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German Pages 416 [420] Year 1988
Andreas Cesana • Geschichte als Entwicklung?
w DE
G
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland
Band 22
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1988
Geschichte als Entwicklung? Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens
von Andreas Cesana
Walter de Gruyter • Berlin • New York
1988
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral) CIP-Titelaufnahme
der Deutseben
Bibliothek
Cesana, Andreas: Geschichte als Entwicklung? : Zur Kritik d. geschichtsphilos. Entwicklungsdenkens / von Andreas Cesana. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 22) Zugl.: Basel, Univ., Habil.-Schr., 1986 ISBN 3-11-011737-1 NE: GT
© 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Einband: Lüderitz und Bauer, Berlin 61
Fur Angela
Vorwort Die Klagen über die Sinn- und Orientierungskrise unserer Gegenwart weisen zurück auf den Säkularisierungsprozeß der Aufklärung: mit dem Verlust der christlichen Heilsgewißheit war zugleich der Sinn von Welt, Geschichte und eigenem Dasein in radikaler Weise bedroht. Nun sollten Philosophie und Wissenschaft Gültiges aussagen und die Grundfragen menschlicher Existenz verbindlich beantworten. Dieser maßlosen Erwartung stellte sich die Erfahrung geschichtlicher Relativität entgegen: Welche menschliche Antwort vermöchte vor der alles auflösenden Macht der Zeit zu bestehen? Aus dem Dilemma des Menschen, als zeitliches Wesen Zeitloses zu wollen, schien für das aufgeklärte Denken nur noch ein Ausweg möglich zu sein: die Zeit selbst — als Geschehen der Menschheit, des Lebens und der Natur insgesamt — muß auf ihre Gesetzmäßigkeit und vorgegebene Verlaufsrichtung hin befragt werden. Es handelt sich hier um die Vorstellung, daß das Geschehen von Geschichte und Natur mehr bedeutet als bloßes Anderswerden. Der Terminus „Entwicklung" ist in besonderem Maße geeignet, diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen. Der Entwicklungsbegriff ist keineswegs neutral, denn er hat seinen Ursprung in der Anschauung organischen Wachsens und Werdens. Der rasche Aufstieg der Entwicklungsvorstellung zur zentralen Kategorie der modernen Geschichts- und Naturdeutung belegt die Tendenz des Menschen, die Welt mit Hilfe von Anschauungen und Modellen aus der ihm vertrauten Lebenswelt zu interpretieren. Die Untersuchungen der vorliegenden Arbeit verfolgen die Entstehung, Entfaltung und Auflösung der Entwicklungsvorstellung als geschichtsphilosophischer Kategorie. Dieses Interpretationsschema, das die Moderne so entscheidend geprägt hat, weist eine Vorgeschichte auf, die sich bis in die mythische Vorstellungswelt zurückverfolgen läßt. Aber erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird das alte Anschauungsbild auf einer neuen Abstraktionsebene thematisiert: „Entwicklung" wird zum theoretischen Begriff und „Entwicklung der Geschichte" zum wissenschaftlich-philosophischen Thema.
VIII
Vorwort
Das Scheitern des Entwicklungsdenkens macht bewußt, daß sich die Macht der Zeit über das Denken nicht dadurch brechen läßt, daß das Zeitgeschehen selbst als gesetzmäßiger Entwicklungsprozeß gedeutet wird. Die Philosophie hat folglich einzusehen, daß es ihr nicht gelingen kann, aus eigener rationaler Kraft Sinn- und Orientierungssysteme zu begründen. Ihre Aufgabe hat sich darauf zu beschränken, die vorgegebenen und je schon gelebten Sinngehalte zu klären und zugleich ungerechtfertigte Sinnansprüche in ihrem brüchigen und illusionären Charakter zu entlarven. Die nachfolgenden denkgeschichtlichen Untersuchungen verstehen sich nicht nur als kritische Überprüfung der Möglichkeiten einer Philosophie der Geschichte, sondern sie verfolgen zugleich die Absicht, die ideengeschichtlichen Voraussetzungen des modernen naturphilosophischen und kosmologischen Evolutionsdenkens aufzuzeigen. Denn wenn der moderne Evolutionsgedanke mit suggestivem Zwang die Vorstellung nahelegt, die Bewegung der Natur weise eine verborgene Gesetzmäßigkeit und Zielrichtung auf, so läßt sich dies aus der Tradition des Entwicklungsdenkens erklären: die heutige Situation des Denkens über Evolution krankt an ihrer uneingesehenen Vorgeschichte; sie leidet an der unbemerkten Übertragung der Kategorien und Schemata des älteren Entwicklungsdenkens auf das neue Faktum der Evolution. Die vorliegende Arbeit ist im Herbst 1985 abgeschlossen und im Sommersemester 1986 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Habilitationsschrift angenommen worden. An dieser Stelle möchte ich meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. H. A. Salmony, meinen herzlichen Dank aussprechen für die verständnisvolle Förderung meiner Arbeit. Für die Übernahme von Gutachten habe ich Frau Professor Dr. A. Pieper und Herrn Professor Dr. Gerhart Schmidt zu danken. Ihm bin ich überdies für seine freundlichen Ermutigungen sehr zu Dank verpflichtet. Mein besonderer Dank gilt schließlich auch den Herausgebern für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie". Basel, im Frühjahr 1988
Andreas Cesana
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
Einleitung
1 Erster Teil: Der Begriff der Entwicklung
I. Kapitel: Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs 1. Zur Sprachgeschichte von „Entwicklung" 2. Sprachkritische Vorüberlegungen 3. Zwei Grundschwierigkeiten historischer Terminologie 4. Geschichtsentwicklung als Metapher 5. Grenzen der Sprachkritik II. 1. 2. 3. 4.
Kapitel: Logik des Entwicklungsbegriffs Entwicklungslogik am Vorbild organischer Entwicklung Kumulation und Entwicklung Rickerts Bestimmung des historischen Entwicklungsbegriffs . . . Geschichtswissenschaftlicher und geschichtsphilosophischer Entwicklungsbegriff 5. Grenzen der Logik des Entwicklungsbegriffs 6. Weitere Differenzierungen 7. Bestimmungsmerkmale des Entwicklungsbegriffs III. Kapitel: Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Kategorie der Entwicklung 1. Der evolutionstheoretische Entwicklungsbegriff 2. Die geschichtsphilosophische Entwicklungskategorie 3. Wissenschaftliche und philosophische Fragestellung
11 11 18 25 29 34 39 41 47 52 64 69 77 83 88 90 95 99
Zweiter Teil: Die drei klassischen Paradigmen des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens I. Kapitel: Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff Kants 1. Die Ausgangssituation
109 109
X
2. 3. 4. 5. 6. 7.
Inhaltsverzeichnis
Der naturgeschichtliche Entwicklungsgedanke Der erkenntnistheoretische Status des Entwicklungsgedankens . . Das Schema der Geschichtsentwicklung Teleologie der Entwicklung und Schöpfungsgedanke Geschichtsentwicklung als Fortschritt Die Menschheitsentwicklung zwischen Schöpfungsursprung und Ziel
113 120 127 137 146 155
II. Kapitel: Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff Herders 1. Der Lebensaltervergleich 2. Entwicklung als Metapher organischen Wachstums 3. Entwicklung in Analogie der Natur
160 162 169 176
III. Kapitel: Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff Hegels 1. Natur und Geschichte 2. Weltgeschichte als Entwicklung 3. Philosophiegeschichte als Entwicklung
184 184 191 201
Dritter Teil: Hauptschwierigkeiten des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens I. Kapitel: Schöpfungsordnung und Entwicklung: die theologischen Prämissen des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens . 213 1. Der Entwicklungsgedanke in den Schöpfungsmythen 213 2. Die Vollendung der Schöpfung in der Geschichte 217 II. Kapitel: Das geschichtsphilosophische Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch 223 1. Orientierung am Vorbild der neuzeitlichen Naturwissenschaft . . 224 2. Die Selbstaufhebung des Entwicklungsgedankens 227 3. Denkgeschichte und Entwicklungsgedanke 234 III. Kapitel: Die Geschichtlichkeit des Entwicklungsbegriffs 1. Die Geschichtlichkeit des Denkens 2. Denkgeschichte als Denkkritik 3. Radikalisierung des Geschichtsproblems
238 238 .244 248
IV. Kapitel: Gegenpositionen 1. Die Kritik Jacob Burckhardts 2. Die Kritik Karl Löwiths
254 254 267
Inhaltsverzeichnis
3. Geschichtsphilosophie in der Krise 4. Anfang und Ende der Geschichtsphilosophie
XI
282 287
Vierter Teil: Kritik und Rechtfertigung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens I. Kapitel: Das Scheitern des Entwicklungsdenkens I: die Probleme des Historismus 293 1. Die Problemstellung 293 2. Die Position Wilhelm Diltheys 302 3. Entwicklung als Kategorie des Lebens 309 II. Kapitel: Das Scheitern des Entwicklungsdenkens II: die Geschichtlichkeit des Menschseins 1. Martin Heidegger: die Geschichtlichkeit des Daseins 2. Die Fundierung der Geschichte in der Geschichtlichkeit des Daseins 3. Karl Jaspers: die Geschichtlichkeit der Existenz
315 315 322 329
III. Kapitel: Das Scheitern des Entwicklungsdenkens III: die Geschichtlichkeit der Vernunft 343 1. Die Problemstellung 343 2. Vernunft und Evolution 348 3. Der Anspruch der evolutionären Erkenntnistheorie 353 4. Vernunftlosigkeit der Geschichte als Geschichtlichkeit der Vernunft 361 IV. Kapitel: Rechtfertigung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens 1. Die Dialektik der Geschichtlichkeit der Vernunft 2. Die Begründung der Geschichtsphilosophie in der Geschichtlichkeit der Vernunft 3. Die Begründung der Geschichtsphilosophie in der Geschichtlichkeit des Menschseins 4. Sinndeutung und Entwicklung
367 367 375 380 385
Literaturverzeichnis
393
Personenregister
401
Sachregister
403
Einleitung Die Zukunft der Geschichte wird in der Gegenwart entschieden. Das künftige Geschehen wird wesentlich durch die gegenwärtigen Geschichtsanschauungen und Geschichtsdeutungen bestimmt sein. Es besteht ein konstitutiver Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie Geschichte heute gedacht und die Stellung des Menschen in ihr begriffen wird, und der Zukunft dieser Geschichte. Darin kommt zum Ausdruck, daß Geschichte ihrer Struktur nach eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifende Einheit darstellt: die gegenwärtigen Vorstellungen des Vergangenen und die daraus hervorgehenden Ausblicke auf die Zukunft bilden maßgebende Faktoren im Werden der künftigen Geschichte. Es liegt in der geschichtlichen Natur des Menschen begründet, daß er sich nicht nur in der Geschichte, sondern zugleich immer schon in einer bestimmten Auslegung von ihr befindet. Die Bilder und Anschauungen der Geschichte, denen er teilweise bewußt, größtenteils aber unbemerkt folgt, bilden einen entscheidenden Teil seiner jeweiligen Gegenwart und Wirklichkeit. Sie fließen in sein Dasein ein und bestimmen es in den Verhaltens- und Handlungsweisen, in den jeweiligen Hoffnungen, Illusionen und Ängsten. Die beiden erwähnten Sachverhalte weisen auf die Unumgänglichkeit der geschichtsphilosophischen Aufgabe. Sowohl das Faktum, daß ein konstitutiver Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Geschichtsdenken und dem künftigen Geschehen besteht, als auch die anthropologische Tatsache, daß es dem Menschsein wesentlich ist, in impliziten und expliziten Anschauungen der Geschichte zu existieren, machen die Unerläßlichkeit des Nachdenkens über Geschichte offensichtlich. Nun ist die gegenwärtige Situation der Geschichtsphilosophie durch eine Krise gekennzeichnet, da einerseits die klassischen Geschichtsentwürfe unglaubwürdig geworden sind und andererseits die Philosophie der Geschichte noch zu keiner Neubestimmung ihrer Möglichkeit gefunden hat. Das Fehlen einer Philosophie der Geschichte macht sich in einer um so größeren Befangenheit in den tradierten, aber kaum durchschauten Geschichtsbildern bemerkbar. Entsprechend kann auch die heutige
2
Einleitung
Menschheitslage, unser Dasein in der Bedrohung, nicht nur als Folge der modernen Zivilisation mit ihren wissenschaftlichen Errungenschaften und technischen Möglichkeiten verstanden werden, sondern ist zugleich als die Konsequenz jenes Geschichtsprogrammes zu begreifen, das mit der wissenschaftlich-technischen Denkweise unmittelbar verbunden ist. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs weist der Philosophie die Aufgabe zu, die gegenwärtig vorherrschenden Formen des Geschichtsbewußtseins und des Geschichtsvertrauens einer kritischen Analyse und Überprüfung zu unterziehen. Die Entwicklungsvorstellung bezeichnet das dominierende theoretische Schema der modernen Welt- und Naturdeutung. Seit dem 18. Jahrhundert findet dieses Interpretationsmuster auch auf die Geschichte Anwendung, und zwar als Übernahme des biologisch-anthropologischen Entwicklungsbegriffs. Die Entwicklungskategorie hat sowohl für die Geschichtswissenschaft wie für die Geschichtsphilosophie grundlegende Bedeutung. In beiden Disziplinen kommt ihr eine gleichsam transzendentale Geltung zu, da sie die Voraussetzung einer Systematisierung von Geschichte darstellt. Sie zählt zu jenen Kategorien, die es überhaupt erst ermöglichen, die Mannigfaltigkeit des Geschehenen zu strukturieren und Zusammenhänge zu konstatieren. Als geschichtsphilosophische Kategorie ist die Entwicklungsvorstellung wesentlich auf die Totalität der Geschichte bezogen und bezeichnet somit die Bedingung der logischen Möglichkeit von philosophischen Aussagen über das Ganze der Geschichte. Die klassischen geschichtsphilosophischen Systeme von Kant und Herder über Hegel, Comte und Marx bis zu Spengler und Toynbee setzen in ihren Geschichtsdeutungen stillschweigend voraus, daß die Menschheitsgeschichte ein Entwicklungsgeschehen darstellt. Der Entwicklungsbegriff in seiner Anwendung auf die Geschichte enthält aber eine ganz bestimmte These: Geschichte verläuft nicht als eine bloße Abfolge von Ereignissen, sondern schließt sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammen. Erst auf der Grundlage des Entwicklungsgedankens ist es dann legitim und sinnvoll, die Fragen nach Gesetzmäßigkeit und Struktur, nach Ursprung und Ziel der Geschichte und nach der daraus ableitbaren Bestimmung des Menschen zu fragen. Unter der Voraussetzung der Entwicklungsidee gewinnen die geschichtsphilosophischen Grundfragen den Anschein der Beantwortbarkeit. Die Entfaltung der einzelnen Momente der Entwicklungsvorstellung macht deutlich, daß es sich um einen hochkomplexen Begriff handelt.
Einleitung
3
Der Entwicklungsbegriff bringt nicht einen einfachen Sachverhalt zum Ausdruck, sondern er steht für eine bestimmte Theorie, ja er enthält eine ganze Metaphysik der Bewegung. Begriff und Theorie der Entwicklung lassen sich nicht strikt auseinanderhalten. Auch die geschichtsphilosophisch verwendete Idee der Entwicklung enthält eine ganze Reihe von unentdeckten Prämissen, so daß die bloße Anwendung dieser Kategorie ein ganz bestimmtes Vorverständnis der Geschichte zur Folge hat, das so lange unbegründet bleibt, als nicht die impliziten Gehalte des Entwicklungsgedankens explizit entfaltet und einer kritischen Prüfung unterzogen worden sind. Der geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanke ist auch auf grundsätzliche Ablehnung gestoßen. In seinem Hauptwerk, der „Welt als Wille und Vorstellung", bestreitet Arthur Schopenhauer mit prinzipiellen Argumenten die Möglichkeit einer entwicklungsgeschichtlichen Behandlung der Menschheitsgeschichte: „...der oft wiederholten Lehre von einer fortschreitenden Entwickelung der Menschheit zu immer höherer Vollkommenheit, oder überhaupt von irgend einem Werden mittelst des Weltprocesses, stellt sich die Einsicht a priori entgegen, daß bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt bereits eine unendliche Zeit abgelaufen ist, folglich Alles, was mit der Zeit kommen sollte, schon daseyn müßte..." 1 Die gerade entgegengesetzte Auffassung vertritt Friedrich Nietzsche. Auch wenn er in manchem ein überzeugter Anhänger der Schopenhauerschen Philosophie bleibt, so wird er doch in dieser Frage zum entschiedenen Verfechter des Entwicklungsstandpunkts. Unter dem Eindruck der Lehre Darwins erhebt er in „Menschliches, Allzumenschliches", also sechzig Jahre nach Schopenhauers Absage an den Entwicklungsgedanken, die Forderung, die Philosophie solle endlich damit beginnen, das Gewordensein und den Entwicklungscharakter von allem zu berücksichtigen, und er stellt fest: „Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen... Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen... Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen-, sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt." 2 Aus der Erkenntnis des Werdens 1
2
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band; in: Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hübscher, Bd. 3, Wiesbaden 1949, S. 205. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches — Ein Buch für freie Geister, Erster Band; in: Werke — Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 4. Abt., 2. Bd., Berlin 1967, S. 20 f.
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Einleitung
von allem, der Welt, des Menschen, des Denkens, leitet Nietzsche die Notwendigkeit eines historischen Philosophierens ab: „Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung." 3 In diesem Streit zweier entgegengesetzter Weltsichten haben schließlich die Zeitumstände zugunsten von Nietzsches Standpunkt entschieden. Gegen Ende des Jahrhunderts konnte dann Rudolf Eucken in seinen „Grundbegriffen der Gegenwart" vermerken, daß der Entwicklungsgedanke in besonderem Maße „den Affekt der Zeit" für sich habe. 4 Euckens Feststellung bezog sich auf die Jahrzehnte des sich rasch ausbreitenden Darwinismus, auf jene Zeit also, in welcher die Entwicklungslehre die Gestalt einer Weltanschauung annahm und im Entwicklungsprinzip die endgültige Weltformel entdeckt zu sein schien. Der Gedanke der Entwicklung erlaubte die Begründung eines philosophischen Monismus, der die Lösung der „Welträtsel" verhieß. 5 Damit war auch eine Auflösung des Geschichtsproblems in Aussicht gestellt, da in der Geschichte dieselben Evolutionsprinzipien wirksam sein müssen wie im Naturgeschehen. Ernst Haeckel sprach diese Überzeugung mit aller Deutlichkeit aus: „Die Geschichte der Zweige des Menschengeschlechts, die als Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre Fortbildung gerungen haben, unterliegt genau denselben ,ewigen, ehernen, großen Gesetzen' wie die Geschichte der ganzen organischen Welt, die seit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert." 6 Ähnlich umfassend ist auch der Anspruch der modernen Evolutionstheorie. Trotz der Behauptung universeller Geltung des Evolutionsprinzips muß doch stark bezweifelt werden, ob sich die evolutionstheoretische Betrachtungsweise auf dem Gebiet der Geschichte in dem Maße zu bewähren vermag, wie sie es auf den ersten Blick verheißt. Denn die Evolutionstheorie nennt lediglich die formalen Bedingungen, unter denen sich die Entwicklung vollzieht, und gibt also keine Auskunft über das tatsächliche Woher und Wohin des Verlaufs. Bei allen Versuchen einer Übertragung des Evolutionsschemas auf die Menschheitsgeschichte läßt sich feststellen, daß dann der Entwicklungs- resp. Evolutionsbegriff selbst nur noch in vager Analogie zur Naturentwicklung und im Grunde eben unreflektierte 3 4
5 6
Ebd., S. 21. Rudolf Eucken: Die Grundbegriffe der Gegenwart, 2., völlig umgearb. Aufl., Leipzig 1893, S. 105. Vgl. Ernst Haeckel: Die Welträthsel, Bonn 1899. Ebd., S. 3 1 2 f.
Einleitung
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Anwendung findet. Somit stellt sich auch von dieser Seite die Aufgabe, die geschichtsphilosophische Entwicklungskategorie einer Analyse und kritischen Überprüfung zu unterziehen. Jede Untersuchung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs hat von der Tatsache auszugehen, daß er eine Übertragung darstellt. Seine Anwendung auf die Geschichte erfolgte vergleichsweise spät, etwa ab 1770, und zwar als Übernahme des bereits allgemein gebräuchlichen biologischen und anthropologischen Entwicklungsbegriffs. Seine Anwendung in der geschichtlichen Sphäre war zunächst ausschließlich metaphorisch, doch mit der immer stärkeren Betonung des analogen Gehaltes gewann er allmählich selbständige Bedeutung. Die Abhängigkeit des modernen Geschichtsbewußtseins von einer Metapher, nämlich vom Bild organischer Entwicklung, gibt Anlaß, kritisch danach zu fragen, ob das Geschichtsdenken dadurch nicht von Anfang an — wenngleich unbemerkt und ungewollt — auf einen Irrweg festgelegt war. Es gilt ferner danach zu fragen, ob nicht vielleicht in den verschiedenen Formen des historischen und philosophischen Entwicklungsdenkens verborgene metaphorische Restbestände wirksam geblieben sind. Die folgenden denkgeschichtlichen Untersuchungen zeigen auf, wie durch die Herausbildung des modernen, biologisch-anthropologischen Entwicklungsbegriffs und durch seine Verbindung mit den beiden zur gleichen Zeit entstehenden Kollektivbegriffen der Geschichte und der Menschheit eine neue geschichtsphilosophische Problematik und zugleich ein neues Lösungsmuster entstanden sind: die Deutung der Menschheitsgeschichte in Analogie zur organischen Entwicklung. Es läßt sich ferner nachweisen, daß die sich auf dieser terminologischen Grundlage vollziehende neue Sicht der Geschichte zu einem wachsenden Vertrauen in ihren Fortgang und damit Schritt für Schritt in den Geschichtsglauben führte, wie er sich dann im emphatischen Geschichtsbegriff der Historischen Schule, im Fortschrittsglauben und im utopischen Geschichtsdenken manifestierte. Die Geschichte der geschichtsphilosophischen Kategorie der Entwicklung gibt Einblick in ihre geschichtliche Bedingtheit, weist nach, wie zufällig und problematisch ihre Entstehung war und wie problematisch darum ihre Verwendung ist. Die Vergegenwärtigung des Weges, auf dem das Geschichtsdenken zu ihr gelangt ist, führt zu erheblichen Zweifeln an ihrem traditionellen Geltungsanspruch. Wie ist nun eine Neubeurteilung und kritische Überprüfung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie durchzuführen? Neben
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Einleitung
den beiden Methoden der Sprachgeschichte und der Sprachkritik bietet sich vor allem die Methode der begriffslogischen Analyse an. Der erste Teil der vorliegenden Arbeit zeigt auf, daß die drei erwähnten Möglichkeiten der Untersuchung zwar zu verschiedenen wertvollen Ergebnissen führen, daß sich aber über diesen Weg aus prinzipiellen Gründen keine eindeutige Klärung der Bedeutung und der logischen Struktur des Entwicklungsbegriffs erzielen läßt. Wichtiger als dieses im Grunde negative Ergebnis ist die Einsicht, daß der Entwicklungsbegriff in seiner evolutionstheoretischen, geschichtswissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Fassung drei getrennte Problemkreise bezeichnet, obwohl die Einheit der Benennung eine Einheit der Problemstellung suggeriert. Es ergibt sich daraus die Forderung nach einer strengen Unterscheidung der drei getrennten Begriffe von Entwicklung. Für den Fortgang der Untersuchung ist vor allem die Differenz zwischen der wissenschaftlichen und der philosophischen Begriffsverwendung bedeutsam, denn die geschichtsphilosophische Entwicklungskategorie ist weder ein wissenschaftlich-theoretischer noch ein methodologischer Begriff, sie ist kein Beschreibungs- und auch kein Gesetzesbegriff, sondern eine Vernunftidee von regulativer Verbindlichkeit. Der zweite Teil vergegenwärtigt die Probleme, Möglichkeiten und Grenzen des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens an drei Beispielen paradigmatischer Geltung. Die Entwicklungskonzeptionen Kants, Herders und Hegels repräsentieren zugleich drei voneinander abhängige Phasen der Geschichte des Entwicklungsdenkens. Diese Geschichte zeigt, wie der stets präziser gefaßte Entwicklungsgedanke schließlich zu sich selbst in Widerspruch geraten mußte: Jede Entwicklungstheorie ist in dem Moment mit der logischen Schwierigkeit der Selbstbezüglichkeit konfrontiert, wo sie universelle Gültigkeit beansprucht und damit zugleich den Prozeß ihrer eigenen Herkunft betrifft. Das Problem des Selbstwiderspruchs in der Entwicklungsvorstellung bildet das Zentrum des dritten Teils, der die Schwierigkeiten der klassischen Entwicklungsdeutungen der Geschichte thematisiert. Die Abhängigkeit der geschichtsphilosophischen Entwicklungsidee von theologischen Prämissen, die in einer sich säkularisierenden Welt ihre frühere Verbindlichkeit verlieren, hat zur Folge, daß die immanenten Widersprüche in der Entwicklungsvorstellung immer deutlicher hervortreten. Die theoretische Situation der Geschichtsphilosophie nach Hegel ist durch Skepsis gegenüber der Möglichkeit totaler Geschichtsdeutungen gekennzeichnet. Der Prozeß der Abwendung vom Entwicklungsdenken ist untrennbar verbunden mit dem
Einleitung
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Prozeß des Bewußtwerdens der Geschichtlichkeit alles Menschlichen. Die logische Konsequenz aus dieser Einsicht besteht in der Feststellung der Unmöglichkeit einer Gesamtdeutung der Menschheitsgeschichte. Damit ist die Geschichtsphilosophie in eine paradoxe Situation geraten, denn auf der einen Seite folgt aus der Tatsache der Geschichtlichkeit von allem, daß die Geschichte zur letzten Instanz geworden ist, so daß nun alles auf ein Begreifen dieser Geschichte ankäme; auf der anderen Seite läßt dieselbe Tatsache jedes Suchen nach der gleichbleibenden, übergeschichtlichen Entwicklungsstruktur in der Geschichte als ein vergebliches Bemühen erscheinen. Der vierte Teil versucht eine Beurteilung der modernen Situation der Geschichtsphilosophie. Diese ist mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, die sich aus dem Scheitern des Entwicklungsdenkens ergeben haben. Es handelt sich um die Probleme des Historismus, der Geschichtlichkeit des Menschseins und schließlich der Geschichtsabhängigkeit der Vernunft selbst. Wenn sich nun die Geschichte als der letzte Bestimmungsgrund des Menschseins herausstellt, dann folgt daraus die Unabweisbarkeit der Philosophie der Geschichte, die nun freilich zu einem zeitgemäßen Verständnis ihrer Möglichkeiten finden muß, insofern sie nur noch beanspruchen kann, Philosophie des Möglichen zu sein.
Erster Teil Der Begriff der Entwicklung
I. Kapitel: Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs „Wir mögen unsre Begriffe noch so hoch anlegen und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahiren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an... Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgend eine Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel aus irgend einer möglichen Erfahrung sein muß) untergelegt würde?"1 (I. Kant)
Die Einsicht in die sprachliche Bedingtheit der philosophischen Orientierungsbemühungen darf wohl als eine Erkenntnis bezeichnet werden, die in unserem Jahrhundert allgemeine Zustimmung gefunden hat. Die daraus abzuleitende Forderung, daß der Auseinandersetzung mit einer Problematik die Klärung der jeweiligen sprachlichen Mittel vorausgehen müsse, stellt heute eine der wenigen gemeinsamen, die verschiedenen Richtungen der Philosophie verbindenden Überzeugungen dar. Dieser berechtigten Forderung, die freilich leicht zu stellen, aber kaum je befriedigend zu erfüllen ist, soll in der vorliegenden Untersuchung insofern entsprochen werden, als sie mit einem Blick auf die Sprachgeschichte beginnt und anschließend in sprachkritischer Absicht fragt, ob im modernen Begriff der Geschichtsentwicklung nicht bereits eine implizite und uneingesehene Vormeinung verborgen liege.
1. Zur Sprachgeschichte
von
„Entwicklung'
Das geschichtsphilosophische Problem der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung, das in den Fragen nach Wesen, Struktur, Gesetzmäßigkeit, 1
Immanuel Kant: Was heißt: Sich im Denken orientiren? In: VIII, S. 133 (s. Anm. 4 des zweiten Teils).
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Der Begriff der Entwicklung
Sinn und Ziel dieser Entwicklung besteht, bildet die Grundlage der großen Entwicklungskonzeptionen der Geschichtsphilosophie von Kant und Herder über Hegel und Marx bis zu Spengler, um nur einige wenige Namen zu nennen. Begriff und Vorstellung einer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung, auf der die klassischen Systeme der Geschichtsphilosophie beruhen, weisen auf terminologiegeschichtliche Vorgänge zurück, die dank neueren Forschungen auf diesem Gebiet überblickbar geworden sind. Sie haben zum Ergebnis, daß die Herausbildung der modernen Vorstellung der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung zu einem wohl nicht unwesentlichen Teil durch sprachliche Vorgänge mitbedingt ist. Anders formuliert: die Denkgeschichte verläuft im Bereich der geschichtsphilosophischen Problemstellung ein Stück weit, nämlich während zwei oder drei Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, größtenteils über die Ebene der Sprachgeschichte. Der Begriff der Entwicklung der Menschheitsgeschichte beruht auf drei sprachgeschichtlichen Voraussetzungen: 1. auf der Herausbildung des Begriffs der Geschichte im kollektiven Singular; 2. auf der dazu parallel verlaufenden Entstehung des Kollektivsingulars „Menschheit"; 3. auf der Herausbildung des biologisch-anthropologischen Entwicklungsbegriffs und seiner Übertragung auf die Geschichte. Diese Tatsache, daß rein sprachgeschichtliche Vorgänge der philosophischen Thematisierung des Problems menschheitsgeschichtlicher Entwicklung unmittelbar vorausliegen, gibt Anlaß zur kritischen Frage, ob die Geschichtsphilosophie nicht — zumindest teilweise — das Opfer einer Sprachverführung geworden ist. Zur Klärung dieser Frage, die angesichts der Eindeutigkeit dieser Vorgänge nicht abzuweisen ist, soll im folgenden zunächst die Terminologiegeschichte der drei Begriffe überblicksmäßig verfolgt werden. 1. Die Entstehungsgeschichte des modernen Begriffs der Geschichte hat Reinhart Koselleck in verschiedenen Publikationen2 eingehend dargestellt. Den heute geltende Bedeutungsumfang und Bedeutungsgehalt hat dieser Begriff erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erreicht. „Die 2
Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte V —VII; in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 647 — 7 1 7 sowie ders.: Vergangene Zukunft — Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979.
Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs
13
Geschichte" ist demnach ein moderner Begriff, der trotz der Fortführung alter Wortbedeutungen „fast einer Neuprägung gleichkommt" 3 . „Die Geschichte" ist ursprünglich eine Pluralform, die additiv eine Summe einzelner Geschichten bezeichnet. Sie kommt in dieser pluralen Bedeutung gelegentlich noch bei Herder vor. 4 Die Umwandlung desselben Wortkörpers „die Geschichte" vom Plural in den Singular stellt für Koselleck „eine bewußte Leistung" dar, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von zahlreichen geschichtstheoretischen Schriften vorbereitet worden ist. 5 Der neue Begriff „indizierte einen höheren Abstraktionsgrad, der übergreifende Einheiten geschichtlicher Bewegung kennzeichnen konnte" 6 . Der Kollektivsingular übernimmt die Funktion, eine Reihe verschiedener Begebenheiten in ein übergeordnetes Ganzes zusammenzufassen. Er erschließt dadurch eine neue Geschichtsdimension und eröffnet den Zugang zur „Geschichte an und für sich" und zur „Geschichte selbst" als dem Geschehen „hinter" den einzelnen Vorgängen und Begebenheiten. Die Geschichte „hinter" dem einzelnen Geschehen wird als eigener Wirklichkeitsbereich verstanden, in dem Geschichte gleichsam zu ihrem eigenen Subjekt wird, denn bisher war es unmöglich, den Begriff ohne dazugehöriges Subjekt oder Objekt zu verwenden; „Geschichte" bezog sich auf eine bestimmte Person, ein bestimmtes Land usw. 7 Die Terminologiegeschichte zeigt, wie der neue Begriff Schritt für Schritt verabsolutiert und schließlich zu „einer letzten Instanz" wird: „Sie wird zum Agens menschlichen Schicksals oder gesellschaftlichen Fortschritts." 8 Die Herausbildung des modernen Begriffs der Geschichte im kollektiven Singular bedeutet, daß „im Medium der Begriffsbildung ein neuer Erfahrungsraum erschlossen worden" ist, der „die folgende Zeit prägen sollte" 9 . Zusammenfassend nennt Koselleck drei Kriterien, die den Sinnzuwachs des neuen Geschichtsbegriffs kennzeichnen:
3 4
5 6 7 8 5
R. Koselleck: Geschichte, S. 647. Vgl. ebd., S. 648. — In der Fragmentsammlung „Über die neuere Deutsche Litteratur" aus dem Jahr 1767 sagt Herder im Zusammenhang eines Vergleichs „unsrer Orientalischen Dichtkunst mit ihren Originalen" über die „Gegenstände" der jüdischen Geschichte, daß „alle diese Geschichte für uns fremder und entfernter sind" (Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, S. 262). Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 648 f. Vgl. ebd., S. 649 f. Ebd., S. 650. Ebd., S. 652.
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Der Begriff der Entwicklung
1. Der neue Geschichtsbegriff verbindet die Einzelgeschichten in einem übergeordneten Zusammenhang von selbständiger Wirkungsweise und setzt zugleich die Bedingungen möglicher Einzelgeschichten. 2. Die neu gewonnene Erfahrungswelt erhebt einen eigenen, ihr immanenten Wahrheitsanspruch. 3. Diese Geschichte erkennt sich selbst als letzte und höchste Instanz und bedarf keiner anderen über sich. Als Subjekt ihrer selbst gewinnt sie überdies ein Moment der Selbsttätigkeit, sie wird zu einem „eigentätigen Agens". 10 Der neue Geschichtsbegriff erschließt nicht nur eine neue Wirklichkeit, sondern verdrängt auch den alten Begriff der Historie, übernimmt dessen Bedeutungsgehalt und wird dadurch zugleich zum Reflexionsbegriff. Geschichte als Wirklichkeit und Geschichte als Reflexion dieser Wirklichkeit werden auf denselben Begriff gebracht. Dieser Vorgang der Kontamination von „Historie" und „Geschichte" war bereits abgeschlossen, als Hegel in den „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte" feststellte: „Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl und subjektive Seite und bedeutet ebensowohl die historiam rerum gestarum als die res gestae selbst... Diese Vereinigung der beiden Bedeutungen müssen wir für höherer Art als für eine äußerliche Zufälligkeit ansehen: es ist dafür zu halten, daß Geschichtserzählung mit eigentlich geschichtlichen Taten und Begebenheiten gleichzeitig erscheinen; es ist eine innerliche gemeinsame Grundlage, welche sie zusammen hervortreibt." 11 Hegel will damit sagen, daß eigentliche Geschichte erst dort beginne, wo das historische Bewußtsein selbst geschichtsbestimmend wird. Eine solche Verbindung der beiden Bedeutungen dokumentiert nicht nur eindrücklich die Ausweitung des Geschichtsbegriffs, der nun die Ebenen des Sachverhalts, der Darstellung und der Wissenschaft davon umfaßt, sondern macht auch deutlich, daß jetzt die Geschichte zum primären Wirklichkeitsbereich aufgestiegen ist. Denn wenn der Beginn der eigentlichen Menschheitsgeschichte davon abhängig ist, daß ein Bewußtsein von ihr vorliegt, dann wird der Bereich der Geschichte im Vergleich zu dem der Natur als vorrangig eingeschätzt. 2. Obwohl der Terminus „Menschheit" sehr alt und als „mennisgheit" bereits bei Notker belegt ist, so erfahrt auch dieser Ausdruck in der Mitte 10 11
Vgl. ebd., S. 652 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 164.
Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs
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des 18. Jahrhunderts einen typischen Bedeutungswandel in Richtung auf einen Kollektivbegriff, der die Gesamtheit der Menschen bezeichnet. 12 Zwar konnte „Menschheit" auch früher gelegentlich in dieser Bedeutungsvariante auftreten, doch allgemein gebräuchlich wird der Kollektivbegriff erst im Laufe des 18. Jahrhunderts. 13 Neben dieser die Gesamtheit der Menschen benennenden Bedeutung zielt die andere Grundbedeutung von „Menschheit" auf die Natur und das Wesen des Menschen. „Menschheit" ist ursprünglich ein theologisch geprägter Begriff und bezeichnet die humanitas Christi, dessen Menschwerdung die Erlösung garantiert. Mit dem Zurücktreten der christologischen Bedeutung breitet sich die quantitativ-kollektive Bedeutung aus. Der neuen quantitativen Bedeutung entspricht in der Folge immer deutlicher auch eine neue qualitative Bedeutung: „Der Kollektivbegriff ,Menschheit' erfahrt seine Auslegung von der naturrechtlichen Überzeugung der Gleichheit der Naturausstattung des Menschen, der Identität der menschlichen Natur zu allen Zeiten und in allen Gegenden..." 14 Die Berufung auf „die Menschheit" kann jetzt auch in kritisch-aufklärerischer Absicht erfolgen und zielt dann, wie Koselleck zeigte, 15 in drei Richtungen, nämlich gegen die Verschiedenheit von Kirchen und Religionen, gegen ständische Rechtsabstufungen und gegen die persönliche Herrschaft der Fürsten. Der Kollektivbegriff bringt aber auch die moderne Erfahrung zum Ausdruck, daß die Menschen zum ersten Mal in einer einheitlichen, geschlossenen, planetarischen Geschichte leben. Damit ist der neue Menschheitsbegriff gleichsam dazu prädestiniert, die Funktion des hypothetischen Subjekts der Geschichte zu übernehmen. Selbstverständlich haben auch zuvor schon verschiedene sprachliche Möglichkeiten bestanden, um die Vorstellung der Gesamtheit aller Menschen wiederzugeben. „Humanitas" oder „Menschengeschlecht" sind Bei-
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Vgl. Hans Erich Bödeker: Menschheit, Humanität, Humanismus; in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 1067.
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Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, Leipzig 1885, Sp. 2077—2082. Das Wörterbuch nennt zwei schöne Belege für einen frühen Gebrauch der kollektiven Bedeutung (Sp. 2081): „wann keine thorheit mehr wird sein, so wird die menschheit gehen ein." „wer nie kein ungemach und nirgend ausz wil stehn, musz in der weit nicht sein, musz aus der menschheit gehn." H. E. Bödeker: Menschheit, Humanität, Humanismus, S. 1089. R. Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe; in: Vergangene Zukunft, S. 248.
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spiele dafür. Aber es kann auch nicht übersehen werden, daß die Herausbildung des Kollektivbegriffs „Menschheit" neue Erfahrungshori2onte erschloß und neuartige Erwartungen zur Folge hatte. Der Bedeutungswandel ist zwar auf der einen Seite nur die begriffliche Fixierung eines allgemeinen kulturgeschichtlichen Prozesses einer Neueinschätzung des Menschen und seines geschichtlichen Daseins, aber auf der anderen Seite wird der Bewußtseinswandel durch den neuen und sich rasch ausbreitenden Begriff teilweise allererst hervorgebracht. 3. Im dritten Band des „Deutschen Wörterbuchs" aus dem Jahr 1862 wird das Wort „Entwickelung" ohne weiteren Kommentar nur gerade notiert. 16 Drei Jahrzehnte später behandelt Rudolf Eucken „Entwickelung" eingehend als einen Grundbegriff — und das heißt zugleich: als ein philosophisches Hauptthema — seiner Gegenwart, und er stellt fest, daß dieser Begriff in ganz besonderer Weise „den Affekt der Zeit" für sich habe. 17 Daran ist zu ermessen, mit welcher Vehemenz sprachliche Vorgänge sich durchzusetzen vermögen, wobei sie dann offensichtlich nicht einfach nur denkgeschichtliche Ereignisse widerspiegeln, sondern selbst Denkgeschichte machen. „Entwicklung", im Deutschen erstmals 1645 bei Philipp von Zesen nachweisbar, bedeutet ursprünglich, wie Wolfgang Wieland in seinem Lexikonartikel ausführt, „nur das wörtlich verstandene Auseinanderwikkeln von etwas, was in anderer Form schon vorhanden ist" 18 ; das Wort wird also in Entsprechung zum lateinischen „evolutio" verwendet. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wird es üblich, den Begriff auch auf abstrakte Sachverhalte zu beziehen und von der Entwicklung, also der Analyse oder Explikation, von Begriffen, Gedanken, Beweisen, Lehrsätzen u.ä. zu sprechen. 19 Zuerst tritt der Begriff nur in seiner transitiven Form auf, später setzt sich dann auch die intransitive Bedeutung des Sichentwickeins und der Selbstentwicklung durch, und zwar als Folge der Anwendung des Entwicklungsbegriffs auf die Natur- und Lebensprozesse. 20 Der biologische Entwicklungsbegriff, das unmittelbare Vorbild für den erst in der zweiten Jahrhunderthälfte eingeführten geschichtlichen 16 17
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Vgl. J. u. W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 659. Rudolf Eucken: Die Grundbegriffe der Gegenwart, 2., völlig umgearb. Aufl., Leipzig 1893, S. 105. Wolfgang Wieland: Entwicklung, Evolution; in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 199. Vgl. ebd. Vgl. R. Eucken: Die Grundbegriffe, S. 103.
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Entwicklungsbegriff, kommt zunächst insbesondere im Umkreis einer bestimmten Theorie ontogenetischen Werdens auf. Es handelt sich um die als Präformations- oder Evolutionstheorie bezeichnete Vorstellung, wonach das Individuum in der Keimzelle bereits vollständig ausdifferenziert ist und sein Heranwachsen folglich als Ent-wicklung im wortwörtlichen Sinne begriffen werden muß. Im Unterschied zu dieser von A. von Haller und Ch. Bonnet vertretenen Auffassung behauptet die von C.E Wolff begründete Theorie der Epigenese, daß der Keim selbst noch wenig ausdifferenziert ist und sich erst allmählich durch eine antreibende innere Kraft, die als „vis essentialis" oder „nisus formativus" bezeichnet wird, zum Individuum ausbildet. 21 Es ist nun zu beachten, daß von dem Moment an, wo die epigenetische Theorie sich gegenüber der präformistischen Theorie durchsetzt, der Entwicklungsbegriff seine wortwörtliche Bedeutung wie auch seine unmittelbare Anschaulichkeit einbüßt. „Entwicklung" bildet sich nun immer mehr zum theoretischen Begriff aus; der Terminus zeigt eine Tendenz, seine ursprüngliche, deskriptive Funktion einzutauschen gegen eine theoretische Interpretation des ontogenetischen Werdens. Erst im Rahmen der epigenetischen Theorie gewinnt der Entwicklungsbegriff seine typische Eigenschaft der Dynamik. 22 In Anlehnung an die biologische Entwicklungsvorstellung kann dann etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts von einer Entwicklung der Anlagen und Fähigkeiten des Menschen gesprochen werden, wobei diese Wendung eher in psychologischen und anthropologischen Zusammenhängen gebräuchlich ist. 23 Es ist nun der erwähnte biologische oder organische Entwicklungsbegriff, der seit etwa 1770 auch auf die Geschichte Anwendung findet. Der historische Entwicklungsbegriff stellt folglich eine Übertragung des ontogenetischen Entwicklungsbegriffs dar, nicht aber eine Übernahme der phylogenetischen Entwicklungsvorstellung, die ja erst in vagen Ansätzen vorhanden war. Die Verbindung phylogenetischer Entwicklungskonzeptionen mit der Theorie der Geschichte und die Deutung der Menschheitsgeschichte als Fortsetzung der Evolutionsgeschichte oder doch in Analogie zu dieser werden erst im 19. Jahrhundert und dann vor allem wieder in unserer unmittelbaren Gegenwart aktuell. 21 22 23
Vgl. W. Wieland: Entwicklung, Evolution, S. 200. Vgl. ebd., S. 200. Vgl. ebd., S. 201.
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Der Begriff der Entwicklung
2. Sprachkritische
Vorüherlegungen
Die kurze terminologiegeschichtliche Übersicht gibt Anlaß zu einigen kritischen Überlegungen über die sprachliche Bedingtheit der modernen geschichtsphilosophischen Entwicklungsproblematik. Zunächst ist festzustellen, daß alle drei begrifflichen Neubildungen aus einem Abstraktionsprozeß hervorgegangen sind. Das damit erreichte Abstraktionsniveau konnte nur dadurch um eine weitere Stufe erhöht werden, daß sich die drei Termini zur Vorstellung der Entwicklung der Menschheitsgeschichte verbanden. In dieser Vorstellung soll „Entwicklung" die Verlaufsform des Geschehens, „Menschheit" das Subjekt des Geschehens und „Geschichte" das Geschehen selbst bedeuten. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stehen somit die begrifflichen Mittel zur Verfügung, um die Vorstellung menschheitsgeschichtlicher Entwicklung und die damit verbundene philosophische Problematik in einer sprachlichen Eindeutigkeit zu fixieren, die zuvor nicht möglich war. Wie ist nun dieses Faktum zu beurteilen? Widerspiegeln die begrifflichen Neubildungen und die dadurch ermöglichten neuen Begriffsverbindungen bloß den inzwischen erreichten Stand des Problembewußtseins, sind sie also gleichsam nur als dessen sprachliche Abbildung zu verstehen, oder ist vielleicht das sich dieser Terminologie bedienende Problembewußtsein mit seinen Fragestellungen durch die sprachlichen Vorgänge der Begriffsbildung mitbedingt? Für die Vermutung, daß die neuen Sprachmittel das Denken nicht nur beeinflußt, sondern überdies auch zu einer bestimmten Problemstellung und damit verbundenen Erwartungshaltung mißleitet haben, lassen sich einige Gründe anführen. Hier sind insbesondere die drei folgenden zu erwähnen: 1. Es handelt sich um Kollektivbegriffe. 2. Der historische Entwicklungsbegriff stellt eine Übertragung dar, und es ist deshalb nicht auszuschließen, daß er auf einer Kategorienverwechslung beruht. 3. Entwicklung, auf die Geschichte angewandt, ist eine Metapher. — Es sollen nun im folgenden die einzelnen Punkte einer näheren Überprüfung unterzogen werden. 1. Die Einsicht, daß ein allzu großes Vertrauen in die Sprache sich denkverführend auszuwirken vermag, bildet den Ausgangspunkt des Verfahrens, über den Weg der Sprachkritik eine Denkkritik zu begründen. Dieses Vorgehen ist zuerst von Fritz Mauthner mit systematischer Konsequenz angewendet worden. Die ihn leitende Überzeugung ist in der programmatischen Aussage zusammengefaßt: „Die Kritik der Sprache
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muß Befreiung von der Sprache als höchstes Ziel der Selbstbefreiung lehren. Die Sprache wird zur Selbstkritik der Philosophie." 24 Diese Sätze Mauthners könnten auch die Absicht des Werkes von Friedrich Kainz „Über die Sprachverführung des Denkens" charakterisieren, das eine Systematik der Formen und Typen möglicher Sprachverführungen des Denkens enthält. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich zum Teil auf das Werk von Kainz. 25 Die Kollektivbegriffe „die Geschichte" und „die Menschheit" verführen leicht dazu, das Wort mit der Sache zu verwechseln. Es ist nämlich durchaus fraglich, ob den neuen Begriffsbildungen überhaupt noch Sachverhalte entsprechen. Einer solchen kritischen Erwägung stellt sich freilich sogleich der suggestive Zwang entgegen, der von allen mit dem bestimmten Artikel auftretenden Singularbildungen ausgeht und der das Denken dazu nötigt, es als selbstverständlich anzunehmen, daß dem Begriffsgegenstand auch tatsächlich Existenz zukommt. Diese „wortrealistische Tendenz" 26 , die zu übersehen verführt, daß es eben nur Geschichten, aber keine Geschichte, nur Menschen, aber keine Menschheit und schließlich nur Geschichtsentwicklungen, aber nicht die Entwicklung der Geschichte „gibt", ist verschiedentlich bemerkt und zum Gegenstand einer Kritik am geschichtsphilosophischen Denken gemacht worden. So hat beispielsweise Oswald Spengler auf die Irreführung der Geschichtsphilosophie durch das Abstraktum „die Menschheit" aufmerksam gemacht: „Aber ,die Menschheit' hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. ,Die Menschheit' ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres 24
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Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3., um Zusätze verm. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1923, S. 713. Friedrich Kainz: Uber die Sprachverführung des Denkens, Berlin 1972. — Man kann diesem wichtigen Werk wohl nicht den Vorwurf ersparen, das sprachkritische Prinzip hin und wieder allzu unkritisch anzuwenden. So urteilt Kainz beispielsweise über Hegels Auffassung der Geschichtsdialektik, die Gedanken- und Ideendialektik mit der geschichtlichen Realdialektik identifiziere, sie entspringe einer Sprachverführung durch das Wort „Geschichte", das „einerseits die reale Entwicklung und den faktischen Ablauf der Ereignisse bedeutet, andererseits unsere Kenntnis dieser Ereignisse und ihre ordnende Darstellung, ja ihre ,Sinngebung' (Th. Lessing) durch Historiographie und Geschichtswissenschaft. Hegel bringt diese beiden Bedeutungen durcheinander, wobei die Gewichtigkeit dieses Unterschieds eine verhängnisvolle Verführung seines Denkens im Gefolge hat" (S. 436 f.). Diese Kritik wird Hegel schon deswegen nicht gerecht, weil dieser — wie das früher angeführte Zitat belegt (vgl. Anm. 11) — sich nicht nur der Doppelbedeutung von „Geschichte" bewußt war, sondern in der Verbindung der beiden Bedeutungen in einem Wort zugleich eine Bestätigung der Richtigkeit seiner Geschichtsauffassung sah. Ebd., S. 20
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Der Begriff der Entwicklung
Wort." 27 Erst wenn man dieses „Phantom" aus der Reihe historischer Formprobleme ausschließe, so führt Spengler weiter aus, könne man den „Reichtum wirklicher Formen" und die ganze „unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen" erkennen, die bisher „durch ein Schlagwort, durch ein dürres Schema" verdeckt gewesen seien. 28 Eine weitere Gefahr kollektiver Singularbildungen besteht in der Tendenz zur Überbetonung des einheitlichen Moments. Die Einheit der Bezeichnung legt auch dort eine Einheit des Problems nahe, wo diese möglicherweise überhaupt nicht gegeben ist. Auch hier läßt sich wieder der vom bestimmten Artikel ausgehende suggestive Zwang feststellen, eine hochkomplexe Problematik auf eine Einheit oder Eindimensionalität zu verengen, wo vielleicht nur eine differenziertere Betrachtungsweise zur Auflösung des Problems führen könnte. „Wo die Sprache hochdifferenzierte oder gar verschiedene Sachverhalte unter einem einzigen Begriffsträger zusammengreift, erweckt sie eben dadurch im Denken die Neigung, die betreffenden Wirklichkeitsgegebenheiten als homogener aufzufassen, als den Tatsachen entspricht." 29 Damit hängt ferner die Gefahr der Hypostasierung zusammen. Der Vorgang der Substantivierung eines Verbs kann zugleich zur ungerechtfertigten Substanzialisierung der zugrunde liegenden, ursprünglich verbal gefaßten Eigenschaft führen. Fritz Mauthner hat in verschiedenen Fällen aufgezeigt, daß die Substantivbildung zugleich den Anschein einer neuen philosophischen Problematik schafft. 30 Für die vorliegende Thematik ist 27
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Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes — Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1, München 1919, S. 28. Vgl. ebd., S. 28 f. — Der Kollektivbegriff „Menschheit", dem jede reale Grundlage fehle, verführt nach Spengler dazu, die Geschichte in die Einheit eines linearen Schemas zu fassen. Es entbehrt nun nicht einer gewissen Paradoxie, daß Spengler dem an der Menschheitsvorstellung orientierten Geschichtsbild, das er mit sprachkritischen Argumenten ablehnt, ein in organologischen Metaphern begründetes eigenes Geschichtsbild entgegenhält. Sobald man sich von der abstrakten Vorstellung einer menschheitlichen Einheit der Geschichte loslöse, erkenne man den ganzen Reichtum der Geschichte: „Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte Eichen und Pinien, Blüten, Zweige und Blätter gibt, aber es gibt keine alternde ,Menschheit'... Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten Natur Newtons an" (S. 29). F. Kainz: Über die Sprachverführung, S. 55. Bemerkenswert ist Mauthners Hinweis, daß auch in Kants Vernunftbegriff eine solche Substantialisierung und Hypostasierung vorliege. Kant habe, so schreibt er im 1. Band seiner „Beiträge zur Kritik der Sprache" (3. Aufl., Leipzig 1923, S. 477), die Vernunft
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fest2uhalten, daß der sprachliche Übergang von der bloßen Bezeichnung des geschichtlichen Geschehens- und Entwicklungscharakters zu den Kollektivbegriffen „die Geschichte" und „die Entwicklung" eine verdinglichende Hypostasierung zur Folge hat, auf deren Grundlage sich dann fragen läßt: Was ist diese Geschichte und was diese Entwicklung und worin liegt ihr Wesen? Diese Tendenz der Kollektivbegriffe, das durch sie Bezeichnete zu hypostasieren, kann besonders deutlich am Beispiel der hier zu besprechenden Begriffe verfolgt werden. Die Zusammenfassung der verschiedenen Einzelgeschehen, Menschen und Entwicklungsvorgänge in einheitliche „Substanzwörter" schafft neue Horizonte, spiegelt neue Dimensionen vor und führt vor allem zu neuen Fragestellungen. Hans Blumenberg bemerkt zum modernen Begriff der Geschichte: „Wir wissen, was eine erzählte Geschichte ist. Aber wir wissen nicht, was es bedeutet, daß wir eine Gesamtheit möglicher Geschichten unter einem schwer bestimmbaren Auswahlprinzip ,die Geschichte' nennen können. Es braucht nicht daran „als eine mythologische Person, als ein personifiziertes Seelenvermögen aufgefaßt". Solche Hinweise scheinen nicht einfach unzutreffend zu sein, und vermögen trotzdem nicht zu befriedigen, weil in ihnen das sprachkritische Instrument allzu unkritisch eingesetzt wird. Zum Vergleich sei auf eine Abhandlung Georg Pichts hingewiesen, in der er zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt wie Mauthner, das aber auf gänzlich anderen Grundlagen beruht. Nach seinen Ausführungen kann die Vernunft für Kant nur deswegen das Organon zur Erkenntnis der Wahrheit sein, weil sie selbst ein Vermögen ist, das vom Licht göttlicher Vernunft erhellt ist. Das Individuum ist nur deswegen fähig, vernünftige, d.h. allgemeine und notwendige Gedanken zu denken, weil das in allen einzelnen Menschen tätige identische Subjekt der Vernunft Gott selbst ist: „...die Vernunft als solche, sofern sie sich ihrer Grenzen bewußt ist und erkennt, daß sie von sich selbst nicht der Urheber ist, sondern daß sie nur Wahres zu erkennen und nur vernunftgemäß zu handeln vermag, weil durch ihr Denken und Handeln hindurch ein Licht erscheint, das immer nur in ihrem Rücken leuchtet, ohne daß sie es jemals zu Gesicht bekäme. Die Quelle des Lichtes der Vernunft ist Gott als der Ursprung der Freiheit, aus der die Vernunft zu ihrer Wahrheit ermächtigt wird." (Georg Picht: Aufklärung und Offenbarung; in: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung — Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 198) Picht bemerkt dazu weiter, daß erst aufgrund der erwähnten Überlegung verständlich werde, weshalb Kant eine Schrift mit dem Titel „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" verfassen konnte: „Der Denker, der mit unerbittlicher Strenge die theoretische Vernunft des Menschen in die Schranken der sinnlichen Erfahrung gewiesen hat, hätte sich nie erdreistet, diese selbe Vernunft, wenn auch in ihrem praktischen Gebrauche, zum Maßstab der Offenbarung zu machen, wäre er nicht dessen gewiß gewesen, Gott selbst sei die Quelle des Lichtes der Vernunft, und jeder Widerspruch mit der Vernunft sei deshalb zugleich ein Widerspruch mit Gott. Gott erscheint der Vernunft als die moralische Vollkommenheit, weil die moralische Vollkommenheit nach Kant mit der absoluten Freiheit identisch ist. Das Ideal der moralischen Vollkommenheit begründet deshalb die Vernünftigkeit der Vernunft" (S. 197).
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erinnert zu werden, wie wenig alt dieser kollektive Singular ist. Es braucht auch nicht darauf hingewiesen zu werden, daß die Übertragbarkeit dieser Metapher ursprünglich ganz schlicht in der Erzählbarkeit bestand. Nichts von der Disposition zum großen philosophischen Standardproblem lag hier vor, das mit Zwangsläufigkeit aus der hypostasierenden Leistung des Singulars zu folgen scheint. Der Singular von Geschichte ist selbst eine absolute Metapher, eines der großen Worte aus der Welt der Substantive, die uns die großen Probleme und die ihnen entsprechenden Metaphysiken schaffen." 31 Es ist deshalb schon berechtigt, danach zu fragen, ob der spezifisch moderne Glaube an die Geschichte, dieses kaum je eingestandene und doch das allgemeine Bewußtsein durch und durch bestimmende Vertrauen in die Geschichte, ohne die Vorarbeit der Sprache, d.h. ohne die Herausbildung der Kollektivsingulare „Geschichte", „Menschheit", „Entwicklung", „Fortschritt" u.a., in dieser Weise je hätte entstehen können. Den neuen Geschichtsbegriffen entspricht ein neues historisches Bewußtsein. Es bilden sich die verschiedenen Formen des Geschichtsglaubens heraus: das uneingeschränkte Fortschrittsvertrauen, das utopische Geschichtsdenken, der emphatische Geschichtsbegriff der Historischen Schule. Es soll damit gewiß nicht behauptet werden, bei der Herausbildung des modernen, hypostasierten Geschichtsverständnisses handle es sich um einen sprachlich herbeigeführten Vorgang. Es soll aber darauf hingewiesen werden, daß der Prozeß der Entstehung des modernen Geschichtsbewußtseins sich von dem der Herausbildung der neuen Geschichtsbegriffe nicht trennen läßt und daß in diesen Begriffen verschiedene latente Gefahren möglicher Sprachverführung des Geschichtsdenkens angelegt sind und daß schließlich erst auf der Grundlage dieser Termini und des mit ihnen verbundenen Geschichtsbewußtseins es möglich und überhaupt sinnvoll sein kann, die Frage nach der Entwicklung der Menschheitsgeschichte zu stellen. Die Berechtigung dieser Frage gilt es hier abzuklären. 2. Bei dem Versuch einer kritischen Würdigung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs ist von der Tatsache auszugehen, daß er das Resultat einer Übertragung des bereits allgemein gebräuchlichen biologischen und anthropologischen Entwicklungsbegriffs auf die Geschichte darstellt. Die Tatsache, daß der geschichtsphilosophische Entwicklungsbe31
Hans Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern; in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 15, Bonn 1 9 7 1 , S. 166.
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griff ursprünglich der biologisch-anthropologischen Sphäre entnommen ist, gibt Anlaß, kritisch danach zu fragen, ob dadurch die Vorstellung der Geschichtsentwicklung nicht von Anfang an — wenngleich ungewollt und unbemerkt — in einem ganz bestimmten Sinne vorgeprägt und auf ein der Geschichte möglicherweise unangemessenes Interpretationsmuster hin fixiert worden ist. Es muß also gefragt werden, ob überhaupt und in welcher Hinsicht allenfalls die biologisch-anthropologische Herkunft im geschichtlichen Entwicklungsbegriff weiterwirkt. Nun hat der geschichtliche Entwicklungsbegriff mit der Übertragung gewiß auch eine neue semantische Gestalt angenommen. Aber die Gefahr eines ungewollten Nachwirkens der ursprünglichen Bedeutung ist doch nicht von der Hand zu weisen, zumal — worauf im folgenden noch einzugehen sein wird — keine Möglichkeit empirischer Überprüfung des neu gewonnenen Entwicklungsbegriffs bestand: Geschichtsentwicklung ist kein phänomenal zugängliches Geschehen, sondern eine bestimmte Deutung von Geschehen. Es wird sich im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit zeigen, daß der aus der Biologie übertragene geschichtliche Entwicklungsbegriff zunächst ausschließlich als Metapher angewendet worden ist, und zwar im Zusammenhang der Lebensaltermetaphorik, und erst allmählich selbständige Bedeutung gewann. Auch diesem Vorgang der Verselbständigung des geschichtlichen Entwicklungsbegriffs dürfte die Sprache vorgearbeitet haben, insofern ein einmal eingeführter Begriff die Tendenz zeigt, seinen ursprünglichen Geltungsbereich zu überschreiten. In diesem Sinne war es wohl unvermeidlich, daß die Vorstellung einer entwicklungshaften geschichtlichen Verlaufsform, die sich im Rahmen einer bestimmten Metaphorik bewährt hat, allmählich universalisiert und schließlich auf das Ganze der Geschichte bezogen wurde. 3. Die Vorstellung der Geschichtsentwicklung hat als Metapher Eingang in die Wissenschaft und Philosophie der Geschichte gefunden. Deutung der Geschichte als Entwicklung heißt demnach Deutung der Geschichte per analogiam. Zahlreiche historische Grundbegriffe haben eine metaphorische Herkunft, wie dies beispielsweise die Termini „Evolution", „Revolution", „Fortschritt", „Renaissance" belegen. Zu ihnen zählt also auch das Wort „Ent-wicklung", insofern es das Bild des Auseinanderwikkelns eines ursprünglich Unentfalteten enthält. Doch es ist nicht dieses allen Entwicklungsbegriffen gemeinsame bildliche Moment gemeint, wenn im folgenden der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff als Meta-
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pher bezeichnet wird. Gemeint ist mit dieser Benennung vielmehr die Tatsache, daß mit der Übertragung des biologischen Entwicklungsbegriffs auf die Geschichte dieser Begriff zur Metapher wird: Geschichte wird in Analogie zu organischen Entwicklungsprozessen interpretiert, die Menschheitsgeschichte im Gleichnis individualgeschichtlicher Entwicklung begriffen. Eine Metapher entsteht nach der Definition von Kainz durch „Übertragung eines fertigen — vorhandenen und zuhandenen — Wortes aus dem allgemeinen Sprachschatz auf einen unfertigen, weil neuen und gedanklich noch unbewältigten Eindruck" 3 2 . Metaphern lassen sich nicht einfach aus der Sprache eliminieren, denn sie bilden einen notwendigen Bestandteil in ihr. Die Metapher ist, wie Kainz feststellt, „kein bloßer poetisch-sprachästhetischer Schmuck, sondern eine Urtatsache des Sprachlebens" 33 . Auch im Sprechen über Geschichte sind Metaphern nicht bloß schmükkendes Beiwerk, sondern ein unentbehrliches Medium gedanklichen Erfassens des geschichtlichen Geschehens. Gegenüber einer gedankenlosen Metaphernkritik ist demnach zu betonen, daß es, worauf Heinz Meyer mit Recht hinweist, bloß ein „Vorurteil" ist, wenn man die Meinung vertritt, „ein möglichst weitgehender Verzicht auf Metaphern begründe automatisch einen Gewinn an Eindeutigkeit, Sachlichkeit und Realitätsbezogenheit" 34 . Gegen den Gebrauch von Metaphern ist nichts einzuwenden, solange sie als solche erkennbar sind. Unter der Voraussetzung, daß Metaphern bewußt eingesetzt werden, stellen sie ein in mancher Hinsicht geeignetes Erkenntnismittel dar. In solchen Fällen kann ihre bildliche Funktion zur vollen, erkenntniserschließenden Geltung kommen. Gefährlich und das Denken möglicherweise irreleitend werden Metaphern erst dann, wenn sie nicht mehr als solche zu erkennen sind. Dies ist leicht dann der Fall, wenn ein Ausdruck — wie etwa beim Wort „Entwicklung" — in der Alltagssprache allgemein üblich ist und unspezifisch angewendet wird, so daß sein Gebrauch in wissenschaftlichen oder philosophischen Zusammenhängen kein sprachkritisches Mißtrauen erregt. In diesem Zusammenhang ist noch auf folgendes hinzuweisen: Im frühen Stadium der sich erst ausbildenden und langsam Gestalt annehmenden Wissenschaft und Philosophie der Geschichte fehlte eine eigene Fach-
32 33 34
F. Kainz: Über die Sprachverführung, S. 124. Ebd., S. 21. Heinz Meyer: Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte; in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 25, Bonn 1981, S. 90.
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terminologie noch weitgehend. Neu entdeckte Problemkreise — etwa die nicht mehr heilsgeschichtlich verstandene Universalgeschichte, die nun einer Neuauslegung bedurfte — machten Neubenennungen notwendig. Da sich neue Thematiken zunächst nur durch Anwendung der alten Terminologie sprachlich erfassen lassen, bestand keine andere Möglichkeit, als das neue Forschungs- und Wissensfeld durch terminologische Übertragungen zu erschließen, und zwar auf Grund von Ähnlichkeiten und Analogien. Ein solches Vorgehen ist voller Gefahren, denn es bedeutet ja nichts anderes, als daß man ein neues Forschungsgebiet unter einer entlehnten Terminologie kennenlernt. Es besteht deshalb — ungewollt — die Tendenz, den neuen, fremden Erkenntnisbereich vollständig in den vertrauten Begriffsrastern aufgehen zu lassen, obwohl es sich doch nicht um identische, sondern um bloß ähnliche und analoge Sachverhalte handelt. Es droht hier also die Gefahr einer Gleichsetzung dessen, was nur auf Grund von Ähnlichkeiten demselben Begriff subsumiert worden ist. In solchen Fällen kommt es dann, worauf Kainz hinweist, als Folge der Überschätzung und Überspannung von Ähnlichkeiten und Analogien zu „effektiven Ungenauigkeiten der Bezeichnung, von denen denkverführende Wirkungen ausgehen können, wenn man das sprachliche Bild als Begriff und — unter Nichtbeachtung der Uneigentlichkeit — die indirektübertragene Bezeichnung für eine direkte und eigentliche nimmt" 35 . Im allgemeinen finden bereits in der Entstehungszeit einer Wissenschaft oder Disziplin die wichtigsten begrifflichen Fixierungen statt, die dann zusammen sozusagen den terminologischen Fundus darstellen, aus dem später der betreffende Wissenszweig lebt. Die Geschichte lehrt, daß an einmal gewonnenen Termini mit größter Ausdauer, ja mit einer Jahrhunderte überdauernden Zähigkeit festgehalten wird. Sie lassen sich nicht mehr zurücknehmen. Man muß sie als gegeben akzeptieren und mit ihnen auszukommen lernen. Aber gerade diese Tatsache verpflichtet zur sprachkritischen Aufgabe einer steten Überprüfung, ob das in die starren terminologischen Formen gebundene Denken dem intendierten Sachverhalt auch angemessen ist, um so zu verhindern, daß die Sprachgewohnheiten unbemerkterweise zu Denkgewohnheiten werden. 3. Zwei Grundschwierigkeiten
historischer
Terminologie
Wenn die Vorstellung geschichtlicher Entwicklung aus einer Übertragung des organischen Entwicklungsbegriffs hervorgegangen ist und folg35
F. Kainz: Über die Sprachverführung, S. 21.
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lieh eine Deutung des Geschichtsverlaufs per analogiam darstellt, dann ist nun zu fragen, was dieses Faktum für die Beurteilung der geschichtswissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie bedeutet. Dazu ist es erforderlich, auf zwei Grundprobleme historischer Begrifflichkeit näher einzugehen. 1. Eine erste Grundschwierigkeit aller historischen Terminologie liegt in der prinzipiellen Unmöglichkeit, die ununterbrochene Bewegung der Geschichte, ihr Fließen und ihre Dynamik in der Statik allgemeiner Begriffe festzuhalten. Das notwendige Scheiternmüssen aller Versuche, die Bewegung und das Werden durch begriffliches Denken zu erfassen, hat erstmals Zenon mit seinen Paradoxien der Bewegung nachgewiesen. Er hat damit eine unüberwindbare Grenze des Denkens in Begriffen aufgezeigt. Nun wäre es allerdings falsch oder doch zumindest oberflächlich, zu meinen, die Schwierigkeit historischer Begriffe bestehe darin, daß sie sich im Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Begriffen, die Seiendes und Unveränderliches zum Gegenstand haben, auf Werdendes und Veränderliches richten. Diese verbreitete Auffassung hat schon Heinrich Rickert berichtigt, indem er mit Nachdruck darauf hinwies, daß auch die empirische Wirklichkeit, auf die sich die Begriffe der Naturwissenschaften beziehen, der permanenten Veränderung unterliege. Es sei zwar richtig, daß die Geschichte es mit Veränderung, Werden und Aufeinanderfolge zu tun habe, aber dies gelte auch für die Objekte der Naturwissenschaft: „...alles empirische reale Sein bildet zugleich ein Werden und Geschehen, jeder wirkliche Vorgang verändert sich langsamer und schneller, alle empirische Realität setzt sich aus ,Reihen' zusammen, deren Teile aufeinander folgen. Ein beharrendes, starres, dauerndes reales Sein und Wiederholung im strengen Sinn des Wortes kennt die empirische Wirklichkeit, wie sie unabhängig von jeder Auffassung durch die Wissenschaft besteht, überhaupt nicht." 36 Den Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen und historischen Begriffen bestimmt Rickert dahingehend, daß jene sich auf das Allgemeine, diese dagegen sich auf das Individuelle richten. Entsprechend ist das Vorgehen der Naturwissenschaften generalisierend und das der Geschichtswissenschaften individualisierend. Da sich die historischen Begriffe auf die individuelle Wirklichkeit des Geschehens und der Verände-
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Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung — Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 3. u. 4., verb. u. erg. Aufl., Tübingen 1 9 2 1 , S. 178 f.
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rung beziehen, wird freilich den historischen Wissenschaften die Vergeblichkeit aller Bemühungen, das Werdende in seinem Werden zu erfassen, immer deutlicher bewußt sein als den generalisierenden Naturwissenschaften. Die Geschichtswissenschaft kann die Bewegung der Geschichte stets nur an einem „Individuum" (Person, Gemeinschaft, Staat, Epoche, Stil usw.) verfolgen, ist aber unfähig, die isolierte Verlaufsform selbst festzuhalten. Was geschichtliche Bewegung, Veränderung, Entwicklung, Fortschritt usw. als solche sind, muß der Wissenschaft wie der Philosophie der Geschichte unbekannt bleiben. Die Geschichtsbetrachtung vermag die Statik ihrer Begrifflichkeit nicht zu überwinden. Rickert sagt hierzu ganz klar: „Freilich bin ich der Meinung, daß die Wissenschaft auch den kontinuierlichen Strom der Entwicklung unter Begriffe bringt, und dabei kann sie das Kontinuum nicht anders darstellen, als indem sie es gliedert und so in ein Diskretum von ,Stadien' verwandelt." 37 2. Die zweite Grundschwierigkeit historischer Terminologie hängt mit der eben erwähnten ersten eng zusammen. Wie es nämlich nicht möglich ist, die Geschichtsbewegung als Bewegung begrifflich zu erfassen, so kann es auch nicht gelingen, die Zeit der Geschichte in reinen Zeitbegriffen wiederzugeben. Nun kann aber die historische Terminologie das Zeitmoment nicht ausklammern, wie dies bei den naturwissenschaftlichen Begriffen der Fall ist. Das Denken vermag die Zeit der Geschichte nur in Bildern räumlicher Bewegung festzuhalten. Geschichtliche Zeit läßt sich immer nur indirekt, d.h. unter Zuhilfenahme von Metaphern aus dem räumlichen Bereich, gedanklich bewältigen. Es ist aus diesem Grund unvermeidlich, daß alle historischen Bewegungsbegriffe einen metaphorischen Anteil enthalten. R. Koselleck sagt diesbezüglich von der Geschichtswissenschaft: „Wir leben von einer naturalen Metaphorik, und wir können dieser Metaphorik gar nicht entrinnen aus dem einfachen Grund, weil die Zeit nicht anschaulich ist und auch nicht anschaulich gemacht werden kann. Alle historischen Kategorien, bis hin zum Fortschritt, der ersten spezifisch modernen Kategorie geschichtlicher Zeit, sind ursprünglich räumliche Ausdrücke, von deren Übersetzbarkeit unsere Wissenschaft lebt." 38 Auch Hans Blumenberg hebt die „Defizienz des Begriffs Zeit in allen ihren
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Ebd., S. 299. Reinhart Koselleck: Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft; in: Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Theodor Schieder u. Kurt Gräubig, Darmstadt 1977, S. 45.
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Der Begriff der Entwicklung
versuchten Bestimmungen" hervor, die darauf zurückzuführen sei, „daß Metaphorik des Raumes darin vorkommt und nicht zu eliminieren ist" 39 . Die beiden grundsätzlichen Schwierigkeiten historischer Terminologie haben ihren Grund in der von Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" herausgearbeiteten Tatsache, daß die beiden Anschauungsformen von Raum und Zeit aufeinander verweisen und als isolierte Vorstellungen unmöglich sind. Es gelten hier folgende Verhältnisse: Verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nur nacheinander vorstellbar; und umgekehrt können verschiedene Räume nicht nacheinander, sondern nur zugleich sein. 40 Zeitliche Differenz verweist auf räumliche Identität und räumliche Differenz auf Gleichzeitigkeit. Der Raum bildet somit die Form der Einheitlichkeit gegenüber der zeitlichen Wirklichkeit: Einheit wird durch Anwesenheit im identischen Raum konstituiert. Die Zeit dagegen bildet die Form der Mannigfaltigkeit, insofern Vielheit nur in zeitlicher Sukzession vorstellbar ist. Das „Nebeneinander überhaupt, der Raum selbst also in seinen Teilen," ist, wie R. Reininger bemerkt, nur „sukzessiv vorstellbar, wie umgekehrt wieder die Zeit nur durch räumliche Bilder symbolisiert werden kann. Raum und Zeit gehören so schon rein phänomenologisch zusammen, insofern sie in ihrer Vorstellbarkeit wechselseitig aufeinander angewiesen sind" 41 . Das Wesen der Entwicklungsvorstellung besteht in ihrer Funktion, zeitlich Verschiedenes der Einheit eines identischen Prozesses zu subsumieren. Wenn nun das zeitlich Verschiedene nur in räumlichen Bildern faßbar wird, dann folgt daraus, daß Entwicklung nur in Bildern räumlicher Bewegung vorgestellt werden kann. Wenn es sich aber so verhält und die Bezugnahme auf Bilder räumlicher Bewegung für die historischen Termini mit temporaler Bedeutung unausweichlich ist, dann wird man in der Tatsache, daß die Vorstellung der Geschichtsentwicklung eine metaphorische Übertragung darstellt, nicht mehr nur als Negativum, sondern zugleich als eine Unumgänglichkeit einschätzen müssen. Wenn ferner der Entwicklungsbegriff durch seine Teilhabe an den Vorstellungen von Raum und Zeit bestimmt ist, dann ist überdies noch zu berücksichtigen, was Kant über die Begriffe von Raum und Zeit ausgeführt hat. Beide sind nicht diskursive oder allgemeine
39 40 41
Vgl. H. Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, S. 166. Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 47. Robert Reininger: Metaphysik der Wirklichkeit, Wien/Leipzig 1931, S. 51.
Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs
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Begriffe, sondern reine Formen sinnlicher Anschauung und als solche a priori. 42 Für den Entwicklungsbegriff hat dies zur Konsequenz, daß er zumindest nicht als diskursiver Begriff aufgefaßt werden kann. Die beiden grundsätzlichen Schwierigkeiten historischer Terminologie weisen darauf hin, daß die in kritischer Absicht gestellte Aufgabe einer Überprüfung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie nicht so leicht und so schnell zu einem Ergebnis kommen wird, wie zunächst vielleicht zu erwarten war. Denn woran eigentlich, an welchem Objekt also, soll die Uberprüfung vollzogen werden, wenn einerseits das Objekt, die Geschichte in ihrem Verlauf, überhaupt erst durch Begriffe wie „Entwicklung" faßbar wird und andererseits über Entwicklung als reine Verlaufsstruktur, losgelöst von jeder Beziehung auf einen geschichtlichen Gegenstand, keine Aussage gemacht werden kann?
4. Geschichtsentwicklung
als Metapher
Die Untersuchung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs wird nur in Form eines Erörterns verschiedener Gesichtspunkte und einer Gegenüberstellung gegensätzlicher Argumente zu einem Ergebnis kommen können. Dabei gilt es auf der einen Seite zu berücksichtigen, daß die Tatsache des metaphorischen Charakters des historischen Entwicklungsbegriffs und die darin angelegten Möglichkeiten der Fehlinterpretation der Geschichtsbewegung deutlich gegen diesen Begriff sprechen. Auf der anderen Seite ist das Angewiesensein der historischen Bewegungsund Zeitbegriffe auf metaphorische Anschaulichkeit anzuerkennen. Entsprechend ambivalent ist denn auch die Einschätzung der Metaphern in der Geschichte. R. Koselleck etwa äußert sich in seiner Abhandlung „Uber die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft", aus der bereits zitiert worden ist, zu der Frage nach dem Erkenntniswert von Metaphern folgendermaßen: „Die Historie als Wissenschaft lebt im Unterschied zu anderen Wissenschaften nur von der Metaphorik. Das ist gleichsam unsere anthropologische Prämisse, da sich alles, was temporal formuliert sein will, an die sinnlichen Substrate der natürlichen Anschauung anlehnen muß." 43 Allerdings weist er auch darauf hin, der „Zwang zur
42 43
Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 38 und B 47. R. Koselleck: Über die Theoriebedürftigkeit, S. 44.
