzungen um "Spiele in Organisationen" (Bosetzky) oder "Organisationen als Spiele" (Crozier / Friedberg), daß der mikropolitische Ansatz in seiner theoriegeschichtlichen Einordnung keinen organisationstheoretischen Paradigmenwechsel darstellt, sondern auf durchaus Altbekanntes (Theorie der informellen Organisation) zurückgreift. 8 Dieser Befund findet seine "Personalisierung" z. B. bei Oswald Neuberger9 , der zwar beide Perspektiven in Einklang miteinander bringen will, also sowohl Spiele in Organisationen als auch Organisationen als Spiele sozusagen dialektisch miteinander zu vermitteln sucht. Letztlich aber bleibt er in seinen inhaltlich konkreten Ausführungen der ersten Perspektive verhaftet, behandelt also durchweg Spiele in Organisationen. Ortmanns Abwendung von der "Struktur" und Hinwendung zum ,,Individuum" als Ansatzpunkt der Analyse und Erklärung von Organisationsprozessen (im Keim auch gesellschaftlichen Prozessen) beginnt Mitte der 80er Jahre lO: Obschon in seiner 1984 erschienenen Arbeit "Der zwingende Blick" Mikropolitik kein explizites Thema ist, finden sich hier schon deutliche Spuren einer Abkehr von der These rekursiv stabilisieren: ,,Das Spiel ist das Instrument, das die Menschen entwickelt haben, um ihre Zusammenarbeit zu regeln ( ... ). Es vereint Freiheit und Zwang" (ebenda, S. 68) bzw.: ,,Das Spiel ist ( ... ) ein konkreter Mechanismus, mit dessen Hilfe die Menschen ihre Machtbeziehungen strukturieren und regulieren und sich doch dabei Freiheit lassen" (ebenda, S.68). 7 V gl. Bosetzky, H. (Machiavellismus, 1988), S. 27 ff. 8 Auf Hinweise, Monita etc. betreffend die Dignität von und das Verhältnis zwischen Mikropolitik-Theorie und Theorie der informellen Organisation soll in dieser Arbeit (deren Thema nicht der ursprüngliche mikropolitische Ansatz ist) nicht eingegangen werden. Es soll lediglich an dieser Stelle auf die Existenz einer entsprechenden Teildiskussion hingewiesen werden, vgl. z. B. Baethge, M./Oberbeck, H. (1990), ..Systemische Rationalisierung von Dienstleistungsarbeit und Dienstleistungsbeziehungen: Eine neue Herausforderung für Unternehmen und wissenschaftliche Analyse", in: Rock, R./Ulrich, P./Witl, F. (Hrsg.), Strukturwandel der Dienstleistungsratioitalisierung, Frankfurt a.M./New York 1990, S. 168 f. 9 Vgl. Neuberger, O. (1988), ..Spiele in Organisationen, Organisationen als Spiele", in: Küpper, W./ Ortmann, G. (Hrsg.) (Mikropolitik, 1988a), S. 53 ff.; vgl. weiter: Neuberger, O. (1990), Führen und geführt werden, (1. Aufl., Stuttgart 1984; bis zur 2. Aufl. u.d.T...Führung. Ideologie - Struktur - Verhalten"), 3., völlig überarb. Aufl. (von ,,Führung"), Stuttgart 1990; ders. (Mikropolitik, 1995); zur Kritik, vgl.: Türk, K. (1989), Neuere Entwicklungen in der Organisationsforschung. Ein Trend-Report, Stuttgart 1989, S. 126ff. 10 Vgl. Ortmann, G. (1984), Der zwingende Blick. Personalinformationssysteme - Architektur der Disziplin, Frankfurt a.M./ New York 1984.
1. Einleitung
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der dominanten Rolle und zugleich des zwanghaften, durchaus überindividuellen Charakters des Profitziels im Kapitalismus. ,.Mikropolitik" thematisiert Ortmann explizit 1986 11 , 1987 12 und weiter 1988 13 unter Anlehnung an Crozier / Friedberg 14 und Verwendung der für diesen Ansatz zentralen Kategorie des ..(Macht-)Spiels". Die Sichtung der einschlägigen Literatur zeigt allerdings, daß mit dem kurz skizzierten Begriff des Machtspiels 15 Probleme, insbesondere Unschärfen verbunden sind, was sich u. a. in einer Vielzahl unterschiedlicher Definitionen sowohl zum Spielbegriff als auch zum Begriff der Mikropolitik niederschlägt.16 So stellt Ortmann selbst einerseits die assoziative Wirkung der Spiel-Metapher heraus 17, sieht aber zugleich durchaus auch die theoretische(n) Problematik(en) und die ihrer forschungspraktischen Handhabung. 18 An dieser Stelle setzt in seiner Argumentationsentwicklung eine weitere, die aktuelle Phase ein: Er versucht den Begriff des ..(Macht-)Spiels" in der Ausformung von Crozier und Friedberg unter Rückgriff auf strukturationstheoretische Denkmuster (Theorem von der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur") strenger zu fassen. 19 Als ,.Figur" hierfür steht im Hintergrund das Programm des sog. strukturationstheoretischen Ansatzes der Dualität von hermeneutisch-interpretativer (Handeln) und nomologisch-struktureller Analyseperspektive (Struktur) des Sozialtheoretikers Anthony Giddens. 2o Für den Ansatz von Ortmann ist die Struktura11
Vgl. Küpper, W./Ortmann, G. (Handlungssystem, 1986), S. 590ff.
12 Vgl. Ortmann, G. (1987). ,.Mikropolitik im Entscheidungskorridor. Zur Entwicklung betrieblicher Informationssysteme", in: ,.zrO", 56 (1987) 6, S. 369ff. \3 Vgl. Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 13ff.; vgl. weiter: Ortmann, G. (Handlung, 1988b), S. 217 ff. 14 Crozier, M./Friedberg, E. (Macht und Organisation, 1979). 15 Vgl. S. 15. Fn. 6 der Einleitung dieser Arbeit. 16 Vgl. Neuberger, O. (Spiele, 1988), S. 64ff.; vgl. weiter: Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 19ff., 302ff. 17 Vgl. Küpper, W./Ortmann. G. (Handlungssystem, 1986), S. 590ff.; vgl. weiter: Ortmann, G. (Macht. 1988a), S. 22; Ortmann, G./Windeler. A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 57. 18 Vgl. Küpper. W./Ortmann, G. (Handlungssystem, 1986), S. 597; vgl. weiter: Ortmann, G. (Macht. 1988a), S. 23; ders. (Handlung, 1988b), S. 217ff.; Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 57 f. 19 Vgl. Ortmann, G.lBecker, A. (Management, 1995), S. 56. Ortmann führt aus: "Grundgedanke des Konzeptes der Dualität von Struktur ist ( ... ), daß Struktur einerseits Medium des Handeins ist, andererseits sein Produkt ( ... ). Das ist im Grunde zwar im Konzept des Spiels von Crozier und Friedberg schon impliziert, wird aber von Giddens prägnanter formuliert" (Ortmann, G./ Becker, A. (Management, 1995), S. 56, Herv. im Original). 20 V gl. Giddens. A. (1992), Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. (1 .• dt. Aufl., Frankfurt a.M./ New York 1988), Frankfurt a.M./ New York 1992; vgl. auch: Giddens. A. (1984), Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt a.M./New York 1984; ders. (1989), "A Reply to My Critics", in: Held, D.lThompson, J. B. (Eds.) (\ 989), Social Theory of Modern Societies: Anthony Giddens and his Critics, 2 Stapel
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1. Einleitung
tionstheorie insofern relevant, als er ihre Kategorien und inhaltlichen Aussagen in grundsätzlicher Art und Weise seinen einschlägigen Ausführungen zugrundelegt. 21 Auf der programmatischen Ebene läßt sich der Stand der Befunde / Intentionen Ortmanns zusammenfassend so skizzieren: - er stellt als Ergebnis eigener empirischer Analysen fest, daß auf allen hierarchischen Ebenen von Organisationen strategisches und damit auch mikropolitisches Verhalten und Handeln aller ihrer Mitglieder stattfindet;22 - eingedenk dieser Realität beklagt er die bisherige mikropolitische "Ignoranz" der Organisationstheorie bzw. der Betriebswirtschaftslehre;23 - vor dem Hintergrund beider Befunde fordert er eine angemessene Öffnung der Organisationstheorie bzw. der Betriebswirtschaftslehre für das Thema ,,Mikropolitik" .24 So plausibel (und zudem "harmlos") diese Punkte erscheinen mögen - sie stecken voller Voraussetzungen und weitgehender Konsequenzen vor allem für die zieltheoretische Diskussion. So z. B. - die These, daß alle Organisationsmitglieder auf allen hierarchischen Ebenen mikropolitisch handeln, suggeriert (soweit sie nicht ihre Rechtfertigung in Trivialitäten sucht), daß auch alle Individuen oder Gruppen im Prinzip gleichermaßen relevanten wie nachhaltigen Einfluß auf die Zielgestaltung der Organisation (Unternehmung) haben; - dies impliziert weiter und unmittelbar eine grundsätzliche Absage an alle sog. "klassisch-präskriptive" Theorie 25 , insbesondere an die Existenz eines durch die Cambridge/Mass. 1989, S. 249ff.; ders. (1991), "Structuration Theory: Past, Present and Future", in: Bryant, C. G. A./Jary, D. (Eds.) (1991), Giddens' Theory of Structuration: A Critical Appreciation, London/New York 1991, S. 201 ff.; ders. (1995a), Politics, Sociology and Social Theory. Encounters with Classical and Contemporary Social Thought, Cambridge 1995; ders. (1995b), "Strukturation und sozialer Wandel", in: Müller, H.-P./Schmid, M. (Hrsg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt a.M. 1995, S. 151 ff.; ders. (1996a), Die Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1996; ders. (1996b), ,.Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft", in: Beck, U./Giddens, A.lLash, S., Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996, S. 113 ff. 21 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), vgl. weiter: Ortmann, G. (Interaktion, 1995b), S. 251 ff.; ders. (Rekursivität, 1997), S. 23ff.; Ortmann, G.lWindeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990); Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 43ff.; Ortmann, G./Sydow, J.lTürk, K. (1997b), ,,Einführung. Organisation, Strukturation, Gesellschaft. Die Rückkehr der Gesellschaft in die Organisationstheorie", in: dies. (Hrsg.) (Theorien, I997a), S. 15ff.; Ortmann, G./Sydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 315ff. 22 Vgl. Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 76ff. 23 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 32ff.; vgl. weiter: Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 13ff.; Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), u. a. S. 13ff., 54ff.; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 43 ff. 24 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 9ff., 32ff., 206f. 2.5 Vgl. hierzu das Kapitel 3 dieser Arbeit.
1. Einleitung
19
sozialökonomische Verfassung gegebenen Oberziels, welches sich über ZweckMittel-Mechanismen "im Durchschnitt und auf die Dauer" durchsetzt, und führt schließlich zu einer vollendeten Konversion seiner ziel theoretischen Auffassungen aus dem Jahre 1976. 26 Destilliert man das mikropolitische Konzept auf seinen zieltheoretischen Kern hin sowie auf dessen Voraussetzungen und Folgerungen und damit auch auf das von diesem Kern nicht ablösbare Theorem von der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur", so bedürfen dabei insbesondere folgende Fragen der Klärung: - Leiten sich alle Handlungen (Entscheidungen) der Organisationsmitglieder entlang von streng kausalen Zweck-Mittel-Ketten aus dem Gewinnziel ab? - Wie steht es dabei mit der Operationalisierung des Oberziels und der daraus abgeleiteten Unterziele? - Wie steht es mit dem Primat zwischen den zwei Ebenen "Ökonomie" und ,,(Mikro-)Politik,,?27 Im Fokus dieser Arbeit stehen solche Antworten auf diese Fragen, die dem mikropolitischen Ansatz den Status eines Analyse- bzw. Erklärungsrahmens für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zuerkennen. In der Diskussion um diese Fragen nimmt Günther Ortmann zu Recht eine hervorragende Stellung ein, weil er unübersehbar auf dem o. g. hohen Erklärungsanspruch besteht28 , er seine Argumentation mit Rückgriff auf einen in letzter Zeit sehr "marktgängigen" allgemeinen soziologischen Ansatz (Anthony Giddens) entfaltet und seine Position im deutschsprachigen Schrifttum schon Spuren hinterläßt. 29 26 Vgl. Ortmann. G. (1976). Unternehmungsziele als Ideologie. Zur Kritik betriebswirtschaftlicher und organisationstheoretischer Entwürfe einer Theorie der Unternehmungsziele, Köln 1976. 27 Diese Aufzählung entspricht natürlich nicht der Gliederung der Arbeit in ihren einzelnen Abschnitten, weil wesentliche Aussagen des hier zur Diskussion stehenden Ansatzes sich wechselseitig bedingen und so für verschiedene Abschnitte dieser Arbeit relevant werden. Vor diesem Hintergrund haben wir versucht, Überschneidungen nach Möglichkeit zu vermeiden, insbesondere durch Querverweise. 28 Zur Einlösung bzw. Einlösbarkeit dieses Anspruchs, vgl. insbesondere Kapitel 4 und die Schlußbetrachtung dieser Arbeit; vor dem Hintergrund unserer Befunde dazu erscheint es uns zwar zugespitzt, aber durchaus angebracht, ihn als ,,(theoretische) Anmaßung" zu bezeichnen. 29 Diese von Ortrnann kreierte Variante hat auch einen Anklang innerhalb mikropolitischer Ansätze gefunden. Wenn auch nicht aUe sich unmittelbar bzw. ausschließlich mit dem Thema ,.Mikropolitik" befassen, enthalten sind aber in den Ausführungen - bei aUer Unterschiedlichkeit in den inhaltlichen Darlegungen - durchaus mikropolitische, machtspiel- resp. strukturationstheoretische Grundmuster, vgl. für eine Auswahl: Empter. S. (1988), Handeln, Macht und Organisation. Zur interaktionistischen Grundlegung sozialer Systeme, Augsburg 1988; Lauschke, K. H.lWelskopp, T. (Hrsg.) (1994), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industrieUen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen
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1. Einleitung
Aus der Sicht dieser Arbeit sind es vor allem drei Elemente in seiner Argumentation, die die Kritik herausfordern: die Interpretation der logischen Struktur der "Gewinnmaximierung"; die Verwechslung von Kausalität und Determiniertheit im Zusammenhang mit der Funktionsweise von Zweck-Mittel-Ketten; der ständige Rekurs auf eine sog. "soziale Praxis" und zugleich die systematische Ausblendung aller (zumal aktuellen!) sozialökonomischen Realität. Zwei weitere Momente (wissenschaftssoziologischer Art?) waren für die Entstehung dieser Arbeit nicht minder ausschlaggebend: Zum einen ist es immer wieder erstaunlich zu beobachten, welche Mengen älteren Weins in die neuen Schläuche dieser Konzeption eingeflossen sind. Um im Bilde zu bleiben: Älterer Wein muß nicht schlecht sein und dies betrifft zweifelsohne jene Elemente des mikropolitischen Ansatzes, die schon unter dem Sammelbegriff "Theorie der informellen Organisation" zumindest in ihren wesentlichen Grundzügen seit geraumer Zeit beschrieben sind3o, und die allerdings im Rahmen der Mikropolitik-Theorie eine beträchtliche Weiterentwicklung erfahren. Diese Anmerkung zur Originalität des Konzeptes bezieht sich aber auch (und in gewisser Weise erst recht) auf den Griff in die Ideologie 31 -Truhe mit den Über1994; Birke, M.lBurschel, C./Schwarz, M. (Hrsg.) (Handbuch, 1997); Ortmann, G./Sydow, J./Türk, K. (Hrsg.) (Theorien, 1997a); Schneidewind, U. (1998), Die Unternehmung als strukturpolitischer Akteur, Marburg 1998. Für eine weitere Literaturauswahl, vgl. Ortmann, G./Sydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 342f. 30 Diese Teile konstituieren im übrigen Dignität und Reichweite des Ansatzes, wie auch an anderer Stelle dieser Arbeit unmißverständlich festgestellt wird. 31 Im Rahmen dieser Arbeit wird unter "Ideologie" (einem Terminus, der bekanntlich auch in der Wissenschaftssprache semantisch mehrfach besetzt ist) in Anlehnung an Werner Hofmann eine "gesellschaftliche Rechtfertigungslehre" verstanden. Hofmann definiert: - "Unter Ideologie soll verstanden werden eine Feh/meinung, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse absichert" (Hofmann, W. (I 969a), Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft. Ein Leitfaden für Lehrende, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 16, Herv. im Original); - ,Jch schlage ihnen vor, Ideologie für unsere Zwecke kurz und bündig zu bezeichnen als Fehlmeinung mit gesellschaftlicher Tendenz, bestimmter: mit herrschaftsstabilisierender Tendenz" (Hofmann, W. (1975), ,,Die Ideologisierung der ökonomischen Theorie", in: Kutscha, G. (Hrsg.), Ökonomie an Gymnasien. Ziele, Konflikte, Konstruktionen, München 1975, S. 88); - ,Jdeologie soll verstanden werden als gesellschaftliche Rechtfertigungslehre. Ideologische Urteile wollen soziale Gegebenheiten absichern, legitimieren, aufwerten. ( ... ) Sie sind von konservierender Natur" (Hofmann, W. (I969b), "Wissenschaft und Ideologie", in: ders. Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, (1. Autl., Frankfurt a.M. 1968), 4. Autl., Frankfurt a.M. 1969, S. 54, Herv. im Original). Es gilt dabei nach Hofmann festzuhalten, daß nicht jede ,.Fehlmeinung" bzw. unwahre Aussage bereits Ideologie ist, sie muß auch "Rechtfertigungscharakter" aufweisen. Ideologien können durchaus auch zutreffende Elemente enthalten, gerade dadurch erhalten sie ihre Glaubwürdigkeit und das macht ihre Aufdeckung zu einem schwierigen Unterfangen. So ist
1. Einleitung
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schriften ,,Autonomie des Individuums", "These vom angemessenen Gewinn" etc.pp. - ein Punkt, der Ortmann einige Schwierigkeiten bereitet haben dürfte. Zum anderen entfaltet Ortmann diese von ihm geprägte Variante des mikropolitischen Ansatzes in Negation seiner eigenen früheren einschlägigen Thesen und damit in einer ,,Rehabilitation" der von ihm hart kritisierten Auffassungen. 32 Sie beinhaltet dabei eine besondere Seite, da man es mit einer außergewöhnlichen "Konversion" zu tun hat und zwar insofern, als er das wesentliche Erkenntnisobjekt seiner Ausführungen im Rahmen von organisationalen Zusammenhängen schon einmal bearbeitet hat - mit einem reziproken, also entgegengesetzten Ergebnis. 33 Zusammenfassend ist der streitbare Gegenstand, um den es in dieser Arbeit geht, der Bewegungs- und Entfaltungsspielraum von Individuen in der Unternehmung (Organisation). Damit geraten unmittelbar und zwangsläufig Strukturen und Kategorien wie "Autonomie", ,,zwang", "Konsens" etc. pp. und ganz besonders solche zieltheoretischer Art in den Mittelpunkt der Betrachtung. Da man sich in eine solche Untersuchung bzw. in die Abfassung einer solchen Arbeit nicht gleichsam als tabu la rasa begibt, sondern vielmehr mit einem Vorverständnis und einem daraus resultierenden Erkenntnisobjekt, scheint es geboten, dieses hier nochmals in aller Kürze zu skizzieren: Dem Verfasser geht es keineswegs um eine "Widerlegung", sprich pauschale Abqualifizierung des mikropolitischen Ansatzes, sondern um eine Einschätzung hinsichtlich dessen angemessener Erklärungsmächtigkeit bzw. -reichweite. Damit sind die Theoriepartien benannt, um die es in den folgenden Kapiteln gehen wird: Das zweite Kapitel umreißt einige Aspekte des theoretischen Grundmusters bei Ortmann, während das dritte Kapitel sich den Grundmustern der Diskussion um die Ziele erwerbswirtschaftlicher Unternehmungen widmet und das vierte Kapitel die Thesen von Ortmann mit der aktuellen sozialökonomischen Realität in kasuistischer Form gegenüberstellt. nach Hofmann eine fehlerhafte Auffassung der Wirklichkeit, die sich aus der historischen Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes ergibt oder aus den Instrumenten/Mitteln der Erkenntnis, nicht von der Art einer Ideologie, sondern von der des Irrtums (vgl. Hofmann, W. (Wirtschaftsgesellschaft, 1969a), S. 16ff.); vgl. weiter: Hofmann, W. (Ideologie, 1969b), S. 49 ff.; ders. (Ideologisierung, 1975), S. 87 ff. 32 Vgl. Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976); vgl. weiter: Ortmann, G. (1977a), ,,Die Selbstverwirklichung des Individuums, der Spielraum des Managements und das Zielsystem der Unternehmung", in: ,,mehrwert - Beiträge zur Kritik der Politischen Ökonomie", Heft 12, Berlin 1977, S. 5 ff.; ders. (1977b), "Die Freiheit der Betriebswirtschaftslehre. Freiheit des Individuums, Wertfreiheit der Wissenschaft, Pluralismus der Methoden. Bemerkungen zur Kritik Ralf-Bodo Schmidts an meiner Schrift ,Unternehmungsziele als Ideologie''', in: ,,zm", 47 (1977) 11, S. 715 ff.; vgl. auch: Schmidt, R.-B. (1976), "Unternehmungsziele als Ideologie (1). Anmerkungen zu einer marxistisch-normativen Kritik an der betriebswirtschaftlichen Zielforschung", in: ,,zm", 46 (1976) 10, S. 740ff.; vgl. Abschnitt 3.6, S. 110ff. dieser Arbeit. 33 Vgl. Abschnitt 3.6 und Kapitel 4 dieser Arbeit.