30
Der Begriff der Entwicklung
Metaphorik" bedürfe „ständiger methodischer Rückversicherungen, die auf eine Theorie der geschichtlichen Zeiten verweisen". 44 Bemerkenswert ist auch die Stellungnahme Harald Weinrichs in seiner „Linguistik der Lüge". Die Frage, ob den Metaphern „Lügenhaftigkeit" vorzuwerfen sei, verneint er uneingeschränkt. Daß Metaphern weniger präzise sein sollen als andere Wörter, hält er für ein Gerede, das jeder Grundlage entbehre. Er verwirft die Auffassung, bei Metaphern handle es sich um eine uneigentliche Ausdrucksweise. Er gelangt schließlich zur Feststellung: „Es hängt also keine Lüge an den Metaphern. Die Sprache belügt uns nicht, und wir belügen niemanden, wenn wir bildlich reden. Unsere Gedanken kommen rein und unverfälscht zu den andern..." 45 Aber, so ist darauf zu erwidern, könnte es nicht sein, daß Metaphern uns etwas vorlügen? Könnte es sich nicht so verhalten, daß uns etwa „Entwicklung" vorlügt, die Geschichte würde wie eine Pflanze, ein Tier oder ein Mensch heranwachsen, sich allmählich entwickeln und dabei ausbilden, was bereits keimhaft angelegt ist? 46 Eine gegenüber den Metaphern betont kritische Position vertritt Alexander Demandt in seinem großen Werk über „Metaphern für Geschichte", das eine Systematik der verschiedenen Denkbilder für Geschichte gibt und damit die ganze bunte Fülle an Sprachbildern und Gleichnissen erkennen läßt, in denen das Geschichtsdenken sich einen Zugang zum Verständnis der Geschichte zu erschließen suchte. Wer ein derart reiches Material überprüft, wird wohl notwendigerweise zu einer metaphernkritischen Einstellung gelangen, da doch offensichtlich alle Bilder und Gleichnisse ihre Grenze haben. Jedenfalls resümiert Demandt das Ergebnis folgendermaßen: „Die Geschichte ist kein Fluß, kein Weg, kein Buch und keine Tragödie. Die Geschichte wächst nicht, und in der Geschichte wächst auch nichts wie ein Kind oder wie ein Baum. Die Geschichte bewegt sich nicht und in der Geschichte bewegt sich nichts, weder vor- oder rückwärts, noch auf- oder abwärts, weder gradlinig noch im Kreise. Die Geschichte wird nicht gemacht wie ein Haus oder ein Teppich, sie wird auch nicht
44 45 46
Ebd. Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, Heidelberg 1970, S. 47. So bestreitet etwa Heinrich Rickert grundsätzlich die Berechtigung organischer Metaphorik im Rahmen der Geschichtsinterpretation: es ist einfach nicht wahr, wenn gesagt wird, das theoretische Leben verlaufe wie das der organischen Lebewesen so, daß es keime, sich entfalte, blühe, Früchte trage und dann wieder verwelke, um schließlich abzusterben" (Heinrich Rickert: Kant als Philosoph der modernen Kultur — Ein geschichtsphilosophischer Versuch, Tübingen 1924, S. 45).
Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs
31
gespielt wie ein Drama, eine Schachpartie oder eine Symphonie. Das einzige, was man über die Geschichte an sich aussagen kann, ist, daß sie geschieht. Und damit sagt man gar nichts." 47 — Und die Geschichte ist auch keine Entwicklung, möchte man im Rahmen der vorliegenden Untersuchung noch hinzufügen, sondern eben bloß Geschehen. Man darf dieses negative Ergebnis nicht unterschätzen und muß es akzeptieren, ohne daß damit ein vorzeitiger Abschluß der Untersuchung zu befürchten wäre. Denn dieses Ergebnis stellt gleichsam nur die eine Seite dar; die andere deutet sich darin an, daß die Schlußpassage von Demandts Buch sich auch in positive Aussagen wenden ließe, ohne dadurch falsch zu werden: Die Geschichte ist ein Fluß, ein Weg, ein Buch und eine Tragödie usw. So ist die Geschichte eben auch Entwicklung, und insbesondere die Geschichtsphilosophie wird das Geschichtsgeschehen immer als Entwicklung interpretieren, weil sie anders zu gar keiner Aussage gelangen könnte. Demandt zeigt in seinem Buch auf, daß organische Metaphern für Geschichte seit Homer und den Propheten gebräuchlich sind. Die naheliegende Parallelität der Geschichte zum Leben bestimmt die Geschichtsbilder von Anfang an. 48 Über die Entwicklungsmetapher führt Demandt aus, daß sie ursprünglich der Buch-Metaphorik entstamme, aber früh schon auf die Lebensgesetzlichkeit übertragen worden sei und von diesem sekundären Anwendungsbereich aus die Vorstellung der Geschichtsentwicklung bestimme. Es handle sich also um eine organische Vorstellung. Demandt weist zugleich auf die Grenzen der geschichtlichen Entwicklungsmetapher: 49 Historische Entwicklungsprozesse sind im Unterschied zu den biologischen einmalige Vorgänge. Die Biologie erkennt Wesen und Gesetzmäßigkeit der Entwicklung aus der Wiederholung desselben Vorgangs bei zahlreichen Individuen. In der Geschichte dagegen fehlt diese Vergleichsmöglichkeit; darum ist jedes Sprechen von Entwicklung problematisch. Um etwas als Entwicklung kennzeichnen zu können, muß zuvor der Gegenstand bestimmt werden. Gegenstand ist aber das, was in der Veränderung unverändert bleibt. Die Identitätsbestimmung führt in der Geschichte — im Gegensatz zur Biologie — auf die Schwierigkeit, Anfang und Ende der Entwicklung festlegen zu müssen. Schließlich ist noch das
47
48 49
Alexander Demandt: Metaphern f ü r Geschichte — Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 453. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 1 1 6 ff.
32
Der Begriff der Entwicklung
Problem der Notwendigkeit zu erwähnen. Denn biologische Entwicklungsprozesse sind, wiederum im Unterschied zur Geschichte, bestimmten Ereignisfolgeregeln unterworfen und unterliegen somit in ihrem Verlauf einer gewissen Notwendigkeit. Der Grundgedanke von Demandts Kritik an der Entwicklungsmetapher besteht also in der Feststellung der Nichtübereinstimmung des Bildes organischer Entwicklung mit den entsprechenden Geschichtsvorgängen. Bemerkenswert ist ferner Demandts Hinweis, daß Lebensmetaphern und die Entwicklungsvorstellung sich beliebigen politischen oder ideologischen Zwecken fügen: Im Aufklärungszeitalter stützt die Metapher der Entwicklung, etwa durch den universalen Erziehungsgedanken, eine optimistische und kosmopolitische Tendenz, bei Hegel, für den die Geschichtsentwicklung im wesentlichen zu einem Endpunkt gelangt ist, eine quietistische Haltung; bei Marx begründet diese Metapher die Naturnotwendigkeit der Weltrevolution, bei Humboldt und Ranke einen konservativen, friedlichen Nationalismus, bei Droysen und Treitschke einen nationalen Aktivismus. 50 Demandt schätzt den Gewinn, der für das Geschichtsverständnis aus der Entwicklungsmetapher zu ziehen ist, recht gering ein: „Das Interesse des Historikers an Entwicklungen in der Geschichte beruht darauf, daß sie Ordnung und Prägnanz ins Bild bringen, auch wenn dabei vieles aus dem Blick entschwindet." 51 Ähnlich zurückhaltend-kritisch ist seine allgemeine Beurteilung von Geschichtsmetaphern, obwohl er sich ihrer Unvermeidlichkeit bewußt ist. Dies gilt insbesondere für die Metaphorik der Bewegung, „weil ohne Bewegung keine Zeit zu denken ist, ohne Zeit es aber keine Geschichte gibt". Deshalb sind seiner Meinung nach die Bewegungsgleichnisse neben den organischen Metaphern „die wichtigsten Denkbilder für Geschichte überhaupt". 52 Da Zeit nur in einer Bewegungsmetaphorik gedacht werden kann und da Zeit seit Heraklit als universaler Prozeß vorgestellt wird, so schließt man daraus auf einen einheitlichen Prozeß der Geschichte. Wer aber in dieser Weise schließe, so urteilt Demandt, der unterschätze die „Menge an Erscheinungen, die sich diesem ,Prozeß' nicht einfügen lassen". Dennoch beherrsche diese Bildwelt das gegenwärtige Geschichtsdenken. 53
50 51 52 53
Vgl. ebd., S. 119 f. Ebd., S. 119. Vgl. ebd., S. 451 f. Vgl. ebd., S. 452.
Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs
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Die letzte Aussage Demandts macht deutlich, wie weitreichend die Konsequenzen einer radikalen Metaphernkritik sein können, insofern dadurch die Grundkategorien geschichtsphilosophischen Denkens wie „Einheit der Menschheitsgeschichte", „Prozeß", „Entwicklung" in Frage gestellt werden. In dieser Hinsicht gelangt Demandt zu einem klaren Ergebnis. Für ihn steht nämlich fest, daß Geschichtsmetaphern ein Sinnbedürfnis stillen, das aus dem Wunsch nach Einheit der Welt erwachse. Die Geschichte verliere ihre Fremdartigkeit, wenn wir sie in strukturaler Entsprechung zu Bereichen der Lebenserfahrung deuteten. Dadurch werde die Geschichte ein Teil der lebendigen oder der kosmischen Natur, eine Wanderbewegung oder ein Arbeitsvorgang, ein Theaterstück oder eine Symphonie. In jeder dieser Sphären sähen wir durch die Erscheinung einen Sinn verwirklicht; in der organischen Natur die Entfaltung des Lebens, im Kosmos die mathematische Ordnung, in der Bewegung die Annäherung an ein Ziel, in der Arbeit die Herstellung eines Produktes, im Theater den Ausdruck einer Idee und in der Musik die Erzeugung einer Harmonie. Durch die Übertragung von Begriffen aus diesen Bereichen auf die Geschichte werde auch der dazugehörige Sinn übertragen. 54 Demandt äußert zusammenfassend die Vermutung, „daß sich die Frage nach dem Sinn der Geschichte ohne Sprachbilder gar nicht erläutern, geschweige denn beantworten läßt". Wer nun aber meint, Sinnaussagen könnten durch Bilder begründet werden, dem legt Demandt Jean Pauls kleine Schrift „Uber den Gott in der Geschichte und im Leben" ans Herz. 55 Allerdings schränkt nun der Autor diese Ansicht wieder durch die Bemerkung ein, es wäre „ganz falsch, aus der Subjektivität des Sinnbedürfnisses und aus der Metaphorik in seinen Vorstellungsformen den Einwand der Illegitimität abzuleiten. Lediglich die Ansicht, es handle sich bei diesen Veranschaulichungen um Wissenschaft im positivistischen Sinne, bedarf der Richtigstellung" 56 . Nun vermag aber diese Abmilderung der ersten Aussage nicht so recht zu überzeugen, denn entweder spricht sie eine Selbstverständlichkeit aus — daß nämlich Geschichte kein Bereich generalisierender Begriffsbildung im Sinne der exakten Wissenschaften ist — , oder es liegt hier eine Inkonsequenz vor. Denn wenn sich über Geschichte, wegen ihres zeitlichen Charakters, nur in Metaphern sprechen läßt und wenn ferner, wie Demandt behauptete, durch Sprachbilder keine Aussagen
54 55 56
Vgl. ebd., S. 450 f. Vgl. ebd., S. 451. Ebd.
Der Begriff der Entwicklung
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begründet werden können, dann sind folglich über die Geschichte überhaupt keine begründeten Aussagen möglich. — Aber werden hier nicht aus der richtigen Feststellung der Metapherngebundenheit des Denkens über Geschichte falsche Schlüsse gezogen? Wird die radikal und konsequent durchgeführte Kritik der Geschichtsmetaphern schließlich nicht zum Verstummenmüssen führen resp. zur allein noch möglichen Aussage über die Geschichte, „daß sie geschieht", womit man aber, wie Demandt selbst bemerkt, gar nichts sagt? 57
5. Grenzen der
Sprachkritik
Die Grenzen einer sinnvollen Metaphernkritik scheinen bereits in Demandts Beurteilung der Bewegungsmetaphern überschritten zu sein. Da „Entwicklung" nicht nur eine organische, sondern zugleich eine Bewegungsmetapher — also ein Bild für organische Bewegung — ist, sind Demandts Ausführungen auch für die Entwicklungsthematik wichtig. Auszugehen ist von Demandts Feststellung, daß Bewegungsmetaphern neben den organischen Gleichnissen die wichtigsten Denkbilder der Geschichtsphilosophie sind. Als Grund hierfür nennt er den hohen Abstraktionsgrad von Bewegungsbildern, die ärmer an Anschauung und darum reicher an Verwendungsmöglichkeiten sind als die meisten anderen Metaphern, so daß man sie vergleichsweise unbefangen gebraucht: „Aufklärung und Idealismus, Materialismus und Historismus sind sich darin einig, daß die Geschichte im einzelnen aus Prozessen bestehe und im ganzen einen Prozeß darstelle..." 58 Dennoch müsse, so meint Demandt, ausdrücklich gefragt werden: „Sind Bewegungs-Metaphern überhaupt zu rechtfertigen?" 59 Metaphern der Bewegung lassen sich im Unterschied zu anderen Bildern nur schwer von der gemeinten Aussage selbst ablösen: „Nirgendwo scheinen bildhafter Ausdruck und gedachter Inhalt so eng miteinander verwachsen wie hier. Begriffe wie Prozeß und Trend, Vorgang und Verlauf wecken in uns kaum noch bildliche Assoziationen, ja sie bieten sich als eigentliche Bezeichnung für evident metaphorische Wendungen aus anderen Bereichen an." 60 Demandt zeigt dies an einem Beispiel auf. 57 58 59 60
Vgl. ebd., S. 453. Ebd., S. 257. Ebd., S. 258. Ebd., S. 262.
Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs
35
Wenn Jacob Burckhardt die von ihm häufig verwendete, aus der Medizin übernommene Metapher „Krise" als „beschleunigten Prozeß" umschreibt, 61 so meinen wir, damit eine Definition für die Metapher „Krise" gefunden zu haben, „und übersehen die versteckte Uneigentlichkeit, die auch der Bewegungsterminologie noch anhaftet. Sie zu hinterfragen, ist schwierig, aber vielsprechend, weil wir, indem wir sie durchstoßen, näher an die gemeinte Wirklichkeit herankommen als sonst" 62 . Das Kernproblem liegt für Demandt in der Klärung der Frage, „was denn übertragen wird, wenn wir Bewegungs-Metaphern gebrauchen" 63 . Bei einem Ausdruck wie „Strom der Ereignisse" fällt die Beantwortung leicht, da das Bildliche, das übertragen wird, klar zu erkennen ist; der zeitliche Charakter dagegen, der beiden Geschehen gemeinsam ist, bildet den Vergleichspunkt und braucht also nicht übertragen zu werden. Wie verhält es sich aber, so fragt der Autor nun weiter, mit der Bewegung selbst? „Gehört sie nur dem Herkunfts- oder auch dem Anwendungsbereich an? Ist sie in der Geschichte ursprünglich oder eingeführt?" 64 Ohne nun auf die einzelnen Schritte der Argumentation Demandts näher eingehen zu können, sei nur auf die Vergeblichkeit dieser Fragestellung hingewiesen. Denn um den Bewegungsbegriff „hinterfragen" zu können, wie Demandt dies fordert, um dadurch „näher an die gemeinte Wirklichkeit" heranzukommen, müßten wir über eine bestimmte Definition von Bewegung verfügen, die aber, wie die Philosophie seit Zenon lehrt, schon deswegen nicht möglich ist, weil sich Bewegung jeder begrifflichen Fixierung entzieht. Der Terminus „Bewegung" bezeichnet ein ontologisches Grundproblem, aber keineswegs ein begrifflich eindeutig faßbares Phänomen, von dem sich dann fragen ließe, ob es mit dem „Phänomen" des Geschichtsgeschehens übereinstimme. Die Begriffe „Bewegung", „Zeit" und „Geschichte" stimmen zum einen darin überein, daß sie sich einer terminologischen Festlegung verschließen, zum anderen aber auch darin, daß jede Definition des Zeitbegriffs auf den Begriff räumlicher Bewegung verweist — und umgekehrt — und daß der Geschichtsbegriff die beiden anderen zur Voraussetzung hat. Es scheint hier eine grundsätzliche Grenze des begrifflichen Denkens über Geschichte erreicht zu sein, so daß nicht erwartet werden kann, daß wir, indem wir die Bewegungster61
62 63 64
Vgl- Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen — Über geschichtliches Studium; in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Basel 1956, S. 1 1 6 . A. Demandt: Metaphern für Geschichte, S. 262 f. Ebd., S. 283. Ebd., S. 263.
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Der Begriff der Entwicklung
minologie „durchstoßen, näher an die gemeinte Wirklichkeit herankommen". Denn was für eine Wirklichkeit wäre dies? Etwa eine sprachlos erfaßte, metaphernfrei und anschauungslos vermittelte Wirklichkeit? Jedes theoretische Erfassen von Bewegung und Zeit der Geschichte sieht sich vor die prinzipielle Schwierigkeit gestellt, dieses absolut Anschauungslose in die anschaulichen Vorstellungen einer Terminologie zu übersetzen. Daher verkennt die Absicht, auch noch die Begriffe geschichtlicher Bewegung der Metaphernkritik zu unterziehen, die grundsätzliche Differenz zwischen Begriff und Gegenstand. Die Anschauungslosigkeit der Bewegung, der Zeit und der Geschichte ist folglich der Grund für die Metaphernhaftigkeit historischer Terminologie, obwohl von diesem Angewiesensein auf bildliche und metaphorische Momente wiederum verschiedene Gefahren ausgehen. Die Tatsache, daß Zeit, Bewegung und Geschichte selbst anschauungslos sind, setzt sowohl die Verteidiger wie die Kritiker von Geschichtsmetaphern ins Recht. Auf Grund der bisherigen Überlegungen kann der geschichtswissenschaftliche wie der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff durch seine Funktion bestimmt werden, die ungegenständliche und unanschauliche Bewegung der Geschichte im Bild der anschaulich vermittelten organischen Entwicklung zu vergegenständlichen. Damit verbindet sich zugleich ein weiteres wichtiges Ergebnis: Die Anschauungslosigkeit von Zeit und Bewegung der Geschichte ist der Grund für die erkenntnistheoretischen und methodologischen Schwierigkeiten einer jeden Theorie der Geschichtsbewegung, sie ist mithin auch die Ursache dafür, daß eine einfache und eindeutige Auflösung der Problematik geschichtlicher Entwicklung nicht möglich ist. Es zeigen sich hierin die Grenzen einer sprachkritischen Behandlung der Entwicklungsthematik. Gewiß ist der Gedanke ebenso naheliegend wie verführerisch, im Problem der Entwicklung der Menschheitsgeschichte eine philosophische Vexierfrage zu sehen, die ihre Grundlage in einer Sprachtäuschung hat. Aber alle Sprachkritik kommt nicht um die Feststellung des existentiellen Interesses an dieser Frage herum, eines Interesses, das zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik und zur Antwortfindung auch dann noch nötigt, wenn man sich der sprachlichen Zweifelhaftigkeit des Terminus „Geschichtsentwicklung" bewußt geworden ist. So legitim und wichtig das Anliegen der Sprachkritik ist, so rasch sind auch ihre Grenzen erreicht. Ihr eigentlicher Wert besteht im Aufzeigen der prinzipiellen Problematik unserer Sprachmittel. Der Beitrag des sprachkritischen Verfahrens ist indirekt, denn dieses leistet sachlich keinen direk-
Sprachgeschichte und Sprachkritik des Entwicklungsbegriffs
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ten Beitrag zur Auflösung der anstehenden geschichtsphilosophischen Probleme und ändert vor allem nichts an unserem Angewiesensein, mit den Bildern, Gleichnissen und Symbolen unserer Sprache zu einer Bestimmung der Geschichte und unserer Situation in ihr zu gelangen. Deshalb bleibt der Gewinn, der für die geschichtsphilosophische Entwicklungsthematik aus Sprachgeschichte und Metaphernkritik zu ziehen ist, relativ gering. Der Ertrag ist primär negativ, d.h., er besteht in der Warnung vor einem allzu gedankenlosen Vertrauen in die Tragfähigkeit der historischen Grundbegriffe. Die auf der Grundlage der neu gewonnenen Kollektivbegriffe der Geschichte, der Menschheit und der Entwicklung möglich gewordene präzise Fassung der Frage nach dem Wesen und Sinn der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung bleibt auch nach ihrer sprachkritischen Reinigung unabweisbar. Die sprachbedingte Denkverführung kann deshalb nicht schon in der Formulierung der Frage nach der Geschichte im Singular und nach deren Entwicklung gesehen werden — denn hierbei handelt es sich um eine der bleibenden Fragen des Menschseins —; wohl aber kann darin eine Sprachverführung vorliegen, daß die neue Terminologie und der präzis gefaßte Entwicklungsgedanke dieser Frage eine Klarheit, Schärfe und Prägnanz verliehen, welche die Illusion nährten, die Frage sei einer ebenso klaren Beantwortung fähig. Die Einheit und Eindeutigkeit der Fragestellung ließ Einheit und Eindeutigkeit der Beantwortung erwarten. So bleibt abschließend festzustellen, daß die eigentliche Verführung des Denkens, die von den neu gewonnenen Kollektivbegriffen ausgeht, darin liegt, daß sie Klarheit und Helle suggerieren, wo doch alles unklar und dunkel bleibt. Aber was ist anderes zu erwarten, wenn es doch gilt, Zeitliches in Räumliches und Prozeßhaftes in Bilder und Strukturen organischen Wachsens zu übersetzen? Es darf eben von der Vorstellung der Geschichtsentwicklung nur jener Grad an Eindeutigkeit und Präzision erwartet werden, zu der diese Metapher organischer Bewegung fähig ist. So werden wir uns, um mit Aristoteles zu sprechen, „mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen" 65 . Vollends verkehrt wäre die Auffassung, es ließe sich die Entwicklungsvorstellung durch Ausmerzung ihrer bildlichen Bestandteile zum wissen65
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers, u. hrsg. v o n Olof Gigon, 2., Überarb. Aufl., Zürich/München 1967, 1 0 9 4 b 1 2 f f .
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Der Begriff der Entwicklung
schaftlichen Begriff erheben und es wäre dadurch „näher an die gemeinte Wirklichkeit" heranzukommen. Letztlich haftet an allen Bemühungen, die Berechtigung oder Falschheit der Entwicklungskategorie aus dem Grad ihrer Übereinstimmung mit der Geschichte abzuleiten, ein sisyphisches Moment der Vergeblichkeit, insofern es in allen diesen Versuchen darum geht, eine bestimmte Anschauung mit einem Anschauungslosen zu vergleichen. Es ist deshalb zu fragen, ob eine Klärung des Begriffs der Geschichtsentwicklung vielleicht auf der rein begrifflichen Ebene denkbar ist, und zwar im Sinne einer rein formalen Zergliederung des Begriffs in seine verschiedenen Momente. Dies leitet zum folgenden Kapitel über, das sich mit der Logik des Entwicklungsbegriffs befaßt.
II. Kapitel: Logik des Entwicklungsbegriffs „Nur unter dem Gesichtspunkt Entwicklung kann Geschichte überhaupt logisch befriedigend bearbeitet werden..." 66 (H. Driesch)
Die philosophische Frage nach der Geschichtsentwicklung verweist auf die Fragen nach möglicher Einheit und Ganzheit der Geschichte. Die Betrachtung der Geschichte als Entwicklung setzt voraus, daß in ihr einheitlich und ganzheitlich Zusammenhängendes vorliegt. Die Einheit der Geschichte ist zunächst vorstellbar als die Einheit des Menschen, der durch die Geschichte hindurch derselbe bleibt, und zwar entweder nur seiner biologischen Natur oder auch seinem Wesen nach. Einheit ist zweitens denkbar als das universale Insgesamt des menschheitsgeschichtlichen Geschehens von einem hypothetischen Anfang bis zum Ende der Existenz von Menschen. Einheit besteht deshalb drittens in der Abgeschlossenheit des Raums des Menschheitsgeschehens: des Planeten Erde. Einheit kann viertens gedacht werden als der die Menschheitsgeschichte durchziehende Sinnprozeß, in dem sich das ungeordnete, heterogene Geschehen zur Einheit eines Sinnganzen zusammenschließt. Dieser vierte Typus von Einheitsvorstellung ist zugleich der geschichtsphilosophisch primär interessierende. Diese Einheitsidee, die die Einheit eines letzten Sinnes oder Zwecks der Menschheitsgeschichte ist, hat aber einen der anderen drei Einheitsbegriffe zur Voraussetzung; sie läßt zugleich am deutlichsten die Tatsache erkennen, daß Einheits- und Entwicklungsvorstellung aufeinander verweisen. Der Begriff der Ganzheit bringt im Vergleich zum Begriff der Einheit klarer zum Ausdruck, daß das in sich geschlossene Ganze nie in der Summe seiner Teile aufgeht. Die Totalität läßt sich nicht auf ihre summativ aneinandergereihten Momente reduzieren. Da die Ganzheit eine abge66
Hans Driesch: Logische Studien über Entwicklung; in: Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss., Philos.-hist. Kl., Heidelberg 1918, S. 60.
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Der Begriff der Entwicklung
schlossene Einheit darstellt, kann die Menschheitsgeschichte, bevor sie an ihr Ende gelangt ist, keine solche Ganzheit bilden, obwohl geschichtsphilosophisch alles darauf ankäme, sie als Totalität zu begreifen. Es ist also zu beachten, daß der Ausdruck „das Geschichtsganze" mehr besagt als das bloße Insgesamt des Menschheitsgeschehens. Soll die Vielfalt des Geschehens in einer Summe zusammenfassend ausgedrückt werden, so genügt der kollektive Singular „die Menschheitsgeschichte". Wird dafür jedoch der Terminus „das Geschichtsganze" verwendet, so wird damit bereits eine organische Geschichtsauffassung suggeriert. 67 Einheit und Ganzheit liegen naturgegeben vor nur in den Organismen. Aber nicht nur bei der Ontogenese handelt es sich um einen Werdeprozeß, aus dem eine Ganzheit resultiert, sondern auch die Evolution der lebenden Organismen erfüllt die Bedingungen eines Einheitsgeschehens, insofern die Phylogenese den einheitlichen Prozeß darstellt, der sämtliche Organismen in einem übergreifenden Stammbaum zusammenschließt. Und auch die alles einzelne Geschehen umfassende Menschheitsgeschichte kann, wie erwähnt, als Einheitsprozeß aufgefaßt werden. In der Ontogenese der Organismen wiederholt sich dieselbe Entwicklung in zahlreichen Fällen; bei der Phylogenie und der Menschheitsgeschichte dagegen handelt es sich um einmalige Entwicklungen, die unabgeschlossen und deswegen in ihrer Ganzheit unvorstellbar sind. Die phylogenetische wie die menschheitsgeschichtliche Entwicklung bilden in ihrem Gesamtverlauf keine möglichen Objekte des Wissens. Als einheitliche Werdeprozesse, die nicht nur Veränderungs-, sondern Entwicklungscharakter haben, gelten demnach traditionellerweise die Ontogenese des einzelnen lebenden Organismus, die werdende Lebensgesamtheit der Phylogenie und schließlich die Menschheitsgeschichte; heute ist die Evolution des Kosmos hinzugekommen. Unter diesen vier Fällen von Entwicklung liegt aber nur in der Ontogenese Entwicklung als phänomenale Gegebenheit vor. Die einheitliche Entwicklung des lebenden Organismus bildet folglich den Prototyp der Entwicklungsvorstellung.
67
Vgl. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie — Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, Leipzig 1 9 1 0 , S. 362. Mauthner sagt hier über den auf die Welt angewandten Begriff des Ganzen: „Nichts hindert uns, den Weltenraum und den sog. Äther und alle sichtbaren Sterne und die unsichtbaren dazu mit dem Worte Weltall zusammenzufassen. Es bedeutet genau soviel wie Welt. Nennen wir aber diese gleiche Vorstellung das Weltgan^e, so suggeriert uns die Sprache den Glauben, daß wir dieses Weltall als einen Organismus begriffen haben."
Logik des Entwicklungsbegriffs
41
Diese Tatsache macht es verständlich, weshalb der Entwicklungsbegriff und seine Logik vor allem unter naturwissenschaftlichen Aspekten thematisiert worden sind
1. Entwicklungslogik am Vorbild organischer Entwicklung So ist etwa auch Hans Driesch, der in verschiedenen Publikationen zum Entwicklungsproblem Stellung genommen hat, hauptsächlich am biologischen Entwicklungsbegriff interessiert. Besonders wichtig und für die vorliegende Thematik aufschlußreich ist sein Versuch einer Logik des Entwicklungsbegriffs. Es handelt sich um die Bestimmung der logisch möglichen Formen von Entwicklung. Z u m besseren Verständnis von Drieschs entwicklungslogischen Ausführungen ist es allerdings erforderlich, zuvor noch seine Auffassung der organischen Entwicklung wenigstens in Kürze darzustellen. In Ablehnung einer mechanistischen Auffassung des Organischen faßt Driesch den lebenden Organismus als zwar materielles, aber nichtmechanisches und ganzheitliches System, in dem neben der Kausalität auch eine vitale Kausalität in Form eines entelechialen Agens wirksam ist. Zur Annahme einer in der ontogenetischen Entwicklung wirksamen Entelechie als Lebensprinzip sah sich der Zoologe Driesch durch experimentelle Untersuchungen genötigt. Seine berühmt gewordenen Experimente an Seeigeleiern hatten das unerwartete Ergebnis, daß aus geteilten oder andersartig manipulierten Keimen wieder ganze Larven entstanden. 6 8 Dieses Resultat zwang ihn zur Aufgabe der mechanistischen Auffassung der Ontogenese und zur Begründung einer neuen embryogenetischen Theorie auf vitalistischer Basis. Denn wenn verstümmelte Embryonen sich zu Ganzheiten regenerieren können, wenn also für die „organisatorische Leistung es nichts ausmacht, ob man ihnen beliebige Teile nimmt oder ihre Teile beliebig verlagert", dann versagt hier eine „Maschinentheorie des Lebens". 6 9 Wenn der Organismus eine Ganzheit darstellt und nach Störungen wieder eine Ganzheit ausbildet, dann muß eine Entelechie als ein nichtmaterielles Agens angenommen werden, das die Entwicklung des 68
69
Über seine Experimente an Seeigeleiern berichtet Driesch ausführlich in seiner „Philosophie des Organischen" (2., verb. u. teilw. umgearb. Aufl., Leipzig 1921) auf S. 50 ff. Vgl. Hans Driesch: Mein System und sein Werdegang; in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von Raymund Schmidt, Bd. 1, Leipzig 1921, S. 46.
42
Der Begriff der Entwicklung
Organismus zu seiner Endgestalt wie auch die Regeneration nach seiner Verstümmelung leitet. Dieser Schlußfolgerung liegt die Einsicht zugrunde, daß der organische Werdeprozeß mechanistisch nur erklärt werden kann unter der Annahme, daß er bereits im Keim strukturell vorgebildet ist. Mit zunehmender Zellteilung im Verlauf der Keimesentwicklung müßten sich dann die ursprünglichen Anlagen immer mehr verteilen, so daß die den Entwicklungsprozeß determinierenden Anlagen in den verschiedenartigen Zellen je spezifische Funktionen ausüben. Dies war auch Drieschs theoretisches Konzept, von dem er ausgegangen ist. Die Versuche am Ei der Seeigel zeigten aber, daß die einzelnen Zellen des Keimes nicht eindeutig auf eine bestimmte Funktion determiniert sind, daß also nicht von Anfang an festgelegt ist, wozu ein spezieller Teil des Keimes sich ausbilden wird. In diesem Ergebnis sah Driesch eine Widerlegung der mechanistischen Auffassung organischer Entwicklung. Driesch zieht aus seinen experimentellen Untersuchungen den Schluß, daß der organische Entwicklungsprozeß nicht bereits im Keim durch physikalisch-chemische „Konstituenten", also nicht durch eine, wie Driesch zu sagen pflegt, „Maschine" 70 determiniert sein kann: „Es kann keine Art von Maschine in der Zelle geben, aus der das Individuum entsteht, weil diese Zelle, sowohl in ihrem Protoplasma wie in ihrem Kern, aus einer langen Reihe von Teilungen hervorgegangen ist, die alle gleiche Produkte lieferten, und weil eine Maschine nicht dieselbe bleibt, wenn man sie teilt. Andererseits kann nicht irgend eine Art von Maschine die wahre Grundlage eines harmonischen Systems mit seinen vielen Zellen und Kernen sein, weil die Entwicklung dieses Systems normal abläuft, wenn man auch seine Teile verlagert oder teilweise entfernt, und weil eine Maschine in solchen Fällen niemals sich selbst gleich bleiben würde." 71 Im Organismus muß demnach eine formbildende Kraft, eine Entelechie, wirksam sein, die durch die experimentellen Eingriffe in den sich entwikkelnden Organismus nicht betroffen wird, die also selbst keine Stelle im Raum einnimmt und von anderer Beschaffenheit sein muß als die physikalisch-chemischen Kräfte. Da die Entelechie kein Materielles sein kann, handelt es sich bei ihr um ein Erschlossenes, d.h. um eine Potenz, 70
71
Driesch definiert den bei ihm häufig verwendeten Ausdruck „Maschine" in seiner „Philosophie des Organischen" (S. 131) folgendermaßen: „Eine Maschine ist...eine typische Anordnung physikalischer und chemischer Konstituenten, durch deren Wirkung ein typischer Effekt erreicht wird" (im Original gesperrt). H. Driesch: Philosophie des Organischen, S. 244.
L o g i k des Entwicklungsbegriffs
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die nur in ihren Wirkungen vorliegt, selbst aber unbekannt bleibt. Der Organismus muß, so läßt sich das Ergebnis der Überlegungen Drieschs zusammenfassen, als ein entelechial geordnetes Ganzes begriffen werden, das sich in einem Entwicklungsprozeß selbst aufbaut. Driesch verstand seine vitalistische Grundthese einer entelechialen Entwicklung als Ergebnis biologischer Forschung. Die Gewagtheit eines Schlusses von etwas Materiellem auf ein Immaterielles auf Grund von Experimenten scheint Driesch nicht mit aller Deutlichkeit bewußt gewesen zu sein. Die Experimente widerlegen ja nur eine bestimmte Entwicklungstheorie der Organismen, haben aber keine logisch zwingende Notwendigkeit für den Schluß auf das Vorhandensein einer Entelechie im organischen Entwicklungsvorgang. Logisch zwingend wäre eine solche Schlußfolgerung nur im Falle einer vollständigen Disjunktion zwischen mechanistischer und entelechialer Entwicklung. Um die Disjunktion aufstellen zu können, müßte allerdings die Existenz entelechialer Entwicklung bereits bewiesen und nicht erst zu beweisen sein. Die logische Form der zentralen Überlegungen Drieschs hat demnach vielmehr folgende Gestalt: Driesch schließt von der experimentell nachgewiesenen Falschheit einer bestimmten mechanistischen Entwicklungstheorie auf die Falschheit jeder möglichen mechanistischen Entwicklungstheorie — und begeht damit den logischen Fehler eines Schließens von der Wahrheit eines partikulären Urteils auf die des universalen Urteils — und schließt sodann von der Falschheit des Entwicklungsmechanismus auf die Wahrheit einer entelechialen Entwicklungsauffassung, was logisch, wie erwähnt, nur unter der Voraussetzung einer vollständigen Disjunktion zulässig ist. Zu diesen logischen Unstimmigkeiten kommt hinzu, daß sich die Entelechie jeder näheren Bestimmung entzieht. Driesch versteht sie als ein Immaterielles und Übersinnliches und kann sie, da sie in der physikalischchemischen Welt keine Entsprechung hat, letztlich immer nur in negativen Wendungen umschreiben. Die Entelechie ist deshalb auch nicht fähig, Entwicklung zu erklären, sondern ist eigentlich nur der begrifflich gefaßte Ausdruck unseres Nichtwissenkönnens, wie organische Entwicklung tatsächlich zustandekommt. Bei Driesch wird nun die Überzeugung, daß in allem Lebendigen ein entelechiales Agens wirksam ist, zum Ausgangspunkt eines philosophischen Systems gemacht, dessen Gedankengänge heute in manchem recht abenteuerlich erscheinen. Es war Drieschs Ausgehen von experimentellen Ergebnissen, das dem Entelechiegedanken eine scheinbar wissenschaftliche Dignität verlieh. Im Rückblick, und das heißt zugleich im Bewußtsein, daß die Resultate der
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Der Begriff der Entwicklung
Experimente Drieschs durch die moderne Genetik eine mechanistische Erklärung gefunden haben, bestätigt sich erneut die Einsicht, in welchem Ausmaß die wissenschaftliche Forschung von spekulativen Momenten durchdrungen ist, die, wie das Beispiel zeigt, noch in der Anlage der Experimente wirksam sind. Dieses Faktum stützt die Richtigkeit der Maxime, wissenschaftliche und philosophische Fragestellungen nach Möglichkeit scharf auseinanderzuhalten. Darin liegt zugleich ein erneuter Hinweis darauf, daß das philosophische Entwicklungsproblem nicht mit dem wissenschaftlichen verwechselt werden darf, da die beiden Problemstellungen verschiedene Aspekte desselben Gegenstandes verfolgen. In seinen „Logischen Studien über Entwicklung" legt Hans Driesch einen Versuch vor, die logisch möglichen Formen von Entwicklung zu bestimmen, und zwar in methodisch strenger Durchführung, also gleichsam „more geometrico". 72 Obwohl Drieschs Überlegungen primär dem biologischen Entwicklungsbegriff gelten, sind sie auch für eine Untersuchung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs aufschlußreich. Driesch selbst hat seinen naturwissenschaftlich fundierten Begriff der Entwicklung auf die Menschheitsgeschichte angewendet. Entwicklung bezieht sich auf ein sich kontinuierlich Veränderndes, das in der Veränderung „dasselbe" bleibt und ein „Ganzes" darstellt. Ohne auf Drieschs Definitionen der Worte „dasselbe" und „ganz" einzugehen, sei hier sogleich seine erste — noch vorläufige — Definition von Entwicklung angeführt. Unter Entwicklung in einem allgemeinsten, weder spezifisch wissenschaftlichen noch spezifisch philosophischen Sinne versteht er „die Reihe der Veränderungen eines als dasselbe gan^e geltenden Dinges oder Dingkomplexes, durch welche es oder er aus einem weniger mannigfaltigen in einen mannigfaltigeren Zustand überführt wird. Maßstab von Mannigfaltigkeit ist ganz allgemein die Zahl an Verschiedenem, welches gesetzt werden muß, um das Mannigfaltige erschöpfend zu kennzeichnen" 73 . Der sich an diese Definition anschließende „Lehrsatz" besagt, daß es nur vier Formen von Entwicklung im Sinne dieser ersten und vorläufigen Definition geben kann, wobei sich diese vier Formen später sogar auf drei Grundformen reduzieren lassen. Unter Weglassung der „Hilfssätze" und in grober Vereinfachung stellen sich die vier Entwicklungsformen folgendermaßen dar: 72 73
H. Driesch: Log. Studien über Entw., S. 3. Ebd., S. 5; im Orig. teilw. gesperrt.
Logik des Entwicklungsbegriffs
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1. Es ist denkbar, daß das sich Entwickelnde den Zuwachs an Mannigfaltigkeit „von außen" gewinnt. 2. Es ist denkbar, daß ein System oder, wie Driesch zu formulieren vorzieht, eine „Maschine, d.h. eine bestimmte, bestimmt geordnete materielle Mannigfaltigkeit," 74 inner- oder außerhalb des sich Entwickelnden den Zuwachs an Mannigfaltigkeit bewirkt, und zwar derart, daß der Zuwachs an Mannigfaltigkeit genau dem Mannigfaltigkeitsgrad der „Maschine" entspricht. Driesch beschreibt hier eine Entwicklungsform, in der ein geordnetes System einem anderen System seine Mannigfaltigkeit „aufdrückt". Beide Systeme verbinden sich zu einem neuen System, das also aus „Maschine" und „Nichtmaschine" besteht, wobei es die „Maschine" ist, die die „Nichtmaschine" zur Ganzheit macht. 75 3. Es ist denkbar, daß das sich Entwickelnde im Anfangszustand nur scheinbar weniger mannigfaltig gewesen ist als im Endzustand. Dies ist dann möglich, wenn zuerst ein geringer Mannigfaltigkeitsgrad an sichtbaren, materiellen Teilen und zugleich ein großer Mannigfaltigkeitsgrad an Kräfteverteilung vorliegt, so daß diese dann zu einer hohen Mannigfaltigkeit in der sichtbaren Anordnung der materiellen Teile führt. Es handelt sich im wesentlichen um ein Sichtbarwerden einer zuvor unsichtbaren Mannigfaltigkeit. In diesem dritten Fall ist „das sich entwickelnde Ding im Anfangszustand selbst die ,Maschine', durch welche es in den Endzustand übergeführt wird" 76 . 4. Es ist denkbar, daß das sich Entwickelnde höhere Mannigfaltigkeit gewinnt ohne Mitwirkung irgendeiner vorgebildeten „Maschine". „Dann müssen, um den naturlogischen Satz zu retten, daß der Grad einer Mannig-
74 75
76
Ebd., S. 7. Vgl. auch H. Driesch: Philosophie des Organischen, S. 553. — Driesch differenziert diesen Entwicklungstypus in zwei Unterfalle, deren Unterschied darin besteht, ob auch noch „fremde Teile" von außen in den Vorgang einbezogen werden oder nicht. Driesch veranschaulicht diese zweite Form von Entwicklung (und zwar in der Variante, in der „fremde Teile" in den Prozeß aufgenommen werden) an folgendem, nicht gerade naheliegenden Beispiel; — wobei allerdings betont werden muß, daß es in dieser logischen Untersuchung nur darum geht, die denkmöglichen Formen von Entwicklung vollständig aufzuführen. Gegeben sei also „eine Gesamtheit von Messingstiften in bestimmter Anordnung und darüber auf einer Glasplatte eine in lauter Quadraten angeordnete, also wenig .mannigfaltige' Menge von Markkügelchen; einige Kügelchen liegen auch außerhalb der geordneten Menge. Die Platte wird elektrisiert: alle Kügelchen des Haufens und einige andere fliegen an die Stifte; ihre Anordnung stellt jetzt die Anordnung der Stifte noch einmal dar" (Log. Studien über Entw., S. 7). H. Driesch: Log. Studien über Entw., S. 7.
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Der Begriff der Entwicklung
faltigkeit sich im Werden nicht ,von selbst' erhöht, nicht-materielle Bestimmungsagenzien als wirkend angenommen werden." 77 Diese vier denkbaren Fälle von Entwicklung bezeichnet Driesch folgendermaßen: der erste heißt „Kumulation", der zweite und dritte „maschinelle Evolution", der vierte „nichtmaschinelle Evolution". Das Entscheidende dieser Überlegungen liegt nun darin, daß es nicht mehr als die vier aufgezählten Fälle von Entwicklung geben kann, da diese vier Fälle sich auf die vier Möglichkeiten von zwei vollständigen Disjunktionen verteilen. Die erste Disjunktion lautet: entweder regellose Mannigfaltigkeitserhöhung (Kumulation) oder regelhafte Mannigfaltigkeitserhöhung (die drei Formen von Evolution). Die zweite Disjunktion lautet: entweder raumhaftes Vorgebildetsein der regelhaften Mannigfaltigkeitserhöhung oder Nicht-Vorgebildetsein der regelhaften Mannigfaltigkeitserhöhung. 78 Allerdings kann die Unterscheidung von vier möglichen Entwicklungsformen nur Anspruch auf Vollständigkeit erheben, wenn die Ausgangsdefinition, die Entwicklung als ein ganzheitliches Mannigfaltigerwerden bestimmt, zutrifft. Den Einwand, daß es auch rückläufige Veränderungen mit einer Reduktion von Mannigfaltigkeit gebe, läßt Driesch nicht gelten, da sowohl in der Onto- wie in der Phylogenese wie auch in der Menschheitsgeschichte die Anfangszustände gegenüber den späteren Stadien durch einen geringeren Mannigfaltigkeitsgrad gekennzeichnet seien: „...im Vergleich zum ersten Ausgang, dem Ei, der Amöbe, dem Naturvolk, ist das Endstadium trotz allem reicher an Mannigfaltigkeit." 79 Mit der logischen Unterscheidung von vier Entwicklungstypen ist nun über ihr faktisches Vorkommen noch nichts entschieden. Dazu bedarf es weiterführender Überlegungen. Im Unterschied zur biologischen Entwicklungsthematik, in der es um die Entscheidung zwischen dem mechanistischen bzw. „maschinistischen" und dem vitalistischen Standpunkt in der Frage nach der ontogenetischen Entwicklungsform geht, reduziert sich für die geschichtsphilosophische Entwicklungsthematik das Problem auf die Frage, ob Geschichtsentwicklung als kumulative oder als evolutive zu begreifen sei, wobei es sich im Falle der Evolution nur um „nichtmaschinelle", entelechiale Evolution, also um den vierten Entwicklungstypus, handeln kann. 77 78 75
Ebd. Vgl. ebd., S. 8. H. Driesch: Philosophie des Organischen, S. 554.
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Bei der Kumulation kommt der Mannigfaltigkeitszuwachs von außen. Die von außen stammenden Wirkungseffekte treffen in regelloser, zufälliger Weise auf die bereits vorhandenen, es kommt zu einer Häufung, zur Kumulation. Driesch erwähnt als Beispiel die Gebirgsbildung, die als ein von außen bewirktes Mannigfaltigerwerden eines Teiles der festen Erdkruste zu verstehen ist: „Druckkräfte bewirken Faltungen, auf das Gefaltete wirken Regen, Frost usw." 8 0 In der Kumulation entsteht ein „äußerlich Ganzes", in der Evolution dagegen ein „Wesensganzes". 81 Die Kumulation, die erste Form von Entwicklung, ist also ebensowenig Entwicklung im strengen Wortsinn wie die dritte Entwicklungsform, die als bloßer Ablauf eines Mechanismus eine Scheinentwicklung darstellt. Um eigentliche Entwicklung oder Evolution — Driesch verwendet beide Begriffe synonym 8 2 — handelt es sich nur im Falle des zweiten und vierten Entwicklungstypus, also im Falle maschinenartig präformierter Entwicklung (wobei formbildende „Maschine" und Geformtes nicht identisch sein dürfen) und im Falle entelechialer Entwicklung.
2. Kumulation und Entwicklung Ohne Zweifel stellt das Werden des lebenden Organismus ein Entwicklungsgeschehen dar. Aber wie verhält es sich im Falle der Menschheitsgeschichte? Zeigt ihr Verlauf bloß kumulativen Charakter, oder läßt sie sich als Entwicklung begreifen? Daß von der Entscheidung dieser Frage die Möglichkeit einer Lösung der geschichtsphilosophischen Grundprobleme abhängt, hat Driesch mit aller Klarheit aufgezeigt. Denn der Begriff der Kumulation widerspricht dem der Entwicklung. Kumulation liegt immer dann vor, wenn ein Geschichtsprozeß sich auf einzelne, ihm äußere Geschehnisse beziehen läßt. Das Bestimmtsein des Entwicklungsvorgangs durch ihm von außen zukommende Faktoren erklärt, weshalb das Kumulationsgeschehen im einzelnen zufällig verläuft, 80 81 82
Ebd., S. 552. Vgl. H. Driesch: Log. Studien über Entw., S. 8. In den „Logischen Studien über Entwicklung" bezeichnet „Entwicklung" zunächst ganz allgemein das „Mannigfaltigerwerden überhaupt". Diesem allgemeinen und vorläufigen Entwicklungsbegriff werden die Begriffe „Kumulation" und „Evolution" untergeordnet. Diese, wie Driesch selbst bemerkt, „doch wohl unpraktische" Namengebung wird später rückgängig gemacht, indem Evolution und Entwicklung wieder synonym verwendet und gegenüber der Kumulation abgegrenzt werden (vgl. „Philosophie des Organischen", S. 553).
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Der Begriff der Entwicklung
aber dennoch Gesetzen unterliegen kann. Typische Fälle kumulativer Prozesse, die zugleich gesetzmäßig verlaufen, sind für Driesch die geologischen Vorgänge. Die Geologie kann diese Vorgänge zwar auf die elementaren Naturgesetze zurückführen, sie arbeitet jedoch auch mit anderen Gesetzmäßigkeiten, die Driesch als „zusammengesetzte oder komplexe Gesetze" bezeichnet. Solche sind etwa die Gesetze der Faltung von Gebirgen, der Abwaschung, der Talbildung, der Deltabildung usw. „Das sind immer wiederkehrende Verkettungen letzter Gesetzesäußerungen. Und wenn die Äußerungen solcher zusammengesetzter Gesetze sich in bestimmter Verkettung folgen, sind die Ergebnisse Häufungen. Der zu einem Häufungsergebnis führende Vorgang ist ein Mannigfaltigerwerden stetigen Ganges; er sieht wie Entwicklung aus und ist doch keine..." 83 Daß es im menschheitsgeschichtlichen Werden kumulative Prozesse gibt, ist offensichtlich und braucht nicht weiter erörtert zu werden. Ob es allerdings in der Geschichte auch Kumulationsgesetze gibt, ist doch fraglich, obwohl dies Driesch mit Bestimmtheit behauptet. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Taine, Comte, Buckle, Lamprecht und insbesondere auf Breysig. Aber können die von Driesch als Beispiele aufgeführten Wiederholungen und Regelmäßigkeiten wie etwa die Ablösung der Natural- durch die Geldwirtschaft, das Auftreten eines „barocken" Stils am Ende verschiedener Kunstepochen, die grammatikalische Flexionsabschleifung oder die Vereinfachung von Zeremonien im Lauf der Zeit mit Recht als Geschichtsgesetze bezeichnet werden? 84 Wichtiger ist nun freilich die grundsätzliche Feststellung, daß das Phänomen geschichtlicher Kumulation und die möglicherweise bestehenden Kumulationsgesetze zwar von zentraler geschichtswissenschaftlicher Bedeutung, aber nur von geringer geschichtsphilosophischer Relevanz sind. Kumulationen sind sich zufällig ergebende Prozesse, die sich für die philosophischen Fragen nach dem Wesen der Menschheitsgeschichte und der Bestimmung des Menschseins als weitgehend bedeutungslos erweisen. Denn erst dann, wenn sich die Geschichte als Entwicklung begreifen ließe, würde eine Dimension erkennbar, die dem philosophischen Orientierungsbestreben genügen könnte. Unter dem Aspekt der Geschichtsentwicklung wäre dann ein bestimmtes Geschichtsereignis, wie Driesch hervorhebt, deswegen sinnvoll, „weil es in der Richtung auf ein entwicklungshaftes 83
84
Hans Driesch: Wirklichkeitslehre — Ein metaphysischer Versuch, 3., durchges. u. erw. Aufl., Leipzig 1930, S. 217. Vgl. ebd., S. 2 1 8 f.
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Geschichtsziel zu liegt, weil es beiträgt, dieses Ziel empirisch-wirklich sein zu lassen, wobei nun freilich ich, selbst ein Glied in dem, um dessen ,Sinn' es sich handelt, diesen Sinn nach Maßgabe meines Billigens, Wollens und Begreifens durch hypothetische Setzung eines bestimmten GeschichtsEndganzen erst näher bestimme" 85 . Es ist also danach zu fragen, ob neben den kumulativen Prozessen — ob diese nun teilweise gesetzmäßig verlaufen oder nicht, bleibe dahingestellt — nicht auch noch Momente aufweisbar sind, die auf eine Geschichtsentwicklung hinweisen. Hierzu ist vorgängig abzuklären, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich die Menschheitsgeschichte als Entwicklung — und nicht bloß Kumulation — begreifen ließe. Im Unterschied zur Ontogenese, in der Entwicklung als abgeschlossener Prozeß phänomenal gegeben ist, fehlen im Fall des menschheitsgeschichtlichen Werdens die Kriterien für die Feststellung des Entwicklungscharakters, da die Menschheitsgeschichte ein einmaliges Geschehen mit unbekanntem Ende darstellt. Was die Tatsache, daß eine Menschheitsgeschichte überhaupt da ist, eigentlich will und worauf diese Geschichte hinausläuft, ist folglich nicht wissensmäßig erkennbar. Es bleibt also nur der Weg einer philosophischen Antwortgebung. Die formalen Bedingungen einer möglichen geschichtsphilosophischen Entwicklungsdeutung sind durch die Begriffe Identität, Ganzheit und Ziel bezeichnet. Die erste Frage richtet sich demnach auf dasjenige, das als dasselbe die Entwicklung durchläuft. Was ist es, das sich in der Menschheitsgeschichte — oder genauer: als Menschheitsgeschichte - entwickelt? Es ist kein einzelnes Ding wie in der Ontogenie, aber auch keine Gesamtheit von Dingen wie in der Phylogenie. 86 Was ist es also, das im Sinne des eigentlichen Entwicklungsbegriffs als das sich Entwickelnde der Menschheitsgeschichte vorgestellt werden kann? Nicht gemeint sein kann die biologische Natur des Menschen. Ist es also das menschliche „Bewußtsein" oder der „Geist", die „Vernunft", die „Humanität" oder sind es die „sittlichen Anlagen" des Menschen? Die zweite Frage richtet sich auf die mögliche Ganzheit, auf die sich die Entwicklung bezieht. Entwicklung ist „Geschehen im Rahmen des Ganzseins" 87 . Sie ist werdende Ganzheit. Die Ganzheit wiederum entsteht entwicklungshaft. In diesem Sinne repräsentiert das belebte Einzelwesen 85 86 87
Ebd., S. 220 f. Vgl. H. Driesch: Log. Studien über Entw., S. 59. H. Driesch: Wirklichkeitslehre, S. 183.
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eine Ganzheit. Der Ganzheitsbezug hat für das Entwicklungsgeschehen konstitutive Funktion. Doch worin könnte der Ganzheitsbezug der Menschheitsgeschichte bestehen? Was ist das Ganze, das sich in ihr realisiert? Läßt die Geschichte in ihrem faktischen Verlauf eine Tendenz zu einer Ganzheitsbildung erkennen? Im Vergangenen können allenfalls einzelne Ganzheitsgebilde festgestellt werden. Doch das Ganze der Menschheitsgeschichte wird erst von ihrem Ende her faßbar, von ihrem Ziel, in dem sie sich zu einer Ganzheit rundet. Die dritte Frage richtet sich auf das Entwicklungsziel oder, wie Driesch zu sagen vorzieht, auf das Endganze. Wichtig ist im Zusammenhang dieser dritten Fragestellung die Feststellung unseres faktischen Nichtwissenkönnens des Entwicklungsziels und damit zugleich unserer Unfähigkeit, das Ganze der Geschichte zu erfassen. Das Telos der Menschheitsgeschichte ist nicht nur deswegen nicht wißbar, weil die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist, sondern auch aus dem Grund, daß kein menschlicher Zustand vorstellbar ist, dem man die Funktion eines letzten Entwicklungsziels und Sinns menschheitsgeschichtlichen Daseins zusprechen möchte. „Mit keinem Zustand, den man uns als künftigen Zustand der Menschheit im Räume zeigen würde, würden wir uns ja doch als mit einem echten ,Entwicklungs^i/i' zufrieden geben können, selbst wenn es uns gelungen wäre, Entwicklung überhaupt zu finden." 88 Die Hypostasierung eines innergeschichtlichen Zustands zum Ziel des geschichtlichen Menschseins steht nach Driesch schon im Widerspruch zum Faktum der Endlichkeit der Erde, denn diese wird vergehen. Wäre also irgendeine bestimmte Vorstellung, beispielsweise die Idee des vollkommenen Staates, „als raumhaft ausgedrückter Zustand das ,Ziel', so wäre er eben kein Ziel, kein Endgan^es, sondern nur ein Letztes" 89 . Der Wert der entwicklungslogischen Überlegungen Drieschs besteht vor allem darin, daß sie den Entwicklungsbegriff in seiner vollen, uneingeschränkten Bedeutung nehmen. Driesch hat deutlicher als andere die Bedingungen aufgezeigt, die erfüllt sein müssen, damit der Entwicklungsgedanke geschichtsphilosophische Relevanz gewinnen kann. Zu diesen Bedingungen zählen der Begriff der Ganzheit wie auch der Telosbegriff. Ganzheit wie Telos der Geschichte können, wie dargelegt, keine nähere inhaltliche Bestimmung finden. Dies hat zur Konsequenz, daß das geschichtsphilosophische Entwicklungsdenken notwendigerweise scheitern 88 89
Ebd., S. 230; im Orig. teilw. gesperrt. Ebd., S. 230.
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muß. „Die Gesamtheit des im Rahmen der irdischen Menschheit nacheinander Geschehenden also, welche allein wir eigentlich kennen, ist nicht das Garthe der Geschichte als einer Entwicklung. Und ein in irgendeinem Sinne ,irdischer' Zustand kann kein ,Ziel', kein telos, kein Endgan^es, sein." 90 Wenn die Geschichtsphilosophie Geschichte als Entwicklung — und nicht bloß als Kumulation — versteht, dann denkt sie zwangsläufig an der geschichtlichen Wirklichkeit vorbei. Diese Feststellung verbietet jeden unkritischen Gebrauch der Entwicklungskategorie; daß dadurch das geschichtsphilosophische Entwicklungsdenken nicht jegliche Berechtigung verliert, soll dann im Fortgang der vorliegenden Untersuchung noch deutlich werden. 91 Die entwicklungslogischen Ausführungen Drieschs haben, auch wenn sie primär der biologischen Entwicklungsthematik gelten, doch zur Klarheit gebracht, daß sich Geschichte nur auf zwei Weisen als Entwicklung denken läßt: Entweder verstehen wir Geschichtsentwicklung als Kumulation, dann bleibt die geschichtsphilosophische Fragestellung weitgehend unthematisiert, oder wir denken Geschichte als Entwicklung im strengen Sinne und sehen uns dann auf die beiden ergänzenden Begriffe der Geschichtsganzheit und des Geschichtsziels verwiesen. Beiden Begriffen kann, wie gezeigt, keine geschichtliche Realität entsprechen. Und aus diesem Grund trifft der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff die Wirklichkeit der Geschichte nicht. Dies ist das kritische Ergebnis der begriffslogischen Untersuchung. „Ganzheit", „Ziel" und „Entwicklung" der Ge-
90 91
Ebd., S. 232; im Orig. teilw. gesperrt. Driesch hat in seinen verschiedenen Werken mehrere Entwicklungsdeutungen der Geschichte erwogen. In der „Philosophie des Organischen" heißt es sogar ganz bestimmt: „Das also wäre der ,Sinn' der Geschichte: Wissensvollendung" (S. 572, im Orig. teilw. gesperrt). In der dritten Auflage der „Wirklichkeitslehre" erfolgt dann die Berichtigung. Die Auffassung, das Wissen der Menschheit wachse entwicklungshaft und es könne eine Linie der Wissensentwicklung, die sich durch die Geschichte hindurchzieht, angenommen werden, müsse aufgegeben werden, da diese „Wissenslinie" auch kumulativ gedacht werden könne: „Zur Enttäuschung manches Lesers muß ich heute offen sagen, daß sie meines Erachtens rein kumulativ gedacht werden kann, daß also die letzte lange Untersuchung eigentlich — vergeblich war, vergeblicher, als ich noch in der zweiten Auflage dieses Werkes, auch da schon recht vorsichtig geworden, gedacht habe" (S. 238, im Orig. teilw. gesperrt). So bleibt am Ende das Menschsein „als unverstandenes Glied unverstandener Entwicklung", und es ist erneut zu fragen: „Was soll denn der Mensch im Lebensplane? Und da bekenne ich denn — mehr ist unmöglich — , daß mir der ,Zweck', zu dessen Verwirklichung der Mensch da ist, in der Berichtigung der durch die triebhafte Lebensentelechie begangenen Irrtümer und Fehlgriffe zu liegen scheint" (S. 239, im Orig. teilw. gesperrt).
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schichte sind somit bloße Ideen geschichtsphilosophischer Orientierungsbemühungen. Dies ist der positive Ertrag. Anders gewendet: Entwicklung als Kategorie der historischen Wissenschaften ist Kumulation; Entwicklung als geschichtsphilosophische Kategorie dagegen bezeichnet ein teleologisches, ganzheitsbezogenes Geschehen. Die Ausführungen Drieschs haben von neuem bestätigt, daß „Entwicklung" ihren terminologischen Ursprung im Vorbild organischer Entwicklung als der einzigen phänomenal zugänglichen Entwicklungsform hat. Diese Feststellung führt zurück zur bereits früher gestellten Frage, ob es sich beim geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff nicht einfach um eine unbedachte Übertragung des organologischen Entwicklungsbegriffs auf den Raum der Geschichte handle. Man wird diese Frage, wenngleich mit Vorbehalten, bejahen müssen. Da die rein terminologiegeschichtlichen Vorgänge das Denken nicht unberührt lassen, ist möglichen Verführungen des Denkens durch die Sprache mittels Begriffskritik und Begriffslogik zuvorzukommen. Auch wenn also der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff dem Bereich organischer Entwicklung entlehnt ist, so braucht „Geschichtsentwicklung" trotzdem nicht eine Kategorie der Illusion zu sein, obwohl sie in dem Moment zu einer solchen wird, wo man sie in objektivistischer Einstellung als Kategorie des konkreten Geschichtsverlaufs mißversteht.
3. Rickerts Bestimmung des historischen
Entwicklungsbegriffs
In seinem grundlegenden Werk über „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", das sich, wie der Untertitel besagt, als „Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften" versteht, kommt Heinrich Rickert ausführlich auf den historischen Entwicklungsbegriff zu sprechen. Seine begriffslogische Analyse unterscheidet insgesamt sieben verschiedene Begriffe von Entwicklung, von denen einer dann den gesuchten methodologischen Grundbegriff der historischen Wissenschaften darstellt: „Wir werden sehen, daß der Entwicklungsbegriff in der Tat, wenn er richtig verstanden wird, das logische Wesen der Geschichtswissenschaft zum Ausdruck bringt..." 92 92
Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung — Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 3. u. 4., verb. u. erg. Aufl., Tübingen 1921, S. 299.
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Rickert beabsichtigt eine erkenntnistheoretisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften. In diesem Zusammenhang kommt dem Entwicklungsbegriff eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei ist die Uberzeugung leitend, daß die einseitige Ausrichtung seiner Zeit auf die Naturwissenschaften einen angemessenen Zugang zur geschichtlichen Wirklichkeit verstellt. Es gilt deshalb, die Grenzen naturwissenschaftlicher Begriffsbildung im Bereich des Historischen aufzuzeigen: „Wir wollen zeigen, daß eine naturwissenschaftliche Behandlung der Geschichte ihrem Wesen widerstrebt und ihren Sinn vernichtet." 93 In seinen Untersuchungen beschränkt sich Rickert auf die wissenschaftstheoretische und methodologische Seite möglicher Thematisierung von Geschichte; die Geschichtsphilosophie tritt lediglich als formale Disziplin auf. Dies verleiht seinen Ausführungen den Anschein, als wollten sie Philosophie in historische Geisteswissenschaft auflösen. Dies ist aber nicht der Fall. Rickert bleibt sich der Unabhängigkeit der Philosophie sowohl von der Methode der Natur- wie auch von derjenigen der Geisteswissenschaften bewußt: „Die Philosophie selbst vermag weder die naturwissenschaftliche noch die geschichtliche Methode anzuwenden. Sie muß vielmehr gegenüber allen Einzelwissenschaften ihre Selbständigkeit wahren." 94 Die Erkenntnis der Einseitigkeit des Naturalismus dürfe nun, wie Rickert weiter ausführt, nicht zum entgegengesetzten Standpunkt eines Historismus führen, der zwangsläufig auf einen Relativismus und Nihilismus hinauslaufe, da alles Geschichtliche zeitlich bedingt sei; die Philosophie dagegen habe ihre Aufgabe darin, über das Geschichtliche zum Zeitlosen oder Ewigen hinauszugehen. So sollen gerade die erkenntnistheoretischmethodologischen Untersuchungen der historischen Wissenschaften dazu führen, „daß wir einsehen: dann allein wird die Philosophie Fortschritte machen, wenn sie einerseits nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Geschichtswissenschaften berücksichtigt, andererseits aber zugleich versucht, einen Standpunkt über beiden zu gewinnen" 95 . Im Rahmen seines Projekts einer erkenntnistheoretisch-methodologischen Grundlegung der historischen Wissenschaften sucht Rickert den Entwicklungsbegriff möglichst eindeutig und präzise zu bestimmen. Dabei bleibt der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff weitgehend unthematisiert, denn was Rickert begriffslogisch herleiten will, ist ein klar 93 94 95
Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 7.
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definierter, exakter Begriff historischer Entwicklung, der imstande ist, den Geisteswissenschaften als solides methodologisches Fundament zu dienen. Er verfolgt somit ein Ziel, das mit demjenigen philosophischer Begriffsbildung insofern nicht übereinzustimmen braucht, als philosophische Grundbegriffe oftmals gerade durch ein Übermaß an Präzision wieder falsch werden. Damit soll freilich die Wichtigkeit einer begriffslogischen Klärung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs in keiner Weise in Frage gestellt, sondern lediglich auf die Grenzen des erkenntnistheoretischmethodologischen Verfahrens hingewiesen werden. Im übrigen kann man mit Rickert festhalten, daß die Klärung der Voraussetzungsproblematik stets die Grundlage zu bilden habe, daß Erkenntnistheorie also eine „Sache des guten Gewissens" 96 sei. Nun geht Rickert selbst noch einen Schritt weiter. Seine wissenschaftstheoretischen Untersuchungen wollen nämlich nachweisen, daß alle Wissenschaften auf ihnen transzendente Annahmen angewiesen sind. „Die Wissenschaftslehre zwingt uns zu der Anerkennung, daß auf transzendenten Voraussetzungen jede Wissenschaft ruht." 9 7 Dieses Faktum bestätigt die Unabweisbarkeit der Frage- und Problemstellungen der Philosophie, die Rickert als „Weltanschauungslehre" versteht. Konsequenterweise hat dann die Logik nach Rickerts Auffassung „in eine allgemeine Weltanschauungslehre" zu münden. 98 Damit ist der allgemeine Rahmen angegeben, innerhalb dessen Rickerts begriffslogische Untersuchungen des historischen Entwicklungsbegriffs angesetzt sind. Es sollen nun die von ihm herausgearbeiteten Entwicklungstypen kurz charakterisiert werden. 1. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Feststellung der Vieldeutigkeit des Entwicklungsbegriffs. Dieser gehört, wie Rickert bemerkt, „zu den beliebtesten Schlagworten unserer Zeit, und schon dieser Umstand legt den Verdacht nahe, daß in seiner Bedeutung sich mehrere, ja einander ausschließende Begriffe zu trüber Einheit vermischen" 99 . Es gilt deshalb, in einem ersten Schritt die allgemeinste Bedeutung von Entwicklung zu ermitteln. Unter Entwicklung wird nun oft das bloße Geschehen oder Werden im Gegensatz zum ruhenden oder beharrenden Sein verstanden.
% 97 98 99
Ebd., S. 9. Ebd., S. 14. Vgl. ebd. Ebd., S. 299.
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Ein derart weit gefaßter Entwicklungsbegriff bietet aber keine Möglichkeit zur Begründung der Geschichtswissenschaft, er müßte für die historische Methodenlehre bedeutungslos bleiben. „Da alle empirische Wirklichkeit im Werden begriffen ist, fallen unter diesen Begriff der ,Entwicklung' die Objekte aller empirischen Wissenschaften." 100 Denn auch die Naturwissenschaften haben nicht etwa ein statisches Sein zum Gegenstand, obwohl ihre Termini diese Meinung suggerieren. 101 Auch die empirische Wirklichkeit der Natur kennt kein beharrendes Sein, sondern nur Geschehen. Aus diesem Grund setzt sich die empirische Realität genauso aus Veränderungsreihen zusammen wie die geschichtliche Wirklichkeit. Der erste Entwicklungsbegriff, der Entwicklung in ihrer „einfachsten und denkbar umfassendsten Bedeutung" 102 nimmt, kann also keine spezifisch historische Kategorie sein, da er in dieser allgemeinen Fassung gleichermaßen den Natur- wie den Geisteswissenschaften angehört. 2. Ein zweiter, engerer Entwicklungsbegriff versteht das Werden zugleich als Veränderung: „Die Stadien des Werdeganges dürfen nicht eine Wiederholung oder einen Kreislauf bilden, sondern es muß mit dem Nacheinander ihrer zeitlichen Abfolge zugleich eine Veränderung verbunden sein, und die Geschichte hat es jedenfalls immer mit Entwicklung als einer Veränderungsreihe zu tun." 103 Auch diese Bestimmung kann Rickert nicht zur rein logischen Bestimmung des Historischen verwenden, denn sie trifft, obwohl sie nicht falsch ist, „nicht den grundlegenden logischen Gegensatz von Natur und Geschichte". Denn in der Natur gibt es ebensowenig Kreislauf und Wiederholung in einem strengen Sinne wie ein beharrendes Sein. Kreislauf und Wiederholung bedeuten bereits eine Abstraktion von den Besonderheiten des individuellen Falls. 104 Überall dort, wo man eine 100 101
102 103 104
Ebd., S. 300. Rickert macht auf die sprachliche Bedingtheit der verbreiteten Überzeugung aufmerksam, die Naturwissenschaften würden sich auf das Sein, die historischen Wissenschaften dagegen auf das Werden beziehen: „Die Sprache nämlich scheint die abgewiesene Meinung zu bestätigen, denn die allgemein-begrifflichen Aussagen der Naturwissenschaft nehmen in der Tat die Form an, daß dieses oder jenes dauernd so ist, während ein historischer Bericht...erzählt, daß dieses oder jenes so war." Doch auch für die Naturwissenschaften gelte: „Allein dem Inhalt der Begriffe kommt Dauerhaftigkeit und Festigkeit zu, nicht den realen Objekten, auf welche die Begriffe sich beziehen" (S. 179). Ebd., S. 301. Ebd. Rickert erwähnt als Beispiel die Folge der vier Jahreszeiten, die sich Jahr für Jahr zu wiederholen scheint. Faktisch wiederholen sich aber nur die betreffenden allgemeinen Begriffe der vier Jahreszeiten. Die einzelne Jahreszeit in ihrer jeweiligen Besonderheit wiederholt sich in keiner anderen (vgl. S. 301).
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Wiederholung glaubt feststellen zu können, handelt es sich tatsächlich um Veränderungen, in denen selbst sich nichts wiederholt. Der Unterschied zwischen Wiederholung und Veränderung genügt demnach für die Bestimmung des Begriffs historischer Entwicklung nicht, „denn er besagt nichts anderes, als daß die Geschichte die Werdeprozesse mit Rücksicht auf ihre individuelle Veränderung, die Naturwissenschaft sie dagegen mit Rücksicht auf das betrachtet, was an ihnen unter allgemeine Begriffe fällt, und das wissen wir bereits. Nur insofern bleibt die Veränderung der Geschichte eigentümlich, als sie eine einmalige und individuelle ist, also etwas noch nie vorher Dagewesenes, Neues hervorbringt. Nun ist aber alles Individuelle auch zugleich ,neu' in diesem Sinne, und deshalb bleibt die Frage unbeantwortet, welches Neue und welche Reihen von aufeinander folgenden Veränderungen die Geschichte darzustellen hat." 105 3. Es muß folglich der Begriff der Entwicklung noch enger gefaßt werden. Rickert meint, daß beim Wort „Entwicklung" wohl für alle eine Bedeutung mitklinge, die über den Begriff der bloßen Veränderungsreihe hinausführe: „Sagen wir, daß etwas sich entwickelt, so denken wir dabei von vornherein entweder an das Ende oder an das Gan^e des betreffenden Werdeganges und beziehen die verschiedenen aufeinander folgenden Stadien darauf so, als ob sie zu einem Ziele hinführten. Ja, wir können sagen: ein teleologisches' Moment in diesem Sinne ist für das Sprachgefühl vom Worte .Entwicklung' in dem Maße untrennbar, daß es wünschenswert wäre, Werden und Veränderung als solche würden noch nicht Entwicklung genannt." 106 Unter der Bedingung einer strikten Abhebung des Entwicklungsbegriffs von den Begriffen bloßen Werdens und sich Veränderns müßte dann freilich auch die Konsequenz gezogen werden, daß in diesem Fall der Entwicklungsbegriff in den Wissenschaften, die nach Rickert „alle teleologischen Prinzipien ausschließen", überhaupt keine Berechtigung mehr haben kann. 107 Der Umstand, daß sich mit der Bezeichnung „Entwicklung" von selbst und zumeist unbemerkt der Gedanke an das Ende der Veränderungsreihe einstellt, erklärt für Rickert die zahlreichen Begriffsverwirrungen in der Entwicklungsthematik, besonders aber im „modernen naturalistischen ,Evolutionismus'". So würden die Darwinisten zwar „mit Emphase" jede 105 106 107
Ebd., S. 307. Ebd., S. 308. Vgl. ebd.
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Teleologie ablehnen, aber dennoch am Begriff der Entwicklung festhalten und überdies teleologische Begriffe wie „Fortschritt", „höheres Stadium" usw. verwenden, was, wie Rickert bemerkt, „zu sehr unklaren und unhaltbaren Theorien über .natürlichen Fortschritt' geführt hat". 108 Aber auch unter der Voraussetzung, daß „Entwicklung" terminologisch als teleologische Veränderungsreihe aufeinander folgender Stadien gefaßt wird, bleibt dieser Begriff noch allzu unbestimmt, um die spezifisch historische Entwicklung wiedergeben zu können. Es müssen daher die verschiedenen möglichen Arten teleologischer Entwicklung unterschieden werden. Wenn bisher das Abgrenzungskriterium der Entwicklung von der Veränderung darin lag, daß die Entwicklung „mit Rücksicht auf ihr Resultat betrachtet wird, welches in den verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien allmählich zustande kommt", so erweist sich dies bei näherer Betrachtung als ungenau, da verschiedene Möglichkeiten bestehen, wie das Zustandekommen der Ausrichtung auf das Veränderungsziel vorgestellt werden kann. 109 3. a) Der hier zu erörternde Entwicklungsbegriff scheidet im vorliegenden Zusammenhang sozusagen von vornherein aus. Es handelt sich um den Denkprozeß der Begriffsentwicklung. Beispiel dafür ist etwa Rickerts eigenes Verfahren der Schritt für Schritt vorgehenden, entwickelnden Analyse des Entwicklungsbegriffs. Da diese vierte EntwicklungsVorstellung jedes wissenschaftliche Verfahren, soweit es aus Begriffsbildung besteht, kennzeichnet, kann sie nicht die gesuchte Grundkategorie historischer Wissenschaft sein. 110 Wenn nun Rickert darauf hinweist, Begriffsentwicklung und Geschichtsentwicklung würden gerade Gegensätze darstellen, so ist dies nur berechtigt im Hinblick auf die Begründung eines geschichtswissenschaftlichen Entwicklungsbegriffs. Für den geschichtsphilosophischen Begriff der Entwicklung dagegen wird nicht mehr mit derselben Gewißheit behauptet werden können, daß der Entwicklungsgedanke sich auf einen „einmaligen und individuellen Werdegang eines realen Objektes" richte, und also nicht auf die „verschiedenen Stadien eines irrealen Begriffs". Nur unter der Voraussetzung, daß sich die Untersuchung auf eine Bestimmung des geschichtswissenschaftlichen Begriffs der Entwicklung beschränkt,
108 109 110
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 308 ff.
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Der Begriff der Entwicklung
kann gesagt werden, daß die Entwicklungsgeschichte nicht wie die Begriffsentwicklung vom Allgemeinen zum Besonderen schreite, sondern „von einem Besonderen zum andern Besonderen..., denn jedes Stadium der realen Entwicklungsreihe ist etwas Einmaliges und Individuelles". 111 Erst die Beachtung der Nichtübereinstimmung von geschichtlicher und begrifflicher Entwicklung verhindere, wie Rickert bemerkt, die „verhängnisvolle Täuschung, als sei die Geschichte imstande, aus der mit dem allgemeinen Gattungsbegriff verwechselten konkreten Gattung das geschichtliche Leben als notwendig abzuleiten oder zu entwickeln'" 1 1 2 . In allen diesen Fällen würde der richtige Gedanke, „daß alle Objekte der Geschichte sich entwickeln", sich mit dem falschen Gedanken, „daß für diese Objekte ein System allgemeiner Begriffe zu ,entwickeln' sei" 113 , verbinden. 3. b) Der historische Entwicklungsbegriff soll sich demnach ausschließlich auf reale Veränderungsreihen beziehen, und es ist also danach zu fragen, wie sich diese als teleologische Prozesse auffassen lassen. Der fünfte Entwicklungsbegriff ergibt sich aus der Überlegung, welche Teleologieauffassung gegenüber der Vorstellung kausaler Veränderung den größten Gegensatz bilde. Es ist dies die Auffassung teleologischer Kausalität, wonach das Telos ursächlich auf den Prozeß seiner eigenen Realisierung einwirkt. Daraus ergibt sich der Begriff metaphysisch-teleologischer Entwicklung. Als Beispiel kann der Entwicklungsbegriff der Geschichtsphilosophie Hegels angeführt werden. Nachdem sich der Begriff der Veränderung für die angestrebte logische Begründung historischer Entwicklung als zu unbestimmt herausgestellt hat, erweist sich nun der Begriff metaphysisch-teleologischer Entwicklung als zu voraussetzungsreich: Ohne damit über den Wert einer metaphysisch-teleologischen Geschichtsauffassung urteilen zu wollen, schreibt Rickert, so müsse er doch feststellen, daß ein solcher Entwicklungsbegriff „für uns, die wir vorläufig weder Geschichtsmetaphysik treiben noch überhaupt irgend eine inhaltlich ausgeführte Geschichtsphilosophie im Auge haben, welche den Sinn der gesamten Weltgeschichte deuten will, sondern an die logische Struktur der empirischen Geschichtswissenschaft denken," allzu viele Voraussetzungen enthalte. 114 111 112 1,3 114
Vgl. ebd., S. 309. Ebd. Ebd., S. 310. Vgl. ebd., S. 310 f.
Logik des Entwicklungsbegriffs
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Dagegen kann freilich die etwa von Driesch vertretene Auffassung geltend gemacht werden, daß ein metaphysisch-teleologischer Entwicklungsbegriff auch auf dem Feld der empirischen Naturwissenschaften unentbehrlich ist. Denn das vom Vitalismus postulierte entelechiale Agens hat ja die Funktion einer der Kausalität vorausgesetzten Wirkkraft. Doch von einer Beschäftigung mit dem Entwicklungsbegriff der „metaphysischen Biologie" kann sich Rickert schon durch die Aufgabenstellung seiner Untersuchungen, die auf die Gewinnung eines geschichtswissenschaftlichen Entwicklungsbegriffs zielen, dispensiert sehen. 115 Nun muß aber Rickert selbst der teleologischen Auffassung zumindest in der Biologie eine gewisse Berechtigung einräumen, da diese Wissenschaft gerade dadurch definiert ist, daß sie von Körpern handelt, „deren Teile sich zu einer teleologischen ,Einheit' zusammenschließen". Man kann also das Problem organischer Entwicklung nicht auf die Alternative: Mechanismus oder Teleologie bringen. Denn einerseits ist einzusehen, daß die organische Entwicklung ihrem Begriff nach immer auch eine teleologische Entwicklung sein muß und daß darum „eine Wissenschaft von ihr niemals von aller Teleologie abstrahieren" kann. 116 Rickert sagt sogar, „daß eine Wissenschaft von den Organismen ohne jedes ,teleologische' Moment eine contradictio in adjecto wäre" 117 . Auf der anderen Seite kann man die Teleologie naturwissenschaftlich auch wieder nicht so verstehen, als handle es sich bei ihr um eine Teleologie im Sinne einer Kausalität anderer, nicht-mechanischer Art, da eine solche Annahme in „unüberwindliche Schwierigkeiten" führen müßte. 118 Das Spezifische des Organismus ist darin zu sehen, daß er immer auch ein Historisches und Teleologisches darstellt. Er wird deshalb nie restlos unter Begriffe mechanischer Naturerklärung zu bringen sein. Aber die Tatsache mechanischer Unbegreiflichkeit des Organischen kann auch nicht verbieten, es in den allgemeinen Naturzusammenhang einzuordnen und es zum Gegenstand einer mechanischen Betrachtung zu machen. In diesem Fall ist dann allerdings zu beachten, daß damit wiederum der spezifisch biologische Standpunkt verlassen wird: „Denkt man einen Organismus als einen chemischen oder physikalischen Vorgang oder gar als einen rein mechanischen Atomkomplex, so verläßt man damit das Gebiet der biologi-
115 116 117 118
Vgl. ebd., S. 3 1 1 . Vgl. ebd. Ebd., S. 312. Vgl. ebd.
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Der Begriff der Entwicklung
sehen Wissenschaft und hört auf, die Organismen als Organismen zu behandeln..." 119 Somit bleibt auf der einen Seite die Richtigkeit der Feststellung, daß Mechanismus und Organismus nicht übereinstimmen und sogar Gegensätze bilden, gewahrt: „Der Begriff des Organismus schließt es aus, daß er jemals als Mechanismus gedacht wird." 120 Auf der anderen Seite bleibt die Möglichkeit, den Organismus, sofern er einen Teil des mechanischen Naturzusammenhangs bildet, auch einer mechanischen Betrachtungsweise zu unterziehen, davon unberührt; wenigstens solange man den teleologischen Zusammenhang der Organismen nicht als Ausdruck einer dem Mechanismus widersprechenden teleologischen Kausalität interpretiert. Es kommt schließlich allein darauf an, „daß man im biologischen Denken den Begriff einer Ursache vermeidet, die das, was sie selbst nur dynamei, der Möglichkeit nach, enthält, wirklich zu machen oder andere Wirklichkeiten zu ihrer eigenen Verwirklichung zu bestimmen vermag. Eine solche .Endursache' würde mit jeder mechanischen Auffassung in der Tat unvereinbar sein" 121 . Unter der Voraussetzung des Verzichts auf eine teleologische Kausalität bildet die in der Biologie notwendige teleologische Auffassung für die allgemeine mechanische Naturtheorie kein Rätsel mehr, „denn eine solche Teleologie bleibt, mag sie in der Biologie auch unvermeidlich sein, vom mechanischen Standpunkt aus doch eben nur .Auffassung', also mit der mechanischen Kausalität sehr wohl vereinbar" 122 . Das Teleologieproblem löst sich für Rickert also dadurch auf, daß — in einem gewissen Anschluß an das Vorbild Kants — die Teleologie aus der Naturwirklichkeit in die „Auffassung des biologisch erkennenden Subjekts" verlegt wird. Dies bedeutet dann „nichts anderes, als: wir sind genötigt, gewisse Objekte wegen ihrer Besonderheit so zu betrachten, daß wir dabei an das Ganze oder an das Ende denken und nun alles übrige als notwendige Bedingungen zur Verwirklichung des Endes ansehen" 123 . Diese Auffassung der Teleologie bezeichnet Rickert als „konditional-teleologisch" 124 . 4. Am Beispiel der Biologie hat sich somit ein teleologischer Entwicklungsbegriff ergeben, der gewissermaßen zwischen dem Begriff bloßer 119 120 121 122 123 124
Ebd., S. 313. Ebd., S. 314. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Veränderung und dem einer durch teleologische Kausalität bestimmten Entwicklung liegt. Er bezieht sich auf eine Reihe von miteinander kausal verknüpften Stadien, wobei der Gesamtprozeß so angesehen wird, als ob er sich auf ein bestimmtes Ziel hin bewege. Die einzelnen Momente des Prozesses erscheinen dann als notwendige Bedingungen für die Realisierung des Entwicklungsziels. Die kausalen Verhältnisse verwandeln sich somit in konditionale. Dabei wird von der Einwirkung einer Zweckursache gänzlich abgesehen. Aus diesem Grund besteht für Rickert kein Zweifel, „daß einer solchen konditional-teleologischen Auffassung der Wirklichkeit und der Anwendung des sich daraus ergebenden Entwicklungsbegriffes auch in einer empirischen Wissenschaft keine Bedenken entgegenstehen" 125 . Rickert meint weiter, der so gewonnene konditional-teleologische Entwicklungsbegriff stelle den „gewissermaßen voraussetzungslosesten teleologischen Entwicklungsbegriff, der sich denken läßt," 126 dar. Doch der konditional-teleologische Entwicklungsbegriff ist noch immer nicht der gesuchte Grundtypus historischer Entwicklung, da er sich auf jede beliebige Kausalkette anwenden läßt. Er kann sich sowohl auf die Natur- wie auf die Geschichtswirklichkeit beziehen. Damit entfällt das Unterscheidungskriterium, das historische von anderer Entwicklung abgrenzt. Der gesuchte Begriff sollte es ermöglichen, einen einmaligen Geschichtsprozeß zu einer individuellen, eine Vielzahl verschiedener Stadien umfassenden Einheit zusammenzuschließen, ihn also auf den Begriff individueller Totalität zu bringen. 127 Was ist es also, das dem konditional-teleologischen Entwicklungsbegriff noch fehlt, damit er zum Prinzip historischer Entwicklung werden kann? Da der Entwicklungsprozeß als Individualität gefaßt werden soll und da historische Individualität stets auf einen Wert verweist, muß nun schließlich noch der Wertgesichtspunkt in den Entwicklungsgedanken einbezogen werden. Es ist folglich die Wertbeziehung, die den gesuchten letzten logischen Bestandteil des historischen Entwicklungsbegriffs darstellt, wobei „Wert" hier ausschließlich im erkenntnistheoretisch-methodologischen Sinne zu verstehen ist. „Wie aber zum Begriff des historischen Individuums überhaupt die Beziehung auf einen Wert gehört, so muß auch die teleologische Entwicklungsreihe auf einen Wert bezogen werden, damit
125 126 127
Ebd., S. 317. Ebd. Vgl. ebd., S. 318.
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Der Begriff der Entwicklung
Entwicklungs^jr/w/>/« im logischen Sinne, d.h. Darstellung einmaliger und individueller Entwicklung entsteht." 128 Nun lassen sich Wertgesichtspunkte auf verschiedene Weise mit dem Entwicklungsgedanken verknüpfen, so daß nun wiederum mehrere Formen des teleologischen Entwicklungsbegriffs zu unterscheiden sind: 5. Im Schema des bereits besprochenen metaphysisch-teleologischen Entwicklungsbegriffs bedeutet die den Prozeß beherrschende Endursache zugleich einen objektiven Wert, der als das Gute gedacht wird, auf das alles hinstreben soll. Aber ein in solcher Weise als transzendente Wesenheit vorgestellter Wert liegt außerhalb jeder empirischen Untersuchungsmöglichkeit. Im Unterschied dazu ist es möglich, einen Wert, der durch die Entwicklung realisiert wird, zwar von den unmittelbaren Ursachen, die den Entwicklungsprozeß tatsächlich hervorbringen, zu trennen, trotzdem aber daran festzuhalten, daß die notwendige Folge der Entwicklungsschritte einen Fortschritt auf diesen Wert hin bilde. Es ist dann das zeitlich Spätere zugleich das Wertvollere. So ungefähr argumentiert die Evolutionstheorie, wenn sie die Entwicklung von einfachen Organismen bis zum Menschen als aufsteigende Linie interpretiert. 129 Nun läßt sich zwar, wie das Beispiel zeigt, mit diesem Entwicklungsbegriff eine „einmalige individuelle Veränderungsreihe abschließen und gliedern"; aber ein solches Verfahren „würde, um ein Wort Rankes zu gebrauchen, die früheren Perioden zugunsten der späteren mediatisieren und wäre daher unhistorisch". 130 Demgegenüber besteht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, die historischen Phänomene aus dem je eigenen Kontext zu verstehen. Aus diesem Grund ist auch diese zweite Variante, die Entwicklung als Fortschritt begreift, zu verwerfen. „Die Entwicklung als Fortschritt oder Wertsteigerung gehört also weder in ihrer metaphysischen noch in ihrer soeben betrachteten Gestalt unter die logischen Prinzipien der empirisch-historischen Begriffsbildung, sondern in die Geschichtsphilosophie." 131 6. Eine weitere Form des teleologischen Entwicklungsgedankens besteht darin, nicht das Ganze der Entwicklung, sondern nur einzelne
128 129 130 131
Ebd., S. 319. Vgl. ebd., S. 320 f. Vgl. ebd., S. 321. Ebd., S. 322.
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Stadien der Reihe unter dem Gesichtspunkt der Wertsteigerung oder Wertverminderung zu betrachten. Damit entfallt der logische Grund für eine Parallelisierung der zeitlichen Aufeinanderfolge mit der Wertsteigerung. Obwohl die Geschichtswissenschaft faktisch in zahlreichen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen diesem Schema folgt und den Gegenstand unter bestimmten sittlichen, ästhetischen, religiösen oder anderen Wertmaßstäben thematisiert, vermag dieser Entwicklungsbegriff, der auf inhaltlich bestimmte Wertsetzungen angewiesen ist, dem wissenschaftlichen Ideal der Wertfreiheit nicht zu entsprechen und ist also abzulehnen. 7. Die Verknüpfung eines Geschichtsprozesses mit einem Wertgesichtspunkt darf folglich nur so durchgeführt werden, daß das Geschehen „rein theoretisch auf einen Wert bezogen wird, wodurch ohne positive oder negative Wertung der historischen Objekte wesentliche von unwesentlichen Bestandteilen in dem einmaligen Werdegange unterschieden werden können" 132 . Die theoretische Wertsetzung hebt aus der Mannigfaltigkeit des Geschichtsgeschehens mehrere Stadien heraus, die sich zu einem Entwicklungsganzen verbinden, das — aufgrund der Wertsetzung — einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende aufweist. Die Abgrenzung der Entwicklungseinheit vom übrigen Geschehen kommt also dadurch zustande, daß die entwicklungsfremden Momente sich bezüglich des theoretisch gesetzten Wertes als bedeutungslos erweisen. Diese letzte Variante des teleologischen Entwicklungsbegriffs, die nun endlich den gesuchten historischen Grundbegriff wiedergibt, beruht nicht etwa auf einer Wertung, sondern auf einer Wertbeziehung: „Allein um theoretische Wertbeziehung, nicht um praktische Wertbeurteilung darf es sich bei der Darstellung geschichtlicher Veränderungsreihen handeln." 133 Die Beziehung auf einen Wert ist aber eine Vorbedingung jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, sofern Erkennen die Einordnung in einen Zusammenhang bedeutet: „Ohne Wertbeziehung kommen wir bei der Auffassung des Einmaligen nicht über bloße Tatsachenfeststellung hinaus, gleichviel ob es sich dabei um ein einmaliges ruhendes Sein oder um einmaliges Werden und Geschehen handelt." 134
132 133 134
Ebd., S. 323. Ebd. Ebd., S. 325.
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4. Geschichtswissenschaftlicher
Der Begriff der Entwicklung
und geschichtsphilosophischer
Entwicklungsbegriff
Im Rückblick auf Rickerts begriffslogische Differenzierungen der Entwicklungsvorstellung lassen sich mindestens sieben verschiedene Entwicklungsbegriffe unterscheiden. Der erste reduziert Entwicklung auf bloßes Werden oder Geschehen überhaupt und stellt beide dem Sein gegenüber. Der zweite Entwicklungsbegriff schließt Wiederholung und Kreislauf aus dem Werden aus und wird dadurch mit dem Begriff der Veränderung identisch. Werden wie Veränderung sind gegenüber der Entwicklung allgemeiner; Entwicklung stellt demnach einen speziellen Fall von Veränderung, diese wiederum einen speziellen Fall des Werdens dar. Die drei Begriffe sollten folglich terminologisch auseinandergehalten werden. Der dritte Entwicklungsbegriff unterscheidet sich von den Begriffen des Werdens und der Veränderung durch die Aufnahme des teleologischen Moments; er ist zu differenzieren in den metaphysisch-teleologischen (vgl. 3. b) und in den konditional-teleologischen Entwicklungsbegriff (vgl. 4.). Die drei übrigen Entwicklungsbegriffe unterscheiden sich durch die Art und Weise, wie ein Wert auf den Entwicklungsvorgang bezogen wird: Der fünfte Entwicklungsbegriff parallelisiert Wertsteigerung und zeitliche Abfolge; er entspricht der Fortschrittsvorstellung. Der sechste Entwicklungsbegriff bestreitet die Möglichkeit einer solchen Parallelisierung; die Wertbeziehung erfolgt deshalb durch eine Wertung. Der siebte Entwicklungsbegriff schließlich hat seinen Grund nicht in einer Wertung, sondern in einer theoretischen Wertbeziehung; es handelt sich nach Rickert um den für die Geschichtswissenschaft allein maßgebenden Begriff von Entwicklung. Es ist nun zu fragen, welches die Momente sind, die den eben herausgearbeiteten geschichtswissenschaftlichen Entwicklungsbegriff konstituieren. Seine wesentlichen Elemente sind Individualität, Einheit, teleologischer Charakter und Wertbezug. Historische Entwicklung bezeichnet also erstens einen einmaligen Geschichtsprozeß in seiner individuellen Besonderheit und kann deshalb nicht als ein Vorgang verstanden werden, der sich — wie im Falle organischer Entwicklung — beliebig oft wiederholt. Historische Entwicklung kann zweitens nicht als eine Reihe wertindifferenter Veränderungsstadien aufgefaßt werden; sie stellt einen Vorgang der Wertannäherung dar. Im Wertbezug sind auch Einheitlichkeit und teleologische Struktur der Entwicklung garantiert. Dem Begriff der Geschichtsentwicklung liegt demnach ein individualisierendes und wertbeziehendes Vorgehen zugrunde.
Logik des Entwicklungsbegriffs
65
Die beiden zentralen Momente in Rickerts Begriff historischer Entwicklung sind der Individualitätsgedanke und die theoretischen Wertbeziehung. Rickert kennzeichnet das geschichtswissenschaftliche Vorgehen ganz allgemein als individualisierend im Gegensatz zur generalisierenden Methode der Naturwissenschaften. Denn die Individualität alles Historischen, also seine Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Besonderheit, bildet eine gleichbleibende Voraussetzung aller historischen Begriffsbildung, handle es sich nun um Ereignisse, Nationen, Kulturbereiche oder ganze Epochen oder um übergreifende Zusammenhänge wie Entwicklungen. Welche Individualität das geschichtswissenschaftliche Objekt bildet, ist eine Frage von Wahl und erkenntnisleitendem Interesse und beruht auf einer Wertsetzung. Als Werte bezeichnet Rickert sämtliche Kriterien, welche die Auswahl des geschichtlichen Materials und damit zugleich die historische Begriffsbildung, d.h. den Prozeß der Strukturierung und Ordnung des Geschichtsmaterials, leiten. Alle geschichtswissenschaftliche Tätigkeit ist in diesem Sinne wertgeleitet. In der Entwicklungsvorstellung kommt der Wertbezug auch dadurch zum Ausdruck, daß Entwicklungen Prozesse der Wertsteigerung oder der Wertverminderung sind. Die Ergebnisse von Rickerts begriffslogischen Differenzierungen der Entwicklungsvorstellung sind auch für die nähere Bestimmung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedankens bedeutsam. Zunächst ist es schon nicht wenig, eine klare Grenze zwischen dem geschichtswissenschaftlichen und dem geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff gezogen zu haben. Das Abgrenzungskriterium zwischen beiden Entwicklungsbegriffen wird durch die Art und Weise der Herleitung des die Entwicklung fundierenden Wertgesichtspunkts gebildet. Es ist, wie gezeigt, ein Wert, der dadurch, daß er auf einen Werdevorgang bezogen wird, diesen allererst als Entwicklung konstituiert. Der betreffende Wert gewinnt so den Status des Ziels der Entwicklung. Das wertbeziehende Vorgehen der Geschichtswissenschaften versteht Rickert als ein theoretisches Verfahren, das die faktisch geltenden Werte als ein erkenntnisleitendes Instrumentarium übernimmt, das selbst aber nicht wertend ist. Darum bleibt auch die wertbeziehende Historie empirische Wissenschaft. Ihre Objektivität entspricht der Objektivität der geltenden Werte, also der allgemeinen erkenntnisleitenden Gesichtspunkte. Wenn die Geschichtswissenschaften von Werten abhängig sind, so muß man fragen, ob sie dann nicht der Willkür unterliegen. Rickert verneint diese Frage mit dem Argument, daß durch die Tatsache der Wertgebunden-
66
Der Begriff der Entwicklung
heit die Objektivität historischer Untersuchungen nicht berührt werde, „soweit diese sich auf die tatsächlich allgemeine Anerkennung ihrer leitenden Werte berufen können und sich ferner streng an die theoretische Wertbe%iehung halten" 135 . Die historischen Wissenschaften gehen von werthaften Ordnungsschemata aus, die in der Geschichte selbst vorgegeben sind und also nicht in Frage stehen. Darin liegt nun nach Rickert ein wesentlicher Unterschied zwischen der geschichtswissenschaftlichen und der geschichtsphilosophischen Methode. Denn die Philosophie der Geschichte kann nicht mehr von der selbstverständlichen Anerkennung vorgegebener Kulturwerte ausgehen, sondern hat deren Geltung ausdrücklich zu problematisieren. Dazu wird die Philosophie der Geschichte auch durch den Umstand genötigt, daß auf der universalgeschichtlichen Ebene alle erkenntnisleitenden Werte fraglich werden. Dies sei näher erläutert. Die Objektivität einer historischen Spezialuntersuchung, also etwa eines bestimmten EntwicklungsVerlaufs, werde, wie Rickert ausführt, durch den Kulturwert, der den leitenden Gesichtspunkt für die Auswahl des Wesentlichen abgebe, in keiner Weise bedroht, „denn der Historiker kann sich auf die allgemeine Anerkennung des Wertes als auf ein Faktum berufen, und er erreicht dadurch das höchste Maß empirischer Objektivität, das einer empirischen Wissenschaft zu erreichen überhaupt möglich ist" 136 . Allerdings handelt es sich um eine Objektivität, die, weil sie von der faktischen Geltung von Kulturwerten abhängig ist, auf einen bestimmten Kulturkreis relativ ist und daher nur „eine geschichtlich beschränkte Objektivität" sein kann. Die wertbeziehende geschichtswissenschaftliche Darstellung ist folglich immer nur objektiv „für einen bestimmten Kreis von Menschen, welche die leitenden Werte, wenn auch nicht direkt werten, so doch als Werte verstehen und dabei anerkennen, daß es sich um mehr als rein individuelle Wertungen handelt" 137 . Nun ist dieser Kreis, für den ein Kulturwert üblich und verbindlich ist, gewiß sehr groß. Rickert nennt als Beispiel den europäischen Kulturkreis und die in ihm anerkannten Kulturwerte, die aus den Bereichen von Religion, Recht, Staat, Wissenschaft, Kunst, wirtschaftliche Organisation usw. stammen. Es sind dieselben Kulturwerte, die in den historischen Wissenschaften die erkenntnislei-
135
136 137
Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 4. u. 5., verb. Aufl., Tübingen 1 9 2 1 , S. 155. Ebd., S. 161. Ebd., S. 155 f.
Logik des Entwicklungsbegriffs
67
tende Funktion ausüben. Man wird es „daher nicht als Willkür ansehen, wenn diese Werte die Auswahl des Wesentlichen leiten, also die geschichtliche Darstellung auf das beschränken, was mit Rücksicht auf sie wichtig oder bedeutsam ist" 138 . Die Objektivität solcher Werte ist derart tief im jeweiligen Kulturkreis verwurzelt, daß die erkenntniskritische Feststellung ihrer geschichtlichen Bedingtheit für die Geschichtswissenschaft selbst bedeutungslos ist. Für den philosophischen Standpunkt dagegen zeigt sich hier eine grundsätzliche Grenze geschichtswissenschaftlicher Objektivität. An dieselbe Grenze stößt das wissenschaftliche Erkennenwollen auf der universalgeschichtlichen Ebene. Denn die Universalgeschichte, die eine Geschichte der gesamten Menschheit sein soll, kann immer nur vom Standpunkt eines besonderen Kulturkreises aus geschrieben werden „und daher niemals sowohl von allen Menschen als auch für alle Menschen in dem Sinne gültig oder auch nur verständlich sein, daß alle Menschen ihre leitenden Werte als Werte anerkennen" 139 . Aus diesem Grund ist eine Universalgeschichte auf empirischer Grundlage prinzipiell unmöglich: „Auf dem universalhistorischen Standpunkt besitzt der Historiker keine empirisch allgemeinen und faktisch überall anerkannten Kulturwerte mehr." 140 Wenn bereits für die Universalgeschichtsschreibung keine empirische Grundlage mehr besteht, so muß sie erst recht einer Philosophie der Geschichte fehlen, die das Ganze der Geschichtsentwicklung und damit auch künftige Möglichkeiten thematisiert. Die den geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff fundierenden Wertgesichtspunkte können nicht empirisch hergeleitet werden. Er hat somit keine empirische Basis. Indem Rickert die spezialwissenschaftliche Betrachtungsweise von der universalgeschichtlichen und schließlich von der geschichtsphilosophischen abgrenzt, macht er zugleich auf deren wechselseitige Abhängigkeit aufmerksam. Denn je umfassender die Untersuchung angelegt wird, desto allgemeiner sind die erkenntnisleitenden Wertgesichtspunkte anzusetzen und desto weniger wird es genügen, sie dem faktisch Geltenden zu entnehmen, und desto vordringlicher schließlich wird die Aufgabe, sie zu begründen. Eine Wertbegründung kann jedoch nicht mehr von der Geschichtswissenschaft, sondern nur noch von der Philosophie geleistet werden. Damit verweist die Geschichtswissenschaft zuletzt auf die Philoso138 139 140
Ebd., S. 156. Ebd., S. 158. Ebd.
68
Der Begriff der Entwicklung
phie als Begründungsinstanz allgemeinster Werte. „So gibt es schließlich, d.h. vom universalhistorischen Standpunkt aus, von dem alle historischen Einzeldarstellungen sich zu dem einheitlichen Ganzen einer Gesamtgeschichte aller Kulturentwicklung zusammenfassen lassen müssen, keine Geschichtswissenschaft ohne Geschichtsphilosophie141 Die für den geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff maßgebenden Wertgesichtspunkte können nicht geschichtswissenschaftlich, sondern nur philosophisch begründet werden. Diesem Begriff liegt also keine theoretische Wertbeziehung, sondern eine Wertung zugrunde, die freilich philosophisch fundiert sein muß. Das Moment der Wertung verbindet den geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff mit dem sechsten Typus der besprochenen Begriffe historischer Entwicklung. Wegen der universalgeschichtlichen Ausrichtung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs bezieht sich die mit ihm verknüpfte Wertung auf das Ganze des Geschichtsverlaufs, der dadurch den Charakter eines Sinn-, Fortschrittsoder Rückschrittsgeschehens gewinnt. Dies verbindet ihn mit dem fünften Typus der erörterten Entwicklungsbegriffe. Wenn der Ausdruck „Fortschritt" überhaupt eine eigene, prägnante Bedeutung haben soll, so kann diese nur als „Wertsteigerung" verstanden werden. Der Fortschritts- resp. Rückschrittsbegriff geht folglich aus einer positiven resp. negativen Wertung hervor. Da aber eine solche Wertung die Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtswissenschaft übersteigt, kann eine wissenschaftliche Geschichtsuntersuchung nicht entscheiden, ob eine geschichtliche Veränderungsreihe einen Fortschritt oder einen Rückschritt darstellt. Der Fortschrittsgedanke ist demnach ein Moment des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs und er gehört nach Rickert in die Geschichtsphilosophie, „die den ,Sinn' des historischen Geschehens mit Rücksicht auf die darin verkörperten Werte deutet" 142 . Der geschichtswissenschaftliche Entwicklungsbegriff, wie er von Rikkert bestimmt worden ist, erweist sich im Vergleich mit dem geschichtsphilosophischen Begriff der Entwicklung als zu weitgehend spezialisiert. Dieser läßt sich im Unterschied zu jenem nicht so präzise definieren. Sein begriffslogisches Schema kann zusammenfassend folgendermaßen umschrieben werden: Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff bezeichnet im Unterschied zu den Begriffen des Werdens und der Veränderung einen einmaligen, eine Ganzheit umfassenden teleologischen Prozeß, 141 142
Ebd., S. 162 f. Ebd., S. 110.
Logik des Entwicklungsbegriffs
69
wobei das Telos mit dem für den Entwicklungsgedanken konstitutiven Wertgesichtspunkt identisch ist und ferner der Wert nicht aus dem sich entwickelnden Geschichtsgeschehen selbst theoretisch hergeleitet werden, sondern nur philosophisch begründet sein kann.
5. Grenzen der Logik des
Entwicklungsbegriffs
Die grundsätzliche Schwierigkeit, mittels der begriffslogischen Analyse zu einem eindeutigen und verbindlichen Entwicklungsbegriff der Geschichte zu gelangen, ist darin zu sehen, daß auch noch diese formalen Untersuchungen von den jeweiligen philosophischen Letztstandpunkten abhängig sind. So ist beispielsweise Drieschs Verständnis von Entwicklung dort, wo er von Kumulation spricht, naturwissenschaftlich-positivistisch geprägt, und dort, wo bei ihm von Entwicklung im engeren Sinne die Rede ist, metaphysisch-vitalistisch. Rickerts begriffslogischen Untersuchungen wiederum liegen deutlich die Überzeugungen der neukantianischen Erkenntnistheorie zugrunde. Auf diese Abhängigkeit des Entwicklungsbegriffs von der jeweiligen philosophischen Position hat im Falle des Biologen Driesch und des Neukantianers Rickert der Theologe Ernst Troeltsch aufmerksam gemacht. 143 Troeltschs eigener Entwicklungsbegriff bestätigt die Unmöglichkeit einer rein logischen Begründung dieser Kategorie. Troeltsch meint, die allen Bemühungen um eine logische Bestimmung des Entwicklungsbegriffs vorausliegende Problematik bestehe darin, „ob in diesen logischen Mitteln ein bloßes pragmatistisch zu verstehendes Arrangement der Tatsachen und etwa ein transzendentallogisch zu konstruierendes Erzeugnis des Denkens liege oder ob damit der reale und wirkliche Zusammenhang erfaßt und erschaut werden könne" 144 . Dies ist dann aber kein logisches Problem mehr, sondern ein erkenntnistheoretisches. Man müßte darum, so lautet die Folgerung aus diesem Einwand, zuerst die erkenntnistheoretische Frage beantworten, bevor man sich der Logik des Entwicklungsbegriffs zuwenden kann, da erst die Beantwortung jener Frage „genauere Aussagen über Wesen, Konsequenzen und Auswer-
143
144
Vgl. Ernst Troeltsch: Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes; in: KantStudien, 27. Bd. (1922), S. 265 — 297. Diese Abhandlung stimmt teilweise mit dem dritten Kapitel des Werkes über den „Historismus und seine Probleme" überein (vgl. dort S. IX). Ebd., S. 280.
70
Der Begriff der Entwicklung
tungen des Entwickelungsbegriffes ermöglicht" 145 . Nun kann aber gerade der Neukantianismus wiederum die gestellte Forderung nicht erfüllen, da für den transzendentalen Standpunkt, wie Troeltsch selbst bemerkt, Logik und Erkenntnistheorie zusammenfallen. In scharfer Zurückweisung des geschichtsmethodologischen Ansatzes Rickerts und des Neukantianismus insgesamt, dessen „Theorie von der Erzeugung des Gegenstandes durch Denken in der Historie vollends unerträglich" 146 sei, betont Troeltsch die Notwendigkeit, den spezifisch historischen Entwicklungsbegriff aus unmittelbarer Anschauung des Geschichtsgeschehens selbst zu gewinnen. Den Hauptmangel des Rickertschen Entwicklungsbegriffs sieht er daher in dessen subjektivistischem, abstraktem, dem tatsächlichen Geschichtsgeschehen gegenüber zwangsläufig äußerlich bleibendem Charakter. Für einen derart künstlichen Entwicklungsbegriff, der sich als bloßes Ordnungsschema versteht, kann nach Troeltschs Uberzeugung dann nicht mehr die Geschichte selbst maßgebend sein, sondern eben nur das jeweilige erkenntnisleitende und zwecksetzende Interesse, das den Entwicklungsvorgang aus dem Kontinuum des Geschehens herausgreift, in welcher Absicht auch immer. Wenn also das, was in der Geschichte als Entwicklung faßbar wird, letztlich von den Frage- und Problemstellungen der historischen Wissenschaften abhängig ist, dann wird es unmöglich, das Geschehen in seinem eigenen, tatsächlichen Entwicklungscharakter zu sehen. Der wissenschaftstheoretisch begründete Entwicklungsbegriff Rickerts erweist sich somit für Troeltsch als unfähig, das wirklich Entwicklungshafte, das Lebendig-Dynamische der Geschichte, das nicht in die logische Pünktlichkeit präziser Begriffe aufgeht, zu erfassen. Mit Rickerts geschichtslogisch gewonnenem Begriff der Entwicklung sei, wie Troeltsch bemerkt, „die Dynamik des Geschehens, in der der Historiker sein innerstes und am meisten aus dem Objekt erwachsendes Problem sieht und an der er seine eigentümlichste Kraft und Kunst der Erkenntnis bewährt, ganz notwendig sowohl in die zweite Linie gerückt als überdies zu einer bloßen Auffassung des Subjekts gemacht". Beides verhindere die „Versenkung und Hingabe an den Zug der Dinge und Geschehnisse". 147 Troeltsch 145 146 147
Ebd. Ebd., S. 268. Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme — Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie; in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Tübingen 1922, S. 236. — Trotz der teilweise heftigen Kritik an Rickerts erkenntnistheoretisch-methodologischem Vorgehen der Begriffsklärung steht Troeltsch dem Werk über „Die Grenzen
Logik des Entwicklungsbegriffs
71
will damit nicht die erkenntniskritische Einsicht der „Verwobenheit von Gegenstand und logischem Subjekt" bestreiten, er meint aber, daß „diese Verwobenheit selber erst den eigentlichen objektiven Gegenstand ausmacht, in welchen Spürkraft und Intuition des Historikers sich hineinversetzt". 148 Es müsse daher der historische Entwicklungsbegriff so gefaßt werden, daß er den „inneren Eigentümlichkeiten des historischen Gegenstandes" angemessen sei, wobei diese zwar „in der auffassenden Subjektivität mitenthalten, aber nicht bloß von dieser hervorgebracht sind. Das Ineinander von Gegenstand und Methode kann der Methode nur gerecht werden, wenn auch dem Gegenstand, und hier vor allem der inneren Bewegtheit des historischen Lebens, sein volles, ganz realistisches Recht wird" 149 . Troeltsch kritisiert an Rickerts Auffassung der historischen Begriffsbildung ganz allgemein, daß sie sich noch allzu stark am Vorbild wissenschaftlicher Naturerkenntnis orientiere. Er würdigt zwar, daß Rickert die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung aufzeigen wolle und er mithin die Sonderstellung des historischen Gegenstandes anerkenne. „Aber diese Anerkennung", so urteilt Troeltsch, „ist viel zu äußerlich und vor allem aus lauter subjektiven Betrachtungsweisen, Einstellungen und Wertungen zusammengeflickt." 150 Der Verflochtenheit von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt könne nur dadurch Rechnung getragen werden, daß die historischen Begriffe sich der Eigenart historischer Vorgänge besser anschmiegten. Um die Eigentümlichkeit des Historischen und die Differenz zwischen Kultur und Natur wirklich in den Blick zu bekommen, müsse ein anderes Verfahren als das von Rickert gewählte angewendet werden, da dieses im Grunde durch und durch unhistorischer Art sei: „Es steckt in Rickerts Lehre noch zu viel von der Allherrschaft des Kantischen Naturbegriffes, dem die individualisierende Kulturwissenschaft als bloße,
148 149 150
der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" positiv gegenüber. Er hat dem Werk eine längere Abhandlung gewidmet: Moderne Geschichtsphilosophie (1904); in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1913, S. 6 7 3 - 7 2 8 . Über Rickerts Werk urteilt er hier folgendermaßen: „Das Buch ist zugleich ausgezeichnet durch bewunderungswürdige Reife und Umsicht, Klarheit und Konsequenz. Es ist in der Sündflut literarischer Überproduktion eines der wenigen wirklichen Denk- und Lembücher, die ernstlich klären und vorwärtsbringen." (S. 678) Und an anderer Stelle: „So kann ich also zu den Grundgedanken der Arbeit Rickerts nur lebhafte Zustimmung aussprechen" (S. 719). Vgl. ebd. Ebd., S. 233. Ebd., S. 231.
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Der Begriff der Entwicklung
aber darum in Wahrheit undurchführbare Deutungsparallele zur Seite gesetzt ist." 151 So fehlt nach Troeltschs Meinung dem Rickertschen Begriff der Geschichtsentwicklung „jede Begründung im Wesen des Lebens" selbst.152 Den Unterschied zwischen dem Entwicklungsbegriff Rickerts und seinem eigenen faßt Troeltsch folgendermaßen zusammen: „Für Rickerts neukantische Wertlehre und ihre Geschichtsphilosophie ist nämlich die .Entwicklung'...ein Arrangement des Darstellers, der die Tatsache darstellt und behandelt, als ob sie der Verwirklichung von Werten, und zwar zunächst von individuell-konkreten historischen und dann von dahinter stehenden allgemeingültigen menschheitlichen, dienten. Für den Historiker dagegen ist die Entwicklung eine innere Bewegung des Gegenstandes selbst, in die man sich intuitiv versenken kann und muß, und aus der heraus, wenn es sich um unsere eigene Entwicklung und deren Zukunftsgestaltung handelt, in einer Zusammenfassung des historisch-konkret-individuellen Zuges und des Strebens zum Allgemeinen die jedesmal neuen und lebendigen und darum selber wieder individuellen Weiterbildungen gestaltet werden müssen."153 Wenn also schon eine begriffslogische Herleitung der historischen Entwicklungskategorie versucht werden soll, dann müßte dieser eine eigene und selbständige Logik zugrunde liegen, „die das Anschauliche mit Ideellem durchwirkt" 154 . Diesen Grundsatz der logischen Autonomie des historischen Entwicklungsbegriffs findet Troeltsch auch in einem zweiten Ansatz der Begründung eines eindeutigen Begriffs historischer Entwicklung zu wenig respektiert, und er lehnt ihn folglich kategorisch ab. Damit sind alle jene Versuche gemeint, die die historische Entwicklung aus der Logik der allgemeinen, das Universum umfassenden Evolution ableiten wollen. Troeltsch anerkennt zwar die logische Verlockung, die Menschheitsgeschichte auf eine Logik der Weltentwicklung und damit auf ein letztes und allgemeinstes logisches Prinzip zurückzuführen.155 Dieses Begründungsschema, das für Spencer und seine Schule maßgebend sei, liege im Grunde schon bei Hegel und Schelling, aber auch etwa bei E. von Hartmann, Wundt, Xenopol und Bergson vor. Bei den drei ersten laufe 151 152 153 154 155
Ebd., S. 232. Vgl. ebd., S. 234. Ebd., S. 235. E. Troeltsch: Logik d. histor. Entwickelungsbegr., S. 268. Vgl. ebd., S. 269.
Logik des Entwicklungsbegriffs
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der Gedanke allerdings darauf hinaus, die Entwicklung des Universums unter die Formeln der menschlichen Entwicklung zu bringen, bei den drei zuletzt Genannten dagegen darauf, gerade umgekehrt die Geschichtsentwicklung unter die Prinzipien kosmischer und biologischer Entwicklung zu subsumieren. 156 Wird nun der Entwicklungsbegriff derart allgemein gefaßt, daß er zum universalen Prinzip wird, dann verliert er wieder alle jene Bestimmungsmomente, die die Differenz zwischen geschichtlicher Entwicklung und bloßer geschichtlicher Veränderung ausmachen. Der kosmische Evolutionsbegriff und der historische Entwicklungsbegriff stimmen also schon deshalb nicht überein, weil der allgemeine Evolutionsbegriff, wie Troeltsch formuliert, „überhaupt kein Entwickelungs-, sondern ein bloßer Veränderungsbegriff' ist, „der die wirkliche Entwickelung, die Entfaltung eines individuellen Ganzen aus eigenen in seiner Anlage liegenden Triebkräften, mit den bloßen Anhäufungen oder Kumulationen oder Schein-Entwicklungen auf eine Stufe stellt". Mit einer solchen Gleichsetzung wird nach Troeltsch „das in Wahrheit Entwicklungslose, von rein kausalen, physikalischen und chemischen Veränderungs- und Verschmelzungsformeln Beherrschte zum Wesen der Entwickelung und das, was echte Entwickelung ist, zum Zufall" gemacht. 157 Wenn Troeltsch die Natur als „das in Wahrheit Entwicklungslose" versteht, dann ist es nur folgerichtig, sowohl Rickerts wissenschaftstheoretische Herleitung des Entwicklungsbegriffs, die sich am Vorbild der Methodologie der Naturerkenntnis orientiert, als auch jeden Versuch einer Deduktion des Begriffs historischer Entwicklung aus der universalen Naturentwicklung abzulehnen. Es wird daraus deutlich, daß Troeltschs eigener Begriff geschichtlicher Entwicklung seine Mitte in der Überzeugung hat, daß nur Geistiges eigentlich entwicklungshaft ist. Will man daher das Naturgeschehen als Entwicklung verstehen und den Veränderungsreihen der Natur Entwicklungscharakter beimessen, dann kann dies konsequenterweise nur in Form einer metaphysischen oder religiösen Deutung geschehen. 158 In der Biologie kommt nach Troeltsch der Entwicklungsbegriff allenfalls in der Ontogenese in Frage, da es sich nur bei dieser um eine die
156 157
158
Vgl. Vgl. mus Vgl.
E. Troeltsch: Der Historismus u. s. Probleme, S. 661. E. Troeltsch: Logik d. histor. Entwickelungsbegriffs, S. 270. Vgl. auch: Der Historisu. s. Probleme, S. 662. ebd., S. 271.
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Der Begriff der Entwicklung
„individuelle Einheit des Ganzen" 159 hervorbringende Veränderungsreihe handelt. Nun ist aber die Geschichtsentwicklung gerade nicht der ontogenetischen, sondern der phylogenetischen Entwicklung analog. Diese Analogie trägt jedoch nichts zum Verständnis der Geschichtsentwicklung bei, da die Phylogenese keine auf Einheit, Ganzheit und Telos bezogene Entwicklungsstruktur erkennen läßt. Wird demnach die Menschheitsgeschichte als Teil und Fortsetzung der Phylogenese begriffen, dann zeigt sich, wie Driesch deutlich gemacht hat, auch die Geschichte nur noch als Kumulation, als Häufung von Veränderungen, aber nicht als Entwicklung im engeren Sinne. Die Ableitung des Begriffs historischer Entwicklung aus dem phylogenetischer Evolution hilft also nicht nur nicht weiter, sondern verstellt zugleich den Weg zu einem Verständnis der Geschichte als Entwicklung. 160 Im Sinne des Begriffs geschichtlicher Entwicklung ist sowohl das Geschehen der kosmischen wie das der biologischen Evolution entwicklungslos. Damit grenzt Troeltsch den Begriff historischer Entwicklung scharf von allen anderen Entwicklungsbegriffen ab, da sie sich als unfähig erweisen, das „Eigentümliche der Historie" zu erfassen. Worin ist dieses zu sehen? „Das Eigentümliche der Historie besteht in dem Auftauchen der Geist- und Wertwelt und ihren individuellen, reiche Konsequenzen aus den Ansätzen entfaltenden Auswirkungen, überhaupt in dem logischteleologischen Charakter der die Einzelheiten verbindenden und durchwaltenden Sinn-Zusammenhänge oder Tendenzen." 161 Es ist nun die Funktion der Entwicklungskategorie, dieses spezifisch Historische wiederzugeben. Daher schließe der historische Entwicklungsbegriff, wie Troeltsch weiter ausführt, „auch Selbständigkeit und Unberechenbarkeit der in diesen Zusammenhängen handelnden Individuen und den Kampf wie die engste Verwachsung mit der bloß naturhaften Unterlage des geistigen Lebens ein" 162 . Das in diesem Sinne aufgefaßte Historische ist mit dem Naturgeschehen unvergleichbar. Troeltsch hält zur Verdeutlichung den Reihen verschiedener Gesteine und Erdschichten oder den biologischen Reihen verschiedener Arten oder verschiedener Lebensalter der Individuen eine historische Reihe gegenüber, wie sie „sich etwa in Entstehung und Ausbildung des
155
161 162
Ebd. Vgl. ebd., S. 271 ff. Ebd., S. 272. Ebd.
Logik des Entwicklungsbegriffs
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Kapitalismus mit allen möglichen Verfilzungen, Knickungen und NeuAnsätzen darstellt", wobei es sich bei diesem historischen Beispiel genau genommen nicht um eine Reihe, sondern eben um eine „menschlichhistorische Entwickelung" handle. 163 Troeltsch macht auf eine bemerkenswerte Nichtübereinstimmung von Theorie und Praxis des Entwicklungsdenkens aufmerksam. Denn so schwierig es offensichtlich ist, eine verbindliche Definition historischer Entwicklung zu geben, so leicht fallt es der Forschung im konkreten Fall, einen Entwicklungsverlauf zu erkennen, da die den jeweiligen Entwicklungseinheiten zugrunde liegenden Tendenzen „an sich völlig anschaulich und klar" vorliegen. 164 Das historische Erkennen zielt demnach auf die unmittelbare Anschauung der entwicklungsgeschichtlichen Vorgänge. Eine solche Auffassung des historischen Erkennens hat freilich die erkenntnistheoretische Überzeugung zur Voraussetzung, daß es in der Historie wesentlich um eine Selbsterkenntnis des Geistes geht. Die erkenntnistheoretische Frage, wie ein Erkennen des vergangenen Geschehens möglich sei, beantwortet sich daher für Troeltsch nicht durch den Hinweis auf die Identität von Denken und Sein oder von Natur und Geist, sondern durch die Überzeugung, daß die „wesenhafte Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste und ebendamit die intuitive Partizipation an dessen konkretem Gehalt und bewegter Lebenseinheit...der Schlüssel zur Lösung unseres Problems" 165 ist. Das Erkennen historischer Entwicklungen folgt keinem bestimmten Schema und bedarf keiner ausgearbeiteten Theorie der Geschichtsentwicklung, da es sich aus der unmittelbaren Anschauung der wesentlichen Zusammenhänge ergibt. „Es ist Schauen, nicht Erdenken. Aber in dem Geschauten sind die logischen Zusammenhänge, Kontinuierlichkeiten und Konstruktionen mitgeschaut und mitenthalten..." 166 Der historische Entwicklungsbegriff beruht somit in erster Linie auf Anschaulichkeit. Er wird um so anschaulicher und auch objektiver sein, je tiefer die historische Analyse in die gegebene Entwicklungstotalität eindringt. Für die Praxis historischer Forschung bedeutet dies, daß der Entwicklungsbegriff nur auf „geschlossene, anschaulich und real-kausal zusammenhängende, in der
163 164 165 166
Vgl. ebd., S. 276. Vgl. ebd., S. 274. Ebd., S. 284. Ebd., S. 290 f.
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Der Begriff der Entwicklung
Zeit bereits vollendete Geschehens-Gruppen" angewendet werden kann, woraus sich historische „Ein2el-Entwicklungskreise" ergeben. 167 Ein wichtiges Ergebnis der in umfangreichen Publikationen niedergelegten Studien Troeltschs über das historische Entwicklungsdenken besteht somit in der Erkenntnis der Sonderstellung und spezifischen Gestaltung des historischen Entwicklungsbegriffs. Dieser entzieht sich aus den dargelegten Gründen einer eindeutigen begriffslogischen Fixierung. Was sich an näheren Bestimmungen überhaupt erreichen läßt, hat Troeltsch folgendermaßen zusammengefaßt: Der historische Entwicklungsbegriff ist erstens „in dem Wesen des menschlichen Geiste begründet, aus keimhaften Ideen oder Tendenzen heraus zu schaffen und deren innere Konsequenzen in der beständigen Auseinandersetzung mit den geographischen und biologischen Voraussetzungen und mit allerhand zufalligen Kreuzungen in einer logisch begreiflichen Folge auszuwirken. E r ist zweitens in der Fähigkeit desselben Geistes begründet, bestimmte dauernde oder wechselnde, naturhafte oder soziale oder historische Bedingungen aufzunehmen und in der Anpassung an sie gleichfalls Wege einzuschlagen, die durch die Auswirkung einer darin ergriffenen Richtung den Eindruck eines logisch fortschreitenden Zusammenhanges machen" 168 . Wegen dieser beiden Eigenschaften des menschlichen Geistes, entwickelnd vorzugehen und auf die Einwirkung fremder Faktoren durch neue Entwicklungsbildungen zu reagieren, entsteht nach Troeltsch in der Geschichte „das Bild relativ logisch konstruierbarer Entwicklungen anfänglicher Tendenzen zu größeren oder kleineren Werdezusammenhängen" 169 . Die Rückführung des historischen Entwicklungsbegriffs auf Wesen und Fähigkeit des menschlichen Geistes überhaupt macht es unmöglich, den Begriff durch die Angabe einzelner logischer Bestimmungsmomente näher zu definieren, weil dazu der Begriff des Geistes bei Troeltsch viel zu weit und allgemein gefaßt ist. Nebenbei sei noch bemerkt, daß damit der historische Entwicklungsbegriff in die Nähe des psychologischen Entwicklungsbegriffs rückt. Der historische Entwicklungsbegriff bezieht sich zunächst auf einzelne abgeschlossene Kreise, die sich ihrerseits wieder zu Reihen verbinden lassen. Damit stellt sich das Problem der Universalgeschichte. Ihr Zusammenhang müßte, wie Troeltsch bemerkt, einerseits ein realer und kausaler 167 168 169
Vgl. ebd., S. 293 f. Ebd., S. 266. Vgl. auch: Der Historismus u. s. Probleme, S. 657. Ebd.
Logik des Entwicklungsbegriffs
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sein, andererseits aber auch die Qualität einer einheitlichen Sinnentwicklung aufweisen. Die tatsächlich überblickbare Geschichte lasse aber weder das eine noch das andere erkennen. Einschränkend sei weiter festzustellen, daß die Historiker der Universalgeschichtsschreibung — Troeltsch nennt Ranke und Guizot als Beispiele — faktisch eine Entwicklungsgeschichte der mittelmeerisch-europäisch-amerikanischen Kultur verfaßt hätten. 170 Trotz des offensichtlichen Mißlingens universalgeschichtlicher Versuche hält Troeltsch an der Idee einer universalgeschichtlichen Entwicklung fest. Dieser seien jedoch Sinneinheit und Sinnbeziehung unentbehrlich, obwohl beides bei dem unabgeschlossenen Verlauf der Geschichte aus rein historischer Forschung nicht hervorgehe. Es bleibe als ein möglicher Ausweg, den Sinn in der historischen Kontemplation und im Reichtum des Anschauens der verschiedenen menschlichen Möglichkeiten zu finden. Doch angesichts der schweren sozialen Krisen der Gegenwart und ihrer geistigreligiösen Not vermöge eine solche „Kaleidoskop- und enzyklopädische Bildungsidee" nicht zu genügen. Dies führe auf die Idee einer Universalgeschichte, die ihr Zentrum in einer Kultursynthese der Gegenwart habe. Eine solche Universalgeschichte gehöre sowohl der Geschichtswissenschaft wie der Geschichtsphilosophie an und suche die Mitte zwischen Dichtung und apriorischem System, die sie aber beide ausschließen wolle. Allerdings erfordere ihre Realisierung „einen Zuschuß des Glaubens". In diesem Sinne stellt der Theologe Troeltsch über die Universalgeschichte abschließend fest: „Aber sie muß zugleich auch mit einem Tropfen ethischen Entschlusses und religiösen Glaubens an die im Wirklichen durchdringenden Ideengehalte gesalbt sein, oder sie ist überhaupt unmöglich." 171
6. Weitere
Differenzierungen
Eine grundsätzliche Schwierigkeit einer Logik des Entwicklungsbegriffs besteht darin, daß „Entwicklung", wie bereits erwähnt, zugleich ein weitverbreitetes Wort der Umgangssprache ist. In seiner kleinen Schrift über den „Begriff der Entwicklung und seine Anwendung auf die Geschichte" geht Erich Brandenburg von diesem Sachverhalt aus. Er bemängelt an Rickerts Begriff historischer Entwicklung, daß er zum allgemeinen Sprachgebrauch in Widerspruch stehe. Die Wissenschaft würde sich aber 170 171
Vgl. ebd., S. 295. Ebd., S. 297; vgl. S. 296 sowie: Der Historismus u. s. Probleme, S. 692 f.
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Der Begriff der Entwicklung
in unabsehbare Schwierigkeiten stürzen, wenn sie einem Wort, das im allgemeinen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung aufweise, eine Fachbedeutung beilege, „weil dann doch unbewußt bei dessen Verwendung immer die allgemeine Vorstellung im Hintergrunde bestehen bleibt, mitschwingt und falsche Folgerungen suggeriert" 172 . Man dürfe also ein allgemein gebräuchliches Wort nur in dem Sinne verwenden, den es in der Sprache nun einmal angenommen habe. Man müsse deshalb vom allgemeinen Sprachgebrauch ausgehen, wenn man wissen wolle, was unter „Entwicklung" zu verstehen sei. Nun zeigt der allgemeine Sprachgebrauch, daß das Wort „entwickeln" neben der transitiven auch eine intransitive Form aufweist, die im Unterschied zur transitiven Form ein zusätzliches Begriffsmoment enthält. Es besagt, daß die Entwicklung ihren Ursprung und ihre Grundlage im sich entwickelnden Gegenstand selbst hat: „Die Umwelt mag Anstöße geben, hinderlich oder förderlich sein; aber der Vorgang muß in der Art seines Verlaufes bestimmt sein durch die Eigenart des Gegenstandes selbst. Die Sprache setzt voraus, daß es solche Dinge gebe; wie das möglich sei und wie es metaphysisch zu deuten sei, fragt sie nicht. Und die Erfahrung, die ja der Urquell aller Sprache ist, zeigt uns in der Tat solche Dinge in der organischen Welt." 173 Diese bemerkenswerten Sätze geben Anlaß zu einigen kurzen Hinweisen. Zunächst ist gegenüber Brandenburg zu präzisieren, daß es zwar richtig ist, beim Sprachgebrauch zu beginnen, aber falsch, diesem zu vertrauen. Wenn nämlich die Sprache voraussetzt, daß es „solche Dinge" gibt, kann gerade darin der Grund für eine sprachbedingte Irreführung des Denkens liegen; und eine solche liegt im Falle des Wortes „sich entwickeln" auch tatsächlich vor. Dieses Wort ist gebildet zur sprachlichen Ordnung der Welt, und die sich an diese Feststellung anschließende Frage, wieweit die Welt dieser Ordnung entspricht, bedarf einer stets neuen Uberprüfung. Ferner ist zu berücksichtigen, daß ein sprachliches Ordnungszeichen wie „Entwicklung" seinerseits der Geschichte — oder der Entwicklung? — unterliegt. Nun zeigt die Wortgeschichte, daß der Ausdruck zunächst in den Fachterminologien der Poetik und der Biologie und wenig später auch der Historie verbreitet war und erst über diese Fachterminologien in den
172
173
Erich Brandenburg: Der Begriff der Entwicklung und seine Anwendung auf die Geschichte; in: Berichte über d. Verh. d. Sachs. Akad. d. Wiss., Philol.-hist. Kl., 93. Bd., 4. Heft, Leipzig 1 9 4 1 , S. 5. Ebd.
Logik des Entwicklungsbegriffs
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allgemeinen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat, wo er doch gerade nicht ausschließlich zur Bezeichnung organischer Entwicklung verwendet wird. Es stimmt deshalb nicht, wenn Brandenburg behauptet, die Sprache weise den Ausdruck primär dem Phänomen organischer Entwicklung zu und folglich sei nur der biologische Entwicklungsbegriff mit dem Sprachgebrauch übereinstimmend. 174 Richtig bleibt allerdings die Feststellung Brandenburgs, daß die organische Entwicklung den Grundtypus aller Entwicklung darstelle, aber nicht deswegen, weil er allein mit dem Sprachgebrauch übereinstimmt, sondern aus dem einfachen Grund, daß nur die organische Entwicklung phänomenal erfaßbar ist. Brandenburg unterscheidet fünf Merkmale, die den Begriff organischer Entwicklung konstituieren: 1. Ein lebendiger Träger der Entwicklung, der durch die Art seiner Beschaffenheit dieser eine bestimmte Richtung gibt; 2. die Kontinuität der Entwicklung, d.h. die ununterbrochene Folge der Veränderungen; 3. Ausdehnung und zugleich zunehmende Differenzierung, bis ein höchster Grad erreicht ist; 4. Fortpflanzung; 5. Unumkehrbarkeit, d.h. nach Erreichung des höchsten Wachstumsund Differenzierungsgrades Beginn des Absterbens; „Absterben" als notwendiger Komplementärbegriff zu „Entwicklung". Wo eines dieser fünf Merkmale fehle, so erklärt Brandenburg, könne von einer Entwicklung im strengen Sinne des Wortes nicht mehr gesprochen werden. 175 Dieser am Vorbild ontogenetischer Entwicklung gewonnene strenge Entwicklungsbegriff könne nun, wie Brandenburg weiter ausführt, weder auf die Phylogenese noch auf die Menschheitsgeschichte Anwendung finden. Es sind vor allem drei Gründe, die er gegen die Übertragung des Entwicklungsbegriffs auf die Geschichte geltend macht: 1. Entwicklung sei eine Form des Lebens und könne nur dort vorkommen, wo Leben ist. Man spreche zwar von der Entwicklung der Sprache, des Rechts, des Staates oder der Kunst, aber unwillkürlich werde „jeder, der sich dieser Redeweise bedient, von der Neigung ergriffen, diesen Begriffen auch ein eigenes ,Leben' zuzuschreiben". 176 174 175 176
Vgl. ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 23.
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Der Begriff der Entwicklung
2. In verschiedenen Geschichtsbereichen, etwa in Religion, Kunst oder Wissenschaft, sei eine vorherrschende Richtung feststellbar. Diese habe ihre Ursache in den Zielen, auf die hin die Menschen ihr Handeln ausrichten. Möge das Streben nun auf Zwecke oder Werte gerichtet sein, stets liege der Richtungspunkt in der Zukunft, also in jener Idee, die realisiert werden soll, nie in der Vergangenheit, in einem determinierenden Keim, wie das in der organischen Entwicklung der Fall sei. „Und schon darum ist die Bezeichnung einer Reihe solcher Vorgänge als .Entwicklung' schief und irreführend." 177 3. Es sei falsch und gefahrlich, in der Geschichte den Begriff der Entwicklungstendenz anzuwenden, der nur beim lebenden Organismus berechtigt sei. Dieser Ausdruck verführe dazu, geschichtliche Vorgänge, die auf Handlungen beruhten, in selbständige Prozesse umzudeuten. „Es ist nicht eine besondere, die bisherige Richtung weiter aufrechterhaltende Kraft neben den Einzelursachen vorhanden, wie das Wort .Entwicklungstendenz' suggeriert, sondern nur eine subjektive Einschätzung der die Richtung bestimmenden Kräfte durch den Beobachter, aus der er die Vermutung entnimmt, daß die gleiche weiterhin beibehalten werden würde." 178 Zusammenfassend stellt Brandenburg fest, daß der Begriff der Entwicklung, sobald man ihn im strengen Sinne nehme, auf dem Gebiet des menschlichen Kulturlebens nicht anwendbar sei. Ein gewisses Recht komme ihm nur dann zu, wenn man ihn im Sinne eines Vergleichs mit biologischen Vorgängen verwende und sofern man sich bewußt bleibe, „daß für die kausale Erklärung der Erscheinungen damit gar nichts gewonnen wird" 179 . Immerhin anerkennt er, daß der Entwicklungsbegriff die Möglichkeit biete, „viele diffuse und schwer übersehbare Einzelheiten in einem Gesamtüberblick einheitlich zusammenzufassen". Aber man dürfe nicht in den Fehler verfallen, aus der Entwicklung und ihren Tendenzen etwas erklären oder mit Notwendigkeit ableiten zu wollen. Es bestehe die Gefahr, Bilder, die als Vergleiche ihren guten Sinn hätten, für das Wesen der Sache selbst zu nehmen und weittragende Folgerungen daraus zu ziehen. 180 Dieser Absage an den historischen Entwicklungsbegriff widerspricht Friedrich Meinecke in einer kleineren Abhandlung. 181 Er teilt zwar die Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. 179 Ebd., S. 27. '«> Vgl. ebd., S. 28. 181 Friedrich Meinecke: Ein Wort über geschichtliche Entwicklung; in: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 4, Stuttgart 1959, S. 1 0 2 - 1 1 6 . 177 178
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Auffassung Brandenburgs, daß im Unterschied zur Ontogenese in der Geschichte ein den Gesamtverlauf eindeutig bestimmender Faktor fehle. Aber er hält es für eine überspitzte Forderung, von historischer Entwicklung nur im Falle eindeutiger Bestimmtheit zu sprechen. Um echte Entwicklung scheint es ihm sich schon da zu handeln, „ w o ein kontinuierlicher, auf Ziele gerichteter Lebenszusammenhang vorliegt, der in seinen Zielrichtungen wechseln, also von einem Ziel auf das andere übergehen kann". Natürlich dürfe es kein bloß äußerlich kausaler Zusammenhang, „sondern es muß eben auch ein Lebenszusammenhang, der auf eine innere gestaltende Kraft weist, sein". 1 8 2 Meineckes Forderungen an den Begriff historischer Entwicklung beschränken sich auf zwei Bedingungen: „Also irgendeine von innen her bestimmte, wenn auch immer dabei von äußeren Einflüssen abhängige und dadurch mitbestimmte Zielrichtung muß da sein und ununterbrochener Lebenszusammenhang muß da sein — nicht mehr, nicht weniger fordern wir, um von Entwicklung sprechen zu können." 1 8 3 Meinecke definiert damit historische Entwicklung durch die drei Bestimmungsmomente: Einheit eines Lebenszusammenhangs, Kontinuität und Teleologie. Die Einheit eines Lebenszusammenhangs liegt nach Meinecke vor allem in der Sphäre der überpersönlichen Individualitäten vor, also in den Gemeinschaften jeder Art und Größe, von der Familie bis zum Staat und zu den Gemeinschaften der Kultur und Religion. Wo aber Individualität ist, da muß nach Meinecke auch von Entwicklung gesprochen werden: „Denn Individualität ist nichts Fertiges, ein für allemal Festgelegtes, sondern tätige Auswirkung innerer gestaltender Kräfte... Diese Auswirkung ist ihre Entwicklung, und nur durch diese offenbart sich die Individualität..." 1 8 4 In allen Gemeinschaften entstehe ein Überpersönliches, das zwar von den einzelnen Handelnden hervorgebracht werde, das aber zugleich wieder auf die Handelnden in Form einer „objektiven Lebensmacht" zurückwirke. Das Resultat davon sei ein Entwicklungsprozeß mit seinen bestimmenden Grundtendenzen und seinen unzähligen kleinen Abwandlungen und Umbiegungen. Dasselbe gelte von allen Gebilden des objektiven Geistes. 1 8 5 Das Prinzip der Kontinuität sieht Meinecke auch noch dort gewahrt, wo von einem Sprung oder Hiatus im Geschichtsverlauf die Rede ist, 182 183 184 185
Vgl. ebd., S. 105. Ebd. Ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 110 f.
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Der Begriff der Entwicklung
denn solche Ausdrücke hätten lediglich den Wert von Bildern, da der Zusammenhang mit dem Vergangenen stets nachweisbar bleibe: „Wir springen doch nicht, wenn wir einen vom alten Weg abzweigenden Weg einschlagen." 186 Und das teleologische Moment schließlich sieht Meinecke auch durch die Tatsache nicht in Frage gestellt, daß in keiner Entwicklung von einer eindeutigen Zielbestimmung gesprochen werden kann, denn an Zielen überhaupt fehle es ihr keineswegs. Zwar würde die Entwicklung einer bestimmten Idee bei gleichsam mikroskopischer Betrachtung stark oszillieren, zeige sich jedoch bei makroskopischer Betrachtung wieder als Einheit. Sofern eine Entwicklung vorliege, lasse sich zwischen früheren und späteren Zielrichtungen ein kontinuierlicher Zusammenhang nachweisen. 187 Es sei nun zum Abschluß dieser Reihe von Beispielen, eine Logik des Entwicklungsbegriffs aufzustellen, noch ein kurzer Hinweis auf Wolfgang Wielands Lexikonartikel über Entwicklung gegeben. Wieland weist auf die Unmöglichkeit, den Entwicklungsbegriff eindeutig zu definieren, und nennt deshalb nur kurz die den verschiedenen Entwicklungsvorstellungen gemeinsamen Merkmale. Es sind dies die folgenden: a) die Unumkehrbarkeit, Allmählichkeit und — zumeist — Langfristigkeit der Veränderung; b) die Eigengesetzlichkeit der Entwicklung; c) das identische und beharrende Subjekt, das der Entwicklung zugrunde liegt; d) der teleologische Charakter. Bemerkenswert ist der an zweiter Stelle gegebene Hinweis, daß das Entwicklungsgeschehen „sich nicht ausschließlich als Gegenstand bewußten Handelns und Planens verstehen" läßt, sondern „eigenen Gesetzen" folgt. 188 Damit ist jenes dynamische Moment in die Liste der Bestimmungsmomente des Entwicklungsbegriffs aufgenommen, das Troeltsch in Rikkerts Begriff historischer Entwicklung vermißt und das wiederum Meinecke gegenüber Brandenburg betont hat. Gemeint ist stets das Faktum, daß Entwicklungsprozesse sich verselbständigen und eine gewisse Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit auszubilden vermögen, wobei darin freilich nichts anderes gesehen werden darf als die Folge der Rückwirkungen
186 187 188
Ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 201.
Logik des Entwicklungsbegriffs
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des menschlichen Handelns oder auch Unterlassens. Es ist aus diesem Grund berechtigt, von einer gewissen Determination der Entwicklungsprozesse zu sprechen, auch wenn diese nicht allgemein bestimmbar ist. 7. Bestimmungsmerkmale
des
Entwicklungsbegriffs
Man wird als Ergebnis der bisherigen Ausführungen wohl festhalten dürfen, daß der Begriff der Geschichtsentwicklung — schon aus den früher angedeuteten prinzipiellen Gründen — sich einer eindeutigen begrifflichen Fixierung entzieht. Die Definitionsschwierigkeiten betreffen nicht nur den geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff, sondern auch, wenngleich in geringerem Ausmaß, den geschichtswissenschaftlichen Begriff historischer Entwicklung. Doch der Entwicklungsbegriff teilt diesen Charakter der Uneindeutigkeit mit zahlreichen anderen Grundbegriffen, selbst mit solchen, die Eingang in die exakten Wissenschaften gefunden haben. Nun gibt es aber auch noch Begriffe, die sich gegenüber allen Versuchen einer Klärung und näheren Bestimmung verschließen. Bei solchen Begriffen kann es sich um „dichterische" oder „fiktive" Begriffe handeln, die man vielleicht besser gar nicht mehr als Begriffe bezeichnen sollte, da sie selbst nur noch Dichtung oder auch Fiktion sind, ein Stück Illusion, Angst oder Hoffnung. Solche Begriffe entfalten keinen klaren und deutlichen Gedanken, sondern vermitteln bloß eine unbestimmte Ahnung. Man könnte nun vermuten, daß der geschichtsphilosophische Begriff der Entwicklung zu dieser Gruppe nur noch „dichterischer" — obgleich möglicherweise bedeutsamer — Begriffe zählt, da er sich auf ein Nichtwirkliches bezieht, nämlich auf den Raum des Geschichtsganzen. Es könnte ferner sein, daß der Begriff der Entwicklung der Menschheitsgeschichte einen Sachverhalt und damit verbunden eine philosophische Problematik suggeriert, die als solche gar nicht existieren. Diese und ähnliche kritische Einschränkungen des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs sind, wie sich gezeigt hat, nicht ohne Berechtigung. Ihnen läßt sich freilich wieder entgegenhalten, daß der geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanke tatsächlich eine Wirklichkeit trifft, und wenn vielleicht auch nicht die Wirklichkeit der Geschichte selbst, so doch die Wirklichkeit des Denkens über und des Sichorientierens an der Geschichte. „Entwicklung" mag zwar nur eine Metapher, ein Denkbild sein, aber dies ändert nichts an der Tatsache, daß heute das Problem der Geschichtsentwicklung vordringlich geworden ist und daß die gegenwärtig maßgebenden Bilder der Geschichte die Zukunft dieser Geschichte mitentscheiden.
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Der Begriff der Entwicklung
Obwohl die verschiedenen Entwicklungsbegriffe zum Teil erheblich variieren, gibt es doch eine Reihe von Eigenschaften, die den meisten der hier erörterten Begriffen gemeinsam sind und die somit als die Grundstruktur des Entwicklungsbegriffs angesehen werden können. Es sind zugleich die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit sich ein Geschehen als Entwicklung verstehen läßt. Es seien deshalb nachfolgend im Sinne einer Zusammenfassung die einzelnen begrifflichen Momente aufgeführt, die sich in der Entwicklungsvorstellung formal unterscheiden lassen. Es handelt sich um eine Liste einiger notwendiger, wenn auch Entwicklung nicht hinreichend definierender Bestimmungsmerkmale, die allen Entwicklungsvorstellungen gemeinsam sind. Dies bedeutet, daß im Falle des Fehlens eines dieser Merkmale nicht mehr von Entwicklung gesprochen werden sollte. Die Liste ist selbstverständlich unvollständig, sie könnte überdies gar nicht vollständig sein, da der Vorgang der Abgrenzung und Differenzierung unabschließbar ist. Der in diesem Sinne reduzierte Entwicklungsbegriff bezeichnet eine kontinuierliche, unumkehrbare, einer gewissen Determination unterliegende, richtungsbestimmte und insofern ein teleologisches Moment aufweisende Geschichtsbewegung, die an einem einheitlichen „Entwicklungsträger" abläuft. 1. Zu beginnen ist mit dem zuletzt genannten Bestimmungsmerkmal, dem „Entwicklungsträger". Dieser bezeichnet das einheitliche Ganze, das sich im Zustand der Entwicklung befindet. Jede Entwicklung bezieht sich — in der Terminologie Rickerts ausgedrückt — auf eine historische Individualität. Sie ist deshalb ein einmaliges Geschehen mit einem bestimmten Anfang und einem bestimmten Ende. Der Begriff einer anfangslosen, unendlichen Entwicklung bildet darum, worauf Schopenhauer mit Recht hingewiesen hat, eine in sich widersprüchliche Vorstellung. Der „Entwicklungsträger" kann ferner nicht so gedacht werden, als würde die Entwicklung an ihm ablaufen, er selbst also vom Entwicklungsvorgang unberührt bleiben, denn der Begriff der Entwicklung will gerade zum Ausdruck bringen, daß das sich Entwickelnde zwar stets dasselbe bleibt, und doch an jedem Zeitpunkt wieder ein anderes ist. Die Begriffsmerkmale „Einheit", „Ganzheit", „Anfang und Ende", „innerer Zusammenhang", „Kontinuität" weisen alle auf diese Identität in der ununterbrochenen Entwicklungsveränderung. 2. Auch das Bestimmungsmerkmal der Kontinuität betont die Einheit und den Zusammenhang in der Veränderung. Die Problematik dieses Entwicklungsmerkmals besteht nun darin, daß sich in einem Entwicklungsprozeß Stadien und Stufen unterscheiden lassen, die scheinbar eine
Logik des Entwicklungsbegriffs
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Diskontinuität in den Ablauf der Entwicklung bringen. Aber Kontinuität und scheinbare Diskontinuität bezeichnen lediglich verschiedene Betrachtungsebenen desselben Entwicklungsvorgangs. Diskontinuitäten innerhalb der Entwicklung sind eine Frage der gewählten Optik; sie müssen sich stets auf kontinuierliche Zusammenhänge zurückführen lassen. Kann kein kontinuierlicher Zusammenhang hergestellt werden, dann liegt auch keine Entwicklung vor. — Alle Entwicklung verläuft kontinuierlich, aber nicht jedes kontinuierliche Geschichtsgeschehen ist entwicklungshaft. Es müssen demnach noch weitere Bestimmungsmomente dazukommen, damit ein einmaliges und einheitliches, kontinuierlich verlaufendes Geschehen als Entwicklung bezeichnet werden kann. 3. Als weiteres grundlegendes Entwicklungsmerkmal hat sich die Unumkehrbarkeit herausgestellt. Das Ende kann nicht wieder zum Anfang werden. 4. Entwicklungsprozesse zeigen die Tendenz, sich zu verselbständigen und eine Eigendynamik auszubilden. Sie können nicht auf das bewußte, absichtsgeleitete Handeln der Menschen reduziert werden, sondern folgen einer eigenen Gesetzmäßigkeit, die sich allerdings nicht generalisieren läßt, da sie von Fall zu Fall variiert. Entwicklungsprozesse unterliegen einer gewissen Determination, die sich aber einer allgemeinen Bestimmung entzieht, da es sich im wesentlichen um Selbstdetermination handelt. 5. E s hat sich gezeigt, daß keine Bestimmung des Entwicklungsbegriffs auf das teleologische Moment verzichten konnte. Entwicklungsprozesse stellen sich als zielgerichtet verlaufende, teleologische Prozesse dar. Damit ist allerdings noch nichts darüber festgelegt, ob Entwicklungen einer der Kausalität widersprechenden oder doch wenigstens der Kausalität übergeordneten teleologischen Ursächlichkeit unterworfen sind oder nicht. Die begriffslogische Analyse der historischen Entwicklungsvorstellung scheint über die Aufzählung dieser fünf konstitutiven Bestimmungsmomente nicht wesentlich hinausgehen zu können. Dies bedeutet, daß der Entwicklungsbegriff vage und uneindeutig bleibt. Erinnert sei jedoch in diesem Zusammenhang an Troeltschs Kritik gegenüber Rickerts wissenschaftstheoretisch begründetem sowie gegenüber dem vom biologischen Evolutionsmodell abgeleiteten Entwicklungsbegriff. Sein kritischer Einwand bestand in der Feststellung, daß eine allzu präzise terminologische Fixierung der Entwicklungskategorie dem Phänomen geschichtlicher Entwicklung nicht gerecht werden kann. E s besteht folglich auch die Gefahr, den Begriff eindeutiger zu fassen, als der sich entwickelnden Geschichte
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Der Begriff der Entwicklung
gegenüber angemessen ist. Es empfiehlt sich daher, es bei den angegebenen fünf Bestimmungsmomenten bewenden zu lassen, auch wenn damit der geschichtliche Entwicklungsgedanke weder in wissenschaftlicher noch in philosophischer Hinsicht letztgültig bestimmt sein kann. Es ist in diesem Zusammenhang auch noch zu berücksichtigen, daß „Entwicklung" zugleich ein Ausdruck der Umgangssprache ist. Dies macht es schwer, den Entwicklungsbegriff von seinem alltäglichen Bedeutungsgehalt loszulösen und ihm einen fachwissenschaftlichen oder fachphilosophischen Status zu verleihen. Denn der Gebrauchswert eines so häufig verwendeten alltagssprachlichen Wortes wie „Entwicklung" beruht, woran W. Wieland erinnert hat, gerade darauf, daß es nicht eindeutig definiert ist, sondern einen sehr großen Bedeutungshof hat. 189 Diese Feststellung widerspricht der vorhin erwähnten Auffassung Brandenburgs, daß der allgemeine Sprachgebrauch nur mit dem Phänomen organischer Entwicklung übereinstimme. Sie verbietet überdies, die alltagssprachliche Bedeutung zum Ausgang der Begriffsbestimmung zu machen. Angesichts der Bedeutungsvielfalt des Entwicklungsbegriffs ist in terminologischer Hinsicht, wie es W. Wieland ausdrückte, „Großzügigkeit geboten": Man könne es niemandem verwehren, „in bezug auf politische und soziale Phänomene das W o r t , Entwicklung' mit einer selbstgewählten Akzentuierung zu verwenden, sofern diese nur klar erkennbar ist und sofern die Minimalbedingung erfüllt ist, daß es sich um einen Begriff handelt, der die Funktion hat, überindividuelle und über eine gewisse Zeitdauer erstreckte Zusammenhänge herzustellen und zu bezeichnen" 190 . Es handelt sich hierbei allerdings um ein Zitat, das der Schlußpassage des ausführlichen Lexikonartikels entnommen ist und das folglich das Ergebnis der darin geleisteten Aufklärung über die Unbestimmtheit des Entwicklungsbegriffs darstellt. Dieses Ergebnis ist noch nicht bis ins allgemeine Bewußtsein vorgedrungen, so daß die Entwicklungsvorstellung zumeist immer noch zahlreiche uneingesehene, d.h. unreflektierte Implikationen enthält. Dies bestätigt sich nicht nur in der politischen Terminologie, sondern wird auch besonders eindrücklich durch die Flut an Literatur über die Evolutionstheorie und deren weltanschauliche Konsequenzen belegt. Wieland weist denn auch, wenigstens mit einem Satz, darauf hin, es werde „zu prüfen sein, ob und inwieweit das Wort ,Entwicklung' zum Träger verdeckter ideologischer Funktionen geworden ist" 191 . 189 190 191
Vgl. W. Wieland: Entwicklung, Evolution, S. 226. Ebd., S. 227 f. Ebd., S. 228.
Logik des Entwicklungsbegriffs
87
Die begriffslogischen Untersuchungen erlauben also keine einheitliche Definition des historischen Entwicklungsbegriffs; sie dienen aber der Differenzierung der Fragestellung, zeigen die Komplexität der in diesem Begriff enthaltenen Problematik und verhindern dadurch möglicherweise, womit schon viel gewonnen wäre, eine allzu einfache und unkritische Entwicklungsvorstellung. Es hat sich aber auch gezeigt, daß das geschichtsphilosophische Problem der Entwicklung sich nicht durch eine vorgängige begriffslogische Analyse zur Klarheit bringen läßt, sondern nur aus der Problemstellung selbst erhellt werden kann.
III. Kapitel: Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Kategorie der Entwicklung „...das Wissen der Wissenschaft versagt vor allen letzten Fragen."192 (K. Jaspers) Im Rückblick auf die bisherigen Überlegungen zeigt sich, daß die gewonnenen Ergebnisse im wesentlichen negativer Art sind. Denn zuerst stellte sich heraus, daß der Entwicklungsbegriff sich allen Eindeutigkeit anstrebenden Definitionsversuchen entzieht, und zweitens ergab sich die Unmöglichkeit, eine Logik des Entwicklungsbegriffs durchzuführen. Die Begriffsbestimmung mußte sich deshalb damit begnügen, die Entwicklungsvorstellung durch Angabe der wichtigsten, den verschiedenen Entwicklungsbegriffen gemeinsamen Bestimmungsmomente zu charakterisieren. 1 9 3 Dennoch kann festgestellt werden, daß sich die Entwicklungsproblematik inzwischen in verschiedener Hinsicht geklärt hat.
192
193
Karl Jaspers: Rechenschaft und Ausblick — Reden und Aufsätze, 2. Aufl., München 1958, S. 404. Eine Begriffsklärung im Sinne einer „de-finitio" hätte die Ab-grenzung des Entwicklungsbegriffs gegenüber anderen Begriffen erfordert. Der klassischen Definitionsvorstellung liegt das logische Schema der „arbor Porphyriana" oder der „Begriffspyramide" zugrunde. Die Definition stellt gleichsam die Einordnung in das Reich der Begriffe dar. Das Verhältnis eines gegebenen Begriffs zu anderen Begriffen läßt sich dann in ein einfaches Über-, Neben- und Unterordnungsschema fassen. Dieses Schema muß beim Entwicklungsbegriff zwangsläufig versagen, denn das faktische Begriffsgefüge ist schon bei einfachsten Begriffen weitaus komplexer, als das Schema vorgibt. Begriffe sind netzartig in mannigfacher Weise miteinander verknüpft, so daß sie je nach Perspektive in wechselnden Relationen aufeinander bezogen erscheinen. (Vgl. Hans Wagner: Begriff; in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 1, München 1973, S. 191-209, bes. S. 206) Dennoch hat das traditionelle Schema der Begriffspyramide seine Berechtigung, und zwar als Wiedergabe der Begriffsverhältnisse im Rahmen eines in sich geschlossenen theoretischen Systems. Im theoretischen Bestimmungsrahmen läßt sich sogar das Definitionsideal einer „clare et distincte" durchgeführten Abgrenzung realisieren. Allerdings verlieren die Begriffe mit diesem Vorzug klarer und deutlicher Bestimmtheit die Möglichkeit einer Anwendung außerhalb des jeweiligen theoretischen Systems. Für das philosophische Entwicklungsproblem folgt daraus, daß eine definitorische Fixierung des Entwicklungs-
Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie
89
Als erstes wichtiges Resultat hat sich ergeben, daß zwischen dem geschichtswissenschaftlichen und dem geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff streng zu differenzieren ist. Für Rickert besteht der Unterschied zwischen dem historischen und dem philosophischen Entwicklungsbegriff in der Art und Weise, wie der für die Erkenntnis des Entwicklungszusammenhangs konstitutive Wertbezug eingeführt wird. Die Geschichtswissenschaft beruft sich bei der Feststellung der erkenntnisleitenden Wertgesichtspunkte auf die faktisch geltenden und objektiv gegebenen Kulturwerte. Die Philosophie dagegen kann die maßgebenden Wertgesichtspunkte nicht mehr einfach der objektiv vermittelten Wirklichkeit entnehmen, sondern ist selber die Instanz der Wertbegründung. Bedeutsam für den Fortgang der Untersuchung ist aber auch Troeltschs Hinweis, daß die Natur — in phylogenetischer Hinsicht — und der Kosmos das eigentlich Entwicklungslose darstellten und daß es sich also beim evolutionären Werden im Vergleich zum Begriff geschichtlicher Entwicklung um bloß kumulative Prozesse handle. Diese zeigten sich erst dem theoretischen Zugriff, die Erfassung historischer Entwicklungen dagegen beruhe auf unmittelbarer Anschauung. Es folgt daraus, daß drei Entwicklungsbegriffe scharf und konsequent auseinanderzuhalten sind: 1. der evolutionstheoretische Entwicklungsbegriff, 2. der geschichtswissenschaftliche Entwicklungsbegriff und schließlich 3. der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff. 1. Der Begriff der Evolution ist ebenso vieldeutig wie der Geschichtsbegriff. Analog zur Doppelbedeutung von „Geschichte" benennt „Evolution" sowohl das Evolutionsgeschehen selbst als auch die, auf der Grundlage einer Evolutionstheorie durchgeführte, Rekonstruktion des Evolutionsverlaufs. Uneindeutig ist daher auch der Ausdruck „Evolutionstheorie". Die Theorie der Evolution befaßt sich primär mit den Strukturen und Regelmäßigkeiten des Evolutionsgeschehens, deren Feststellung dann erst die Rekonstruktion des faktischen Verlaufs erlaubt. Der Begriff evolutionärer Entwicklung bezeichnet zunächst in allgemeinster Weise das Werden von Kosmos, unbelebter und belebter Natur, wobei die jeweils vorliegende systematische Ordnung beliebiger Phänomene als Widerspiegelung der historischen Ordnung ihrer Entwicklung
begriffs im Rahmen einer bestimmten Entwicklungstheorie — z. B. der Evolutionstheorie — unergiebig ist, da die Definitionsvoraussetzungen, die jeweiligen theoretischen Prämissen also, sich im Vergleich zu der auf das Ganze zielenden Interessensrichtung der Philosophie stets als zu eng erweisen werden.