2. Zur Grundstruktur einerstrukturationstheoretisch gestützten Mikropolitik-Theorie ,,Ein gesellschaftliches Phänomen wie die moderne Organisation läßt sich ohnehin bestimmen nur in seiner Stellung im gesamtgesellschaftlichen Prozeß, also eigentlich durch eine ausgeführte Theorie der Gesellschaft." (Theodor W. Adornol
2.1 Vorbemerkungen
,,Mikropolitik-Theorie" läßt im Kontext der Argumentation von Günther Ortmann eine doppelte Deutung zu: Der Begriff steht einerseits (wie für MikropolitikTheoretiker aller Provenienz) für Analyse und Nachvollzug von Aktivitäten von Individuen und Gruppen, die eigene (möglicherweise das Organisationsziel objektiv konterkarierende) Interessen und Ziele verfolgen - es geht um die "organisationale Innenpolitik". 2 ,,Mikropolitik-Theorie" steht bei Ortmann aber auch für nicht weniger als den Anspruch, ,,Die Rückkehr der Gesellschaft in die Organisationstheorie,,3 zu betreiben. Insofern stellt diese Deutung nicht einfach eine Weiterentwicklung, sondern gleichsam eine ,,Mutation" des ursprünglichen Ansatzes dar: Es soll nicht lediglich das Innenverhältnis von organisationaler Struktur zu organisationalem Handeln adäquat analysiert, sondern auch die Eigengesetzlichkeit und die strukturbildende Wirkung mikropolitischen Handeins herausgearbeitet werden. 4 1 Adorno, T. W. (1971), ,,Individuum und Organisation (1953)", in: ders. Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, hrsgg. u. eingel. von R. Tiedemann, Frankfurt a.M. 1971, S. 68. 2 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 32. 3 Ortmann, G.lSydow, J.lTürk, K. (Gesellschaft, 1997b), S. 15, Herv. weggl. Was mit ,,Rückkehr der Gesellschaft" bei Ortmann de facto gemeint ist, ist aus diesem einen Zitat (natürlich) nicht ersichtlich. Auf den ersten, oberflächlichen Blick könnte es den Anschein haben, er folge hier der zuvor zitierten (vgl. das Zitat im Vorspann dieses Abschnitts oder Fn. 1) Forderung von Adorno, "Organisation" aus dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß zu erklären. So viel sei an dieser Stelle vorweggenommen: dieser Anschein trügt (vgl. u. a. Abschnitt 2.5, S. 43 ff. dieser Arbeit). 4 Vgl. Ortmann, G.lSydow, J./Türk, K. (Gesellschaft, 1997b), S. 15ff.; vgl. weiter: Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990); Ortmann, G. (Formen, 1995a); ders. (Interaktion, 1995b), S. 251 ff.; ders. (Rekursivität, 1997), S. 23ff.; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 43 ff.; Ortmann, G.I Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S.315ff.
2.1 Vorbemerkungen
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Mit dieser zweiten Deutung von ,,Mikropolitik-Theorie" bzw. ,,Mikropolitik" geht Ortmann nun theoretische "Verpflichtungen" ein, die die Vertreter des ursprünglichen Ansatzes nicht zu tragen haben. Ein erster Punkt dieser "Verpflichtungen" betrifft die Autonomie 5 der einzelnen Akteure: denn, wenn diese (wozu Individuen, aber auch Gruppen und sonstige Subsysteme gehören) mit ihrem Handeln Strukturen nachhaltig beeinflussen sollen, dann brauchen sie offensichtlich einen grundsätzlich anderen Autonomieraum als jenen, der lediglich ein Handeln erlaubt, das " ... außerhalb der Verhaltenszonen [liegt], die durch die formale Organisation vorgeschrieben ( ... ) sind ...... 6 Zum Nachweis der Existenz eines solchen Autonomieraums greift Ortmann u. a. auf die Kategorie der "Kontingenz" zurück. Da dieses systemtheoretische Konstrukt ob seiner "Flexibilität" und Plausibilität für alle möglichen Argumentationsbegründungen (im Kontext der hier geführten Diskussion fast als Synonym für "Freiheit") herangezogen wird, haben wir einige Anmerkungen zu seiner Dignität im Kontext der Mikropolitik-Theorie formuliert. 7 Im Hintergrund der Postulate von Autonomie und Kontingenz steht unabweisbar die Frage nach dem Verhältnis von Handeln und Struktur. Eingedenk des Inhalts dieser Postulate bei Ortmann ist diese Frage freilich nur eine rhetorische: Denn es ist unmittelbar einsichtig, daß Autonomie und Kontingenz, wie er sie ohne Parametrisierung der Systemebenen postuliert, mit einem wie immer gearteten Primat von "Struktur" unvereinbar wären. Die Negierung dieses Primats von Strukturen ist in der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre bekanntlich nicht neu, wie etwa ein Blick in die zieltheoretischen Diskussionen der 60 er und 70 er Jahre zeigt. 8 Daß Ortmann an dieser Diskussion - damals allerdings als entschiedener Vertreter des Primats von Struktur - an hervorragender Stelle beteiligt war, ist ebenfalls bekannt.9 Interessant ist vor diesem Hintergrund der Begründungsansatz seiner jetzigen, "gewendeten" Position. Ortmann bedient sich hierzu zweier Instrumente: Er greift zum einen auf den Kern der Strukturationstheorie von Anthony Giddens 10, nämlich die Grundfigur von der "Dualität von Struktur" zurück. Mit Hilfe dieses Ansatzes behauptet er ein rekursiv-zirkuläres und insofern (zumindest) symmetrisches VerVgl. den anschließenden Abschnitt 2.2. So z. B. eine gängige Definition von Mikropolitik bei Porter, L. W./ Allen, R. W./ Angle, H. L. (1981), "The Politics of Upward Influence in Organizations", in: Cummings, L. L.I Staw, B. M. (Eds.), Research in Organizational Behavior, Vol. 3, Greenwich/Conn. 1981, S. 106, (hier zitiert nach: Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 16). 7 Vgl. die Ausftihrungen im Abschnitt 2.3. 8 Vgl. die eingehenden Ausführungen im Abschnitt 3.4, S. 86ff. dieser Arbeit. 9 Vgl. Abschnitt 3.4, S. 103f. und Abschnitt 3.6, u. a. S. 118 f., 124ff. dieser Arbeit. 10 Vgl. Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992). 5
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
hältnis zwischen Handeln und Struktur,u Diese Behauptung hat für seinen Entwurf von Mikropolitik-Theorie Fundamentalcharakter. 12 Das zweite Instrument der Argumentation hat gewissermaßen eine Vorbereitungsfunktion für die Einführung der These von der "Rekursivität und Dualität von Struktur" und findet sich ebenfalls und nahezu identisch (eben zum Zwecke der Negierung des Primats von Strukturen) in der Argumentation der Zielpluralisten vor 30 Jahren. 13 Wie weiland Johannes Bidlingmaier seine Pluralismusthese mit einer Generalabrechnung mit den "mechanischen Kausalbeziehungen" und "einheitlichen Verfahrensweisen" der Neoklassik einleitete, so bedient sich Ortmann des Schreckgespenstes des Determinismus'. Bei dieser Attacke gegen materialistische Auffassungen wird allerdings der Begriff der Kausalität in u. E. unangemessener Weise verkürzt, worauf wir zum Abschluß dieses Kapitels kurz eingehen. 14
2.2 Autonomie des Individuums
Mikropolitik als Erklärungsansatz thematisiert unweigerlich die Frage, ob erwerbswirtschaftlich verfaßte Unternehmen überhaupt beim Zulassen von mikropolitischen Prozessen (sog. Machtspielen l5 ) "autonom", d. h. frei sind von grundsätzlichen Einschränkungen und Forderungen eines - aufgrund der sozialökonomischen Verfassung, ihrer Funktionsweise und der daraus resultierenden Sachzwänge - unabweisbar zu verfolgenden Ziels. 16 Für die Annahme, daß die Autonomiefrage bei Ortmann grundsätzlich bejaht wird, spricht, daß sie als solche gar nicht erst groß diskutiert wird. 17 An Belegen, daß sie eine tragende Säule der Gesamtargumentation darstellt, mangelt es gleichwohl nicht: 11 Bei der Rezeption bestimmter Passagen der Ortmannschen Argumentation erscheint sogar der Befund als nicht abwegig, daß Ortmann de facto von einem Primat des Handeins gegenüber der Struktur ausgeht (vgl. Abschnitt 2.5, S. 43 ff. und Abschnitt 3.6, S. 11 0 ff. dieser Arbeit). 12 Vgl. die Ausführungen im Abschnitt 2.5. 13 Vgl. Abschnitt 3.4, S. 86 ff. dieser Arbeit. 14 Vgl. die Ausführungen im Abschnitt 2.6. IS Vgl. zur Metapher ,.Machtspiel": Crozier, M./Friedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), u. a. S. 39ff., 56ff.; vgl. weiter: Friedberg, E. (Macht, 1980), S. 123ff.; ders. (1986), ,.Folgen der Informatisierung der Produktion für die Machtquellen unterer und mittlerer Führungskräfte", in: Seltz, R.lMill, U.lHildebrandt, E. (Hrsg.), Organisation als soziales System. Kontrolle und Kommunikationstechnologie in Arbeitsorganisationen, Berlin 1986, S. 143 ff.; ders. (Politologie, 1988), S. 39ff.; ders. (Ordnung und Macht, 1995); Küpper, w./ Ortmann, G. (Handlungssystem, 1986), S. 59Off.; dies. (Handeln, 1988b), S. 7 ff.; Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 13ff.; ders. (Formen, 1995a), S. 32ff.; Ortmann, G.lWindeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), u. a. S. 54ff.; AI-Ani, A. (1993), ,.Machtspiele in Organisationen. Eine Ergänzung marktlicher und hierarchischer Regelsysteme", in: ,,Jm", 43 (1993) 3/4, S. 130ff.; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 43ff. 16 Vgl. hierzu die Abschnitte 2.5, 2.6, 3.5 und das Kapitel 4 dieser Arbeit.
2.2 Autonomie des Individuums
25
"Selbst scharfer ökonomischer Druck ändert ( ... ) nichts an ( ... ) Kontingenz. Und tatsächlich ist sie der logische Ort der Freiheit der Akteure. Die Betonung aber liegt auf ,logisch'. Wie groß die Freiheit praktisch ist, ist wiederum eine empirische Frage". 18
In der mikropolitischen Argumentationsstruktur findet sich eine beinah schon unübersehbare Fülle von Aussagen, die sich unmittelbar auf das bezieht, was in dieser Frage schon zum Ausdruck kommt - die immer auch vorhandene faktische Autonomie der Individuen. Es geht lediglich noch um ihr ,,Maß", nicht weiter darum, ob " ... Kontingenz menschlichen Handeins in Organisationen, auch Wirtschaftsorganisationen - im Sinne seiner Unbestimmtheit und Freiheit ... ,,19 überhaupt ein dem Gegenstand angemessener Ausgangspunkt der Analyse sein kann.
Jede faktische Situation ist demnach gekennzeichnet durch ein Moment von Autonomie, wenn auch "in Grenzen,,20; mögliche Kritik - oder vorsichtiger formuliert - mögliche Skepsis, daß es mit der faktischen Autonomie vielleicht doch nicht so weit her sein könnte, wird im wesentlichen durch drei (sich teilweise überlappende) Argumente 21 schon im Vorfeld auszuräumen versucht: Handeln sei nicht durch Strukturen determiniert; trotz Autonomie sei "nicht alles möglich"; - Autonomie und Zwang seien keine Gegenbegriffe. Als basales Kategorienpaar für die Entfaltung der o. g. Argumente dienen Ortmann die sog. "Kontingenz" bzw. die sog. ,,Rekursion", zwei Begriffe, die im Kontext des mikropolitischen Ansatzes letztlich flir "prinzipielle Autonomie des Han17 Die zieltheoretische Literatur liefert Beispiele dafür, daß die Frage nach der Zielautonomie gelegentlich zwar expressis verbis formuliert wird - gleichwohl in einer Weise, die die (bejahende) Antwort beinhaltet und damit die Frage obsolet macht, vgl. Ulrich, H. (1970), Die Unternehmung als produktives soziales System. Grundlagen der allgemeinen Unternehmungslehre, (I. Aufl., Bern/Stuttgart 1968),2., überarb. Aufl., Bern/Stuttgart 1970, S. 188; vgl. Abschnitt 3.4, S. 101 f. dieser Arbeit. 18 Ortmann, G./ Windeier, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 6, Herv. im Original. Im übrigen ist dieses Zitat ein typisches Beispiel für das, was wir an anderer Stelle (vgl. Abschnitt 2.5, S. 46, Abschnitt 3.3, S. 84 und Abschnitt 3.6, S. 123 f.) ein "Vexierspiel" in der Ortmannschen Argumentation nennen: Kontingenz ist evident und konstituiert die Autonomie der Individuen - aber eben nur als ,,logischer Ort". Ob von dieser Freiheit auch realiter etwas auffindbar ist, ist eben eine andere Frage. Es ist unmittelbar einsichtig, daß der Informationsgehalt einer solchen Aussage mit realwissenschaftlichem Anspruch gleich Null ist. 19 Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 53; vgl. weiter: Ortmann, G. (Formen, 1995a); ders. (Rekursivität, 1997), S. 23ff.; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 61 f.; Ortmann, G.lSydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S.315ff. 20 Vgl. Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 61. 21 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a); vgl. weiter: Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 13ff.; ders. (Handlung, 1988b), S. 217 ff.; ders. (Rekursivität, 1997), S. 23 ff.; Ortmann, G.I WindeIer, A. et al. (Computer und Macht, 1990); Ortmann, G.I Becker, A. (Management, 1995), S. 43 ff.; Ortmann, G./ Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 315 ff.
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
delns" stehen. ,.Letztlich" deshalb, weil Autonomie niemals durch Zwänge ganz eliminiert werden kann, wobei andererseits die Zwänge Ausfluß individuellen Handeins und insofern Ausdruck von Autonomie sind. Angesichts der Tragweite dieses Konstrukts stellt sich natürlich die Frage nach dessen Begründung, die in den weiteren Abschnitten verfolgt wird. Hier geht es darum, deutlich zu machen, daß die Frage, wie und unter welchen Bedingungen sich spezifische sog. Eigengesetzlichkeiten und -dynamiken in erwerbswirtschaftlichen Unternehmen auf der Basis einer "objektiven", in letzter Instanz (und das soll hier heißen: "im Durchschnitt und auf die Dauer',22) nicht hintergehbaren Strukturtotalität entwickeln (können), erst gar nicht explizit gestellt wird. So findet sich z. B. bei Crozier / Friedberg der lapidare Hinweis, daß die "Ausnahme und zu beweisen nicht mehr der Spielraum des Akteurs (ist), sondern das Fehlen dieses Spielraums".23 Autonomie auf Ebene des faktischen Zusammenhangs ist anscheinend kein Problem, sondern unstrittig, quasi apriori vorausgesetzte Grundlage aller weiteren Gedankengänge. Die Angelegenheit gilt als zu offensichtlich, um offengelegt werden zu müssen. Das Postulat des "Spielraums" bzw. der "Autonomie" ist - unbeschadet aller Varianten der Argumentation - quer durch die mikropolitisch inspirierte Literatur allzu allgegenwärtig24, als daß man es durch redundante Zitate en masse belegen 22 Im Kontext dieser Arbeit ist dies ein terminus technicus und steht für bzw. signalisiert den entscheidungslogischen Gehalt des Ätialitätsprinzips, vgl. hierzu Abschnitt 2.6 dieser Arbeit. 23 Crozier, M./Friedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), S. 327, Fn. 159, Herv. weggl. 24 Über die in dieser Arbeit hauptsächlich diskutierten Quellen hinaus, vgl. u. a. auch: Empter, S. (Handeln, 1988); Friedberg, E. (Politologie, 1988), S. 39ff.; ders. (Ordnung und Macht, 1995); Martens, W. (1988), "Organisation, Macht und Kritik", in: KUpper, W.lOrtmann, G. (Hrsg.) (Mikropolitik, 1988a), S. 187ff.; ders. (1989), Entwurf einer Kommunikationstheorie der Unternehmung. Akzeptanz, Geld und Macht in Wirtschaftsorganisationen, Frankfurt a.M./ New York 1989; ders. (1997), "Organisation und gesellschaftliche Teilsysteme", in: Ortmann, G./ Sydow, 1./ Türk, K. (Hrsg.) (Theorien, 1997a), S. 263 ff.; Schulz, H.-J./Windeler, A. (1989), Management und Mikropolitik - Führungsdefizite bei der Einführung von EDV-Systemen, in: Ortmann, G./Windeler, A. (Hrsg.) (1989), Umkämpftes Terrain. Managementperspektiven und Betriebsratspolitik bei der Einführung von EDV-Systemen, Opladen 1989, S. 129ff.; Windeier, A. (1989), "Mikropolitik und Betriebsratsarbeit Ansatzpunkte zur Politisierung von EDV-Einführungen", in: Ortmann, G./Windeler, A. (Hrsg.) (Umkämpftes Terrain, 1989), S. 248ff.; Neuberger, O. (Spiele, 1988), S. 53ff.; ders. (Mikropolitik, 1995); Pelzer, P. (1995), Der Prozeß der Organisation. Zur postmodernen Ästhetik der Organisation und ihrer Rationalität, Chur 1995; Birke, M./Burschel, C./ Schwarz, M. (Hrsg.) (Handbuch, 1997); Windeier, A. (1997), Die Konstitution von Untemehmungsnetzwerken. Ein strukturationstheoretischer Netzwerkansatz, Erlangen 1997. Für eine weitere Literaturauswahl, vgl. Ortmann, G./Sydow, I./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 342 f.
2.2 Autonomie des Individuums
27
müßte. Wichtiger erscheint uns an dieser Stelle, zwei Standardelemente der Argumentation mit der Kategorie der "Kontingenz" hervorzuheben: Zunächst wird der Begriff der Kontingenz definitionslogisch bestimmt: "Kontingent im radikalen Sinn des Wortes, das heißt, zugleich abhängig von einem Kontext, von den darin vorhandenen Gelegenheiten und den von ihm auferlegten (materiellen und menschlichen) Zwängen, und unbestimmt, folglich frei".2s
Sodann wird die so definierte Kontingenz umstandslos als positives Faktum ausgegeben, u. zw. derart, daß Handeln auch ". .. immer Ausdruck und Verwirklichung einer wenn auch noch so geringen Freiheit ... ,,26 ist.
Mit dem Adverb "immer" liegt schon fest, daß nicht historische Situationen, d. h. gerade nicht gesellschaftlich-sozialökonomische Zusammenhänge den Ausgangspunkt bestimmen: Kontingenz im Sinne auch von Autonomie ist gegeben in allen Gesellschaftsformationen, Situationen, Kontexten. 27 Dies aber ist der entscheidende Ansatzpunkt der in dieser Arbeit vorgetragenen Kritik: Es soll keinesfalls der Gedanke selbst in Abrede gestellt werden, daß mikropolitische Prozesse in erwerbs wirtschaftlichen Unternehmungen stattfinden und d. h. Individuen auch ihre eigenen Ziele und Interessen verfolgen. Unsere Kritik wendet sich vielmehr gegen die relativistische Sichtweise jener Interpretation des Ansatzes, die in den besagten mikropolitischen Prozessen die Ursubstanz allen betrieblichen und in letzter Konsequenz gesellschaftlichen Geschehens resp. Strukturen sieht. In aller Deutlichkeit findet sich diese Sichtweise bei Ortmann, der in Abwendung von seinem bewußt überzeichneten, gleichwohl den Grundsachverhalt durchaus treffend wiedergebenden Bild von der "Galeere,,28 jetzt Autonomie zu einem bestimmenden Element des realen Geschehens bzw. Kontingenz zum entscheidenden Instrument der theoretischen Analyse erhebt. Nicht mehr "Galeere" (Zwang), sondern "Kontingenz" (im Sinne von Autonomie) heißt das Losungswort: Es " ... eröffnet ( ... ) den Raum zur Mikropolitik" .29 2S Crozier, M./Friedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), S. 313, Fn. 37, Herv. weggi.; vgl. weiter: Friedberg, E. (Politologie, 1988), S. 39 ff.; ders. (Ordnung und Macht, 1995); Küpper, W./Ortmann, G. (Handeln, 1988b), S. 8; Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 20; Ortmann, G.lWindeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 56; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 61. 26 Crozier, M.lFriedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), S. 27; vgl. weiter: Friedberg, E. (Politologie, 1988), S. 39ff.; ders. (Ordnung und Macht, 1995), Küpper, W.lOrtmann, G. (Handeln, 1988b), S. 8; Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 20; Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 56; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S.61. 27 Vgl. hierzu Abschnitt 2.4 dieser Arbeit. 28 Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976), S. 44.