90
Der Begriff der Entwicklung
verstanden wird. Die Feststellung der historischen Folgeordnung erfordert einen theoretischen Entwurf des evolutionären Werdens; „evolutionäre Entwicklung" ist also ein theoretischer Begriff. Das entscheidende Problem jeder Theorie der Evolution besteht in der Frage, wie die offensichtlich teleologische Verlaufsstruktur des Evolutionsgeschehens zu erklären ist. Bei dieser Frage zeigen sich zwischen den einzelnen theoretischen Konzeptionen gewisse Differenzen. Stets aber ist das Bemühen leitend, die Anzahl von Evolutionsmechanismen auf ein Minimum zu beschränken, im Falle der Evolution der Organismen etwa auf die Prinzipien von Mutation und Selektion. 2. Rickerts Bestimmung des historischen Entwicklungsbegriffs hat deutlich gemacht, daß eine methodologische Klärung des geschichtswissenschaftlichen Begriffs der Entwicklung in einem gewissen Rahmen recht weit vorangetrieben werden kann und mit einiger Präzision durchführbar ist. Allerdings ist hier, wie etwa Troeltschs Kritik an Rickerts Begriffsbestimmung gezeigt hat, eine letzte Ubereinstimmung nicht zu erzielen, da die jeweils vorausgesetzte erkenntnistheoretische Position sich stets in der Begriffsklärung bemerkbar machen wird. 3. Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff ist der am wenigsten genau abgrenzbare. Bei seiner Kennzeichnung läßt sich wohl kaum über die angegebenen fünf Bestimmungsmomente hinausgehen (Kontinuität, Unumkehrbarkeit, einer gewissen Determination unterworfen, richtungsbestimmt und insofern teleologisch, einheitlicher „Entwicklungsträger"). Jede weitergehende Definition bedeutet bereits eine bestimmte Auslegung der Geschichte und ihrer Entwicklung.
1. Der evolutionstheoretische
Entwicklungsbegriff
Der Grundgedanke aller Evolutionstheorien besteht in der Ansicht, daß die gegenwärtige systematische Ordnung sich als historische Ordnung ihrer Entwicklung rekonstruieren lasse. Diese Überzeugung, die allen verschiedenen evolutionstheoretischen Entwürfen zugrunde liegt, darf nicht mit einer bestimmten Theorie oder Lehre der Evolution verwechselt werden. Sie wird darum auch nicht durch die allfällige Widerlegung einer bestimmten evolutionstheoretischen Konzeption in Frage gestellt. Die Schlußfolgerung von der gegebenen systematischen auf die historische Ordnung stellt, wie Hans Reichenbach bemerkt, „gute induktive Logik"
Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie
91
dar, die jeder in einfacheren Fällen anwenden würde. 194 Reichenbach veranschaulicht dies an einem schönen Beispiel: „Stellen wir uns einmal vor, was für Sorten von Menschen eine Eintagsfliege an einem einzigen Tage beobachten würde: sie würde Säuglinge sehen, Kinder, Halbwüchsige, Erwachsene und alte Leute, aber sie würde kein Wachstum oder sonstige Veränderung bei dem einzelnen Menschen wahrnehmen. Wenn sich unter diesen Eintagsfliegen nun ein Darwin befände, dann könnte eine solche geniale Fliege sehr wohl den Schluß ziehen, daß die gleichzeitig existierenden Stadien menschlicher Wesen, die sie beobachtet, eine historische Folge darstellt." 195 Das Beispiel macht deutlich, daß der Evolutionsgedanke auf einer Schlußfolgerung von der Ordnung des Gleichzeitigen auf die Ordnung der zeitlichen Folge beruht. Diese Schlußfolgerung ist nicht nur gut begründet, sondern überzeugt auch deswegen, weil die mögliche Alternative, die auf ein — zumindest teilweise - statisches Weltbild hinauslaufen müßte, unglaubwürdig geworden ist. Der in dieser Weise gerechtfertigte, den verschiedenen Theorien vorausliegende allgemeine Evolutionsgedanke wird in den einzelnen theoretischen Entwürfen konkretisiert. Erst auf der Ebene der verschiedenen, im Detail stets variierenden evolutionstheoretischen Konzeptionen entscheidet sich die Frage, ob der teleologische, richtungsbestimmte Evolutionsverlauf mittels des Kausalitätsprinzips erklärt werden kann oder ob ein teleologisches Wirkprinzip angenommen werden muß. Im allgemeinen wird die Frage zugunsten einer rein kausalen Erklärung beantwortet. Die damit verbundene Zurückweisung des teleologischen Erklärungsprinzips beruht dabei auf einer bestimmten, stillschweigend vorausgesetzten Prämisse. Es handelt sich um den vom wissenschaftlichen Standpunkt aus zu Recht in Anspruch genommenen Ockhamschen Grundsatz, daß die Erklärungsannahmen nicht unnötigerweise vermehrt werden dürfen. Wenn also das Evolutionsgeschehen kausal hinreichend erklärbar ist, dann kann nicht nur, sondern dann muß sogar auf das teleologische Erklärungsprinzip verzichtet werden. Aus der teleologischen Gestalt der Evolution und aus der Tatsache ihrer „Höherentwicklung" läßt sich im Rahmen der wissenschaftlichen Evolutionstheorie nur der Schluß ziehen, daß das Evolutionsgeschehen einer gewissen Regelmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit folgt. Es ist zugleich 194
195
Vgl. Hans Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie; in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Braunschweig 1977, S. 303. Ebd.
92
Der Begriff der Entwicklung
diese allgemeine Regelmäßigkeit ihres Fortgangs, die Evolution erklärbar macht. Für die Erklärung des teleologischen Charakters genügt eine sich selbst überlassene Evolution, die — ausgehend von gegebenen Bedingungen — sich gleichsam von selbst organisiert und von selbst ihren Weg findet, wobei immer neue Bedingungen ihres weiteren Fortgangs entstehen, so daß sich allmählich Regelmäßigkeiten herausbilden und das Geschehen die Gestalt einer Entwicklung annimmt. Wenn das theoretische Konzept der modernen, „mechanistischen" Evolutionsauffassung hinreichend ist, um die Evolution und insbesondere auch ihre teleologische Verlaufsform zu erklären, dann wird es überflüssig und sogar falsch, in die Theorie ein teleologisches Moment einzuführen, handle es sich dabei nun um eine „vis Vitalis", eine Lebenskraft, um ein seelenartiges Agens oder um irgendein die Evolution vorantreibendes geistiges Prinzip oder gar um einen von Anfang an feststehenden Plan oder Sinn. Andererseits wird man zugeben müssen, daß die „mechanistische" Evolutionstheorie die Annahme einer teleologischen Steuerung der Evolution nicht widerlegt. Die Tatsache der kausal-mechanistischen Erklärbarkeit des teleologischen Charakters der Evolution schließt die Möglichkeit einer Teleologie, also einer Bestimmung durch einen teleologischen Faktor, nicht aus. Dennoch kann der wissenschaftliche Standpunkt, soll er sich nicht selbst aufheben, den Ockhamschen Grundsatz nicht preisgeben. Es besteht für ihn deshalb keine Veranlassung zu einer teleologischen Erklärung der Evolution. Wenn aber eine teleologische Betrachtungsweise der Evolution mit der wissenschaftlichen Position unvereinbar ist, dann erweisen sich zugleich alle Bemühungen um eine Ableitung von Sinn und Bestimmung des Menschseins aus dem übergeordneten Evolutionsgeschehen als vergeblich. Daraus wird deutlich, daß in der Frage, ob in der Evolution eine Teleologie wirksam sei oder nicht, das Kernproblem einer philosophischen Beschäftigung mit der Evolution besteht. Das Scheitern einer teleologischen Betrachtungsweise macht es allerdings äußerst problematisch, ja vermutlich gänzlich unmöglich, aus dem Geschehen der Evolution irgendein Sollen, irgendein Wert- oder Sinnhaftes abzuleiten. Im Unterschied zum philosophischen Interesse an der Teleologiefrage zeigt sich der wissenschaftliche Standpunkt an dieser Problematik desinteressiert. Die wissenschaftliche Evolutionstheorie wird sich, um ihrer Wissenschaftlichkeit willen, auf eine kausale Erklärung des Evolutionsgeschehens beschränken müssen, da sie das Kausalprinzip nicht aufgeben und das Teleologieprinzip nicht einführen kann, ohne in einen Selbstwider-
Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie
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Spruch zu geraten. Reichenbach faßt die Schwierigkeit in folgender Formulierung zusammen: „In der Tat widerspricht die Teleologie der Kausalität. Wenn die Vergangenheit die Zukunft bestimmt, dann bestimmt die Zukunft nicht die Vergangenheit..." 196 Man mag nun auf die Grenzen einer bloß kausalen Erklärung des Evolutionsgeschehens hinweisen oder auch auf die scheinbar absurden Konsequenzen, die sich einstellen, wenn man die Evolutionsthese vertritt, daß der Zufall in Verbindung mit dem Auswahlprinzip die harmonische Ordnung der Evolution hervorgebracht hat. In diesem Sinne hat Hans Jonas gegen die rein „mechanistische" Interpretationsweise der modernen Evolutionstheorie protestiert: „Der Philosoph, der das Riesenpanorama des Lebens auf unserem Planeten überblickt und sich selbst als einen Teil davon versteht, wird sich nicht mit der Antwort zufriedengeben (so brauchbar sie als Arbeitshypothese der Naturwissenschaft ist), daß dieser unaufhörliche und weitläufige Prozeß ... in dem Sinne ,blind' gewesen sein soll, daß sich seine Dynamik in der mechanischen Permutation indifferenter Elemente erschöpft, die ihre Zufallsergebnisse als Artformen längs des Weges ablagert und mit ihnen ebenso zufallig die Erscheinungen des Subjektiven veranlaßt, die jenen physischen Ergebnissen als rätselhaftes und überflüssiges Nebenprodukt anhaften. Vielmehr, da die Materie nun einmal so von sich Kunde gab, nämlich sich auf diese Art und mit diesen Ergebnissen organisierte, so sollte ihr das Denken ihr Recht widerfahren lassen und ihr die Möglichkeit zu dem, was sie tat, als in ihrem anfanglichen Wesen gelegen zuerkennen." 197 Damit verläßt Jonas das evolutionstheoretische Interpretationsschema und argumentiert auf der Grundlage einer gänzlich anderen Entwicklungskonzeption, nämlich eines vom Vorbild organischen Wachstums abgeleiteten, entelechialen Entwicklungsbegriffs. Dies erlaubt ihm, an der zitierten Stelle folgendermaßen fortzufahren: „Diese ursprüngliche Potenz müßte dann ebenso in den Begriff der physischen Substanz einbezogen werden, wie die an ihren Aktualisierungen, den Geschöpfen, auftretende Zielstrebigkeit in den Begriff der physischen Kausalität." 198
196 197
198
Ebd., S. 299. Hans Jonas: Organismus und Freiheit — Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 11. Ebd., S. 11 f. — Vgl. dazu Monika Riedinger: Naturteleologie und Freiheit — Zur ethischen Begründungsproblematik bei Hans Jonas; in: Philosophische Tradition im Dialog mit der Gegenwart — Festschrift für Hansjörg A . Salmony, Basel/Boston/ Stuttgart 1985, S. 2 4 3 - 2 6 2 .
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Der Begriff der Entwicklung
Es ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich, auf Jonas' Deutung des Evolutionsgeschehens näher einzugehen. Der Hinweis auf seine Position dient an dieser Stelle lediglich dazu, die Grenzen des evolutionstheoretischen Entwicklungsbegriffs, der ein rein kausaler, ateleologischer Begriff ist, aufzuzeigen. Es sind diese Grenzen, die Jonas veranlassen, das Kausalitäts- mit dem Teleologieprinzip zu verbinden. So sympathisch Jonas' Anliegen ist, so wenig haltbar ist seine Deutung des Evolutionsgeschehens, solange sie beansprucht, eine Weiterführung und Berichtigung der wissenschaftlichen Evolutionstheorie zu sein. Jonas gegenüber ist zu betonen, daß mit der Einführung des teleologischen Prinzips in die wissenschaftliche Evolutionstheorie diese ihre Wissenschaftlichkeit verliert. Die Verbindung von teleologischer Sinndeutung und kausaler Erklärung läuft auf eine Vermischung getrennter Ebenen von verschiedenem erkenntnistheoretischem Status hinaus und stellt letztlich den vergeblichen Versuch dar, eine Synthese von Wissenschaft und Philosophie zu bilden. Wenn das teleologische Prinzip im Rahmen der Evolutionstheorie aufgegeben werden muß, dann entfällt jede Möglichkeit einer Sinndeutung der Naturgeschichte. Die „wissenschaftliche Philosophie" von Hans Reichenbach zieht daraus nicht ohne Konsequenz den Schluß, daß es sinnlos sei, die Frage nach dem Sinn zu stellen, da diese einer wissenschaftlichen Beantwortung unzugänglich sei. „Es ist ein Lieblingsargument unwissenschaftlicher Philosophien, daß Erklärung irgendwo haltmachen muß und daß unbeantwortbare Fragen immer übrigbleiben werden. Aber diese sogenannten Fragen haben immer ihren Ursprung in einem Mißbrauch der Sprache. Worte, die in einer bestimmten Verbindung sinnvoll sind, können in einem anderen Zusammenhang sinnlos werden. Kann es einen Vater geben, der nie ein Kind gehabt hat? Man würde den Philosophen einfach auslachen, der diese Frage als ein ernsthaftes Problem hinstellt. Die Frage nach der Ursache des ersten Ereignisses, oder nach der Ursache der Welt als Ganzes, ist nicht besser." 199 „Es gibt Gelehrte, die besonders stolz darauf sind, wenn sie Vorlesungen über Evolution mit der Schlußfolgerung beenden, daß doch Fragen übrigbleiben, die für die Wissenschaft unbeantwortbar sind. Solche Behauptungen werden dann oft als Beweis dafür zitiert, daß eine wissenschaftliche Philosophie unzureichend ist. Sie beweisen aber lediglich, daß die wissenschaftliche Ausbildung dem Wissenschaftler nicht immer das Rückgrat gibt, dem Einfluß einer Philoso-
199
H. Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, S. 315.
Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie
95
phie zu widerstehen, welche Unterwerfung unter den Glauben predigt." 200 Sofern man sich auf den wissenschaftlichen Standpunkt stellt und ihn nicht wieder verläßt, ist die Position Reichenbachs in sich folgerichtig. Sie hat freilich eine völlig unkritische Wissenschaftsgläubigkeit zu ihrer Voraussetzung. Sie ist hier erwähnt, um zu verdeutlichen, daß eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sinnfrage eine „contradictio in adjecto" darstellt. Eine „contradictio in adjecto" ist auch bereits im Untertitel des Jonasschen Werkes über „Organismus und Freiheit" enthalten: „Ansätze zu einer philosophischen Biologie". Der in diesem Werk beabsichtigte Versuch einer Verbindung des wissenschaftlich-kausalen Evolutionsbegriffs mit dem philosophisch-teleologischen Entwicklungsgedanken unternimmt Unmögliches. Kennzeichnend für die innere Zwiespältigkeit dieses Werkes zeigt sich etwa in der bereits erwähnten Tendenz, den Begriff evolutionärer Entwicklung — ein wissenschaftlicher Begriff — durch einen an Aristoteles erinnernden Begriff organischer Entwicklung — ein metaphysischer Begriff — zu ersetzen.
2. Die geschichtsphilosophische
Entwicklungskategorie
Die bisherigen Überlegungen zielten darauf ab, die Notwendigkeit einer strikten Trennung der wissenschaftlichen und der philosophischen Entwicklungsproblematik zu begründen. Es soll nun noch aufgezeigt werden, daß die Sinndimension im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen zwangsläufig unberücksichtigt bleiben muß. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf eine Abhandlung von Bruno Liebrucks über „Sinnfrage und Kontingenzerfahrung". Die Aufgabe der Wissenschaften kann dahingehend bestimmt werden, das Begegnende in den Status klarer Gegenständlichkeit zu erheben. Es ist nun wichtig zu sehen, daß Gegenstände, um Gegenstände sein zu können, sinnfrei gedacht werden müssen. Dies geht aus dem folgenden Gedankengang Kants hervor: Kant fragt nach den Bedingungen, die es ermöglichen, „daß formallogisches Denken zugleich sachhaltig sein könne". Diese Frage setzt „ein Mißtrauen in die Omnipotenz formallogischer Strukturen" voraus. Dieses Mißtrauen hat seine Entsprechung in der Ablehnung des traditionellen Begriffs der
200
Ebd., S. 322.
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Der Begriff der Entwicklung
Wahrheit als „adaequatio rei et intellectus". 201 Erkenntnis liege für Kant, wie Liebrucks ausführt, nicht dann vor, wenn meine Urteile oder ihr Inhalt mit der Wirklichkeit, was immer das sei, übereinstimmten, sondern dann, wenn das Mannigfaltige unter der rein prinzipiellen Synthesis der Einheit der transzendentalen Apperzeption in eine systematische Ordnung gebracht sei. „Ein Vergleich des Intellekts mit Dingen, wie sie unabhängig von unserer wissenschaftlichen, d.h. hier empirischen Erfahrung, sind, ist nicht möglich, da beide zu vergleichenden Glieder, die res wie der intellectus, notwendig als unerkennbar angesehen werden müssen, wenn die Frage, wie formallogisches Denken sachhaltig sein kann, eine positive Antwort finden soll." 202 Kant stellt nicht einfach eine ontologische Behauptung auf, wenn er sagt, der Mensch könne die Dinge an sich nicht erkennen. Denn diese Aussage bildet vielmehr eine logische Bedingung dafür, daß die Hauptfrage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, überhaupt beantwortbar wird. Diese Frage wie ihre mögliche Beantwortung setzen voraus, „daß wir den Menschen und die Dinge, wie sie unabhängig vom Menschen sind, für unerkennbar erklären" 203 . Wenn es sich so verhält, dann haben die verschiedenen Kategorien ihren logischen Ort im erkennenden Subjekt und nicht im Gegenstand. Für die Kategorie der Notwendigkeit, die oberste „Invarianz-Kategorie", bedeutet dies, daß sie nicht als dem einzelnen empirischen Gegenstand inhärierend gedacht werden kann. Die Notwendigkeit ist nicht eine Notwendigkeit der Sachen, sondern eine Notwendigkeit unserer Urteile über die Sachen. Damit gelangt Liebrucks zur folgenden Feststellung: „Daraus folgt nicht nur die Sinnfreiheit der Gegenstände, sondern ihrer als Gegenstände, d.h. aber die Sinnfreiheit auch der Gegenständlichkeit der Gegenstände. Die Notwendigkeit der Urteile ist eine Notwendigkeit, die den Sachen äußerlich ist. Diese Äußerlichkeit bezieht sich nicht auf sie als Dinge an sich, sondern als Erscheinungsgegenstände. Notwendigkeit der Urteile ist die Kategorie, unter der die Dinge, die Geschehnisse oder was es sei, nicht als notwendig, sondern notwendig als zufällig angesehen werden müssen." 204 Wenn nun die Aufgabe der Wissenschaften darin zu sehen ist, daß sie die Wirklichkeit in klare Gegenständlichkeit umsetzen, dann kann dies nur 201 202 203 204
Vgl. Bruno Liebrucks: Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, S. 275. Ebd. Ebd. Ebd., S. 276.
Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie
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dadurch gelingen, daß die Sinndimension strikt ausgeklammert wird: „Werden Natur und Geschichte als Gegenstände betrachtet, so ist darin vorausgesetzt, daß ihnen von Haus aus kein Sinn innewohnt. Ein Objekt, das sinnvoll ist, ist um der Wahrung des Sinns von Sätzen willen als eine contradictio in adjecto anzusehen." 205 Wie der evolutionstheoretisch begründete Begriff naturgeschichtlicher Entwicklung vom philosophischen Entwicklungsgedanken zu trennen ist, so müssen auch der geschichtswissenschaftliche und der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff streng auseinandergehalten werden. Philosophie der Geschichte und Wissenschaft der Geschichte sind nicht aufeinander zurückführbar. Aber es besteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis: Die Philosophie hat von den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft auszugehen; die Wissenschaft wiederum bleibt stets von philosophischen Voraussetzungen abhängig und bedarf der Philosophie überdies zur wissenschaftstheoretischen Selbsterhellung. Alle Bemühungen, Philosophie und Wissenschaft der Geschichte in einer höheren Einheit zu verbinden und eine „wissenschaftliche Geschichtsphilosophie" zu begründen, setzen sich über die Wesensunterschiede der beiden Disziplinen hinweg, verwischen die Konturen des Geschichtsproblems und tragen somit keineswegs zu seiner Klärung oder gar Lösung bei. In dem Moment, wo der evolutionstheoretische oder auch nur historische Entwicklungsbegriff in philosophischer Absicht auf die übergreifende Einheit der Geschichte angewendet wird, begibt man sich in ein neues Problemgebiet, in welchem dann auch dem Entwicklungsbegriff eine verwandelte Stellung und Bedeutung zukommt. Es handelt sich in diesem Falle um eine „metabasis eis allo genos" mit allen Konsequenzen, die ein solcher Grenzüberschritt zur Folge hat. Es ist in diesem Zusammenhang noch zu begründen, weshalb in der vorliegenden Untersuchung, wenn in expliziter Weise vom geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff die Rede ist, auch der Terminus „Kategorie" der Entwicklung verwendet wird. Man mag sich fragen, wie es gerechtfertigt sein kann, einen Begriff zur Kategorie zu erheben, der nicht einmal klar und eindeutig bestimmbar ist und der sich überdies auf einen illusionären Raum bezieht, nämlich auf den der Geschichte als ganzer. Doch es sind gerade diese Gründe, die es erlauben, den geschichtsphiloso205
Ebd., S. 274.
98
Der Begriff der Entwicklung
phischen Entwicklungsbegriff als Kategorie zu bezeichnen, da er weder ein wissenschaftlicher noch ein geschichtsmethodologischer Begriff ist. Die geschichtsphilosophische Kategorie der Entwicklung besagt nicht, daß die Menschheitsgeschichte einen historisch rekonstruierbaren Entwicklungsvorgang darstellt, sondern sie will vielmehr zum Ausdruck bringen, daß die Entwicklungsvorstellung die Bedingung der Möglichkeit eines vernünftigen Denkens und Sprechens über die Menschheitsgeschichte in philosophischer Absicht ist. Ob die Universalgeschichte faktisch als Entwicklung verläuft oder nicht, ist dabei eine Frage, die über die Grenzen möglichen Wissenkönnens hinausweist. Gerade aus diesem Grund ist in der Entwicklungsvorstellung die kategoriale Bedingung der logischen Möglichkeit zu sehen, über die Geschichte als ganze eine philosophische Aussage zu machen. Nur durch ihre Anwendung ist eine Philosophie der Geschichte möglich. An diese Feststellung schließt sich wohl unvermeidlicherweise und mit einer gewissen Aufdringlichkeit die kritische Frage an, ob, wenn es sich so verhält, es nicht redlicher wäre, auf die Geschichtsphilosophie zu verzichten, da diese doch auf einer nicht verifizierbaren Vorstellung, nämlich der Vorstellung universaler Geschichtsentwicklung, beruhe. Auf diesen naheliegenden und verständlichen Einwand ist zu erwidern, daß diese Frage nicht auf der Ebene der Geschichtsphilosophie selbst, sondern nur auf einer fundamentaleren Ebene entschieden werden kann, — etwa auf der anthropologischen Ebene, insofern die philosophische Anthropologie aufzeigt, daß der Mensch als Geschichtswesen stets in Bildern geschichtlicher Entwicklung existiert und auf Sinnbestimmungen der Gesamtgeschichte, in die er sich eingeordnet begreift, angewiesen ist. Die geschichtsphilosophische Kategorie der Entwicklung kann nicht wiederum geschichtsphilosophisch gerechtfertigt werden, da sie in jedem geschichtsphilosophischen Legitimierungsversuch bereits vorausgesetzt wäre. Sie läßt sich nicht aus der Geschichte selbst herleiten noch aus einer Betrachtung der Verlaufsstruktur gewinnen, da sie die fundamentale Form des Denkens über Geschichte darstellt. Dies bedeutet ferner, daß die Geschichtsphilosophie ohne Legitimation durch ihr Objekt, die Geschichte in ihrer Entwicklung, ist. Aber es kann davon ausgegangen werden, daß es heute eine Frage der Verantwortung ist, ob man es ausdrücklich als philosophische Aufgabe anerkennt, eine rationale Sinnbestimmung des Menschseins in Form einer Entwicklungsdeutung der Menschheitsgeschichte zu wagen. Es ist dies eine Frage der Verantwortung aus zwei Gründen. Der erste Grund liegt darin, daß wir uns in unserem Denken und Han-
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dein von der vorgegebenen geschichtlichen Situation als abhängig erkennen, ohne diese jedoch aus ihr selbst begreifen und damit unsere geschichtliche Heteronomie zu Bewußtheit bringen zu können, solange der übergreifende Geschichtsraum unthematisiert bleibt. Der zweite Grund ist in dem ursächlichen Zusammenhang zu sehen, der die Art und Weise, wie wir Geschichte heute denken, mit der Zukunft dieser Geschichte verbindet.
3. Wissenschaftliche und philosophische Fragestellung Der Begriff evolutionärer Entwicklung ist ein theoretisch-formaler Begriff und nur sinnvoll im Rahmen der Evolutionstheorie, auf die er verweist. Der historisch-geschichtswissenschaftliche Entwicklungsbegriff ist ein methodologischer Begriff der Geschichtsschreibung. Von beiden unterscheidet sich die geschichtsphilosophische Entwicklungskategorie. Nun hält sich die Sprache nicht an solche Differenzierungen. Deshalb haftet angesichts des faktischen Sprachgebrauchs an allen solchen Definitions- und Abgrenzungsversuchen eine gewisse Willkür. Wichtiger als eine terminologische Differenzierung ist es darum, die Frage- und Problemstellungen zu unterscheiden, die der unterschiedlichen Verwendung des Entwicklungsbegriffs zugrunde liegen. Für den evolutionären Entwicklungsbegriff ist die Frage nach gleichbleibenden Strukturen und Regelmäßigkeiten im Entwicklungsablauf leitend. Ein solches Verfahren der Strukturfeststellung wird streng theoretisch sein müssen, da es auf die Erkenntnis allgemeinster formaler Strukturen zielt. Eine evolutionäre Entwicklungstheorie kann auch auf die Geschichte angewendet werden und möglicherweise einen besseren Einblick in die Mechanismen geschichtlicher Prozesse gewähren. Eine wichtige Grenze einer solchen evolutionstheoretischen Behandlungsweise der Geschichte besteht freilich darin, daß sie sich einer universalgeschichtlichen Anwendung versagt. Darauf hat Jürgen Habermas hingewiesen. Wenn nämlich evolutionstheoretische Theoreme in die Universalgeschichtsschreibung aufgenommen werden und „die Evolutionstheorie selbst als eine überlebensgroße Historie aufgezogen wird", dann führe dies „zu einer Aufladung der Evolutionstheorie mit Voraussetzungen und Begriffen, die nur in narrativen Darstellungen sinnvoll sind. Sobald Grundannahmen der Evolutionstheorie auf die Ebene einer Erzählung der Menschheitsgeschichte projiziert werden, gewinnen die formalen Voraussetzungen der
100
Der Begriff der Entwicklung
Einheit, der Kontinuität und der Begrenzung der erzählten Geschichte einen substantiellen und damit irreführenden Sinn. Es erscheint dann so, als sei die Totalität der Geschichte Gegenstand der ins Narrative überspielten Evolutionstheorie, und als vollziehe sich die Evolution an einem Gattungssubjekt, dem Träger einer kontinuierlich verlaufenden Gattungsgeschichte"206. Eine solche Theorie der universalgeschichtlichen Evolution böte dann eine wissenschaftliche Theorie der gesamten, auch die Zukunft umfassenden Geschichte und müßte also dazu fähig sein, geschichtliche Prozesse vorauszusagen. Die Evolutionstheorie läßt sich folglich nicht auf das Ganze der Geschichte anwenden, aber auch nicht, wie Habermas weiter ausführt, „auf einzelne geschichtliche Vorgänge, soweit diese als historische, nämlich erzählbare Ereignisfolgen vorgestellt werden" 207 . Denn eine evolutionstheoretische Geschichtsschreibung ist ein in sich widersprüchlicher Ausdruck. Geschichtsschreibung ist an das jeweilige narrative Bezugssystem gebunden. Über dieses Bezugssystem bleibt die Geschichtsschreibung an die vorwissenschaftliche, in der Alltagserfahrung begründete Einstellung verhaftet, und es kann ihr nicht gelingen, aus der Alltagserfahrung einen selbständigen wissenschaftlichen Objektbereich auszugrenzen. „Die Geschichtsschreibung darf gewiß als eine stilisierte Hochform der in Interaktionszusammenhängen eingeflochtenen alltäglichen Narrative gelten; ihre Bindung ans narrative Bezugssystem aber verstärkt nur eine in die Lebenswelt eingebaute Reflexivität." 208 Damit läuft die evolutionstheoretische Geschichtsforschung auf eine Trennung der formalen Strukturen und der in der Geschichtsschreibung erzählten Begebenheiten hinaus. Von der evolutionstheoretischen Analyse geschichtlicher Prozesse ist also das Vorgehen der Geschichtsschreibung zu unterscheiden. Fragt jene nach den gleichbleibenden formalen Strukturen, so diese nach der Veränderung sich gleichbleibender Objekte. Die hier leitende Entwicklungsvorstellung stellt eine methodologische Grundbedingung der Rekonstruktion von Geschichte dar, wie dies die Untersuchungen Rickerts aufgezeigt haben. Die für das geschichtsphilosophische Entwicklungsdenken maßgebende Frage nun zielt auf das wissenschaftlich Unmögliche, nämlich auf 206 Jürgen Habermas: Zum Thema: Geschichte und Evolution; in: Geschichte und Gesellschaft, 2. Jg. (1976), S. 3 1 0 - 3 5 7 ; Zitat: S. 353. 207 208
Ebd., S. 354. Ebd., S. 352.
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Ganzheit, Wesen, Anfang und Ziel und damit auf die menschheitliche Sinnbestimmung. Wichtig ist nun die Feststellung, daß es sich bei den unterschiedlichen Fragen nach den formalen Entwicklungsstrukturen, nach den Bedingungen historischer Erkenntnis einheitlicher Entwicklungsvorgänge und schließlich nach der Entwicklung der Geschichte als ganzer um drei heterogene Fragestellungen handelt, die auch verschiedene Denkformen, verschiedene Antworten und verschiedene Grade der Gewißheit dieser Antworten zur Folge haben. Eine Vermengung der differenten Fragestellungen und ihrer Entwicklungsbegriffe wird zwangsläufig zu irreleitenden Mischformen führen. Für die vorliegende Thematik ist nun die Differenz zwischen der wissenschaftlichen und der philosophischen Fragerichtung besonders wichtig. Karl Jaspers, der die Unterschiede zwischen beiden klar bestimmt hat, bemerkt über die Vermischung von Wissenschaft und Philosophie: „Die Verwechslung von Uberzeugungen, aus denen ich lebe, mit Wissen, das ich beweise, verwirrt die ganze menschliche Haltung." 209 Die dem evolutionären wie dem geschichtswissenschaftlichen Entwicklungsbegriff zugrunde liegenden Fragestellungen sind positiv-wissenschaftlicher Art und unterscheiden sich von der geschichtsphilosophischen Fragerichtung, die auf die Sinndimension zielt. Die allgemeinen Unterschiede zwischen den wissenschaftlichen und den philosophischen Erkenntnisbemühungen wiederholen sich auch auf dem Feld der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Wissenschaft bezieht sich auf die empirisch erfaßbare Realität. Ihr ist keine andere Realität zugänglich. Die Philosophie dagegen eröffnet den 209
K. Jaspers: Rechenschaft und Ausblick, S. 4 1 0 . Maßgebend für jede Verhältnisbestimmung v o n Wissenschaft und Philosophie sind auch heute noch die Ausführungen von Karl Jaspers zu dieser Thematik. Seine Überlegungen, die über das ganze Werk zerstreut vorliegen, zielen nicht nur auf eine scharfe Abgrenzung der beiden Bereiche, sondern zugleich auf den Nachweis ihres aufeinander Angewiesenseins. Der philosophische A n spruch ist folglich: „Statt in einem objektiven Wissen die Dinge, wie sie an sich sind, v o r uns zu haben, statt die Welt im Weltbild, den Menschen im Menschenbild endgültig vorzustellen, statt ein System des Seins zu denken, müssen wir zur Vergewisserung dessen, wie w i r uns in der Welt finden und was uns Welt ist, dies alles vollziehen, aber auch als jeweilige Befangenheit im Objektiven begreifen." (Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, S. 133) Eine Zusammenfassung dieser Thematik gibt: Edilbert Schülli: Wissenschaft und Philosophie — Ihr unlösbarer Zusammenhang und ihre strenge Scheidung bei Karl Jaspers; in: Philosophische Tradition im Dialog mit der Gegenwart — Festschrift f ü r Hansjörg A . Salmony, Basel/Boston/ Stuttgart 1985, S. 3 0 3 - 3 2 0 .
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Der Begriff der Entwicklung
Zugang zu einer menschlichen Wirklichkeit, die nicht weniger real ist als die empirische, die aber in der wissenschaftlichen Erfahrung nicht aufgeht. Es wird hier nicht etwa ein Mangel der wissenschaftlichen Rationalität herausgestellt oder gar ein Vorwurf formuliert, denn die Beschränkung der Wissenschaft auf die empirische Form von Erfahrung bezeichnet zugleich ihren Vorzug. Die wissenschaftlich-theoretische Untersuchung der Geschichte zielt darauf ab, die Mannigfaltigkeit des Geschehenen auf die zugrunde liegenden Strukturen zurückzuführen, die verschiedenen Phänomene als Manifestationen gemeinsamer Prinzipien zu begreifen. Eine solche einheitliche Geschichtsstruktur stellt die Entwicklung dar. Eine durchgeführte Theorie der Geschichtsentwicklung wäre eine empirische Theorie. Das, was dem — im strengen Sinn von Theorie — theoretischen Zugriff faßbar ist, macht nicht die ganze Wirklichkeit der Geschichte aus. Das für den Menschen Wichtigste verschließt sich der empirisch-theoretischen Erfassung. Daraus ergibt sich von selbst die Forderung eines strengen Auseinanderhaltens der beiden verschiedenen Ebenen des theoretischen Zugriffs und der philosophischen Reflexion. Ein solches Trennen von Verschiedenem ist allerdings lediglich die Vorbedingung für eine vernünftige Verständigung über Geschichte und darf nicht dazu verführen, die Verwiesenheit der beiden Ebenen aufeinander zu übersehen. Denn die Wissenschaft ist nicht autonom. Vielmehr weist jede wissenschaftliche Aussage auf eine ihr vorausliegende Dimension der Voraussetzungsproblematik, in der allererst über die Bedingungen auch ihrer Möglichkeit entschieden wird. Die Abhängigkeit der Wissenschaft von ihr äußeren Voraussetzungen ist in jüngster Zeit im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Paradigmengebundenheit der wissenschaftlichen Rationalität erneut deutlich bewußt geworden. Und die Philosophie wiederum ist stets auf die Wissenschaft angewiesen, denn sie hat vom Wissen der Wissenschaften auszugehen und bedarf dieser als ihres notwendigen Korrektivs. Mit der Reduktion der Geschichte auf das positiv Faßbare verschwindet eine ganze Dimension des Seins aus dem Bewußtsein; eine Dimension, die — ob man will oder nicht — einen Teil der menschlichen und damit der geschichtlichen Realität ausmacht, die mithin nicht aus der Welt geschafft, sondern nur vergessen, verdrängt werden kann. Fällt diese ganze Wirklichkeitsdimension in den Status des Un- oder höchstens Halbbewußten, so büßt man die Möglichkeit einer rationalen Auseinandersetzung mit ihr ein. Wir verlieren dann den ganzen Horizont philosophischer Thematik
Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie
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zugunsten eines klar gezogenen Kreises positiver Kenntnisse und exakten Wissens. Mit dieser Einschränkung vermag man aber der vollen menschlichen Daseinserfahrung niemals gerecht zu werden. Die Reduktion auf das Positive erweist sich damit als irrationales Tun, es stellt sich als rationalitätsfeindlich heraus, es widerspricht jeder Idee der Aufklärung. Mit der Einschränkung auf das Positive, sofern dies mehr als ein methodisches Prinzip meint, verkehrt sich Wissenschaft in ihr Gegenteil. Die sich absolut setzende Reduktion führt zur Ausklammerung des gesamten Bereichs des Wert-, Sinn- und Bedeutungshaften. Das, woraus und wofür Menschen leben, entzieht sich damit der Überprüfbarkeit im vernünftigen Diskurs; die menschlichen Sinnbestimmungen, die Ziele, Wünsche und Hoffnungen sind nicht länger Gegenstand der bewußten Verständigung, sie fallen damit in den Status des uns unbewußt Bestimmenden und Leitenden zurück. Kant bemühte sich um die Begründung einer Philosophie, die „als Wissenschaft auftreten" kann. In dieser Hinsicht scheiterte sein Denken. Die heutige Philosophie, die als Wissenschaft auftritt, muß, wie das Beispiel der „wissenschaftlichen Philosophie" Reichenbachs zeigte, die eigentlich philosophischen Fragen unbeantwortet lassen, d.h., es handelt sich bei ihr eigentlich bloß um eine Wissenschaft, die als Philosophie auftritt. Gegenüber einer Philosophie, die sich als Wissenschaft versucht, ist auf das Faktum hinzuweisen, daß sie es bisher noch bei keiner Beantwortung einer philosophischen Frage zur Gewißheit gebracht hat. Im Ergebnis unterscheidet sie sich also nicht von der Philosophie, die ohne wissenschaftliche Ambitionen ist, wohl aber im Selbstverständnis. Der Verzicht der Geschichtsphilosophie auf den zwingenden und allgemeingültigen Charakter ihrer Ergebnisse scheint nicht nur der Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens angemessener zu sein, sondern stimmt im Vergleich zu einem Denken, das seine Einsichten als allgemeingültige Ergebnisse fixiert, auch besser mit der Rationalitätsidee selbst überein. Die Wert- und Sinndimension der Geschichte verweist auf ihre Einheit und Ganzheit. Beide entziehen sich dem Zugriff der evolutionstheoretischen und geschichtswissenschaftlichen Entwicklungsvorstellung. Es ist daraus zu schließen, daß es für das philosophische Geschichtsproblem keine wissenschaftliche Lösung geben kann. Die Grenzen der wissenschaftlichen Orientierungsmöglichkeiten an der Geschichte sind die Legitimationsgründe für die geschichtsphilosophischen Orientierungsbemühungen. Der Ubergang vom evolutionären und geschichtswissenschaftlichen zum geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff bedeutet nicht etwa
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Der Begriff der Entwicklung
den Übergang zu irgendeiner übergeordneten Kategorie „höherer" Art, sondern lediglich den Übergang zu einem Entwicklungsbegriff, der den Vorzug seiner Allgemeinheit mit dem Verlust zwingenden Charakters erkauft. Der Verlust objektiver Geltung wiederum wird kompensiert durch den Gewinn existentieller Relevanz. Der philosophische Entwicklungsbegriff ist das Medium der Selbstvergewisserung und Orientierung in Vorstellungen der Sinnbestimmung des Menschseins. Der Entwicklungsbegriff als Grundlage geschichtsphilosophischer Gesamtanschauungen ist die rationale Voraussetzung einer vernünftigen Auseinandersetzung mit jenen Vorstellungen, die inexplizit und unerkannt den Menschen stets bestimmen. Mit dieser Kategorie gelangt man zu keinem festen Besitz und zu keinem Wissen für immer, wohl aber zu geschichtsphilosophischen Orientierungshorizonten, die ein Höchstmaß an rationaler Verständigungsmöglichkeit gewähren. Sie hat ihre Rechtfertigung in der Forderung, daß auch jene Themen und Fragestellungen einer rationalen Behandlung zugänglich gemacht werden sollen, die sich einer wissenschaftlichen Bewältigung entziehen, weil sie die Grenzen wissenschaftlichen Wissenkönnens übersteigen. Dies führt zu einem Überschreiten des bloß partikularen Sachwissens zugunsten von Gesamtanschauungen, die schon durch das existentielle Wissenmüssen gerechtfertigt sind. Es handelt sich dabei nicht um Entwicklungsdeutungen, die erst in der geschichtsphilosophischen Reflexion entstehen, sondern um die Begründung oder Zurückweisung von Vorstellungen, die auch in den politischen Überzeugungen und utopischen Zukunftsbildern und schließlich in den Hoffnungen und Ängsten des Menschen stets anwesend sind. Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff darf nicht mit einem wissenschaftlichen Terminus verwechselt werden. Im Unterschied zu einem solchen ist von der geschichtsphilosophischen lintwicklungskategorie zu sagen: sie erklärt nichts und sie beschreibt nichts. „Entwicklung der Geschichte" meint dann mehr als bloß ein theoretisches Modell. Im Grunde handelt es sich bei der Differenz zwischen dem wissenschaftlichen und dem philosophischen Begriff der Geschichtsentwicklung um zwei verschiedene Denkeinstellungen oder Denkweisen, die ihre Entsprechung in Kants Unterscheidung von „Verstand" und „Vernunft" haben. Denn im Rahmen des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens gelangt man nicht mehr zu gegenständlicher Erkenntnissen, aber dennoch zu Aussagen, die nicht einfach dem Belieben und der Willkür entspringen. Jenes Moment, das über das Gegenständlich-Partikuläre hinausweist, ist
Abgrenzung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie
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dann nicht einfach als ein unvermeidlicher „Mangel" des Denkens zu begreifen, sondern als Ausdruck menschlicher Freiheit. Es ist also dieser „Mangel", der menschliche Freiheit allererst konstituiert. Dies wiederum bedeutet, daß eine geschichtswissenschaftlich reduzierte Auseinandersetzung mit dem Raum der Geschichte das freiheitliche Moment möglicher sittlicher Selbstbestimmung verleugnet. Die geschichtsphilosophische Kategorie der Entwicklung ist kein wissenschaftlich-theoretischer und kein methodologischer Begriff, kein Beschreibungs- und auch kein Gesetzesbegriff. Die geschichtsphilosophische Entwicklungskategorie ist eine Idee regulativen Charakters im Sinne Kants. Möglichkeiten, aber auch Grenzen und Gefahren dieser Kategorie sollen im folgenden Teil an drei Beispielen paradigmatischer Geltung, an den Entwicklungskonzeptionen Kants, Herders und Hegels, vergegenwärtigt werden.
Zweiter Teil Die drei klassischen Paradigmen des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens
I. Kapitel: Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff Kants 1. Die
Ausgangssituation
„Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntnis des Menschen, haben einen hohen Wert als Mittel, größtenteils zu zufälligen, am Ende aber doch zu notwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit, aber alsdann nur durch Vermittlung einer Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen, die, man mag sie benennen, wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist. Eben deswegen ist Metaphysik auch die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft..."1
Kants Geschichtsphilosophie ist für den vorliegenden Zusammenhang aus zwei Gründen bedeutsam. Erstens ist in dieser Philosophie der Geschichte, die im wesentlichen erst ab 1784 zur Darstellung gelangt und also in die kritische Periode von Kants Denken fallt, das kritische Bewußtsein leitend, daß zwar die Fragen nach Ziel und Bestimmung des Menschen in seiner Geschichte zu den unabweisbaren Problemen zählen, daß aber ihre Beantwortung das Vermögen der Vernunft übersteigt, da der Gegenstand der Bemühungen, das Ganze der Geschichte, jenseits möglicher Erfahrung liegt. Der zweite Punkt des Interesses an dieser Geschichtsdeutung betrifft nun Kants Versuch, die erwähnte Schwierigkeit mittels des Entwicklungsgedankens zu überwinden. Die Philosophie der Geschichte teilt demnach mit der Metaphysik das Schicksal, daß sich zwar ihre Unmöglichkeit einsehen läßt, da ihre Prinzipien „allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten" 2 , daß man sich 1
2
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe neu hrsg. v o n Raymund Schmidt, Nachdruck, Hamburg 1 9 7 1 , B 878 (künftig zitiert als „KrV"). K r V , A VIII.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
aber ihren Fragen gegenüber gleichwohl nicht interesselos verhalten kann: „Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann." 3 Nun hat die Geschichte auch einen empirischen Teil, nämlich ihren bisherigen Verlauf, soweit er in der Überlieferung gegenwärtig ist. Es zeigt sich hier zumindest die Möglichkeit, aus dem bisherigen Gang der Menschheitsgeschichte auf ihren künftigen und sogar auf ihren Zweck zu schließen. Doch dieser Hoffnung treten die Mannigfaltigkeit und Fülle des geschichtlichen Geschehens entgegen, die es verbieten, aus dem Geschichtsgang eine bestimmte Regelmäßigkeit herauszulesen. Die Unüberblickbarkeit der geschichtlichen Erscheinungen und die Unregelmäßigkeit in ihrer Abfolge hängen mit der menschlichen Willensfreiheit zusammen. In der Geschichte haben wir es eben, wie Kant im „Streit der Fakultäten" formuliert, „mit freihandelnden Wesen zu thun, denen sich zwar vorher dictiren läßt, was sie thun sollen, aber nicht vorhersagen läßt, was sie thun werden" 4 . Da die Menschen, wie Kant an anderer Stelle bemerkt, aus freier Willensentscheidung heraus und „nicht bloß instinctmäßig wie Thiere" handeln und da sie auch nicht „wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren", so scheint auch „keine planmäßige Geschichte" möglich zu sein. 5 Die Geschichte widerspiegelt in ihrem regellosen Verlauf das Wirken der frei — und das meint hier: ungebunden und egoistisch — handelnden Menschen. Dies legt die „Hypothese des Abderitisms des Menschengeschlechts" nahe. Sie scheint als einzige Geschichtshypothese beanspruchen zu können, mit dem empirischen Bild der Geschichte übereinzustimmen: „Geschäftige Thorheit ist der Charakter unserer Gattung: in die Bahn des Guten schnell einzutreten, aber darauf nicht zu beharren, sondern, um ja nicht an einen einzigen Zweck gebunden zu sein, wenn es auch nur der Abwechslung wegen geschähe, den Plan des Fortschritts umzukehren, zu bauen, um niederreißen zu können, und sich selbst die hoffnungslose Bemühung aufzulegen, den Stein des Sisyphus bergan zu wälzen, um ihn wieder zurückrollen zu lassen." Eine solche vom konkreten Geschichtsgeschehen ausgehende Einschätzung, die „das ganze Spiel des Verkehrs unserer GatKrV, A X. VII, S. 83. Die römische Ziffer nennt jeweils den Band der Akademie-Ausgabe: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen (später Preußischen, dann Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin (und Leipzig) 1900 ff. 5 Vgl. VIII, S. 17.
3 4
Der Entwicklungsbegriff Kants
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tung mit sich selbst auf diesem Glob als ein bloßes Possenspiel" ansieht, müßte dann freilich nach Kant auch die Konsequen2 akzeptieren, daß sie damit dem menschlichen Geschlecht „keinen größeren Werth in den Augen der Vernunft verschaffen kann, als den die andere Thiergeschlechter haben, die dieses Spiel mit weniger Kosten und ohne Verstandesaufwand treiben". 6 Trotz dieser grundsätzlichen Bedenken gegenüber der Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte ist zu erwägen, ob sich nicht „hinter" oder „über" den endlos variierenden und unregelmäßigen Erscheinungen des geschichtlichen Lebens eine bisher unentdeckte Gesetzmäßigkeit verberge. Es bleibt daher die Hoffnung bestehen, es liege vielleicht nur „an unserer unrecht genommenen Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß dieser uns so widersinnisch scheint" 7 . Die Tatsache menschlicher Willensfreiheit und die damit verbundene unbegreifbare und scheinbar regellose Vielfalt geschichtlicher Erscheinungen erlauben demnach noch nicht den sicheren Schluß auf die Unmöglichkeit einer Philosophie der Geschichte, sondern nötigen lediglich dazu, den bisherigen Standpunkt der Betrachtung aufzugeben und einen neuen einzunehmen. Der neue kann nur der Standpunkt der Vernunft selbst sein; er muß also a priori genommen werden. Auch in seiner Philosophie der Geschichte orientiert sich Kant am großen Vorbild der neuzeitlichen Naturwissenschaften, deren plötzliches Gelingen auf einem solchen Wechsel des Standpunkts beruhte. Denn die Planeten beispielsweise, so bemerkt Kant, würden sich nur solange auf unregelmäßigen Bahnen bewegen, als man den Standpunkt auf der Erde einnehme. „Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft thun kann, gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese beständig ihren regelmäßigen Gang fort." 8 Kant macht an dieser Stelle allerdings wieder eine Einschränkung und weist auf die Grenzen der Analogie zur naturwissenschaftlichen Rationalität. Denn es ist offensichtlich ausgeschlossen, die speziellen Phänomene der Geschichte aus allgemeinen Gesetzen ableiten und die einzelnen künftigen Geschichtsereignisse vorhersagen zu können. Prognosen sind nur möglich im Rahmen eines durch Naturgesetze lückenlos bestimmten Zusammenhangs, der aber in der Geschichte wegen der Freiheit menschlichen Handelns nicht gegeben ist: „Aber das ist eben das Unglück, daß wir uns in diesen Standpunkt, wenn es die Vorhersagung freier Handlungen angeht,
6 7 8
Vgl. VII, S. 82. VII, S. 83. Ebd.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
zu versetzen nicht vermögend sind. Denn das wäre der Standpunkt der Vorsehung, der über alle menschliche Weisheit hinausliegt, welche sich auch auffreie Handlungen des Menschen erstreckt, die von diesem zwar gesehen, aber mit Gewißheit nicht vorhergesehen werden können (für das göttliche Auge ist hier kein Unterschied), weil er zu dem letzteren den Zusammenhang nach Naturgesetzen bedarf, in Ansehung der künftigen freien Handlungen aber dieser Leitung oder Hinweisung entbehren muß." 9 Für die Philosophie bedeutet dies, daß sie einen Standpunkt einzunehmen genötigt ist, der nicht von den einzelnen geschichtlichen Erscheinungen ausgeht, sondern a priori gewonnen wird. Der gesuchte „Leitfaden a priori" kann dann aber auch nicht die einzelnen Ereignisse der künftigen Geschichte betreffen; er leistet keine Prognose. Doch er vermag eine Auskunft über die geschichtliche Bestimmung des Menschen zu geben. Kants Geschichtsphilosophie hat seine teleologische Naturlehre, wie er sie bereits in den vorkritischen Schriften dargestellt hat, zur Voraussetzung. Erst auf der Grundlage und im Rahmen eines sich plan- und zweckmäßig entwickelnden Naturgeschehens kann — und muß sogar — gefolgert werden, daß die universellen Prinzipien auch in der Menschheitsgeschichte wirksam sind. Kant argumentiert mit der unüberbrückbaren Diskrepanz, die andernfalls zwischen dem Naturgeschehen und dem menschlichen Geschehen entstehen müßte: Es würde sich dadurch die „Natur, deren Weisheit in Beurtheilung aller übrigen Anstalten sonst zum Grundsatze dienen muß, am Menschen allein eines kindischen Spiels verdächtig machen"10. Die Philosophie hat darum die Geschichte unter demselben Gesichtspunkt zu betrachten wie die Natur und nach der vernünftigen „Naturabsicht", die in jener leitend ist, zu fragen. „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen..., wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, — die Geschichte des menschlichen Geschlechts — ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen?"11 Solche Überlegungen führen schließlich zur knappen und als Alternative gefaßten Frage, „ob es wohl vernünftig 9 10 11
VII, S. 83 f. VIII, S. 19. VIII, S. 30.
Der Entwicklungsbegriff Kants
113
sei, Zweckmäßigkeit der Naturanstalt in Theilen und doch Zwecklosigkeit im Ganzen anzunehmen"12. Die leitenden Ideen seiner Geschichtsphilosophie hat Kant seiner Naturphilosophie entnommen. Es sind dies insbesondere die Überzeugungen vom gemeinsamen Schöpfungsursprung, von der Einheit und Gesetzmäßigkeit des Geschehens und von dessen zielgerichtetem Verlauf. In der Geschichte, dem Inbegriff des Veränderlichen, bietet sich somit „nichts Bleibendes, was eine Idee von dem Veränderlichen an die Hand geben könnte, als die Idee der Entwicklung der Menschheit"13. Zumindest in dieser Hinsicht muß die Geschichte der Menschheit mit der allgemeinen Naturgeschichte übereinstimmen: Auch jene ist Entwicklung und hat darin an der Grundstruktur des gesamten Universums teil. Mit der Bestimmung der Menschheitsgeschichte als Entwicklung ist bereits über die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte entschieden, denn der Entwicklungsgedanke enthält implizite alle jene Momente, auf deren Grundlage sich ein geschichtsphilosophisches System mühelos errichten läßt: Einheit, Kontinuität, Gesetzmäßigkeit, teleologische Gerichtetheit auf einen Endzweck.
2. Der naturgeschichtliche
Entwicklungsgedanke
„Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke." 14
Das naturphilosophische und das geschichtsphilosophische Interesse verbinden sich in der Absicht, Wesen und Bestimmung des Menschen aus seiner Stellung in dem umfassenden Zusammenhang des kosmischen wie des geschichtlichen Werdens zu begreifen. Für Kant folgen Natur und Geschichte einer planvoll angelegten, gesetzmäßigen Entwicklung von natürlichen Anfangen auf ein in unendlicher Entfernung liegendes Ziel hin. Doch der in dieser Ansicht vorausgesetzte Begriff der Entwicklung findet an keiner Stelle in Kants Werk eine nähere Erläuterung oder ausdrückliche Klärung und wird nirgendwo einer kritischen Überprüfung unterzogen. Er bildet vielmehr die nicht weiter hinterfragte Prämisse von 12 13
14
VIII, S. 25. Nachlaßfragment, zitiert nach: Paul Menzer: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte, Berlin 1 9 1 1 , S. 268. I, S. 314.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Kants natur- und geschichtsphilosophischem Denken. Entwicklung ist mithin der allgemeinste Charakter der werdenden Schöpfung. Kant begreift die Schöpfung als werdende und sich erst allmählich vollendende. Dies stellt eine weitere bleibende Grundüberzeugung seines Philosophierens dar. Sie findet im Rahmen seiner Kosmologie insofern eine erste Begründung, als sie hier die Bedingung für die Möglichkeit einer mechanischen Welterklärung bezeichnet. In seiner „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" aus dem Jahr 1755 weist Kant nach, wie unter der Voraussetzung einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise der Aufbau des jetzigen Planetensystems erklärbar wird. Die Welt ist also in Entwicklung begriffen, so lautet die Grundprämisse, und der gegenwärtige Weltzustand ist geworden. Und folglich wird der allgemeine Schöpfungsgang auch nicht bei diesem stehen bleiben können, sondern nach einem ursprünglichen Plan immer neue Gestaltungen realisieren müssen, denn die „Schöpfung ist niemals vollendet. Sie hat zwar einmal angefangen, aber sie wird niemals aufhören. Sie ist immer geschäftig, mehr Auftritte der Natur, neue Dinge und neue Welten hervor zu bringen" 1 5 . Eine solche entwicklungsgeschichtliche Auffassung des Kosmos widersprach der weithin maßgebenden Überzeugung Newtons, daß der gegenwärtige Aufbau des Kosmos unmittelbar die göttliche Schöpfungsordnung widerspiegle. Newton lehnte jeden Versuch einer Erklärung der Weltentstehung als unwissenschaftlich und unphilosophisch ab: „...it is unphilosophical to seek for any other origin of the world, or to pretend that it might arise out of chaos by the mere laws of Nature; though being once formed, it may continue by those laws for many ages." 1 6 Doch es war Newton selbst, der die Gravitationsgesetze mit Erfolg auch auf die Himmelskörper anwandte und damit deren Bewegungen rational einsehbar machte. Dieser erste Schritt zu einer mechanischen Welterklärung legte nicht nur die Annahme einer einheitlichen Gesetzmäßigkeit des Kosmos nahe, sondern mußte schließlich auch eine rein mechanische Erklärung der Weltentstehung, die Newton selbst noch für unmöglich hielt, als durchführbar erscheinen lassen.
15 16
Ebd. Isaac Newton: Optics, Book III, Query 31; in: Opera quae exstant omnia, Bd. 4, London 1782, S. 261. — Vgl. auch die folgende Stelle: „To your second Query I answer, that the motions, which the planets now have, could not spring f r o m any natural cause alone, but were impressed by an intelligent Agent" (Four Letters f r o m Isaac Newton to Doctor Bentley; in: ebd., S. 431).
Der Entwicklungsbegriff Kants
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Die zu überwindende Schwierigkeit bestand, nach Kants Worten, 1 7 darin, daß bei der Leere des Raumes zwischen den Himmelskörpern eine materielle Ursache für die Planetenbewegung und für die Ordnung ihrer Verlaufsformen nicht zu finden war. Es fehlte damit das Mittel, um „den Himmelskörpern gemeinschaftliche Bewegungen einzudrücken". Diese Schwierigkeit sei „so bedeutend und gültig", daß Newton „sich genöthigt sah, allhier die Hoffnung aufzugeben, die Eindrückung der den Planeten beiwohnenden Schwungskräfte...durch die Gesetze der Natur und die Kräfte der Materie" zu erklären. Newton mußte, da eine natürliche Ursache nicht auffindbar war, eine übernatürliche annehmen: „den Finger Gottes", wie Kant zu sagen pflegt. Er bezeichnet es zugleich als eine für einen Philosophen „betrübte Entschließung", bei „einer zusammengesetzten und noch weit von den einfachen Grundgesetzen entfernten Beschaffenheit die Bemühung der Untersuchung aufzugeben und sich mit der Anführung des unmittelbaren Willens Gottes zu begnügen". Die Überwindung der angegebenen Schwierigkeit gelingt nach Kant nur durch die Anwendung einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise des Kosmos: Sobald die gegenwärtige Ordnung als Ergebnis ihres naturgeschichtlichen Werdens aufgefaßt und der gegenwärtige kosmische Bestand aus einheitlichen Ursprüngen genetisch hergeleitet wird, löst sich das Problem auf. Die Verbindung des entwicklungsgeschichtlichen Ansatzes mit den allgemeinen Gesetzen der Newtonschen Mechanik erlaubt ein wissenschaftliches Begreifen der Weltentstehung. „Ich habe, nachdem ich die Welt in das einfachste Chaos versetzt, keine andere Kräfte als die Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zur Entwickelung der großen Ordnung der Natur angewandt, zwei Kräfte, welche beide gleich gewiß, gleich einfach und zugleich gleich ursprünglich und allgemein sind. Beide sind aus der Newtonischen Weltweisheit entlehnt." 1 8 Kant läßt die Welt aus einem anfanglichen Chaos entstehen, er nimmt an, „daß alle Materien, daraus die Kugeln, die zu unserer Sonnenwelt gehören, alle Planeten und Kometen, bestehen, im Anfange aller Dinge, in ihren elementarischen Grundstoff aufgelöset, den ganzen Raum des Weltgebäudes erfüllt haben, darin jetzt diese gebildete Körper herumlaufen... Die Natur, die unmittelbar mit der Schöpfung gränzte, war so roh, so ungebildet als möglich. Allein auch in den wesentlichen Eigenschaften der Elemente, die das Chaos ausmachen, ist das Merkmal derjenigen Vollkommenheit zu 17 18
Vgl. I, S. 338 f. I, S. 234.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
spüren, die sie von ihrem Ursprünge her haben, indem ihr Wesen aus der ewigen Idee des göttlichen Verstandes eine Folge ist." Die anfängliche Materie hat deshalb bereits „in ihrem einfachsten Zustande eine Bestrebung, sich durch eine natürliche Entwickelung zu einer vollkommenen Verfassung zu bilden" 19 . Wenn es sich um eine natürliche Entwicklung handelt, dann gilt es, „das Triebwerk zu entdecken, welches diesen Stoff der sich bildenden Natur in Bewegung gesetzt haben möge" und das den „zerstreueten Stoff der Weltmaterie" veranlaßte, sich „in besondere Klumpen" zu vereinigen und die Himmelskörper zu bilden. 20 Der Antrieb dazu war „die Kraft der Anziehung, welche der Materie wesentlich beiwohnt und sich daher bei der ersten Regung der Natur zur ersten Ursache der Bewegung so wohl schickt" 21 . Die durch die Anziehungskraft bewirkte Bewegung findet ein Korrektiv in der entgegengesetzten „Zurückstoßungskraft", welche eine Ablenkung der in Richtung auf die Gravitationszentren fallenden Materie zur Folge hat, so daß der „senkrechte Fall" zur Kreisbewegung wird, die „den Mittelpunkt der Senkung" umfaßt. Den religiösen Bedenken, die jeder Versuch einer rein mechanischen Welterklärung auf sich ziehen mußte, hält Kant entgegen, daß das sich entwickelnde Universum zwar jeder unmittelbaren göttlichen Einwirkung entzogen ist, daß es aber einen göttlichen Urheber zur Voraussetzung hat: Im Schöpfungsplan Gottes ist alle künftige Entwicklung vorgezeichnet. In der Vorrede zu seiner „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" versichert Kant, daß er den „ganzen Werth" derjenigen Beweise anerkenne, „die man aus der Schönheit und vollkommenen Anordnung des Weltbaues zur Bestätigung eines höchstweisen Urhebers zieht" 22 . Wer aber, so führt Kant weiter aus, meine, die Schönheit und Zweckmäßigkeit der Naturordnung zeigten „eine fremde Hand, die eine von aller Regelmäßigkeit verlassene Materie in einen weisen Plan zu zwingen gewußt hat", der setze die Natur herab und verringere sie, obwohl er sie eben noch erhoben habe, als er ihre Schönheit und Zweckmäßigkeit rühmte; 23 ja wer so argumentiere, der sei „genöthigt, die ganze Natur in Wunder zu verkehren" 24 . Dennoch, so klagt Kant, bestehe ein „fast allgemeines Vorur19 20 21 22 23 24
I, S. Vgl. I, S. I, S. Vgl. I, S.
263. I, S. 339 f. 340. 222. I, S. 222 f. 333.
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theil" gegen die Auffassung, daß die Natur mittels ihrer Gesetze sich selbst zu organisieren vermöge, „gleich als wenn es Gott die Regierung der Welt streitig machen hieße", wenn man die Welt aus einem allgemeinen Grundplan sich entwickeln läßt. 25 Kant wundert sich über „dieses seltsame Mittel, die Gewißheit des höchsten Wesens aus der wesentlichen Unfähigkeit der Natur zu beweisen" und sieht die Konsequenz einer solchen Einstellung in der Überzeugung, daß „nur ein Gott in der Maschine die Veränderungen der Welt hervor bringen" könne. 26 Die Ablehnung der These, daß Gott auf den Gang der Weltentwicklung unmittelbar Einfluß nehme, überantwortet diese weder dem Zufall noch dem „blinden Ungefähr", denn „eingepflanzte Kräfte und Gesetze, die den weisesten Verstand zur Quelle haben", bestimmen ihren Verlauf. 27 Darum unterscheide sich, so sagt Kant, seine Weltentstehungslehre auch von derjenigen der Atomisten, obwohl er nicht in Abrede stellen möchte, daß die Theorie des Lukrez und die seiner Vorgänger Leukipp, Demokrit und Epikur mit der seinigen manche Ähnlichkeiten hätten. Insbesondere ließen auch die Atomisten die Welt aus einem ersten Zustand der „allgemeinen Zerstreuung des Urstoffs aller Weltkörper" hervorgehen. Aber die Verwandtschaft mit der atomistischen Lehre ziehe seinen Entwurf „dennoch nicht in die Gemeinschaft ihrer Irrthümer". 28 Die Atomisten, so führt er weiter aus, würden alle Ordnung aus dem Zufall und damit „die Vernunft wirklich aus der Unvernunft" herleiten. Er dagegen finde „die Materie an gewisse nothwendige Gesetze gebunden": „Ich sehe in ihrer gänzlichen Auflösung und Zerstreuung ein schönes und ordentliches Ganze sich ganz natürlich daraus entwicklen. Es geschieht dieses nicht durch einen Zufall und von ungefähr, sondern man bemerkt, daß natürliche Eigenschaften es nothwendig also mit sich bringen. Wird man hiedurch nicht bewogen zu fragen: warum mußte denn die Materie gerade solche Gesetze haben, die auf Ordnung und Wohlanständigkeit abzwecken?" Und er fragt, ob denn die Tatsache, daß sich ein „wohlgeordnetes Ganze" entwickle, nicht einen „unleugbaren Beweis von der Gemeinschaft ihres ersten Ursprungs" abgebe 29 . Die bisherigen Ausführungen erlauben einen ersten Überblick über die tragenden Grundüberzeugungen von Kants Kosmologie. 25 26 27 28 29
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. I, S.
I, S. I, S. I, S. I, S. 227.
332. 333. 334. 226 f.
118
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
1. Bemerkenswert ist zunächst die Programmsetzung: die rein mechanische Welterklärung. Diese Grundabsicht spricht sich auch in einer bekannten Stelle der Vorrede zur „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" aus, wo Kant zu seiner Weltentstehungstheorie bemerkt, es ließe sich hier in gewissem Sinne „ohne Vermessenheit sagen: Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll" 30 . Den Mechanismus als Ideal einer rationalen Welterfassung wird Kant nie wieder aufgeben, und noch in der „Kritik der Urteilskraft" wird er im Zusammenhang der Erörterung der teleologischen Betrachtungsweise betonen, daß der Vernunft „unendlich viel" daran liege, den „Mechanismus der Natur in ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der Erklärung derselben nicht vorbei zu gehen: weil ohne diesen keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden kann" 31 . 2. Die mechanische Weltentstehungstheorie hat den Entwicklungsgedanken zur Voraussetzung. Nun gibt sich die rein mechanisch verlaufende Entwicklung zugleich als teleologischen Prozeß zu erkennen, d.h. als Prozeß wachsender Selbstorganisation der Natur vom Anfangszustand des Chaos zu immer höheren Formen ihrer Ordnung. Die Schöpfung geht ihrer „successive(n) Vollendung" entgegen. 32 Der Entwicklungsgedanke leistet hier also eine gewisse Versöhnung zwischen der kausal-mechanischen und der teleologischen Betrachtungsweise. Wie kommt diese Versöhnung zustande? Wie kann die mechanisch vorgestellte Weltentwicklung Ordnung hervorbringen? 3. Kant bringt dieses Problem auf die Alternative: Entweder denken wir uns „einen Gott in der Maschine", der die Entwicklung in Richtung ihrer sukzessiven Vollendung lenkt, oder die Gerichtetheit der Weltentwicklung muß in den Ursprungsbedingungen angelegt sein. Die erste Möglichkeit würde das Ende jeglicher Naturforschung bedeuten und ist schon aus diesem Grund abzulehnen. 33 Nun verweist der Entwicklungszusammenhang des Kosmos auf einen gemeinsamen, einheitlichen Ursprung: die göttliche Schöpfung. Es ist demnach davon auszugehen, daß „der Entwurf der Einrichtung des Universi von dem höchsten Verstände schon in die wesentliche Bestimmungen der ewigen Naturen gelegt und in die
30 31 32 33
I, S. 230. V, S. 410. Vgl. I, S. 312. Vgl. I, S. 332 f.
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allgemeine Bewegungsgeset2e gepflanzt sei, um sich aus ihnen auf eine der vollkommensten Ordnung anständige Art ungezwungen zu entwickeln" 34 . 4. Die Urmaterie muß so gedacht werden, daß ihr gewisse Gesetze „eingepflanzt" sind, „welchen sie frei überlassen nothwendig schöne Verbindungen hervorbringen muß". Dies wiederum verweist auf eine die Materie schaffende und ihr Gesetze verleihende erste Ursache, so daß der Gedankengang die Gestalt eines Gottesbeweises gewinnt: „...und es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann."^ Dasselbe folgt aus einem zweiten Gedankengang: Die Weltentwicklung erstreckt sich von einem einheitlichen Anfangspunkt auf einen in zeitlich unendlicher Ferne liegenden Zustand der Vollendung hin. Die Grundmaterie, deren Eigenschaften und Kräfte allen bisherigen und allen künftigen Veränderungen zugrunde liegen, muß — gemäß dem Grundsatz der Überlegenheit der Ursache über die Wirkung — als „unmittelbare Folge des göttlichen Daseins" gedacht werden, weil nur unter dieser Voraussetzung aus ihr eine zeitlich unendliche und auf Vollendung hinzielende Entwicklung entstehen kann. Die Grundmaterie „muß also auf einmal so reich, so vollständig sein, daß die Entwickelung ihrer Zusammensetzungen in dem Abflüsse der Ewigkeit sich über einen Plan ausbreiten könne, der alles in sich schließt, was sein kann, der kein Maß annimmt, kurz, der unendlich ist" 36 . 5. Damit verweist der Gedanke der Weltentwicklung ebensosehr auf einen göttlichen Schöpfungsursprung, wie dieser es überhaupt erst ermöglicht, den Weltprozeß als Entwicklung im strengen, d.h. wörtlichen Sinne zu denken. Denn „Entwicklung" meint bei Kant „Auswickelung" dessen, was bereits im Entwicklungsursprung der Möglichkeit nach angelegt ist. Geleitet von dieser Entwicklungsvorstellung gelangt Kant zur Überzeugung, daß „eine solche Auswickelung der Natur...da.s herrlichste Zeugniß ihrer Abhängigkeit von demjenigen Urwesen ist, welches sogar die Quelle der Wesen selber und ihrer ersten Wirkungsgesetze in sich hat" 37 . Der Schöpfungsgedanke und die Entwicklungsidee bedingen sich bei Kant wechselseitig. 6. Die Tatsache, daß sich Schöpfungs- und Entwicklungsgedanke wechselseitig bedingen, zeigt, daß der leitende Entwicklungsbegriff dem
34 35 36 37
I, S. Vgl. Vgl. I, S.
332. I, S. 228. I, S. 310. 226.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Vorbild organischer Entwicklung entnommen ist. Die Anlehnung an das Naturbeispiel organischen Wachstums wird auch durch die häufige Verwendung von Metaphern wie „Keim", „Same", „Anlage", „Auswickelung" u.a. bestätigt. 7. Ein das Entwicklungsdenken oft kennzeichnender versöhnlicher Zug spricht auch aus Kants Weltsicht. Der Weltprozeß kann seine höchsten Ziele nur durch die Reihe ununterbrochenen Entstehens und Vergehens realisieren. Der Untergang erweist sich als Vorbedingung für die Höherentwicklung. Wenn also ein Weltsystem „alle Mannigfaltigkeit erschöpft, die seine Einrichtung fassen kann, wenn es nun ein überflüssiges Glied in der Kette der Wesen geworden: so ist nichts geziemender, als daß es in dem Schauspiele der ablaufenden Veränderungen des Universi die letzte Rolle spielt, die jedem endlichen Dinge gebührt" 38 . Derselbe Gedanke kann auch so gefaßt werden, daß sich das vergängliche Individuum in den übergeordneten Entwicklungsprozeß aufgehoben versteht, wobei dieser wiederum auf die Mitwirkung jenes angewiesen ist. Zur Realisierung der Entwicklungsziele ist die Mitwirkung des Einzelnen erforderlich: „Die Unendlichkeit der Schöpfung faßt alle Naturen, die ihr überschwenglicher Reichthum hervorbringt, mit gleicher Nothwendigkeit in sich. Von der erhabensten Classe unter den denkenden Wesen bis zu dem verachtetsten Insect ist ihr kein Glied gleichgültig; und es kann keins fehlen, ohne daß die Schönheit des Ganzen, welche in dem Zusammenhange besteht, dadurch unterbrochen würde." 39
3. Der erkenntnistheoretische
Status des
Entwicklungsgedankens
„Denn, wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? Darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals irgendeine Erfahrung kongruieren könne." 40
Kants Kosmologie hat ihre tragende Voraussetzung in der Entwicklungsvorstellung. Dasselbe Entwicklungsschema verbindet Kants frühes, naturgeschichtliches Werk mit seinen späten geschichtsphilosophischen 38 39 40
I, S. 319. I, S. 354. K r V , B 649.
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Schriften. Die Grundprämisse seines philosophischen Entwurfs der Menschheitsgeschichte besteht in der Übertragung des alten kosmologischen Entwicklungsschemas auf die Geschichte. 41 Diese Feststellung scheint die „Revolution der Denkungsart" zu übersehen, welche die vorkritische von der kritischen Periode trennt. Nun kommt aber die in der Zwischenzeit erarbeitete erkenntniskritische Position auch in den geschichtsphilosophischen Schriften insofern zum Ausdruck, als Kant nun Klarheit gewonnen hat über den erkenntnistheoretischen Status einer möglichen entwicklungsgeschichtlichen Konzeption; doch den Entwicklungsgedanken selbst, wie so manche andere seiner Grundüberzeugungen, hat Kant nie aufgegeben. Sein Festhalten an der Vorstellung einer kosmischen und menschheitsgeschichtlichen Entwicklung bestätigt die Kontinuität in Kants philosophischem Lebenswerk. 42 41
42
Wenn Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" kosmologische Antinomien formuliert und aufzeigt, daß sich beispielsweise sowohl die räumliche Endlichkeit der Welt als auch ihre räumliche Unendlichkeit — vermeintlich — rational begründen lassen, dann darf dies nicht als gleichsam eine Widerlegung des eigenen kosmogonischen Entwurfs der „Allgemeinen Naturgeschichte" gelesen werden. Denn das „dialektische Spiel der kosmologischen Ideen" hat seinen Grund darin, daß solche Ideen „es gar nicht verstatten, daß ihnen ein kongruierender Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werde" (B 490). Die Vernunft verstrickt sich also nur dann in solche Antinomien, wenn sie von der falschen Voraussetzung ausgeht, die Welt als ganze sei der Erkenntnis als empirischer Gegenstand gegeben. Trotz dieser erkenntniskritischen Einsicht bleibt Kant von der Notwendigkeit einer philosophischen Auseinandersetzung mit solchen Ideen überzeugt, denen aber nur noch ein transzendentaler Status zukommen kann. Ihre Bedeutung besteht darin, daß sie für die vernünftige Orientierung regulative Geltung beibehalten. Die Vernunftkritik erweist demnach die eigenen früheren Ausführungen zur Kosmologie keineswegs als falsch, sondern weist ihnen einen Status zu, der sich seit der „Kritik der reinen Vernunft" präziser bestimmen läßt, als dies zuvor möglich war. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, daß Kant seinen kosmologischen Ideen von Anfang an bloß hypothetischen Charakter beigemessen hat. In der Vorrede zur „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" äußert er sich in klarer Weise darüber: „Man beurtheilt billig den Verfasser nach demjenigen Stempel, den er auf seine Waare drückt; daher hoffe ich, man werde in den verschiedenen Theilen dieser Abhandlung keine strengere Verantwortung meiner Meinungen fordern, als nach Maßgebung des Werths, den ich von ihnen selber ausgebe." Man dürfe eben, so führt er weiter aus, in einer Abhandlung dieser Art keine geometrische Schärfe und keine mathematische Unfehlbarkeit verlangen. „Wenn das System auf Analogien und Übereinstimmungen nach den Regeln der Glaubwürdigkeit und einer richtigen Denkungsart gegründet ist: so hat es allen Forderungen seines Objects genug gethan." (1,235) Die Ausführungen in der „Kritik der reinen Vernunft" über die kosmologischen Ideen sind für den vorliegenden Zusammenhang insofern bedeutsam, als sie den erkenntnistheoretischen Status deutlich werden lassen, der auch den geschichtsphilosophischen Ideen zukommen muß. P. Menzer hat in seinem Werk über „Kants Lehre von der Entwicklung" wiederholt auf die Kontinuität in Kants Entwicklungsdenken und in seiner damit verbundenen Auffassung der Bestimmung des Menschen hingewiesen; vgl. etwa S. 134 und S. 267.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Es besteht eine weitgehende, bis in die Titelgebung nachweisbare Parallelität zwischen der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" aus dem Jahr 1755 und der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" von 1784. Die Schrift aus dem Jahr 1784, die als Kants geschichtsphilosophisches Hauptwerk zu bezeichnen ist, weist freilich schon mit dem vorangestellten Terminus „Idee" auf ihre Zugehörigkeit zur kritischen Periode und macht zugleich den erkenntnistheoretischen Standort deutlich, den eine „allgemeine", d.h. das Ganze der Menschheitsgeschichte umfassende Entwicklungskonzeption beanspruchen kann. Mit dem Wort „Idee" macht Kant bereits im Titel darauf aufmerksam, daß eine allgemeine Geschichte der Menschheit nicht als empirische Historie, sondern nur als Philosophie durchführbar ist. Um den Erkenntnisanspruch, den Kant mit seiner Entwicklungsdeutung der Menschheitsgeschichte verbindet, richtig einschätzen zu können, ist es erforderlich, seinen Begriff der Idee näher zu bestimmen. Kant erläutert diesen Begriff ausführlich in der „Kritik der reinen Vernunft". Von diesem Werk sagt man gerne, es zeige die unüberschreitbaren Grenzen auf, an die alle wissenschaftliche Erkenntnis gebunden bleibe; aber mit ebenso großem Recht kann über es gesagt werden, es eröffne den Raum einer genuin philosophischen Einsicht, also den Zwischenraum zwischen empirischer Wissenschaft und unkritischer, spekulativer Metaphysik. In diesem Denkbereich, in dem zwar die Grenzen der Erfahrung bereits überschritten sind, aber die Möglichkeiten der Vernunfterkenntnis erst realisiert werden, bewegt sich das Denken mittels transzendentaler Vernunftbegriffe oder Ideen. Es ist dies zugleich der Bereich, in dem erst die Philosophie zur Thematisierung der ihr wesentlichen Fragen gelangt. Die Funktion der Ideen besteht darin, eine im Vergleich zur empirischen Einzelerkenntnis höhere Einsicht zu ermöglichen. Unter der Idee versteht Kant „einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann" 43 . Ideen sind transzendental und mithin Begriffe der reinen Vernunft; aber sie „sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, und beziehen sich daher notwendigerweise auf den ganzen Verstandesgebrauch" 44 . „Ob wir nun gleich von den transzendentalen Vernunftbegriffen sagen müssen: sie sind nur Ideen, so werden wir sie doch keineswegs für überflüssig und nichtig anzusehen 43 44
K r V , B 383. K r V , B 384.
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haben. Denn, wenn schon dadurch kein Objekt bestimmt werden kann, so können sie doch...dem Verstände zum Kanon seines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen, dadurch er zwar keinen Gegenstand mehr erkennt, als er nach seinen Begriffen erkennen würde, aber doch in dieser Erkenntnis besser und weiter geleitet wird." 45 Die Ideen von Welt, Seele, Gott u.a. sind nicht nur mögliche, sondern notwendige Vorstellungen; sie sind der Vernunft „ebenso natürlich..., als dem Verstände die Kategorien" 46 . Irreführend und mißverständlich sind nicht die Ideen selbst, sondern nur ihr falscher Gebrauch, der dann vorliegt, wenn „sie für Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden" 47 . Sie entspringen nicht bloßer Täuschung, „denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben" 48 , aber sie haben immer dann eine Selbsttäuschung zur Folge, wenn die transzendentalen Ideen für transzendent und die regulativen Prinzipien für konstitutiv genommen werden. Somit behauptet Kant: „...die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen." 49 Die transzendentalen Ideen bezeichnen zwar unauflösliche Probleme, 50 aber dennoch sind sie für eine durchgängige Bestimmung der Wirklichkeit unerläßlich, 51 da erst auf ihrer Grundlage eine systematische Einheitsbildung möglich ist 52 und der empirische Vernunftgebrauch zu seiner Vollendung gelangen kann 53 . 45 46 47 48 49 50 51 52 53
KrV, B 385. KrV, B 670. KrV, B 671. KrV, B 697. KrV, B 672. Vgl. KrV, B Vgl. KrV, B Vgl. KrV, B Vgl. KrV, B
510. 608. 596. 593.
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Die eigentliche Bedeutung der Vernunftideen besteht aber weniger in ihrer Funktion der Systematisierung der Naturerkenntnis, als vielmehr in ihrer Aufgabe der Begründung der praktischen Philosophie. Im dritten Abschnitt jenes Teils der transzendentalen Dialektik, der die Antinomie der reinen Vernunft behandelt, kommt Kant auf das „Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite" zu sprechen. Der Widerstreit betrifft die beiden entgegengesetzten Standpunkte von Vernunftdogmatismus und Empirismus im Rahmen der Erörterung der Antinomienproblematik. Es ist Kant klar, daß der Dogmatismus nicht haltbar ist. Er hat ferner selbst aufgezeigt, daß die Antinomien der Vernunft einen Beweis dafür liefern, daß die Vernunftideen keine Begriffe von Objekten sein können. Dennoch betont nun Kant am Beispiel der kosmologischen Vernunftideen das praktische Interesse der Vernunft an der dogmatischen Position: Auf der Seite des Dogmatismus, so sagt er, zeige sich „ein gewisses praktisches Interesse, woran jeder Wohlgesinnter, wenn er sich auf seinen wahren Vorteil versteht, herzlich teilnimmt, daß die Welt einen Anfang habe, daß mein denkendes Selbst einfacher und daher unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei, und daß endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstamme, von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige Verknüpfung entlehnt, das sind so viel Grundsteine der Moral und Religion" 54 . Diesem praktischen Interesse steht das Desinteresse des empiristischen Standpunkts gegenüber. Kants Position läßt sich nun dadurch zusammenfassend kennzeichnen, daß er zwar das praktische Interesse als das eigentlich philosophische anerkennt, aber sowohl den Standpunkt des Dogmatismus wie den des Empirismus ablehnt. Wenn die Philosophie nicht überhaupt ihren Anspruch aufgeben soll, diejenigen Fragen, die den Bereich möglicher Erfahrung überschreiten und die doch zugleich die Fragen ihres eigentlichen Interesses sind, zu thematisieren, dann muß abgeklärt werden, wie eine Orientierung mittels der Vernunftideen gelingen kann, auch wenn das stützende Moment der Korrektur des Denkens durch Erfahrung fehlt. Nun könnte man sich alle diese Schwierigkeiten ersparen und von allem möglichen Irrtum gesichert bleiben, wenn man, wie Kant in der kleinen Schrift „Was heißt: sich im Denken orientieren?" ausführt, sich dort eines Urteils enthielte, wo man nicht genügend weiß, um das Urteil als ein bestimmtes fällen zu können. Denn Unwissenheit sei nur die Ursache der Grenzen, nicht aber die der 54
KrV, B 494.
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Irrtümer menschlicher Erkenntnis.55 Dort aber, wo man durch die Vernunft selbst zu urteilen genötigt ist, verhält es sich wieder anders. Dies ist nach Kant die Situation der praktischen Vernunft, bei der es nicht darum geht, urteilen zu wollen, sondern darum, urteilen zu müssen.56 Wo es also nicht „willkürlich ist, ob man über etwas bestimmt urtheilen wolle oder nicht, wo ein wirkliches Bedürfniß und wohl gar ein solches, welches der Vernunft an sich selbst anhängt, das Urtheilen nothwendig macht, und gleichwohl Mangel des Wissens in Ansehung der zum Urtheil erforderlichen Stücke uns einschränkt: da ist eine Maxime nöthig, wornach wir unser Urtheil fällen; denn die Vernunft will einmal befriedigt sein"57. Die Grenzen möglicher Erfahrung zu überschreiten, ist demnach ein in der Vernunft selbst begründetes Erfordernis. Kant nennt es „das Recht des Bedürfnisses der Vernunft". Dieses ist ein subjektiver Grund, der die Vernunft veranlaßt, „etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objective Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf; und folglich sich im Denken, im unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Räume des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürniß zu orientiren".58 Nun könnte die Vernunft, wenn erst einmal die Erfahrungsgrenzen überschritten sind, sich Beliebiges ausdenken. Kant nennt ein Beispiel: die Vorstellung eines rein geistigen Naturwesens.59 Aber eine solche phantastische Vorstellung habe keinen Anhalt im „Bedürfnis" der Vernunft selbst: „Es ist also gar kein Bedürfniß, es ist vielmehr bloßer Vorwitz, der auf nichts als Träumerei ausläuft, darnach zu forschen, oder mit Hirngespinsten der Art zu spielen."60 Ganz anders verhält es sich mit den eigentlichen Vernunftbegriffen, zum Beispiel mit dem „Begriffe von einem ersten Urmsen, als oberster Intelligenz und zugleich als dem höchsten Gute"61. In diesem Falle besteht sogar ein mehrfaches Vernunftbedürfnis, diesen Begriff vorauszusetzen: 1. Das rationale Bedürfnis, dem Begriff aller eingeschränkten Dinge den Begriff des Uneingeschränkten zugrunde zu legen. 2. Das rationale Bedürfnis, dem Begriff des Uneingeschränkten 55 56 57 58
59 60 61
Vgl. VIII, S. 136. Vgl. VIII, S. 139. VIII, S. 136. K a n t gibt anmerkungsweise folgende Bestimmung des Begriffs der vernünftigen Orientierung im Denken: „Sich im Denken überhaupt orientiren, heißt also: sich bei der Unzulänglichkeit der objectiven Principien der Vernunft im Fürwahrhalten nach einem subjectiven Princip derselben bestimmen" (VIII,136, Anm.). Vgl. ebd. Ebd. Ebd.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
zugleich Dasein zuzusprechen, weil die Vernunft sonst weder für die Zufälligkeit der Existenz der Dinge in der Welt noch für die Zweckmäßigkeit und Ordnung in ihr einen befriedigenden Grund angeben könnte. 3. Das rationale Bedürfnis, einen „verständigen Urheber" anzunehmen, weil diese Annahme die einzige rationale Erklärungsmöglichkeit darstellt. Somit kann Kant über den Vernunftbegriff einer ersten „verständigen Ursache" feststellen: „...so bleibt bei diesem Mangel der Einsicht doch ein genügsamer subjectiver Grund der Annehmung derselben darin, daß die Vernunft es bedarf, etwas, was ihr verständlich ist, voraus zu setzen, um diese gegebene Erscheinung daraus zu erklären, da alles, womit sie sonst nur einen Begriff verbinden kann, diesem Bedürfnisse nicht abhilft." 6 2 Kriterium für die Abgrenzung von Vernunftideen gegenüber bloßer Phantasie und willkürlichen Annahmen bildet also wiederum die Vernunft. Diese selbst ist das Organon, mittels dessen die Philosophie zu Einsichten gelangt, denen zwar die empirische Grundlage fehlt, weil sie die Grenzen möglicher Erfahrung übersteigen, die aber dennoch nicht einfach auf bloßen Eingebungen beruhen, sondern rational begründet sind. In der Schrift „Was heißt: sich im Denken orientieren?" prägt Kant für diesen mittleren Weg zwischen Skepsis und Dogmatismus den Begriff „Vernunftglaube". Der Ausdruck „Vernunftglaube" erlaubt es Kant, auf einige Wesensmerkmale philosophischer Erkenntnis aus reiner Vernunft aufmerksam zu machen: 6 3 1. Der Vernunftglaube ist dadurch gekennzeichnet, daß er sich „auf keine andere Data gründet als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind". 2. Wie jeder Glaube, so ist auch der Vernunftglaube ein „subjectiv zureichendes, objectiv aber mit Bewußtsein unzureichendes Fürwahrhalten". 3. Der Vernunftglaube ist daher dem Wissen entgegengesetzt. 4. D a die Gründe des Fürwahrhaltens nicht objektiv gültig sind, kann der Vernunftglaube durch keine Anstrengung des Denkens je zu Wissen werden. Der reine Vernunftglaube kann „durch alle natürliche Data der Vernunft und Erfahrung niemals in ein Wissen verwandelt werden, weil der Grund des Fürwahrhaltens hier bloß subjectiv, nämlich ein nothwendiges Bedürfnis der Vernunft, ist (und, so lange wir Menschen sind, immer bleiben wird)". 5. Den in praktischer Absicht vertretenen Vernunftglauben nennt Kant ein „Postulat der Vernunft". Dies soll nicht besagen, daß es sich um eine Einsicht handle, die allen Gewißheitsanforderungen genügen würde, sondern will zum Ausdruck bringen, daß das leitende Fürwahrhal62 63
VIII, S. 139. Vgl. VIII, S. 141.
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ten „dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig verschieden ist". Damit grenzt sich Kant gegen zwei Seiten ab: einerseits gegen alle Formen eines unkritischen Vernunftgebrauchs, die in „Schwärmerei" und „Aberglauben" führen 64 , andererseits gegen eine Position, welche die „Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfniß" behauptet. Es ist dies der „Vernunftunglaube, ein mißlicher Zustand des menschlichen Gemüths, der den moralischen Gesetzen zuerst alle Kraft der Triebfedern auf das Herz, mit der Zeit sogar ihnen selbst alle Autorität benimmt und die Denkungsart veranlaßt, die man Freigeisterei nennt, d.i. den Grundsatz, gar keine Pflicht mehr zu erkennen" 65 .
4. Das Schema der
Geschichtsentwicklung
„Und so ist der Ausschlag einer durch Philosophie versuchten...Menschengeschichte: Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem Gange menschlicher Dinge im Ganzen, der...sich v o m Schlechtem zum Besseren allmählig entwickelt; zu welchem Fortschritte denn ein jeder an seinem Theile, so viel in seinen K r ä f t e n steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist." 66
Nach der Klärung des Erkenntnisanspruchs, den Kant mit seinem geschichtsphilosophischen Entwurf verbindet, kann nun das dem Entwurf zugrunde liegende Entwicklungsschema aufgezeigt werden. Kants Auffassung der Geschichtsentwicklung in seiner kritischen Periode läßt eine weitgehende Übereinstimmung mit seinen frühen, naturgeschichtlichen Anschauungen erkennen. Dem aus der Naturphilosophie entnommenen Entwicklungsgedanken kommt für die Deutung der Menschheitsgeschichte konstitutive Bedeutung zu. Die weitgehende Übereinstimmung zwischen der „Allgemeinen Naturgeschichte" und der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte" zeigt sich bereits in einer Stelle aus dem Werk von 1755, die auch in der Schrift von 1784 stehen könnte: „Wenn man das Leben der meisten Menschen ansieht: so scheint diese Creatur geschaffen zu sein, um wie eine Pflanze Saft in sich zu ziehen und zu wachsen, sein Geschlecht Vgl. VIII, S. 145. VIII, S. 146. « VIII, S. 123. 64
65
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fortzusetzen, endlich alt zu werden und zu sterben. Er erreicht unter allen Geschöpfen am wenigsten den Zweck seines Daseins, weil er seine vorzügliche Fähigkeiten zu solchen Absichten verbraucht, die die übrigen Creaturen mit weit minderen und doch weit sicherer und anständiger erreichen. Er würde auch das verachtungswürdigste unter allen zum wenigsten in den Augen der wahren Weisheit sein, wenn die Hoffnung des Künftigen ihn nicht erhübe, und den in ihm verschlossenen Kräften nicht die Periode einer völligen Auswickelung bevorstände." 67 Daß im gegenwärtigen Zustand der Menschheit noch nicht alle ihre Möglichkeiten realisiert sind, daß sie sich in Entwicklung befindet und daß in ihr künftig verwirklicht sein wird, was heute nur der Möglichkeit nach in ihr angelegt ist: dies sind bleibende Überzeugungen Kants, die auch mit seinem dynamischen Naturbild übereinstimmen. Denn wie das kosmische Geschehen erst in einem Entwicklungsprozeß die gegenwärtige Ordnung realisiert hat, so befindet sich auch die Menschheit in einer Entwicklung auf eine künftige Harmonie hin. Es ist also der Entwicklungsgedanke, der die einzige Möglichkeit einer Systematisierung und rationalen Deutung der Menschheitsgeschichte erlaubt. „In der Historie ist nichts Bleibendes, was eine Idee von dem Veränderlichen an die Hand geben könnte, als die Idee der Entwicklung der Menschheit..." 68 Nun lassen sich zwei empirische Gegebenheiten anführen, die der Annahme, die Menschheitsgeschichte folge einer Entwicklung, zu widersprechen scheinen: 1. Das Faktum der menschlichen Willensfreiheit und 2. die Tatsache, daß die empirisch überblickbare Geschichte nicht nur keine sinnvolle Entwicklung, sondern ein widersinniges Geschehen zeigt. 1. Das erste der beiden Probleme besteht in der Frage, wie Freiheit der handelnden Menschen und Notwendigkeit des Entwicklungsvorgangs sich miteinander vereinbaren lassen. Kant verzichtet an dieser Stelle auf eine 67 68
I, S. 356. Die Stelle lautet vollständig: „In der Geographie ist etwas Beständiges, dessen Begriff dient, das Mannigfaltige der Beobachtung danach zu ordnen, nämlich die in Klimate, in Land und Meer geteilte Erdfläche. In der Historie ist nichts Bleibendes, was eine Idee von dem Veränderlichen an die Hand geben könnte, als die Idee der Entwicklung der Menschheit, und zwar nach dem, was die größte Vereinigung ihrer Kräfte ausmacht, nämlich bürgerliche und Völkereinheit, und zwar, wie sie mit allen ihren Hilfsmitteln und Wirkungen sich fortpflanzen (Wissenschaft, Religion, selbst Geschichte alter Völker), wodurch Menschen nach und nach aufgeklärt werden. Auf die Rechte der Menschen kommt mehr an als auf die Ordnung und Ruhe" (nach P. Menzer: Kants Lehre v o n der Entwicklung, S. 268).
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Erörterung des Freiheitsproblems und begnügt sich mit der allgemeinen Aussage, daß unabhängig davon, was für eine Auffassung von Freiheit vorliege, jedenfalls die Erscheinungen der Freiheit, also die menschlichen Handlungen, wie alle anderen Naturbegebenheiten den allgemeinen Naturgesetzen unterworfen seien. Darum könne man davon ausgehen, daß die einzelnen, dem freien Entschluß entspringenden Handlungen im großen gewissen Regelmäßigkeiten folgten. Die Untersuchung der Geschichte dürfe also berechtigterweise hoffen, „daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne; und daß auf die Art, was an einzelnen Subjecten verwickelt und regellos in die Augen fallt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können"69. Kant weist auf die Statistiken der Eheschließungen, der Geburten und Todesfalle, die bestätigen, daß Unbestimmtheit des Einzelfalls sich mit Bestimmtheit und Regelhaftigkeit bei einer großen Zahl von Fällen verbinden kann;70 und er macht schließlich noch auf die meteorologischen Vorgänge aufmerksam, auf „die so unbeständigen Witterungen, deren Eräugniß man einzeln nicht vorher bestimmen kann, die aber im Ganzen nicht ermangeln den Wachsthum der Pflanzen, den Lauf der Ströme und andere Naturanstalten in einem gleichförmigen, ununterbrochenen Gange zu erhalten"71. Bei den von Kant aufgeführten Beispielen handelt es sich jedoch nicht um Naturgesetze im strengen Sinne, sondern bloß um statistische Regelmäßigkeiten. 72 Die Beispiele machen zugleich deutlich, daß das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit nicht mit dem 69 70
71 72
VIII, S. 17. Kant bezieht sich hier auf Johann Peter Süßmilchs Werk „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des Menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen" von 1 7 4 1 , das er nach Warda in der 2. A u f l . von 1761/82 besaß (vgl. A r t h u r Warda: Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, S. 44; vgl ferner K . Weyand: Kants Geschichtsphilosophie, S. 51 f.). Bereits in seinem Werk „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" von 1763 dienen Kant diese statistischen Beispiele dazu, „es einigermaßen verständlich zu machen, daß selbst die Gesetze der Freiheit keine solche Ungebundenheit in Ansehung der Regeln einer allgemeinen Naturordnung mit sich führen, daß nicht eben derselbe Grund, der in der übrigen Natur schon in den Wesen der Dinge selbst eine unausbleibliche Beziehung auf Vollkommenheit und Wohlgereimtheit befestigt, auch in dem natürlichen Laufe des freien Verhaltens wenigstens eine größere Lenkung auf ein Wohlgefallen des höchsten Wesens ohne vielfälige Wunder verursachen sollte" (11,111). VIII, S. 17. Vgl. Klaus Weyand: Kants Geschichtsphilosophie — Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung, K ö l n 1964, S. 51, Anm. 13.
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der Vereinbarkeit von Kausalität und Teleologie verwechselt werden darf. Kant differenziert hier aber nicht. Die Schwierigkeiten, die daraus entstehen, werden später erörtert werden. 2. Das zweite Faktum, das einer Entwicklungsbetrachtung der Geschichte entgegenzustehen scheint, liegt darin, daß Menschen weder wie reine Naturwesen, d.h. rein instinktmäßig, handeln, noch wie reine Vernunftwesen, die sich in ihrem Tun durch einen verabredeten, vernünftigen Plan bestimmen lassen würden. In beiden hypothetischen Fällen wäre zu erwarten, daß die Geschichte die Gestalt eines gesetzmäßigen Entwicklungsprozesses annehmen würde. Da der Mensch aber weder ein reines Natur- noch ein reines Vernunftwesen, sondern eine Mischform beider ist, zeigt das Geschehen unter den Menschen ein wenig erfreuliches Bild: „Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll." 73 Wenn das empirische Bild der Geschichte ein widersinniges Geschehen zeigt und wenn die Menschen in ihrem Tun keinem bestimmten Plan folgen, dann ist „hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne" 74 . Um den im Widersinn verborgenen Sinn entdecken zu können, ist es also notwendig, den Naturstandpunkt einzunehmen, um so den „Naturplan" einsehen zu können, der den Fortgang der Geschichte bestimmt. Kant beschränkt seine Aufgabe darauf, „einen Leitfaden" für eine solche Naturgeschichte des Menschheitsgeschehens zu finden, und er versteht seinen geschichtsphilosophischen Entwurf als Vorarbeit für einen künftigen Newton der Geschichte: „Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden...zu finden, und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor, der die eccentrischen Bahnen der Planeten auf eine 73 74
VIII, S. 17 f. VIII, S. 18.
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unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf, und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte." 75 Wiederum ist also die Analogie zur Naturerkenntnis maßgebend. Man muß die eben zitierte, scheinbar beiläufige Bemerkung Kants genau ansehen, um den ganzen Anspruch zu erkennen, der sich in ihrer Analogie verbirgt: Es war Kepler, der die unregelmäßigen Planetenbewegungen in ihrer Regelmäßigkeit durchschaute; es war dann Newton, der ihre Regelmäßigkeit auf die allgemeinsten Naturgesetze zurückführte; und es war schließlich Kant selbst — was dieser hier nicht ausdrücklich erwähnt, aber unausdrücklich meint —, der den gegenwärtigen kosmischen Ordnungszustand als Ergebnis einer Entwicklung aus ungeordneten Anfangszuständen erklärte. Für die Geschichte gilt nun das analoge, aber zugleich umgekehrte Verhältnis: Es ist das Werden der Geschichte als Entwicklung im strengen Sinne zu begreifen, sodann die in der Entwicklung wirksame Naturursache zu erkennen und schließlich die Regel ihres Fortgangs aufzufinden. Den ersten Teil der Aufgabe glaubt Kant gelöst zu haben. Jetzt ist Kant der Kepler der Geschichte. 76 Wenn Kant von „Naturabsicht" und „Naturplan" spricht, so ist nun zu fragen, was für ein Naturbegriff hier vorliegt. Nicht gemeint sein kann offensichtlich jene Natur, die in einer bekannten Definition der „Prolegomena" folgendermaßen bestimmt wird: „Natur ist das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist." 77 Dieser Begriff bezeichnet die empirische Naturwirklichkeit. 78 Im Unterschied dazu ist die Natur, die einen Plan verfolgt, ein anderes Wort für die Schöpfung insgesamt, die also auch das menschliche Geschehen, die Geschichte, umfaßt. In der Rede von einer Natur, die Absichten hat, ist der Akzent auf den im Schöpfungsgeschehen wirksamen, dieses präformierenden Schöpfungsplan gesetzt. In der 75 76
77 78
Ebd. Daß die kleinen geschichtsphilosophischen Abhandlungen Kants aus den Jahren 1784 und 1785 die Grundlage eines im Vergleich zur älteren Geschichtsphilosophie radikal neuen Geschichtsbildes enthalten, bestätigt das folgende Urteil Ernst Cassirers: „Es scheinen nur kurze, schnell hingeworfene Gelegenheitsarbeiten zu sein...; und dennoch ist in ihnen das gesamte Fundament f ü r die neue Auffassung gegeben, die Kant v o m Wesen des Staates und v o m Wesen der Geschichte entwickelt hat. Für den inneren Fortgang des deutschen Idealismus kommt daher diesen Schriften eine kaum geringere Bedeutung zu, als sie die Kritik der reinen Vernunft in dem Kreise ihrer Probleme besitzt" (Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre, 2. Aufl., Berlin 1921, S. 237). IV, S. 294. Vgl. dazu die Definition in der „Kritik der reinen Vernunft": „Unter Natur (im empirischen Verstände) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d.i. nach Gesetzen" (B 263).
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Schrift „Zum ewigen Frieden" bemerkt Kant, daß das Wort „Natur" in theoretischen Zusammenhängen „schicklicher" und zugleich „bescheidener" sei, „als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Vorsehung, mit dem man sich vermessenerweise ikarische Flügel ansetzt, um dem Geheimniß ihrer unergründlichen Absicht näher zu kommen" 79 . Es stellt sich jetzt die Frage nach dem in der Geschichte maßgebenden Entwicklungsprinzip. Es ist im ersten Satz der „Idee" zusammengefaßt: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln."80 In diesem Satz ist der zentrale und grundlegende Gedanke der ganzen Schrift und damit der gesamten Geschichtsphilosophie Kants zu sehen. Er ist in seiner Verkürzung nicht leicht auszulegen. Die Naturbetrachtung der Geschichte nimmt also den Standpunkt der teleologischen Naturlehre ein. Erst auf ihrer Grundlage kann davon ausgegangen werden, daß alle Anlagen sich einst vollständig und zweckmäßig entfalten werden. Es bestätigt sich erneut, daß Kant mit einem außerhalb der Geschichtsbetrachtung gewonnenen und aus der Naturgeschichte abgeleiteten Prinzip an das Problem der Geschichte herantritt. Aber wie ist dieser erste Satz begründet? — Er ist begründet durch die Undenkbarkeit seines Gegenteils: „Denn wenn wir von jenem Grundsatze abgehen, so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zwecklos spielende Natur; und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leitfadens der Vernunft." 81 Wie Kant bereits in seiner Kosmologie den Zufallsstandpunkt strikt abgelehnt hatte, indem er die kosmische Entwicklung als einen zwar rein mechanisch ablaufenden, dabei aber einen im Schöpfungsakt angelegten Plan realisierenden Prozeß interpretierte, so verneint er auch in der Geschichte aus denselben Gründen den Zufallsgedanken. Auch in der Geschichte sind keine übernatürlichen Kräfte wirksam, und dennoch muß davon ausgegangen werden, daß in diesem Geschehen ein letzter Zweck realisiert werde. Es ist folglich eine berechtigte und vernünftige Annahme, „daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre" 82 . Im Zusammenhang der Erläuterung des Geschichtsziels einer weltbürgerlich geordneten Menschheit fragt Kant ausdrücklich danach, ob man die
79 80 81 82
VIII, S. 362. VIII, S. 18. Ebd. VIII, S. 29.
Der Entwicklungsbegriff Kants
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Realisierung dieses Ziels von „einem epikurischen Zusammenlauf wirkender Ursachen" erwarten dürfe, so daß sich die weltbürgerliche Staatenordnung als ein Resultat zufälliger Vorgänge ergebe, „so wie die kleinen Stäubchen der Materie durch ihren ungefähren Zusammenstoß allerlei Bildungen versuchen, die durch neuen Anstoß wieder zerstört werden, bis endlich einmal von ungefähr eine solche Bildung gelingt, die sich in ihrer Form erhalten kann". Kant nennt dies einen „Glückszufall, der sich wohl schwerlich jemals zutragen wird". 8 3 Widerlegen aber kann Kant den Zufallsstandpunkt nicht, da alle empirischen Beweismittel fehlen; er kann lediglich seine Unvernünftigkeit aufzeigen. Kant spitzt die Problematik auf eine Alternative zu, so daß das Denken genötigt ist, eine Entscheidung zwischen den beiden gegensätzlichen Möglichkeiten zu treffen. Ist es also vernünftiger, so fragt Kant, die Wirksamkeit des Zufalls anzunehmen, oder davon auszugehen, „die Natur verfolge hier einen regelmässigen Gang, unsere Gattung von der unteren Stufe der Thierheit an allmählig bis zur höchsten Stufe der Menschheit...zu führen, und entwickele in dieser scheinbarlich wilden Anordnung ganz regelmäßig jene ursprüngliche Anlagen". Die Alternative dazu wiederum faßt Kant in der rhetorischen Frage zusammen, ob man lieber wolle, „daß aus allen diesen Wirkungen und Gegenwirkungen der Menschen im Großen überall nichts, wenigstens nichts Kluges herauskomme, daß es bleiben werde, wie es von jeher gewesen ist, und man daher nicht voraussagen könne, ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende für uns eine Hölle von Übeln in einem noch so gesitteten Zustande vorbereite, indem sie vielleicht diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte in der Cultur durch barbarische Verwüstung wieder vernichten werde". Und am Ende faßt Kant den Gedankengang in der Frage zusammen, „ob es wohl venünftig sei, Zweckmäßigkeit der Naturanstalt in Theilen und doch Zwecklosigkeit im Ganzen anzunehmen". 84 Es ist bei solchen Aussagen Kants stets der erkenntnistheoretische Status zu vergegenwärtigen, den er einer philosophischen Geschichtsbetrachtung zumißt. „Endzweck", „Entwicklung", „Menschheit" sind Vernunftbegriffe oder Ideen; und erst auf ihrer Grundlage wird eine Sinndeutung der Geschichte möglich. Insofern haftet an allen Aussagen Kants über den teleologischen Geschichtsverlauf ein Moment der Wahl und Entscheidung; der Entscheidung nämlich für den Sinn in der Geschichte. 83 84
Vgl. VIII, S. 25. Vgl. ebd.
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Der erste Satz der „Idee", daß alle Naturanlagen dazu bestimmt seien, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln, enthält im Grunde, so hat sich herausgestellt, keine Momente, die über die Grundthese, daß Natur und Geschichte sich entwickeln, hinausgehen. Der erste Satz stellt nur eine Umformulierung des allgemeinen Entwicklungsgedankens dar, wobei Kant, wie erwähnt, den Entwicklungsbegriff immer im buchstäblichen Sinne versteht. Die übrigen acht Sätze der „Idee" sind — in einem weiten Sinne — Folgerungen aus dem ersten Satz. Die Sonderstellung des Menschen beruht auf seiner Vernunftbegabung. Diese ist also seine wesentliche Anlage; ihre vollständige und zweckmäßige Auswicklung bestimmt den Fortgang der Menschheitsgeschichte. Die Vernunft wirkt nun nicht „instinctmässig", sie „bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählig fortzuschreiten" 85 . Darum wird sich die Vernunftanlage nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln können. Die Naturausstattung des Menschen — Vernunft und in ihr begründete Willensfreiheit — erlaubt es dem Menschen und nötigt ihn zugleich dazu, sich selbst in Geschichte und Kultur hervorzubringen: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat." 86 Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, um die Entwicklung der vernünftigen Anlagen des Menschen voranzutreiben, ist der Antagonismus in den menschlichen Verhältnissen, d.h. die „ungesellige Geselligkeit"87 des Menschen. Allerdings bedarf dieser Antagonismus wiederum der Beschränkung und Kontrolle durch die Gesellschaftsordnung. Kant entwirft hier das Ideal einer durch „eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung' geordneten Gesellschaft. Nur in einer solchen Gesellschaft, die die größtmögliche Freiheit und „mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder" mit einer genauen Bestimmung der Grenzen dieser Freiheit verbindet, so daß sie „mit der Freiheit anderer bestehen könne", vermag sich „die höchste Absicht der Natur" in der Menschheit zu verwirklichen, „nämlich die Entwickelung aller ihrere Anlagen". 88
85 86 87 88
VIII, S. 19. Ebd.; im Original ganz gesperrt. VIII, S. 31. Vgl. VIII, S. 22.
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Hier schließt sich ein Problem an, das Kant als das „schwerste" bezeichnet; es wird deshalb „von der Menschengattung am spätesten aufgelöset" werden. 89 Es besteht darin, daß „der Mensch ein Thier" ist, das, „wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat". Da es sich hierbei um ein anthropologisches Faktum handelt, gilt dasselbe wiederum für jeden möglichen Herrn: auch er ist ein Tier, das einen Herrn nötig hat. Dieses Dilemma zieht sich durch die gesamte obrigkeitliche Hierarchie und bestimmt noch die oberste Instanz: „Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein." 90 Das Geschichtsziel widerspricht der empirischen Realität. Kant sieht sich genötigt, den idealen Charakter des geschichtsphilosophisch bestimmten Endzwecks zu betonen: „Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt." 91 Eine weitere Schwierigkeit zeigt sich darin, daß die Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung von einer weltbürgerlichen Ordnung im äußeren Staatenverhältnis abhängig ist. Der bisherige Gedankengang, der an den ersten Satz anknüpfte und der hier in äußerster Verkürzung wiedergegeben wurde, wird von Kant folgendermaßen zusammengefaßt: „Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und t(tt diesem Zwecke auch äußerlichvollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann." 92 Kant fragt nun nach eventuellen empirischen Anzeichen, welche die Annäherung der Menschheit an ihre Bestimmung bestätigen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Errungenschaften des Aufklärungszeitalters. Es folgt noch ein Hinweis darauf, daß die Erkenntnis der in der Geschichte wirksamen Naturabsicht für die Verwirklichung der menschheitlichen Bestimmung selbst förderlich ist. Die Schrift endet mit einer eigentlichen Theodizee: Die philosophische Einsicht in den verborgenen Naturplan der Geschichte eröffnet einen Ausblick in einen künftigen Zustand der Menschheit, „in welchem alle Keime, die die Natur
89 50 91 92
Vgl. VIII, S. 23; im Original gesperrt. Ebd. Ebd. VIII, S. 39; im Original gesperrt.
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in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden. Eine solche Rechtfertigung der Natur — oder besser der Vorsehung — ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen" 93 . Wenn Kant seine geschichtsphilosophische Hauptschrift in einer Theodizee enden läßt, so wird man sich daran erinnern, daß Kant nur wenige Jahre später, 1791, eine kleine Schrift mit dem eindeutigen Titel „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee" publizieren wird. Es ist dies ein erneuter Hinweis auf den erkenntnistheoretischen Status, den die geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants beanspruchen, sowie auf die ihnen zugrunde liegende erkenntnisleitende Absicht, die eine sittlich-praktische ist. Es wäre also ein Mißverständnis der Philosophie Kants, aus solchen wechselnden Aussagen zu derselben Problematik auf eine innere Widersprüchlichkeit im Gesamtwerk Kants schließen zu wollen. Es gilt, bei Kant stets zwischen zwei Arten der Vernunfterkenntnis zu unterscheiden, zwischen dem Vernunftgebrauch, der zu objektiven Ergebnissen führt, und der Vernunfterkenntnis aus subjektiven Prinzipien. Diese Differenz zwischen zwei Formen des Vernunftgebrauchs ist die notwendige Konsequenz der Vernunftkritik, die einerseits die Grenzen objektiver Erkenntnis in kritischer Absicht festgelegt hat und die andererseits — wegen der Vordringlichkeit und Unabweisbarkeit der philosophischen Probleme — sich genötigt sieht, dieselben Grenzen stets wieder zu überschreiten. Auch in der Schrift über die Theodizee 94 geht es Kant nur darum, den Objektivitätsanspruch der Theodizeen zurückzuweisen und aufzuzeigen, daß die Theodizee nicht leisten kann, was sie doch eigentlich verspricht, nämlich die „moralische Weisheit in der Weltregierung" gegenüber den Zweifeln, die in der Erfahrung der Welt ihre Grundlage haben, zu rechtfer93 94
VIII, S. 30. Kant definiert hier die Theodizee folgendermaßen: „Unter einer Theodicee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt." (VIII, S. 255) Die Schrift gibt neben der erkenntniskritischen Widerlegung des Objektivitätsanspruchs der Theodizeen eine systematische Übersicht über die Theodizeeproblematik. Es sei hier nur kurz darauf hingewiesen, daß das „Zweckwidrige" in der empirischen Wirklichkeit, das gegen die Weisheit des Welturhebers sprechen könnte, dreifacher A r t ist: 1. Das schlechthin Zweckwidrige, d.h. das moralisch Böse; 2. das bedingt Zweckwidrige, d.h. das Übel und der Schmerz, wobei beide als Mittel wieder zweckvoll sein können; 3. das Mißverhältnis zwischen Verbrechen und Strafe in der Welt. Diese drei Arten der Zweckwidrigkeit verstoßen gegen die drei folgenden göttlichen Eigenschaften: gegen die Heiligkeit des Gesetzgebers, gegen die Gütigkeit des Regierers und gegen die Gerechtigkeit des höchsten Richters (vgl. VIII, S. 256 f.).
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tigen. Freilich ist wiederum zuzugeben, daß auch „diese Zweifel als Einwürfe, so weit unsre Einsicht in die Beschaffenheit unsrer Vernunft in Ansehung der letztern reicht, auch das Gegentheil nicht beweisen können". 95 Die Grenze des vernünftigen Erkenntnisvermögens besteht eben gerade darin, das Verhältnis zwischen der Welt der Erfahrung und der übersinnlichen Sphäre der „höchsten Weisheit" nicht bestimmen zu können. Kants Absicht in dieser Schrift ist demnach nur eine kritische; sie hat ihre Grundlage im Nachweis, „daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei" 96 . mögen, Bei Berücksichtigung der Differenz der beiden erwähnten Vernunftformen lösen sich auch die meisten Widersprüche auf, die in Kants Aussagen über die Teleologieproblematik immer wieder aufgezeigt worden sind. Mit dieser Problematik setzt sich der nachfolgende Abschnitt auseinander.
5. Teleologie der Entwicklung
und
Schöpfungsgedanke
„Der der eine Raupe sterben sieht und einen Papillon in ihr sieht — wird der nicht auf die Veränderung der Raupe schließen: Papillon, nichts unnütz in ihm, junge Hörner werden wachsen und stoßen. Papillon wird fliegen: Mensch wird denken."97 (Kant, nach einer Vorlesungsnachschrift Herders)
Die Deutung der Menschheitsgeschichte als Entwicklungsprozeß läßt die Zweckmäßigkeit allen Geschehens erkennen. Sie bedeutet eine teleologische Sinnbestimmung, in der selbst das so offensichtlich Negative in ihr eine positive Färbung annimmt. Übel und Bosheit finden eine Erklärung darin, daß der Antagonismus unter den Menschen den Entwicklungsmechanismus darstellt, der den Prozeß der Auswicklung der Vernunftanlagen vorantreibt. Kant hat die positive Bedeutung des Negativen in deutlichen — vielleicht allzu deutlichen — Worten herausgestellt: „Der Mensch 95 96 97
Vgl. VIII, S. 263. Ebd. Nach P. Menzer: Kants Lehre von der Entwicklung, S. 132. Die Nachschrift, die Menzer vorlag, gilt als verloren. Vgl. auch: Immanuel Kant: Aus den Vorlesungen der Jahre 1762 bis 1764 — Auf Grund der Nachschriften Johann Gottfried Herders hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, Köln 1964, S. 76.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht." 98 Ohne die „zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit" würden „alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben". Die Menschen würden dann in einem „arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe" verharren und damit könnten sie, „gutartig wie die Schafe, die sie weiden..., ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat". Sie vermöchten ihrer Vernunftbestimmung nicht gerecht zu werden und „würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks" unausgefüllt lassen. „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen." 99 Die Übel der Welt, „die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen antreiben, verrathen also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe" 100 . Es ist nun zu prüfen, ob diese teleologische Geschichtsauslegung von 1784 nicht durch die „Kritik der Urteilskraft" aus dem Jahr 1790 wieder in Frage gestellt wird. Zeigt die Schrift von 1784, wie die Mannigfaltigkeit der einzelnen Ereignisse auf die Einheit eines zweckmäßigen Ganzen bezogen ist, so weist das Werk von 1790 nach, daß Zweckmäßigkeit bloß den Status einer subjektiven Maxime der Urteilskraft hat. Es muß deshalb das geschichtsphilosophische Teleologieproblem auch noch vom Standpunkt der „Kritik der Urteilskraft" aus thematisiert werden. In seiner dritten Kritik zeigt Kant auf, daß der Zweck nicht als irgendein objektiver Wirkfaktor in oder hinter den Dingen vorgestellt werden kann. Der Zweck ist vielmehr ein apriorisches Prinzip der reflektie-
VIII, S. 21. Vgl. ebd. 100 VIII, S. 21 f. — Man vergleiche dazu die Reflexion Nr. 1468, in der die Verbindung von Kants pessimistischem Menschenbild mit seiner optimistischen Einschätzung der Geschichtsentwicklung der menschlichen Gattung besonders deutlich zum Ausdruck kommt: „Welches sind die Triebfedern, deren sich die Natur zur Hervorbringung der bürgerlichen Gesellschaft bedient? Der Eifersucht, des Mistrauens, der Gewaltthätigkeiten, welche die Menschen nöthigen, sich Gesetzen zu unterwerfen und die Wilde Freyheit aufzugeben. Daher kommt die Entwicklung aller guten Naturanlagen... Der Character der Menschheit ist die Anlage der Entwikelung der Vollkommenheit durch Freyheit vermittelst der einander entgegen strebenden Triebfedern der Thierheit vom M i n i m a der Naturgeschicklichkeit an" (XV, S. 647 f.). 98 99
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renden Urteilskraft, das in der Beurteilung des Gegebenen leitend wird. Der in dieser Weise reduzierte Zweckbegriff bezeichnet ein subjektives Ordnungsschema, das es ermöglicht, die Natur und die Geschichte so zu betrachten, als ob sie durch eine zwecksetzende Instanz bestimmt wären. Sind mit dieser Kennzeichnung des Zweckbegriffs, so ist nun zu fragen, bereits sämtliche Möglichkeiten seiner Anwendung auf Entwicklungsprozesse erschöpft? Diese Frage ist zu verneinen. Denn überall dort, wo uns Entwicklungszusammenhänge unmittelbar vorliegen, kann der Zweck nicht mehr nur als subjektives Prinzip der Betrachtung gelten. Dies ist bei den Lebensprozessen der Fall. Denn hier handelt es sich um Naturabläufe besonderer Art, in denen nicht nach dem mechanistischen Schema aus bleibenden Teilen ein Ganzes entsteht, sondern umgekehrt das Ganze das Bleibende in der Veränderung der Teile darstellt. Die organischen Lebensprozesse geben sich auch für den empirischen Standpunkt als teleologisch gerichtete Entwicklungsverläufe zu erkennen. Bei ihnen handelt es sich nach Kant um objektive Zweckmässigkeit. Ein Organismus kann deshalb als ein „Naturzweck" bezeichnet werden.101 „Ein organisirtes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft und zwar eine solche, die es den Materien mittheilt, welche sie nicht haben (sie organisirt): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann."102 Damit ist allerdings noch nichts darüber entschieden, in welcher Art und Weise die Organisation der Lebensprozesse zustande kommt. Vielmehr geht es hier nur um die Feststellung, daß neben dem Kausalmechanismus noch eine andere Bewegungsform, der teleologische Prozeß, in der Natur vorkommt. Kant veranschaulicht den Unterschied am Beispiel des Geschehens, wie es in einem Uhrwerk abläuft. Dieser Geschehenstypus läßt sich nicht auf einen organischen Entwicklungsprozeß übertragen. Die Grenzen der mechanistischen Auffassung der „organisirten Natur" zeigen sich auch darin, daß wir von der Uhr nicht erwarten können, daß ein Rad in ihr das andere, ja eine Uhr die anderen Uhren hervorbringt. 103 Dennoch beharrt Kant darauf, daß die Teleologie kein besonderes Prinzip der Naturerklärung sein kann. Alle Erklärung der Natur muß 101 102 103
Vgl. V, S. 374. Ebd. Vgl. ebd.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
mechanistisch vorgehen. Andernfalls würden wir „der Natur absichtlichwirkende Ursachen unterlegen, mithin der Teleologie nicht bloß ein regulatives Princip für die bloße Beurtbeilung der Erscheinungen, denen die Natur nach ihren besondern Gesetzen als unterworfen gedacht werden könne, sondern dadurch auch ein constitutives Princip der Ableitung ihrer Producte von ihren Ursachen zum Grunde legen" 104 . Damit aber, so bemerkt Kant, würde eine neue Art von Kausalität in die Naturwissenschaft eingeführt, „die wir doch nur von uns selbst entlehnen und andern Wesen beilegen, ohne sie gleichwohl mit uns als gleichartig annehmen zu wollen" 105 . Wenn man also mit Kant Kausalität und Teleologie als zwei Ordnungsformen betrachtet, dann kann zwischen beiden keine Antinomie bestehen, obwohl dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Denn die Maxime der Kausalität lautet: „Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muß als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden." Und die Maxime der Teleologie heißt: „Einige Producte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden (ihre Beurtheilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der Causalität, nämlich das der Endursachen)." 106 Dies sind zwei regulative Grundsätze der Naturbetrachtung; verwandelt man sie in konstitutive Grundsätze, welche die Möglichkeit der Objekte selbst angeben, dann würden sie folgendermaßen lauten: 1. Der Satz der Kausalität: „Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen Gesetzen möglich." 2. Der Satz der Teleologie: „Einige Erzeugung derselben ist nach bloß mechanischen Gesetzen nicht möglich." Diese Umformulierung macht deutlich, daß die beiden Sätze sich erst dann zueinander widersprüchlich verhalten, wenn sie als objektive Prinzipien verstanden werden. Wie könnten sie aber einen objektiven Status annehmen, wenn doch die Vernunft nach Kant weder den einen noch den andern dieser Grundsätze beweisen kann, „weil wir von Möglichkeit der Dinge nach bloß empirischen Gesetzen der Natur kein bestimmendes Princip a priori haben können"? 107 Indem Kant die Organismen als Naturzwecke bezeichnet, weist er darauf hin, daß das teleologische Ordnungsschema „schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine schlechterdings nothwendige Ma-
104 105 106
V, S. 360 f. V, S. 361. V, S. 387. Vgl. ebd.
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xime" ist, und wir es also „unentbehrlich nöthig" haben, „der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen". 108 Kant bezeichnet an dieser Stelle die teleologische Maxime als einen „Leitfaden", der sich im Naturstudium bewährt habe und den auf das Ganze der Natur anzuwenden wir „wenigstens versuchen müssen, weil sich nach derselben noch manche Gesetze derselben dürften auffinden lassen, die uns nach der Beschränkung unserer Einsichten in das Innere des Mechanisms derselben sonst verborgen bleiben würden" 109 . Ein solches Vorgehen ist um so legitimer, als der kausalmechanistische Standpunkt sich als unfähig erweist, die organischen Vorgänge begreifen zu können. „Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen." 110 Allerdings, fügt Kant einschränkend hinzu, könne man eine Erzeugung organisierter Wesen ohne Wirksamkeit einer leitenden Naturabsicht doch auch wieder nicht ausschließen, denn: „...woher wollen wir das wissen?" 111 Kant hält also eine mechanistische Erklärung der Lebensvorgänge für ausgeschlossen. 112 108 109 110
1,1 112
Vgl. V, S. 398. Ebd. V, S. 400. — Diese bekannte Stelle hat eine frühe Fassung in der „Allgemeinen Naturgeschichte". In der Vorrede zu diesem Werk bemerkt Kant, man könne zwar die Entwicklungsgeschichte des Himmels, nicht aber diejenige „von den geringsten Pflanzen oder Insect" rational einsehen. In der organischen Individualentwicklung stoße die mechanistische Erklärung auf eine prinzipielle Grenze. In Parallelität zu seinem Wort, man möge ihm Materie geben, und er wolle zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll, fragt Kant: „Ist man im Stande zu sagen: Gebt mir Materie, ich will euch geigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne?" Er meint, man müsse hier schon beim ersten Schritt „aus Unwissenheit der wahren innern Beschaffenheit des Objects" scheitern. Man dürfe sich darum nicht befremden lassen durch seine Behauptung, daß eher „der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird" (vgl. I, S. 230). Ebd. Es ist wichtig zu sehen, daß Kant nur eine mechanistische Erklärung der Lebensvorgänge bestreitet, aber die Frage einer mechanistischen Lebensentstehung offen läßt. (Anders akzentuiert dagegen Reinhard Low: Philosophie des Lebendigen, Frankfurt a. M. 1980, S. 180.) Kants primäres Interesse gilt auch in dieser Thematik dem in kritischer Absicht unternommenen Nachweis der Grenzen der Vernunfterkenntnis. Aus der Tatsache, daß
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Deshalb rechnet er zwar nicht mit einem „Newton des Grashalms" 113 , wohl aber mit einem „Newton der Geschichte" 114 . In der „Kritik der Urteilskraft" zeigt Kant, daß es unumgänglich ist, „der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen", wenn man die organischen Vorgänge begreifen will. Die teleologische Maxime der reflektierenden Urteilskraft erweist sich als ein unerläßliches Denkmittel. Es ist deshalb legitim, die teleologische Betrachtungsweise auf das Ganze der Welt auszudehnen. Wird dies nicht, so fragt Kant, auf einen Gottesbeweis hinauslaufen müssen? Er verneint dies. Denn auch die vollständigste Teleologie beweist „nichts weiter, als daß wir nach Beschaffenheit unserer Erkenntnißvermögen, also in Verbindung der Erfahrung mit den obersten Principien der Vernunft, uns schlechterdings keinen Begriff von der Möglichkeit einer solchen Welt machen können, als so, daß wir uns eine absichtlich-wirkende oberste Ursache derselben denken" 115 . Die in der Natur wirksamen Zwecke lassen sich nicht als Zwecke beobachten; sie sind vielmehr in der Reflexion aufgrund einer Maxime der Urteilskraft hinzugedacht, d.h., sie sind uns nicht durch die Objekte selbst gegeben. 116 Man kann deshalb nicht von der zweckhaft verstandenen Natur auf eine zwecksetzende Vernunft schließen, weil dieser Schluß auf den subjektiven Bedingungen der reflektierenden Urteilskraft beruht. Objektiv-dogmatisch gefaßt, so erklärt Kant, würde dieser Schluß zwar zur Aussage führen: „Es ist ein Gott"; für uns Menschen aber sei nur die folgende „eingeschränkte Formel" erlaubt: „Wir können uns die Zweckmäßigkeit, die selbst unserer Erkenntniß der inneren Möglichkeit vieler Naturdinge zum Grunde gelegt werden muß, gar nicht anders denken und begreiflich machen, als indem wir sie und überhaupt die Welt uns als ein Product einer verständigen Ursache (eines Gottes) vorstellen." 117 wir bei der mechanistischen Erklärung der Lebensprozesse auf Grenzen stoßen und also genötigt sind, eine Zweckmäßigkeit zu unterstellen, können folglich nur erkenntniskritische, aber keine inhaltlich neuen Einsichten gewonnen werden. Wollte man sich bei der Erklärung organischer Prozesse auf „eine nach Zwecken wirkende Ursache berufen: so würden wir ganz tautologisch erklären und die Vernunft mit Worten täuschen". Erst recht ist es untersagt, sich mit dem Teleologiegedanken „ins Überschwengliche" zu verlieren, wodurch die „Vernunft dichterisch zu schwärmen verleitet wird, welches zu verhüten eben ihre vorzüglichste Bestimmung ist" (VIII, S. 410). 113
114 115 116 117
Vgl. Helmuth Plessner: Ein Newton des Grashalms? In: Argumentationen — Festschrift für Josef König, Göttingen 1964, S. 1 9 2 - 2 0 7 . Vgl. VIII, S. 18. V, S. 399. Vgl. ebd. V, S. 400.
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So sieht sich die Vernunft einerseits dazu genötigt, die Naturvorgänge teleologisch zu betrachten, und deshalb ist auch der Schluß vom zweckmäßigen Naturverlauf auf die zwecksetzende, göttliche Instanz unausweichlich; andererseits muß sie erkennen, daß sie sich dabei nur von der teleologischen Maxime der reflektierenden Urteilskraft leiten läßt. Dies erklärt das Schwanken Kants in der Frage nach der Beweisbarkeit Gottes. In der „Allgemeinen Naturgeschichte" anerkennt Kant die Beweiskraft des physikotheologischen Gedankengangs ohne Einschränkung: Der Entwicklungscharakter des Universums verweist logisch zwingend auf einen göttlichen Schöpfungsursprung, aus dem sich der Kosmos in seiner gegenwärtigen Ordnung allmählich ausgewickelt hat. In dieser naturgeschichtlichen Sicht bedingen sich Entwicklungs- und Schöpfungsgedanke wechselseitig, denn „Entwicklung" meint bei Kant immer — in einem streng organologischen Sinne — Auswicklung dessen, was bereits im Anfangszustand der Möglichkeit nach angelegt ist. Deshalb kann Kant sagen, daß die „Auswickelung der Natur" das „herrlichste Zeugniß" ihrer Abhängigkeit vom göttlichen Urwesen gebe, wobei dieses Urwesen „sogar die Quelle der Wesen selber und ihrer ersten Wirkungsgesetze in sich hat". 118 In seiner Schrift „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" aus dem Jahr 1763 wird der physikotheologische Gottesbeweis als der einzig mögliche dargestellt. Allerdings ist sich Kant auch schon in diesem vorkritischen Werk der Grenzen des menschlichen Vernunftvermögens wie auch der UnVerhältnismäßigkeit zwischen Erkenntnismittel und Erkenntnisgegenstand durchaus bewußt. Er gibt nun in dieser Schrift dem traditionellen Gedankengang insofern eine neue Wendung, als er die Schlüßigkeit des Beweises nicht mehr von der Frage abhängig sein läßt, ob die Regelmäßigkeit und gesetzmäßige Ordnung den Dingen notwendig oder zufällig zukomme. Vielmehr gilt, „daß die Ordnung und vielfältige vortheilhafte Zusammenstimmung überhaupt einen verständigen Urheber bezeichnet, noch ehe man daran denkt, ob diese Beziehung den Dingen nothwendig oder zufällig sei" 119 . Bemerkenswert ist im vorliegenden Zusammenhang eine Aussage Kants über die zweckmäßige Organisation der Lebewesen. Bei einem Tier, so führt er aus, seien die „Gliedmaßen der sinnlichen Empfindung mit denen der willkürlichen Bewegung und der Lebenstheile so künstlich verbunden", daß man einfach „boshaft" sein müsse — da kein Mensch derart unvernünf118 119
Vgl. I, S. 226. II, S. 124.
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tig sein könne — , wenn man den „weisen Urheber" leugnen würde, „der die Materie, daraus ein thierischer Körper zusammen gesetzt ist, in so vortreffliche Ordnung gebracht hat". Aber, und dies ist das Entscheidende, Kant fügt sogleich hinzu: „Mehr folgt hieraus gar nicht." Insbesondere blieben die Fragen, ob diese Materie ewig, ob sie unabhängig oder von demselben göttlichen Urheber hervorgebracht worden sei, noch immer durchaus offen. 120 Die „Kritik der reinen Vernunft" bringt bekanntlich eine Widerlegung des physikotheologischen Gottesbeweises; obwohl es vielleicht angemessener ist, zu formulieren, Kant verweise hier das physikotheologische Argument in den Bereich innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft. Die „Kritik der Urteilskraft" schließlich wiederholt die bereits bekannten Gedanken, die jetzt aber in größerer begrifflicher Klarheit und Bestimmtheit vorliegen. Die Frage, ob man nicht aus den Naturzwecken auf einen zwecksetzenden, göttlichen Welturheber schließen müsse, kann nun dahingehend beantwortet werden, daß sie sich in objektiver Hinsicht weder positiv noch negativ entscheiden lasse. Sucht man dennoch eine Antwort mit rationalen Mitteln zu begründen, und zwar „nach dem, was uns einzusehen durch unsere eigene Natur vergönnt ist (nach den Bedingungen und Schranken unserer Vernunft)", dann haben wir aber nach Kant keine Wahl mehr, da wir in diesem Fall „schlechterdings nicht anders als ein verständiges Wesen der Möglichkeit jener Naturzwecke zum Grunde legen können". Denn nur diese positive Antwort ist in Übereinstimmung mit der „Maxime unserer reflectirenden Urtheilskraft, folglich einem subjectiven, aber dem menschlichen Geschlecht unnachlaßlich anhängenden Grunde". 121 Somit ist der Schluß vom teleologischen Charakter des Weltgeschehens auf einen göttlichen Schöpfungsursprung für Kant unabweisbar; allerdings mit der Einschränkung, daß es sich dabei um einen Beweis handelt, der keine objektive Gültigkeit beanspruchen kann, da er auf einer subjektiven Maxime beruht und also nur im Rahmen des menschlichen Vernunftvermögens zwingend ist. Aber, so fragt Kant, ist dies wirklich eine Einschränkung? Denn auf welche andere Orientierungsinstanz als die menschliche Vernunft könnte man sich berufen, wenn es sich doch um eine Fragestellung handelt, mit deren Beantwortung der Raum der Empirie zwangsläufig überschritten 120 121
Vgl. II, S. 125. Vgl. V, S . 4 0 0 f .
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wird? So können wir die Teleologie nicht anders denken, „als indem wir sie und überhaupt die Welt uns als ein Product einer verständigen Ursache (eines Gottes) vorstellen". Über diesen letzten Satz sagt Kant: „Wenn nun dieser auf einer unumgänglich nothwendigen Maxime unserer Urtheilskraft gegründete Satz allem sowohl speculativen als praktischen Gebrauche unserer Vernunft in jeder menschlichen Absicht vollkommen genugthuend ist: so möchte ich wohl wissen, was uns dann darunter abgehe, daß wir ihn nicht auch...aus reinen objectiven Gründen (die leider unser Vermögen übersteigen)...beweisen können." 122 Kants Überlegungen zur Teleologieproblematik, die in seinem Gesamtwerk einen ungleich größeren Raum einnehmen als seine Ausführungen zur Geschichtsphilosophie, müssen zugleich als Hintergrund seiner Konzeption der Menschheitsentwicklung gelesen werden. Denn das Ergebnis der „Kritik der Urteilskraft" bedeutet eine Bestätigung des geschichtsphilosophischen Entwurfs, der, wie gezeigt, letztlich nichts anderes als die Entfaltung des Grundgedankens des 1. Satzes der „Idee" darstellt, daß nämlich alle Naturanlagen dazu bestimmt sind, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. Es wird daraus auch ersichtlich, daß dem Entwicklungsgedanken im Kantischen Werk wohl eine größere Bedeutung zukommt, als sich auf den ersten Blick ermessen läßt. Die Begriffe der Entwicklung, der Teleologie und des göttlichen Schöpfungsursprungs bilden dabei eine Dreiheit sich wechselseitig bedingender Vorstellungen. Sie können als das konstitutive Schema der praktischen Philosophie Kants interpretiert werden. 123 Obwohl Kants natur- und menschheitsgeschichtlicher Entwicklungsbegriff sein Vorbild in der organischen Entwicklung hat, darf doch auch wieder nicht die Differenz zwischen den beiden Begriffen übersehen werden. Für die organische, ontogenetische Entwicklung lehnt Kant die Präformationslehre ab und spricht sich für die epigenetische Auffassung
122 123
V, S. 400. Die konstitutive Bedeutung der Trias v o n Schöpfungs-, Entwicklungs- und Teleologiegedanken läßt sich von der „Allgemeinen Naturgeschichte" bis zur „Kritik der Urteilskraft" verfolgen. Dies ist nicht nur eine Bestätigung für die Einheit und Geschlossenheit des Kantischen Lebenswerks, sondern dürfte auch damit übereinstimmen, daß die Gottesfrage im Spätwerk eine zentrale Bedeutung erlangt. Daß der Gottesgedanke in den Mittelpunkt der Reflexionen des alten Kant rückt, im „Opus postumum" eine Neueinschätzung erfahrt und dadurch eine neue Stellung im Gesamtsystem einnimmt, sind Ergebnisse der Kantforschungen H. A . Salmonys, die er in Vorlesungen zugänglich gemacht hat.
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aus. 124 N u n darf aber die zurückgewiesene Präformationslehre organischer Entwicklung nicht mit der Präformation verwechselt werden, die der Natur- und Geschichtsentwicklung durch den göttlichen Schöpfungsursprung vorgegeben ist. Die Geschichte des Kosmos und der Menschheit versteht Kant als mechanisch ablaufende Entwicklungsprozesse, die in ihrem Verlauf durch den SchöpfungsVorgang prädeterminiert sind. Der so gefaßte Entwicklungsgedanke erlaubt eine Verbindung der kausalen mit der teleologischen Betrachtungsweise. Entwicklung ist das begriffliche Schema, das es ermöglicht, miteinander kausal verknüpfte Teile als ein teleologisch bestimmtes Ganzes zu denken. Aus diesen Gründen konnte Kant die Gesetze der Mechanik Newtons auf den Kosmos anwenden und eine entwicklungsgeschichtliche Kosmologie entwerfen; aus denselben Gründen kann er einen „Newton der Geschichte" erwarten, aber darf auf keinen „Newton des Grashalms" hoffen.
6. Geschichtsentwicklung als Fortschritt „Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten." 125
Die Entwicklungsdeutung der Menschheitsgeschichte interpretiert diese als ein planvolles Geschehen zwischen dem Schöpfungsursprung und einem künftigen Ende und Ziel. Der Realisierungsprozeß der im Ursprung angelegten Möglichkeiten nimmt die Gestalt einer Höherentwicklung an. Die Gattungsgeschichte ist nach Kant Fortschrittsgeschichte. Der Begriff des Fortschritts verweist auf den des Endzwecks. Der Endzweck der Geschichte gibt die menschliche Bestimmung vor. Es ist mit dem geschichtsphilosophischen Entwurf also zugleich auch ein regulatives Prinzip für die praktische Philosophie insgesamt gefunden. Der Mensch ist zur Vernunft bestimmt. Dieser fundamentale Glaubenssatz erfährt im Rahmen von Kants philosophischem System eine allseitige Absicherung und kann deshalb nicht einfach nur als Übernahme des Vernunftglaubens der Aufklärung verstanden werden. N u n kommt allen Bemühungen um eine Selbstbegründung der Vernunft prinzipiell nur ein 124 125
Vgl. V, S. 422 f. VIII, S. 41.
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begrenzter Wert zu. Alle Rechtfertigungsversuche des Vernunftglaubens bleiben insofern zirkulär, als in ihnen Vernunft bereits vorausgesetzt ist. Unter Respektierung dieser grundsätzlichen Einschränkung darf aber doch festgehalten werden, daß der Vernunftglaube bei Kant erst in der Entwicklungsdeutung der Menschheitsgeschichte seine eigentliche Rechtfertigung findet. Wenn nämlich die Geschichtsphilosophie zu zeigen vermag, daß der Mensch als Gattungswesen dazu bestimmt ist, seine Naturanlage der Vernunft vollständig und zweckmäßig auszuwickeln und daß für die Realisierung dieses letzten Ziels der Geschichte die Einrichtung vernünftiger Zustände gesellschaftlichen Zusammenlebens erforderlich sind, so handelt es sich hierbei um eine Einsicht, die im Rahmen des gesamten philosophischen Systems insofern fundamentalen Rang hat, als sie überhaupt erst erklärbar macht, weshalb der Mensch sich an der Vernunft orientieren soll. Dies zeigt sich sehr deutlich an einer Stelle der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". Hier fragt Kant ausdrücklich danach, aus welchen Gründen man überhaupt dem Sittengesetz Folge leisten solle. Warum also, fragt er, soll ich mich als ein vernünftiges Wesen — und mit mir auch alle anderen mit Vernunft begabten Wesen — dem kategorischen Imperativ unterwerfen? Ein bestimmtes Interesse könne es nicht sein, das mich dazu treibe, denn dann handelte es sich nicht mehr um einen kategorischen Imperativ, „...aber ich muß doch hieran nothwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art afficirt werden, bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjective Nothwendigkeit wird von der objectiven unterschieden." 126 Der Mensch als reines Vernunftwesen ist zwar eine bloße Fiktion, aber eine Fiktion, die in der Geschichtsphilosophie eine gewisse Rechtfertigung erhält. Denn der Appell an die Vernunft wäre unbegründet ohne Aussicht auf die Realisierung der menschlichen Vernunftanlagen in der Zukunft der Menschheitsgeschichte. Erst in der Geschichtsphilosophie stellt sich der Zusammenhang zwischen der sittlichen und der Vernunftforderung heraus. Die Frage also, weshalb ich mich überhaupt sittlich verhalten soll, verweist auf die Vernunft; die Frage, weshalb ich den Vernunftstandpunkt einneh126
IV, S. 449.
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men soll, verweist auf die Geschichte der Menschheit und die menschliche Bestimmung in dieser Geschichte; das Entwicklungsziel der Geschichte wiederum verweist schließlich — wie gleich zu zeigen sein wird — auf den Endzweck der Schöpfung überhaupt. Wenn ich sittlich handle, dann verhalte ich mich nach Kant in Übereinstimmung mit der Zielbestimmung der Menschheitsgeschichte wie auch der Welt überhaupt. In den Paragraphen 82 bis 84 der „Kritik der Urteilskraft" erörtert Kant die Sonderstellung des Menschen in der Natur. Der Mensch ist höchster und letzter Zweck in den verschiedenen Zweckverhältnissen im Naturgeschehen, da er alle Naturdinge für seine eigenen Ziele einsetzen, selbst aber nicht Mittel für irgendeinen anderen Zweck sein kann. „Als das einzige Wesen auf Erden, welches Verstand, mithin ein Vermögen hat, sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen, ist er zwar betitelter Herr der Natur und, wenn man diese als ein teleologisches System ansieht, seiner Bestimmung nach der letzte Zweck der Natur..." 127 Allerdings macht Kant an dieser Stelle eine Einschränkung: Letzter Zweck der Natur ist der Mensch nur dann, wenn er die Fähigkeit und den Willen hat, der Natur und sich selbst „eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genug, mithin Endzweck sein könne, der aber in der Natur gar nicht gesucht werden muß" 128 . Mit dieser Unterscheidung von „letztem Zweck der Natur" und „Endzweck" will Kant zum einen darauf hinweisen, daß der Endzweck nicht in der Natur vorliegt und sich also nicht einfach aus dieser Natur herauslesen läßt, und zum anderen verdeutlichen, daß der Mensch deswegen der letzte Zweck der Natur ist, weil er es ist, der über die Fähigkeit verfügt, sich selbst und damit der Natur den Endzweck zu setzen. Was aber ist der Endzweck? Kant gibt folgende Definition: „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf." 129 Diese Bestimmung ist zunächst nur formal. Nun ist in der Natur nichts vorstellbar, das die Bedingungen dieser Definition erfüllen könnte, da alle Zwecke in der Natur bedingt sind. Der Mensch dagegen besitzt die Möglichkeit, sich in seinem Handeln von einem unbedingten Zweck bestimmen zu lassen. Dieser unbedingte Zweck ist das Sittengesetz. Der Mensch, insofern er sich gemäß dem Sittengesetz verhält und sich diesem 127 128 129
V, S. 431. Ebd. V, S. 434.
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unterordnet, ist daher der Endzweck der Schöpfung. „Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt), als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existire. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich..." 130 Nur im Menschen als frei und sittlich, d.h. unbedingt, handelndem Wesen kann der Endzweck angesetzt werden. Würden in der Welt nur vernunftlose Wesen existieren, dann hätte das Dasein einer solchen Welt, wie Kant sagt, gar keinen Wert, weil in ihr keine Wesen existierten, die über den Wertbegriff verfügten. Erst mit der Existenz vernünftiger Wesen kommen auch Wertbeziehungen in die Welt. Aber, und dies ist nun der entscheidende Punkt, solange die Wertbeziehungen innerweltliche Zwecke betreffen, bleibt auch das Dasein dieser Vernunftwesen ohne letzten Zweck: „Wären...auch vernünftige Wesen, deren Vernunft aber den Werth des Daseins der Dinge nur im Verhältnisse der Natur zu ihnen (ihrem Wohlbefinden) zu setzen, nicht aber sich einen solchen ursprünglich (in der Freiheit) selbst zu verschaffen im Stande wäre: so wären zwar (relative) Zwecke in der Welt, aber kein (absoluter) Endzweck, weil das Dasein solcher vernünftigen Wesen doch immer zwecklos sein würde." 131 Erst die Unterordnung unter einen unbedingten Zweck verleiht der Existenz vernünftiger Wesen einen letzten Zweck. Nun sind die moralischen Gesetze, wie Kant weiter ausführt, „von der eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie etwas als Zweck ohne Bedingung, mithin gerade so, wie der Begriff eines Endzwecks es bedarf, für die Vernunft vorschreiben". Daraus folgt, daß die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen den Endzweck des Daseins der Welt bezeichnet: „Nur vom Menschen unter moralischen Gesetzen können wir, ohne die Schranken unserer Einsicht zu überschreiten, sagen: sein Dasein mache der Welt Endzweck aus." 132 Damit ist der Mensch, insofern er unter moralischen Gesetzen steht, als Endzweck bestimmt. Er muß zugleich der Endzweck der Welt sein, weil ohne den Endzweck die teleologischen Verhältnisse ohne Abschluß wären und also gar nicht als teleologische bezeichnet werden könnten: „Wenn nun Dinge der Welt, als ihrer Existenz nach abhängige Wesen, einer nach Zwecken handelnden obersten Ursache bedürfen, so ist der Mensch der Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet; und nur 130 131 132
V, S. 435. V, S. 449. Ebd.
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im Menschen, aber auch in diesem nur als Subject der Moralität ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist." 133 Der Begriff des Endzwecks weist auf den Entwicklungsbegriff als einen teleologischen Begriff zurück. Die Auslegung der Natur und der Geschichte als Entwicklungsprozesse erfordert die Annahme eines Endpunkts der Entwicklung, auch wenn dieser, wie Kant seit der „Allgemeinen Naturgeschichte" immer wieder betont, nur in unendlicher Zukunft angesetzt werden kann. Dies leitet zum Problem des Fortschritts über. In seiner Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" stellt Kant die Frage, ob das menschliche Geschlecht im ganzen zu lieben, oder ob es ein Gegenstand sei, den man mit Unwillen betrachten müsse. Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine Auseinandersetzung mit einer vorausgehenden Fragestellung. Diese lautet: „Sind in der menschlichen Natur Anlagen, aus welchen man abnehmen kann, die Gattung werde immer zum Bessern fortschreiten und das Böse jetziger und vergangener Zeiten sich in dem Guten der künftigen verlieren? Denn so können wir die Gattung doch wenigstens in ihrer beständigen Annäherung zum Guten lieben, sonst müßten wir sie hassen oder verachten..." 134 Gegen Moses Mendelssohn, der den Fortschrittsgedanken mit Entschiedenheit zurückweist, sagt Kant: „Ich bin anderer Meinung." 135 Die Bestreitung der Fortschrittsidee erscheint ihm als unvernünftig. Die Argumentation erfolgt wiederum indirekt, d.h. durch Aufzeigen der absurden Konsequenzen, die sich ergeben müßten, wenn die Menschheitsgeschichte keinen Fortschrittsprozeß darstellte. Denn in diesem Fall böte sich nicht nur einer Gottheit, sondern selbst dem „gemeinsten, aber wohldenkenden Menschen" ein „höchst unwürdiger Anblick, das menschliche Geschlecht von Periode zu Periode zur Tugend hinauf Schritte thun und bald darauf eben so tief wieder in Laster und Elend zurückfallen zu sehen". Eine Weile diesem Trauerspiel zuzuschauen, so meint Kant, vermöchte vielleicht rührend und belehrend zu sein; „aber endlich muß doch der Vorhang fallen. Denn auf die Länge wird es zum Possenspiel; und wenn die Akteure es gleich nicht müde
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V, S . 4 3 5 f . VIII, S. 307. VIII, S. 308.
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werden, weil sie Narren sind, so wird es doch der Zuschauer". Die am Ende erfolgende Strafe könne zwar, wenn es sich um ein bloßes Schauspiel handle, die unangenehme Empfindung wieder abmildern. „Aber Laster ohne Zahl (wenn gleich mit dazwischen eintretenden Tugenden) in der Wirklichkeit sich über einander thürmen zu lassen, damit dereinst recht viel gestraft werden könne: ist wenigstens nach unseren Begriffen sogar der Moralität eines weisen Welturhebers und Regierers zuwider." 136 Die Gesamtentwicklung der Geschichte ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Deshalb läßt sich die Fortschrittsfrage nicht endgültig entscheiden. Aber die Geschichte hat auch einen empirischen Teil, und zwar in ihrem bisherigen Verlauf, von dem Kant im „Streit der Fakultäten" fragt, ob in ihm nicht irgendeine Erfahrung vorkomme, die einen Hinweis für den Geschichtsfortschritt gebe. Kant sucht nicht etwa einen empirischen Beweis, sondern bloß ein „Geschichts^eichen", das „die Tendernj des menschlichen Geschlechts im Ganzen" aufzeigen könnte. Ein solches Geschichtszeichen glaubt Kant in der Französischen Revolution sehen zu dürfen, und zwar weniger im revolutionären Ereignis selbst, als in der allgemeinen „Tbeilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann" 137 . Bereits im 8. Satz der „Idee" fragte Kant, ob die Erfahrung nicht zumindest „etwas Weniges" von der Naturabsicht in der Geschichte entdekken könne. Kant nennt mehrere Grundzüge seiner Zeit, die er als bestätigende Hinweise darauf versteht, daß die Menschheit tatsächlich auf dem Wege der Realisierung des äußeren Geschichtsziels ist, also der Verwirklichung einer vollkommenen Verfassung in einer weltbürgerlichen Ordnung. 138 136
Ebd. VII, S. 85. 138 Vgl. VIII, 27 f. und ferner K. Weyand: Kants Geschichtsphilosophie, S. 100 f. - Die von Kant angeführten empirischen Belege sind im einzelnen: 1. Die modernen Staaten stehen in einem derart künstlichen Verhältnis zueinander, daß keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne an Macht und Einfluß zu verlieren. Also ist, so folgert Kant, „wo nicht der Fortschritt, dennoch die Erhaltung dieses Zwecks der Natur selbst durch die ehrsüchtigen Absichten derselben (sc. Staaten) ziemlich gesichert". 2. Auch die Einschränkung der bürgerlichen Freiheit wäre der Machtstellung des modernen Staates nachteilig. 3. Der Zuwachs an persönlichem Freiheitsspielraum verbindet sich mit der Religionsfreiheit; „und so entspringt allmählig mit unterlaufendem Wahne und Grillen Aufklärung, als ein großes Gut, welches das menschliche Geschlecht sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen muß, wenn sie nur
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Kant findet die empirischen Anzeichen für einen Menschheitsfortschritt in geistesgeschichtlichen und politischen Ereignissen seiner unmittelbaren Gegenwart. Dies wie auch die Wahl der Beispiele macht deutlich, daß sich Kants Geschichtsphilosophie nur vor dem allgemeinen Hintergrund des Aufklärungszeitalters angemessen verstehen läßt. Kants Fortschrittsvertrauen hat die Auflclärungsidee zur Voraussetzung. Kant bezeichnet sein eigenes Zeitalter als ein „Zeitalter der Aufklärung"139. Diese Namensgebung darf aber nicht als äußerliche Etikettierung der eigenen Gegenwart im Unterschied zu anderen Geschichtsperioden verstanden werden. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich nämlich der Anspruch, sich gleichsam an einem Neuanfang der Geschichte zu befinden. Mit der Aufklärung beginnt eine neue Phase der Geschichtsentwicklung. Die Aufklärung versteht sich selbst als den Prozeß, in dem die mündig gewordene Menschheit aus dem Zustand „einer immerwährenden Unmündigkeit"140 heraustritt. Es beginnt also eine neue Geschichte, von der mit besserem Recht als bisher gesagt werden kann, daß sie vom Menschen selbst hervorgebracht sei. In diesem Sinne ist der Begriff der Aufklärung ein geschichtsphilosophischer Begriff. 141 Wenn Kant die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" bestimmt,142 dann ist damit bereits ein ge-
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142
ihren eigenen Vortheil verstehen". 4. Es ist deshalb die Hoffnung berechtigt, daß die Ideen der Aufklärung auch die Regierungen ergreifen werden. 5. Die Kriege werden für das moderne Staatswesen derart verheerend sein, daß sich die einzelnen Staaten unter diesem Druck zu größeren Staatskörpern werden verbinden müssen. Und dies „giebt Hoffnung, daß nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schooß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde". — Es ist nicht zu übersehen, daß hier, w o es um empirische Anzeichen für den Geschichtsfortschritt geht, Kant die zeitgeschichtlich bedingten Ideale seiner Epoche zu Fortschrittskriterien erhebt. VIII, S. 40. VIII, S. 36. Vgl. Georg Picht: Aufklärung und Offenbarung; in: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung — Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 184 f.: „Der Begriff der Aufklärung ist also seinem Ursprung nach — sit venia verbo — ein geschichtsphilosophischer Begriff. Er soll zum Ausdruck bringen, daß sich, nach dem Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts, zu jener Zeit die große Wende in der Geschichte der Menschheit vollzog; er soll zugleich das Grundgesetz der neu anhebenden Geschichtsepoche bezeichnen." Picht führt weiter aus, daß für Kant die menschliche Geschichte in dem Maße eine Richtung und einen sicheren Fortgang bekomme, „in dem die Vernunft auf die Gestaltung der menschlichen Verhältnisse Einfluß gewinnt, in dem Maße also, in dem die Menschheit es vermag, Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu werden" (S. 184). VIII, S. 35.
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schichtsphilosophisches Programm formuliert, das sich zwar nicht auf ein bestimmtes Wissen oder bestimmte Inhalte richtet, das aber die allgemeine Forderung nach Selbstdenken und Vernunftorientierung erhebt. Unter diesem Gesichtspunkt kann die allgemeinste Bestimmung der Menschheit so gefaßt werden, daß sie darin liegt, „in der Aufklärung weiter zu schreiten". Sich diesem Fortschritt entgegenzustellen, wäre nach Kant „ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht". 143 Die Realisierung der Aufklärung hat eine äußere Bedingung zur Voraussetzung: Freiheit; und zwar, wie Kant bemerkt, „die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen" 144 . Diese Freiheit wiederum ist an einen bestimmten politischen Zustand gebunden, der die Meinungs- und Lehrfreiheit respektiert und der nach Kant erstmals in seiner Gegenwart verwirklicht worden ist. Es sind also äußere Bedingungen der Geschichtsentwicklung, die zur Aufklärung und damit zu einem geschichtlichen Neubeginn geführt haben. Die Frage, ob man denn nun in einem aufgeklärten Zeitalter lebe, muß Kant verneinen, denn „Aufklärung" ist für Kant noch kein historischer Epochenbegriff, wie für uns, sondern bezeichnet ein Ideal, das es im Fortgang der Geschichte zu realisieren gilt. Die Antwort auf die gestellte Frage, ob man in einem aufgeklärten Zeitalter lebe, lautet daher: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung."145 Die geschichtsphilosophische Fortschrittslehre Kants ist folglich nicht nur in genauer Übereinstimmung mit seiner Idee der Aufklärung, sondern findet überdies nach Kants Auffassung in den geschichtlichen Vorgängen seiner Gegenwart eine offensichtliche Bestätigung. Deshalb können seine Aussagen über den Fortschritt der menschlichen Gattung nicht einfach als Äußerungen in sittlich-praktischer Absicht verstanden werden, obwohl ihnen, da sie die menschliche Bestimmung betreffen, sittlich-praktische Bedeutung zukommt. Dies bestätigt die folgende eindeutige Stellungnahme Kants im „Streit der Fakultäten": „Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer
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Vgl. VIII, S. 39. VIII, S. 36. VIII, S. 40.
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Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde..." 146 Man mag sich fragen, wie ein derart zuversichtliches Geschichtsbild mit Kants realistischer Einschätzung der menschlichen Natur übereinstimmen kann. Zeigt sich hier möglicherweise ein Widerspruch oder doch zumindest eine Ambivalenz im Denken Kants? Die angedeutete Schwierigkeit löst sich auf, wenn man beachtet, daß Kant zwischen dem Menschen als Einzel- und als Gattungswesen genau unterscheidet. Das individuelle Leben ist zu kurz und die Aufgabe zu groß, als daß sich dem Individuum Perfektibilität zusprechen ließe. Deshalb kann der Fortschritt nur über die Gattung realisiert werden. Es bedarf also die Natur „einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwickelung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist" 147 . Im Unterschied zum Tier, das in seinem individuellen Leben zu einer vollständigen Entwicklung seiner Anlagen gelangt, ist dies beim Menschen nur für die Gattung möglich. „Bey den übrigen Thieren", so notiert Kant in einer Reflexion, „erreicht das Individuum seine Bestimmung, beym Menschen nur die Gattung die ganze Bestimmung der menschlichen Natur. Denn die Gattung soll sich aus der rohen Natur in vielen generationen zu einer Vollkommenheit empor arbeiten, dazu in der Natur zwar die Anlagen anzutreffen, die Entwickelung aber das eigene Werk des menschen, also künstlich ist und nicht vom individuum, sondern nur der Gattung geleistet werden kan." 148 Der Fortschritt betrifft die Gattung, nicht das Individuum. Es besteht demnach auch eine Differenz in der Bewertung: Was in gattungsgeschichtlicher Hinsicht positiv ist, mag für den einzelnen Menschen negativ sein. In seiner kleinen Schrift „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" aus dem Jahr 1786 erwägt Kant, ob der Mensch mit dem Übergang vom Stand der Natur zu dem der Freiheit oder — anders formuliert — vom Tier zum Vernunftwesen „gewonnen oder verloren" habe. Aber, so meint er, dies könne nun nicht mehr die Frage sein, sofern man auf die Bestimmung der menschlichen Gattung sehe, „die in nichts als im Fortschreiten zur Vollkommenheit besteht, so fehlerhaft auch die ersten selbst in einer langen Reihe ihrer Glieder nach einander folgenden Versuche, zu diesem
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VII, S. 88 f. VIII, S. 19. X V , S. 887, Refl. Nr. 1521.