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Daraus folgt nun allerdings nicht, so sein weiteres - und bereits im obigen Zitat von Crozier I Friedberg enthaltenes - Argument, daß Kontingenz im Sinne autonomen (mikropolitischen) HandeIns ... .. ohne Rekurs auf strukturelle Bedingungen ( ... ) thematisiert werden müßte oder könnte, im Gegenteil: Mikropolitik besteht geradezu aus der strategischen Bezugnahme von Akteuren auf soziale Strukturen - Regeln und Ressourcen -, die mikropolitisches Handeln restringieren und ermöglichen, und die auf diese Weise produziert, reproduziert und unter Umständen verändert werden".3O
Handeln ist also kontingent, und das heißt autonom und zugleich restringiert durch Strukturen. Umgekehrt: Handeln produziert und verändert Strukturen. Diese These beansprucht zweifelsohne eine nicht unerhebliche Plausibilität. Die Frage ist nur, worauf diese Plausibilität beruht und damit, ob die Plausibilität die Substanz einer Begründung beanspruchen kann. Der Frage nach der Begründung der These wird in den weiteren Abschnitten der Arbeit nachgegangen. An dieser Stelle sei lediglich darauf hingewiesen, daß die Plausibilität der Kontingenz-I Rekursivitäts-Argumentationsfigur sich aus drei Momenten bzw. Quellen speist: - der Begriff der "Struktur" wird unsubstantiiert, ja beliebig eingeführt, insbesondere was den systemischen Rang der jeweils betrachteten Teilstrukturen innerhalb des Gesamtsystems betrifft;31 - durch die Gleichsetzung von "Kausalität" und ,,Determination" wird Kausalität als Erklärungsinstanz für die hier betrachteten Prozesse kurzerhand suspendiert32: wenn etwa Ortmann postuliert, daß ein "... (Kausalitätsbegriff) nicht ernsthaft unproblematisch verfügbarO,,33 ist. Folgerichtig wird denn auch die Frage nach einem "Ur-Grund,,34 obsolet gemacht. Auf diese Weise wird z. B. das Gewinnziel als Ausgangspunkt einer Erklärung sozialökonomischer Sachverhalte als ,,Markt-, Profit- oder Effizienzdeterminismus,,35 denunziert und abgefertigt: ,,Das erwerbswirtschaftliche Prinzip ist ein Prinzip, das als solches, als Ur-Grund, nicht in Betracht kommt ... ,,;36 29 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 182; vgl. weiter: Küpper, W./Ortmann, G. (Handeln, 1988b), S. 7ff. 30 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 182. 31 Vg1. Abschnitt 2.5 dieser Arbeit. 32 Auf diesen Punkt wird ausführlich im Abschnitt 2.6 dieser Arbeit eingegangen. 33 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 180; vg1. weiter: Ortmann, G. (1990), ,,Mikropolitik und systemische Kontrolle", in: Bergstermann, J.lBrandherm-Böhmker, R. (Hrsg.), Rationalisierung als sozialer Prozeß. Rahmenbedingungen und Verlauf eines neuen betriebsübergreifenden Rationalisierungstyps, Bonn 1990, S. 99ff. 34 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. l04f., 108, 122. 35 Ortmann, G./Windeler, A. et a1. (Computer und Macht, 1990), S. 40. 36 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 122.
2.3 Anmerkungen zum Begriff der ..Kontingenz"
29
legitimiert wird schließlich der Strukturationsansatz durch "eine wachsende Zahl von Autoren und Arbeiten", die sich seiner bedienen und seine Plausibilität expressis verbis als Argument ins Feld geführt: Die breite Akzeptanz dieses Ansatzes habe nahegelegen, ..... weil die drei hier als zentral herausgestellten Konzepte Giddens': Reflexivität. Strukturation und Rekursivität. im Begriff der Organisation auf zwanglose und einleuchtende Weise zusammentreffen ...... 37 Vor diesem Hintergrund ist es im Rahmen dieser Arbeit notwendig, Klarheit über den von Ortmann in Anschlag gebrachten Begriff der "Kontingenz" und des Theorems der ,.Rekursivität und Dualität von Struktur" zu schaffen.
2.3 Einige Anmerkungen zum Begriff der "Kontingenz" - einem Grundsachverhalt der mikropolitisch inspirierten Argumentationsstruktur ..Der Begriff (Kontingenz - W.S.) wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit." (Niklas Luhmann)38 Im Rahmen des Abschnitts 2.2 ist angedeutet geworden, daß (unbeschadet der "Wahrheitsfrage", sprich: der Realitätsentsprechung) eine schlüssige Behauptung der These von der Autonomie des Individuums nicht ohne weitere begriffliche Konstrukte möglich ist. Eine solche Konstruktion mit tragendem Charakter ist die ,,Idee der Kontingenz".39 Zum Begriffsursprung werden in der Literatur verschiedene Quellen angegeben, die weit zurückreichen. 40 Expressis verbis (wenn auch Ortmann. G./Sydow. J./Windeler. A. (Strukturation. 1997). S. 322. Luhmann. N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1984).4. Aufl .• Frankfurt a.M. 1993. S. 152. vgl. S. 148 ff.; vgl. weiter: Luhmann. N. (1992). Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992. u. a. S. 92 f. •,In der Logik bedeutet Kontingenz gleichzeitigen Ausschluß von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Der Begriff der Kontingenz bestimmt ein Datum mit Bezug auf die möglichen Alternativen: er bezeichnet den Sachverhalt. daß das. was aktuell (also nicht unmöglich) ist. auch anders möglich (also nicht notwendig) ist" (Baraldi. C. (1998), ..Doppelte Kontingenz". in: Baraldi. C./ Corsi. G./ Esposito. E.: GLU - Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. (I. Aufl .• Frankfurt a.M. 1997). 2. Aufl .• Frankfurt a.M. 1998. S. 37); vgl. weiter: Krause. D. (I 996a) ...Kontingenz". in: ders .• Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann ...... Stuttgart 1996. S. 122f. 39 Vgl. Ortmann, G. (Formen. 1995a). S. 265. Ortrnann führt aus. daß es ..... immer ( ... ) um kontingente Entscheidungen" (Ortmann. G. (Formen. 1995a). S. 188) geht und ..... im-· mer die Offenheit des So-und-auch-anders-möglich-Seins erst geschlossen (wird) auf den Wegen der Mikropolitik" (ebenda. S. 188. vgl. auch: S. 15. 19ff.• 174. 184f.• 208f.); vgl. weiter: Ortmann. G./Windeler. A. et al. (Computer und Macht. 1990). S. 499ff.; Ortmann. G.lBecker. A. (Management. 1995). S. 61 ff. 40 Die logisch-ontologische Bestimmung des Begriffs .. Kontingenz" geht wohl auf Aristoteles zurück. Begriffsgeschichtlich gesehen ist die alte Formel ..wie es sich gerade so ergibt" 37
38
30
2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
nicht im Kontext der Mikropolitik-Theorie) findet sich der Begriff ebenso bei Talcott Parsons41 wie bei Niklas Luhmann: ,,Dieses ,auch anders möglich sein' bezeichnen wir mit dem traditionsreichen Terminus Kontingenz. Er gibt zugleich den Hinweis auf die Möglichkeit des Verfehlens der günstigsten Formung".42
Im Kontext der Mikropolitik-Diskussion taucht das Konstrukt bei Crozier / Friedberg auf, worauf unter Abschnitt 2.2 hingewiesen wurde.43 Repräsentativ für die Adaption der Kategorie in die Theorie Ortmanns (und zugleich für die tragende Funktion, die sie darin hat) mögen an dieser Stelle zwei Zitate sein: "Kontingenz heißt das Losungswort. Daß vieles auch anders möglich und nichts determiniert ist, weder durch den Markt noch durch die Technologie noch durch eine wie auch immer sonst definierte Umwelt, eröffnet die Freiheit zur Mikropolitik".44 Kontingenz also bedeutet: "... ,Auch-anders-möglich-sein', weder notwendig noch unmöglich".4s Einige Aspekte des Kontingenzbegriffs verdienen im Kontext der AutonomieThese besondere Aufmerksamkeit. Individuen (dies folgt aus dem Begriff der Kontingenz) erfahren ihre Umwelt als kontingent und damit zugleich als komplex:
von Thomas von Aquin als "contingere" latinisiert worden (vgl. Bubner, R. (1984), Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1984, S. 35 ff.); vgl. weiter: Luhmann, N. (Systeme, 1984), S. 152. 41 Vgl. Parsons, T. (1937), The Structure of Social Action, (I. Aufl., New York/London 1937),3. Aufl., New York 1968; ders. (1951), The Social System, (I. Aufl., London 1951), Neuausgabe London 1991; ders. (1964), Beiträge zur soziologischen Theorie, hrsgg. u. eingel. von D. Rüschemeyer, (I. Aufl., Neuwied/Berlin 1964),2. Aufl., Neuwied/Berlin 1%8; ders. (1967), Sociological Theory and Modern Society, New York 1%7; ders. (1%8), Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt a.M. 1968; ders. (1976), Zur Theorie sozialer Systeme, hrsgg. u. eingel. von S. Jensen, Opladen 1976; ders. (1980), Zur Theorie sozialer Interaktionsmedien, hrsgg. u. eingel. von S. Jensen, Opladen 1980. 42 Luhmann, N. (Systeme, 1984), S. 47; vgl. weiter: Luhmann, N. (1970), Soziologische Aufklärung I. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, (I. Aufl., Opladen 1970), 6. Aufl., Opladen 1991, S. 1l3ff.; ders. (1975), Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, (I. Aufl., Opladen 1975),4. Aufl., Opladen 1991, S. 21 ff.; ders. (1980, Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, (I. Aufl., Opladen 1981),2. Aufl., Opladen 1991, S. II ff., 335ff.; ders. (1988), "Organisation", in: Küpper, W./Ortmann, G. (Hrsg.) (Mikropolitik, 1988a), S. 165ff.; ders. (1995), Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995. 43 Vgl. Abschnitt 2.2, S. 26 f. dieser Arbeit. 44 Küpper, W./Ortmann, G. (Handeln, 1988b), S. 8. 45 Ortmann, G./Becker, A. (Management. 1995), S. 61.
2.3 Anmerkungen zum Begriff der "Kontingenz"
31
,,Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen" .46
Will man sich nicht allein mit der Plausibilität dieser These begnügen, so sind eine Reihe von Differenzierungen bzw. Problematisierungen unumgänglich. Zunächst bedarf der unscharfe Begriff der "Umwelt" der Konkretisierung und Differenzierung. Wenn hier Kontingenz im übergeordneten Zusammenhang von (Handlungs-)Autonomie diskutiert wird47 , dann ist es angemessen, wenn nicht gar zwingend, diese Differenzierung aus"entscheidungslogischer Sicht vorzunehmen. 48 Im Duktus des Grundmodells der rationalen Entscheidung stellt sich die o. g. "Umwelt" dem Individuum (Akteur) als dessen Entscheidungs/eid dar. Dieses umfaßt alle Tatbestände (Daten), von denen die Konsequenzen der Handlungen des Individuums (und dies sind zugleich die Realisierungen seiner Ziele) abhängen. Die Gesamtheit dieser Daten des Entscheidungsfeldes liegt unmittelbar vor der Entscheidung für den Akteur fest und ist insofern von diesem nicht mehr beeinflußbar. Gleichwohl ist zwischen zwei Klassen dieser Daten und dementsprechend zwischen zwei Teilräumen des Entscheidungsfeldes zu unterscheiden: Jene Daten des Entscheidungsfeldes, aus denen sich die Handlungsalternativen des Akteurs konstituieren, definieren den sog. Aktionsraum (Menge der Handlungsalternativen). Alle übrigen Daten des Entscheidungsfeldes, die nicht zum Aktionsraum gehören, aber zusammen mit den Handlungsalternativen die Handlungskonsequenzen insgesamt determinieren, die sog. Umweltdaten, sind im sog. Zustandsraum zusammengefaßt. 49 Der Unterscheid zwischen Aktionsraum und Zustandsraum liegt aus der Sicht des Akteurs in deren Disponibilität: Der Akteur kann innerhalb seines (gegebenen) Aktionsraums unter den Alternativen auswählen, wogegen er den nach seiner Wahl eintretenden Umweltzustand nicht beeinflussen kann. 5o 46 Luhmann, N. (Systeme, 1984), S. 152; vgl. auch: Ortrnann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 432, 454, 505; Ortrnann, G. (Formen, 1995a), S. 210, 353, 364. 47 Vgl. Abschnitt 2.2, S. 24ff. dieser Arbeit. 48 Beim Rückgriff auf Kategorien des Grundmodells der rationalen Entscheidung habe ich an dieser Stelle der Arbeit auf meine Vorlesungsmitschriften, vereinzelt auch auf Arbeitspapiere der Vorlesungen über •.Entscheidungstheorie 1/11" von Apostolos Kutsupis im WS 1990/91 und SS 1991 an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg zurückgegriffen. Soweit dies auch an anderen SteHen der FaH ist, wird dies mit dem kurzen Hinweis "vgl. auch Vorlesungsmitschrift Entscheidungstheorie" kenntlich gemacht. 49 Zu den in diesem Zusammenhang relevanten Kategorien "Umweltdaten", "UmweItzustände"•• .zustandsraum" sei auf folgendes hingewiesen: Die Menge der für ein Entschei-. dungsproblem relevanten Umweltdaten ist zwar pragmatisch auf eine bestimmte Anzahl einzugrenzen. doch sind mehrere KonsteHationen dieser Umweltdaten denkbar. Jede dieser KonsteHationen konstituiert einen sog. Umweltzustand. Die Gesamtheit a11er denkbaren Umweltzustände ist der sog. Zustandsraum. so Insofern sind die in der Literatur vielfach verwendeten Termini "beeinflußbarer Teil des Entscheidungsfeldes" (für den Aktionsraum) bzw. "unbeeinflußbarer Teil des Entscheidungs-
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Wie hat man nun vor diesem Hintergrund den Kerninhalt der Kontingenzthese ("Individuen erfahren ihre Umwelt als kontingent und damit zugleich als komplex") formal-strukturell zu interpretieren? Das Individuum erfährt seine "Umwelt" zunächst und insbesondere in Form eines Gestaltungsspielraumes, d. h. in Gestalt eines Aktionsraumes. Für diesen gilt aber (etwa im Sinne von Helmut Willke 51 ), daß seine Kontingenz sich materiell deckt mit seiner Komplexität, d. h.: Die Anzahl der wahrgenommenen Handlungsalternativen ("Komplexität") definiert für den Akteur die Gestaltbarkeit der Umwelt ("Kontingenz"). Entscheidungslogisch bedeutet dies, daß die Wahrnehmung von Kontingenz gleichbedeutend ist mit der Wahrnehmung eines Aktionsraumes mit mindestens zwei (durchsetzbaren?) Handlungsalternativen - womit wir mikropolitisch direkt beim Begriff der Autonomie landen. Da nun aber das mit Handlungsalternativen ausgestattete Individuum sich für diese nur im Hinblick auf deren Konsequenzen bzgl. seiner Ziele interessiert und diese Handlungskonsequenzen wiederum auch von den sog. Umweltdaten abhängen, stellt sich die Frage nach Kontingenz und Komplexität des zweiten Teils der "Umwelt", und das ist der Zustandsraum. Willke formuliert hier den Zusammenhang genau reziprok zur Konstellation innerhalb des Aktionsraums: Die Komplexität des Zustandsraums ist Folge der Kontingenz (Vielfalt) der für denkbar gehaltenen Umweltzustände52 und er begründet dies wie folgt: ,,Die Vielfalt möglicher Umweltereignisse dagegen, die auf kontingenten Handlungsmöglichkeiten von individuellen und kollektiven Akteuren in der Umwelt beruht, erscheint in der Sicht des fokalen Systems (des Akteurs - W.S.) als Komplexität seiner Umwelt ...... 53 feldes" (Zustandsraum) irreführend: Aktionsraum und Zustandsraum sind unmittelbar vor der Entscheidung gleichermaßen nicht mehr zu beeinflussen. Unter den Alternativen aber kann der Akteur auswählen - unter den Umweltzuständen nicht (vgl. auch Vorlesungsmitschrift ,,Entscheidungstheorie" im WS 1990/91 und SS 1991). SI "Eine einzelne Entscheidung läßt sich sowohl unter dem Aspekt der Komplexität als auch dem der Kontingenz behandeln. Entscheidend ist, welchen Bezugspunkt innerhalb einer System-Umwelt-Beziehung man zugrundelegt. Geht man vom System aus, so kennzeichnet gerade die Vielfalt möglicher Entscheidungen dessen Kontingenzspielraum. Die Vielfalt möglicher Umweltereignisse dagegen, die auf kontingenten Handlungsmöglichkeiten von individuellen und kollektiven Akteuren in der Umwelt beruht, erscheint in der Sicht des fokalen Systems als Komplexität seiner Umwelt .. (Willke, H. (1996), Systemtheorie I: Grundlagen. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, (1. Aufl. u.d.T. "Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme", Stuttgart/New York 1982), 5., überarb. Aufl., Stuttgart 1996, S. 31). S2 . Dies gilt natürlich für den allgemeinen Fall von Entscheidungen bei mehrwertigen Erwartungen. "Komplexität" bei Willke bezieht sich offenbar auf die Anzahl der Umweltzustände ("Umweltereignisse"), die eintreten können, wogegen die Anzahl der Datenparameter pro Umweltzustand kein Konstitutionsmerkmal von Komplexität ist. 53 Willke, H. (Systemtheorie, 1996), S. 31; vgl. auch: Fn. 52 dieses Abschnitts 2.3 der Arbeit. So wenig gegen diese Interpretation Willkes strukturell-formal einzuwenden ist, mate-
2.3 Anmerkungen zum Begriff der ..Kontingenz"
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Wie schon ausgeführt, formuliert die Kontingenzthese auf der Grundlage der zuvor diskutierten begrifflichen Strukturen (,,Individuum", "Umwelt", "Komplexität", "Kontingenz") ein deskriptives Seinsurteil, das der empirischen Überprüfung selbst grundsätzlich zugänglich sein muß. Es stellt sich also die Frage: Welchen Realitätsgehalt hat die (apodiktische) Behauptung, ,,Individuen erfahren ihre Umwelt als kontingent"? Es ist unmittelbar einsichtig, daß ohne jede Spezifizierung des Bezugssystems "Umwelt", u. zw. nach seinem Systemrang, diese Frage beliebig beantwortbar, d. h. das entsprechende o. g. Seinsurteil nicht falsifizierbar ist. Es sei gestattet, die hier vertretene Auffassung anhand von Bildern aus dem uns unmittelbar vertrauten Subsystem "Universität" zu illustrieren: Natürlich erfährt jeder Hochschulleiter (zumal in Zeiten sog. Hochschulautononie) seine Umwelt als kontingent und dementsprechend gestaltbar - wenn deren Grenzen als die Mauem seiner Institution definiert sind. In diesen Grenzen kann er über die ,,Identität" seiner Institution nachdenken, ja diese sogar (um)gestalten wenn es sich etwa um die "Corporate Identity" handelt. S4 Betrachtet man hingegen das Hochschulsystem der Bundesrepublik insgesamt, so ist die (scheinbar über Nacht entstandene) Bewußtseinslage der rund 250 Hochschulleiter von atemberaubender Uniformität: kein einziger, der (Profilbildung hin oder her) seine Universität nicht als "Standortfaktor für die Region", "Dienstleistungsbetrieb" oder "Studierende als Kunden" usw. auffassen würde. Schon vor diesem Systemhorizont schrumpft der "Horizont möglicher Abwandlungen"SS offensichtlich auf Null - von einer als kontingent erfahrenen Umwelt kann nicht die Rede sein. Um auf die Ursprungs frage zurückzukehren: Der Realitätsgehalt der These ,,Individuen erfahren ihre Umwelt als kontingent" schwindet in dem Maße, in dem der Systemrang des Bezugssystems "Umwelt" über - gesamtgesellschaftlich gesehen - Marginales hinausgeht. Positiv gewendet: Noch nie wurden die wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen, Probleme I Problemlösungen, Fragen I Antworten, vom weit überwiegenden Teil der gesellschaftlichen Akteure als so ,,konstant", .. unabänderlich", "alternativlos", "unausweichlich" (mehrfach auch: als rieH ist sie selbst interpretationsbedürftig, nämlich bei der Frage, wer oder was den Zustandsraum repräsentiert. Aus der Sicht dieser Arbeit muß man unter dem ..kollektiven Akteur" auch und gerade soziale Systeme bzw. Gesellschaftsfonnationen verstehen. Jede andere individualisierende Interpretation würde u. E. eine dem Sachverhalt unangemessene Verkürzung darstellen. 54 Dies ist keineswegs ein virtuelles Bild zu demagogischen Zwecken: Landesweit beschäftigen sich zur Zeit die Hochschulen mit der Gestaltung ihrer Corporate Identity und es laufen zu diesem Thema regelrechte Projekte unter Beteiligung professioneller externer Berater (wie z. B. das mittlerweile omnipräsente ..Centrum für Hochschulentwicklung" (CHE», in welchem Rahmen nicht zuletzt ..Probleme" wie die Gestaltung von Internetseiten, Werbebroschüren, Briefköpfen und Visitenkarten ausführlich thematisiert werden. 55 Luhmann, N. (Systeme, 1984), S. 152. 3 Stapel
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
,.natürlich") heute. 56
mit einem Wort, als so wenig kontingent wahrgenommen wie
Unbeschadet der Stichhaltigkeit der These, daß gesellschaftliche Akteure ihre Umwelt als kontingent erfahren, sollte an dieser Stelle auch explizit darauf hingewiesen werden, daß die zuvor formulierten kritischen Einwände sich insofern· immanent im Rahmen des Kontingenztheorems bewegen, als sie die Bezugsebene der Wahrnehmung nicht verlassen. Der zuvor mehrmals sinngemäß zitierte und anschließend kritisierte Kontingenzbegriff bezieht sich zwar auf ..Gegebenes", aber im Sinne von ..Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes" .57 Im Hinblick auf die Autonomiethese (worauf die Kontingenzthese letztlich zielt) bedeutet dies aber weiter, daß selbst die Wahrnehmung der Umwelt als kontingent (was wir in unserer Kritik für einen Teil der gesellschaftlichen Akteure nicht ausgeschlossen haben) keineswegs Autonomie des Handeins selbst konstituiert. Denn gedachte oder phantasierte Alternativen sind nicht auch schon umsetzbar. s8 Die erhebliche Kompromittierung der Kontingenzthese in ihrem Totalitätsanspruch vor dem Hintergrund der realen gesellschaftlichen Strukturen ist für Ortmann kein Problem.59 Denn die These wird nicht nur recht apodiktisch postuliert, sie ist auch in ihrer inhaltlichen Struktur aprioristisch und damit folgen aus ihr - wie noch auszuführen sein wird - unübersehbar ahistorische Momente. 60
Vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. Vgl. Luhmann, N. (Systeme, 1984), S. 152. S8 Im Zusammenhang mit der entscheidungstheoretischen Interpretation der Kontingenzthese (vgl. S. 30f. dieses Abschnitts 2.3 der Arbeit) sei darauf hingewiesen, daß bei manchen Darstellungen des Grundmodells der rationalen Entscheidung die Durchsetzbarkeit aller in den Aktionsraum aufgenommenen Alternativen apriori vorausgesetzt wird, bei anderen nicht. Im Zusammenhang mit einem Autonomiebegriff als ,.Autonomie des Gestaltens" ist es im Endeffekt unerheblich, ob gesellschaftliche Alternativen als Elemente eines kontingenten Aktionsraums gar nicht auftauchen, weil sie als nicht durchsetzbar erkannt wurden, oder ob sie in den Aktionsraum aufgenommen wurden, um dann als nicht durchsetzbar verworfen zu werden. S9 Ortmann et al. präsentieren ihre hier diskutierten theoretischen Thesen u. a. im Rahmen von ..Computer und Macht", einer Schrift, die zugleich den Bericht über ein industriesoziologisches Projekt darstellt. Gleichwohl sind diese theoretischen Partien von jenem empirischen Teil des Buches zweifach abgekoppelt: Zum einen (und dies scheint uns im Zusammenhang mit der hier formulierten Kritik der wesentliche Punkt zu sein) durch den prinzipiell unterschiedlichen strukturellen Rang (und damit zugleich: Relevanzanspruch) der theoretischen Postulate (hier: Kontingenzthese) und der untersuchten Ausschnitte (empirischen Fälle) der Realität. Letztere bewegen sich (gemessen an der beanspruchten gesellschaftlichen Reichweite der formulierten Theorie) u. E. eindeutig im Bereich des gesamtgesellschaftlich Marginalen. Zum anderen (und dies scheint uns nicht zufällig zu sein) nehmen die Verfasser bei der Darlegung ihrer theoretischen Thesen kaum Bezug auf jene empirischen ,,Fälle"; vgl. auch: Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 326f. 60 Dies ist schon in Abschnitt 2.2, S. 27 dieser Arbeit angedeutet worden. 56
S7
2.4 Zur Ahistorizität kontingenztheoretischer Konstruktionen
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2.4 Zur Ahistorizität kontingenztheoretischer Konstruktionen ,,Entgegen der weitverbreiteten Neigung, eilfertig auf psychologische oder anthropologische ,Konstanten' und unwandelbare ,Gesetze' zurückzugreifen, wird sich die wissenschaftliche Deutung gesellschaftlicher Sachverhalte streng an den Grundsatz zu halten haben, Soziales durch Soziales zu erklären. Falsch ist daher die anthropologische Verallgemeinerung eines speziellen wirtschaftlichen Verhaltens, falsch ist die Rückbeziehung von durchaus unserer Epoche zugehörenden Erscheinungen wie Kapital und Kapitalbildung auf eine imaginäre Urzeit, falsch sind alle Robinsonaden." (Wemer Hojmann)61
Daß kontingenztheoretische Konstruktionen mit ahistorischen Bestimmungsmomenten durchsetzt sind, darauf hat interessanterweise Ortmann selbst (wenn auch kursorisch und indirekt) im Rahmen seiner Kritik an Talcott Parsons' Ansatz zum ,,Hobbesian Problem of Order,,62 hingewiesen. 63 Daß diese Kritik nun ihn selbst trifft, soll im weiteren kurz dargelegt werden. Mit "ahistorisch" wird hier und im folgenden eine Betrachtungsweise bezeichnet, bei der sozialökonomische Sachverhalte, die sich unter bestimmten historischen Bedingungen konstituiert und entfaltet haben, als "immer-schon-da-gewesen" betrachtet bzw. dargestellt werden. 64 Hofmann, W. (Wirtschaftsgesellschaft, 1969a), S. 20, Herv. im Original. Das "Hobbesian problem of order", d. h. die Frage danach, "wie soziale Ordnung möglich ist", stellt die eigentliche Grundfrage des "Theorems der doppelten Kontingenz" dar; enthalten ist die als universell gültig angenommene These, daß (gesellschaftliche) Ordnung prinzipiell problematisch sei. Ortmann führt aus, daß es ihm dabei um die "Neuformulierung des klassischen soziologischen ,Problems sozialer Ordnung'" (Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 56f., Fn. 17) geht; er bezieht sich hier unmittelbar auf Anthony Giddens und Niklas Luhmann. Auf diesbezügliche Einlassungen von Ortmann zum "Theorem der doppelten Kontingenz" und seinen Folgerungen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden, vgl. bei Ortmann selbst: Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S. 36, 86f., 89f., 97,303,306, 329f., 356f., 396, 434, 448; vgl. weiter: Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 78 f.; Ortmann, G.I Sydow, J./ WindeIer, A. (Strukturation, 1997), S.336ff. 63 Vgl. Ortmann, G. (Untemehmungsziele, 1976), S. 97ff. 64 Einige Argumente und Ausflihrungen zur ahistorischen Betrachtungsweise gehen zurück auf Diskussionen im Rahmen der Vorlesungen über ,,Allgemeine Betriebswirtschaftslehre" von Apostolos Kutsupis im WS 1989/90, SS 1990 und WS 1990/91 an der Carl-vonOssietzky-Universität Oldenburg. Soweit dies auch an anderen Stellen der Fall ist, wird dies mit dem kurzen Hinweis "vgl. auch Vorlesungsmitschrift Allgemeine Betriebswirtschaftslehre" kenntlich gemacht. Vgl. weiter: Heiligenstadt, L.... /Ortmann, G. et al. (1973), ,,Einzelwirtschaftliche Grundbegriffe und -beziehungen. Zur Kritik der Betriebswirtschaftslehre. Teil I: Die Produktion", 61
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Der inhaltlichen Struktur nach besteht die ahistorische Methode in einer spezifischen Abstraktion, deren Ergebnis Aussagen sind mit "einem ,wahren Kern' und einer ,falschen Hälfte', die eben in dem besteht, was durch die Abstraktion ausgeblendet wurde".65 Der wahre Kern ist der naturgegebene Inhalt des betrachteten sozialökonomischen Sachverhalts, auf welchen ahistorische Analysen ausschließlich abstellen. Die ahistorische Betrachtungsweise besteht nun darin, daß allein auf den naturgegebenen Inhalt abgestellt und damit zugleich von der zweiten "Hälfte" sozialökonomischer Sachverhalte abstrahiert wird, nämlich von deren gesellschaftlicher Form und damit von den Formunterschieden entlang des historischen Prozesses. Exemplarisch findet sich dieses methodische Muster in der Darstellung des Sachverhalts ,,Produktion" in der herrschenden ökonomischen Theorie: Stets wird bei der Darlegung dieses Sachverhalts auf die technischen Voraussetzungen von Produktion (etwa in Form der sog. Produktionsfaktoren) abgestellt und zugleich von den gesellschaftlichen Formen bzw. Formunterschieden desselbigen abstrahiert. Die ideologische Wirkung dieserart Analyse ist in der Tat durchschlagend: Sozialökonomische Sachverhalte, die einer bestimmten (in aller Regel: unserer) Gesellschaftsformation zugehören, werden als "immer-schon-da-gewesen", somit als natürlich ausgewiesen und damit gegen Veränderungsgedanken auf der Bewußtseinsebene vortrefflich immunisiert. Darauf, daß das ahistorische Grundmuster uns in vielfältigen Formen begegnet, sei an dieser Stelle nur hingewiesen. 66 Daß die kontingenztheoretischen Einlassungen bei Ortmann eine unübersehbar ahistorische Dimension aufweisen, sollen die folgenden Hinweise ins Bewußtsein rücken. Von ausgesprochen dankenswerter Plastizität ist das von Ortmann selbst verwendete Grundmuster von ,,Ego und Alter"67: Wenn er in diesem Zusammenhang in: ,,mehrwert - Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie", (1. Aufl., Erlangen 1973), Heft 3, 2., gekürzte Aufl., Berlin 1976, S. 28 ff. 6!i Vgl. Vorlesungsmitschrift ,.Allgemeine Betriebswirtschaftslehre" im WS 1989/90. 156 V gl. unter Trivialitäts-, Ideologie- und Instrumentalismuseffekt, Heiligenstadt, L . ... 1 Ortmann, G. et al. (Kritik, 1973), S. 28 ff., 33 ff., 208 ff. 67 Zum Rückgriff Ortmanns (unter Anlehnung an Giddens und z.T. Luhmann) auf das ,,Ego I Alter"-Grundrnuster und damit auf das Theorem von der "doppelten Kontingenz" wie der damit einhergehenden Probleme, vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S. 36f., 86, 303,306, 329f., 356,434,448; vgl. weiter: Ortmann, G.lWindeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 53; Ortmann, G. (Interaktion, 1995b), S. 251 ff.; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 78f.; Ortmann, G.ISydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S.339. Im systemtheoretischen Sprachgebrauch ist mit dem ,,Ego I Alter"-Grundmuster das Theorem von der "doppelten Kontingenz" bezeichnet: - ,,Der Begriff der doppelten Kontingenz (oder sozialen Kontingenz), der aus der Theorie Ta1cott Parsons' stammt, bezeichnet die Tatsache, daß sowohl Ego als auch Alter ihre
2.4 Zur Ahistorizität kontingenztheoretischer Konstruktionen
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seine Vorstellungen mit Hilfe des Figurenpaarsynonyms "Herr und Knecht" illustriert, so drängt er uns geradezu das andere Figurenpaar von ,.Robinson und Freitag" als Paradebeispiel für die ahistorische Betrachtung auf. So wenig sich die Wirtschaftsgesellschaft auf Robinsonaden zurückführen läßt, so wenig läßt sich ..Gesellschaft" als Aggregation unzähliger Interaktionen verstehen, und daran kann auch die Hilfskonstruktion der Emergenz68 nichts ändern. Selektionen wechselseitig als kontingent beobachten" (Baraldi, C. (Doppelte Kontingenz, 1998), S. 37); - ,,Doppelte Kontingenz, setzt einerseits ( ... ) psychische Systeme je eigener ( ... ) Selektivität ihres ( ... ) Erlebens und ( ... ) HandeIns und andererseits die selbstreferentielle Beteiligung der psychischen Systeme an der Konstitution eines von ihnen unterschiedenen ( ... ) sozialen Systems voraus" (Krause, D. (1996b), ,,Doppelte Kontingenz", in: ders., Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann ... , Stuttgart 1996, S. 90, Herv. weggl.); - ..Kontingenz, doppelte ( ... ), ,doppelte' oder wechselseitige Abhängigkeit, Bezeichnung für die Reziprozität sozialer Interaktionsbeziehungen ... " (Klima, R.lLuhmann, N. (1994), ..Kontingenz, doppelte", in: Fuchs-Heinritz, W./Lautmann, R. et al. (Hrsg.), ,,Lexikon zur Soziologie", (1. Aufl., Opladen 1973), 3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Opladen 1994, S. 366, Herv. weggL); vgl. weiter: Kneer, G./Nassehi; A. (1993), Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, München 1993. Die Gedankenfigur der "doppelten Kontingenz", die aus der "Theorie des allgemeinen Handlungssystems" von Parsons' (vgl. u. a. Parsons, T. (Structure, 1937); ders. (Sociological Theory, 1967); ders. (Sozialstruktur, 1968» stammt, wird von Luhmann reformuliert, d. h. er faßt dieses Theorem bzw. das mit diesem zusammenhängende ,,Problem" abstrakter, indem er nicht von ,,handelnden Individuen" wie Parsons, sondern von "psychischen Systemen" ausgeht. Die Grundfrage ist bei Luhmann und Parsons identisch, das Problem und damit die Lösung wird von Luhmann aber anders formuliert (vgl. hierzu: Luhmann, N. (Systeme, 1984), u. a. S. 148 ff.); er führt zum Theorem von der ..doppelten Kontingenz" aus: ,,Es geht ( ... ) um eine Grundbedingung der Möglichkeit sozialen HandeIns schlechthin. Ohne Lösung dieses Problems der doppelten Kontingenz kommt kein Handeln zustande" (Luhmann, N. (Systeme, 1984), S. 149) und legt weiter dar: "Soziale Systeme entstehen ( ... ) dadurch (und nur dadurch), daß heide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für heide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt. ( ... ) Die Beziehung selbst wird zur Reduktion von Komplexität. Das aber heißt: sie muß als emergentes System begriffen werden" (ebenda, S. 154, Herv. im Original, vgl. S. 149ff.); zum Theorem der ,,Emergenz", vgl. die folgende Fußnote 68 auf dieser Seite der Arbeit. Auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede bzgl. der Verwendung des Theorems von der "doppelten Kontingenz" zwischen Parsons, Luhmann und Ortmann wie Giddens und auf diesbezügliche Kritik kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingangen werden. 68 Das Theorem der ,,Emergenz" (gedacht als Kritik am ,,Reduktionismus") ist seiner Herkunft nach eine Kategorie aus dem sog. Naturalismus. Er spielt sowohl in allen Lehren vom "gesellschaftlichen Organismus" als auch in Ansätzen der Biologie eine bedeutende, aber keine klare Rolle (vgl. Müller, K. (1996), Allgemeine Systemtheorie. Geschichte, Methodologie und sozialwissenschaftliche Heuristik eines Wissenschaftsprogramms, Opladen 1996, S. 209); Klaus Müller führt aus: ,,Noch in der gegenwärtigen Soziologie fungiert ,Emergenz' als eine nahezu magische Formel zur Entschlüsselung kollektiver Phänomene" (Müller, K. (Allgemeine Systemtheorie, 1996), S. 209f.). Im systemtheoretischen Sprachgebrauch wird unter ,,Emergenz" verstanden: - ,,Emergenz bezeichnet das plötzliche Auftreten einer neuen Qualität, die jeweils nicht erklärt werden kann durch die Eigenschaften oder Relationen der beteiligten Elemente,
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Das aprioristische und zugleich ahistorische Element der Kontingenzkonstruktion in der Fonn eines "un- oder vorgesellschaftlichen Individuums..69 , weIches erst nachträglich soziale Beziehungen im Sinne eines gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses aufnimmt70, zeigt sich in seiner ganzen Problematik an folgenden zwei Zitaten: Es steht die " ... Zirkularität der Rekursion gleichsam am Anfang der Gesellschaft ( ... ), und ( ... ) die Emergenz des Sozialen (verdankt) sich praktischen Rekursionen, nämlich interaktiven, kommunikativen Rekursen des Ego auf den Alter und vice versa. Kein Flirt, kein Kuß, kein Tanz, keine Kommunikation und Kooperation ohne diesen rekursiven Zusammenhang".71
sondern durch eine jeweils besondere selbstorganisierende Prozeßdynamik ..." (Krohn, W.I Küppers, G. (1992), "Selbstorganisation. Zum Stand einer Theorie in den Wissenschaften", in: dies. (Hrsg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1992, S. 7 f., Herv. weggl.); - ,.Emergenz, Emergenz-, Anhäufungs-, Aggregations- oder Kompositionseffekt, allgemein: qualitativer Sprung, neuer Zustand eines Systems, der nicht auf frühere Zustände oder Eigenschaften auf niedrigeren Aggregationsniveaus linear zurückgeführt werden kann" (Rönsch, H. D./Wienold, H./Lüdtke, H. (1994), ,.Emergenz", in: Fuchs-Heinritz, W.I Lautmann, R. et al. (Hrsg.), ,,Lexikon zur Soziologie", (1. Aufl., Opladen 1973),3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Opladen 1994, S. 164, Herv. weggl.). Zum Emergenztheorem selbst, vgl. auch: Durkheim, E. (1895), Die Regeln der soziologischen Methode, (1. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1961), hrsgg. u. eingel. von R. König, 3. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1971, S. 93; Luhmann, N. (Systeme, 1984), u. a. S. 43 f., 157, 159, 196 f., 413, 608, 650; Türk, K. (1987), Einführung in die Soziologie der Wirtschaft, Stuttgart 1987, S. 35; ders. (1997), "Organisation als Institution der kapitalistischen Gesellschaftsformation", in: Ortmann, G./Sydow, J./Türk, K. (Hrsg.) (Theorien, 1997a), S. 157f.; Krause, D. (l996c), ,.Emergenz", in: ders., Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann ... , Stuttgart 1996, S. 92; Krieger, D. J. (1996), Einführung in die allgemeine Systemtheorie, München 1996, S. 30ff.; vgl. zum Theorem der Emergenz bei Ortmann, Abschnitt 3.6, S. 123 dieser Arbeit. Für Ausführungen von Ortmann zur ,.Emergenz des Sozialen angesichts doppelter Kontingenz", vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S. 86f., 9Off., 122, 182,234, 280f., 299ff., 306, 329, 335 f., 356f., 396; vgl. weiter: Ortmann, G.I Becker, A. (Management, 1995), S. 78 f. Auf diesbezügliche Darlegungen von Ortmann und auf Kritik kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingangen werden. Klaus Müller führt in kritischer Absicht in bezug auf Parsons aus: ,,Die theoretische Absicht, Gesellschaft aus individuellen Handlungseinheiten aufzubauen, scheitert an der lediglich ad hoc aufgenommenen ,Emergenz' sozialer Interaktion. Auch hier zeigt sich, daß die Doktrin der Emergenz ( ... ) weniger ein Theorem im strikten Sinn abgibt, als einen interdisziplinären Sammelnamen für unerledigte Erklärungsaufgaben" (Mü\ler, K. (Allgemeine Systemtheorie, 1996), S. 289, Herv. weggI., vgl. S. 210, 276ff.). fD Stork, V. (1998), "Die ,Gesellschaft der gescheiten Leute'. Kritische Anmerkungen zu Anthony Giddens", (gekürzte Fassung erschienen in: "Sozialismus", 25. Jg., Nr. 9 (1998), S. 16ff.), Manuskript, Bremen 1998, S. 7. 70 Vgl. in bezug auf Giddens: Stork, V. (Gesellschaft, 1998), S. 7; vgl. weiter: Stork, V. (1999), ,,Alles wird neu und bleibt doch beim Alten. Anthony Giddens' dritter Weg der Sozialdemokratie in den Kommunitarismus", in: "Sozialismus", 26. Jg., Nr. 4 (1999), S. 17ff. 71 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 86.