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Ziele durchzudringen, ausfallen mögen". Nun zeigt sich aber, daß diese Fortschrittsgeschichte der Gattung zugleich für die einzelnen Menschen eine Leidensgeschichte bedeutet: „Indessen ist dieser Gang, der für die Gattung ein Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren ist, nicht eben das Nämliche für das Individuum." 149 Erst dadurch, daß „die Vernunft erwachte", so läßt sich der Gedanke zusammenfassen, entstanden die Übel unter den Menschen und, „bei cultivirterer Vernunft", die Laster, „die dem Stande der Unwissenheit, mithin der Unschuld ganz fremd waren". „Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk."150 In Übereinstimmung mit dieser geschichtsphilosophischen Konzeption beurteilt Kant den Menschen pessimistisch, die menschliche Gattung dagegen optimistisch.
7. Die Menschheitsentwicklung %wischen Schöpfungsursprung und Ziel „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionirlich zu entwickeln und die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten und zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung erreiche." 151
Im Rückblick auf das bisher Ausgeführte zeigt sich, daß die Überlegungen Kants auf verschiedenen Ebenen zu demselben Ergebnis gelangen: Der Kosmos wie die Menschheitsgeschichte befinden sich im Zustand der Entwicklung. In diesem Resultat stimmen die Kosmologie, die teleologische Naturlehre, die Geschichtsphilosophie, aber auch die empirische Geschichtsbetrachtung überein. Es findet überdies eine Bestätigung in der Religionsphilosophie, insofern der „einzig mögliche Beweisgrund" für die Existenz Gottes den teleologischen Entwicklungsgedanken zur Voraussetzung hat; und dasselbe Resultat bewahrheitet sich schließlich auch in der praktischen Philosophie, insofern die sittliche Bestimmung des Menschen mit dem Geschichtsziel identisch ist. 149 VIII, S. 115. — Man vergleiche hierzu die Aussage der Reflexion Nr. 1454: „Es läßt sich schweer ausmachen, ob die cultivirung und civilisirung mehr Übel bey sich führe als die rohe Natur. Sie macht unerhörte Laster so wie Studiren neue Irrthümer, aber sie vergütet sie sowohl als Schmerz durch neue Tugenden" (S. 636). 150 Ebd. 151 IX, S. 445.
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Damit erweist sich der Entwicklungsgedanke als eine elementare, wenngleich eher implizite als explizit ausgesprochene Voraussetzung der Philosophie Kants. Es sollen deshalb zum Schluß noch einige allgemeinere Hinweise zur Stellung und Funktion der Entwicklungsidee im Kantischen Werk gegeben werden. 1. Das Geschichtsziel, so sagt Kant, mag zwar in unendlicher Ferne liegen, aber dieser Endpunkt muß trotzdem heute schon der Idee nach maßgebend sein und wirksam werden, weil erst dadurch das gegenwärtige Dasein eine Rechtfertigung erhält und andernfalls die Menschheit vergeblich existiert hätte. Es muß also der ferne Zeitpunkt „wenigstens in der Idee des Menschen das Ziel seiner Bestrebungen sein, weil sonst die Naturanlagen größtentheils als vergeblich und zwecklos angesehen werden müßten; welches alle praktische Principien aufheben" 152 würde. Mit der Ausrichtung auf die Zukunft der Geschichtsentwicklung stellt sich das Problem der Mediatisierung, indem dadurch die jeweilige Gegenwart bloß zum Mittel für die Erreichung der letzten Geschichtszwecke degradiert wird. Kant sieht diese Schwierigkeit genau: „Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die altern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäfte zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten..." 153 Es handelt sich hier um eine Problematik, die allem geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenken anhaftet und die auch wiederholt gegen dieses geltend gemacht worden ist. Kant bezeichnet diese Schwierigkeit als „räthselhaft", hält sie aber zugleich für unausweichlich, wenn doch gilt: „eine Thiergattung soll Vernunft haben und als Klasse vernünftiger Wesen, die insgesammt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwickelung ihrer Anlagen gelangen" 154 . Später wird diese Schwierigkeit sogar ins Positive gewendet werden: Angesichts der zahlreichen Übel, die den Menschen nicht nur aus Naturursachen drücken, sondern die sich die Menschen vor allem auch gegenseitig bereiten, erheitere sich das Gemüt durch die Aussicht auf eine bessere Zukunft, „und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Theil selbst gesäet haben, nicht einernten werden" 155 . Damit wird der Gedanke, 152 153 154 155
VIII, S. 29. VIII, S. 20. Ebd. VIII, S. 309.
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daß es künftige Generationen besser haben sollen, gleichsam zum Trost, aber auch zum moralischen Antrieb in der Gegenwart. 1 5 6 Dieser Gedanke ist durchaus in Übereinstimmung mit dem Kantischen Pflichtbegriff, der eine Handlung nur zum Zwecke der eigenen Glückssteigerung verbietet. 2. Kants Philosophie hat im Entwicklungsgedanken, wie erwähnt, eine ihrer wichtigen Grundlagen. Allerdings verweist dieser Gedanke wiederum auf die Vorstellung eines göttlichen Schöpfungsursprungs. Die Entwicklung kann nur dadurch zustande kommen, daß ihr Mechanismus im Schöpfungsplan vorgezeichnet ist. Eine rein aus Zufallsgründen sich ergebende Entwicklung lehnt Kant als denkunmöglich ab. Zufall und Notwendigkeit sind für ihn unvereinbare Kategorien. Die Notwendigkeit des Entwicklungsfortgangs kann folglich nur entweder in einer die Entwicklung von Anfang an bestimmenden Gesetzmäßigkeit oder dann in der Lenkung durch eine göttliche Vorsehung begründet sein. Den Gedanken der Vorsehung weist Kant jedoch entschieden zurück, sofern damit „eine fremde Hand" 1 5 7 im Entwicklungsablauf unterstellt wird. Wenn Kant von Vorsehung spricht, dann versteht er darunter die „tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objectiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten und diesen Weltlauf prädeterminirenden Ursache" 1 5 8 . Die so verstandene Vorsehung bezeichnet die dem Mechanismus der Natur zugrunde liegende Form, „die wir uns nicht anders begreiflich machen können, als indem wir ihr den Zweck eines sie vorher bestimmenden Welturhebers unterlegen" 159 . Der Mechanismus der Welt- und Geschichtsentwicklung und die Vorstellung eines göttlichen Eingriffs in diese schließen sich gegenseitig aus. Deshalb lehnt Kant den Vorsehungsgedanken im Sinne des „in den Schulen gebräuchlichen" Begriffs „eines göttlichen Beitritts oder Mitwirkung (concursus)" ab. Die Vorstellung eines göttlichen Concursus ist überdies in sich selbst widersprüchlich, denn in ihr läßt man Gott, der doch „selbst die vollständige Ursache der Weltveränderungen ist, seine eigene prädeterminirende Vorsehung während dem Weltlaufe ergänzen", woraus zu folgern ist, daß diese mangelhaft gewesen sein muß. 160
Vgl. VIII, S. 113 f. I, S. 223. 158 VIII, S. 361. 159 Ebd. 160 vgl. VIII, S. 361 f.
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Gottes Wirksamkeit in Natur und Geschichte beschränkt sich bei Kant auf die Prädetermination oder Präformation der Ausgangsbedingungen, aus denen sich Natur und Geschichte rein mechanisch entwickeln werden. Die Verbindung von Schöpfungsidee und Mechanismus zeigt sich sehr schön in dem Ausdruck „Maschinenwesen der Vorsehung", den Kant in der „Anthropologie" verwendet. Im Hinblick auf die Funktion des Krieges in der Menschheitsgeschichte schreibt Kant: „...so ist der innere oder äußere Krieg in unserer Gattung, so ein großes Übel er auch ist, doch zugleich die Triebfeder aus dem rohen Naturzustande in den bürgerlichen überzugehen, als ein Maschinenwesen der Vorsehung, wo die einander entgegenstrebende Kräfte zwar durch Reibung einander Abbruch thun, aber doch durch den Stoß oder Zug anderer Triebfedern lange Zeit im regelmäßigen Gange erhalten werden." 161 Die für jede Geschichtsphilosophie entscheidende Frage, ob es denn der Mensch selbst sei, der die Geschichte in ihrem zielgerichteten Fortgang hervorbringe, oder ob eine lenkende Vorsehung oder allgemeine Gesetzmäßigkeit angenommen werden müsse, beantwortet sich auf der Grundlage der Entwicklungsidee in dem Sinne, daß es der Mensch selbst ist, aber nur insofern er vernunftbegabt ist. Denn es ist die Vernunft als die wesentliche Naturanlage des Menschen, die dazu bestimmt ist, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. 3. Obwohl die geschichtsphilosophische Entwicklungskategorie auf eine Metapher organischen Wachstums zurückgeht, kann sie sowohl für eine eher mechanistische als auch für eine mehr organische Betrachtungsweise des Geschichtsgeschehens verwendet werden. Bei Kant steht der Entwicklungsmechanismus im Vordergrund. Dabei ist das entwicklungsmechanistische Bild der Kant-Laplaceschen Theorie der Entstehung des Planetensystems leitend: Die kosmische Entwicklung realisiert das im Schöpfungsursprung angelegte Potential nach von Anfang an wirkenden Gesetzen der Mechanik. Dies läuft auf die Vorstellung einer werdenden Schöpfung hinaus, die sich erst allmählich vollendet. Auch in der Menschheitsgeschichte, die einen Teil der allgemeinen Naturgeschichte darstellt, ist dieselbe Entwicklungsmechanik wirksam. Auch in ihr bezeichnet jeder erreichte Zustand nur eine vorübergehende Konstellation. Aber aus der allgemeinen Naturmechanik läßt sich folgern, daß das Ziel dieses Geschehens in der vollständigen und zweckmäßigen Entwicklung der menschli161
VII, S. 330.
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chen Vernunftanlage bestehen muß. Diese für Kant denknotwendige Schlußfolgerung stimmt mit der sittlich-praktischen Zielbestimmung des Menschen überein. Auch im Bereich der Geschichte ist also die Schöpfungsentwicklung noch nicht abgeschlossen. Das Bewußtsein, als sittlich Handelnder — oder als Philosoph, der die Bestimmung aufzeigt — an der Vollendung der Schöpfung mitzuwirken, ist als wesentliches Motiv der Philosophie Kants an manchen Stellen spürbar, auch wenn es an keiner mit dieser Deutlichkeit ausgesprochen wird, sondern aus verschiedenen Hinweisen herausgelesen werden muß. Die Menschheitsgeschichte wird sich auf das vorgegebene Ziel hin entwickeln, es sei denn — eine Möglichkeit, die Kant verschiedentlich erwägt — eine Naturkatastrophe würde die Menschheit vernichten, bevor diese ihre Bestimmung realisieren konnte. Dies bedeutet keinen Widerspruch in der teleologischen Naturlehre, da Kant davon ausgeht, daß in der Weite des Universums noch andere vernunftbegabte Wesen existieren, von denen er vermutet, daß sie in der Vernunftentwicklung im Vergleich zum Menschen bereits weiter fortgeschritten sind.162 So ist nicht auszuschließen, daß nach sich ergebenden Bedingungen die Natur als übergeordnete Instanz in einer „Naturrevolution" die Menschheit wieder auslöscht: „Denn für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit." Doch diese Möglichkeit ändert nichts an der sittlichen Geschichtsbestimmung und Verpflichtung des Menschen. Für ihn liegt in der Respektierung des Mitmenschen das Ziel seines geschichtlichen Daseins, auch wenn der Mensch für die Allgewalt der Natur nur eine Kleinigkeit darstellt: „daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen und als eine solche behandeln, indem sie ihn theils thierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, theils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, — das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst."163
162 163
Vgl. etwa VIII, S. 23 und S. 53; ferner I, S. 352, S. 354, S. 358. VII, S. 89.
II. Kapitel: Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff Herders Im Jahr 1762 nimmt Herder in Königsberg am Logikkolleg Kants teil. Seine Vorlesungsnachschrift beginnt mit folgender Notiz: „Alles geschieht nach Regeln, Stein, Waßer bewegt sich so der Mensch in seinen mechanischen Handlungen. — Die Handlungen des Verstandes sind gewisse Phänomene an der Natur. — Der Mensch folgt diesen Regeln entweder unbewust, blos aus Gewohnheit, ohne Bewustseyn(,) so ists auch mit den Ausübungen des Verstandes..." 164 Der allgemein gehaltene Einleitungspassus der Logikvorlesung, auf den sich Herders Notizen beziehen, stimmt inhaltlich mit dem einleitenden Abschnitt der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" überein, in dem Kant auf die Regel- und Gesetzmäßigkeit aller Naturerscheinungen und damit auch der Menschheitsgeschichte hinweist. Die Parallelität der beiden Einleitungspassagen kommt in anderen, zuverlässigeren Nachschriften deutlicher zum Ausdruck und wird überdies durch die von Gottlob Benjamin Jäsche im Auftrag Kants besorgte Veröffentlichung der Logikvorlesung belegt. 165 Es ist diese Grundprämisse, die es Kant, wie im vorangehenden Kapitel aufgezeigt worden ist, allererst erlaubt, eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit in Analogie zur Naturgeschichte zu verfassen. 164 165
X X I V , 1 , S. 3. A m deutlichsten kommt die Parallelität in der Nachschrift der sog. „Logik Philippi" zum Ausdruck: „Alles richtet sich in der Welt nach gewissen Regeln und Gesetzen. Auch diejenigen Dinge welche ganz regelloß sich zu verändern scheinen sind an gewiße Gesetze gebunden. Daß es uns aber oft vorkommt, als wenn gewiße Dinge ohne alle Regeln geschähen, rührt entweder daher, weil wir die Regeln, wornach sie geschehen, mit unserm Verstände nicht einsehen können, oder weil ihre Gesetze nicht die Gesetze der grösten Vollkommenheit sind, nach welchen sie, unsrer Meinung nach, geschehen sollten. So scheinen z. E. die Veränderungen des Wetters ohne Regeln und Gesetze zu geschehen. Nichts desto weniger wechseln die Witterungen nach bestimmten Gesetzen beständig ab; welche wir aber wegen unsrer eingeschränkten Vernunft nicht einsehen." ( X X I V , 1 , S. 3 1 1 ) Dazu sind insbesondere die „Logik Pölitz" ( X X I V , 2 , S. 502) sowie der Beginn der von G. B. Jäsche herausgegebenen Logik (IX, S. 11) zu vergleichen. — Bemerkenswert ist ferner, daß das Beispiel der meteorologischen Veränderungen auch in der „Idee" als Beleg für die Regelhaftigkeit des scheinbar Regellosen angeführt wird (vgl. VIII, S. 17).
Der Entwicklungsbegriff Herders
161
Auch Herder begreift die Geschichte der Menschheit als ein einheitliches Sinngeschehen. Und obwohl er nie ein in sich geschlossenes, theoretisch ausgearbeitetes geschichtsphilosophisches System entworfen hat, so bildet doch die Überzeugung einer das Ganze des Menschheitsgeschehens übergreifenden Ordnung die tragende Voraussetzung seiner Geschichtsbetrachtungen. In der geschichtsphilosophischen Schrift von 1774, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit — Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts", wird diese Überzeugung, daß die Geschichte im ganzen kein „Ameisenspiele", kein „Gestrebe einzelner Neigungen und Kräfte ohne Zweck:" und kein „Chaos" sei, „in dem man an Tugend, Zweck und Gottheit verzweifelt", mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. 166 Dieselbe Überzeugung bildet aber auch im späteren Hauptwerk, den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", den Leitgedanken. In der Vorrede zu diesem Werk bemerkt Herder, es sei ihm seit seinen frühen Jahren, „da die Auen der Wissenschaften noch in alle dem Morgenschmuck vor mir lagen, von dem uns die Mittagssonne unsres Lebens so viel entziehet," ein wichtiger Gedanke gewesen, ob nicht auch „die Geschichte der Menschheit im Ganzen und Großen eine Philosophie und Wissenschaft haben sollte". Ähnlich wie Kant fragt sich Herder, ob es vernünftig sei, anzunehmen, daß in der Natur alles nach einer durch die göttliche Schöpfung vorgegebenen Ordnung bestimmt sei, die Menschheitsgeschichte dagegen regellos verlaufe: „Der Gott, der in der Natur Alles nach Maas, Zahl und Gewicht geordnet, der darnach das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und Verknüpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet hat, so daß vom großen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der Kraft, die Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinnegewebes nur Eine Weisheit, Güte und Macht herrschet...; wie, sprach ich zu mir, dieser Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unsres Geschlechts im Ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan haben?" 167 Damit ist die Aufgabe gestellt. Aber wie ist vorzugehen, um sie zu lösen? Kants Geschichtsentwurf hatte einen Satz der teleologischen Naturlehre zur Grundlage. Auch Herder orientiert sich am Naturgeschehen, aber nur indirekt, d.h. über das Medium der Analogie. Die Analogie der Natur ist die
166
167
Vgl. S W S , V, S. 5 1 3 ( S W S = Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877 — 1913; die römische Ziffer bezeichnet die Bandzahl). S W S , XIII, S. 7.
162
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
maßgebliche Methode des Herderschen Geschichtsdenkens, und zwar sowohl in der Schrift von 1774 wie in den „Ideen". Dadurch erhält bei Herder der Entwicklungsgedanke eine zentrale und im Vergleich zu Kant anders akzentuierte Bedeutung. Denn „Entwicklung" ist für Herder kein mechanistischer Begriff der Naturerklärung, sondern eine Naturmetapher.
1. Der
Lebensaltervergleich
„...kurz, gibts einen Faden der Entwicklung Menschlicher Kräfte durch alle Jahrhunderte und Umwandlungen in der Hand des Schicksals, und kann ihn ein Menschliches Auge bemerken — welches ist Er!" 168
Die Auflösung der Frage nach dem Faden der Entwicklung, der sich durch die Menschheitsgeschichte hindurchzieht, enthalte, wie Herder bemerkt, entweder die „tiefste, angenehmste und nützlichste Philosophie aller Geschichte", oder sie sei „außer und über Menschlichem Gesichtskreise" 169 . Herder stellt sich die Einheit der Menschheitsgeschichte vor allem in drei Bildern natürlicher Entwicklung vor: im Bild der Lebensalter, des Baumes und des Stromes. Diese dem Naturgeschehen entlehnten Metaphern haben bei Herder durchaus erkenntnisstiftende Funktion. „Entwicklung" ist hier eine die Einheit der Geschichte wiedergebende und einsehbar machende Naturmetapher. Ihre Übertragung auf die Geschichte hat ihre Rechtfertigung in der Einheit der göttlichen Schöpfung, die sowohl das Natur- wie das Menschheitsgeschehen umfaßt. Herders Sprache ist reich an Metaphern. Seine geschichtsphilosophischen Aussagen leben geradezu von der ihnen zugrunde liegenden Metaphorik. Dabei sind die Metaphern nicht bloß ein rhetorisches und schmükkendes Ausdrucks-, sondern Erkenntnismittel. Die auf die Geschichte übertragenen Naturmetaphern sind Denkbilder, die es erlauben, Einheit und Struktur der Geschichte in Analogie zu den unmittelbar erfahrbaren Naturvorgängen zu begreifen und damit eine Anschauung der geschichtlichen Gesamtentwicklung zu gewinnen. Uber den bei ihm zur Methode erhobenen Lebensaltervergleich sagt Herder mit Bestimmtheit, daß eine genauere empirische Überprüfung der betreffenden Geschichtsvorgänge 168 169
SWS, V, S. 588 f. SWS, V, 589.
Der Entwicklungsbegriff Herders
163
zeigen müßte, daß seine „Analogie von Menschlichen Lebensaltem hergenommen" kein Spiel sei. 170 Das Lebensaltergleichnis wurde schon früh auf die geschichtlichen Prozesse übertragen. Es findet sich in dieser Funktion schon bei Annaeus Florus und Augustinus. 171 Herder verwendete die Lebensalteranalogie bereits in den Literatur-Fragmenten als Gleichnis für die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. Die Fragmentsammlung „Über die neuere Deutsche Litteratur" aus dem Jahr 1767 enthält ein Fragment „Von den Lebensaltern einer Sprache" 172 . Um den Standort der deutschen Literatur und Dichtung in der Geschichte bestimmen zu können, skizziert hier Herder eine Entwicklungsgeschichte der Sprache. Den methodischen Ausgangspunkt bildet das Gesetz des Kreislaufs aller Dinge. Diesem unterliege, wie Herder ausführt, sowohl das Menschengeschlecht wie auch die „todte Welt selbst", aber ebenso jede Nation und Familie, jede Kunst und Wissenschaft. Somit gelte auch von der Sprache: „sie keimt, trägt Knospen, blüht auf, und verblühet" 173 . Die Universalität dieser Gesetzmäßigkeit erlaubt eine Charakterisierung der Sprachgeschichte im Gleichnis der individualgeschichtlichen Sprachentwicklung: „Eine Sprache in ihrer Kindheit bricht wie ein Kind, einsylbichte, rauhe und hohe Töne hervor. Eine Nation in ihrem ersten wilden Ursprünge starret, wie ein Kind, alle Gegenstände an; Schrecken, Furcht und alsdenn Bewunderung sind die Empfindungen, derer beide allein fähig sind, und die Sprache dieser Empfindungen sind Töne, — und Geberden." 174 Diese Analogie soll hier nicht weiter verfolgt werden. Im vorliegenden Zusammenhang genügt die Feststellung, daß Herder in der individualgeschichtlichen Entwicklung bereits früh ein Prinzip erkannte, das sowohl die Naturvorgänge wie auch die Geschichtsprozesse bestimmt. Die Entwicklung der Einzelpersönlichkeit wird damit zum methodischen Prinzip der geschichtsphilosophischen Deutung. Herders Entwicklungsbegriff beruht somit auf jenem Entwicklungsvorgang, der allein unmittelbar und in Selbsterfahrung gegeben ist: der Individualentwicklung. „Je tiefer jemand in sich selbst, in den Bau und Ursprung seiner edelsten Gedanken hinab 170 171
172 173 174
Vgl. S W S , V, S. 488. Vgl. A . Demandt: Metaphern f ü r Geschichte, insbes. S. 37 ff. und S. 56 ff. — Zur Lebensalteranalogie in der Bückeburger geschichtsphilosophischen Schrift vgl. Hansjörg A . Salmony: Die Philosophie des jungen Herder, Zürich 1949, S. 235 f. S W S , I, S. 151 ff. S W S , I, S. 152. Ebd.
164
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
stieg, desto mehr wird er Augen und Füsse decken und sagen: ,was ich bin, bin ich geworden. Wie ein Baum bin ich gewachsen: der Keim war da; aber Luft, Erde und alle Elemente, die ich nicht um mich satzte, musten beitragen, den Keim, die Frucht, den Baum zu bilden.'" 175 In zwei Briefen an Moses Mendelssohn vom April und Dezember 1769 bestimmt Herder die Individualentwicklung näher als einen offenen Prozeß, d.h. als eine Entwicklung zu verschiedenen Zwecken und Bestimmungen, wobei diese die jeweiligen Lebensalter ausmachten. In diesem Sinne sei in jeder Entwicklungsphase immer schon Vollkommenheit erreicht. Wir lebten zwar, um uns auszubilden und zu entwickeln, „allein jede Kraft entwikelt sich nur bis einer S t u f f e u. macht einer andern Pla%". Wir hätten in unserem gegenwärtigen Dasein genau diejenigen Lebensalter zur Bestimmung, die auch Pflanzen und Tiere so evident zeigten. „Diese Ausbildung u. Entwiklung auf dieses Leben, sie ist Zweck; sie ist Bestimmung; aber das ein unrechter Gesichtspunkt, zu leben, damit man die Welt vollkomner verlaße, als man sie betrat." Nichts in der Welt entwickle sich so, daß es vollkommener würde für einen zukünftigen Zustand: „Ich sehe bey keinem Geschöpf u. Menschen ein Aufsteigen, ich sehe ein Wechseln, einen Kreislauf, der sich verzehret, der in sich zurückfließt." 176 Und im zweiten Brief schreibt Herder: „...wenn unser Vollkommenwerden Nichts als Entwickeln ist, so ist's nichts, als Lernen, Ausbilden, Entwickeln in und für diesen Zustand. Nach diesem richtet sich die Beschaffenheit, das Maas und die Proportion im Entwickeln: für diesen ist auch der Nutzen und Zweck." Jede einzelne kleine Fertigkeit, so führt er weiter aus, erfordere ihre Situation, für die sie erworben worden sei und für die sie gelte. Nehme man die Situation weg, so verschwinde auch die dazugehörige Fertigkeit, und diese könne nicht mehr als Vollkommenheit gelten. 177 Die Überlegungen Herders in den beiden Briefen an Mendelssohn beziehen sich auf dessen Schrift über die Unsterblichkeit der Seele, den „Phädon". Herder, der den Palingenesiegedanken vertritt, erklärt sich zwar von der Beweiskraft der Mendelssohnschen Unsterblichkeitsbeweise überzeugt, er lehnt aber die daraus abgeleitete Sinnbestimmung des Daseins, die Vervollkommnung, ab. Dies ist zu berücksichtigen, wenn die
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177
SWS, VIII, S. 198. Johann Gottfried Herder: Briefe - Gesamtausgabe, 1 7 6 3 - 1 8 0 3 , Bd. 1, Weimar 1977, S. 140 (an M. Mendelssohn, etwa Anfang April 1769). Vgl. ebd., S. 178 f. (an M. Mendelssohn, 1. Dezember 1769).
Der Entwicklungsbegriff Herders
165
folgende Stelle in ihrem ganzen Gewicht zur Geltung kommen soll. Herder schreibt in Fortsetzung des Gedankens, daß im Leben Erworbenes auf die jeweilige Lebenssituation bezogen sei und in dieser ihren Zweck und Sinn habe: „Nun nehmen Sie die Summe aller unserer erlangten Fertigkeiten, die Summe aller unserer Erinnerungen von Begriffen, die Summe aller im besten Maaß erworbenen Vollkommenheiten; und endigen Sie dies Leben, das Phänomenon dieses Zustandes — was bleibt? die nackte menschliche Seele, im Grundstoff ihrer Kräfte und Fähigkeiten; alle Accidentien und zufallige Modificationen des Zustandes sind verschwunden. Sie hat aus dem Fluß der Vergessenheit getrunken: das Habituelle ihrer Vorstellungen ist vertilgt, warum? die Lage, die Position ist verändert, in der sie sich ihre Vorstellungen des Universums entwickelte. Sie hat nichts verloren, sie hat nicht gewonnen, sie ist was sie war." 1 7 8 Es ist dieser Begriff der individuellen Lebensentwicklung, der nun auch auf die Geschichtsentwicklung übertragen wird. Diesem Entwicklungsbegriff fehlt alles Fortschrittshafte. Er meint nicht Höherentwicklung in einem qualitativen Sinne. Er betont den Eigenwert einer jeden Epoche, die als ein Lebensalter der Menschheitsgeschichte nur aus sich selbst zu beurteilen ist. Die Fundierung des Begriffs der Geschichtsentwicklung in der Individualentwicklung macht es verständlich, weshalb die Bückeburger Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte" zwar eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit gibt, sich zugleich aber als eine Streitschrift gegen den Fortschrittsglauben des Aufklärungszeitalters verstehen kann. In dem geschichtsphilosophischen Entwurf von 1774 skizziert Herder auf der Grundlage der Lebensalteranalogie folgendes Entwicklungsschema der Menschheitsgeschichte: Grundlegend für die Stimmigkeit der Entwicklungsanalogie ist der einheitliche Ursprung der Menschheit und ihrer Geschichte: J e weiter die historische Forschung in der Erkenntnis der ältesten Zeiten vorankomme, desto wahrscheinlicher werde mit jeder neuen Entdeckung auch der „Ursprung des ganzen Geschlechts von Einem"m, heißt es gleich zu Beginn der Schrift. Im übrigen entziehen sich aber die Anfänge der wissenschaftlichen Nachforschung: „Der Keim fallt in die Erde und erstirbt: der Embryon wird im Verborgnen gebildet, wie's kaum die Brille des Philosophen a
178 179
Ebd., S. 179. SWS, V, S. 477.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
priori gutheißen würde, und tritt ganz gebildet hervor..." 180 Für die Zeit der Anfange ist der biblische Bericht maßgebend. 181 Das ,goldne Zeitalter der Kindlichen Menschheit" liegt im Orient, in der Epoche der alttestamentlichen Patriarchen, in „Hirtenleben" und „Patriarchenwelt". 182 Das Knabenalter der Geschichte sieht Herder in Ägypten und Phöniziern „Die Vorsehung leitete den Faden der Entwicklung weiter — vom Euphrat, Oxus und Ganges herab, %um Nil und an die Phönicische Küsten — große Schritte!" 183 Das Hirtenleben des alten Orients wird durch den Ackerbau abgelöst: „...der Patriarchengeist der ersten Hütte ging also verlohren." 184 Seßhaftigkeit und Landnahme lassen eine neue Daseinsform entstehen: „...es ward LandesSicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung, Policei...-. es ward neue Welt."x%s Es zeigen sich Anfänge der Industrialisierung. Aus der ganzen ägyptischen Kultur spricht eine veränderte Einstellung, und zwar auch noch aus dem, was die neue mit der alten Kultur verbindet: „Offenbar war allem, was beide Alter auch gemeinschaftlich hatten, der Himmlische Anstrich genommen, und es mit Erdehaltung und Ackerleim versetzt..." 186 Herders Bild der ägyptischen Kultur hebt vor allem hervor, was durch die neue Lebensart verloren gegangen ist. Aber es ist wiederum die Analogie zur Individualentwicklung, die zugleich die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung einsehbar macht: „Das Kind war dem Flügelkleide entwachsen: der Knabe saß auf der Schulbank und lernte Ordnung, Fleiß, Bürgersitten."m Im Vergleich zu Ägypten ist Phönizien der „erwachsnere Knabe". Handel und Seefahrt und die damit verbundene Ausbreitung der Zivilisation kennzeichnen diese Entwicklungsphase: „Ein erster handelnder Staat, gan^ auf Handel gegründet, der die Welt querst über Asien hinaus recht ausbreitete, Völker pflanzte und Völker band — welch ein großer neuer Schritt zur Entwicklung.!m Griechenland bildet das Jugendalter der Geschichte: „...in der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz bleiben, wo sie 180 SWS, V, S. 477 f. 181 182 183 184 185 186 187 188
SWS, V, S. 478. Vgl. SWS, V, S. 480 f. SWS, V, S. 487. Ebd. Ebd. SWS, V, S. 488. Ebd. SWS, V, S. 492.
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ihre schönste Jugend und Brautblüthe verlebt hat." 189 Dabei deutet Herder die griechische Kultur als eine Weiterführung und Verbindung der ägyptischen und phönizischen Denkart, „deren eine der andern ihr Nationelles und ihren eckichten Eigensinn benahm"190. Die Lebensalteranalogie läßt Herder alles Griechische als Fortsetzung des früher Begonnenen verstehen. Die griechische Freiheitsauffassung und Sitte, das Liebesideal, die Mythologie, Poesie, Philosophie und die schönen Künste: sie alle sind, wie Herder in Verbindung der Lebensalter- mit der Pflanzenmetaphorik sagt, „Entwickelungen uralter Keime, die hier Jahrs^eit und Ort fanden, zu blühen und in alle Welt zu duften"191. Das Mannesalter schließlich erreicht die Menschheitsentwicklung in Rom: „Es kam das Mannesalter Menschlicher Kräfte und Bestrebungen — die Römer."192 Aber auch Rom bedeutet Fortsetzung, nicht Neuanfang, wie Herder unter Anwendung der Baummetapher erklärt: „Der Stamm des Baums zu seiner größern Höhe erwachsen, strebte, Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige. Mit Griechen, Phöniciern, Ägyptern und Morgenländern zu wetteifern, haben die Römer nie zu ihrer Hauptsache gemacht; aber indem sie alles was vor ihnen war, männlich anwandten — was wurde für ein Römischer Brdkreis!"193 Die Fortsetzung der Analogie bereitet nun Schwierigkeiten. Herder hat sie offensichtlich mit dem Ende der römischen Welt abgebrochen. Verschiedene Bilder überschneiden sich jetzt und machen deutlich, wie wenig ausgearbeitet Herders geschichtsphilosophischer Entwurf ist. So wird etwa das Ende Roms mit dem Fall des Baumes verglichen, unter dem Völker und Erdteile gewohnt hatten, „...welch eine große Leere! wie ein Riß im Faden der Weltbegebenheiten! Nichts minder, als eine neue Welt war nöthig, den Riß heilen,"194 Der Endzustand Roms wird in einer Steigerung von Krankheitssymptomen bildlich beschrieben, die schließlich zum Tod führen: „...also Tod! ein abgematteter, im Blute liegender Leichnam — da ward in Norden neuer Mensch gebohren." 195 Bezeichnet der neue Mensch ein neues Lebens- oder ein neues Weltalter? Für eine Fortsetzung der Lebensalteranalogie spricht Herders 189 190 191
SWS, SWS, Ebd. SWS, SWS,
V, S. 495. V, S. 496.
V, S. 499. V, S. 500. im S W S j v > S. 514. 195 SWS, V, S. 515. 192
193
168
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Einordnung des Christentums in das Entwicklungsschema. Die Vorsehung, so führt er aus, habe es für gut befunden, in die aus der Verbindung der nördlichen mit den romanischen Völkern entstandene „Gährung Nordsüdlicher Säfte" die christliche Religion als ein neues Ferment zuzumischen. 196 Eine solche Religion aber habe zu keinem anderen Zeitpunkt entstehen und sich ausbreiten können. „Das Menschliche Geschlecht muste zu dem Deismus so viel Jahrtausende bereitet, aus Kindheit, Barbarei, Abgötterei und Sinnlichkeit allmählich hervorgezogen-, seine Seelenkräfte durch so viel Nationalbildungen, Orientalische, Ägyptische, Griechische, Römische u.s.w. als durch Staffen und Zugänge entwickelt seyn, ehe selbst die mindesten Anfange nur zu Anschauung, Begrif, und Zugestehung des Ideals von Religion und Pflicht und Völkerverbindung gemacht werden konnten." 197 Auch der Ort der Gegenwart in der Lebensalteranalogie bleibt uneindeutig. Zwar spricht Herder an einer Stelle von seiner Zeit als einem Menschen in „zu klugen, altgreisen Jahren" 198 , aber bei der Vielzahl verwendeter Metaphern bleibt es ungewiß, ob diese Stelle in Beziehung zur universalgeschichtlichen Lebensalteranalogie zu setzen ist. Die Schwierigkeiten, die sich hier bemerkbar machen, zeigen die Grenzen des Denkbildes der Lebensalter und warnen zugleich vor dem möglichen Mißverständnis, den als Gleichnis gemeinten Entwurf der Lebensalter der Menschheitsgeschichte als eine universalgeschichtliche Theorie auszulegen. Herder selbst bemerkt dazu, niemand in der Welt fühle die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als er. 199 Und in der Vorrede zu den „Ideen" kommt er ausdrücklich auf die Grenzen seines sich an der Lebensalteranalogie orientierenden ersten Geschichtsentwurfs zu sprechen. Er meint, man habe das bescheidene „Auch" vergessen; es sei ihm nie eingefallen, „mit den wenigen allegorischen Worten, Kindheit, fugend, das männliche, das hohe Alter unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerstraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Geschichte der Cultur, geschweige die Philosophie der ganzen Menschengeschichte mit sicherm Fuß ausmessen könnte" 200 . S W S , V, S. 516. S W S , V, S. 5 1 9 f. 198 S W S , V, S. 466. — Vgl. dazu A. Demandt: Metaphern f ü r Geschichte, S. 65., der aus dieser Stelle folgert, daß mit dem Ende des Römertums vermutlich der Übergang ins Greisenalter anzunehmen sei. 199 Vgl. S W S , V, S. 501. 200 S W S , XIII, S. 4. — Eine eingehende Analyse und kritische Würdigung des geschichtsphilosophischen Bildgehalts der Bückeburger Schrift gibt Heinz Meyer in seinen „Überlegungen zu Herders Metaphern f ü r die Geschichte" (Archiv f ü r Begriffsgeschichte, Bd. 25, Bonn 1 9 8 1 , S. 8 8 - 1 1 4 ) . 196 197
Der Entwicklungsbegriff Herders
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Auch wenn dieser kritische Rückblick Herders auf seinen früheren geschichtsphilosophischen Entwurf mit dem damals geäußerten Anspruch 201 nicht übereinstimmt, so erweist sich doch der geschichtsphilosophische Wert des Lebensaltervergleichs offensichtlich als beschränkt. Die Lebensaltermetaphorik ist aber geeignet, das Typische der Herderschen Entwicklungsdeutung der Geschichte auszudrücken. Dies sei im folgenden Abschnitt noch näher aufgezeigt. 2. Entwicklung
als Metapher organischen
Wachstums
„...was soll ich zu dem ¿rossen Buche Gottes sagen, das über Welten und Zeiten gehet! von dem ich kaum eine Letter bin, kaum drei Lettern um mich sehe?"202
Der Herdersche Entwicklungsbegriff als organischer Begriff hebt den Ursprung als das zentrale Moment eines Entwicklungsvorgangs hervor. Der Ursprung prädeterminiert das künftige Geschehen; er macht das Wesentliche jeder Entwicklung aus. Die Erkenntnis des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Ursprung und Entwicklung bildet die methodologische Grundlage der genetischen Erklärung. Diese bezeichnet bei Herder ein Verfahren, das ein Geschehen bis in seinen Ursprung zurückverfolgt, um es aus diesem heraus verständlich zu machen. Im Hinblick auf das Sprachursprungsproblem bemerkt Herder in den Literatur-Fragmenten, daß uns ohne Einsicht in den Ursprung einer Sache der zumeist wichtigste Teil ihrer Geschichte verborgen bleibe. „Wie der Baum aus der Wurzel: so wächset Kunst, Sprache und Wissenschaft aus ihrem Ursprünge herauf. In dem Saamenkorn liegt die Pflanze mit ihren Theilen; im Saamenthier das Geschöpf mit allen Gliedern: und in dem Ursprung eines Phänomenon aller Schatz von Erläuterung, durch welche die Erklärung desselben Genetisch wird." 203 Weil im Ursprung das ganze Wesen der sich entwickelnden Sache angelegt ist, kann, wie Herder an anderer Stelle schreibt, eine Erläuterung, die von einem späteren Entwicklungszustand ausgeht, niemals denselben Grad an Einsicht erzielen wie die genetische Erklärung. 204 Da der Entwicklungsprozeß in seinem Wesen durch den Ursprung determiniert ist, unterliegt er einer gewissen Notwendigkeit. In dem 201 202 203 204
Vgl. SWS, V, S. 488. SWS, V, S. 585. SWS, II, S. 62. Vgl. SWS, XXXII, S. 86 f.
170
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
geschichtsphilosophischen Entwurf von 1774 kommt dieser Gedanke dadurch zum Ausdruck, daß Herder eine göttliche Vorsehung in der Geschichte annimmt; wobei es allerdings dem Menschen versagt bleibt, die letzte Absicht der Geschichte zu erkennen. So ist denn die Folge der einander ablösenden geschichtlichen Lebensalter „wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung', auch wenn, wie Herder einschränkend hinzufügt, „kein Einzelnes dabei gewönne". Die universalgeschichtliche Betrachtung zeigt: „Es geht ins Große!" Sie erkennt die Geschichte als „Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenn gleich nur durch Öffnungen und Trümmern einzelner Scenen".205 Aber ein übernatürliches Eingreifen Gottes in den Fortgang der Geschichte lehnt Herder ab. Der organischen Entwicklungsidee kommt unter diesem Gesichtspunkt die doppelte Funktion zu, einerseits die Glaubensvorstellung eines unmittelbaren Eingriffs der göttlichen Vorsehung zurückzuweisen, ohne andererseits den Gedanken eines Fortgangs „in einem höhern Sinne" 206 aufzugeben. Wiederum sind es die Metaphern der Naturentwicklung, die zum Ausdruck bringen sollen, daß sich in der Menschheitsgeschichte auf natürliche Weise ein übernatürlicher Sinn realisiert. „Siehest du diesen Strom fortschwimmen: wie er aus einer kleinen Quelle entsprang, wächst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und weiter und tiefer bohret — bleibt aber immer Waßer! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer stürzt — wenns so mit dem Menschlichen Geschlechte wäre?" 207 Die Strommetapher ist in hohem Maße geeignet, die unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Momente in Herders Verständnis der Geschichtsentwicklung zu verbinden. Sie betont gleichzeitig sowohl das Moment des Fortschritts und der Linearität in der kontinuierlichen Entwicklung als auch das des Eigenwerts und der Unverlierbarkeit jedes einzelnen Faktors in der Gesamtentwicklung: „immer nur Tropfe". Die Strommetapher enthält Bild und Gegenbild: Linearität und Stetigkeit auf der einen, Unterbruch, Windung und Krümmung auf der anderen Seite („wächst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und weiter und tiefer bohret"). 208 205 206 207 208
Vgl. S W S , V, S. 513. S W S , V, S. 512. Ebd. Hans Blumenberg weist darauf hin, daß Herders Metaphern von Quelle und Strom dazu dienen, „seinen — fast möchte man sagen: untergründigen — Begriff des Fortschritts" einerseits gegen den Skeptizismus und andererseits gegen die rationalistische Fortschrittsidee abzusetzen (Beobachtung an Metaphern; in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 15, Bonn 1971, S. 192).
Der Entwicklungsbegriff Herders
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Auch die Baummetapher bringt die Eigenart der Herderschen Entwicklungsauffassung deutlich zum Ausdruck. Im Blick „aufs Ganze oder Nichtganze" der Geschichte zeigt sich folgendes Bild: „Großes Geschöpf Gottes! Werk dreier Welttheile, und fast sechs Jahrtausende! die zarte Saftvolle Wurzel, der schlanke, blühende Sprößling, der mächtige Stamm, die starkstrebende verschlungne Äste, die luftigen weit verbreiteten Zweige — wie ruhet alles auf einander, ist aus einander erwachsen!" 209 Das Bild betont zunächst die Einheit und Geordnetheit der Entwicklung, ohne eine geradlinige Aufwärtsbewegung vorauszusetzen, in der alles Bisherige bloß Vorstufe für ein Künftiges wäre: alles ruht aufeinander und ist auseinander hervorgewachsen. Dieses Hervorwachsen kann nach Herder nicht als Vervollkommnung „im eingeschränkten Schulsinne" verstanden werden. Die Entwicklungsfolge Samenkorn — Sprößling — Baum ist zwar notwendig, aber der spätere Zustand bezeichnet nicht die Summe der früheren, sondern einen jeweils neuen, veränderten und darum keineswegs vollkommeneren Zustand: „Nicht mehr Saamenkorn, wenns Sprößling, kein zarter Sprößling mehr, wenns Baum ist." 210 Und in einer Wendung des Bildes vom Zeitlichen ins Räumliche fragt Herder: Wenn jeder Ast oder Zweig Stamm und Wurzel sein wollte, wo bliebe dann der Baum? „Wir also, wenn wir Orientalier, Griechen, Römer auf Einmal seyn wollen, sind wir zuverläßig Nichts"2" Die Baummetapher dient Herder dazu, den Ort der Gegenwart in der Gesamtentwicklung zu charakterisieren und zugleich gegen das Selbstverständis des Aufklärungszeitalters zu polemisieren. Er bemerkt, daß nach allgemeiner Uberzeugung die Gegenwart ein Höchstmaß an Tugend realisiert habe, und zwar deswegen, weil Europa in der Aufklärung weiter fortgeschritten sei als je eine Zeit zuvor. Herder dagegen meint, „daß eben deshalb weniger (Tugend) seyn müße" 212 . Gegen die Überheblichkeit der Aufklärungsdenker, die er „ewige Süßler" nennt, wendet er ein, daß die höheren und feineren Teile des Baumes zugleich die schwächeren sind, „...wir sind dort oben die dünnen, luftigen Zweige, freilich bebend, und flisternd bei jedem Winde; aber spielt doch der Sonnenstral so schön durch uns! stehn über Ast, Stamm und Wurzel so hoch, sehen so weit und — ja nicht vergeßen, können so weit und schön flistern/"213 SWS, V, S. 554. 21° Ebd. 2 , 1 Ebd. 212 Ebd. 2 , 3 SWS, V, S. 555. 209
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Herders Begriff der Geschichtsentwicklung, der sich so eng an die Naturmetaphern anschließt, erlaubt je nach gewählter Perspektive gerade2u gegensätzliche Aussagen, die sich aber immer wieder auf die Einheit des vorausgesetzten Entwicklungsbegriffs zurückführen lassen. Die Kritik am Fortschrittsdenken seiner Zeit hindert Herder nicht daran, in der Menschheitsgeschichte als ganzer die Verwirklichung eines göttlichen Vorsehungsplanes zu erkennen, in dem freilich der Gegenwart eine andere Stelle zukommt, als das Aufklärungszeitalter annimmt, wenn es sich selbst als Endpunkt der Entwicklung versteht. Gerade die Fortschrittsvertreter bedachten nach Herder nicht, „daß mit dem Menschengeschlecht ein größerer Plan Gottes im Ganzen seyn könne, den eben ein einzelnes Geschöpf nicht übersiehet, eben weil nichts auf etwas blos einzelnes, zumal nicht auf den Philosophen oder Thronsit^er des achtzehnten Jahrhunderts als letzte Endlinie liefe..." 2 1 4 Dieses Vertrauen auf eine göttliche Vorsehung in der Geschichtsentwicklüng wird durch die Analogie der Natur gestützt: „Wenn das Wohnhaus bis aufs kleinste Behör ,Gottesgemäldei zeiget — wie nicht die Geschichte seines Bewohners?" Und Herder bestimmt die Geschichte als unendliches Drama, als „Epopee Gottes durch alle Jahrtausende Welttheile und Menschengeschlechte, tausendgestaltige Fabel voll eines grossen Sinns"215. Trotz dieses eschatologischen Zugs bleibt in Herders Geschichtsdeutung für den menschlichen Standpunkt alles offen und uneinsehbar. Bildung und Fortbildung einer Nation beispielsweise versteht er als „ein Werk des Schicksals: Resultat tausend mitwärkender Ursachen, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben"216. Indem Herder die Zufälligkeit der Geschichtsentwicklung hervorhebt, nimmt er zugleich Stellung gegen die Auffassung seiner Zeit, der Mensch vermöchte von nun an die Zukunft der Geschichte durch bewußtes Planen zu beherrschen. Denn die Geschichte ist nicht verfügbar. Es besteht eine Diskrepanz zwischen den bewußten Intentionen und den tatsächlichen Folgen. Es ist Unvorhergesehenes, es sind kleine Zufälle, mehr Funde als Erfindungen, die die Welt verändern. Er betont die Ohnmacht des Menschen im Fortgang der Geschichte: „Alles ist großes Schicksal! von Menschen unüberdacht, ungehoft, unbewürkt — siehst du Ameise nicht, daß du auf dem großen Rade des Verhängnißes nur kriechest?"2X1 Es ist demnach kein Widerspruch, sondern liegt in der
214 215 216 2,7
SWS, SWS, SWS, SWS,
V, V, V, V,
S. S. S. S.
558 f. 559. 539. 531.
Der Entwicklungsbegriff Herders
173
Konsequenz dieses Geschichtsbildes, wenn Herder im Zusammenhang der Erörterung der Faktoren der Geschichtsentwicklung Zufall, Schicksal und Gottheit in einem Atemzug nennt: „Dort im Großen hier im Kleinen, Zufall, Schicksal, Gottheit/"218 Wiederum dient die Metapher organischer Entwicklung dazu, die Verbindung von Zufälligem und Notwendigem im Fortgang der Geschichte zu veranschaulichen. Es liegt stets eine Vielzahl verschiedenster Anlagen vor, und je nach den Umständen wird die eine oder andere sich entwickeln können, wobei dann die Entwicklung mit Notwendigkeit abläuft. Es gilt die Regel, daß man nichts ausbildet, „als wo^u Zeit, Klima, Bedürfniß, Welt, Schicksal Anlaß gibt" 219 . Dieses Schema zieht Herder auch zur Erläuterung der Reformation heran: Ein kleines Samenkorn lag in der Erde verborgen, die Menschen besaßen es schon lange, aber beachteten es nicht. Was Luther sagte, wußte man schon vor ihm, doch jetzt sagte es Luther. Aus einer bestimmten Situation heraus setzt die Entwicklung ein: „Dies Saamenkorn fällt in die Erde! da liegts und erstarrt; aber nun kommt Sonne es zu wecken: da brichts auf: die Gefässe schwellen mit Gewalt auseinander: es durchbricht den Boden — so Blüthe, so Frucht — kaum die garstige Erdpilze wächst, wie dus träumest." 220 Dasselbe Schema verwendet Herder zur Charakterisierung der Entstehungsgeschichte der Neuzeit: Es waren Kleinigkeiten, simple mechanische Erfindungen, die teilweise sogar seit langem bekannt waren und die nun unter veränderten Bedingungen das neue Zeitalter heraufführten. Herder nennt im einzelnen: die Anwendung des Glases zur Optik, des Magnets zum Kompaß, des Pulvers zum Krieg, des Buchdrucks für die Wissenschaft, des Kalküls zur Errichtung einer neuen mathematischen Welt: „Geschüt^ erfunden: und siehe! die alte Tapferkeit der Theseus, Spartaner, Römer, Ritter und Riesen weg — der Krieg anders und wie viel anders mit diesem andern Kriege! Buchdruckerei erfunden! und wie sehr die Welt der Wißenschaften geändert! erleichtert und ausgebreitet! licht und flach geworden! ... Mit der kleinen Nadel auf dem Meer — wer kann die Revolutionen in allen Welttheilen zählen, die damit bewürkt sind. Länder gefunden, so viel größer als Europa! Küsten erobert voll Gold, Silber, Edelsteine, Gewürz und Tod! Menschen in Bergwerke, Sklavenmühlen und Lastersitten hineinbekehrt oder hinein kultiviert! Europa entvölkert,
218 219 220
Ebd. SWS, V, S. 505. SWS, V, S. 532.
174
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
mit Krankheiten und Üppigkeit an seinen geheimsten Kräften verzehrt..." 221 Was ist es also, so fragt Herder, das die Neuzeit ausmacht? — „...die Nadelspitze, %ivei oder drei Mechanischer Gedanken!"222 Im Entwicklungsbegriff verbindet Herder den Vorsehungsgedanken mit der Leugnung der Erkennbarkeit des geschichtlichen Gesamtsinns, die Vorstellung der Notwendigkeit mit derjenigen der Zufälligkeit, die Idee der Teleologie mit derjenigen der Kausalität und schließlich sein Fortschrittsvertrauen mit einer scharfen Kritik am Fortschrittsglauben der Aufklärung. Dem letzten Punkt kommt in der Schrift von 1774 besondere Bedeutung zu. Denn Herder ist, wie die Vorarbeiten zu diesem Werk bezeugen, von der Fortschrittsproblematik ausgegangen. Die Uberschrift des frühesten Entwurfs lautet: „Was für Tugenden oder Untugenden haben die Menschen zu allen Zeiten beherrscht? und ist der Hang der Menschen mit der Zeit verbeßert oder verschlimmert worden? oder sich immer gleich geblieben?" 223 Herder wendet sich in dieser Frage sowohl gegen den Fortschrittsoptimismus eines Isaak Iselin 224 als auch gegen die Skepsis eines Voltaire 225 . Von neuem erweisen sich die Naturmetaphern als ein hilfreiches Instrumentarium zur Formulierung der eigenen Position. Denn die Entwicklungsabläufe in der Natur entziehen sich der Einordnung in ein Fortschrittsschema: Welcher Entwicklungsstufe käme unter Wertgesichtspunkten der Vorrang zu in den Reihen Kindheit, Reife, Alter; Wurzel, Stamm, Wipfel; Quelle, Strom, Mündung? Im Hinblick auf den Lebensaltervergleich sagt Herder: „Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis unglücklicher, als der heftigstrebende Mann..." Und er faßt das Verhältnis der Lebensalter in das Gleichnis des Pendels, der zwar Geschwindigkeit und Ausschlag, nicht aber den Takt ändert: „...der Pendul schlägt immer mit gleicher Kraft, wenn er am weitesten ausholt und desto schneller strebt, oder wenn er am langsamsten schwanket, und sich der Ruhe näherA"226 Der Entwicklungsgedanke kann je nach Akzentuierung sowohl das finale Moment, die Ausrichtung des Geschehens auf das Entwicklungsziel 221 222 223 224 225 226
S W S , V, S. 533. S W S , V, S. 534. S W S , V, S. 587. Vgl. H. A . Salmony: Die Philosophie des jungen Herder, S. 225 ff. Vgl. etwa S W S , V, S. 511 f. S W S , V, S. 512.
Der Entwicklungsbegriff Herders
175
hin betonen als auch das organische Ganze hervorheben, in dem jedes Element einen unerläßlichen Teil zur Realisierung des Ganzen darstellt. In der Bückeburger Schrift überwiegt der zweite Entwicklungsbegriff, in den „Ideen" wird der erste in den Mittelpunkt rücken. So kann Herder im geschichtsphilosophischen Entwurf von 1774 noch kein bestimmtes Fortschrittsziel angeben und kein inhaltlich festgelegtes Entwicklungsschema formulieren. Der Sinn bleibt zwar unbestimmt, aber die Vorstellung einer Gesamtentwicklung der Menschheitsgeschichte gewährt doch Anteil am unbekannten Sinn. Über die Geschichte ist alles mit allem verbunden: „...der erste Gedanke in der Ersten Menschlichen Seele hängt mit dem letzten in der letzten Menschlichen Seele zusammen." 227 Diese Vorstellung verleiht das Gefühl des Eingebettetseins in den Gesamtsinn, auch wenn wir diesen nicht kennen. Das Problem der Mediatisierung kann sich für Herder gar nicht erst stellen, denn in dieser Sicht ist kein Geschehen nur Mittel, sondern jedes immer auch Zweck: „Aber kein Ding im ganzen Reiche Gottes kann ich mich doch überreden! ist allein Mittel — alles Mittel und Zweck zugleich..." 228 Jede Epoche muß daher nach ihren eigenen Wertmaßstäben beurteilt werden. Auf die damals häufig diskutierte Frage, welches Volk in der Geschichte wohl das glücklichste gewesen sei, kann Herder demnach nur antworten, daß diese Eigenschaft, das glücklichste zu sein, auf jedes Volk zu gewisser Zeit und unter gewissen Umständen zutraf, „oder es wars nie eines"229. Denn die menschliche Natur sei kein Gefäß einer absoluten und unveränderlichen Glückseligkeit, da die Glücksvorstellungen sich geschichtlich wandelten. Daraus folgt: „...jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!" 230 Mit dieser Aussage, daß die Glücks- und Wertvorstellungen auf die jeweilige Zeit relativ sind, nähert sich Herder dem späteren Standpunkt des Historismus. Dies erlaubt einen kurzen Vorblick auf die künftige Geschichte des Geschichtsdenkens. Denn Herders ausgeprägtes Verständnis für das Historische und für die geschichtliche Bedingtheit der Werte und Einstellungen führten nur deswegen nicht in den historischen Relativismus, weil er an der Vorstellung eines Gesamtsinns aller Geschichte festhielt. Diese von ihm nie in Frage gestellte Überzeugung bildet zugleich
227 228 229 230
SWS, V, S. 135. SWS, V, S. 527. SWS, V, S. 509. Ebd.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
den primären Rechtfertigungsgrund für Herders Entwicklungsdenken. Mit den ersten Zweifeln an dieser allgemeinen Voraussetzung wird später auch der Entwicklungsgedanke in die Krise geraten; und wenn dann diese fundamentale Prämisse endlich fällt, dann wird auch die Entwicklungsvorstellung aufgegeben werden müssen, und mit dieser wiederum ist die Möglichkeit der Geschichtsphilosophie als Sinndeutung der Geschichte aufs engste verbunden. Das Ganze der Geschichte erscheint Herder als zu groß, als daß die menschliche Vernunft es erfassen könnte. Die Einsicht in den Vorsehungsplan wäre gleichsam eine Herabwürdigung der göttlichen Weisheit auf eine menschliche Erkenntnis. Das Ganze bleibt unfaßbar: „Elend klein müste es seyn, wenn ich, Fliege, es übersehen könnte! wie wenige Weisheit und Mannichfaltigkeit, wenn ein durch die Welt Taumelnder, der so viel Mühe hat, nur Einen Gedanken vest zu halten, nie eine Verwickelung fände?" 231 Und Herder schließt — logisch fraglich — aus der Unmöglichkeit, das Ganze zu erkennen, auf dessen Existenz und damit auf eine letzte Absicht. Denn die Beschränktheit des Horizonts seines irdischen Standpunkts, so führt Herder aus, die Blendung seiner Blicke, das Fehlschlagen seiner Zwecke, das Rätsel seiner Neigungen und Begierden, das Unterliegen seiner Kräfte nur schon hinsichtlich eines Tages, eines Jahres, einer Nation oder gar eines Jahrhunderts: eben dies alles sei ihm „Bürge, daß ich Nichts, das Gan^e aber Alles sey". 232
3. Entwicklung
in Analogie der Natur
„ I n s e k t e i n e r E r d s c h o l l e , siehe w i e d e r a u f H i m mel u n d Erde!"233
Im Weimarer geschichtsphilosophischen Werk, den „Ideen", deren vier Teile zwischen 1784 und 1791 erschienen sind, nimmt Herder in der Fortschrittsfrage einen anderen Standpunkt ein, ohne jedoch die frühere Auffassung, daß jede Epoche und jede Zeit in ihr selbst zentriert sei, aufzugeben 234 : „Alle Zweifel und Klagen der Menschen über die VerwirS W S , V, S. 585. Vgl. S W S , V, S. 584 f. 233 S W S , V, S. 559. 234 Vg] e t w a S W S , XIV, S. 205: „Die Cultur rückt fort; sie wird aber damit nicht vollkommener: am neuen Ort werden neue Fähigkeiten entwickelt; die alten des alten Orts gingen unwiederbringlich unter." 231
232
Der Entwicklungsbegriff Herders
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rung und den wenig-merklichen Fortgang des Guten in der Geschichte rühret daher, daß der traurige Wanderer auf eine zu kleine Strecke seines Weges siehet. Erweiterte er seinen Blick und vergliche nur die Zeitalter, die wir aus der Geschichte genauer kennen, unpartheiisch mit einander; dränge er überdem in die Natur des Menschen und erwägte, was Vernunft und Wahrheit sei, so würde er am Fortgange derselben so wenig als an der gewissesten Naturwahrheit zweifeln." Es werden sich sogar, so fügt Herder hinzu, künftig einmal die Gesetze berechnen lassen, „nach welchen Kraft der Natur des Menschen dieser Fortgang geschiehet". 235 Das Fortschrittsziel bestimmt Herder als die Verwirklichung der Humanität, die sich auf der Grundlage der Ausbreitung der Vernunft realisieren und in der sich Schönheit mit Sittlichkeit vereinigen wird. Das neue Geschichtsbild der „Ideen" beruht auf einer Ausweitung der Geschichts- auf die Naturbetrachtung: die Menschheitsgeschichte ist als ein Teil der allgemeinen Naturentwicklung zu begreifen. Diesen Gedanken hat Herder bereits in der Skizze von 1774 erwähnt, aber nicht systematisch verfolgt. Der Sinn, so schrieb er damals, müsse wenigstens außerhalb des Menschengeschlechts liegen, da dieses nicht beanspruchen dürfe, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielmehr wirke der Mensch zu höheren und ihm unbekannten Zwecken mit, und zwar „zu Zwecken, zu denen der Morgenstern und die kleine Wolke neben ihm, du und der Wurm mitwürkt, den du jetzt zertrittst". 236 Die Geschichtsentwicklung soll, dies ist der Grundgedanke der „Ideen", aus der Naturentwicklung erschlossen werden, denn das Menschheitsgeschehen stellt nur einen Teilbereich der allgemeinen Naturgeschichte dar. Jetzt ist es die Natur insgesamt, die als ein großer Organismus vorgestellt wird. Es besteht nach Herder eine ideelle Entwicklungslinie von den Steinen über die Kristalle und Metalle zu den Pflanzen und Tieren und schließlich zum Menschen. Bei diesem endet zunächst die Entwicklungsreihe: „...wir kennen kein Geschöpf über ihm, das vielartiger und künstlicher organisirt sei: er scheint das höchste, wozu eine Erdorganisation gebildet werden konnte." 237 Das Naturgeschehen zeigt auch unter wechselnden Gesichtspunkten immer dieselbe aufsteigende Entwicklungslinie. Unter dem Aspekt der „Kräfte und Triebe" beispielsweise ergibt sich folgendes Bild: „Von der 235 236 237
Vgl. SWS, XIV, S. 235. Vgl. SWS, V, S. 559 f. SWS, XIII, S. 167.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Nahrung und Fortpflanzung der Gewächse stieg der Trieb zum Kunstwerk der Insekten, zur Haus- und Muttersorge der Vögel und Landthiere, endlich gar zu Menschen-ähnlichen Gedanken und zu eignen selbst-erworbnen Fertigkeiten; bis sich zuletzt alles in der Vernunftfähigkeit, Freiheit und Humanität des Menschen vereinet." 238 Der Leitgedanke der „Ideen" besteht also darin, „das Schicksal der Menschheit aus dem Buch der Schöpfung zu lesen" 239 . Nun läßt die Natur eine aufsteigende Entwicklung zum Menschen hin erkennen. Aus der Analogie der Naturentwicklung zieht Herder zwei verschiedene Folgerungen: 1. Der Mensch ist zur Humanität bestimmt. 2. Die Entwicklung weist über das Dasein in der Geschichte hinaus auf eine andere, jenseitige Welt. 1. Die Analogie der Natur zeigt auf, daß der Zweck des geschichtlichen Daseins des Menschen auf die Verwirklichung der Humanität gerichtet ist. Die Vemunftfahigkeit soll zur Vernunft, die Sinnlichkeit zur Kunst, die Triebe sollen zur echten Freiheit und „unsre Bewegungskräfte" schließlich zur Menschenliebe ausgebildet werden. 240 Die Zielbestimmung, die Humanität, bleibt dabei weitgehend offen und ist nicht eindeutig festgelegt. Humanität stellt für Herder den Inbegriff des Positiven und Erstrebenswerten dar: „Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe..." 241 2. Die Naturentwicklung läßt überall eine ununterbrochene Kontinuität erkennen, durch die jedes Wesen mit den unter- und übergeordneten Entwicklungsstufen verbunden ist. Der Mensch, so hat sich gezeigt, stellt den Endpunkt der Entwicklungskette dar. Doch die Analogie der Natur zwingt zur Annahme, daß der Mensch auch nur Mittelglied in einem übergeordneten Entwicklungsprozeß ist: „Wenn also der Mensch die Kette der Erdorganisation als ihr höchstes und letztes Glied schloß: so fängt er auch eben dadurch die Kette einer höhern Gattung von Geschöpfen als ihr niedrigstes Glied an; und so ist er wahrscheinlich der Mittelring zwischen zwei in einander greifenden Systemen der Schöpfung." 242 Liegt der Zweck des geschichtlichen Daseins in der Herausbildung der Humanität, so zeigt sich jetzt, daß diese nur „Vorübung" für eine weitere Entwick238 239 240 241 242
S W S , XIII, S. 167 f. S W S , XIII, S. 9. Vgl. S W S , XIII, S. 189. S W S , XIII, S. 154. S W S , XIII, S. 194. '
Der Entwicklungsbegriff Herders
179
lungsstufe, nur „die Knospe einer zukünftigen Blume" sei. 243 Herder deutet den gegenwärtigen Zustand des Menschen als das verbindende Mittelglied zweier Welten. 244 Diese Aussicht auf eine künftige, uns aber noch unbekannte Welt beruht nach Herder „auf allen Gesetzen der Natur", sie gibt allererst den Schlüssel zum Verständnis des Menschen, sie bietet „mithin die einzige Philosophie der Menschengeschichte" ,245 Herders Sinnbestimmung der Menschheitsgeschichte und seine Jenseitsspekulationen in den „Ideen" können im Rahmen der Thematik der vorliegenden Untersuchung nicht weiter verfolgt werden. Es soll aber noch nach den tragenden Voraussetzungen dieser Geschichtsdeutung gefragt werden. Es sind vor allem zwei Prämissen zu nennen: der Entwicklungsund der Analogiegedanke. Im Unterschied zum Entwicklungsbegriff der Bückeburger Schrift, der in seiner Ausrichtung auf das Vorbild organischer Entwicklung und in seiner Verbindung mit dem Lebensaltervergleich, der Baum- und Strommetaphorik ziemlich genau bestimmt war, löst sich der Entwicklungsbegriff der „Ideen" in eine allgemeine Vorstellung der Höherentwicklung auf, wobei jedoch der frühere Begriff organischer Entwicklung immer noch häufig verwendet wird, zugleich aber seine für das Gesamtbild der Menschheitsentwicklung konstitutive Funktion verloren hat. Die neue Entwicklungskonzeption erinnert an den modernen Evolutionsbegriff, ohne jedoch mit diesem identisch zu sein, denn die Entwicklungslinie, die Stein, Pflanze, Tier und Mensch verbindet, ist bei Herder nur ideeller Art. Die Einordnung des Menschheitsgeschehens in das übergreifende Entwicklungsgeschehen der Natur beruht auf einer Analogie. Der Leitfaden der Analogie der Natur, in der Schrift von 1774 vor allem in Form der allgegenwärtigen Naturmetaphern wirksam, wird in den „Ideen" zum methodischen Grundprinzip. Was berechtigt zu dieser Analogie? Eine Antwort auf diese Frage muß wenigstens in Kürze auf Herders Auffassung der „organischen" oder „genetischen" Kräfte eingehen. Herders Überlegungen zu diesem Thema setzen beim „Wunder der Schöpfung eines lebendigen Wesens" ein, also beim Naturvorgang der Entstehung eines individuellen Lebewesens. 246 Wie müßte jemand, so fragt Herder, diesen Vorgang beurteilen, wenn er ihn zum ersten Mal sieht?
243 244 245 246
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
SWS, SWS, SWS, SWS,
XIII, XIII, XIII, XIII,
S. S. S. S.
189. 194. 195. 273.
180
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
„Da ist, würde er sagen, eine lebendige, organische Kraft; ich weiß nicht, woher sie gekommen? noch was sie in ihrem Innern sei? aber daß sie da sei, daß sie lebe, daß sie organische Theile sich aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das sehe ich, das ist unläugbar." 247 Dieselbe Kraft, so führt Herder aus, sei in allen Lebewesen und somit auch im Menschen wirksam. Was diese Lebenskraft sei, entziehe sich menschlicher Kenntnis, obwohl sie unmittelbar empfunden werde, sofern man sich überhaupt gewiß sei, daß man lebe. Ihre Funktion bestehe in der Organisation der Lebensprozesse. Solche genetische Kräfte seien folglich auch in allen Entwicklungsprozessen wirksam. Der Mensch ist nach Herder deswegen das vollkommenste Wesen der Erde, „weil die feinsten organischen Kräfte, die wir kennen, bei ihm in den feinsten Werkzeugen der Organisation einwohnend wirken". In diesem Sinne ist der Mensch „die vollkommenste animalische Pflanze". 248 Zu seinen Ausführungen über die genetischen Kräfte stellt Herder ausdrücklich fest, es handle sich hierbei um „facta der Natur, die keine Hypothese umstoßen, kein scholastisches Wort vernichten kann: ihre Anerkennung ist die älteste Philosophie der Erde, wie sie auch wahrscheinlich die letzte sein wird" 249 . In der Vorrede zu den „Ideen" bemerkt Herder, es möge niemand daran Anstoß nehmen, daß er den Namen der Natur zuweilen personifiziert gebrauche. Die Natur sei kein selbständiges Wesen, denn Gott wirke in allen seinen Werken. „Natur" sei ein anderes Wort für das, was „keine Erdensprache zu nennen vermag". Ein gleiches, so führt Herder weiter aus, gelte auch für die Bezeichnung „organische Kräfte"; er glaube ferner nicht, „daß man sie für qualitates occultas ansehen werde, da wir ihre offenbaren Wirkungen vor uns sehen und ich ihnen keinen bestimmtem, reinem Namen zu geben wußte". 250 An anderer Stelle bezeichnet Herder die organische Kraft als „das mit der Materie vermählte strahlende Bild Gottes in jedem Wesen" 251 . Dieselben übernatürlichen Kräfte, welche die ontogenetische Entwicklung ordnen, sind nach Herder nicht nur im Gesamtorganismus der Natur, sondern auch im Menschheitsgeschehen wirksam. Der Analogieschluß von der Natur- auf die Geschichtsentwicklung ist also dadurch gerechtfertigt, daß in beiden Schöpfungsbereichen dieselben organisch-genetischen Kräfte 247 248 249 250 251
SWS, XIII, S. 274. Vgl. SWS, XIII, S. 276. Ebd. Vgl. SWS, XIII, S. 9 f. SWS, XIII, S. 274.
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wirken. „Die Regel, die Weltsysteme erhält und jeden Krystall, jedes Würmchen, jede Schneeflocke bildet, bildete und erhält auch mein Geschlecht... Alle Werke Gottes haben ihren Bestand in sich und ihren schönen Zusammenhang mit sich: denn sie beruhen alle...auf dem Gleichgewicht widerstrebender Kräfte durch eine innere Macht, die diese zur Ordnung lenkte." 252 In seiner Rezension des ersten Teils der „Ideen" Herders wendet sich Kant kritisch sowohl gegen die Annahme genetischer Kräfte wie auch gegen das Verfahren der Analogie der Natur. Kant weist die These Herders, daß in der Entwicklung organische Kräfte wirksam seien, aus prinzipiellen Gründen zurück. Die Annahme unsichtbarer Wirkkräfte, die das Unerklärbare erklären sollen, widerspricht seiner ganzen kritischen Haltung. Er fragt deshalb: „Allein was soll man überhaupt von der Hypothese unsichtbarer, die Organisation bewirkender Kräfte, mithin von dem Anschlage, das, was man nicht begreift, aus demjenigen erklären zu wollen, was man noch weniger begreift, denken?" 253 Denn von den an sich unbegreiflichen organischen Entwicklungsvorgängen, so argumentiert Kant, könnten wir doch wenigstens die Entwicklungsgesetze durch Erfahrung kennenlernen, „obgleich freilich die Ursachen derselben unbekannt bleiben"; die vorausgesetzten genetischen Kräfte hingegen würden sich sogar der Erfahrung entziehen. Zu ihrer Rechtfertigung ließe sich lediglich die Verzweiflung anführen, daß die Naturvorgänge nicht aus sich selbst begreifbar seien, sowie der daraus „abgedrungene Entschluß", die Erklärung „im fruchtbaren Felde der Dichtungskraft zu suchen". Das Vorgehen Herders laufe also auf Metaphysik hinaus, und zwar auf „sehr dogmatische". 254 Der zweite Einwand Kants betrifft Herders Schlußfolgerungen aus der Analogie der Natur. Auch wenn man, so lautet das Argument Kants, mit Herder voraussetzte, daß die Natur eine Linie der Höherentwicklung von einfach organisierten Wesen bis zum Menschen erkennen lasse, so könnte in Analogie dazu nur gefolgert werden, daß an einem uns unbekannten Ort, etwa auf einem anderen Planeten, Wesen existieren, die eine im Vergleich zum Menschen höhere Entwicklungsstufe einnehmen. Man könne dagegen nicht auf eine individuelle Fortbildung in einer jenseitigen 252 253 254
SWS, XIV, S. 249 f. VIII, S. 53 f. VIII, S. 54.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Welt schließen. 255 Kant bestreitet überhaupt die Möglichkeit einer Schlußfolgerung aus der Stufenordnung in der Natur, da ihm die Entwicklungslinie immer höher organisierter Wesen eine bloße Folge der Mannigfaltigkeit der Naturformen zu sein scheint. Schlußfolgerungen wären nur dann erlaubt, wenn man davon ausginge, daß die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten sich auseinander entwickelt hätten: „Nur eine Verwandtschaft unter ihnen, da entweder eine Gattung aus der andern und alle aus einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutterschooße entsprungen wären, würde auf Ideen führen", wie Kant in polemischer Anspielung auf den Titel des Herderschen Werks bemerkt. Es wären dies aber Ideen, - die nach Kants Meinung „so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt, dergleichen man unserm Verf., ohne ungerecht zu sein, nicht beimessen d a r f . 2 5 6 In diesem Punkt der Kritik allerdings hat nun Kant den Irrtum auf seiner Seite, denn keine hundert Jahre später werden die Ideen, die „so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt", zu den allgemeinen Voraussetzungen des Nachdenkens über den Menschen und seine Stellung in Natur und Geschichte gehören. Herders häufige Verwendung des Wortes „Entwicklung" ist im Zusammenhang mit seiner Vorliebe für die metaphorische Ausdrucksweise zu sehen. Trotz des geradezu exzessiven Gebrauchs von „Entwicklung" bleibt dieser Begriff bildhaft und insofern weitgehend unbestimmt und vage. „Entwicklung" meint bei Herder eine Metapher, ein Denkbild, und keinen theoretischen Begriff. Aber dieses Bild ist in hohem Maße geeignet, um Herders harmonisierende Auffassung der Geschichte und das damit verbundene Gefühl des Aufgenommenseins in den übergreifenden Wachstumsprozeß der Geschichte und der Teilhabe am Sinnganzen der Natur wiederzugeben. Es ist deshalb verständlich, daß Kant in Herders Begriffsbildung die „logische Pünktlichkeit" vermißt, wobei er ihm zugleich die „Geschicklichkeit" attestiert, „für seinen immer in dunkeler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen, die...mehr von sich vermuthen lassen, als kalte Beurtheilung wohl gerade zu in denselben antreffen würde". 257 Zwar orientiert sich auch Kants Entwicklungsbegriff am Naturvorbild, aber das leitenden Paradigma des geschichtsphilosophischen EntwickVgl. VIII, S. 52 f. 256 Vgl. VIII, S. 54. 255
257
Vgl. VIII, S. 45.
Der Entwicklungsbegriff Herders
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lungsgedankens besteht hier in der kosmischen Naturentwicklung, die wissenschaftlich-mechanistisch begreifbar ist. Dieser Begriff unterscheidet sich damit erheblich von der organischen Entwicklungsvorstellung Herders. Doch bevor wir uns einem Vergleich der beiden Entwicklungskonzeptionen zuwenden, soll noch der dritte Typus des geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedankens, der Hegeische, erörtert werden.
III. Kapitel: Der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff Hegels „Entwickelung ist eine bekannte Vorstellung. Es ist aber das E i g e n t ü m l i c h e der Philosophie, das zu untersuchen, was man sonst für bekannt hält." 258
Der geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanke hat in der Philosophie Hegels seine differenzierteste und zugleich geistesgeschichtlich wirksamste Gestalt angenommen. Dieser Entwicklungsbegriff hat sich weit vom Vorbild organischen Wachstums losgelöst und theoretische Selbständigkeit gewonnen. Die Analogie zwischen Natur- und Geschichtsentwicklung hat ihre frühere Bedeutung weitgehend verloren. Hegels Begriff der Entwicklung bezeichnet eine umfassende Theorie des dialektischen Werdens des allgemeinen Geistes sowie der Geschichte und damit drittens auch der Philosophiegeschichte. Das Entwicklungsprinzip bestimmt nicht nur die Verlaufsform dieser drei Bereiche, sondern begründet überdies deren inneren Zusammenhang. Schon bei Kant und Herder kam dem Entwicklungsbegriff der Status eines universellen Prinzips zu. Dieser Ansatz wird bei Hegel systematisch entfaltet und begründet: Entwicklung ist die allgemeinste Bewegungsstruktur des Geistes, sie ist damit zugleich Weltstruktur. 1. Natur und Geschichte „Die Weltgeschichte steht auf dem Boden des Geistes, nicht der Natur, und so kann ihr Endzweck nur gefolgert werden aus der Natur des Geistes." 259
Hegels Philosophie ist von dem Gedanken einer universellen Ordnung bestimmt. Sie geht deshalb von der Uberzeugung aus, „daß die Welt nicht 258
259
S W G , 17, S. 49 ( S W G = G e o r g Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, neu hrsg. von Hermann Glockner, Stuttgart 1927 — 1940). V G , S. 262 ( V G = G e o r g Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, 5. A u f l . , hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955).