2.4 Zur Ahistorizität kontingenztheoretischer Konstruktionen
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Auf den ersten Blick besticht eine solche Aussage durch ihre Plausibilität, die wiederum ihrer Trivialität geschuldet ist. In der Tat: Zu jeder Zweierbeziehung gehören eben zwei - solches haben Ortmann et al. vor 26 Jahren zutreffend als Trivialitätseffekt der ahistorischen Betrachtungsweise benannt. 72 Daß aber Flirt, Kuß und Tanz gleichsam "am Anfang der Gesellschaft" stehen, ist typisch für jene "falsche Hälfte", die den Ideologieeffekt der ahistorischen Betrachtungsweise73 ausmacht. Zu welch unhaltbaren Schlußfolgerungen das Zusammenspiel von Trivialitäts- und Ideologieeffekt führt, zeigt überdeutlich das zweite Zitat: ..Unterwerfung, also die Konstitution eines Herrschaftsverhältnisses, ereignet sich als rekursiver Konstitutionsprozeß zwischen Ego, der den Alter unterwirft, und Alter, der sich dem Ego unterwirft. ( ... ) Rekursive Konstitution: Der Herr macht den Knecht zum Knecht, insofern dieser den Herrn zum Herrn macht, was der Knecht nur tut, insofern der Herr ihn zum Knecht macht". 74
Um in den Bildern und im Duktus von Ortmann zu bleiben: Aus dem naturgegebenen Inhalt des Geschlechterverhältnisses (..Flirt", ..Kuß") werden umstandslos soziale Verhältnisse - bis hin zu Herrschaftsverhältnissen - nach der beliebten Form der Robinsonade (,,Ego", ,,Alter") abgeleitet. Die aprioristisch gesetzte ,,Anordnung" der Individuen (,,Ego und Alter" bzw. "Herr und Knecht") wird dargestellt als Resultat eines subjektiven, wechselseitigen Beziehens aufeinander, und eben nicht als " ... Resultat eines spezifischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses, innerhalb dessen die Einzelnen handeln bzw. bei Strafe des Untergangs in ihrer je spezifischen ökonomischen Existenz zu bestimmten Handlungsweisen sich gezwungen sehen".7s
Diese interaktive ,,Anordnung" der Individuen wird zur ahistorischen Ausgangskonstellation, aus der hemus die sozialökonomischen (produktions-)Verhältnisse erst entstehen; sie wird damit zu einer allgemeinen, von gesellschaftlicher Form unabhängigen, quasi naturgegebenen Konstellation. Das Verhältnis der Individuen zueinander wird unter Interaktion verbucht - damit das gesellschaftliche Produktionsverhältnis lediglich zu einem intersubjektiven Verhältnis. Negativ formuliert: Interaktionen sind nicht durch den spezifischen Zusammenhang der Gesellschaft vorgängig vermittelt. Volker Stork weist in diesem Zusammenhang damuf hin, daß solch eine Vorstellung den " ... zentralen Sachverhalt (verfehlt), daß die gegenwärtige Gesellschaft unabhängig von den in sie hineingeborenen Menschen über eine eigene Objektivität verfügt und vermöge Vgl. Heiligenstadt, L ... . 1Ortmann, G. et al. (Kritik, 1973), S. 28 ff., 208 ff. 73 Vgl. Heiligenstadt, L.... 1Ortmann, G. et al. (Kritik, 1973), S. 28ff. 74 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 89 f., Herv. im Original. 7S Brentel, H. (1989), Soziale Form und ökonomisches Objekt. Studien zum Gegenstandsund Methodenverständnis der Kritik der politischen Ökonomie, Opladen 1989, S. 162. 72
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie dieser den Menschen ihre Imperative aufherrscht. ( ... ) Gesellschaft geht nicht in Intersubjektivität auf,.76
Die "halbe Wahrheit" zeigt sich anschaulich dort, wo Ortmann den Grund für Organisation bzw. die Notwendigkeit sozialer Verhältnisse (Kooperation) ins Blickfeld rückt: Er sieht diesen Grund darin liegen, daß " ... die Akteure mit Hilfe der Organisation wechselseitig Interessen verwirklichen können, wie dies alleine nicht möglich wäre ... ".77
Dieses Zitat ist allerdings, soweit es einen wahren Kern enthält, wahrlich nicht originell und aus Sicht materialistischer Theorie eine Binsenweisheit: "Von allem Anfang an vollzieht sich die Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur in Formen des Zusammenwirkens. Die Notwendigkeit gemeinsamer Daseinsvorsorge ergibt sich schon aus der biologischen Ausstattung des Menschen: 1. Im Vergleich zu den anderen Lebewesen kommt der Mensch verhältnismäßig unentwickelt und hilflos zur Welt; seine postfötale Entwicklung ist eine sehr langsame; das junge Menschenkind bleibt daher lange der Hilfe und der Nahrungsfürsorge seiner Umwelt bedürftig. Dies ist eine allgemeine Voraussetzung der menschlichen Sozialisation.
2. Gegenüber den Tieren bringt der Mensch einen geringen Bestand an ererbten Instinkten mit; er bleibt angewiesen auf das Lernen, auf Beobachtung, auf zwischenmenschliche Kommunikation (Ausbildung der Sprache!), auf Aneignung der Erfahrungen anderer im Daseinskampf mit der Natur. 3. Seiner physischen Beschaffenheit nach ist der Mensch gegenüber den meisten Tieren im Nachteil: er verfügt über keine besonderen körperlichen Angriffs- oder Verteidigungswaffen. Diesen Nachteil muß er ausgleichen a) durch Entwicklung von Verstandeskräften, b) durch Vereinigung der individuellen Einzelkräfte in der Zusammenarbeit".78
Hier beginnen aber schon die sich historisch entwickelnden und wandelnden Unterschiede in den besagten ,,Formen des Zusammenwirkens" und hier beginnt die "falsche Hälfte" im Sinne ahistorischer Betrachtung: gesellschaftliche Beziehungen sind keineswegs individuell-bilateral im Sinne von Ego I Alter-Konstellationen, sondern voll strukturiert mit (auf die jeweilige Gesellschaftsformation bezogen) stabilen, durch und durch überindividuellen Strukturformen (z. B. Privateigentum an Produktionsmitteln, Lohnarbeit); 76 Stork, V. (Gesellschaft, 1998), S. 6. n Ortmann, G.lBecker, A. (Management, 1995), S. 50. Ortmann et al. beziehen sich auf Michel Crozier und Erhard Friedberg, die ausführen: Organisationen " ... sind nichts anderes als die immer spezifischen Lösungen, die relativ autonome Akteure mit ihren jeweiligen Ressourcen und Fähigkeiten geschaffen, erfunden und eingesetzt haben, um die Probleme kollektiven Handeins zu lösen, d. h. vor allem, um ihre zur Erreichung gemeinsamer Ziele notwendige Zusammenarbeit trotz ihrer widersprüchlichen Interessenlagen und Zielvorstellungen zu ermöglichen und sicherzustellen" (Crozier, M./Friedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), S. 7, vgI. auch: S. 56f.). 78 Hofmann, W. (Wirtschaftsgesellschaft, 1969a), S. 26.
2.4 Zur Ahistorizität kontingenztheoretischer Konstruktionen
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- diese Strukturen unterliegen dem geschichtlichen Wandel, aber nicht in der von Ortmann suggerierten Art, d. h. als Ergebnis von Interaktionen, nicht als Aggregation mikropolitischen HandeIns und auch nicht zufaIlig im Sinne der Negierung von Kausalität schlechthin. Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Methodisch gesehen ist es durchaus sinnvoll, zwischen (naturgegebenem) Inhalt und (gesellschaftlicher) Form zu unterscheiden, wenn gerade durch diese Unterscheidung die gegenseitige Bedingtheit - man kann auch sagen: die Dialektik der Tatbestände - herausgearbeitet wird. Nicht statthaft ist es, aus der Unterscheidung eine Scheidung der Tatbestände zu· machen und ihre Interdependenz auszublenden. Die sozialen Verhältnisse (Produktionsverhältnisse) erscheinen in der mikropolitisch inspirierten Argumentationsstruktur Ortmanns als lediglich intersubjektivierte Verhältnisse und sind außerhalb ihrer Abhängigkeiten von den geschichtlich-materiellen Bedingungen und außerhalb der Wirkungen ihrer dialektischen Konstitution verortet. Die Realität der Unternehmung (Organisation) wird interaktiv konstruiert; ,,Ego und Alter" bzw. ,,Herr und Knecht" bilden das wechselseitig gleichermaßen voneinander abhängige Paar. Im Fokus von Ego! Alter-Konstellationen erscheinen die Formen des Zusammenwirkens der Individuen ..... von vornherein als nachträgliche Vergesellschaftung von ursprünglich vereinzelten Personen ...,,19, die, gegeneinander gestellt und voneinander isoliert, füreinander tendenziell nicht berechenbar sind. Die Ausgangslagen der sog. mikropolitischen Akteure in der Erwerbsgesellschaft sind ebensowenig wie die Lage zweier Schachspieler, deren Ausgangspunkt ein (fast) symmetrischer ist, interpretierbar, wie der Mythos zutreffend ist, jeder habe bei der Währungsreform im Jahre 1948 ..mit 40 Mark angefangen". 80 Die schematische Analyse der unmittelbaren, zirkulär-rekursiven Wechselwirkung zwischen vereinzelten Individuen läßt sich für die Erklärung beliebiger Prozesse und Erscheinungen ..in allen Ländern und zu allen Zeiten" verwenden. Damit entsteht ein theoretisches Niemandsland, in dem nichts ausgeschlossen und jede Interpretation als möglich erscheint, abhängig von bloßen ..... Wahrnehmungen, Deutungen, Leitbilder(n) und Entscheidungen, die allesamt eine erhebliche Kontingenz ..."SI in sich bergen. Ortmanns Herangehensweise läßt sich insofern in eine Reihe von Versuchen einordnen, soziale Interaktionen und soziale Praktiken als ..... in sich selbst begrün79 Tjaden, K. H. (1971), Soziale Systeme. Soziologische Texte, Bd. 68, Neuwied/Berlin 1971, S. 27. 80 Vgl. Huffschrnid, J. (1973), Die Politik des Kapitals, (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1969), 9. Aufl., Frankfurt a.M. 1973, S. 137; vgl. weiter: o.V. (1997), "Währungsreform", in: "Deutscher Taschenbuch Verlag", (20 Bde.), München 1997, Bd. 19, S. 256. 81 Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), S. 414.
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
dete und sich selbst bestimmende Aktivitäten ( ... ), als selbstorganisierende und selbstregulierende zwischenmenschliche Praxis zu begreifen". 82 Bei allen Unterschieden folgen diese Versuche (die uns unter den verschiedensten Schlagworten wie "Selbstorganisation", "selbstreferentielle Logik" u. ä. begegnen) doch einer gemeinsamen Grundidee, nämlich der von der monadischen bzw. atomistischen Existenzweise. Das Prinzip der Integration bzw der Vergesellschaftung ist als " ... immanentes Prinzip des vom natürlich-geschichtlichen Kontext und Substrat abstrahierten zwischenmenschlichen Tätigkeitszusammenhangs ...,,83 begriffen - bis noch " ... die Frage nach der Gültigkeit der Anwendung oder nach der Wahrheit der auf diesem Wege erreichbaren Einsicht von vornherein ...,,84 suspendiert wird. Eine Folge dieser Herangehensweise ist, daß die grundSätzlichen Unterschiede zwischen verschiedenartigen Gesellschaften kaum mehr als aufschlußreich erscheinen. Wenn verschiedene Gesellschaftsformationen wie Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus lediglich unterschiedliche Namen für das gleiche, zirkulärrekursive Konstitutionsverhältnis sind, dann verliert tendenziell Gesellschaftstheorie ihren Gegenstand und hat keine Bedeutung mehr. Die tatsächliche Gebundenheit des Handeins an die gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen wird ihres historischen und deshalb auch veränderbaren Charakters entkleidet. Es wird etwas als immerwährende Notwendigkeit für das Individuum behauptet, was durchaus Notwendigkeit einer bestimmten Gesellschaftsformation ist. Ortmann hat es 1973 zusammenfassend so formuliert: ,,Mit der Dimension der Geschichte gerät auch die der Gesellschaft aus dem Blickfeld " 85
Das Verhältnis von Handeln und Struktur, wie es strukturationstheoretisch gefaSt in der mikropolitisch inspirierten Argumentationsstruktur vorliegt, ist Thema des nächsten Abschnitts. Es geht dabei nicht um das "Wie" der Hinwendung von sozialen Interaktionen (Ego I Alter-Konstellationen) zum Handeln-Struktur-Komplex, sondern einzig und allein darum, daß Ortmann mit dem Theorem von der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur" - der wechselseitigen Konstitution von Handeln und Struktur - den Ausweg aus dem von ihm behaupteten Determinismus sieht. 82 Tjaden, K. H. (1973), "Soziale Systeme und gesellschaftliche Totalität. Probleme der Konstruktion eines Gegenstandsbereichs sozialwissenschaftlicher Erkenntnis", in: HOlst, D.I Tjaden, K.H.I Tjaden-Steinhauer, M., Methodenfragen der Gesellschaftsanalyse. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Konstituion und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1973, S. 57. 83 Tjaden, K. H. (Gesellschaftliche Totalität, 1973), S. 57. 84 Bubner, R. (1973), "Wissenschaftstheorie und Systembegriff. Zur Position von N. Luhmann und deren Herkunft", in: ders., Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1973, S.127. 8S Heiligenstadt, L. .. . 1Ortmann, G. et al. (Kritik, 1973), S. 30.
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
43
Daß es sich dabei um eine Verwechslung von Kausalität und Detennination handelt, wird in Abschnitt 2.6 weiter ausgeführt.
2.S Zum Verhältnis von Handeln und Struktur. Die zirkuläre Grundfigur der "Rekursivität und Dualität von Struktur" Als Betrachter der Ortmannsehen Argumentationsstrukturen wird man gelegentlich mit dem Umstand konfrontiert, daß mit definitorischen Setzungen operiert wird, wo Theoreme zu begründen wären. Ein Beispiel dafür ist das Theorem von, der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur", welches für das Verständnis des mikropolitischen Ansatzes grundlegende Bedeutung hat. Ortmann ist so damit beschäftigt, mit diesem Theorem dem von ihm ausgemachten Detenninismus86 den Boden zu entziehen, daß er bisweilen die gesellschaftliche bzw. organisationale Wirklichkeit souverän ausblendet. 87 Man ist in diesem Zusammenhang versucht, die ebenso prägnante wie gelungene Fonnulierung von ihm (allerdings aus dem Jahre 1976) "wie die Begriffe dem Denken Vorschriften machen,,88 zu paraphrasieren und zu sagen "wie die Begriffe dem Sein Vorschriften machen". Beim o. g. Theorem von der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur" geht es um die Überwindung " ... der Einseitigkeit in der Auszeichnung von sei es Handlung, sei es Struktur als basaler Ebene der Theorie, und der Einseitigkeit in der Auszeichnung von sei es der interpretativen, sei es normativen - zusammengenommen: der kulturellen -, sei es derherrschaftlichen oder schließlich der ökonomischen Dimension des Sozialen als der für organisations- und unternehmungstheoretische Analysen irgendwie basalen, gar in letzter Instanz ausschlaggebenden Dimension". 89
Die zur Überwindung der Einseitigkeit(en) angebotene Lösung scheint so einfach, wie das basale (Vennittlungs-)Problem schwerwiegend: das der Vennittlung von Handeln (Individuum) und Struktur (Organisation). Es besteht - in seiner allgemeinsten Fonnulierung - in der Frage nach dem Verhältnis von ,,Besonderem und Allgemeinem"; in dieser Frage implizit enthalten ist, wie man von der "beson86 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 29ff., 276; vgl. weiter: Ortmann, G. (Handlung, 1988b), S. 217ff.; Ortmann, G./Sydow, J./Turk, K. (Gesellschaft, 1997b), S. 19; vgl. Abschnitt 2.6 dieser Arbeit. 87 Vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. 88 Vgl. Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976), S. 103. 89 Ortmann, G./Sydow, J./Türk, K. (Gesellschaft, 1997b), S. 20f. Zu erwähnen ist, daß sich Klaus Türk die Strukturationstheorie von Anthony Giddens nicht zu eigen macht, sondern sie in grundsätzlicher Art und Weise einer Kritik unterzieht (vgl. Türk, K. (Gesellschaftsformation, 1997), S. 124 ff.).
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
deren" Wirklichkeit des HandeIns zu einer "allgemeinen" Erkenntnis von Struktur gelangen kann, ohne aber mit der Struktur die Wirklichkeit des HandeIns zu überdecken oder gar zu verdecken. Mit dem Theorem von der "Rekursivität und Dualität von Struktur" ist genau dies beansprucht: Es soll weder das ,.Besondere" der Wirklichkeit des HandeIns in den bloßen Fall einer "allgemeinen" Struktur aufgehoben noch das ,,Allgemeine" der Struktur negiert werden. Die mit diesem Theorem gegebene Grundvorstellung ist damit umrissen: Eine Überwindung der Einseitigkeit(en) soll mittels der Vorstellung von einer "wechselseitigen Konstitution von organisationalem Handeln und (Organisations-)Strukturen,,90 erfolgen. Aus unserer Sicht stellt sich mithin die Grundfigur der "Rekursivität und Dualität von Struktur" in der Darlegung Ortmanns so dar: Um überhaupt sinnvoll von einer wechselseitigen Konstitution und damit von einer Überwindung der "traditionellen" handlungs- oder strukturtheoretischen Verkürzungen sprechen zu können, werden die Kategorien Handeln und Struktur in einer bestimmten Weise zurechtgeschnitten: Der "Grundgedanke des Konzeptes der Dualität von Struktur ist ( ... ), daß Struktur einerseits Medium des HandeIns ist, andererseits sein Produkt".91
Dieser methodische Grundgedanke scheint auf den ersten Blick durchaus plausibel und vor diesem Hintergrund wagt sich Ortmann weiter zu der These, daß " ... Strukturen überhaupt nur als reproduziertes Verhalten situativ Handelnder mit ihren Intentionen und Interessen (existieren)". 92
In diesem so gefaßten Zusammenhang von Handeln und Struktur sind zwei grundsätzliche Argumentationselemente enthalten: Einerseits " ... daß sich die Handelnden in ihrem Handeln auf Struktur beziehen, also auf eine kognitive und normative Ordnung sowie auf ein Muster von Ressourcenverteilungen. ( ... ) Andererseits ist Struktur das Produkt von Handeln, d. h. nur dadurch, daß sich die Handelnden auf ,Strukturmomente' ( ... ) sozialer Systeme beziehen, also auf kognitive und normative Ordnungen und Ressourcenverteilungen, existieren sie überhaupt".93 Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 48. 91 Ortmann, G.lBecker, A. (Management, 1995), S. 56, Herv. weggl. 92 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 4l. Diese Aussage zeigt, daß Ortmann etwas grundSätzlich anderes im Auge hat, als ,,nur" ein dialektisches Verhältnis von Struktur und Handeln (vgl. direkt dazu: Abschnitt 2.6, S. 62 ff. dieser Arbeit): Er behauptet damit nicht einfach eine Gleichgewichtigkeit zwischen Struktur und individuellem Handeln, sondern er hebt deutlich den derivativen Charakter von Strukturen gegenüber dem individuellem Verhalten hervor. Im übrigen steckt in der Konnotation vom "Situativen" ein unübersehbar reduktionistisches Element. 93 Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 56f. 90
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
45
Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß "Handeln ohne Struktur nicht möglich (wäre), genauso wie Struktur nur im Handeln ( ... ) existiert, reproduziert und verändert wird".94
Die Einsicht, die in diesem Grundgedanken zum Ausdruck kommt und aus der sich also seine Plausibilität auf den ersten Blick speist, ist, daß Strukturen nicht nur restringierende, sondern auch ermöglichende Aspekte aufweisen. ,,Rekursivität und Dualität von Struktur" heißt dann zusammengefaßt: ,,In ihrem Handeln, durch ihr Handein reproduzieren die Handelnden die strukturellen Bedingungen, die ihr Handeln restringieren und ermöglichen. Handeln konstituiert soziale Strukturen, die soziales Handeln konstituieren, das ... ". 9S
Die Frage, auf die es im weiteren ankommt, ist, was "Handeln konstituiert Strukturen und Strukturen konstituieren Handeln" genau heißt oder anders gefragt: Was will die strukturationstheoretische Perspektive damit zum Ausdruck bringen bzw. inwiefern wendet sie sich mit dieser Behauptung gegen einen von ihr als deterministisch interpretierten Zwangscharakter von Struktur, wie er in einschlägigen Theorien zum Ausdruck kommen soll? Was meint und vor allem wohin führt sodann die in den obigen Zitaten zum Ausdruck kommende zirkuläre Rekursivität? "Gemeint ist: Sie (die Strukturen - W.S.) restringieren und ermöglichen es (das HandelnW.S.). Noch genauer: Handelnde rekurrieren in praxi auf soziale Strukturen, und zwar indem sie sich bestimmter Handlungsmodalitäten - interpretativer Schemata, Normen und Machtmittel - bedienen, die sie einer kognitiven, legitimatorischen und Herrschaftsordnung entlehnen, und indem sie das tun, wird ihr soziales Handeln ermöglicht und restringiert - und werden eben diese strukturellen Ordnungen reproduziert". 96
Ortmann verknüpft die Metapher des Zirkels mit dem Konzept der Rekursivität und verwendet sie nahezu permutativ. Auf grundsätzlicher Ebene ist dabei durchaus interessant, daß nicht immer deutlich wird, was eigentlich bei ihm diese Begriffe bedeuten: Die Adjektive "zirkulär" und "rekursiv" werden zum einen als austauschbar, zum anderen aber auch in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Es werden für ein und denselben Sachverhalt unterschiedliche Ausdrücke verwendet, die aber genau und für sich genommen unterschiedliche Bedeutungen aufweisen. So ist von einer ,,zirkularität der Rekursion,,97 die Rede, eine Rekursion ist also zugleich Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 57. Ortmann, G. (Formen, I 995a), S. 90. 96 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 92, vgl. auch: S. 96ff., \05ff., 118ff., 151 ff., l77ff., 226 ff., 295 ff., 331 ff., 355 ff., 393 ff.; vgl. weiter: Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990); Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), S. 51 ff.; Ortmann, G. (Rekursivität, 1997), S. 23ff.; Ortmann, G.lSydow, J./Türk, K. (Gesellschaft, I 997b), S. 15 ff.; Ortmann, G.I Sydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 315 ff. 97 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 86, vgl. auch: S. 95. 94
9S
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
zirkulär; dann ist von einer ,,rekursiven Zirkularität,,98 die Rede, ein Zirkel ist also zugleich rekursiv. Die Adjektive werden hier also als austauschbare verwendet, beide bezeichnen dasselbe. An anderen Stellen spricht er davon, die ,,zirkularität ( ... ) mit dem Konzept der Rekursivität,,99 zu erfassen oder sieht den ,,zirkel in der Zeit durch Rekursivität sich auflösen".loo Die Begriffe werden hier in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, sie bezeichnen also etwas, das es zu unterscheiden gilt. Dies gibt sicherlich kein systematisches Argument ab, zeigt aber doch sehr plastisch die Grundstruktur des Umgangs mit Begrifflichkeiten und deren Anwendung auf reale Konfigurationen. 101 Was auch immer der Grund für das Vexierspiel und die damit verbundene Unschärfe der Begriffe bei Ortmann sein mag: Wir verfolgen weiter seine Grundvorstellung von einem zirkulär-rekursiven Konstitutionsverhältnis von Handeln und Struktur, für die Giddens den Neologismus "Dualität von Struktur" kreiert hat. Diese Grundvorstellung beinhaltet, daß mit ihr zwar das soziale System (Organisation) bzw. dessen Zielsystem als ein Zusammenhang handelnder Individuen resp. Ausfluß der entsprechenden Handlungen, gleichwohl aber auch als strukturelle "Objektivität" erscheinen soll. Mit der zirkulär-rekursiven Figur der ,,Dualität von Struktur" werden demgemäß die beiden Momente Handeln und Struktur zusammengeschlossen. Mit dieser grundsätzlich auf Symmetrie von Struktur (lies: Zwang) und Handeln (lies: Autonomie) abstellenden Perspektive lO2 soll der Organisation wie ihrem Zielsystem letztlich jede Konnotation des Zwanghaften genommen werden, oder auch: Diese Symmetrie konstituiert - unbeschadet aller Zwänge - soviel Freiraum für alle Organisationsmitglieder, daß diese über mikropolitisches Handeln ihre ggf. konfligierenden Ziele in relevanter Weise in die Organisationsstruktur verankern können. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 93, vgl. auch: S. 118. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. H8, Fn. 14, vgl. auch: S. 240; vgl. weiter: Ortmann, G.lSydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 347. 100 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 396, Fn. 4. 101 In der Logik, der Mathematik, der Theorie dynamischer Systeme usw. weisen die Adjektive jeweils unterschiedliche Bedeutungen auf und auch innerhalb eines Gebietes werden sie z. T. unterschiedlich verwendet. Anders also als es die Verbreitung der von ihm übernommenen Ausdrucke nahelegt, sind sie nicht in schlüssiger Form greifbar. So ist ein zirkulärer Prozeß immer auch rekursiv, nur: Ein rekursiver Prozeß muß nicht zwingend zugleich zirkulär sein; und jeder zirkuläre oder rekursive Prozeß ist gleichzeitig auch immer selbstreferentieIl (vgl. Nüse, R. (1995), Über die Erfindung / en des Radikalen Konstruktivismus. Kritische Gegenargumente aus psychologischer Sicht, (1. Aufl., Weinheim 1991),2., überarb. u. erw. Aufl., Weinheim 1995, S. 23 ff.). Eine weitere Klärung dieser Begriffe und ihres Verhältnisses untereinander ist für den Fortgang der Argumentation aber nicht notwendig. 102 Ortmann führt aus: Strukturation (Organisation) als ,.Erzeugen (Handeln - W.S.) und Erzeugnis (Struktur - W.S.)" (Ortmann, G./Sydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 315), d. h.: "Strukturation meint schließlich: Strukturiertheit und Strukturieren. Stabilität und Wandel treten darin prinzipieIl gleichberechtigt auf' (ebenda, S. 335, Herv. im Original). 98
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2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
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Für die Ausformulierung des Gedankens einer Vermittlung zwischen Handeln und Struktur muß Ortmann zunächst den Handlungsbegriff näher bestimmen; seine Fassung dieses Begriffs enthält eine Reihe von Konnotationen, so u. a.: - Handeln bezieht sich vornehmlich auf ein "Tun,,103 und wird eingebunden in einen kontinuierlichen "Strom praktischen Eingreifens in die Welt"l04, ist also kein reaktives Verhalten, sondern ein bewußtes und reflexives "Tun" der Individuen; - Handeln wird mit der Fähigkeit verbunden, aktiv in die sozialen Prozesse, "in den Lauf der Dinge"lOS einzugreifen; um diese Verbindung in dieser Allgemeinheit überhaupt herstellen zu können, wird es mit dem Begriff der ,.Macht" konstitutiv verbunden: ,,Die Fähigkeit ( ... ) ,anders zu handeln', also zur Autonomie, wird ( ... ) als Macht definiert ( ... ). Macht bzw. Machtausübung ist damit primär nicht eine spezifische Form von Handeln, sondern ist konstitutiver Bestandteil von Handeln". 106
Die Bestimmung von Kontingenz als "auch anders handeln können", oder einfach als Autonomie des HandeIns ist also zugleich ein Kernelement der Machtdefinition 107 , und d. h. die Korrespondenz zwischen Handlungsmächtigkeit und (sozialer) Macht ist in der Konstruktion der Begriffe angelegt. 103 Ortmann definiert, daß "Handeln ( ... ) am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer sinnhaft orientiert ist. Anders als bei Max Weber sind die Intentionen der Handelnden nicht Bestandteil dieser Bestimmung, wiewohl es in Organisationen und in der Organisationsanalyse in hohem Maße um intentionales Handeln geht" (Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 295, Fn. 4, vgl. auch: S. 295ff.); vgl. weiter: Ortmann, G.I Becker, A. (Management, 1995), S. 49f.; Ortmann, G./Sydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 336ff.; vgl. auch: Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), u. a. S. 51 ff., 65 ff., besonders S. 61, wo es heißt: "Handeln bezieht sich auf das Tun". Vgl. zu dieser Bestimmung von "Handeln als Tun" auch: Schütz, A. (1932), Der sinnhafte Aufbau der Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, (I. Aufl., Wien 1932), Nachdruck Frankfurt a.M. 1974; vgl. weiter: Berger, P.L./Luckmann, T. (1993), Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, (I. Aufl., Frankfurt a.M. 1969), unv. Nachdruck (der 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1977), Frankfurt a.M. 1993. 104 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 295, Fn. 4; vgl. weiter: Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), S. 55 ff.; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 49f. 10~ Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 50; vgl. weiter: Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), u. a. S. 65 ff.; Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S. 295 ff. 106 Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 50, Herv. weggl. 107 Vgl. zu diesem Begriff von "Macht": Ortmann, G. (Macht, 1988a), S. 13 ff.; ders. (Formen, 1995a), u. a. S. 32ff., 36, 49ff., 87f., 119, 20Sf.; vgl. weiter: Ortmann, G./Windeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), u. a. S. 13ff. 20ff., 42f., 54f.; Ortmann, G./Becker; A. (Management, 1995), S. 49f.; Ortmann, G./Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 324ff. Beim Begriff der "Macht" greift Ortmann auf Ausführungen von Crozier/Friedberg (vgl. Crozier, M.lFriedberg, E. (Macht und Organisation, 1979), u. a. S. 7 ff., 13, 25 ff., 39 ff., 56 ff., 275), Giddens (vgl. Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), u. a. S. 65 ff.) und Michel Foucault (vgl. Foucault, M. (1976), Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz,
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Diese, wenn auch kurze, Charakterisierung zeigt eines deutlich: Der Begriff des Handeins soll, so wie er verwendet wird, gegen objektivistische Verkürzungen (Funktionalismus, Strukturalismus etc.) und zugleich gegen einen reduktionistischen Voluntarismus gefeit sein, ohne von der Vorstellung eines aktiven, bewußt handelnden Individuums lassen zu müssen. Darauf verweist auch Hans-Peter Müller, wenn er in bezug auf Giddens formuliert, daß mit diesem Grundmuster verbunden ist: " ... Handeln und Struktur nicht als unversöhnliches Gegensatzpaar einander zu konfrontieren, sondern ihre natürliche Verbundenheit in der Dualität von Struktur zu behaupten".108
Diese Annahme einer "natürlichen" Verbundenheit, u. zw. in der zirkulär-rekursiven ,,Dualität von Struktur", impliziert, daß die Begriffe Handeln und Struktur Apriori-Konstrukte darstellen, die so aufeinander zugeschnitten sind, daß sie von vornherein der zirkulär-rekursiven Kreisbahn, auf die Ortmann alles zwingt, nicht widersprechen. Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976; ders. (1977), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1976), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1977) zurück. Eine ausführliche Rezeption des Begriffs der ,,Macht" bei Ortmann würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Foucaults Vorstellung von einer ,,Mikrophysik der Macht" (auf die Ortmann sich bezieht) hat eine durchaus umfangliche Kritik erfahren, vgl. hierzu: Fink-Eitel, H. (1980), "Michel Foucaults Analytik der Macht", in: Kittler, F.A. (Hrsg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn/München/Wien/u. a. 1980, S. 38ff.; Habermas, J. (l988a), "Vernunftkritische Entlarvung der Humanwissenschaften: Foucault", in: ders., Der philosphische Diskurs der Modeme. Zwölf Vorlesungen, (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1988), 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1993, S. 279ff.; ders. (1988b), ,,Aporien einer Machttheorie", in: ders., Der philosphische Diskurs der Modeme. Zwölf Vorlesungen, (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1988),4. Aufl., Frankfurt a.M. 1993, S. 313ff.; Dreyfus, H. L./Rabinow, P. (1994), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1987), 2. Aufl., Weinheim 1994. Die Analysen, Interpretationen und Wertungen dieser Autoren bieten nun allerdings kein einheitliches Bild der Theorie von Foucault, gerade auch was die Verortung und Einschätzung des Begriffs der ,,Macht" angeht. Max Weber hat den Begriff der ,,Macht" als "soziologisch amorph" bezeichnet: "Der Begriff ,Macht' ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen. Der soziologische Begriff der ,Herrschaft' muß daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden" (Weber, M. (1921/1922), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, (1. Aufl., Tübingen 1921/1922), 5., rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 28 f., Herv. weggl.); vgl. zu diesem Verständnis des Begriff der "Macht" auch: Hofmann, W. (Wirtschaftsgesellschaft, I %9a), S. 29 f., der ausführt, daß " ... die vielfältigen Formen gesellschaftlicher Machtausübung, für sich selbst genommen, ganz unstrukturiert (bleiben). Ihren besonderen Inhalt erhält Macht erst, wenn sie in Beziehung gesetzt wird zu Herrschaft" (ebenda, S. 30, Herv. weggl.). 108 Müller, H.-P. (1992), Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt a.M. 1992, S. 172.
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
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Ebenso wie bei der Kategorie des "Handeins" ist auch bei dem in diesem Argumentationszusammenhang komplementären Begriff der "Struktur" zu fragen, was genau darunter verstanden wird. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich " ... aus der Dualität von Struktur: Strukturen werden nur im Handeln aktualisiert, außerhalb des Handeins kommt ihnen eine bloß virtuelle Existenz zu". 109
Struktur als virtuelles Muster soll das Gegenmittel gegen alle Tendenzen der Verdinglichung von Strukturen, gegen die Annahme einer von ihnen ausgehenden determinierenden Kraft sein. Struktur hat in dieser Sicht den Status einer Potentialität, einer "virtual order" eben llO , die sich erst und nur im organisationalen bzw. gesellschaftlichen Handeln 109 Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 57f. Das Konzept der "Virtualität", der "virtual order" wird bei Anthony Giddens (vgl. Giddens, A. (Interpretative Soziologie, 1984), S. 9ff., 85ff.; ders. (Theorie der Strukturierung, 1992), u. a. S. 69, 72 f.) verwendet, auf den sich Ortmann bezieht (vgl. Ortmann, G. /Becker, A. (Management, 1995), S. 57f.); vgl. weiter: Ortmann, G. (Formen, 1995a); ders. (1996), "Wiedergänger der Modeme. Derrida, Giddens und die Geister der Aufklärung", in: "Soziologische Revue", 19 (1996) I, S. 13 ff.; Ortmann, G./ Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 317, 332, Fn. 18. Oswald Neuberger führt aus: ,,Das Konzept Virtualität hat Giddens von Derrida übernommen, der damit die Anwesenheit des Abwesenden in der Interpretation geschriebener (l) Texte charakterisiert ... " und er kommt zu dem Schluß, daß Giddens " ... (nicht) erklärt, wie die nicht-wirkliche Struktur verwirklicht wird" (Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 321); vgl. zu Jacques Derrida: Derrida, J. (1974), Grammatologie, (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1974), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1988; ders. (1976), Die Schrift und die Differenz, (1. Aufl., Frankfurt a.M. 1976), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1985; vgl. weiter: Ortmann, G. (Modeme, 1996), S. 13ff.; Ortmann, G./Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 332, Fn. 18). Giddens unterscheidet - und diese Unterscheidungen finden sich (in z.T. erweiterter Form) bei Ortmann - definitorisch zwischen dem Strukturbegriff als "Virtualität" und dem Systembegriff (Organisation bzw. die sozialen Praktiken); darüberhinaus noch Struktur (Singular) als Regeln und Ressourcen von Strukturen (Plural) in ihren Dimensionen "Signifikation, Herrschaft und Legitimation" und beide Strukturbegriffe noch von den Strukturmomenten sozialer Systeme und dem Begriff der Strukturierung, vgl. Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), u. a. S. 67 ff., 77 ff., 81 ff., 432; vgl. weiter: Ortmann, G.lWindeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), u. a. S. 19ff., 34f.; Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S. 300ff.; ders. (Rekursivität, 1997), S. 23 ff.; Ortmann, G.lBecker, A. (Management, 1995), S. 55 ff.; Ortmann, G. / Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 317f.; vgl. für eine Analyse dieser Unterscheidungen in bezug auf Giddens: Kiessling, B. (1988), Kritik der Giddenssehen Sozialtheorie. Ein Beitrag zur theoretisch-methodischen Grundlegung der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1988; Schmalz-Bruns, R. (1989), Ansätze und Perspektiven der Institutionentheorie, Wiesbaden 1989, S. 63ff.; Müller, H.-P. (Sozialstruktur, 1992), S. 173 ff.; Görg, C. (1994), "Der Institutionenbegriff in der ,Theorie der Strukturierung"', in: Esser, J./GÖrg, C./Hirsch, J. (Hrsg.), Politik, Institutionen und Staat. Zur Kritik der Regulationstheorie, Hamburg 1994, S. 49ff. 110 Vgl. Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 57. Es wird hier nur dieser Punkt thematisiert; die Qualifikationen, die Ortmann in Anlehnung an Giddens vornimmt, d. h. das Konzept der "Struktur als Regeln und Ressourcen", braucht in diesem Zusammenhang nicht weiter vertieft zu werden. Giddens selbst erläutert seinen Regelbegriff v. a. im Anschluß an Peter Winch (vgl. zu Winch: Winch, P. (1966), Die Idee der Sozialwissenschaft
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manifestiert. Ortmann insistiert ganz im Sinne von Giddens darauf, daß Strukturen (strukturelle Ordnung) nicht auf Handeln vor- bzw. darübergelagerten Setzungen, die normative Wirkungen entfalten, beruhen, sondern im Handeln selbst enthalten sind, d. h. sie " ... ,stecken' ( ... ) im Handeln der Akteure (und sodann in ihrer Erinnerung) - nirgends sonst". 111 Wenn Strukturen nur im Handeln existieren, dann ist Handeln bzw. sind die sozialen Praktiken selbst von zentraler Bedeutung. Struktur kann dann keine eigenständige Entität zukommen, die dem Individuum (Handeln) "objektiv" gegenübersteht als Zwang, sondern sie verwirklicht sich immerwährend - wie Oswald Neuberger es ausdrückt - in einem ,,Prozeß der ,rekursiven Reproduktion von Praktiken' im Handeln,,112. Strukturen ermöglichen und restringieren Handeln, aber nicht als von der sozialökonomischen Verfassung vorgegebene Bestimmung, sondern als ,,rekursiv produzierte Selbst-Bestimmung".113 Fassen wir die bisherige Argumentation mit Ortmann zusammen: Ausgegangen wird von einer " ... wechselseitigen Konstitution von Handlung und System, ergo von Handlung und Struktur ... ".114 Struktur ist damit doppelt markiert, sie erscheint jedenfalls in dieser Doppelbedeutung als ein zum Handlungsbegriff komplementäres Phänomen: Auf der einen Seite soll Struktur die Totalität der Strukturen oder das System (Organisation) manifestieren, welche(s) dem Handeln Zwänge vorgibt - anders formuliert: Es müssen insofern strukturelle Momente im Handeln enthalten sein, als sie es beschränken sollen. (Strukturelle) Zwänge sind also von der gleichen Art wie die Handeln ermöglichenden Strukturen; sie sind ebenso im Handeln enthalten. 115 Auf und ihr Verhältnis zur Philosophie, (I. Aufl., Frankfurt a.M. 1966), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1974). Außerdem - so Giddens und mit ihm Ortmann weiter - können Regeln nicht ohne einen Bezug auf Ressourcen konzeptualisiert werden; Ressourcen sind Mittel, die in Machtbeziehungen zum Einsatz kommen. Zum Regel- und zum Ressourcenbegriff, vgl. Giddens, A. (Interpretative Soziologie, 1984); vgl. weiter: Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), S. 67ff., 75, 77ff.; Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S. 33, 90ff., 120, 182ff., 224, 250, 295ff., 342, 367, 388; ders. (Rekursivität, 1997), S. 23ff.; Ortmann, G.lWindeler, A. et al. (Computer und Macht, 1990), u. a. S. 7, 12ff., 16ff., 22ff.; Müller, H.-P. (Sozialstruktur, 1992), S. l66ff.; Görg, C. (Theorie der Strukturierung, 1994), S. 31 ff.; Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 285ff.; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 43ff.; Ortmann, G./ Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 329ff. 111 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 298, Herv. weggI., vgl. auch: S. 91; vgl. weiter: Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), u. a. S. 77. 112 Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 305. 113 Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 301, Herv. weggl. 114 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 300. m Vgl. Görg, C. (Theorie der Strukturierung, 1994), S. 63f.; vgl. auch: Ortmann, G.I WindeIer, A. et al. (Computer und Macht, 1990), u. a. S. 12f., 36, 112, 240f., 396,463,529; Giddens, A. (Theorie der Strukturierung, 1992), S. 359ff.; Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S.90, 196,223; Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 51, Fn. 14, S. 61.
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
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der anderen Seite aber nun soll Struktur erst durch das Handeln erzeugt werden anders fonnuliert: Es bleiben insofern strukturelle Momente dem Handeln äußerlich. sie sind von diesem unterschieden. weil sie es erst ennöglichen sollen. 116 Struktur kann Handeln - in der .,Rekursivität und Dualität von Struktur" - nur beschränken. wenn sie im Handeln bereits enthalten ist und Struktur kann Handeln zugleich nur ennöglichen. wenn sie von diesem unterschieden ist. Damit sind aber grundsätzliche theoretisch-methodische Probleme aufgeworfen. von denen hier einige nur kurz benannt werden können 117: - wie kann Handeln - wenn es doch den Strukturen in gewisser Weise entgleitet gleichwohl doch von diesen Strukturen verfaßt sein?; - und umgekehrt: wie kann Struktur - wenn es doch vom Handeln unterschieden ist - gleichwohl im Handeln "stecken"?; - wie wird die sog. virtuelle Struktur selbst überhaupt verwirklicht?; - die oben schon angeschnittene Frage nach der Vennittlung - ohne einerseits Handelnde zu Ausführungsorganen der Strukturen zu degradieren und ohne andererseits Handeln aus seiner Strukturgebundenheit herauszulösen. Zurück zum Problemkern: Die entscheidende Frage ist u. E. nach wie vor, ob und wie sich Freiheitsgrade des Handeins mit auf- bzw. absteigendem Systemrang der jeweils betrachteten Teilstruktur verändern. Die von Ortmann immer wieder ins Spiel gebrachte Rekursionsmöglichkeit, also die Rückwirkung von Handeln auf Struktur ist nicht einfach "grundsätzlich" gegeben, sondern entscheidend abhängig von der relativen Größenordnung der Struktur innerhalb des Gesamtsystems. Konkreter fonnuliert: Auf beliebige ,,Mikro-Strukturen" bezogen, ist die Behauptung von Kontingenz des Handeins fraglos nicht falsch - zugleich aber auch trivial: Ein Produktionsarbeiter kann natürlich eine "Strukturregel" betreffend die Bearbeitungsreihenfolge eines Werkstücks verletzen llS, aber derselbe Produktionsarbeiter wird kaum den sog. ,,Lauf der Dinge,,119 auf Dauer aufhalten, wenn es z. B. um Rationalisierung etc. geht. Allgemein fonnuliert heißt dies, daß die rekursive Wirkung von Handeln auf Struktur tendenziell auf Null zugeht, je weiter man in der Systemrangordnung nach 116 Vgl. Müller. H.-P. (Sozialstruktur. 1992). S. 174; vgl. weiter: GÖrg. C. (Theorie der Strukturierung. 1994). S. 51; Neuberger. O. (Mikropolitik. 1995). S. 289. 117 Vgl. hierzu: GÖrg. C. (Theorie der Strukturierung. 1994). S. 42ff.; Neuberger. O. (Mikropolitik. 1995). S. 304ff.; Türk. K. (Gesellschaftsfonnation. 1997). S. 153f.; Stork. V. (Gesellschaft. 1998). S. 7. 118 Selbst ein solcher Freiheitsgrad ist abhängig vom Strukturrahmen: Ein solches Szenario ist durchaus nachvollziehbar im Rahmen einer Produktionsstruktur "VW-Reparaturwerkstatt Meyer & Co .... kaum aber im Rahmen einer Produktionsstruktur "VW-Montageband Nr.33". 119 Vgl. Ortmann. G.lBecker. A. (Management. 1995). S. 50; vgl. S. 47 dieses Abschnitts 2.5 der Arbeit.