Der Entwicklungsbegriff Hegels
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dem Zufall und äußerlichen, zufälligen Ursachen preisgegeben sei, sondern eine Vorsehung die Welt regiere"260. Diese Prämisse, daß die Welt von der Vernunft beherrscht sei, bestätige sich zunächst in der Naturwirklichkeit. Hegel erinnert an Anaxagoras, der als erster festgestellt habe, daß die Vernunft die Welt regiere. Dieser Gedanke, so bemerkt Hegel, sei uns selbstverständlich geworden und frappiere uns nicht mehr: „Wir sind dergleichen gewohnt und machen nicht viel daraus." Hegel erwähnt Anaxagoras nur, um darauf hinzuweisen, daß diese Vorstellung, die uns heute als trivial erscheine, nicht immer in der Welt gewesen sei, „daß solcher Gedanke vielmehr Epoche in der Geschichte des menschlichen Geistes machte". 261 Hegel kommt nun auf Sokrates zu sprechen, der sich zwar über den Grundsatz des Anaxagoras freute, der aber zugleich darüber enttäuscht war, daß Anaxagoras das entdeckte Prinzip nicht auf die konkreten Naturvorgänge anzuwenden vermocht hatte. Sokrates kritisierte, daß bei Anaxagoras das Prinzip abstrakt bleibt, „daß die Natur nicht als eine Entwicklung desselben Prinzips, nicht als eine aus demselben, aus der Vernunft als Ursache hervorgebrachte Organisation gefaßt ist" 262 . Der verborgene, nur indirekt mitgeteilte Anspruch dieser Sätze aus der Einleitung der „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" ist darin zu sehen, daß mit dieser Geschichtsphilosophie das Prinzip des Anaxagoras nun endlich auch im Gebiet der Geschichte zur konkreten Anwendung kommen soll. Der Glaube an die Vorsehung in der Geschichte, so sagt Hegel, sei bisher immer unbestimmt geblieben, man befinde sich daher — was die Geschichte betrifft — in der gleichen Situation wie einst Sokrates; es gelte also, den allgemeinen Gedanken, daß die Vernunft die Wirklichkeit beherrsche, auf den konkreten Geschichtsverlauf zu beziehen und die Menschheitsgeschichte als Entwicklung dieses Prinzips zu begreifen. 263
260 261 262 263
V G , S. 38. Vgl. V G , S. 37. V G , S. 38. Hegel bezieht sich hier auf Piatons „Phaidon", 97b bis 99a. Sokrates erhoffte sich von der Lehre des Anaxagoras insbesondere Aufschluß über das Gute, das mit dem obersten Vernunftprinzip identisch sein muß: und also glaubte ich (Sokrates), indem er (Anaxagoras) für jedes einzelne und alles insgemein den Grund nachwiese, werde er das Beste eines jeglichen darstellen und das für alles insgesamt Gute. Und für vieles hätte ich diese Hoffnung nicht weggegeben; sondern ganz emsig griff ich zu den Büchern und las sie durch, so schnell ich nur konnte, um nur aufs schnellste das Beste zu erkennen... Und von dieser wunderbaren Hoffnung, o Freund, fiel ich ganz herunter, als ich fortschritt
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
In dieser Überzeugung, daß das Geschichtsgeschehen einer vernünftigen Ordnung folge, stimmen Kant, Herder und Hegel überein. Es ist dies die Grundvoraussetzung einer jeden Entwicklungsdeutung der Gesamtgeschichte. Im Unterschied zu Kant und Herder ist aber Hegels Begriff der Geschichtsentwicklung nicht am Naturvorbild orientiert, und zwar weder am Vorbild der leblosen noch an dem der belebten Natur. Hegel nennt als Beispiel für ein regelmäßiges Naturgeschehen die Bewegung des Sonnensystems. Die Regelmäßigkeit beruht auf Gesetzen, die die Vernunft dieses Geschehens ausmachen. Der Unterschied zwischen Natur und Geschichte kommt nun darin zum Ausdruck, daß diese Vernunftordnung nicht als „selbstbewußte Vernunft" aufgefaßt werden kann, denn „weder die Sonne noch die Planeten, die in diesen Gesetzen um sie kreisen, haben Bewußtsein darüber". Erst der Mensch kann diese Gesetze aus der Existenz herausheben und weiß sie dann. 264 Wieder anders verhält es sich bei den organischen Naturvorgängen. Denn die Lebensprozesse sind Entwicklungen im strengen Sinn. Nur Lebendiges befindet sich im Zustand permanenter Veränderung und bleibt doch stets dasselbe. Es hat also die Fähigkeit zur Entwicklung: Das organische Individuum verändert sich nicht nur durch äußere Einwirkung, sondern es organisiert sich aus sich selbst heraus, und zwar aus „einer einfachen Wesenheit, deren Existenz als Keim zunächst ebenso einfach ist und dann Unterschiede aus sich zum Dasein bringt". Der Organismus bringt sich aus sich selbst hervor, indem er wird, was er an sich ist. „So produziert das organische Individuum sich selbst: es macht sich zu dem,
264
und las und sah, wie der Mann mit der Vernunft gar nichts anfängt und auch sonst gar nicht Gründe anführt, die sich beziehen auf das Anordnen der Dinge, dagegen aber allerlei Luft und Äther und Wasser vorschiebt und sonst vieles zum Teil Wunderliches" (Phaidon, 98 b — 98 c, in der Übersetzung Friedrich Schleiermachers; aus: Werke in acht Bänden, griech. u. deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Bd. 3, Darmstadt 1974). — Indem sich Hegel auf diese Stelle und das darin ausgesprochene ethische Anliegen des Sokrates bezieht, betont er zugleich den eigenen sittlich-praktischen Anspruch seiner Geschichtsphilosophie: die Geschichte, als Selbstvollendungsprozeß des Geistes in der Freiheit absoluten Wissens verstanden, läßt das Gute als das Telos der Geschichte erkennen. Der sittlich-praktischen Forderung wird erst dann entsprochen, wenn mit der allgemeinen Überzeugung, daß die Vernunft in der Geschichte regiere, Ernst gemacht und jene Überzeugung auf den konkreten Ablauf der Geschichte angewendet wird. In den Zusätzen des Wintersemesters 1826/27 zur Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte sagt Hegel mit aller Deutlichkeit: „Dieser Endzweck steht an und für sich fest. Man nennt ihn auch das Gute, das in der Welt zustande kommen soll" (VG, S. 262). VG, S. 37.
Der Entwicklungsbegriff Hegels
187
was es an sich ist; so auch der Geist ist nur dies, zu was er sich selbst macht, und er macht sich zu dem, was er an sich ist." 265 Neben den Naturorganismen ist es also der Geist, dessen Veränderungsform Hegel als Entwicklung bestimmt. „Das Fortschreiten des Geistes ist Entwicklung', so lautet die knappe Definition in der „Enzyklopädie".266 Zwischen der Entwicklung der Organismen und der Entwicklung des Geistes, mithin zwischen Natur- und Geschichtsentwicklung bestehen nun aber zugleich wesentliche Unterschiede. Ein Vergleich beider Entwicklungsformen läßt den geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff deutlicher hervortreten. Um zu verstehen, was Entwicklung sei, so erklärt Hegel im Einleitungsteil seiner „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", müsse man gleichsam zwei Zustände unterscheiden. Der eine Zustand sei das, was man als Anlage, Vermögen, potentia oder dynamis zu bezeichnen pflege und was er das „Ansichsein" nenne. Der andere sei die Wirklichkeit, der actus, die energeia oder — in seiner Terminologie — das „Fürsichsein". Die fremdsprachlichen Ausdrücke zeigen, daß Hegels Entwicklungsbegriff im Anschluß an die Aristotelische Lehre entelechialer Bewegung konzipiert ist.267 Hegel erläutert dies an der menschlichen Vernunftbegabung: Die Bestimmung des Menschen als eines vernünftigen Wesens will sagen, daß der Mensch seiner Anlage nach vernünftig ist. Der Mensch verfügt über Vernunft, Verstand, Phantasie und Wille, wie Hegel sich ausdrückt, bereits im Mutterleib. Das Kind hat nur das Vermögen, die „reale Möglichkeit" der Vernunft: „...es ist so gut, als hätte es keine Vernunft, sie existirt noch nicht an ihm: es vermag noch nichts Vernünftiges zu thun, hat kein vernünftiges Bewußtseyn." 268 Das, was der Mensch an sich ist, muß diesem erst zum Bewußtsein kommen, damit er wird, was er seiner Möglichkeit nach ist. Er wird für sich selbst, was er an sich ist. Er ist dann ein anderer, und doch derselbe: „Das Ansich erhält sich, und doch ist der Unterschied ganz ungeheuer. Es kommt kein neuer Inhalt heraus; doch ist diese Form ein ungeheurer Unterschied."269 Jede geistige, bewußte Tätigkeit folgt 265 266 267
268 269
Vgl. V G , S. 151. S W G , 10, S. 300, Paragr. 442. Vgl. Erich Heintel: Die beiden Labyrinthe der Philosophie — Systemtheoretische Betrachtungen zur Fundamentalphilosophie des abendländischen Denkens, Bd. 1, Wien/München 1968, S. 208. S W G , 17, S. 49 f. S W G , 17, S. 50.
188
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
nach Hegel diesem Schema: „Alles Erkennen, Lernen, Wissenschaft, selbst Handeln beabsichtigt weiter nichts, als das, was innerlich, an sich ist, aus sich heraus zu ziehen, und sich gegenständlich zu werden." 270 Auch die organische Entwicklung läßt sich als Bewegung vom Ansichsein zum Fürsichsein begreifen. Für beide Entwicklungstypen gilt: „Das Ansich regiert den Verlauf." 271 Deshalb „verliert sich" die pflanzliche Entwicklung nicht „in bloße ungemessene Veränderung". So hat der pflanzliche Keim einen „Trieb sich zu entwickeln; er kann es nicht aushalten nur an sich zu seyn. Der Trieb ist der Widerspruch, daß er nur an sich ist und es doch nicht seyn soll. Der Trieb setzt in die Existenz heraus. Es kommt Vielfaches hervor; das ist aber Alles im Keime schon enthalten, — freilich nicht entwickelt, sondern eingehüllt und ideell". Das vorherbestimmte Ende der pflanzlichen Entwicklung ist die Frucht, also die „Hervorbringung des Keims", also die „Rückkehr zum ersten Zustande". 272 Soweit besteht eine Parallelität zwischen organischer und geistiger Entwicklung. Hegel hebt nun aber auch die Unterschiede deutlich hervor. Die Naturentwicklung des Keimes schließt sich zwar wieder zu einer Einheit, der Keim wird zwar wieder zum Keim, aber der neue Keim bildet zugleich ein anderes Individuum. Die Entwicklung führt zu einer Verdoppelung, auch wenn dadurch die Einheit nicht aufgehoben wird: „Eltern und Kinder sind verschiedene Individuen, obgleich von derselben Natur. Im Geiste ist es anders. Er ist Bewußtseyn, frei, darum, daß in ihm Anfang und Ende zusammenfällt." 273 Der Unterschied liegt also darin, daß das Ergebnis der Naturentwicklung, die Frucht, der Same, nicht für den ersten Keim, sondern „nur für uns" ist. Erst in der geistigen Entwicklung kommt die wahre Bedeutung des Ausdrucks „Fürsichsein" zur Geltung, erst hier ist die Entwicklung die Bewegung vom Ansichsein zum Fürsichsein im Sinne des „Füreinander"-Seins: „Das, für welches das Andere ist, ist Dasselbe als das Andere. Nur dadurch ist der Geist bei sich selbst in seinem Anderen. Die Entwickelung des Geistes ist Herausgehn, Sichauseinanderlegen und zugleich Zusichkommen." 274 Ein weiterer Unterscheidungspunkt zwischen der Entwicklung des Naturlebens und der Entwicklung des Lebens des Geistes betrifft die Art und Weise, wie sich die Entwicklung realisiert. Das organische Individuum 270 271 272 273 274
Ebd. Ebd. Vgl. SWG, 17, S. 50 f. SWG, S. 51. Ebd.
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macht sich zu dem, was es an sich ist, und zwar „auf unmittelbare, gegensatzlose, ungehinderte Weise". Hegel will damit sagen, daß in diesen Entwicklungsprozeß nichts „eindringen" kann, daß er sich ganz aus sich selbst und von selbst bestimmt. Bei der Entwicklung des Geistes verhält es sich anders: „Der Übergang seiner Bestimmung in ihre Verwirklichung ist vermittelt durch Bewußtsein und Willen: diese selbst sind zunächst in ihr unmittelbares natürliches Leben versenkt; Gegenstand und Zweck ist ihnen zunächst die natürliche Bestimmung selbst als solche, die dadurch, daß es der Geist ist, der sie beseelt, selbst von unendlichem Ansprüche, Stärke und Reichtum ist." 275 Die Entwicklung des Geistes realisiert sich gleichsam nur über Umwege, sie unterliegt in jedem Moment der Einwirkung durch die jeweiligen Umstände, sie verläuft nicht geradlinig, sie wird immer wieder durch die verschiedensten Nebenzwecke von ihrer eigentlichen Verlaufsform abgelenkt. Die Entwicklung des Geistes ist darum „nicht das harm- und kampflose bloße Hervorgehen, wie die des organischen Lebens, sondern die harte, unwillige Arbeit gegen sich selbst" 276 . Dabei bleibt die allgemeine Entwicklungsbestimmung bestehen, aber der Entwicklungsablauf ist nicht in gleicher Weise prädeterminiert wie im Falle organischer Entwicklung. „Was der Geist will," so sagt Hegel, „ist, seinen eigenen Begriff erreichen; aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll von Genuß in dieser Entfremdung seiner selbst." 277 Das wesentlichste Unterscheidungsmoment der beiden Entwicklungsformen liegt darin, daß der Geist, wenn er wird, was er an sich ist, zugleich Freiheit realisiert. Als frei bezeichnet Hegel dasjenige, „was nicht auf ein Anderes sich bezieht" 278 . Im organischen Entwicklungsprozeß ist für Freiheit kein Platz. Der Geist, indem er zu sich selbst kommt, ist frei, d.h., er ist nur von sich selbst abhängig. Die verschiedenen Ausdrücke, mit denen Hegel das Entwicklungsziel umschreibt, sind zugleich auch Umschreibungen für Freiheit: „Fürsichseyn", „Zusichkommen", „Beisichseyn", „Zusichselbstkommen"; der Geist soll „sich erkennen", „sich sich selber gegenständlich machen", „sich finden", „für sich selber werden", „sich mit sich zusammenschließen". 279
275 276 277 278 279
VG, S. 151. VG, S. 152. Ebd. SWG, 17, S. 52. Vgl. SWG, 17, S. 51 f.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Die bisher angeführten Unterscheidungsmerkmale betreffen die Differenz zwischen der Entwicklung der organischen Ontogenese auf der einen und der Entwicklung des Geistes auf der anderen Seite. Der Gedanke einer Naturentwicklung im Sinne phylogenetischer Evolution lag Hegel — wie vor ihm schon Kant — fern. In der Natur ist nur das Einzelne der Veränderung unterworfen, die allgemeinen Formen dagegen, die Gattungen, beharren. Die Individualentwicklung der organischen Wesen verläuft daher als vollständiger Kreislauf, sie stellt eine Wiederholung des Gleichen dar. Die Naturentwicklung ist Veränderung innerhalb statischer Formen. Der jeweilige Neubeginn des Lebensprozesses hat den Tod des vorausgehenden gleichsam zur Voraussetzung: die Kreise des Lebens verlaufen getrennt. „In der Natur ist das Leben, das aus dem Tode hervorgeht, selbst nur wieder einzelnes Leben; und wenn die Gattung in diesem Wechsel als das Substanzielle angesehen wird, so ist der Untergang des Einzelnen ein Wiederabfallen der Gattung in die Einzelheit. Die Erhaltung der Gattung ist so nur als die gleichförmige Wiederholung derselben Weise der Existenz." 280 Die Naturentwicklung betrifft gewissermaßen nur die „Oberfläche", die Grundstrukturen dagegen bleiben unverändert. Anders verhält es sich mit der „geistigen Gestalt", denn „hier geht die Veränderung nicht bloß an der Oberfläche, sondern im Begriffe vor. Der Begriff selber ist es, der berichtigt wird". An diese Feststellung schließt sich dann das bekannte Wort an, daß die Natur im Unterschied zur Geschichte keine Fortschritte kenne: „In der Natur macht die Gattung keine Fortschritte, im Geist aber ist jede Veränderung Fortschritt." 281 Nun sieht zwar auch Hegel die vielfältigen Naturformen in einer Entwicklungsreihe aufeinander bezogen. Aber diese Entwicklungslinie ist, wie bei Herder, bloß ideeller Art. Es besteht somit in der „Reihe der natürlichen Gestalten eine Stufenleiter vom Lichte bis zum Menschen, so daß jede folgende Stufe Umbildung der vorigen ist, ein höheres Prinzip, hervorgegangen durch das Aufheben und den Untergang des vorigen" 282 . Im Unterschied zur Stufenleiter der Entwicklung des Geistes in der Geschichte fällt aber, wie Hegel in Fortsetzung des Bildes ausführt, die Stufenleiter der Natur sozusagen auseinander, und die einzelnen Sprossen existieren nebeneinander: sie bilden zwar Stufen, aber keine Leiter. Nur der „denkende Geist" begreift den die Stufen verbindenden Zusammen-
280 281 282
V G , S. 153. Ebd. Ebd.
Der Entwicklungsbegriff Hegels
191
hang. In der Sphäre der Geschichte dagegen geht die jeweils höhere Gestaltung aus der Umarbeitung der vorhergehenden hervor; und dies ist der Grund, „weshalb die Erscheinung der geistigen Gestaltungen in die Zeit fallt" 283 . In der Weltgeschichte kommt der Geist zeitlich zur Erscheinung. Die Weltgeschichte kann folglich in allgemeinster Bestimmung als „die Auslegung des Geistes in der Zeit" gefaßt werden. Und in Entsprechung dazu ist dann die Natur als Auslegung der Idee im Raum zu verstehen. 284 Man wird also Hegels gelegentliche Erläuterungen geschichtlicher Entwicklungsverhältnisse am Beispiel ontogenetischer Entwicklung immer nur als — mehr oder weniger zutreffende — Gleichnisse verstehen dürfen, da sich beide Entwicklungsformen in der angegebenen Weise voneinander unterscheiden. Das gemeinsame Wort bezeichnet nur eine teilweise Übereinstimmung in der Sache. Das Identische ist darin zu sehen, daß es sich in beiden Fällen um Lebensprozesse handelt, also um Vorgänge, deren Veränderungsform sich von derjenigen der unbelebten Materie unterscheidet. Wenn Hegel vom „Leben des Geistes" spricht, dann handelt es sich im Grunde nicht mehr um eine metaphorische Ausdrucksweise: Das Leben der Naturwesen wie das des Geistes ist durch die Einheit im Anderswerden gekennzeichnet. Alles Lebendige verändert sich als Entwicklung, indem es realisiert, was es in sich der Möglichkeit nach bereits ist. Nur das Lebendige nimmt ununterbrochen eine neue Gestalt an und bleibt doch dasselbe. Und nur das Lebendige schließlich hat Geschichte im eigentlichen Sinne.
2. Weltgeschichte als
Entwicklung
„Das Ziel der Weltgeschichte ist also, daß der Geist zum Wissen dessen gelange, was er wahrhaft ist, und dies Wissen gegenständlich mache, es zu einer vorhandenen Welt verwirkliche, sich als objektiv hervorbringe." 2 8 5
Die Philosophie hat, um die Geschichte als Entwicklung begreifen zu können, von der Voraussetzung auszugehen, daß die Vernunft die Welt und die Geschichte regiere. Diese Prämisse könne, wie Hegel sagt, in 283 284 285
V G , S. 154. Vgl. ebd. V G , S. 74.
192
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
religiöser Form so ausgesprochen werden, daß die Vorsehung die Welt beherrsche. Es handelt sich bei diesem Satz um die Grundprämisse von Hegels geschichtsphilosopischer Entwicklungsdeutung. An diese knüpft er die Erwartung, daß sie die Richtigkeit des vorausgesetzten Prinzips beweisen werde, nicht jedoch dessen Wahrheit, da die Wahrheit mit dem Prinzip selbst identisch sei: „Die Wahrheit nun, daß eine, und zwar die göttliche Vorsehung den Begebenheiten der Welt vorstehe, entspricht dem angegebenen Prinzip." 286 Es wird an dieser Stelle deutlich, daß die Grundvoraussetzung der Philosophie der Geschichte den Erkenntnismöglichkeiten der Vernunft vorausliegt. Die Deutung der Weltgeschichte als Entwicklung beruht auf einer Glaubensvoraussetzung und Glaubenshoffnung: „Unsere Erkenntnis geht darauf, die Einsicht zu gewinnen, daß das von der ewigen Weisheit Bezweckte, wie auf dem Boden der Natur, so auf dem Boden des in der Welt wirklichen und tätigen Geistes herausgekommen ist." 287 Hegel erwähnt den religiösen Vorsehungsglauben, um „bemerklich zu machen, womit solche Materien weiter zusammenhängen" 288 . Man könne deshalb, meint er, nicht bei dieser allgemeinen Vorstellung einer göttlichen Weltregierung stehen bleiben. Denn eine solche unverbindliche Glaubenshaltung dispensiere einen geradezu von der „Anforderung des Wahren und Vernünftigen", man gewinne zwar dadurch „die Bequemlichkeit", sich in seinen eigenen Vorstellungen ergehen zu können, aber damit werde „jene Vorstellung von Gott zum leeren Gerede": „Wird Gott jenseits unseres vernünftigen Bewußtseins gestellt, so sind wir davon befreit, sowohl uns um seine Natur zu bekümmern, als Vernunft in der Weltgeschichte zu finden; freie Hypothesen haben dann ihren Spielraum." 289 Es wird aus diesen Worten verständlich, daß die Setzung der Glaubensprämisse, daß Gott die Weltgeschichte regiere, gerade in sittlich-praktischer Hinsicht für Hegel unabdingbar ist. Wenn man nun sagt, daß die Vernunft die Welt regiere, so ist dies eine ebenso unbestimmte Aussage, wie wenn man die göttliche Vorsehung anführt: „...man spricht immer von der Vernunft, ohne eben angeben zu können, was denn ihre Bestimmung, ihr Inhalt ist, was das Kriterium sei, wonach wir beurteilen können, ob etwas vernünftig ist oder unvernünf-
286 287 288 289
V G , S. 39. V G , S. 48. V G , S. 41. Ebd.
Der Entwicklungsbegriff Hegels
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jg «290 g s gi|t darum, die Bestimmung der Vernunft zu erkennen. Wie aber gelangt die Vernunft zur Einsicht in ihre Bestimmung? t
Die Frage nach der Bestimmung der Vernunft muß unter der Voraussetzung, daß die Vernunft die Welt beherrscht, mit der Frage nach dem Endzweck der Welt identisch sein. 291 Die Vernunft muß also zuerst konkret werden, sich in der Welt und Geschichte wiedererkennen, um ihre eigene Bestimmung zu verstehen. Daß es aber dem vernünftigen Denken gelingen wird, Wesen und Endzweck der Geschichte zu erfassen, ist durch die vorausgesetzte Vernünftigkeit der Geschichte garantiert. Die Philosophie der Geschichte kann daher a priori vorgehen, denn sie besitzt die „Gewißheit, daß die Vernunft das Regierende ist", und kann insofern davon „überzeugt sein, daß das Geschehene sich dem Begriffe einfügen wird". 2 9 2 Die Frage nach dem Endzweck der Geschichte zielt auf das Wesen des Geistes und die Art seiner Entwicklung im Ablauf der Weltgeschichte, denn die Geschichte ist wesentlich Geistes-geschichte. Das Geschehen des Geistes macht das „Substanzielle" der Weltgeschichte aus. An den Rand des Vorlesungsmanuskripts notiert sich Hegel zu dieser Stelle: „Geist höher als Natur." 2 9 3 Der Geist seinerseits ist das Geschichtliche schlechthin. 294 Er ist ununterbrochene Bewegung, Veränderung, Werden. Er hat nicht nur eine Geschichte, er ist Geschichte. Der Geist stellt also weder ein Ruhendes noch ein Abgeschlossenes dar, sondern etwas Werdendes: „Sagt man nämlich, der Geist ist, so hat das zunächst den Sinn: er ist etwas Fertiges. Er ist aber etwas Tätiges. Die Tätigkeit ist sein Wesen..." 295 Das Produkt dieser Tätigkeit ist er selbst, er produziert sich selbst, und insofern ist er sein eigener Anfang wie auch sein Ende.
290 291 292 293 294
255
V G , S. 49. Vgl. V G , S. 50. Vgl. V G , S. 32. V G , S. 50, Anm. b). Karl Löwith sagt über den Zusammenhang von Geschichte und Geist bei Hegel, daß das Ziel der Geschichte des Geistes nur im absoluten Wissen vorgestellt werden könne. Dieses werde über den Weg der „Erinnerung" aller schon dagewesenen Geister erreicht. „Dieser Weg über das gewesene Wesen der Geschichte des immer gegenwärtigen Geistes ist kein Umweg, den man umgehen könnte, sondern der einzig gangbare Weg zur Vollendung des Wissens. Das Absolute oder der Geist hat nicht nur, wie ein Mensch Kleider anhat, eine ihm äußerliche Geschichte, sondern er ist zuinnerst als eine Bewegung des Sichentwickeins ein Sein, das nur ist, indem es auch wird" (Von Hegel zu Nietzsche, 2. Aufl., Zürich/Wien 1949, S. 44 f.). V G , S. 55.
194
Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Der Geist ist Streben zwischen Anfang und Ende. Doch was ist es, wonach er strebt? Das, worauf die Tätigkeit des Geistes gerichtet ist, kann nicht außerhalb seiner liegen; der Geist kann ja keinen anderen als einen geistigen Inhalt haben. „Sich zu produzieren, sich zum Gegenstande seiner selbst zu machen, von sich zu wissen, ist das Geschäft des Geistes; so ist er für sich selber." 296 Indem das „Geschäft des Geistes" darin besteht, sich selbst zu produzieren, schreitet er fort, wird er immer mehr, vermehrt und vervollkommnet er sich. Seine Bewegung hat also eine Richtung und ein Ziel, er ist Entwicklung. Die Entwicklung des Geistes ist seine Selbstverwirklichung. Der Geist kann nur aus sich selbst werden, er realisiert nur, was er an sich bereits ist. Er entwickelt sich, indem er sich seiner selbst immer mehr bewußt wird. Der Geist ist überhaupt nur, insofern er sich entwickelt. Und je mehr er sich entwickelt, desto mehr wird er er selbst. Das Ziel der Entwicklung ist das Selbstbewußtsein, das Beisichselbersein des Geistes, die Freiheit also. Die Wendung, daß der Geist sein eigenes Resultat sei, verweist auf seinen Entwicklungscharakter: Der Geist bringt sich selbst hervor. Wiederum erläutert Hegel dies am Beispiel organischer Entwicklung: Mit dem Samen beginnt die Entwicklung der Pflanze, der Samen ist aber zugleich auch das Resultat des ganzen Lebens der Pflanze. Diese „entwickelt sich deshalb, um ihn hervorzubringen". Die „Ohnmacht des Lebens" besteht nun darin, daß Anfang und Resultat der Entwicklung zwar dasselbe und doch auch ein anderes sind, da das Produkt der Entwicklung eines ersten Individuums zugleich der Anfang der Entwicklung eines anderen ist und also beide Entwicklungs kreise durch den Tod voneinander getrennt sind. 297 Die Macht des Geistes dagegen, so wäre diese Stelle zu ergänzen, liegt darin, daß in seiner Entwicklung Anfang und Ende nicht auseinanderfallen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Geist in seiner Entwicklung sich selbst produziert, hat nach Hegel der Mensch an sich selbst, an der eigenen Entwicklungsgeschichte, die er als Individuum in der Bildung seines Bewusstseins selbst vollzieht: Was der einzelne Mensch wird, liegt an diesem selbst. Er bringt sich selbst hervor, er „muß sich selbst zu dem machen, was er sein soll; er muß sich alles erst selbst erwerben, eben weil 296 297
Ebd. V G , S. 58.
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er Geist ist; er muß das Natürliche abschütteln. Der Geist ist also sein eigenes Resultat" 298 . Der Vorgang der Bewußtwerdung des Geistes ist als Entwicklung an die Einheit eines Individuums gebunden. Dies ist der Sinn der Aussage, daß der Geist „wesentlich Individuum" sei. Auf dem Feld der Weltgeschichte kann es sich dabei nicht um „partikulare Individualität" handeln. Der Geist in der Geschichte ist zwar ein Individuum, aber dennoch allgemein, insofern er auf geschichtliche Individualitäten und insbesondere stets auf ein bestimmtes Volk bezogen ist. Der Geist, wie er uns in der Geschichte begegnet, ist der „Volksgeist". „Das Bewußtsein des Geistes muß sich in der Welt gestalten; das Material dieser Realisierung, ihr Boden ist nichts anderes als das allgemeine Bewußtsein, das Bewußtsein eines Volkes. Dieses Bewußtsein enthält und nach ihm richten sich alle Zwecke und Interessen des Volks; dieses Bewußtsein macht des Volkes Rechte, Sitten, Religion aus. Es ist das Substanzielle des Geistes eines Volks, auch wenn die Individuen es nicht wissen, sondern es als eine Voraussetzung ausgemacht dasteht." 299 Der einzelne Mensch wächst in der Atmosphäre des Volksgeistes auf. Er kennt nichts anderes; er weiß von nichts anderem. Er ist an den Volksgeist als die „Substanz" des jeweiligen Zeitalters gebunden. Diese Substanz bezeichnet zugleich eine letzte Grenze, ein Letztgegebenes. Sie ist ferner das Gemeinsame in den verschiedenen Individuen. Diese können sich zwar voneinander, nicht aber vom Volksgeist unterscheiden. 300 Das Verhältnis zwischen Individuum und Volksgeist wiederholt sich in dem zwischen Volks- und Weltgeist. Die Geschichte des Geistes, insofern sie Entwicklung ist, muß eine Einheit darstellen. Die Einheit ist durch den absoluten, allgemeinen Geist gegeben. In seiner weltgeschichtlichen Erscheinung heißt dieser „Weltgeist". „Der Weltgeist ist der Geist der Welt, wie er sich im menschlichen Bewußtsein expliziert..." 301 Der Weltgeist ist erst der eigentliche Gegenstand der Philosophie der Geschichte. Er macht erst die Einheit im Fortgang der Geschichte aus. Er stellt die verbindende Kontinuität des Geschehens her. Seine Entwicklung verläuft über die einzelnen Volksgeister. Der Volksgeist widerspiegelt den allgemeinen Geist in besonderer Gestalt. Der besondere Geist eines
298 299 300 301
Ebd. VG, S. 59. Vgl. V G , S. 59 f. VG, S. 60.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
besonderen Volkes mag untergehen, aber er bleibt „ein Glied in der Kette des Ganges des Weltgeistes, und dieser allgemeine Geist kann nicht untergehen" 302 . Ein bestimmtes Volk hat bestimmte Vorstellungen von Gott, von Recht und Sittlichkeit. Man pflege, stellt Hegel fest, solche historische Phänomene als „äußerliche Gegenstände" anzusehen. Aber schon bei oberflächlicher Betrachtung müsse man doch merken, „daß diese Dinge geistiger Art sind und keine andere Art ihrer Wirklichkeit haben können als der Geist ist, das Bewußtsein des Geistes vom Geist" 303 . Das Bewußtsein des Geistes vom Geist ist Selbstbewußtsein. Doch solange der Geist noch nicht seiner selbst bewußt geworden ist, ist er noch nicht, was er sein könnte. Das Ziel der Entwicklung besteht folglich darin, daß der Geist zum Wissen dessen gelangt, was er an und für sich selbst ist, daß er also „eine geistige Welt hervorbringe, die dem Begriffe seiner selbst gemäß ist, seine Wahrheit vollbringe, verwirkliche, daß Religion, Staat so von ihm produziert werden, daß er...die Idee seiner selbst sei" 304 . Damit ist das allgemeine Ziel des Geistes wie der Geschichte bestimmt. Es liegt also im anfänglichen Wesen des Geistes selbst begründet, so daß Hegel den Gedankengang mit der Analogie der Naturentwicklung beschließen kann: „...und wie der Keim die ganze Natur des Baumes, den Geschmack, die Form der Früchte in sich trägt, so enthalten auch schon die ersten Spuren des Geistes virtualiter die ganze Geschichte." 305 Damit ist das Wesen der Geistes- und Geschichtsentwicklung in abstrakter Weise festgestellt. Von der Weltgeschichte läßt sich zusammenfassend sagen, daß sie die „Darstellung des Geistes sei, wie er zum Wissen dessen zu kommen sich erarbeitet, was er an sich ist" 306 . Diese Wesens- und Zielbestimmung der Geschichte stellt das Ergebnis einer Selbstbesinnung oder „Phänomenologie" des Geistes dar. Es sind damit die apriorischen und formalen Voraussetzungen einer möglichen Philosophie der Weltgeschichte festgelegt. Das bisherige Ergebnis hat sich nun in der Konfrontation mit dem faktischen Geschichtsgeschehen zu bewähren. Es ist also die Frage zu beantworten, wie die apriorisch gewonnene Zielbestimmung der Ge302 303 304 305 306
Ebd. VG, S. 61. Ebd. Ebd. VG, S. 61 f.
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schichte mit deren tatsächlichem Verlauf in Übereinstimmung gebracht werden kann. Insbesondere gilt es zu klären, wie das doch so unbestreitbar zufallige, widersprüchliche und unvernünftige Geschehen sich zu einer vernünftig und notwendig ablaufenden Gesamtentwicklung zusammenschließen kann. Es wird sich zeigen, daß Hegel die gestellten Fragen im Rahmen seines Systems in schlüssiger Weise zu beantworten vermag. Dabei ist freilich stets zu berücksichtigen, daß mit der Ausgangsprämisse, daß nämlich Gott die Welt regiert, bereits über das Gelingen oder Scheitern der philosophischen Geschichtsdeutung entschieden ist. Dies geht erneut aus der folgenden Stelle deutlich hervor: „Vor dem reinen Licht dieser göttlichen Idee, die kein bloßes Ideal ist, verschwindet der Schein, als ob die Welt ein verrücktes, törichtes Geschehen sei. Die Philosophie will den Inhalt, die Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen. Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes."307 Die Frage lautet also, mit welchen Mitteln sich der Endzweck der Geschichte realisiert. Die Beantwortung dieser Frage führt in den Bereich der geschichtlichen Erscheinungen selbst. Hier zeigt sich, daß die Handlungen durch partikuläre Interessen, Leidenschaften und Triebe bestimmt sind. Wenn wir dieses „Schauspiel der Leidenschaften" betrachten, sagt Hegel, und uns den Unverstand, das Übel, das Böse, den Untergang vor Augen halten, „so können wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt, und indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens des Menschen ist, noch mehr mit moralischer Trauer, mit der Empörung des guten Geistes, wenn ein solcher in uns ist, über solches Schauspiel enden".308 Aber, so führt Hegel weiter aus, auch wenn wir die Geschichte „als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind"309. Der Endzweck ist bereits bestimmt. Dagegen ist immer noch ungeklärt, wie das Allgemeine der Zweckbestimmung mit dem Besonderen verknüpft ist, so daß das einzelne Geschehen die Funktion des Mittels für die 307 308
309
VG, S. 77 f. Vgl. V G , S. 79 f.
VG, S. 80.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Realisierung des allgemeinen Zwecks übernehmen kann. Denn der Endzweck oder das Prinzip der Geschichte ist bisher bloß als ein Allgemeines und Abstraktes bestimmt. Und nun mag das allgemeine Prinzip noch so wahr sein, als ein nur Abstraktes ist es, wie Hegel selbst bemerkt, noch „nicht vollständig wirklich". Das Prinzip der Geschichte gilt nicht unmittelbar durch sich selbst, als nur Abstraktes muß es durch die Tätigkeit des Menschen ver-wirklicht werden. Damit es aber durch das menschliche Tun realisiert wird, muß es mit meinem Interesse korrespondieren, es muß mit meinem Wollen und dem Zweck meines Handelns übereinstimmen, denn die Menschen verfolgen immer nur ihre eigenen partikulären Interessen. 310 Die zu beantwortende Frage läßt sich nun präzisieren: Wie können die durch partikuläre Interessen bestimmten Handlungen mit dem Interesse der Weltgeschichte in Übereinstimmung gedacht werden? Wie kann also das Allgemeine und Vernünftige in der Geschichte maßgebend sein, wenn der Wille des Einzelnen frei ist? Wie ist die „hohe Idee" der Vernunft in der Geschichte „mit der menschlichen Freiheit zu vereinen"? 311 Nun kann offensichtlich nichts anderes als Mittel zur Realisierung des allgemeinen Zweckes vorgestellt werden als jene Leidenschaften, partikulären Interessen, selbstsüchtigen Absichten und Bedürfnisse selbst, die das menschliche Handeln stets bestimmen. „Diese unermeßliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen..." 312 Es ist deshalb weiter zu fragen, wie es möglich ist, daß einzelne Menschen wie auch ganze Völker zwar immer nur das Ihrige zu befriedigen suchen, dabei aber — ungewollt — zugleich „die Mittel und die Werkzeuge eines Hohem, Weitern sind, von dem sie nichts wissen, das sie bewußtlos vollbringen" 313 . Diese ungewollte und unbemerkte Übereinstimmung zwischen dem Handeln nach individuellen Zwecken und dem allgemeinen Zweck der Weltgeschichte nennt Hegel die „List der Vernunft"™. Um diesen berüchtigten Ausdruck angemessen verstehen zu können, ist daran zu erinnern, was Hegel über die Abhängigkeit des Individuums vom allgemeinen Bewußtsein und Zeitgeist ausgeführt hat. Die Handelnden verfolgen zwar in ihrem Tun je besondere Zwecke, aber sie sind dabei auch, wie Hegel sagt, „Wissende, Denkende" und als solche haben sie am 310 311 312 313 314
Vgl. VG, S. 81 f. Vgl. VG, S. 83. VG, S. 87. Ebd. VG, S. 105.
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allgemeinen Geist der Zeit teil. „Der Inhalt ihrer Zwecke ist deshalb durchzogen mit allgemeinen, wesenhaften Bestimmungen des Rechts, des Guten, der Pflicht usf. Denn die bloße Begierde, die Wildheit und Roheit des Wollens fällt außerhalb des Theaters und der Sphäre der Weltgeschichte." 315 Die Handelnden orientieren sich also nur an ihren eigenen Interessen, aber bleiben dabei — ob sie wollen oder nicht — an die Grundüberzeugungen der jeweiligen Zeit gebunden. Die allgemeinen Leitgedanken einer Zeit sind von bestimmtem Inhalt und werden dadurch zu „Richtlinien" für die Zwecke und Handlungen der Menschen jener Zeit. „Jedes Individuum ist der Sohn seines Volkes auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung dieses Volkes. Niemand kann den Geist seines Volkes überspringen, sowenig er die Erde überspringen kann." 316 Der dargelegte Zusammenhang von allgemeinem Zeitgeist und individuellem Verhalten hat für jeden einzelnen Menschen Geltung, er trifft aber in besonderem Maße auf das Handeln der „welthistorischen Individuen" zu. Diese haben das Glück, daß bei ihnen das individuelle Interesse mit dem allgemeinen Zweck der Weltgeschichte übereinstimmt. Die welthistorischen Individuen sind gleichsam die „Geschäftsführer" 317 des Weltgeistes. Haben sie ihre weltgeschichtliche Aufgabe erfüllt, „so gleichen sie leeren Hülsen, die abfallen" 318 . Der Endzweck der Geschichte realisiert sich also durch die Tätigkeit der einzelnen Menschen und ihre je individuellen Absichten. Nun ist der individuelle Wille nicht unabhängig, er ist durch einen allgemeinen, überindividuellen Willen mitbestimmt. Und insofern der individuelle Wille am Allgemeinen teilhat, bewegt er sich „im Wesentlichen". Dieses Allgemeine und Wesentliche der Zeit ist in den Gebilden des objektiven Geistes, im Recht, in der Sittlichkeit, in Kunst, Religion und Wissenschaft und insbesondere im Staat enthalten. In den Gebilden des objektiven Geistes liegt das Allgemeine in seiner konkreten Gestalt vor. Vor allem im Staat gelangen nach Hegel das allgemeine und wesentliche Wollen des Weltgeistes und das individuelle, subjektive Wollen zur Übereinstimmung in einer konkreten Einheit. Deshalb kann Hegel sagen: „Alles, was der Mensch ist, verdankt er dem Staat; er hat nur darin sein Wesen. Allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat." 319 315 316 317 318 319
VG, S. Ebd. VG, S. VG, S. VG, S.
95. 99. 100. 111.
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Die weltgeschichtliche Funktion des Staates besteht demnach darin, daß er in besonderem Maße den subjektiven und den allgemeinen Willen in Übereinstimmung bringt. Mit dem Nachweis der Abhängigkeit des freien, individuellen Handelns von den allgemeinen Ordnungsformen der jeweiligen Zeit ist ein entscheidender Punkt im Argumentationsgang der Hegeischen Geschichtsphilosophie erreicht. Gerade weil die Individuen in ihrem Verhalten — unbemerkt und ungewollt — sich immer schon in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Bewußtsein der Zeit befinden, gerade weil alles menschliche Tun sich als relativ auf die jeweilige Geschichtssituation erweist, gerade deswegen fügen sich die Handlungen der Menschen, obwohl diese nur ihre partikulären Zwecke zu verfolgen vermeinen, in den allgemeinen Fortgang der Geschichtsentwicklung ein. Hegel hat mit Eindringlichkeit die unbewußte Geschichtsabhängigkeit menschlicher Tätigkeit herausgearbeitet und die Relativität, das Bezogensein, alles Menschlichen auf die jeweilige Situation der Geschichte aufgezeigt, weil nur so der Zusammenhang der individuellen, freien Handlung mit der allgemeinen, notwendigen Geschichtsentwicklung garantiert ist. Indem Hegel das Faktum des menschlichen Verhaftetseins an das allgemeine Bewußtsein der Zeit betont, das noch in der freien Willensentscheidung wirksam ist, setzt er den Akzent auf die Historizität der menschlichen Verhältnisse. Es ist bereits in den vorangehenden Ausführungen auf die Grundprämisse der Geschichtsphilosophie Hegels hingewiesen worden. Nun ist es nicht nur für das Verständnis Hegels, sondern auch für das Verständnis der Situation der Geschichtsphilosophie nach Hegel von Wichtigkeit, die christliche Glaubensvoraussetzung in der Hegeischen Geschichtskonzeption deutlich hervorzuheben. Erst auf der Grundlage der im Glauben getroffenen Vorentscheidung, daß nämlich Vernunft in der Geschichte sei, kann eine deduktive Begründung des Endzwecks der Geschichte legitimerweise vertreten werden. Es ist dann im weiteren gerade die Historizität des menschlichen Tuns, die es erlaubt, den Endzweck der Geschichte mit der Freiheit des Handelns in Verbindung zu bringen. Fällt aber die Glaubensprämisse der Vernünftigkeit der Geschichte, dann führt kein Weg mehr von der Feststellung der geschichtlichen Bedingtheit des Menschlichen zur Konstruktion eines übergeordneten, notwendigen Entwicklungsprozesses. Wird die Glaubensvoraussetzung aufgegeben, dann verkehrt sich die Geschichtskonzeption Hegels — noch in ihrem
Der Entwicklungsbegriff Hegels
201
Untergang ein letztes Mal das dialektische Prinzip bezeugend — in ihr Gegenteil, in den bloßen historischen Relativismus. Hegels Festhalten an den Grundüberzeugungen der christlichen Tradition erklärt nicht nur die Glaubensprämisse, daß Vernunft in der Welt und Geschichte sei, sondern auch den in der Geschichtsphilosophie vorausgesetzten Begriff des Geistes. Dieser bestimmt den Lauf der Welt und der Geschichte. Er ist der Geist Gottes, ist Gott selbst. Nur unter dieser Voraussetzung ist es nämlich möglich, davon auszugehen, daß das Denken, wenn es sich selbst denkt, in einen Entwicklungsprozeß gerät, in welchem es schließlich zum Bewußtsein seiner selbst gelangt: Der Geist, der im Wissen des Menschen sich selbst erkennt, ist der göttliche Geist. Der Entwicklungsgang des Geistes hat das Selbstbewußtsein Gottes zum Ziel. Dieser Entwicklungsgang ist derjenige der Geschichte der Philosophie. Die wesentliche Bestimmung der Philosophie liegt folglich darin, zum Wissen Gottes zu gelangen: „Denn auch die Philosophie hat keinen andern Gegenstand als Gott, und ist so wesentlich rationelle Theologie, und als im Dienste der Wahrheit fortdauernder Gottesdienst." 320
3. Philosophiegeschichte
als
Entwicklung
„Die Philosophie ist nun für sich das Erkennen dieser Entwickelung, und ist als begreifendes Denken selbst diese denkende Entwickelung. Je weiter diese Entwickelung gediehen, desto vollkommener ist die Philosophie." 321
Die Geschichte der Philosophie ist wie die Geschichte der Welt Entwicklung des absoluten Geistes in der zeitlichen Erscheinung. Aus dieser allgemeinen Bestimmung folgt, daß die Philosophiegeschichte kein Gebilde zusammenhangsloser philosophischer Überzeugungen, sondern ein einheitliches Ganzes darstellt. Die Verlaufsform dieser Geschichte ist daher als Entwicklung zu begreifen. Die Philosophiegeschichte kann, insofern sie Entwicklung ist, nichts anderes sein als die Entfaltung dessen, was bereits in dem liegt, was sich entwickelt. Dies macht ihre Einheit aus. Die Philosophie nimmt zwar im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder neue 320 321
SWG, 12, S. 147 f. SWG, 17, S. 56.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Gestalt an, sie bleibt aber in ihrem Wesen identisch. Der Entwicklungsgedanke betont das Anderswerden des Gleichbleibenden. Die angegebenen Grundbestimmungen der Geschichte der Philosophie folgen daraus, daß der Geist, um dessen Geschichte es hier geht, selbst entwicklungshaft ist. Der Geist ist wesentlich Tätigkeit. Er ist nur, indem er wird. Und er kann nur werden, was er an sich bereits ist. Die Bewegung des Geistes von seinem Ansichsein zum Fürsichsein ist also Entwicklung im strengen Sinne. Mit dem Entwicklungscharakter des Gegenstandes der Philosophie, des Geistes oder der Idee, ist zugleich der Entwicklungscharakter der Philosophie selbst vorgegeben. „Wesentlich ist es nun die Natur der Idee sich zu entwickeln und nur durch die Entwickelung sich zu erfassen, zu werden, was sie ist." 322 Die Entwicklungsauffassung verbürgt erstens die Einheit der Philosophie in ihrer Geschichte: „...es ist Eine Idee im Ganzen und in allen ihren Gliedern, wie in einem lebendigen Individuum Ein Leben, Ein Puls durch alle Glieder schlägt. Alle in ihr hervortretenden Theile, und die Systematisation derselben geht aus der Einen Idee hervor; alle diese Besonderen sind nur Spiegel und Abbilder dieser Einen Lebendigkeit; sie haben ihre Wirklichkeit nur in dieser Einheit, und ihre Unterschiede, ihre verschiedenen Bestimmtheiten zusammen, sind selbst nur der Ausdruck, und die in der Idee enthaltene Form." 323 Die Entwicklungsauffassung hat zweitens zur Folge, daß das Ganze der Philosophiegeschichte einen notwendig ablaufenden, vernünftigen Prozeß darstellt. Wie in der philosophischen Reflexion ein gesetzter Gedanke sich mit innerer, logischer Notwendigkeit entwickelt, so auch die Philosophie insgesamt: Das Ganze der Geschichte der Philosophie ist „ein in sich nothwendiger, konsequenter Fortgang...; er ist in sich vernünftig, durch seine Idee bestimmt. Die Zufälligkeit muß man mit dem Eintritt in die Philosophie aufgeben. Wie die Entwickelung der Begriffe in der Philosophie nothwendig ist, so ist es auch ihre Geschichte" 324 . Aber nicht nur das Ganze der Geschichte der Philosophie bildet ein in sich notwendiges System, sondern auch jeder einzelne Entwicklungsschritt und schließlich jede einzelne Philosophie erweist sich als integrierender und unverlierbarer Teil im Gesamtgeschehen. Die dritte Bestimmung, die aus der Entwicklungsauffassung folgt, „ist die, daß jede Philosophie 322 323 324
S W G ;
1 7 )
s
49
S W G , 17, S. 57. S W G , 17, S. 66.
Der Entwicklungsbegriff Hegels
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nothwendig gewesen ist, und noch ist, keine also untergegangen, sondern alle als Momente Eines Ganzen affirmativ in der Philosophie erhalten sind" 325 . Diese Feststellung betrifft zwar nicht das Besondere an jeder einzelnen Philosophie, sondern nur ihren wesentlichen Gehalt, das leitende Prinzip. Die Prinzipien aber bleiben erhalten, und in dieser Hinsicht kann die jeweils neueste Philosophie als das Resultat aller vorhergehenden Prinzipien verstanden werden. Darum ist, wie Hegel sagt, auch noch keine Philosophie widerlegt worden. „Was widerlegt worden, ist nicht das Princip dieser Philosophie, sondern nur dieß, daß dieß Princip das Letzte, die absolute Bestimmung sey." 326 So folgt aus der Entwicklungsauffassung als vierte Konsequenz, daß die Philosophiegeschichte nicht das Vergangene der Philosophie, sondern vielmehr das in ihr Gegenwärtige bezeichnet. In der Geschichte der Philosophie realisiert sich das Bleibende und Zeitlose des philosophischen Gedankens. „Es ergiebt sich daraus die Ansicht für die Geschichte der Philosophie, daß wir in ihr, ob sie gleich Geschichte ist, es doch nicht mit Vergangenem zu thun haben. Der Inhalt dieser Geschichte sind die wissenschaftlichen Produkte der Vernünftigkeit; und diese sind nicht ein Vergängliches." 327 Die Geschichte des Denkens ist für Hegel die Geschichte der allmählichen Realisierung des Bleibenden, Unverlierbaren und zeitlos Gültigen. Die Wahrheit kommt in dieser Geschichte Stück für Stück zu ihrer zeitlichen Erscheinung. Das einmal Entdeckte und zu Bewußtsein Gelangte stellt einen unvergänglichen Besitz der Menschheit dar. Hegel nennt es „ein successives Erwachen" 328 , und er faßt diesen Vorgang ins Bild des Freilegens eines Schachtes, aus dem nach und nach die Wahrheit ins Bewußtsein gehoben wird. Dieser Schacht ist der des Geistes. Die Leistung der einzelnen Philosophien besteht also darin, „daß sie das an sich Vernünftige aus dem Schachte des Geistes, worin es zunächst nur als Substanz, als inneres Wesen ist, zu Tag ausgebracht, in das Bewußtseyn, in das Wissen befördert haben" 329 . Der hier maßgebende Entwicklungsbegriff verweist auf den Begriff des Geistes, der als eine sich selbst hervorbringende Potenz gefaßt ist. Die 325 326 327 328 329
Ebd. SWG, 17, S. 67. SWG, 17, S. 68. Ebd. Ebd.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
Geschichte des Geistes als Geschichte eines sich selbst Erzeugenden nimmt die Gestalt eines Entwicklungsvorgangs an. Hegel versteht diesen als „die Geschichte von dem Sich-selbst-Finden des Gedankens". Für den Gedanken aber gilt, „daß er sich nur findet, indem er sich hervorbringt". Der Gedanke entdeckt sich selbst. 330 Die Geschichte der Philosophie ist so die Geschichte des sich seiner selbst bewußt werdenden und sich selbst begreifenden Geistes. Der Geist begreift sich, wie er an sich ist. Er ist aber nur, indem er wird. Es folgt daraus, daß sich im philosophiegeschichtlichen Entwicklungsprozeß Subjekt und Objekt der Entwicklung nicht voneinander trennen lassen. Entsprechend kommt der Geschichte der Philosophie eine doppelte Funktion zu: Einerseits ist sie Erkenntnis dieser Entwicklung, andererseits ist sie selbst diese Geschichte, die sie darstellt: „Die Philosophie ist nun für sich das Erkennen dieser Entwickelung, und ist als begreifendes Denken selbst diese denkende Entwickelung." 331 Daran schließt sich als weitere Konsequenz die Überzeugung, daß die zeitlich spätere zugleich die vollkommenere Philosophie ist: „Je weiter diese Entwickelung gediehen, desto vollkommener ist die Philosophie." 332 Die Entwicklung des Geistes wird darum von Hegel als Veränderung eines Gleichbleibenden gedacht: Der Geist bleibt immer derselbe. Seine zeitliche Entfaltung bedeutet kein „Werden zu einem Anderen", sondern ein „Insichhineingehen, ein Sichinsichvertiefen" oder, nochmals anders ausgedrückt, eine Entwicklung zu immer größerer Bestimmtheit. 333 Die Philosophie also ist ihr eigenes Gewordensein: Sie ist, wozu sie sich in ihrer Geschichte entwickelt hat. Nach dieser Denkfigur stellt die Philosophie ein „System in der Entwikkelung" dar. 334 Weil das System der Philosophie in einem notwendigen Entwicklungsprozeß geworden ist, was es ist, muß seine logisch-systematische Ordnung mit der zeitlichen Ordnung des Gewordenseins übereinstimmen. „Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee." 335 330 331 332 333 334 335
Vgl. SWG, 17, S. 31. SWG, 17, S. 56. Ebd. Vgl. SWG, 17, S. 57. Vgl. SWG, 17, S. 58. SWG, 17, S. 59 — Derselbe Gedanke findet sich an verschiedenen Stellen des Werks. Es sei hier insbesondere auf die beiden Paragraphen 14 und 86 der „Enzyklopädie" von 1830 hingewiesen. „Dieselbe Entwickelung des Denkens, welche in der Geschichte der Philosophie dargestellt wird, wird in der Philosophie selbst dargestellt, aber befreit von
Der Entwicklungsbegriff Hegels
205
In diesem Grundsatz hat die Hegeische Konzeption der Geschichte der Philosophie ihre eigentliche Mitte und innere Einheit. Der Grundsatz stellt freilich auch nur eine Konsequenz der Entwicklungsauffassung der Philosophie dar. Es zeigt sich, daß der Entwicklungsgedanke ebenso auf den Systemgedanken verweist wie dieser auf jenen. Die Übereinstimmung der logischen und der zeitlichen Ordnung des Systems der Philosophie bestätigt den notwendigen, logisch stringenten Charakter des Entwicklungsverlaufs der Philosophie in ihrer Geschichte. Wenn die Wahrheit in der Geschichte des Denkens sukzessive zu ihrer zeitlichen Erscheinung gelangt, so bedeutet dies unter verändertem Blickwinkel aber auch, daß jeder Zeit nur ein bestimmtes Maß an Einsicht in die Wahrheit gegeben ist. Die Philosophien sind auf ihre jeweilige geschichtliche Situation relativ. Dasselbe folgt aus der behaupteten Übereinstimmung zwischen der logischen Ordnung des Systems und der zeitlichen Ordnung in seiner Entwicklung. Denn wenn jedes Moment im logischen System des Denkens eine bestimmte Stelle und Funktion einnimmt, so muß aufgrund der behaupteten Korrespondenz dasselbe auch für die einzelnen philosophiegeschichtlichen Entwicklungsstufen gelten. So repräsentiert „jede Philosophie im Ganzen des Ganges eine besondere Entwickelungsstufe", also eine „bestimmte Stelle, auf der sie ihren wahrhaften Werth und Bedeutung hat". 336 Die Philosophie steht somit „im innigsten Zusammenhange" mit dem „allgemeinen Charakter des Volks und der Zeit". 337 Die jeweilige Gestalt der Philosophie korrespondiert mit den geschichtlichen Verhältnissen der Zeit. Es zeigt sich eine innere, unauflösliche Relation zwischen der Philosophie und der jeweiligen politischen Geschichte sowie den Staatsverfassungen und Wissenschaften, der Kunst und Religion. „Von diesen mannigfaltigen Seiten ist die Philosophie Eine Form, und welche? Sie ist die höchste Blüthe, — sie der Begriff der ganzen Gestalt des Geistes, das Bewußtseyn und das geistige Wesen des ganzen Zustandes, der Geist der Zeit, als sich denkender Geist vorhanden." 338 Die Philosophie gibt die innere Einheit
336 337 338
jener geschichtlichen Äußerlichkeit, rein im Elemente des Denkens" (SWG, 8, S. 60). „Die verschiedenen Stufen der logischen Idee finden wir in der Geschichte der Philosophie in der Gestalt nach einander hervorgetretener philosophischer Systeme, deren jedes eine besondere Definition des Absoluten zu seiner Grundlage hat" (SWG, 8, S. 204). Vgl. SWG, 17, S. 75. Vgl. SWG, 17, S. 80. SWG, 17, S. 84.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
der mannigfaltigen Erscheinungen der Zeit wieder. „Das vielgestaltete Ganze spiegelt in ihr als dem einfachen Brennpunkte, dem sich wissenden Begriffe desselben, sich ab." 3 3 9 Das Verhältnis zwischen Philosophie und äußerer Geschichtssituation läßt sich nun nicht so verstehen, daß das eine die Ursache des anderen wäre. Sie sind nicht aufeinander zurückführbar, denn sämtliche geschichtliche Erscheinungen haben „eine und dieselbe gemeinschaftliche Wurzel, — den Geist der Zeit" 340 . Dieser stellt das Einheitliche und Verbindende jeder Geschichtsepoche dar. Der „Geist der Zeit" ist nicht mit der Philosophie der Zeit identisch, obwohl jener in dieser zum Bewußtsein gelangt. Der „Geist der Zeit" gibt den Grundzustand und die Grundwirklichkeit der jeweiligen Geschichtsstufe wieder: „Es ist Ein bestimmtes Wesen, Charakter, welcher alle Seiten durchdringt, und sich in dem Politischen und in dem Anderen, als in verschiedenen Elementen darstellt; — es ist Ein Zustand, der in allen seinen Theilen in sich zusammenhängt, und dessen verschiedene Seiten, so mannigfaltig und zufällig sie aussehen mögen, so sehr sie sich auch zu widersprechen scheinen, nichts der Grundlage Heterogenes in sich enthalten." 3 4 1 Der „Geist der Zeit", der die jeweilige geschichtliche Wirklichkeit „nach seinem Principe ausprägt", bildet den Gegenstand der philosophischen Weltgeschichte überhaupt. 3 4 2 Es gilt somit auf der einen Seite, daß die Philosophie mit ihrer Zeit identisch ist. Sie steht nicht über der Zeit, sondern ist deren Ausdruck. Sie bleibt an die Zeit gebunden. „Ebenso wenig steht ein Individuum, als Sohn seiner Zeit, über seiner Zeit: das Substantielle derselben, welches sein eigenes Wesen, manifestirt er nur in seiner Form; niemand kann über seine Zeit wahrhaft hinaus, so wenig, wie aus seiner Haut." 3 4 3 Auf der anderen Seite gewinnt in der Philosophie das Substantielle einer Zeit begrifflichen Ausdruck. In der Philosophie gelangt der „Geist der Zeit" zum Wissen seiner selbst; in ihr wird er sich seiner selbst bewußt. In dieser Hinsicht steht die Philosophie jeweils über ihrer Zeit, denn in dem Moment, w o das Wesentliche der Zeit in der Philosophie bewußt geworden ist, ist es auch schon überwunden. Indem die Philosophie die jeweilige Entwicklungsstufe begreift und das Wesentliche zu Bewußtsein bringt, hat sie die betreffende Stufe bereits verlassen. 339 340 341 342 343
Ebd. S W G , 17, S. 85. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.
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Hegels so eminent geschichtliches Philosophieverständnis, welches das Moment des zeitlichen Bedingtseins jeder Philosophie derart nachdrücklich betont, bleibt jenseits von allem historischen Relativismus. Denn die Zeitbedingtheit jeder einzelnen Philosophie ist nur ein anderer Ausdruck für die Notwendigkeit ihres Ortes in der zeitlichen Folge der Entwicklung der Philosophie. Die geschichtliche Bedingtheit einer Philosophie meint darum keine Einschränkung ihrer Gültigkeit. Der Entwicklungsgedanke verhindert jedes Eindringen einer relativistischen Auslegung der Tatsache geschichtlicher Abhängigkeit des Denkens. Die verschiedenen Philosophien schließen sich in jeder Gegenwart zu einer Synthese zusammen, die den Stand „der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts" 344 repräsentiert. In diesem Sinne kann Hegel formulieren, daß wir das, „was wir sind..., zugleich geschichtlich" sind. 345 Dieser Satz will nicht die geschichtliche Bedingtheit der Gegenwart herausstellen, sondern im Gegenteil gerade auf das Bleibende in ihr hinweisen. Das Geschichtliche an der Philosophie der Gegenwart ist zugleich das Unvergängliche und zeitlos Gültige in ihr. Es ist das, was den erreichten Stand des Denkens konstituiert, nicht das, was diesen relativiert. Wenn das Verhältnis der früheren zu den späteren Systemen der Philosophie dem Verhältnis der früheren zu den späteren Stufen der Entwicklung der logischen Idee entspricht, dann kann die ältere Philosophie auch nicht durch eine jüngere Philosophie widerlegt werden. Dies ist der Sinn der Aussage Hegels, daß noch keine Philosophie widerlegt worden sei. 346 Da die Philosophiegeschichte einen Entwicklungsprozeß darstellt, in dem das Frühere im Späteren aufgehoben ist, kann nur in einem eingeschränkten Sinne von „Widerlegung" die Rede sein. Eine solche ist dann freilich in jeder Entwicklung enthalten, sofern sich überhaupt in dieser Stufen 344 345
346
S W G , 17, S. 28. Ebd. — Vgl. zu dem Satz, daß, was wir sind, wir zugleich geschichtlich sind, die Darlegungen Otto Pöggelers in seinem Werk über „Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes" (Freiburg/München 1973), S. 309 ff. Pöggeler hebt hervor, daß in diesem Satz der Ton nicht zuletzt auf dem „zugleich" liege, denn das „Unvergängliche", das wir sind, stehe als ewig Gegenwärtiges in sich selbst, und nur als solches sei es zugleich geschichtlich. Demgegenüber werde nach einem anderen, heute üblichen Verständis das Geschichtliche als das nur Geschichtliche vernommen, „also so, daß man davon absieht, daß das Unvergängliche in ihm aufscheint. So aber wird das Geschichtliche nicht eigentlich aus der ,Geschichtlichkeit' gedacht, die die Geschichtlichkeit des Unvergänglichen ist, Beisichsein und sein Zuhausesein auch in dem, was zuerst ein unaufhebbar Positives zu sein schien" (S. 310). Vgl. etwa S W G , 17, S. 67.
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Drei Paradigmen des Entwicklungsdenkens
unterscheiden lassen. Hegel verweist wiederum auf das Beispiel organischer Entwicklung: „Die Entwickelung des Baums ist Widerlegung des Keims, die Blüthe die Widerlegung der Blätter, daß sie nicht die höchste, wahrhafte Existenz des Baumes sind. Die Blüthe wird endlich widerlegt durch die Frucht; aber sie kann nicht zur Wirklichkeit kommen, ohne das Vorhergehen aller früheren Stufen." 347 In der „Enzyklopädie" bemerkt Hegel, man pflege, wenn von der „Widerlegung" eines philosophischen Systems durch ein anderes gesprochen werde, diesen Ausdruck in einem „abstrakt negativen Sinn" zu verstehen, indem man dann meine, daß mit seiner Widerlegung das betreffende philosophische System beseitigt und abgetan sei. „Wenn dem so wäre, so müßte das Studium der Geschichte der Philosophie als ein durchaus trauriges Geschäft betrachtet werden, da dieses Studium lehrt, wie alle im Verlauf der Zeit hervorgetretenen philosophischen Systeme ihre Widerlegung gefunden haben." 348 Nun aber müsse, so führt Hegel weiter aus, wenn alle Philosophien zugegebenermaßen widerlegt worden sind, zugleich auch behauptet werden, daß noch keine Philosophie widerlegt worden ist. In diesem Sinne habe es die Geschichte der Philosophie ihrem wesentlichen Inhalt nach nicht mit Vergangenem, sondern mit Ewigem und schlechthin Gegenwärtigem zu tun, und so sei sie „in ihrem Resultat nicht einer Galerie von Verirrungen des menschlichen Geistes, sondern vielmehr einem Pantheon von Göttergestalten zu vergleichen" 349 . Für ein solches Verständnis der Geschichtlichkeit der Philosophie ist auch das historische Faktum der Vielheit philosophischer Meinungen kein überzeugendes Argument, das die Wahrheit der Philosophie zu relativieren vermöchte. Nun scheint aber die Tatsache der Vielheit und Verschiedenheit der Philosophien dem philosophischen Wahrheitsanspruch doch insofern zu widersprechen, als die Wahrheit, wie Hegel sagt, nur eine sein kann. Müßte man, so fragt er, daraus nicht schließen, daß auch nur eine Philosophie die wahre sein könne und folglich sich alle übrigen als irrtümlich erwiesen? Bei dieser Folgerung handelt es sich nach Hegel um „eine richtig scheinende Einsicht des nüchternen Denkens". Über die Nüchternheit belehre uns die alltägliche Erfahrung, daß sie mit Hunger und Durst verbunden sei. Jenes nüchterne Denken aber habe das „Talent und Geschick", aus seiner Nüchternheit nicht zum Hunger und Verlangen überzu-
347 348 349
Ebd. S W G , 8, S. 205. S W G , 8, S. 205 f.
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gehen, sondern es bleibe satt. „Damit verräth sich dieses Denken, das jene Sprache spricht, daß es todter Verstand ist; denn nur das Todte ist nüchtern, und ist und bleibt dabei zugleich satt." Die physische wie die geistige Lebendigkeit dagegen bleibe in der Nüchternheit nicht befriedigt, sondern gehe in den Hunger und Durst nach Erkenntnis und Wahrheit über und lasse sich „nicht mit solchen Reflexionen, wie jene ist, abspeisen und ersättigen". 350 Hegel anerkennt die Vielheit der Philosophien als eine notwendige Voraussetzung der Philosophie selbst: „Wir müssen dieß begreiflich machen, daß diese Mannigfaltigkeit der vielen Philosophien nicht nur der Philosophie selbst — der Möglichkeit der Philosophie — keinen Eintrag thut; sondern daß sie zur Existenz der Wissenschaft der Philosophie schlechterdings nothwendig ist und gewesen ist, — dieß ihr wesentlich ist." 351 Die Aufgabe der Philosophie kann nach Hegel nur in einer Vielheit einander widersprechender Philosophien erfüllt werden. Die Verschiedenheit philosophischer Uberzeugungen bildet daher ein unvermeidliches Moment im Fortgang der Philosophie. Man darf sich durch die Tatsache der Vielheit der Philosophien nicht vom Ziel philosophischer Bemühungen, der einen Wahrheit, abbringen lassen; man darf also, bemerkt Hegel, daraus nicht den falschen Schluß ziehen, daß für das menschliche Wissenwollen, „nichts zu erkennen sey, wenigstens, daß die wahre Wahrheit nicht zu erkennen sey, sondern nur zeitliche, endliche Wahrheit, (d.h. eine Wahrheit, die zugleich auch ein Nichtwahres ist)" 352 . Wir dürfen also nach Hegel zum einen den Wahrheitsanspruch nicht aufgeben, müssen aber zum anderen auch die Vielheit und Verschiedenheit der Philosophien als unvermeidlich anerkennen. Die Auflösung dieser Schwierigkeit sieht Hegel im Entwicklungsgedanken: „Wir können das, worauf es hier ankommt, in die einzige Bestimmung der ,Entwickelung' zusammenfassen. Wenn uns diese deutlich wird, so wird alles Übrige sich von selbst ergeben und folgen." 353 Die Entwicklungsvorstellung bietet die logische Möglichkeit, die Uberzeugung der einen, ewigen, unvergänglichen Wahrheit mit dem Faktum der geschichtlichen Abfolge verschiedener und sich widersprechender Philosophien zu verbinden.
350 351 352 353
Vgl. SWG, 17, S. 46. SWG, 17, S. 47. SWG, 17, S. 47 f. SWG, 17, S. 48.
Dritter Teil Hauptschwierigkeiten des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens
I. Kapitel: Schöpfungsordnung und Entwicklung: die theologischen Prämissen des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens
1. Der Entwicklungsgedanke
in den
Schöpfungsmythen
„Dieser Satz, daß die Welt noch unvollendet ist, ist außerordentlich wichtig für alles. Denken wir uns die Welt als vollendet, so ist alles unser Thun nichts. Wissen wir aber, daß die Welt unvollendet ist, so ist unsere Bestimmung wohl, an der Vollendung derselben mitzuarbeiten."1 (Friedrich Schlegel).
Die Vorstellung einer einheitlichen Welt- und Menschheitsentwicklung ist älter als die Philosophie. Der Entwicklungsgedanke zählt zu den frühesten und ursprünglichsten Bildern, in denen der Mensch einen Aufschluß über das Ganze der Welt sowie über das Woher und Wohin seines eigenen Seins zu erlangen suchte. Die Analyse früher Schöpfungserzählungen macht deutlich, daß bereits im mythischen Bewußtsein die Entwicklungsvorstellung als eine Anschauung des Ganzen ein Begreifen der Welt und somit eine einfache Form der Orientierung ermöglichte. In seinem aus dem Nachlaß herausgegebenen Werk „Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen" gibt Richard Hönigswald einen Uberblick über die wichtigsten Schöpfungsmythen. In den Kosmogonien kommt das Bemühen zum Ausdruck, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf ein faßbares Minimum an Urfaktoren zurückzuführen, um so die Welt aus ihrer Einheitlichkeit zu „erklären". Hönigswalds Untersuchungen zielen darauf, die identischen Momente in den verschiede-
1
Friedrich Schlegel: Transcendentalphilosophie; in: Neue Philosophische Schriften, hrsg. von Josef Körner, Frankfurt a. M 1935, S. 156.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
nen kosmogonischen Mythen herauszuarbeiten. Trotz der Differenz ihres kulturellen Umfelds und der vielfältigen Unterschiede in ihrer Ausgestaltung lassen die Kosmogonien einen Grundbestand an gemeinsamen Voraussetzungen erkennen. Zu den konstitutiven Gehalten gehört primär die Idee des Kosmos als eines einheitlichen Ganzen, als Inbegriff aller Gegenstände, als Allheit, wobei der Kosmos aus seinem kosmogonischen Ursprung heraus verstanden werden soll. Mit diesen beiden Vorstellungen der Totalität des Kosmos und eines einheitlichen Weltanfangs ist nun implizite bereits der Entwicklungsgedanke verbunden. Die meisten Schöpfungsmythen lassen den Kosmos aus dem Chaos entstehen. Dieser anfängliche Urzustand kann eigentlich nur negativ, d.h. in Entgegensetzung zum Kosmos und dessen Ordnung, als ein Ungeordnetes und Undifferenziertes, als Bestimmungs- und Richtungsloses gefaßt werden, so daß im Chaos ein Werden im vollen Wortsinne gar nicht stattfinden kann. „Darum ist das Chaos recht eigentlich kein möglicher Schauplatz von Ereignissen..." 2 Erst mit dem Übergang zum Kosmos beginnt demnach das eigentliche und einheitliche Weltgeschehen, das in seinem Entwicklungsgang die geordnete Mannigfaltigkeit hervorbringen wird. Dies bedeutet nichts anderes, als daß der Gedanke der Kosmogonie die Entwicklungsvorstellung zur Konsequenz hat. Der Entwicklungsgang der Schöpfung wird als Funktion ihres Anfangs verstanden. „Darum aber ist im Kosmos alles .Geschehen' immer auch schon , Werden', d.h. auf ein Ergebnis hin gerichtet. Darum ist alles Werden in ihm ,Entwicklung, d.h. an jedem Punkt ,Phase', darum verkörpert jeder Punkt in unabweisbarer Planhaftigkeit Vergangenheit und Zukunft zugleich, darum bedeutet ,Natur' als unverbrüchliche Gesetzlichkeit überall ebenso Keim wie Entfaltung, überall System und Kontinuität." 3 Mit dem kosmogonischen Anfang ist gleichsam die Kugel ins Rollen gebracht, deren Lauf die Entwicklungsgeschichte des Kosmos darstellt. In und mit den Kosmogonien bildet sich die Idee der „Welt" heraus. Die Philosophie wird später das Weltganze in reiner Ungegenständlichkeit denken; der Mythos dagegen muß es in eine gegenständliche Anschauung fassen, indem er es auf ein Ursprungsgeschehen zurückführt. Dieses anfangliche Geschehen wird durch und durch gegenständlich vorgestellt. Der Mythos verwandelt den gedanklich nicht faßbaren Inbegriff allen 2
3
Richard Hönigswald: Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen; Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, Stuttgart 1957, S. 35. Ebd.
Schöpfungsordnung und Entwicklung: die theologischen Prämissen
215
Geschehens in ein einziges Geschehen am Anfang der Weltentwicklung. Ein einzelnes Ereignis wird somit zum Entstehungsgrund für die Möglichkeit von Ereignissen überhaupt. In der Einmaligkeit und Einzigkeit des kosmogonischen Ereignisses liegt zugleich die Einheit der Welt begründet. Die Einheit des Anfangs verbürgt die Einheit des Weltprozesses. Damit sind die Vorbedingungen der Entwicklungsidee erfüllt. Für die Thematik der vorliegenden Untersuchung sind noch zwei weitere Punkte besonders aufschlußreich: 1. Die alten Schöpfungserzählungen gehen von der Einheit des Erschaffenen aus. Dieses Prinzip der Einheit umfaßt auch den Menschen: „Immer bleibt der ,Mensch' in die kosmogonischen Mythen mit einbezogen, als ,terminus ad quem' der gedanklichen Struktur dieser Mythen; — ,der' Mensch, d.h. die .Menschheit'." 4 Hier zeigen sich weitere implizite Gehalte der kosmogonischen Vorstellung. Zunächst ist die Idee der Menschheit zu erwähnen: „Der Einheit der Welt entspricht die Menschheit' als einheitliche Instanz." 5 Die Einheit der Welt wiederholt sich in derjenigen der Menschheit, beide widerspiegeln die Einmaligkeit und Geschlossenheit der Schöpfungstat. Diese wird als göttliche aufgefaßt und besitzt demnach einen werthaften Charakter. So verbindet sich mit dem Schöpfungsgeschehen die Vorstellung eines göttlichen Planes im Fortgang der Kosmogenese im Sinne einer Bestimmung für den Einzelnen, der sich damit in einen übergeordneten Prozeß aufgenommen sieht. Obwohl mit solchen Aussagen in die spätere Begrifflichkeit der Kosmologie und Geschichtsphilosophie übersetzt wird, was im mythischen Bewußtsein selbst nur bildhaft vorlag, so kann Hönigswald doch feststellen: „Die Schöpfungsmythen implizieren somit, nicht etwa die bewußte Reflexion auf die Idee der Menschheit, aber doch die in dieser Idee gelegenen Maßstäbe." 6 2. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß die Weltentwicklung häufig in Bildern organischer Entwicklung vorgestellt wurde, wie dies für die sich am Naturvorbild orientierende Anschauungsweise der Mythen ja auch naheliegend war. So beginnt etwa in der ägyptischen Kosmogonie der eigentliche SchöpfungsVorgang mit der Bildung des Welteis. Darin — aber auch in anderen Motiven dieses Mythos — zeigt sich die Übertragung biologischer Anschauungen und Begriffe auf die Kosmogenese: „Der
4
5 6
Richard Hönigswald: Die Systematik der Philosophie — A u s individueller Problemgestaltung entwickelt, 2. Teil; Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 10, Bonn 1977, S. 495. Ebd. Ebd.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Kosmos wird eben von vornherein als Organismus gekennzeichnet und verfällt dessen Gesetzlichkeit. Er gilt nun dem kosmogonischen Dichter als ,final' bestimmte Ganzheit, keimhaft angelegt und sich in überschaubarer Entwicklung entfaltend." 7 In den kosmogonischen Mythen ist die Verbindung der beiden Grundvorstellungen von kosmischer Einheit und Entwicklung in einer Einfachheit und Deutlichkeit faßbar, die den späteren Kosmologien philosophischer Reflexion wieder verlorengehen wird. Doch dürfen die mythischen Anschauungen nicht mit philosophischer Einsicht verwechselt werden. Das mythische Bewußtsein bleibt an das Bildhafte und Anschauliche gebunden, seine Mittel sind nicht die der begrifflichen Bestimmung. Trotz der prinzipiellen Unterschiede zwischen Mythos und Philosophie kann festgehalten werden, daß in den kosmogonischen Mythen die fundamentalen Gedanken einer jeden späteren Entwicklungslehre vorweggenommen sind: die Überzeugungen einer durch den gemeinsamen Ursprung gestifteten Einheit und Entwicklung der Welt sowie einer daraus ableitbaren Bestimmung des Menschen. Die Entwicklungsbilder der kosmogonischen Mythen dienen der Daseinsorientierung. In den Entwicklungsvorstellungen des Mythos soll ein Unverständliches verständlich und ein unfaßbares Ganzes faßbar gemacht werden. Sie sind damit zugleich ein Beweis für das menschliche Angewiesensein auf Bilder des Gesamtzusammenhangs der Welt und auf sinnstiftende Totalvorstellungen, welche die Ordnung erkennen lassen, in die der Mensch aufgenommen ist und an der er teilhat. Es zeigen sich hier anthropologische Grundlagen des Entwicklungsdenkens. Mit dem Übergang von der mythischen Bilderwelt zur philosophisch reflektierten Welt wechselt zwar die Form der Antwortgebung, aber das zu beruhigende Orientierungsbedürfnis bleibt dasselbe. An die Stelle der bildhaften Anschauung tritt die rationale, theoretische Welterklärung. Ebenfalls gleich bleibt das Bemühen, die sichtbare Vielheit auf eine verborgene Einheit zurückzuführen. Der Entwicklungsgedanke bildet dabei ein häufig verwendetes Erklärungsschema: die Vielheit entsteht in einem Transformationsprozeß aus einer ursprünglichen, selbst ungewordenen Einheit. Dieselbe Entwicklungsvorstellung bestimmt auch noch die moderne evolutionäre Kosmologie, wenn sie die gegenwärtige Gestalt des werdenden Kosmos als Ergebnis einer Evolution aus der nicht näher definierbaren Urmaterie oder Urenergie des Urknalls erklärt. Der Prozeß verläuft dabei nach heuti7
R. Hönigswald: Vom erkenntnistheoretischen Gehalt, S. 52 f.
Schöpfungsordnung und Entwicklung: die theologischen Prämissen
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gern Verständnis über die Evolutionsstufen der atomaren Entwicklung von den Elementarteilchen zu den Atomen, der chemischen Entwicklung von den Atomen zu den Molekülen und der biologischen Entwicklung von den Molekülen zur belebten Zelle bis schließlich zum Menschen, der sich in der evolutionären Kosmologie seine eigene Entstehungsgeschichte zu Bewußtsein bringt. Auch diese moderne Kosmogonie verweist — wie jede Entwicklungsauffassung — auf den Ursprung und damit auf den Schöpfungsgedanken, auch wenn es wissenschaftlich sinnlos ist, nach der „Herkunft" der Materie zu fragen, die für die wissenschaftlich-theoretische Rekonstruktion aus einem „Urknall" hervorgeht. 8
2. Die Vollendung der Schöpfung in der
Geschichte
Mit diesem kurzen Hinweis auf die Entwicklungsvorstellung in den kosmogonischen Mythen sollte vor allem auf den Zusammenhang von Schöpfungs- und Entwicklungsgedanken aufmerksam gemacht werden. Die erörterten geschichtsphilosophischen Entwicklungskonzeptionen Kants, Herders und Hegels können gleichsam als Rationalisierungen des alten Schemas und als dessen Übertragung auf die Geschichte verstanden werden. Denn für alle drei Entwicklungsdeutungen ist der Gedanke konstitutiv, daß in der ursprünglichen Schöpfungsordnung der Entwicklungsgang der Menschheitsgeschichte prädeterminiert ist. Alle drei Geschichtsentwürfe haben ihren letzten Rechtfertigungsgrund in der Überzeugung, daß das Geschichtsgeschehen Gottesgeschehen ist. Kants Geschichtsphilosophie beruht, wie gezeigt, auf dem Glaubenssatz, daß die Natur — ein anderer Name für die Vorsehung — eine Absicht verfolge mit dem Menschen, daß dieser dazu bestimmt sei, im Fortgang der Geschichte alle seine Vernunftanlagen vollständig und zweckmäßig zu entwickeln. An diesem Grundsatz der Kantischen Entwicklungsauffassung der Geschichte haftet ein Moment der Entscheidung, der Entscheidung nämlich für den Sinn. Diese Wahl entspringt nicht einem blinden Glauben, sondern stützt sich auf Vernunftgründe. Denn es ist unvernünftig, „Zweckmäßigkeit der Naturanstalt in Theilen und doch Zwecklosigkeit im Ganzen anzunehmen" 9 . Kants Entwicklungsdeutung hat ihre Grundlage in einem 8
9
Vgl. etwa Bernulf Kanitscheider: Kosmologie — Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive, Stuttgart 1984, insbes. S. 445 ff. VIII, S. 25 (s. Anm. 4 des zweiten Teils).