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
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oben geht. Deshalb erhält auch das Rekursionsargument seine Plausibilität eben von der Unbestimmtheit resp. Beliebigkeit des Strukturbegriffs. Wenn auch im Fokus dieser Arbeit der reale gesellschaftliche Zusammenhang zwischen Handeln und Struktur steht, so soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, daß die von Ortmann (nicht frei von Akrobatik, der man ihrerseits eine gewisse Virtuosität nicht absprechen kann) in Anschlag gebrachten Begriffe ,,Reproduktion", ,,Rekursivität", ,,Dualität" bzw. ihre Verwendung auch auf einer formalstrukturellen Ebene nicht unproblematisch sind. Dieser kritische Hinweis soll im folgenden anhand zweier Zitate illustriert werden: Zitat 1: ,,Rekursiv will ich solche Reproduktionsprozesse - im weitesten Sinne - nennen, für die gilt: Sie sind zirkulär gebaut in der Weise, daß die Resultate der Prozesse in die iterativen Runden der Reproduktion als Grundlage eingehen. Von rekursiven Konstitutions- oder Reproduktionsverhältnissen spreche ich demgemäß, wenn die zwei Seiten eines Verhältnisses einander wechselseitig Grundlage und Resultat sind". 120 Zitat 2: "Genau das meint ja Rekursivität: die iterative Anwendung einer Operation/ Transformation - hier: der Operation ,Strukturieren' - auf ihr eigenes Resultat - hier: das Resultat ,Struktur'. Anders ausgedrückt: Rekursivität heißt, daß der Output einer Operation/Transformation als neuer Input in eben diese Operation/Transformation wieder eingeht, und genau das ist es, was mit der im und durch das Handeln (re-)produzierten Struktur geschieht: Sie ist (mitlaufendes) Resultat des HandeIns und geht in weiteres Handeln als sein ,Medium' ein ...... 121
Die Analyse dieser Aussagen zeigt eine eigentümliche ,,Dualität" neuer Art auf: In Zitat 1 ist es das Verhältnis bzw. der Zusammenhang zwischen Handeln und Struktur, welches als rekursiv bezeichnet wird. In Zitat 2 hingegen bezeichnet Rekursivität nicht mehr ein Verhältnis zwischen einerseits Handeln und andererseits Struktur, sondern das Handeln (Operation) selbst ist rekursiv in seinem Vollzug.
Diese AuffaIligkeit konstatiert Christoph Görg (ohne weitere diesbezügliche Kommentierung) mit dem Hinweis, daß Rekursivität " ... nicht nur zwischen Struktur und Handlung (erscheint), sondern sich innerhalb beider Begriffsdimensionen (wiederholt)". 122
Die darin liegende Eigentümlichkeit bzw. Unsauberkeit in der Begriffsverwendung kommentiert Klaus Türk wie folgt: Die " ... für diese Theorie grundlegende Vorstellung, daß Strukturen und Handlungen ,rekursive' aufeinander bezogen seien, erscheint als problematisch. Zumindest der mathematische Rekursionsbegriff bezeichnet den (höchst speziellen) Fall, daß auf den Wert (das Ergebnis) einer Funktion diese Funktion immer wieder angewendet wird. Das heißt aber, 120 121 122
Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 81 f., Herv. weggl. Ortmann, G.lSydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 318 f., Herv. weggl. Görg, C. (Theorie der Strukturierung, 1994), S. 51, Herv. weggl.
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
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daß es Rekursivität nur in bezug auf ein und dasselbe ,System' geben kann, das sich rekursiv selbst (konvergent, divergent oder stationär) reproduziert. Keinesfalls aber kann sich dieses Phänomen auf den Zusammenhang zweier verschiedener ,Systeme' beziehen, etwa menschlichen Akteuren einerseits und gesellschaftlichen Strukturen andererseits, worum es bei dem vermeintlichen ,Mikro-Makro-Problem' ja gehen soll. Wenn in dieser Theorie von einer ,rekursiven Beziehung zwischen Handlungen und Strukturen' die Rede ist, könnte ,Handlung' nur als Element der Struktur selbst begriffen werden, die sich aus strukturell/ systemisch definierten ,Handlungen' selbst reproduziert". 123
Das heißt anders ausgedrückt: Wenn Ortmann von einer rekursiven Beziehung zwischen Handeln und Struktur ausgeht, dann läßt sich Handeln nur begreifen als Element der Struktur und diese Struktur (re-)produziert sich sodann selbst aus dem Handeln, sie ist so das "mitlaufende Resultat des Handelns". Zu Ende gedacht wäre man dann bei Luhmanns "Theorie der Autopoiesis und Selbstreferentialität", die er eigentlich doch ablehnt. 124 Daß Strukturen Handeln bestimmen, heißt bei Ortmann gerade nicht, daß vom Handeln unabhängige "Wirkkräfte" (Strukturen) in das reale soziale Geschehen oder in das Handeln selbst eingreifen; es gibt keine "objektiven" und d. h. hier keine überindividuell wirkenden Zwänge. Handeln ist rekursiv gedacht: Im und durch ihr Handeln (re-)produzieren die Individuen die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen. Handeln wird damit nicht vom Ziel bzw. vom angestrebten Erfolg her interpretiert, sondern immer schon selbstbezüglich, als rekursiv produzierte Selbst-Bestimmung resp. Selbst-Festlegung gedacht, weil es als Handeln die Bedingungen seiner Möglichkeit, die Struktur, beständig (re-)produziert: ,,Die Ermöglichung basiert auf der Restriktion". 125 Derart ihres Gewichts entledigt, bleibt dennoch "Struktur" im Vokabular der Theorie: Ohne für das Handeln konstitutiv zu sein, beeinflußt sie dieses mittels eben jener " ... Dualität von Struktur, die darin liegt, daß sie zugleich Medium und Produkt des Handelns ist". 126 Türk, K. (Gesellschaftsformation, 1997), S. 153 f. Vgl. Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 49, Fn. 10; vgl. weiter: Türk, K. (Gesellschaftsformation, 1997), S. 154. Vgl. zur "Theorie der Autopoiesis und Selbstreferentialität": Luhmann, N. (Systeme, 1984), Luhmann führt an anderer Stelle aus: ,,Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Alles, was solche Systeme als Einheit verwenden: ihre Elemente, ihre Prozesse, ihre Strukturen und sich selbst, wird durch eben solche Einheiten im System erst bestimmt. Oder anders gesagt: es gibt weder Input von Einheit in das System, noch Output von Einheit aus dem System. Das heißt nicht, daß keine Beziehungen zur Umwelt bestehen, aber diese Beziehungen liegen auf anderen Realitätsebenen als die Autopoiesis selbst" (Luhmann, N. (Aufklärung 6, 1995), S. 56, vgl. auch: S. 59); vgl. weiter: Luhmann, N. (Organisation, 1988), S. 166. 125 Ortmann, G.lSydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 319, Herv. weggl. 126 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 41. 123
124
54
2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Nachdem erst einmal der gesamte Gegenstand in den Kategorien der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur" gefaßt ist, werden weitere Argumente anscheinend überflüssig. Die Ausführungen sind denn auch erfüllt von der Gewißheit, daß die bloße Behauptung genügt: ,,Dazu (zu diesem Theorem - W.S.) sind nur wenige Kommentare nötig". 127 Es läßt sich anscheinend mit dem Theorem und seinen Begriffen die Sache auf "zwanglose und einleuchtende Weise.. 128 darstellen. Hinter dieser zwanglosen wie einleuchtenden Weise verbirgt sich aber, daß die Frage nach dem Verhältnis zwischen Handeln und Struktur bereits vorab entschieden wurde im Sinne der Abstraktionsebenen, u. zw. unabhängig von der Beschaffenheit der Sache. Sie ist sogar entschieden, bevor sie sich stellt, genau genommen: Sie kann sich überhaupt nicht mehr stellen, denn die " ... Zirkularität der Rekursion (steht) gleichsam am Anfang der Gesellschaft ..... 129, insoweit muß Symmetrie zwischen Handeln und Struktur herrschen. Damit fällt die Frage sogleich in den Zuständigkeitsbereich des Theorems von der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur" und zwar bevor noch das Verhältnis zwischen Handeln und Struktur begrifflich bestimmt werden kann, denn es ist von allem Anfang an bestimmt: ,,Eine strukturationstheoretische Betrachtung ( ... ) muß Institutionen und Regulationen von Anfang an als - restringierendes und ermöglichendes - Medium und als Produkt des Handeins analysieren". 130
"Von Anfang an" - und zwar noch bevor der Sachverhalt ,,Mikropolitik" bzw. irgendwelche Empirie überhaupt in diese Analyse eingehen kann. Daß es sich somit um Dogmatismus handelt, weiß auch Ortmann: Wenn " ... wir Ernst machen wollen mit der Idee der Rekursivität, dann müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, daß sie die Möglichkeit einer zirkulären Dogmatik implizien " 131
Daß zugleich mit dieser (dogmatischen) Grundfigur wie mit den aus ihr folgenden Implikationen offene Fragen und Probleme verbunden sind, streitet er zwar nicht ab 132 - nur problematisiert er dies erst, nachdem er sie vorher "im Wege der Begriffsbildung entproblematisiert.. 133 hat.
Orunann, G. (Formen, 1995a), S. 90. Orunann, G.I Sydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 322. 129 Orunann, G. (Formen, 1995a), S. 86. 130 Orunann, G./Sydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 328, Herv. weggl. 13l Orunann, G. (Rekursivität, 1997), S. 45. 132 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), u. a. S. 180ff., 240. 286; vgl. weiter: Ortmann, G./ Sydow, J.lWindeler, A. (Strukturation, 1997), S. 352 ff. 133 Die Pointierung ist eine Anleihe bei Onmann selbst, vgl. Onmann, G. (Untemehmungsziele, 1976), S. 104. 127 128
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
55
Und so bilden der Begriff bzw. die Theorie nicht die Sache bzw. die Realität ab, sondern umgekehrt die Sache bzw. die Realität wird an den vorgefaßten Begriff bzw. an die vorgefaßte Theorie angepaßt. Die vorstehenden kritischen Ausführungen zielen nicht auf eine Würdigung des strukturationstheoretischen Ansatzes in seiner Gänze. Vielmehr bezieht sich diese Kritik auf die Adaption dieses Ansatzes für die Zwecke der mikropolitisch inspirierten Argumentationsstruktur von Ortmann. Gleichwohl zeigt die Diskussion in der sozialwissenschaftlichen Literatur durchaus, daß der strukturationstheoretische Ansatz von Giddens - auf den Ortmann explizit zurückgreift - insgesamt defizitär, die Bestimmung des Vermittlungsmodus' der beiden Analyseperspektiven Handeln und Struktur sowie eine zureichende kategorial-grundbegriffliche Absicherung nicht gelungen, und die Argumentation eine verzerrte, vieldeutige und überhaupt inkonsistente ist. 134 Versucht man die vielfältigen Formulierungen Ortmanns zum Verhältnis von Struktur und Handeln - denen es ebensowenig an Effektfülle wie an Redundanz mangelt - auf ihren harten Kern zu komprimieren, so besteht dieser letztlich in der Aussage, daß Strukturen nicht ursächlich-überindividuell eine Wirkung entfalten können. Daß eine solche Auffassung, insbesondere die Marxsche These von der Verselbständigung (kapitalistischer) Strukturen gegenüber dem Handeln der Individuen konterkariert, bedarf hier nicht der weiteren Erläuterung. 134 Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung und Kritik auf unterschiedlichen Ebenen: Layder, D. (1981), Structure, Interaction and Social Theory, London 1981; Hirst, P. (1982), "The Social Theory of Anthony Giddens: A New Syncretism?", in: "Theory, Culture and Society", 1 (1982) 2, S. 78 ff.; Wright, E. O. (1983a), "Giddens' Critique of Marxism", in: "New Left Review", (1983) 183, S. 11 ff.; ders. (1983b), "Review Essay - Is Marxism Really Functionalist, Class Reductionist, and Teleological?", in: ,,American Journal of Sociology", 89 (1983) 2, S. 452 ff.; ders. (1985), "Was bedeutet neo und was heißt marxistisch in der neomarxistischen Klassenanalyse?", in: Strasser, H./Goldthorpe, J. H. (Hrsg.), Die Analyse sozialer Ungleichheit. Kontinuität, Erneuerung, Innovation, Opladen 1985, S. 238ff.; McLennan, G. (1984), "Critical or Positive Theory? A Comrnent on the Status of Anthony Giddens' Social Theory", in: ..Theory, Culture and Society", 2 (1984) I, S. 123ff.; Thompson, J. B. (1984), Studies in the Theory ofIdeology, Cambridge 1984; Callinicos, A. (1985), ,.Anthony Giddens. A Contemporary Critique", in: "Theory and Society", 14 (1985) 2, S. 133ff.; Srnith, J. W.I Turner, B. S. (1986), ..Constructing Social Theory and Constituting Society", in: ..Theory, Culture and Society", 3 (1986) I, S. 125ff.; Kiessling, B. (Kritik, 1988); Gregson, N. (1989), ..On the (ir)relevance of Structuration Theory to Empirical Research", in: Held, D./Thompson, J. B. (Eds.) (Social Theory, 1989),S. 235ff.; Held, D./Thompson, J. B. (Eds.) (Social Theory, 1989); Clark, J.lModgil, C.lModgil, S. (Eds.) (1990), Anthony Giddens: Consensus and Controversy, London/New York/Philadelphia 1990; Bryant, C. G. A./Jary, D. (Eds.) (Theory of Structuration, 1991); Kilrninster, R. (1991), ..Structuration Theory as a WordView", in: Bryant, C. G. A.I Jary, D. (Eds.)(Theory of Structuration, 1991), S. 74 ff.; Craib, I. (1992), Anthony Giddens, London/New York 1992; Müller, H.-P. (Sozialstruktur, 1992), S. 145 ff., besonders: S. 166ff.; Görg, C. (Theorie der Strukturierung, 1994), S. 31 ff.; Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 285ff.; Türk, K. (Gesellschaftsformation, 1997), S. 151 ff.; Stork, V. (Gesellschaft, 1998), S. 1 ff.; Stork, V. (Komrnunitarismus, 1999), S. 17ff.
2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
56
Bemerkenswert im Kontext dieser Arbeit ist, daß sich damit jene von uns sog. theoretische "Konversion" von Ortmann manifestiert. Denn mit seinen aktuellen Auffassungen vom Verhältnis von Handeln und Struktur konterkariert er vollständig seine früheren Thesen von 1976, in denen er mit Nachdruck auf jene übergeordneten Grenzen des Marktes hingewiesen hat, innerhalb derer Individuen und Organisationen (ver-)handeln (in seinem heutigen Duktus: Mikropolitik betreiben) können. Bei der Diskussion der Anreiz-Beitrags-Theorie 135 verdeutlicht Ortmann den Status von und das Verhältnis zwischen Individual- und Untemehmenszielen am Beispiel des Lohn-Leistungs-Verhältnisses und verweist mit Nachdruck auf den "zweifellos zu jedem gegebenen Zeitpunkt eng begrenzten,,136 Aktionsraum der Akteure, u.zw. der Lohnempfänger wie der Lohnzahler: ,,Die ,Struktur des Arbeitsmarktes' wölbt sich ( ... ) als eine Art Über-Organisation über die individuelle Kalkulation und gibt die Grenzen vor, innerhalb deren sich Individuen und Organisation über Leistung und Entlohnung arrangieren müssen ...... 137 Ortmann erweitert diesen Ansatz und insistiert darauf, daß die Marktzwänge eine alles - nämlich den Handlungsspielraum der Individuen wie der Organisation insgesamt - umfassende Einhüllende darstellen: ,,Aber selbstverständlich ist die Unternehmung auch nach oben nicht frei. Hier ist die Struktur des Arbeitsmarktes einschließlich der dort herrschenden Konkurrenz immer schon vorausgesetzt". 138 Seine Schlußfolgerung aus der Einsicht in die Existenz einer solchen Einhüllenden klingt wie eine vorweggenommene Absage an seine heutigen Positionen: "Unter diesen Umständen büßt nun allerdings der zunächst so einleuchtende Satz, das Organisationsziel sei Vehikel zum Transport der Individualziele, viel von seiner Attraktivität ein. Die Ziele der Individuen sind hier repräsentiert durch ihre Anspruchsniveaus. Bei näherem Hinsehen aber stellt sich heraus, daß diese Anspruchsniveaus keineswegs subjektiv bestimmt, sondern in den Grenzen organisatorisch festgelegter, vom Standpunkt des Individuums aus unhintergehbarer Anreiz-Beitrags-(Lohn-Leistungs-)Verknüpfungen befangen sind ...... 139 Daß diese elementare Einsichten in die Realität der erwerbswirtschaftlich verfaßten Gesellschaft keineswegs nur Marxisten vorbehalten bleibt, mögen auch die Vgl. Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976), S. 31 ff. Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976), S. 32. 137 Ortmann zitiert hier Prewo, R./Ritsert, J.lStracke, E. (1973), Systemtheoretische Ansätze in der Soziologie. Eine kritische Analyse, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 252, (Fundstelle: Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976), S. 32). In einer Fußnote führt Ortmann noch aus, daß sich Rainer Prewo et al. auf March, J. G.I Simon, H. A. (1958), Organizations, New York/London/Sydney 1958, S. 86, 89 beziehen. 138 Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976), S. 32. 139 Ortmann, G. (Unternehmungsziele, 1976), S. 33. 135
136
2.5 Zum Verhältnis von Handeln und Struktur
57
zwei folgenden Einlassungen zeigen, die direkt zum Thema gehören. So verweist Oswald Neuberger darauf, daß: "Wenn Strukturen Handlungen ermöglichen und beschränken, dann sind sie etwas anderes als Handlungen, weil sie auf diese Einfluß nehmen. Es kommt ihnen - dualistisch! - selbständige Existenz und eigene Kraft ZU,,14O,
und Klaus Türk bemerkt (nicht ohne Ironie), " ... daß Strukturen für manche vieles ermöglichen und für viele vieles restringieren". 141
Welche Entsprechung die heutigen, entgegengesetzten Vorstellungen von Ortmann in der Realität auch haben mögen 142, für seinen mikropolitisch orientierten· gesamtgesellschaftlichen Analyse- bzw. Erklärungsansatz leisten sie unverzichtbare Dienste: Denn erst durch die Negierung der o. g. ,,Einhüllenden", d. h. der dem einzel wirtschaftlichen Handeln durch die sozialökonomische Verfassung vorgegebenen Strukturbedingungen, ist jene Autonomie des Individuums darstellbar, ohne die gesamtgesellschaftlich relevantes, mikropolitisches Handeln nicht möglich ist. Ortmann bemerkt denn auch: "Beides - einen Begriff von Struktur wie von Handeln - werden wir ( ... ) auf das Phänomen Mikropolitik beziehen". 143
Zur Darstellung bzw. Begründung jener Autonomie des Individuums reicht freilich die Negierung des Primats gesellschaftlicher Strukturbedingungen nicht aus. Denn auch ein im Sinne von Ortmann rekursives Verhältnis nach dem Muster "Handlung-Struktur-Handlung" würde keine Autonomie der Individuen konstituieren, wenn die in diesem Muster implizierten Wirkungszusammenhänge kausal im strengen Sinne, d. h. deterministisch abliefen. Das Individuum wäre unentrinnbar gefangen im Teufelskreis ("circulus vitiosus") der durch seine eigenen Handlungen einmal geschaffenen Strukturen. Das heißt, zur Begründung einer Autonomie der Individuen (insbesondere in Gestalt der "Kontingenz") mit der von ihm postulierten Reichweite gehört neben der Negierung vorgegebener Strukturen auch die Negierung jeder Art von "Determinismus". Diesen aber glaubt Ortmann auszumachen bei allen von ihm kritisierten "klassischen" einschlägigen Ansätzen.
140 141 142 143
Neuberger, O. (Mikropolitik, 1995), S. 320. Türk, K. (Gesellschaftsformation, 1997), S. 153. Vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. Ortmann, G./ Becker, A. (Management, 1995), S. 49.
58
2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
2.6 "Dualität von Struktur" versus "Determination"? Einige Anmerkungen zum Verhältnis von Kausalität, Determination und Ätialität Ein wesentlicher Punkt der Kritik Ortmanns an der "traditionellen" Theorie (das Spektrum der Kritisierten ist weit und reicht von Adam Smith bis Karl Marx und weiter von Erich Gutenberg bis Edmund Heinen)l44 ist sein Vorwurf eines in diesen Ansätzen enthaltenen Determinismus' zwischen Struktur und Handeln. Dieser Vorwurf resp. seine Wendung ins Positive lautet: Es treffe nicht zu (so wie in den o. g. Theorien behauptet), daß eine bestimmte soziale Struktur ein bestimmtes soziales Handeln eindeutig voraussagbar macht. Vielmehr stellen "Struktur" und "Handeln" zwei Seiten eines Verhältnisses dar, die sich wechselseitig als Grundlage und Resultat zirkulär-rekursiv konstituieren, so daß es sich letztlich nur um eine ",Gleichheit in der Verschiedenheit' ,,145 handelt. Diese Kritik (bzw. die Unterstellung eines Determinismus', auf der sie aufgebaut ist) hält einer Überprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand. Der ,,Determinismus"-Vorwurf basiert offensichtlich auf einer Gleichsetzung von Kausalität und Determination, deren Ursprung (Mißverständnis?) für die Würdigung der Ortmannschen Positionen unwichtig, deren Folgen für die Substanz dieser Positionen (Stichhaltigkeit des Determinismus-Vorwurfs) um so wichtiger sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns an dieser Stelle durchaus geboten, auf die Unhaltbarkeit dieser Gleichsetzung hinzuweisen. 146 Wenn gewissen realen Bedingungen ("Ursachen") eine eindeutige Folge ("Wirkung") zugeordnet werden kann, dann wird die Folge (bzw. der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung) als "streng kausal" oder "determiniert" bezeichnet, d. h. bei " ... deterministischer Betrachtung ist die Ursache ,Praediktor' für die Wirkung" .147
144 Vgl. Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 29ff., 84, 105ff., 122,279; vgl. weiter: Ortmann, G./Becker, A. (Management, 1995), S. 49, Fn. 10; Ortmann, G.lSydow, J./Windeler, A. (Strukturation, 1997), S. 315 ff. 145 Ortmann, G. (Formen, 1995a), S. 394. 146 Die nachfolgenden Ausführungen folgen im wesentlichen der einschlägigen Argumentation von Günter Menges, (vgl. Menges, G. (1972), Grundriß der Statistik, Teil I: Theorie, (1. Aufl., Opladen 1968),2., erw. Aufl., Opladen 1972; ders. (1982), Die Statistik. Zwölf Stationen des statistischen Arbeitens, Wiesbaden 1982, S. 29f.), sowie einer Reihe intensiver Diskussionen im Rahmen von Vorlesungen und Seminaren über ,,Entscheidungstheorie" an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg im WS 1990/91, SS 1991, WS 1996/97, SS 1997, WS 1997/98. 147 Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 28. "Praediktor" heißt: Bedingung, die ein Ereignis voraussagbar macht (vgl. ebenda, S. 28).
2.6 "Dualität von Struktur" versus ,,oetennination"?
59
Jedesmal wenn z. B. eine Kugel im luftleeren Raum aus einer Höhe von 100 m losgelassen wird, fallt und trifft sie nach einer Zeit von 4,5155 sec. mit einer Geschwindigkeit von 44,2944 m I sec. auf den Boden. Diese empirische Regelmäßigkeit interpretiert man als streng kausal, indem man sagt: ,.Auf U (freier Fall aus 100 m) folgt W (Aufprall nach t sec. mit der Geschwindigkeit v)". Die Struktur dieser Interpretation präzisiert Günter Menges so: "Was uns hier interessiert, ist ( ... ) die Eindeutigkeit der zeitlichen Abfolge ( ... ). Solche Eindeutigkeit der zeitlichen Abfolge nennen wir kausal! Wir denken die Abfolge unter dem Prinzip der Kausalität ( ... ). Stets folgt B auf A: A -+ B".148
Wenn nun gewisse reale Bedingungen ("Ursachenkomplex") U mehrere mögliche Folgen ("Wirkungen") W" W2, W3, .•• aufweisen, dann nennt man die Folgen (bzw. den Zusammenhang zwischen Ursachenkomplex und Wirkungen) "zufallsabhängig" oder "zufallig". Um im Bilde des ersten Beispiels zu bleiben: Mehrere Suizidkandidaten sind im Laufe der Zeit von der gleichen Stelle einer bestimmten Brücke gesprungen und schlugen genau h Meter tiefer auf die Wasseroberfläche auf; es gab Tote, verschiedentlich Verletzte und zwei blieben unverletzt. Wie hat man den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang in diesem zweiten Szenario zu interpretieren? In diesem Szenario hat die Ursache U ("Sprung aus der Brücke") offenbar mehrere mögliche Folgen W" W2 , .•. ("Tod", "Verletzung", ... ), die man zufallig nennt, weil sie nicht jedesmal einzeln voraussehbar waren. Man sagt: "U kann nicht Praediktor für ein bestimmtes WK sein." Dennoch ist auch hier ". .. Kausalität als Erklärungsinstanz nicht suspendiert, denn gleichgültig, welche Folge faktisch eintritt, die eingetretene Folge ist das Resultat einer kausalen Abfolge ... ".149
An dem zuvor verwendeten Beispiel verdeutlicht: Der Ursachenkomplex ("Absprung aus der Brücke") ist die (unscharfe) Zusammenfassung von Einzelbedingungen wie Gewicht und Körperformen, Kleidung, Richtung des Absprungs usw., über deren jeweilige Existenz Informationsdefizite bestehen. Es ist also die Unschärfe dieses Ursachenkomplexes, die die Voraussehbarkeit seiner einzelnen Folgen unmöglich macht. Aber: Jedes der in diesem Sinne "zufalligen Ereignisse" ist ex post kausal interpretierbar. Die zugrundeliegenden sachlichen und kategorialen Zusammenhänge sind grundsätzlich in den Kategorien des "Kausalprinzips" bzw. "Ätialprinzips" zusammengefaßt:
148 149
Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 27, Herv. weggl. Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 28, Herv. weggl.
60
2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Während im Kausalprinzip ("eine bestimmte Ursache ist Praediktor für eine bestimmte Wirkung") die strenge Kausalität, also Determination zum Ausdruck kommt, bringt das sog. Ätialprinzip die eben auch im Falle sogenannter "zufälliger Ereignisse" gegebene Kausalität zum Ausdruck. 150 Der Terminus ,,Ätialprinzip" geht wohl auf Heinrich Hartwig zurück, dessen Ausführungen Menges in dem Satz ",gleiche allgemeine Ursachen - gleiche Menge von möglichen Wirkungen mit zugehörigen Wahrscheinlichkeiten'''lSl zusammenfaßt. Diesen Sachverhalt expliziert Hartwig so: ,,Eine allgemeine Ursache ist also eine solche, welche das Verteilungsgesetz der zahlenmäßigen Charakteristik einer Massenerscheinung in ebenso eindeutiger Weise bestimmt bzw. verändert, wie die causa den jeweiligen Zustand einer Einzelerscheinung, und indem wir das Kausalprinzip dahingehend formulieren, daß gleiche Ursachen die gleiche Wirkung überall zeitigen, müssen wir nunmehr von dem ganz analogen Grundsatze als Verknüpfungsregel uns leiten lassen, daß gleiche allgemeine Ursachen das gleiche Verteilungsgesetz zur notwendigen Folge haben. Dieses letztere ,Verursachungsprinzip', der Form nach dem ersteren ähnlich und dennoch im Wesen völlig verschieden von ihm, möge ( ... ) Ätialprinzip heißen ...".152
Dieses Ätialprinzip gilt es weiter aufzuschlüsseln, weil es erstens der Inbegriff der wichtigsten wahrscheinlichkeitstheoretischen Aussagen über Kausalität I Ätialität ist, und zweitens, weil Ortmann unter dem Deckmantel der Ablehnung deterministischer bzw. strenger Kausalität praktisch jegliche kausale Ableitung zurückweist und das Verhältnis sämtlicher von ihm in Anschlag gebrachter Kategorien zueinander auf die zirkulär-rekursive Kreisbahn zwingt. Die Beschäftigung mit diesem Ätialprinzip macht deutlich, daß es genau das leistet, was Ortmann in Abrede stellt, nämlich die Möglichkeit 1S3 einer kausalen Ableitung des Handeins aus der Struktur, ohne Handeln zugleich zu reifizieren bzw. ohne den Zusammenhang auf deterministische (strenge) Kausalität zu verkürzen. An dieser Stelle lohnt es sich durchaus, die Grundzusammenhänge von "Ursache und Zufall"154 in Erinnerung zu rufen, etwa am Beispiel der Grundstruktur von Entscheidungen bei unsicheren Erwartungen: 150 Insofern ist es keineswegs zufällig, daß die für die Bezeichnung der beiden Prinzipien verwendeten Termini in der jeweils anderen Sprache identisch sind: "Ätialität" bedeutet im Griechischen nichts anderes als "Kausalität". 151 Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 30; vgl. weiter: Hartwig, H. (1956), "Naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Statistik", in: ,,zfgS", 112 (1956) 2, S. 252ff.; Menges, G. (1981), ,,Ätialität und Adäquation - Dem Andenken an Heinrich Hartwig (1907 -1981)", in: "Statistische Hefte", 22 (1981) 2, S. 144ff. 152 Hartwig, H. (Statistik, 1956), S. 257f., Herv. weggl. Der Begriff des Verteilungsgesetzes bezieht sich auf die Menge möglicher Wirkungen (Ergebnisse) mit den ihnen zugeordneten Wahrscheinlichkeiten. Verändern sich die "gleichen allgemeinen Ursachen", verändert sich also das "Ursachengesamt", so verändert sich auch das Verteilungsgesetz, vgl. Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 30f. 153 Vgl. Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 27. 154 Vgl. Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 27.
2.6 "Dualität von Struktur" versus .,Determination"?
61
Jede Aktion (ai) in sog. Risikosituationen konstituiert einen Ursachenkomplex bestehend aus der Aktion selbst und der Menge der denkbaren Umweltzustände (Z = Zl. Z2•...• Zn). die "zufällig" mit entsprechenden Wahrscheinlichkeiten (p" P2 •...• Pn) eintreten können. Dieser Ursachenkomplex (ai. Z) ("gleiche allgemeine Ursache") bedingt eine insgesamt genau umrissene Menge von (im einzelnen zufälligen) Folgen (eil> ei2 •...• ein). die mit den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten (p" P2 •...• Pn) eintreten können. Der kausale Gesamtzusammenhang lautet nun: zwischen dem o. g. Ursachenkomplex insgesamt und der O.g. Menge von Folgen besteht Kausalität. u. zw. im Sinne des strengen Kausalprinzips; "zufällig" u. zw. im Sinne des Ätialprinzips sind die einzelnen Folgen. was aber bedeutet. daß jede einzelne Folge ej mit dem Ursachenkomplex kausal verbunden ist mittels der entsprechenden Wahrscheinlichkeit Pj. Diesen .,Ätialzusammenhang" erläutert MengesISS so: •.Ich möchte das Ätialprinzip oder - wenn man eine anspruchslosere Bezeichnung vorzieht - das Probalitätsprinzip wie folgt ergänzend erläutern: Gegeben allgemeine Ursachen A, welche verschiedene mögliche Folgen Bi (i 1,2, ... ) haben; wir isolieren eine Folge B*. Dann ist die ,Leichtigkeit', mit der B* sich realisiert. oder die Neigung (oder Häufigkeit), mit der A die Folge B* produziert, verglichen jeweils mit den übrigen möglichen Folgen von A, als die Wahrscheinlichkeit p* aufzufassen. p* erklärt B* aus A. Es ist ein Maß der objektiven Rechtfertigung, A als die Ursache von B* zu betrachten, weil die Erklärung von B* aus A nämlich - auf die Dauer - im p*-ten Teil aller Verwirklichungen der Folgen von A tatsächlich zutrifft". 156
=
Die Diskussion der notwendigen Unterscheidung zwischen deterministischem Zusammenhang von Ursache und Wirkung einerseits und Kausalität im Sinne des Ätialprinzips andererseits findet man u. a. auch bei Herbert Hörz l57, der in der Substanz zum gleichen Ergebnis wie Menges gelangt, daß nämlich Kausalität als Erklärungsinstanz keineswegs aufgehoben ist. Hörz weist darauf hin,
ISS Menges nennt das Ätialprinzip "Probalitätsprinzip", vgl. Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 31. 156 Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 31, Herv. weggl. Auf die philosophischen Implikationen des Ätialprinzips und auf die Frage nach der Generierung von Wahrscheinlichkeiten kann hier nicht weiter eingegangen werden (vgl. zu den Implikationen: Hartwig, H. (Statistik, 1956). S. 252ff.; vgl. weiter: Hessen. J. (1958). Das Kausalprinzip, (1. Aufl., 0.0. 1928),2., erw. Aufl., München I Basel 1958; vgl. zur Generierung von Wahrscheinlichkeiten: Menges. G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 31 ff.). 157 Vgl. Hörz, H. (1974), ,,Das Verhältnis von Kausalität und Gesetz in der Physik", in:' ,,DZfP", 22 (1974) 8, S. 954ff.; vgl. weiter: ders. (1977), "Dialektischer Determinismus und allgemeine Systemtheorie", in: .,DZfP", 25 (1977) 6, S. 656ff.; vgl. auch: Bühl, W.L. (1992). "Vergebliche Liebe zum Chaos", in: "Soziale Welt", 43 (1992) 1, S. 26ff.; ders. (1993), "Politische Grenzen der Autopoiesis sozialer Systeme", in: Fischer. H. R. (Hrsg.), Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik. Autopoiesis, (1. Aufl., Heidelberg 1991),2., korrig. Aufl., Heidelberg 1993, S. 201 ff.
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2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
". .. daß alle Gesetze, auch die statistischen, auf der Grundlage eines Komplexes von Kausalbeziehungen existieren".ls8
Dies sei allerdings keineswegs mit "strenger" Kausalität gleichzusetzen, nach der " ... eine bestimmte Ursache notwendig eine bestimmte Wirkung hervorbringt ... ".159
Die Existenz eines sog. "Kausalgesetzes"l60 besagt vielmehr, daß der " ... objektive Zusammenhang nirgends durchbrochen ist und insofern auch zeitlich vorangehende Prozesse als Ursachen für die von ihnen in Gang gesetzten Prozesse existieren". 161
Auch wenn die Kategorie bzw. die Bezeichnung des Ätialprinzips nicht expressis verbis auftaucht, der kategoriale Inhalt findet sich auch bei Hörz in der Substanz identisch: ,,Ein statistisches Gesetz ist ein allgemein-notwendiger, d. h. reproduzierbarer und wesentlicher, d. h. den Charakter der Erscheinung bestimmender Zusammenhang, wobei die existierende Systemmöglichkeit notwendig verwirklicht wird (dynamischer Aspekt), für die Verwirklichung der Elementmöglichkeiten ergibt sich eine stochastische Verteilung der Wahrscheinlichkeiten (stochastischer Aspekt), und für ein Element existiert eine Wahrscheinlichkeit für die Verwirklichung einer bestimmten Möglichkeit (probalistischer Aspekt). Die Verwirklichung der Elementmöglichkeiten erfolgt also zufällig, aber mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit". 162
Sinn dieser grundsätzlichen Anmerkungen zur Kategorie der Kausalität ist es, auf die unzulässige Verengung dieses Begriffs bei Ortmann aufmerksam zu machen bzw. seine unzulässige Unterstellung, die Behauptung eines kausalen Zusammenhanges zwischen Struktur und Handeln sei mit der Annahme eines entsprechenden Detenninismus gleichzusetzen, zu konterkarieren. Die Begründung für diese Unterstellung bleibt er schuldig. Vollends abwegig ist diese Unterstellung für marxistische Ansätze. Diese Abwegigkeit zeigt sich deutlich dort, wo Ortmann die Kritik ins Positive wendet und er der angeblich von den Marxisten postulierten Detenniniertheit von Struktur und Handeln seine These von der ,,Rekursivität und Dualität von Struktur" entgegensetzt: Daß Strukturen in einem dialektischen Verhältnis zu den von ihnen ausgehenden Wirkungen stehen (können), darauf muß man Marxisten nicht erst hinweisen - man denke nur an das Paradigma von "Basis und Überbau". 158
Hörz, H. (Kausalität, 1974), S. 965.
m Hörz, H. (Kausalität, 1974), S. 963.
Vgl. Hörz, H. (Kausalität, 1974), S. 963, 965. Hörz, H. (Kausalität, 1974), S. 963; vgl. weiter: Hörz, H. (Dialektischer Determinismus, 1977), S. 656ff. 162 Hörz, H. (Kausalität, 1974), S. 962; vgl. auch: Menges, G. (Grundriß der Statistik, 1972), S. 31, wo die Verwandtschaft der Argumentation sehr deutlich wird. 160
161
2.6 "Dualität von Struktur" versus ,,Determination"?
63
Mit der Konstatierung eines dialektischen Verhältnisses zwischen zwei Gegenständen ist allerdings die "Ei-Henne-Frage", d. h. die Frage nach dem Primat und Derivat (hier: Struktur und Handeln) nicht beantwortet oder gar überflüssig geworden. Genau dies scheint aber bei Ortmann der Fall zu sein, wo ,.Rekursivität" unübersehbar in Zirkularität übergeht. Dieser Auffassung im Hinblick auf das Verhältnis von Struktur und Handeln muß aber aus der Sicht dieser Arbeit entschieden widersprochen werden, weil sie gerade durch die aktuellen realen sozialökonomischen Verhältnisse bzw. Entwicklungen kompromittiert wird. 163 Es sind also zwei Elemente in der Ortmannsehen Argumentation, die Widerspruch herausfordern: Zum einen ist dies - wie schon ausgeführt - seine Unterstellung, daß diejenigen, die sozialökonomische Strukturen als für das Handeln der darin agierenden Individuen ursächlich ansehen, einem Vulgärdetenninismus unterliegen. Dieser "Befund" ist schlicht falsch: Beim Bemühen um die Erschließung sozialökonomischer Grundsachverhalte geht es nicht darum, jedes beliebige Einzelereignis mittels einer einfachen, unidirektionalen (womöglich "zweigliedrigen") Kausalkette auf einen Grundsachverhalt zurückzuführen. Vielmehr geht es darum, " ... stets nach Ursachen [zu] fragen und hierbei in der Kette der aufweisbaren Kausalbeziehungen jene Grundbedingungen und bewegenden Kräfte [zu] erschließen, die einer geschichtlich bestimmten Gesellschaft jeweils eigentümlich sind". 164
Insofern wäre es nicht unangemessen zu pointieren: Mit seinem DetenninismusVorwurf vulgarisiert Ortmann selbst Theorie(n), um sie dann als vulgär zu denunzieren. Zum anderen muß darauf hingewiesen werden, daß die Konterkarierung von "Kausalität" durch ,.Rekursivität und Dualität" letztlich auf eine unübersehbar agnostizistische Grundauffassung hinausläuft, die objektiv eine Immunisierungsfunktion für herrschende sozialökonomische Strukturen hat, denn: Kann man Strukturen nicht eindeutig als für das Handeln ursächlich identifizieren, dann hat es wenig Sinn, über Veränderungen solcher Strukturen zum Zwecke der Steuerung von Handeln nachzudenken. Daß man unter dem Deckmantel der Ablehnung einer als detenninistisch verstandenen Kausalität praktisch jegliche kausale Ableitung ablehnt und in einen rekursiven Argumentationszirkel flüchtet, kann in der Tat als theoretische Verzichtleistung konstatiert werden, d. h. Verzicht auf eine Erkenntnis, der es um die Erschließung von Grundsachverhalten geht.
Vgl. hierzu Kapitel 4 dieser Arbeit. Hofmann, W. (Wirtschaftsgesellschaft, 1969a), S. 15; vgl. weiter: Hofmann, W. (Ideologie, 1969b), S. 112ff. 163
164
64
2. Grundstruktur einer Mikropolitik-Theorie
Es ist evident, daß die Antworten auf die kontrovers diskutierten Fragen um "Kausalität", "Determination", "Rekursivität" resp. ,,zirkularität" für alle Mikropolitik / -theorie - erst recht in dem hier diskutierten Ansatz von Ortmann - eine ausschlaggebende Rolle spielen. Ein Theorie-Bereich, in dem die Relevanz dieser Problematik besonders plastisch sichtbar wird, ist die Zieltheorie, die wiederum ihrerseits einen essentiellen Bestandteil aller Mikropolitik-Theorie darstellt. So ist es z. B. unmittelbar einsichtig, daß neoklassische wie marxistische Positionen über den Status des Gewinnziels grundSätzlich von einem kausalen Zusammenhang zwischen strukturellen Gegebenheiten der Erwerbsgesellschaft und Untemehmungszielen ausgehen. Umgekehrt ist für alle zielrelativistischen, insbesondere zielpluralistischen Auffassungen die Geltung der Autonomiethese unverzichtbar, die wiederum den Primat von "Strukturzwängen" grundsätzlich negiert und sich folgerichtig an Individualzielen orientiert. Die Negation des Primats von Strukturzwängen führt unweigerlich weiter zu einer Negation des o. g. Kausalzusammenhangs, wozu dann die Rekursivitäts- und Zirkularitätsthese wertvolle Begrundungsdienste leistet. Dies ist skizzenhaft der Hintergrund für das folgende dritte Kapitel der Arbeit, in dem die Hauptpositionen der zieltheoretischen Kontroverse diskutiert werden. Daneben gibt die zieltheoretische Thematik Anlaß, die in der Einleitung 165 angesprochene, bemerkenswerte "Konversion" von Ortmann an ihrer entscheidenden Manifestation zu verfolgen.
165
Vgl. S. 18.21 der Einleitung dieser Arbeit.
3. Zur Rationalität einzelwirtschaftlichen Handeins. Grundrnuster der Diskussion um die Ziele der erwerbswirtschaftlichen Unternehmung ,,Die Unternehmung ist eine Veranstaltung zur Erzielung von Geldeinkommen - hier Gewinn genannt - durch Betätigung im Wirtschaftsleben. Wenn wir also von einem Zweck der Unternehmung reden, so kann es nur dieser sein, Gewinn zu erzielen ... " (Wilhelm Rieger)1 ..(D)iesem Standpunkt (liegt) die Überzeugung zugrunde, daß unsere Wirtschaft fllr eine andere Einstellung keine Möglichkeit und keinen Raum läßt." (Wilhelm Rieger)2
3.1 Vorbemerkungen Das erwerbswirtschaftliche Prinzip alias Gewinnprinzip wird in der hier zur Diskussion stehenden mikropolitisch inspirierten Argumentation als ..... Moment der Sinn- und Interaktionsstruktur, nicht als psychisches Motiv ... ,,3 behauptet: ..... Rationalitätsnormen ( ... ) (sind) rekursiv in die kapitalistische Struktur eingelagert .. :