218
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Satz des Glaubens, der zugleich ein Satz der Vernunft, aber kein Satz des Wissens ist. Er könnte freilich zu einem Satz des Wissens werden, wenn dereinst ein „Newton der Geschichte" die Grundsätze der Geschichtsphilosophie Kants auf ein allgemeinstes Naturgesetz zurückführen könnte. Für Herder ist der Analogieschluß von der Natur- auf die Geschichtsentwicklung dadurch gerechtfertigt, daß die beiden Schöpfungsgebiete von Natur und Geschichte derselben göttlichen Schöpfungsordnung folgen. Im übrigen ist Herders Philosophie der Geschichte derart eng mit seiner Theologie verknüpft, daß die Fundierung der Entwicklungsauffassung in der Vorstellung eines göttlichen Plans in der Weltgeschichte eine nicht näher reflektierte, selbstverständliche Voraussetzung bildet. Am deutlichsten kommt die Abhängigkeit des Entwicklungsgedankens von theologischen Prämissen in der Geschichtsphilosophie Hegels zum Ausdruck. Wenn die Weltgeschichte die Entwicklung darstellt, wie der Weltgeist zum Bewußtsein seiner selbst gelangt und sich schließlich in den absoluten Geist verwandelt, dann läßt sich die Geschichte der Menschheit geradezu als „theogonischer Prozeß" charakterisieren. 10 Der letzte Grund für Hegels entwicklungsgeschichtliche Konstruktion liegt im Glauben an den christlichen Sinn der Weltgeschichte. Die Weltgeschichte hat denn auch ihre Achse in Christus. Das mit Christus bewußt gewordene „neue Princip ist die Angel, um welche sich die Weltgeschichte dreht. Bis hieber und von daher geht die Geschichte" 11 . Für Hegel ist die Menschheitsgeschichte deswegen ein Entwicklungsgeschehen, weil mit Christus offenbar geworden ist, daß die Menschheit einer vorgegebenen Bestimmung folgt. „Im Christentum ist es Hauptlehre, daß die Vorsehung die Welt beherrscht hat und beherrscht, daß, was in der Welt geschieht, in der göttlichen Regierung bestimmt, dieser gemäß ist." Die Christen sind daher, so sagt Hegel, „in die Mysterien Gottes eingeweiht, und so ist uns auch der Schlüssel zur Weltgeschichte gegeben". 12 Nur unter der Voraussetzung der christlichen Glaubenswahrheit 10
11 12
Vgl. Gerhart Schmidt: Die Geschichtlichkeit der „sittlichen Idee" — Reflexionen über Hegels Staatsbegriff; in: Philosophische Tradition im Dialog mit der Gegenwart — Festschrift für Hansjörg A. Salmony, Basel/Boston/Stuttgart 1985, S. 299: „Der Inhalt der Weltgeschichte ist Gott als der eine Weltgeist, welcher erkennend zu sich selbst findet. Hegel vertrat einen Geschichtspantheismus. Die Weltgeschichte war für ihn göttliches, also zeitloses Wesen; ein theogonischer Prozeß, der die Geschichtszeit in ihren Dienst nimmt, sie gewissermaßen stiftet zum Zwecke der göttlichen Selbstverwirklichung, welche nicht intern und logisch, sondern extern, in der Welt ausgetragen werden muß." SWG, 11, S. 410 (s. Anm. 258 des zweiten Teils). Vgl. VG, S. 46 (s. Anm. 259 des zweiten Teils).
Schöpfungsordnung und Entwicklung: die theologischen Prämissen
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kann die Geschichte der Menschheit als Entwicklungsprozeß der Bewußtwerdung des absoluten Geistes interpretiert werden. Die Weltgeschichte hat in Christus eine Mitte, von der her sie systematisch begreifbar wird. In der christlichen Religion hat Gott sich als Geist, der Mensch geworden ist, geoffenbart. Mit dieser Religion ist darum die Zeit gekommen, zu erkennen, was der Sinn der Weltgeschichte ist, denn mit Christus ist „das, was Endzweck der Welt ist, endlich auf allgemeingültige, bewußte Weise in die Wirklichkeit getreten" 13 . Dieses Wissen muß nun in der Philosophie der Geschichte zur Anwendung gelangen, die Glaubensgewißheit muß zur philosophischen, vernünftigen Erkenntnis erhoben werden. Sagt man aber: „wir wissen von Gott nichts, so ist die christliche Religion etwas Überflüssiges, zu spät Gekommenes, Verkommenes" 14 . Die Überlegenheit der christlichen Religion besteht folglich primär darin, daß durch sie die philosophische Einsicht in Gottes Wirken in der Welt möglich wird. „Nicht das Moralische macht im Christentum das Höchste aus, denn auch die Heiden haben eine sehr hohe Moral gehabt. Von Gottes Handeln sollen wir wissen; sonst sind wir wie die Athener, die dem unbekannten Gott einen Altar erbauten." 15 Alle drei Entwicklungsdeutungen der Geschichte verstehen sich gemäß ihren theologischen Prämissen zugleich als Theodizeen. Sie sind als solche mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß jede geschichtsphilosophische Rechtfertigung des Bösen zuletzt eine amoralische Konsequenz aufweist. Der Gedanke der Theodizee findet wiederum bei Hegel seinen klarsten und eindeutigsten Ausdruck, während Kant der Theodizeevorstellung bloß den Status einer Vernunftidee zugesteht. Doch auch bei ihm liegt der „Ausschlag" der Geschichtsphilosophie in der „Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem Gange der menschlichen Dinge im Ganzen". 16 Im Vergleich zu den im ganzen recht vorsichtigen Erwägungen Kants zu dieser Thematik betont Hegel den Theodizeegedanken in massiver Weise. Seine Entwicklungsdeutung der Geschichte läuft insofern auf „eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes" hinaus, als durch die Erkenntnis des Endzwecks, des Affirmativen, das unbestreitbar Negative „zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet". Die Rechtfertigung
13 14 15 16
VG, VG, VG, Vgl.
S. 45. S. 45 f. S. 261. VIII, S. 123.
220
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
zielt also darauf, „das Übel gegenüber der absoluten Macht der Vernunft begreiflich zu machen". Hegel verwendet eindeutige Worte, um die Aufhebung des partikulär Negativen im Affirmativen der übergeordneten Geschichtszwecke auszudrücken: „Dabei, daß einzelne Individuen gekränkt worden sind, kann die Vernunft nicht stehen bleiben; besondere Zwecke verlieren sich in dem Allgemeinen." 17 Es war unvermeidlich, daß gegen eine solche Auslegung des Theodizeegedankens Einspruch erhoben werden mußte. Denn nach der inneren Logik dieses Gedankens ist alles Geschehen als gerechtfertigt aufzufassen, und zwar deswegen, weil es geschehen ist. „Das Aberwitzige und geradezu Entsetzliche dieses Philosophems", schreibt etwa Hermann Wein, „ist, daß es danach keine Fehler in der Geschichte geben kann. ,Fehler' wären Geschehnisse, in denen das Unrechte geschehen ist, also etwas, was nicht ,an der Zeit war', oder in denen das, was ,an der Zeit war', nicht geschehen ist." 18 Nun handelt es sich hierbei um eine Schwierigkeit, die jeder Entwicklungsdeutung immanent ist, die sich absolut setzt. Denn in dem Moment, wo der Geschichtsentwicklung Vernünftigkeit zugeschrieben wird, die sich auch gegen das freie Handeln des Menschen durchsetzt, zugleich aber dieses Handeln sich am vernünftigen Geschehen der Geschichte orientieren soll, gerät der Entwicklungsgedanke in einen Selbstwiderspruch. Die als Entwicklung gedeutete Geschichte erhebt den Menschen zum Mitwirkenden am Vollendungsprozeß der Schöpfung. Aus diesem Pathos lebt wohl jede Entwicklungskonzeption der Geschichte. Sie findet überdies auch erst in einer solchen Einstellung und Absicht ihre sittlich-praktische Rechtfertigung. Das Bewußtsein der tätigen Mitgestaltung an den übergreifenden Geschichtszwecken ist in allen drei behandelten Entwicklungsauffassungen nachweisbar. Für Hegel ist folgendes frühes Zeugnis überliefert: „Der Gott nicht mehr anklagende, seine Abhängigkeit aber anerkennende Mensch", so notiert sich Hegel in sein „Wastebook", „will wissen, zu welchem Zweck er da ist. Und kann er keine Antwort erzwingen, so möchte er doch wissen, warum die Natur mit ihm auf halbem Wege stehengeblieben und ihn da nur ahnen läßt, wo er Gewißheit fordert." Die Gewißheit bleibt dem Menschen zwar versagt, aber er kann aus dem Bewußtsein leben, daß es an ihm liegt, „durch sein Wirken den schönen
17 18
V G , S. 48 f. Hermann Wein: Realdialektik — Von hegelscher Dialektik zu dialektischer Anthropologie, Fotomechan. Nachdr., Den Haag 1964, S. 30.
Schöpfungsordnung und Entwicklung: die theologischen Prämissen
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Gang der moralischen Welt" zu befördern oder zu stören, denn „das ganze Menschengeschlecht vom Bettler bis zum König ist Werkmeister der moralischen Welt". 19 Nun wird gerade dieses vom Entwicklungsgedanken getragene Bewußtsein der Mitwirkung an der Vollendung der Geschichte durch dieselbe Entwicklungskonzeption widerlegt. Der Mensch ist zwar ein Mitwirkender an der Geschichte, aber zumeist gegen seine eigene Absicht und ohne sein Wissen: er ist der unbewußte Mitvollstrecker und das Instrument der Realisierung des vernünftigen Sinns im Weltgeschehen. Denn es ist die „List der Vernunft" und es sind ihre „Geschäftsführer", die „welthistorischen Individuen", die den Fortgang der Geschichte bestimmen. Die individuellen Zwecke zählen nicht und gehen zumeist unter: „Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine; die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern durch die Leidenschaften der Individuen." 20 Der allgemeine Entwicklungsgang der Geschichte kommt also nach Hegel nur dadurch zustande, daß das Individuum bei der Verfolgung seiner je eigenen Zwecke scheitert, insofern seine Handlungen andere Ergebnisse zeitigen, als von ihm intendiert waren. Der Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Geschichtszweck und den besonderen Zwecken der menschlichen Handlungen enthält, wie Hegel ausführt, „nämlich dies, daß in der Weltgeschichte durch die Handlungen der Menschen noch etwas anderes überhaupt herauskomme, als sie bezwecken und erreichen, als sie unmittelbar wissen und wollen" 21 . Bei einer solchen Bestimmung des Verhältnisses von Individuellem und Überindividuellem in der Geschichte ist es allerdings fraglich, wo hier noch Raum für die sich an derselben Geschichte orientierende sittliche Entscheidung des Einzelnen bleibt. Die Geschichte scheint sich der Verfügungsgewalt des handelnden Menschen zu entziehen; dem Individuum wird damit gleichsam die Entscheidungsfahigkeit abgesprochen, der Einzelne kann sich nun von seiner Geschichtsverantwortung entbunden sehen. Die hier angedeutete amoralische Konsequenz der Hegeischen Entwicklungsdeutung der Geschichte wird in dem Moment akut, wo die
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20 21
Aphorismen aus Hegels Wastebook (1803—06); in: G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden (Theorie-Werkausgabe), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1970, S. 555. V G , S. 105. V G , S. 88.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
christliche Glaubensprämisse dieser Geschichtsauffassung aufgegeben wird. Hegels eigene geschichtsphilosophische Intention dagegen bleibt v o n dem Vorwurf der Amoralität unbetroffen. Die leitende Absicht seiner Geschichtsauslegung faßt er in den beiden Schlußsätzen seiner „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" folgendermaßen zusammen: „ D a ß die Weltgeschichte dieser Entwickelungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten, — dieß ist die wahrhafte Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. N u r die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne G o t t , sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist." 2 2 D e r geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanke führt auf eine ganze Reihe von Schwierigkeiten u n d inneren Widersprüchen. Ihnen kann das Denken nicht länger ausweichen, sobald die Entwicklungsauffassung der Geschichte ihre implizite Glaubensvoraussetzung verliert und zu einer säkularisierten Theorie der Geschichtsentwicklung wird. Die Abhängigkeit der geschichtsphilosophischen Entwicklungsidee v o m Glauben an eine Schöpfungsordnung, die auch im Raum der frei handelnden Menschen nachwirkt, erklärt, weshalb mit dem Verlust dieser seiner wesentlichsten Vorbedingung das Entwicklungsdenken selbst in radikaler Weise in Frage gestellt werden mußte. Freilich bleibt auch nach dem Wegfall der Glaubensgewißheit zu erwägen, ob es denn vernünftiger sei, anzunehmen, daß die Existenz des Menschen und der Menschheitsgeschichte sich einer Laune der Natur oder vielleicht einem kosmischen Zufall verdanke, oder vielmehr davon auszugehen, daß, weil es nun mal Menschen und eine Geschichte gibt, auch ein deren Existenz rechtfertigender Zweck postuliert werden könne.
22
SWG, 11, S. 569.
II. Kapitel: Das geschichtsphilosophische Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch „Hier dreht sich alles im Kreis. Allerdings. Die Frage ist, ob und wie es gelingt, mit diesem Kreis Ernst zu machen, statt fortgesetzt die Augen vor ihm zu schließen." 23 (M. Heidegger)
Die theoretische Situation der Geschichtsphilosophie nach Hegel ist durch die zunehmende Kritik am Entwicklungsdenken und schließlich durch den Verzicht auf totale Entwicklungsdeutungen der Geschichte gekennzeichnet. Die Abhängigkeit der geschichtsphilosophischen Entwicklungsidee von der Glaubensprämisse einer Schöpfungsordnung erklärt, weshalb dieses Schema der Geschichtsinterpretation in der sich säkularisierenden Welt seine frühere Überzeugungskraft verlieren mußte. Die immanenten Widersprüche der Vorstellung einer sich entwickelnden Menschheit erwiesen sich nun als unauflösbar. — Stellt also das Entwicklungsdenken eine überwundene Stufe der Geschichtsphilosophie dar? Kann die Entwicklungsauffassung als widerlegt gelten? Man mag nun des weiteren gegen die Konzeption der Geschichtsentwicklung einwenden, daß es heute doch geradezu als grotesk erscheint, wenn in den Entwicklungsdeutungen Kants, Herders und insbesondere Hegels ein partielles Geschehen, nämlich die abendländische Geistesgeschichte, zum Sinn der Menschheitsgeschichte hypostasiert wird. Man mag femer darauf aufmerksam machen, daß die dargestellten versöhnlichen Entwicklungsbilder der Geschichte nach den Erfahrungen unseres Jahrhunderts und in der gegenwärtigen Situation der Bedrohung ihre Glaubwürdigkeit vollends eingebüßt haben. Und man mag schließlich noch kritisch auf den statischen, selbst ungeschichtlichen Charakter dieser Entwicklungskonzeptionen hinweisen und darin einen Grund für ihre Unhaltbarkeit sehen. Aber alle diese Einwendungen bedeuten noch keine Widerle23
Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 364.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
gung des Entwicklungsgedankens, und das zuletzt genannte Argument kann sogar ins Positive gewendet und als Beleg dafür aufgefaßt werden, daß im Entwicklungsbegriff eine zeitlose Struktur der Geschichtsveränderung getroffen ist. Für die Beurteilung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedankens ist es deshalb unerläßlich, nun ausdrücklich die Frage nach seiner Begründbarkeit zu stellen. Dies soll am Beispiel der beiden Entwicklungskonzeptionen von Kant und Hegel geschehen.
1. Orientierung am Vorbild der neuzeitlichen
Naturwissenschaft
Kant läßt sich in seinem geschichtsphilosophischen Entwurf vom methodischen Ansatz der neuzeitlichen Naturwissenschaften leiten. Damit ist freilich bereits eine wesentliche Prämisse gesetzt, und zwar in Form der Uberzeugung, daß es für die Vernunft auf dem Felde der Menschheitsgeschichte überhaupt etwas zu finden gibt. Es steht für Kant außer Frage, daß die Erscheinungen der menschlichen Handlungen — wie alle Naturerscheinungen — einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit unterworfen sind. Diese Auffassung wird durch die Regelmäßigkeiten in der Bevölkerungsstatistik gestützt. Die bereits erwähnte Glaubensprämisse, daß die „Natur" mit der menschlichen Gattung eine Absicht hege, ist also nur eine andere Formulierung für die Auffassung, daß die Geschichte durch eine allgemeine Gesetzmäßigkeit bestimmt sei. Die Vernunft wird deshalb, sofern sie nur den richtigen Ansatzpunkt findet, die allgemeine Struktur der Geschichte begreifen können. Kant fragt also nicht, ob die Geschichte in ihrem Verlauf überhaupt einem allgemeinen Prinzip folge; seine Frage richtet sich vielmehr direkt auf die Möglichkeit einer Erkenntnis dieses Prinzips. Wie also gelangt die Vernunft zur Erkenntnis des gesuchten allgemeinen Geschichtsgesetzes? Die Schwierigkeit, die sich hier stellt, besteht in der Wahl des richtigen methodischen Ansatzes, denn soviel ist für Kant gewiß, daß der richtige Vernunftgebrauch eben „nicht so wie der Gebrauch der Füße sich von selbst vermittelst der öftern Ausübung findet" 24 . Es zeigt sich hier eine zweite Voraussetzung der Geschichtsphilosophie Kants. Denn er ist davon überzeugt, daß das philosophische Vorgehen sich am Paradigma der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu orientieren hat. In der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" 24
V, S. 162.
Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch
225
kommt Kant ausführlich auf den Vorbildcharakter der Methode des naturwissenschaftlichen Erkennens zu sprechen. „Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen...ließ...; so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf." 25 Die der neuzeitlichen Naturerkenntnis zugrunde liegende „Revolution der Denkart" verdankt sich somit der Einsicht, daß die Vernunft im Naturgeschehen nur dasjenige suchen kann, was sie selbst in dieses hineinlegt oder hineinprojiziert. „Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war." 26 Der methodische Ansatz der neuzeitlichen Naturwissenschaften, durch den Kants Denken so stark beeinflußt ist, soll nun auch in der Philosophie zur Anwendung gelangen. Dabei ist der Grundsatz leitend, daß in den Wissenschaften nur insoweit Vernunft ist, als in ihnen „etwas a priori erkannt" wird. 27 Die Wissenschaftlichkeit verbürgende Methode kann folglich nur darin liegen, daß die Untersuchung mittels apriorischer Entwürfe fortschreitet. Nur so kann der „herumtappende" Vernunftgebrauch auf den sicheren Weg einer Wissenschaft gebracht werden. Für das Vorgehen der Geschichtsphilosophie bedeutet dies, daß sie mit Hilfe eines apriorischen Leitfadens jene „Ideen" entwirft, die eine Systematisierung des empirischen Datenmaterials der Geschichte erlauben. Die methodisch und mittels apriorischer Entwürfe vorgehende Vernunft stößt, wie das Vorbild der Naturwissenschaft zeigt, schließlich an beliebigen Beispielen auf die allgemeinen Gesetze: „Der Fall eines Steins, die Bewegung einer Schleuder, in ihre Elemente und dabei sich äußernde Kräfte aufgelöst und mathematisch bearbeitet, brachte zuletzt diejenige klare und für alle Zukunft unveränderliche Einsicht in den Weltbau hervor, die bei fortgehender Beobachtung hoffen kann, sich immer nur zu 25 26 27
K r V , B X l l f . (s. Anm. 1 des zweiten Teils). K r V , B XIV. Vgl. K r V , B IX.
226
Hauptschwierigkeiten des Entwickiungsdenkens
erweitern, niemals aber zurückgehen zu müssen fürchten darf." 28 Das Bemerkenswerte an dieser Stelle aus der Schlußpassage der „Kritik der praktischen Vernunft" ist in der hier ausgesprochenen Überzeugung zu sehen, daß die einmal entdeckte allgemeine Regel oder Struktur zwar modifiziert, d.h. erweitert und präzisiert werden kann, aber im Grunde eine unverlierbare, zeitlos gültige Erkenntnis darstellt. Die wesentlichen Ergebnisse von Wissenschaft und Philosophie können, sobald sie einmal entdeckt sind, bleibende Gültigkeit beanspruchen. Von der Metaphysik behauptet Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" sogar, „daß, wenn sie durch diese Kritik in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, sie das ganze Feld der für sie gehörigen Erkenntnisse völlig befassen und also ihr Werk vollenden und für die Nachwelt, als einen nie zu vermehrenden Hauptstuhl, zum Gebrauche niederlegen kann" 29 . Diese Sätze lassen den Anspruch erkennen, daß der durch die „Revolution der Denkart" bewirkte Neuanfang in der Philosophie Entdeckungen von zeitloser Gültigkeit hervorbringen wird. Dieser Anspruch umfaßt auch den geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedanken. Kants Philosophie der Geschichte bedeutet gegenüber der üblichen Betrachtungsweise, die sich mit der Wiedergabe der historischen Erscheinungen in ihrer zeitlichen Abfolge begnügt, eine apriorische Konstruktion der Menschheitsgeschichte in ihrer ideellen Einheit. Die Grundlage dieses Geschichtsentwurfs besteht einerseits aus dem aus der Naturgeschichte übernommenen Entwicklungsbegriff und andererseits aus dem Teleologiebegriff der Naturlehre. Diese beiden Fundamente verbinden sich zum geschichtsphilosophischen Hauptsatz, daß die Vernunftanlagen des Menschen dazu bestimmt sind, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. Das mit apriorischen Entwürfen arbeitende Vorgehen der Naturwissenschaften hat Kant selbst in seiner „Allgemeinen Naturgeschichte" in vorbildlicher Weise angewendet. Es spricht sich in klarster Weise in jenem Satz der Vorrede aus, in dem Kant sagt, man gebe ihm Materie, und er werde zeigen, wie daraus eine Welt entstehen soll. 30 In Analogie zu diesem Ausspruch der „Allgemeinen Naturgeschichte" kann der methodische Ansatz der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte" auf die Formel gebracht werden: Gebet mir den mit der Naturanlage der Vernunft begabten Men28 29 30
V, S. 163. KrV, B XXIIIf. Vgl. I, S. 230.
Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch
227
sehen, und ich will euch zeigen, wie daraus die Entwicklungsgeschichte der Menschheit entsteht. Der Entwicklungsgedanke, der bei Kant sowohl die Natur- wie die Menschheitsgeschichte umfaßt, stellt einen Leitfaden a priori dar, der allererst eine Systematisierung der Geschichte der Menschheit erlaubt. Da der apriorische Geschichtsentwurf nur in äußerst eingeschränkter Hinsicht empirisch überprüfbar ist, indem sich bestenfalls ein bestätigendes „Geschichtszeichen" 31 finden läßt, kann der geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanke lediglich den Status einer „Idee" beanspruchen. Man darf diese Einschränkung aber nicht so verstehen, als sei damit zu rechnen, daß diese Idee früher oder später durch eine andere widerlegt werden könnte. Es sind zwar Modifikationen und Erweiterungen zu erwarten, etwa in dem Sinne, wie Keplers Gesetze der Planetenbewegung erst durch Newton ihre eigentliche Begründung erhielten, aber die Annahme einer grundsätzlichen Widerlegbarkeit einer apriorisch hergeleiteten Idee widerspräche dem ganzen Selbstverständnis des durch die transzendentalphilosophische Wende bestimmten Denkens.
2. Die Selbstaufhebung des
Entwicklungsgedankens
Die Vielheit und Verschiedenheit philosophischer Lehren waren für Kant ein Beweis dafür, daß die Philosophie sich noch in der Situation der Naturerkenntnis befindet, bevor diese auf den sicheren Weg einer Wissenschaft gelangt ist. Durch die „Revolution der Denkart" soll nun auch die Philosophie aus ihrem bloßen „Herumtappen" herausgeführt und in den Stand einer Wissenschaft gebracht werden. Es handelt sich hier um ein im Grunde gänzlich ahistorisches Verständnis von Wissenschaft und Philosophie; wird hier doch die Erwartung ausgesprochen, daß mit der „Revolution der Denkart" zugleich die Pluralität philosophischer Positionen überwunden werden kann. Denn einer einmal als wissenschaftlich ausgewiesenen Erkenntnis kommt zeitlose Geltung zu. 32
31 32
Vgl. VII, S. 84. Vgl. ferner XXII, S. 6 1 9 - 6 2 4 . Vgl. etwa KrV, A X X : „Nun ist Metaphysik, nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit, und mit nur weniger, aber vereinigter Bemühung, versprechen darf, so daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können."
228
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Hegel dagegen erkennt in der Geschichte der Philosophie nicht die Geschichte eines „Herumtappens", sondern den Entwicklungsgang des allgemeinen Geistes, wie dieser über den Weg der Denkgeschichte zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. Für Hegel ist die Entwicklungsvorstellung primär kein Modell der Systematisierung der Geschichte, sondern die Form der Selbstbewegung des Geistes. Die Philosophiegeschichte widerspiegelt damit die Entwicklung des allgemeinen Geistes in seiner zeitlichen Erscheinung. Hegels Theorie der Philosophiegeschichte hat, wie gezeigt, zur Voraussetzung, daß jede einzelne Philosophie auf ihre jeweilige Zeit relativ ist. Die Anerkennung der Geschichtlichkeit — im Sinne der Geschichtsabhängigkeit — der Philosophie ist die Bedingung der Möglichkeit der Entwicklungsdeutung ihrer Geschichte. D a sich Hegels eigene philosophische Position von der als Tatsache festgestellten geschichtlichen Bedingtheit nicht ausnehmen kann, ist zu überprüfen, ob sich damit die Hegeische Entwicklungskonzeption der Philosophiegeschichte nicht selbst aufhebt. Falls es zutrifft, daß der Entwicklungsgedanke sich selbst widerlegt, dann wird freilich das Faktum der Geschichtlichkeit der Philosophie zu einem unausweichlichen Problem für das Selbstverständnis der Philosophie. Ohne den Überlegungen vorzugreifen, kann doch bereits festgestellt werden, daß es sich dann einer Philosophie, die sich ihrer eigenen Geschichtsabhängigkeit bewußt geworden ist, ohnehin verbietet, ihre eigene Vergangenheit oder die Geschichte der Menschheit als einen notwendigen Entwicklungsfortgang zu begreifen. Die Vielheit und Verschiedenheit der Philosophien gehören nach Hegel zum Wesen der Philosophie selbst; beide Momente sind unvermeidlich, da die Philosophie ihrer Thematik nur über den Weg verschiedener, einander widersprechender Auffassungen gerecht zu werden vermag. Die Vielzahl unterschiedlicher Philosophien schließt sich in der Hegeischen Theorie der Philosophiegeschichte zu einem sich dialektisch entwickelnden Einheitsprozeß zusammen, wobei die zeitliche Entwicklung des Systems der Philosophie mit seinem zeitlos-logischen inneren Entwicklungsaufbau übereinstimmt. Dem Problem des historischen Relativismus der Philosophie weicht Hegel, der doch als erster die geschichtliche Bedingtheit der Philosophie mit Nachdruck herausgestellt hat, dadurch aus, daß er die differenten Philosophien als notwendige Phasen im philosophiegeschichtlichen Entwicklungsprozeß interpretiert.
Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch
229
Gegen diese Theorie der Philosophieentwicklung ist nun folgende Argumentation möglich: Die Hegeische Entwicklungskonzeption der Philosophiegeschichte ist selbst eine Phase in diesem Entwicklungsgeschehen und wird also — nach ihrer eigenen Aussage — von einer ihr widersprechenden Konzeption widerlegt werden. Die Widerlegung ist zwar als eine dialektische vorzustellen, d.h., sie ist nicht nur als negative, sondern im Sinne der bestimmten Negation zu verstehen, so daß das Negierte im veränderten Zusammenhang der nachfolgenden Konzeption zugleich „aufgehoben" bleibt. Aber auch mit dieser Einschränkung läßt sich die Konsequenz nicht umgehen, daß das dialektisch sich selbst widerlegende Schema schließlich aufgegeben werden muß. Aus dieser Überlegung wird klar, daß die Hegeische Philosophie den Anspruch erheben muß, die Vollendung der philosophiegeschichtlichen Entwicklung heraufgeführt zu haben. Verzichtet sie auf diesen maßlosen Anspruch, dann wird ihre Entwicklungsdeutung der Denkgeschichte durch die künftigen philosophiegeschichtlichen Auffassungen notwendigerweise widerlegt werden. Wenn dagegen die Philosophie in der Erkenntnis des Entwicklungscharakters ihrer Geschichte zugleich zu ihrem Ende gekommen ist, wenn also diese Entwicklungstheorie sich nur auf das ihr vorausgehende Denkgeschehen bezieht, dann ist sie aus bloß theorieimmanenten Gründen nicht widerlegbar. In dem Moment, wo die Geschichte der Philosophie eine Fortsetzung findet und neue Theorien der Philosophiegeschichte aufgestellt werden; in dem Moment also, wo die Hegeische Auffassung der Philosophiegeschichte eine unter verschiedenen ist, verliert sie zugleich alle Überzeugungskraft, ohne allerdings endgültig widerlegt zu sein, da ja auch noch die Geschichte des Entwicklungsdenkens sich zuletzt als Entwicklungsprozeß herausstellen könnte. Gegen eine solche Hypothese bliebe dann nur noch eine historisch-empirische Argumentation übrig. Daß diese Geschichte nun tatsächlich keine Entwicklung darstellt, geht freilich schon aus den bisherigen Hinweisen zu den verschiedenen Entwicklungskonzeptionen hervor. Das gedankliche Schema, daß die gesamte Philosophiegeschichte in ihrer letzten Erscheinung sich zu einer Totalität schließt, in der die bisherige Philosophiegeschichte aufgenommen ist, ist schon aus rein formalen Gründen suspekt. Darauf hat Ernst Bloch hingewiesen. 33 Bloch erinnert an das verwandte Problem der Mengenlehre, das dann entsteht, wenn 33
Vgl. Ernst Bloch: Subjekt-Objekt — Erläuterungen zu Hegel, erw. Ausg.; in: Gesamtausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1962, S. 360 ff.
230
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
in die Definition eines Mengenelements die Gesamtmenge eingeht. Die Mengenlehre verbietet daher, um Antinomien zu verhindern, jeden Begriff, der einer Gesamtmenge als Element angehört und zugleich in seiner Definition die Gesamtheit bereits enthält. Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich entscheidend ist sodann die Erkenntnis, daß in dem Moment, wo ein Teil, „der das Ganze enthalten will, sich selbst erfaßt, und zwar als Enthalten des Ganzen," zum Ganzen etwas hinzugekommen ist, das vorher in ihm nicht enthalten war. Bloch verweist auf das analoge Problem der Laplaceschen Weltformel: Der Geist der Laplaceschen Überlegung, der für einen kurzen Zeitmoment die Lage und Bewegung aller Atome kennte, wäre imstande, daraus nach den Regeln der Mechanik die gesamte Vergangenheit und Zukunft der Welt abzuleiten. Aber auch unter der hypothetischen Voraussetzung ihrer Möglichkeit würde die Laplacesche Weltformel, wie Bloch bemerkt, im gleichen Augenblick falsch, wo sie gefunden ist. „Denn sie selbst ist nicht in der von ihr berechneten Welt enthalten; diese Welt in ihr ist also nicht die gleiche wie die Welt mit ihr." 34 Nun ist das Verhältnis zwischen der Philosophiegeschichte und der allgemeinen Geschichte durch eine notwendige Parallelität gekennzeichnet. Denn um zu werden, was er ist, muß der Geist tätig werden. Die äußere Tätigkeit des Geistes ist seine Realisierung in der Weltgeschichte, seine Tätigkeit nach innen ist sein Sich-selbst-Begreifen in der Geschichte der Philosophie. In der Philosophie gewinnt das Substantielle der jeweiligen Zeit begrifflichen Ausdruck. Im Vergleich zur äußeren Weltgeschichte ist die innere Geschichte des philosophischen Gedankens die höhere Geschichtsform, insofern sie die erste als ihre Voraussetzung bereits mitenthält. Letztlich sind aber diese beiden Entwicklungsstränge nur künstlich zu trennen, da ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen der Ereignis- und der Denkgeschichte besteht. Die Abhängigkeit des geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedankens von seiner Bewährung in der Interpretation der Philosophiegeschichte hat zur Folge, daß mit der Falsifikation der Entwicklungstheorie der Philosophiegeschichte auch die Entwicklungsdeutung der Weltgeschichte widerlegt wird und also aufgegeben werden muß. Die von Hegel behauptete Parallelität von philosophie- und weltgeschichtlicher Entwicklung führt nun noch auf eine weitere Schwierigkeit. Da die Geschichte der Philosophie in der Philosophiegeschichte Hegels 34
Ebd., S. 361.
Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch
231
sozusagen zu ihrem Abschluß gekommen ist, stellt sich hier die Frage nach der Entsprechung auf dem Feld der Weltgeschichte, also die Frage nach dem Ende der Geschichte. Diese Frage ist geeignet, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Hegeische Entwicklungskonzeption der Geschichte nicht allzu schematisch interpretiert werden darf; es sei denn, man würde Hegel die Auffassung unterstellen, daß in seiner Gegenwart das Ende der Geschichte eingetreten sei. 35 Es soll hier nicht eine enge und schematische Auslegung der Hegelschen Geschichtsphilosophie befürwortet, wohl aber darauf hingewiesen werden, daß die Entwicklungsdeutung der Philosophiegeschichte nur gelingen kann, wenn sie vom Standpunkt des Endes der Geschichte ausgeht. Unter der Voraussetzung nämlich, daß die Denkgeschichte die Entwicklung darstellt, wie der allgemeine Geist Schritt für Schritt zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, kann diese Entwicklungsgeschichte nur vom erreichten Bewußtseinsstand aus geschrieben werden. Eine solche Betrachtungsweise ist genötigt, sich selbst als Schlußpunkt der bisherigen Denkentwicklung und das frühere Denkgeschehen als Vorgeschichte der eigenen Position aufzufassen. Zugleich ist es ihr aber unmöglich, über den gegenwärtigen Entwicklungsstand hinaus in die Zukunft zu blicken, weil sie dadurch sich selbst negieren würde. Diesen Gedanken hat J.E. Erdmann in der allgemeinen Einleitung zu seinem an Hegel orientierten „Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie" deutlich ausgesprochen: „Indem...der Complex aller Momente in der Entwicklung des Bewußtseyns des Geistes über sich selber, die bereits entwickelt sind, den Inhalt einer bestimmten Philosophie bildet, das Höchste aber, wozu sich das Bewußtseyn entwickelt hat, nicht mehr als Moment, sondern als absolut Letztes (Princip) erscheint..., so ist es eben damit unmöglich, daß ein Nachweisen der zeitlichen Entwicklung des Bewußtseyns über das bereits entwickelte Bewußtseyn und die höchste Stufe dieser Entwicklung d.h. über den
35
Vgl. zu dieser Thematik: Reinhart Klemens Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte, 2. Aufl., erw. um d. Beitrag „Teleologische Aspekte der Hegeischen Philosophie", Freiburg/ München 1980, insbes. S. 175 ff. — Die erwähnte Auffassung findet einen krassen Ausdruck in einer Stelle der „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte". Diese lautet: „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen; denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang" ( V G , S. 243). Dieser Satz darf allerdings, wie Maurer bemerkt, nicht überbewertet werden, und zwar einerseits wegen der unsicheren Quellensituation der Hegeischen Vorlesungen und andererseits deswegen, weil er dem allgemeinen Sinn der Geschichtsauffassung Hegels widerspricht (Vgl. S. 177).
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Inhalt und Princip dieses bestimmten Systems hinausgehe." 36 Da also der philosophische Standpunkt, von dem aus die Entwicklungsgeschichte der Philosophie abgefaßt ist, das Resultat derselben Entwicklung ist, bildet der Standpunkt des eigenen Systems jene Grenze, über die nicht hinausgegangen werden kann. Die philosophiegeschichtliche Darstellung muß folglich die früheren Philosophien als „Entwicklungsstufen zu ihrem Princip und System...betrachten, und hat den nothwendigen Gang zu demselben zu weisen, als zu dem, welches die vorhergehenden als Momente in sich enthält"37. Von der Hegeischen Philosophie kann also nach ihrem eigenen Selbstverständnis nur in einem eingeschränkten Sinne gesagt werden, daß sie selbst geschichtlich sei, da sie nicht ein Moment in der Entwicklung des Geistes, sondern deren Ende repräsentiert. Hegels Geschichtsphilosophie freilich fallt ganz aus dem denkgeschichtlichen Prozeß heraus, sie kennt keine geschichtliche Entwicklung. 38 Man kann denselben Gedanken auch so wenden, daß die Philosophie Hegels, die doch die Geschichtlichkeit der Philosophie zum Prinzip erhoben hat, in einem Teilbereich, nämlich in ihrer Entwicklungslehre, selbst ungeschichtlich ist. Der Entwicklungsgedanke, auf dem die Hegeische Philosophie der Welt- und der Philosophiegeschichte beruht, kann selbst nicht eine nur geschichtliche, zeitlich bedingte Bedeutung haben. Aber läßt sich die Entwicklungsvorstellung vom philosophischen System Hegels loslösen? Kann sie eine von den philosophiegeschichtlichen Vorgängen abgetrennte, zeitlose Geltung beanspruchen? Nur unter der Voraussetzung, daß sich der Entwicklungsgedanke von der allgemeinen Geschichte der Philosophie, deren Bewegungsprinzip er nach Hegel darstellt, absondern ließe, führt der Begriff der philosophiegeschichtlichen Entwicklung nicht in einen Selbstwiderspruch. Eine analoge Situation hat Hermann Krings für den modernen Evolutionsbegriff festgestellt.39 Die moderne Evolutionslehre ist eine naturwis36
37 38
39
Johann Eduard Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie (1834—1853), Faksimile-Neudruck in 7 Bden., hrsg. von Hermann Glockner, Stuttgart 1 9 3 1 - 1 9 3 4 , Bd. 1, S. 66. Ebd., S. 67. Vgl. Gerhart Schmidt: Die Geschichtlichkeit der „sittlichen Idee", S. 299: „Der Geschichtsphilosophie unterstellte Hegel keine geschichtliche Entwicklung; sie konnte nicht Teil der geschichtlichen Philosophie sein, welcher einer Entwicklungsstufe des Weltgeists entspricht, auf der dieser sein Selbstbewußtsein noch nicht erreicht hatte." Vgl. Hermann Krings: Sokrates überlebt — Zum Verhältnis von Evolution und Geschichte; in: Evolution und Freiheit — Zum Spannungsfeld von Naturgeschichte und Mensch, hrsg. von Peter Koslowski u. a., Stuttgart 1984, S. 1 6 2 - 1 7 6 , bes. S. 1 6 4 f f .
Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch
233
senschaftliche Theorie, die aber universelle Geltung beansprucht. Sie nimmt heute faktisch den Status eines Universalprinzips ein. Mit dem Übergang von der empirischen Theorie zu dem universellen Prinzip begeht die Evolutionslehre nach Krings den logischen Fehler einer „metabasis eis allo genos". Nun hat jede naturwissenschaftliche Theorie den Charakter einer Hypothese. Wird diese Hypothese als Prinzip in Anspruch genommen, dann handelt es sich um ein jederzeit falsifizierbares Prinzip. „Der Begriff des falsifizierbaren Prinzips aber ist widersprüchlich; denn der Ausdruck Prinzip bezeichnet einen Begriff, der einer möglichen Verifikation oder Falsifikation zugrunde liegt, nicht aber ihr unterworfen ist." 40 Als weitere Schwierigkeit tritt hinzu, daß die Evolutionstheorie als universelles, auch die Evolution der Wissenschaftsgeschichte umfassendes Prinzip ihren eigenen Gesetzen unterliegt. Sie wird also schon aus diesem Grund nur beanspruchen können, ein Prinzip auf Zeit zu sein. Eine evolutionstheoretisch orientierte Philosophie ist daher genötigt, ihren eigenen Prinzipienbegriff zu relativieren. 41 Es bestätigt sich hier erneut, daß jede Theorie der Geschichtsentwicklung in dem Moment, wo sie universelle Gültigkeit beansprucht und damit zugleich den Prozeß ihrer eigenen Herkunft betrifft, mit der logischen Schwierigkeit der Selbstbezüglichkeit konfrontiert ist. Ein noch überzeugenderes Gegenargument als das der Selbstaufhebung des Entwicklungsgedankens liegt im Nachweis der Abhängigkeit des philosophiegeschichtlichen Entwicklungsbegriffs von einer bestimmten Metaphysik des Geistes. Der Geist ist nach Hegel wesentlich durch seinen Entwicklungscharakter bestimmt. Auch wenn man die Entwicklungshaftigkeit des Geistigen im allgemeinen und der Bewußtwerdungsprozesse im besonderen annimmt, so bleibt doch die Entwicklungsdeutung der Geistesgeschichte an die Glaubensprämisse der Einheit des Geistes gebunden, also an den Glaubenssatz, daß es der absolute Geist ist, der in der Geschichte zur Erscheinung und in der Gesamtgeschichte des Denkens zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. Es ist nun ein Faktum der historischen Empirie, daß diese Glaubensprämisse in der nachhegelschen Philosophie ihre frühere Verbindlichkeit — aus was für Gründen auch immer — verloren hat. Damit aber fehlt der Entwicklungsdeutung der Philosophiegeschichte die grundlegende Voraussetzung. 40 41
Ebd., S. 165. Ebd.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Die Tatsache, daß die Hegeische Metaphysik des Geistes in der veränderten Denksituation ihre theoretische Überzeugungskraft eingebüßt hat, stimmt nun wiederum mit dem Faktum der Vielheit und Verschiedenheit der Philosophien überein. Dieses Faktum be2eichnet das Problem der Geschichtlichkeit der Philosophie. Die Tatsache selbst läßt sich nicht bestreiten. Es ist aber zu fragen, welche Konsequenzen aus ihr zu ziehen sind. Hegel betont, daß die Pluralität unterschiedlicher Philosophien notwendig ist, weil die Philosophie ihrer Aufgabe nur mittels verschiedener, dialektisch differierender Ansätze gerecht zu werden vermag. Diese Auffassung führt nur deswegen nicht in den historischen Relativismus, weil die unterschiedlichen Philosophien nach Hegel die Phasen des allgemeinen Entwicklungsganges der Philosophie darstellen. Der hier vorausgesetzte Entwicklungsbegriff ist nun aber seinerseits mit einer bestimmten — der Hegeischen — Philosophie verbunden. Diese begreift von ihrem Standpunkt aus die Geschichte der Philosophie als teleologisch auf sie selbst ausgerichteten Entwicklungsprozeß. Aber inzwischen ist auch die Philosophie Hegels nur noch ein Stadium unter vielen in der allgemeinen Denkgeschichte; und damit hat sich der Entwicklungsgedanke selbst falsifiziert.
3. Denkgeschichte und Entwicklungsgedanke Jede Entwicklungsdeutung der Geschichte hat sich mit der schwierigen Problematik auseinanderzusetzen, ob ihr Deutungsschema mit ihrer Auffassung der Wissenschaftsgeschichte oder — allgemeiner — der Denkgeschichte vereinbar sei. Insbesondere gilt es abzuklären, ob die geschichtsphilosophische Entwicklungstheorie nicht mit dem faktischen Prozeß ihrer eigenen denkgeschichtlichen Herkunft in Widerspruch gerät. Es ist jetzt deshalb noch ausdrücklich nach dem Verhältnis der Entwicklungskonzeptionen Kants und Hegels zu deren Verständnis der Denkgeschichte zu fragen. Die „Revolution der Denkart" erlaubt es nach Kant, künftig auch in der Metaphysik die den neuzeitlichen Naturwissenschaften nachgeahmte Methode anzuwenden, womit jene auf den sicheren Weg einer Wissenschaft gelangt. Die Absicht der „Kritik der reinen Vernunft" besteht also darin, „das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern", und zwar „dadurch, daß wir nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen". 4 2 Kants Begründung der Metaphy42
Vgl. KrV, B X X I I .
Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch
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sik als Wissenschaft folgt einem Schema, das bereits zur Konstituierung der Logik, der Mathematik und schließlich der Naturwissenschaft geführt hat. Alle diese Disziplinen begründeten sich als Wissenschaften durch eine „Revolution", „die der glückliche Einfall eines einzigen Mannes in einem Versuche zustande brachte, von welchem an die Bahn, die man nehmen mußte, nicht mehr zu verfehlen war". 43 Kants Auffassung der Wissenschaftsgeschichte läßt sich in der Vorstellung des „protos heuretes" zusammenfassen, der mit seinem glücklichen Einfall eine Disziplin aus dem „bloßen Herumtappen" auf „den Heeresweg der Wissenschaft" 44 bringt. Reinhard Brandt hat darauf aufmerksam gemacht, daß Kant mit der Rede vom „Glücklichen", der als erster etwas erfindet, einer antiken Vorstellung folgt, die unter der Formel des protos heuretes tradiert wurde. 45 Die Geschichte einer Disziplin zerfallt somit in zwei Phasen. Die erste, die des blinden Herumtappens, ist durch eine Vielzahl verschiedener, zufalliger Ansichten gekennzeichnet. Durch die häufigen Versuche und über einen glücklichen Zufall gelangt die betreffende Disziplin zur entscheidenden Einsicht, die sich als Revolution der Denkart auswirkt und damit in die zweite Phase, die der Wissenschaft, hinüberführt. Mit dem Ubergang in die zweite Phase beginnt zugleich das Stadium der wissenschaftlichen Erkenntnisse, denen Kant Unveränderlichkeit und zeitlose Gültigkeit zuspricht. Die Wissenschaftsgeschichte nimmt somit die Gestalt eines Fortschrittsprozesses an. Es ist also ein Zufall, der die Geschichte einer Wissenschaft aus dem Stand des regellosen Zufalls in den des regelmäßigen, kontinuierlichen Fortschreitens führt. 46 Kants Auffassung der Wissenschaftsgeschichte orientiert sich am Paradigma der „Entdeckung": Eine glückliche Entdeckung steht am Anfang einer jeden Wissenschaft, und jeder weitere Schritt dieser Wissenschaft bringt eine weitere Entdeckung von zeitlosen Strukturen der Wirklichkeit. Eine solche wissenschaftlich begründete Entdeckung soll nun auch der Ent43 44 45
46
Vgl. K r V , B XI. K r V , B XII. Vgl. Reinhard Brandt: Kant — Herder — K u h n ; in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 5. Jg. (1980), S. 2 7 - 3 6 ; S. 27, A n m . 2. Vgl. ebd., S. 28: „Es gibt also blinde oder rohe Versuche, die noch keine eigentlichen Experimente sind. Ein Zufall führt aus dem Reich des Zufalls in das eines gesetzmäßigdauerhaften Fortschreitens." — Zu dieser Vorstellung der Wissenschaftsgeschichte äußert Brandt die Vermutung, dem Kantischen Schema liege eine Spekulation der antiken Naturphilosophie zugrunde: Nach Epikur und Lukrez unternimmt die Natur blinde Versuche, bis schließlich als zufälliges Ergebnis die Bildung konsistenter Arten von Lebewesen gelingt (vgl. S. 28 f.).
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
wicklungsgedanke sein. In ihm ist nach dem Anspruch von Kants Theorie der Natur- wie der Menschheitsgeschichte eine unveränderliche Struktur des Werdens von K o s m o s und Geschichte getroffen. Für Kant gewinnt die Philosophiegeschichte erst mit der „Revolution der Denkart" Entwicklungscharakter, für Hegel dagegen stellt die Philosophiegeschichte insgesamt einen einheitlichen Entwicklungsprozeß dar. D a der Geist selbst entwicklungshaft ist, muß es nach Hegel auch die Geschichte des Geistes sein. Hegels Entwicklungsauffassung der Geschichte versteht sich selbst als das Ergebnis der bisherigen Denkgeschichte. Die Pluralität der verschiedenen philosophischen Auffassungen verbindet sich zu einem einheitlichen, dialektisch verlaufenden Entwicklungsgang, der in der Philosophie Hegels kulminiert, insofern hier die Entwicklung zum Bewußtsein ihrer Struktur und ihrer Einheit gelangt ist. Im Unterschied zu Hegel, der die Denkgeschichte von ihrem Ende her interpretiert, deutet Kant sie von ihrem Anfang aus. Kant glaubt sich mit der durch seine Philosophie ausgelösten Denkrevolution am Anfang der Entwicklungsgeschichte der Philosophie, die erst jetzt auf ihren wissenschaftlichen Weg gekommen ist; Hegel dagegen sieht sich am Ende der Philosophiegeschichte situiert. Kant blickt vorwärts, Hegel zurück. Da sich die Hegeische Entwicklungskonzeption der Geschichte — nach ihrem eigenen Selbstverständnis — von der Entwicklungsgeschichte der Philosophie, deren Endstadium sie bezeichnet, nicht absondern läßt, widerlegt sich dieser Entwicklungsbegriff in dem Moment selbst, wo die Geschichte der Geschichtsphilosophie über diese Position hinaus fortschreitet. — Trifft dieser Einwand auch den Entwicklungsbegriff Kants? Kants Begriff der Geschichtsentwicklung steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Geschichte seiner Entdeckung. Die Entwicklungsvorstellung bewährt sich als leitender Gesichtspunkt in der Theorie der Weltentstehung und des Menschheitsgeschehens. Die einmal entdeckte Entwicklungsstruktur von K o s m o s und Geschichte stellt eine bleibende, zeitlos gültige Erkenntnis dar, die allenfalls modifiziert, erweitert und ergänzt, aber niemals ungültig werden kann. Soweit der Anspruch des Kantischen Entwicklungsbegriffs. Er unterliegt zwar keinem Selbstwiderspruch, aber auch er wird durch die Tatsache, daß die Geschichtsphilosophie über die Geschichtsdeutung Kants hinweggeschritten ist, widerlegt. Dies wird deutlich, sobald man sich die Kriterien vergegenwärtigt, welche die Beurteilung einer Erkenntnis, die ein Zeitloses entdeckt zu haben behauptet, ermöglichen.
Entwicklungsdenken im Selbstwiderspruch
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Gleich zu Beginn der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" nennt Kant das Hauptkriterium, das eine Überprüfung der Wissenschaftlichkeit, d.h. der unveränderlichen Geltung einer Erkenntnis, erlaubt: den Erfolg. Denn wenn die „Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäft gehören", ins „Stecken gerät", wenn die Untersuchung immer wieder von neuem beginnen muß, wenn ferner unter den verschiedenen Mitarbeitern, die dasselbe Erkenntnisziel verfolgen, keine Übereinstimmung in der Wahl des Vorgehens besteht, „so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sichern Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei". 47 Der Zustand, den Kant hier beschreibt und der auf die Situation der Philosophie seiner Zeit gemünzt ist, kennzeichnet auch noch die Lage der nachkantischen Philosophie und insbesondere die zweihundertjährige Geschichte der Geschichtsphilosophie nach den „Ideen". Die in dieser kleinen Schrift ausgesprochene Hoffnung auf einen „Newton der Geschichte", der die von Kant begonnene Arbeit vollendet, hat sich nicht nur nicht erfüllt, sondern ist nach der Erfahrung der Geschichte der nachkantischen Geschichtsphilosophie endgültig aufzugeben: Das Menschheitsgeschehen fügt sich nicht dem Paradigma der naturwissenschaftlichen Rationalität und damit auch nicht einer Entwicklungskategorie, die in einem solchen Rationalitätstypus begründet ist. Dieses Paradigma ist vielmehr selbst nur als ein vorübergehendes Moment im Denkgeschehen der Menschheit zu begreifen. Wenn es sich allerdings so verhält, dann wird die Frage nach der Geschichtlichkeit der Philosophie zu einem Problem, das sich nicht länger ausklammern läßt, und zwar sowohl in der Gegenwartssituation der Philosophie ganz allgemein wie auch im Fortgang der vorliegenden Untersuchung.
47
Vgl. K r V , B VII.
III. Kapitel: Die Geschichtlichkeit des Entwicklungsbegriffs „Und weil nichts, was geschehen ist, wieder ungeschehen gemacht werden kann, verwechseln wir die Unaufhebbarkeit alles Vergangenen mit seiner gesetzmäßigen Notwendigkeit." 4 8 (Georg Picht)
1. Die Geschichtlichkeit
des Denkens
Die Philosophie ist in besonderem Maße auf ihre Vergangenheit bezogen und befindet sich in steter Auseinandersetzung mit ihr. Dieser Geschichtsbezug ist eine notwendige Bedingung für den Fortgang der Philosophie. Der Grund hierfür liegt darin, daß neue philosophische Entwürfe die früheren nicht überholen und sie nicht wertlos machen. So gibt es auch nicht einen jeweils gültigen Forschungsstand, von dem aus das Denken ohne Rücksicht auf die vorangehende Denkgeschichte weiterschreiten könnte. Da in der Philosophie stets eine Pluralität verschiedener Auffassungen besteht, über deren Wahrheit oder Falschheit sich keine Ubereinstimmung erzielen läßt, bleibt das philosophische Denken auf die Tradition angewiesen. Eine neue Position ist nur im Vergleich und in der Beschäftigung mit früheren zu gewinnen. Die Philosophie also bewegt sich gezwungenermaßen im Raum ihrer Vergangenheit. Dadurch, daß die Philosophie auf ihre Geschichte bezogen ist, bildet sie eine Einheit. Wie Hegel gezeigt hat, besteht die Einheit der Philosophie in der Einheit ihrer Überlieferung. In diesem notwendigen Geschichtsbezug unterscheidet sich das philosophische vom wissenschaftlichen Denken. Für die Wissenschaften ist ihre Vergangenheit bloß von antiquarischem Interesse, und die Vergegenwärtigung der Geschichte bleibt ohne Auswirkungen auf den Wissenschaftspro48
Georg Picht: Hier und Jetzt — Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 176.
Die Geschichtlichkeit des Entwicklungsbegriffs
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zeß. Die Philosophie dagegen kann die Etappen ihrer Geschichte nicht als gleichsam überwundene Stadien beiseite lassen, sie kennt deshalb auch keinen Fortschritt, sondern hat bloß Geschichte. Der Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft betrifft demnach primär die Art und Weise des Bezogenseins auf die eigene Tradition. Anders als in der Philosophie kann in der Praxis wissenschaftlichen Forschens im allgemeinen auf eine Auseinandersetzung mit der Denkgeschichte verzichtet werden. Der wissenschaftliche Dialog beschränkt sich ganz auf die Gegenwart. Doch die Folgen davon sind eine eigentliche Geschichtsvergessenheit sowie eine damit verbundene Uneinsichtigkeit gegenüber der jeweiligen geschichtlichen Bedingtheit. Die Geschichtsvergessenheit des wissenschaftlich-technologischen Denkens ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß dieses Denken in einer bestimmten Doktrin der Geschichtsentwicklung befangen ist, und zwar in der Fortschrittsdoktrin. Gemäß ihrem traditionellen Selbstverständnis stellt die Geschichte der modernen Wissenschaften einen linearen Fortschrittsprozeß dar. Unter dieser Voraussetzung, daß die Wissenschaftsentwicklung die Struktur eines kontinuierlichen Progresses aufweist, braucht in der bisherigen Denkgeschichte nichts weiteres als eine Reihe überwundener Stufen gesehen zu werden, die ohne Verlust dem Vergessen anheimfallen können. Nun ist im Selbstverständnis der Wissenschaften seit einiger Zeit ein radikaler Wandel eingetreten, der weitreichende Konsequenzen hat, und zwar für die Beurteilung des Denkens ganz allgemein. Mit der sogenannten „antipositivistischen Wende" in der Wissenschaftstheorie 49 werden nicht nur grundsätzliche Zweifel am Fortschrittscharakter der Wissenschaftsgeschichte formuliert, sondern es wird nun auch dieser Geschichte eine zentrale Bedeutung für das Verständnis und die Beurteilung der Wissenschaft selbst zugemessen. Somit beginnt sich allmählich ein geschichtliches Wissenschaftsverständnis durchzusetzen. Die antipositivistische, etwa von Thomas S. Kuhn repräsentierte Richtung der Wissenschaftstheorie führt in zwei Punkten zu einer prinzipiellen Revision des traditionellen wissenschaftlichen Selbstverständnisses. Der erste Punkt betrifft die Geschichtlichkeit der wissenschaftlichen Rationalität ganz allgemein und der zweite charakterisiert diese Geschichtlichkeit näher als Gebundenheit an ein dem wissenschaftlichen Denken übergeordnetes Paradigma. 49
Vgl. K u r t Bayertz: Wissenschaft als historischer Prozeß — Die antipositivistische Wende in der Wissenschaftstheorie, München 1980.
240
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Diese neuen Einsichten beruhen auf Analysen der Entstehungsprozesse wissenschaftlicher Theorien sowie auf historischen Rekonstruktionen der Vorgänge, wie die Wissenschaften zu den ihre Forschung leitenden erkenntnistheoretischen Prinzipien gelangt sind. Die Wissenschaftsgeschichte widerlegt die klassische Autonomievorstellung, daß die wissenschaftliche Rationalität sich nicht tangieren lasse von den jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen. Sie zeigt vielmehr auf, daß die Wissenschaftsgeschichte sich in Abhängigkeit von wechselnden Paradigmen vollzieht, wobei unter einem Paradigma die Gesamtheit von wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Überzeugungen einer Zeit zu verstehen ist. Mit dem Wechsel des Paradigmas wechselt auch der gesamte Horizont des Denkens, d.h., Neues wird erkennbar, anderes dagegen geht wieder verloren. Thomas S. Kuhn bemerkt in seinem Werk über die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen", wenn der Wissenschaftshistoriker die Ergebnisse der früheren Forschung vom Standpunkt der zeitgenössischen Geschichtsschreibung aus untersuche, dann könne sich ihm geradezu der Gedanke aufdrängen, daß bei einem Paradigmawechsel die Welt sich ebenfalls verändere. Denn insoweit die Beziehung der Wissenschaftler zur Welt in dem bestehe, was sie sehen und tun, sei es zutreffend zu sagen, „daß die Wissenschaftler nach einer Revolution mit einer anderen Welt zu tun haben": „Es ist fast, als wäre die Fachgemeinschaft plötzlich auf einen anderen Planeten versetzt worden, wo vertraute Gegenstände in einem neuen Licht erscheinen und auch unbekannte sich hinzugesellen." 50 Vergleicht man diese Auffassung mit dem Kantischen Schema der Wissenschaftsgeschichte, dann muß man sich fragen, was es dann noch bedeutet, wenn einem glücklichen Forscher „ein Licht aufgeht", wo doch dieses Licht nach Kuhn von jeweils anderer Art ist. Der Paradigmawechsel bezeichnet eine Bruchstelle in der bisher kontinuierlich gedachten Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft. Dies hat 50
Thomas S. K u h n : Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2., revidierte u. um d. Postskriptum v o n 1969 erg. Aufl., Frankfurt a. M. 1976, S. 123. — Vgl. ferner: Ders.: Die Entstehung des Neuen — Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Lorenz Krüger, Frankfurt a. M.1977. — Zur Diskussion der Kuhnschen Thesen vgl. insbesondere die folgenden Sammelbände: Kritik und Erkenntnisfortschritt, hrsg. von Imre Lakatos und Alan Musgrave, Braunschweig 1974; Theorien der Wissenschaftsgeschichte — Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie, eingel. u. hrsg. von Werner Diederich, Frankfurt a. M. 1974; Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, hrsg. von Peter Janich, München 1981.
Die Geschichtlichkeit des Entwicklungsbegriffs
241
zur Folge, daß die verschiedenen Paradigmata inkommensurabel sind. Es ist aus diesem Grund auch nicht möglich, die Vielheit und Differenz der wissenschaftlichen Paradigmata gemäß dem dialektischen Entwicklungsschema Hegels in der Einheit eines übergeordneten Entwicklungsganzen zu verbinden. Denn wenn mit dem Wechsel des Paradigmas auch die Welt sich ändert, dann ist es nur konsequent zu formulieren, daß „die Befürworter konkurrierender Paradigmata ihre Tätigkeit in verschiedenen Welten" ausüben. 51 Die Feststellung der Inkommensurabilität der Paradigmata läßt es ferner als aussichtslos erscheinen, den Vorgang des Paradigmenwechsels seinerseits mit Hilfe eines allgemeinen Schemas wissenschaftlich erklären zu können. Dem Übergang zwischen den verschiedenen Leitbildern wissenschaftlicher Rationalität fehlt selbst jede rationale Struktur. „Gerade weil es ein Ubergang zwischen inkommensurablen Dingen ist, kann er nicht Schritt um Schritt vor sich gehen, von Logik und neutraler Erfahrung eindeutig erwirkt. Er muß, wie der Gestaltwandel, auf einmal (wenn auch nicht notwendigerweise in einem Augenblick) geschehen oder überhaupt nicht." 52 Die wissenschaftshistorischen Ergebnisse widerlegen die traditionelle Auffassung eines linear verlaufenden Erkenntnisfortschritts. Da der Denkprozeß stets den verschiedenartigsten äußeren Einflüssen unterworfen ist, die sich der inneren Fortbewegung des Denkens überlagern und die den immanenten Prozeß nicht ungestört sich entfalten lassen, muß die Fortschrittsvorstellung aufgegeben werden. Nirgends können im Denkgeschehen der Wissenschaften Vorgänge nachgewiesen werden, die sich mit Notwendigkeit vollziehen. Der Wissenschaftsprozeß verläuft nicht streng determiniert. Dagegen manifestiert sich überall die Kontingenz auch der wissenschaftsgeschichtlichen Ereignisse. „Notwendigkeit" ist keine Kategorie der Denkgeschichte. Und diese Geschichte kann demnach keinen gesetzmäßigen, zielgerichteten Verlaufhaben. Aber auch wenn im Fortgang des Wissenschaftsgeschehens keine strenge Gesetzmäßigkeit herrscht, so unterliegt es doch nicht einfach dem bloßen Zufall und der Regellosigkeit. Wenn die Wissenschaftsgeschichte kein autonomer, nur immanenten Determinanten unterworfener Prozeß ist, dann hat dies notwendigerweise eine Relativierung des traditionellen Wahrheitsanspruchs der Wissenschaften zur Folge. Denn nur unter der Voraussetzung, daß ihnen eine immer bessere Annäherung an die Wahrheit gelingt, also nur unter der Voraussetzung der 51 52
Vgl. Th. K u h n : Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 161. Ebd.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Entwicklungs- und Fortschrittsidee, können die jeweils neuen Ergebnisse als der Wahrheit näherkommend aufgefaßt werden. Zwar wird man zugeben müssen, daß unser Wissen ständig wächst, daß die Theorien immer allgemeiner werden, daß die Einsichten immer feiner und die Bilder der Wirklichkeit immer detaillierter werden; aber wir haben dabei nie die Möglichkeit, eine verbindliche Auskunft darüber zu erhalten, inwieweit unsere Bilder mit der Wirklichkeit übereinstimmen und ob sie dieser immer angemessener werden oder nicht. Dagegen verfügen wir über einige Hinweise, die der Annahme einer steten Wahrheitsannäherung widersprechen. Man wird einen solchen Hinweis im Faktum der Paradigmengefangenheit unseres Denkens sehen müssen. Es ist im vorliegenden Zusammenhang wichtig, die Abhängigkeit des Denkens von Paradigmen als Abhängigkeit von der Geschichte zu verstehen und ferner die Paradigmen als etwas zu begreifen, dem das Denken letztlich nie zu entrinnen vermag, dem es jedoch mehr oder weniger ausgeliefert sein kann. Ein paradigmenfreies Denken ist nicht vorstellbar, aber die Gebundenheit des Denkens an Paradigmen kann verschiedene Grade aufweisen, und zwar je nach dem Grad ihrer Bewußtheit. Die Hartnäckigkeit des sich bis in die Gegenwart erstreckenden Festhaltens an der Fortschrittsvorstellung ist in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das einer genaueren Untersuchung bedürfte. Hier muß der knappe Hinweis genügen, daß es sich bei der Fortschrittsidee um eine implizite, d.h. fraglos übernommene, undurchschaute Prämisse des modernen wissenschaftlichen Denkens handelt. Als explizit formulierte Theorie der Wissenschaftsentwicklung hätte die Fortschrittsvorstellung schon längst auf grundsätzliche Kritik treffen und aufgegeben werden müssen. Doch damit die impliziten, das Denken unbemerkt leitenden Prämissen überwunden werden können, müssen sie zuerst als solche bewußt werden. Solange die Fortschrittsidee eine implizite Voraussetzung des wissenschaftlichen Denkens bildet, kann dieses Denken von ihr nicht ablassen, ja es kann sie nicht einmal in Frage stellen. Der Widerstand, der sich gegenüber dem neuen, dem geschichtlichen Wissenschaftsverständnis bemerkbar macht, ist damit zugleich ein Beweis für seine Richtigkeit, also eine weitere Bestätigung für das Faktum der Paradigmengeleitetheit des Denkens und dessen Befangenheit im Vorstellungshorizont des jeweils geltenden Weltbildes. Das moderne wissenschaftlich-technologische Denken ist gerade aus dem Grund ungeschichtlich, weil es unbemerkterweise durch ein bestimmtes Paradigma der Wissenschaftsgeschichte geleitet ist. Dadurch aber, daß es die Entwicklungs- und Fortschrittsauffassung der Denkgeschichte zu seiner
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Voraussetzung hat, folgt es einem Stück unreflektierter und unerkannt nachwirkender Denktradition, die das wissenschaftlich-technologische Denken doch immer schon überwunden zu haben vermeint. Mit dem Verzicht auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verfallt es dieser nur um so vollständiger. Die unbeachtete Geschichte wirkt dadurch nach, daß sie um so stärker in Abhängigkeit setzt. Mit dem Vergessen ihrer Geschichte hat sich die moderne Wissenschaft an sie ausgeliefert. Dieses Übersehen der eigenen Geschichtsabhängigkeit ist freilich erklärbar, denn das maßgebende denkgeschichtliche Paradigma einer kontinuierlichen Wissenschaftsentwicklung, das die Tradition zur überwundenen Entwicklungsstufe herabsetzt, verhinderte den Blick auf seine eigene geschichtliche Herkunft und damit die Einsicht in die eigene geschichtliche Bedingtheit. Entsprechend der Geschichtlichkeit des denkenden Menschen selbst erweist sich auch sein Denken in allen Teilen als geschichtlich bedingt. Und es gibt keine Möglichkeit, aus dem Strom der Geschichte hinauszutreten und einen gleichsam geschichtsenthobenen Standpunkt einzunehmen. Die Begriffe und Kategorien, die Grundannahmen, die leitenden Ideen und Prinzipien sind Produkte der verschiedenen geschichtlichen Faktoren, die gemeinsam die jeweilige Denksituation konstituieren. Das Faktum der Geschichtlichkeit hat, sofern es nun durch keine Entwicklungsauffassung der Denkgeschichte mehr abgemildert wird, zur Konsequenz, daß alles Menschliche — und damit auch alles vom Menschen denkend Hervorgebrachte — sich als zeitlich und endlich herausstellt. Nun ist die Geschichtsabhängigkeit zumeist nicht als solche bewußt. Die Art und Weise der jeweiligen geschichtlichen Geprägtheit ist schwer zu durchschauen, so daß die darin begründete Unfreiheit weitgehend uneingesehen bleibt. Der Grund hierfür liegt darin, daß es unmöglich ist, einen Standpunkt außerhalb des Geschichtsgeschehens einzunehmen. Die Vergangenheit ist so sehr in die Gegenwart eingeflochten, daß es uns versagt bleibt, Distanz zu nehmen und unsere Bedingtheit restlos aufzudecken. Dies also ist die Situation des Menschen als eines geschichtlichen Wesens. Und es bleibt nur ausdrücklich festzustellen, daß das neue, das geschichtliche Wissenschaftsverständnis mit der angegebenen Situation besser übereinstimmt als die traditionelle Auffassung, die den Menschen glauben ließ, er könne mit dem wissenschaftlichen Denken seine Geschichtlichkeit gleichsam überfliegen. Und es ist zweitens zu konstatieren, daß unter der Voraussetzung der Richtigkeit der geschichtlichen Wissenschaftsauffassung der eingangs erwähnte Unterschied zwischen Philosophie und
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Wissenschaft sich als bloß gradueller, aber keinesfalls prinzipieller Art erweist, da sowohl für das philosophische wie für das wissenschaftliche Denken der Geschichtsbezug konstitutiven Charakter hat, auch wenn dies im Falle der wissenschaftlichen Rationalität weniger offensichtlich ist. Die große Hoffnung der neuzeitlichen Philosophie, in der sie seit den ersten durchschlagenden Erfolgen der exakten Wissenschaften befangen war, sie werde dereinst auch den sicheren Gang einer Wissenschaft gewinnen können, diese Hoffnung einer Annäherung der Philosophie an das Vorbild der Wissenschaft also wird nun wohl endgültig aufgegeben werden müssen. Denn es zeigt sich gegenwärtig der gerade entgegengesetzte Vorgang, daß die Wissenschaften in ihrem Selbstverständnis der Philosophie immer näher kommen. Eine mögliche Konsequenz daraus dürfte sein, daß sich vielleicht schon bald mit größerer Bestimmtheit wird sagen lassen, daß auch das wissenschaftliche Denken — zumindest sub specie veritatis — nichts anderes als ein, um nochmals mit Kant zu sprechen, „bloßes Herumtappen" ist; ein äußerst erfolgreiches Herumtappen allerdings und von größten Auswirkungen für das Menschsein insgesamt, aber — gemessen am traditionellen Wahrheitsanspruch der Wissenschaften selbst — eben nur ein Herumtappen. Wenn es sich so verhält und das Denken bei keinem seiner Ergebnisse erwarten darf, einen Besitz für immer erzielt zu haben, dann ist es genötigt, sich der steten Überprüfung zu unterziehen. Es stellt sich hier die Frage, wie das Denken zur Erkenntnis seiner Befangenheit gelangen kann. Wie ist die kritische Selbstüberprüfung durchzuführen? Wie ist es überhaupt möglich, sich den jeweiligen Denkvoraussetzungen zu entziehen, wenn die Gebundenheit doch eine weitgehend unbewußte ist? Wie lassen sich die unerkannt übernommenen Vorurteile kritisch überprüfen, wenn man gar nicht bemerkt, daß man sie besitzt? Wie also ist die latente Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart aufzudecken?
2. Denkgescbichte
als
Denkkritik
In dieser Lage sieht sich das Denken vor die Aufgabe gestellt, durch die Vergegenwärtigung seiner Geschichte sich der Abhängigkeit bewußt zu werden. In der Denkgeschichte eröffnet sich ein Weg der Selbstüberprüfung. Erst im Blick zurück erfaßt das Denken das unbemerkt Übernommene, die impliziten Gehalte, das der Vergangenheit unbewußt Entlehnte. Die historische Bewußtmachung wird zum methodischen Prinzip der
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Selbstüberprüfung, die Denkgeschichte wird zur Denkkritik. Da es sich bei dieser Methode um das in der vorliegenden Untersuchung gewählte Vorgehen der Kritik und Würdigung der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie handelt, seien dazu noch einige ergänzende Bemerkungen angefügt. Die neue Einschätzung des Faktors Geschichte im Denkgeschehen erfordert vor allem in den Wissenschaften ein radikales Umdenken. Die Wissenschaftsentwicklung erweist sich nun als Prozeß ohne Konstanten, d.h., die Wissenschaftsgeschichte stellt gar keine Entwicklung im eigentlichen Sinn dar, sondern verläuft lediglich in Teilbereichen entwicklungsmäßig. Auch die Geschichte der Wissenschaften — so stellt sich damit heraus — ist nichts anderes als Geschichte, d.h. bloßes Werden, Veränderung, steter Wandel, ununterbrochene Ablösung des Alten durch ein Neues. Diese historisch fundierte Sicht der Geschichte menschlichen Denkens läßt sich in dem knappen, aber eindeutigen Bild zusammenfassen, daß wir gleichsam von Deutungsmuster zu Deutungsmuster wechseln, ohne daß wir über geschichtsenthobene Kriterien verfügten, die uns eine unvoreingenommene Beurteilung der einzelnen Deutungsmodelle erlauben würden. Mit der Einsicht in die Geschichtsgebundenheit allen Denkens verlieren die philosophischen wie die wissenschaftlichen Denkergebnisse nicht ihre Verbindlichkeit, sofern sie ja nicht beliebigen Meinungen oder bloßer Willkür entspringen, sondern im Rahmen des jeweils möglichen Horizonts begründet und im rationalen Diskurs legitimiert sind. Mit dem Nachweis der geschichtlichen Bedingtheit menschlichen Denkens überläßt man dieses nicht einfach dem Irrationalen, sondern verweist auf die Notwendigkeit einer permanenten Selbstüberprüfung. Vielmehr muß umgekehrt festgestellt werden, daß gerade dasjenige Denken, das sich für geschichtslos hält, sich der Geschichte und damit auch irrationalen Faktoren unterwirft. Gerade die Rationalität, die sich überschätzt und sich zu Erkenntnissen von übergeschichtlicher Gültigkeit befähigt sieht, liefert sich dem Irrationalen aus. Es gilt daher, daß das Denken nur so lange der verborgen anwesenden Vergangenheit preisgegeben ist, als es seine Geschichtlichkeit nicht durchschaut. Je mehr es sich also seiner Abhängigkeit bewußt zu werden vermag, desto unabhängiger wird es. „Der kritische Weg ist allein noch offen." 53 Dieser Satz aus der Schlußpassage der „Kritik der reinen Vernunft" kennzeichnet auch die gegenwär53
K r V , B 884.
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tige Lage des Denkens, wobei heute aber auch das wissenschaftliche Denken unter dieses Diktum fallt. Und wiederum ist der kritische Weg der mittlere zwischen dem des Dogmatismus und dem des Skeptizismus. Die Forderung nach einer Selbstüberprüfung des Denkens führt zur Frage nach den möglichen Kriterien. D a auch die Denkkritik nur von einem innergeschichtlichen Standpunkt aus erfolgen kann, war sie stets um möglichst zeitenthobene Kriterien bemüht und orientierte sich etwa an der formalen Logik oder am Vorbild der Selbstkritik der Vernunft im Sinne Kants oder neuerdings an der modernen Sprachkritik. Grundsätzlich anderer Art ist das Praxiskriterium der wissenschaftlichen Rationalität. Es handelt sich zugleich um ein höchst problematisches Kriterium, denn Leistungsfähigkeit, Erfolg und Nützlichkeit einer Theorie sagen kaum etwas Zuverlässiges über ihren Wahrheitsgehalt aus. Die bloße praktische Bewährung einer Theorie beweist noch lange nicht ihre Richtigkeit, sondern lediglich die Theoriebedürftigkeit der Wirklichkeit, sofern wir diese wissenschaftlich erfassen wollen. Auch mit inzwischen eindeutig widerlegten Theorien konnte die Wirklichkeit oftmals befriedigend erklärt werden, wie sich etwa am Beispiel der Ptolemäischen Astronomie immer wieder eindrücklich demonstrieren läßt. Das unausgesprochene Hauptkriterium im naturwissenschaftlichen Denken bildet aber offensichtlich die technische Nutzanwendung. Dieses Kriterium wirkt sich insofern verhängnisvoll aus, als es mit einer suggestiven Kraft, der man sich kaum erwehren kann, dazu verführt, die gewaltigen technischen Erfolge mit den wissenschaftlichen zu verwechseln und die technische Leistungssteigerung einer vermeintlich dazu parallel verlaufenden wissenschaftlichen gleichzusetzen. Die hier geforderte historische Kritik bezieht sich auf alle Momente des Denkens, also sowohl auf die Begriffe und Kategorien, auf Ideen, Ansichten und Uberzeugungen, auf das gesamte theoretische Instrumentarium also sowie auf die theoretischen Entwürfe selbst. Alle diese Momente haben ihre je eigene Geschichte, in der sie geworden sind, als was sie uns heute begegnen. Das Denken ist demnach nicht nur an die einzelnen aufgezählten Momente gebunden, sondern zugleich auch an deren Vergangenheit und damit an all das Kontingente und Zufällige, das sich darin verflochten hat. D a das Denken sich von dieser Vergangenheit nicht loszulösen vermag, bleibt ihm nur ein Ausweg offen: die Bewußtmachung seiner Abhängigkeit durch die Vergegenwärtigung der jeweiligen Geschichte. Das Denken, das sich darum bemüht, sich selbst kritisch zu durchschauen, sieht sich auf seine Vergangenheit verwiesen. Erst im Blick auf diese kann es sich selbst zur Klarheit bringen; und zwar vor allem
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dadurch, daß es dann seine Unklarheit bemerkt, d.h. die unentdeckte Vergangenheit, durch die es immer schon unwissentlich geprägt ist. Alle Kritik, so mag man nun vielleicht einwenden, bedarf eines Maßstabes, an dem sie sich orientiert. Was genau, so lautet jetzt die Frage, bildet im Falle der historischen Denkkritik das maßgebende Prinzip? Wovon wird die Kritik in letzter Instanz geleitet? — Die Grundidee einer in der Denkgeschichte begründeten Denkkritik besteht nun darin, daß kein eigener, neuer Maßstab eingeführt zu werden braucht, denn diese Kritik ist wesentlich Methode: sie zeigt auf, sie erhellt, sie macht bewußt. Sie bezieht sich nicht auf eine absolute N o r m und steht nicht im Dienst einer bestimmten Wahrheit, sondern beschränkt sich auf das Aufzeigen der unbemerkten Abhängigkeiten, der unerkannten Prämissen und der versteckten Bezüge. Sie ist ihrem Grundanliegen nach ein Bewußtmachen von unbewußt Geltendem. Sie bewirkt damit, daß das Denken sich selbst durchsichtig und hell wird. Ihre einzige N o r m lautet daher, daß ein sich selbst durchschauendes Denken einem anonymen Faktoren ausgelieferten Denken vorzuziehen ist. Nun ist diese Forderung nach Durchsichtigkeit des Denkens noch nicht einmal eine Norm im eigentlichen Sinne, weil es sich hierbei um einen Anspruch handelt, der dem vernünftigen Denken als solchem inhärent ist und damit selbst eine der Bedingungen der Möglichkeit von Normenbegründung darstellt. Die historische Denkkritik ist somit die Vorbedingung für jede andere Form einer weitergehenden Überprüfung, sei es, daß nun immanente Widersprüche sichtbar werden oder bisher stillschweigend angenommene und deshalb unbegründete, noch der Rechtfertigung bedürfende Prämissen zum Vorschein kommen, sei es, daß nun verdeckte, beispielsweise sprachlich bedingte Denkverführungen offenkundig werden. Die historische Denkkritik beschränkt sich im wesentlichen auf ein Bewußtmachen von Irrtümern, auf das Aufzeigen von Unstimmigkeiten und die Aufhebung von Mißständen und dient damit nur indirekt der Erkenntnis einer uns — letztlich — unbekannten Wahrheit. Die in kritischer Absicht durchgeführte denkgeschichtliche Untersuchung zielt auf eine Selbstüberprüfung der jeweils geltenden Denkmittel. Diesem Verfahren scheint vor allem im Falle derjenigen Kategorien ein besonderes Gewicht zuzukommen, die wie die Entwicklungs- und Fortschrittskategorie das bisherige Bild der Geschichte bestimmten und die zugleich die Einsicht in die Geschichtsabhängigkeit des Denkens verhinderten. Nochmals ist mit aller Deutlichkeit hervorzuheben, daß von der Überprüfung der Entwicklungskategorie abhängt, wie das Verhältnis des Den-
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
kens zur Geschichte zu bestimmen ist. Denn in dem Moment, wo die Entwicklungsvorstellung aufgegeben werden muß, bedeutet das Faktum der Geschichtsabhängigkeit des Denkens eine unvermeidliche Relativierung des Denkens. Nun scheint der bisherige Verlauf der vorliegenden Untersuchung auf eine Ablehnung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs hinauszulaufen. Nach der Feststellung der Unmöglichkeit einer begriffslogischen Herleitung der Entwicklungskategorie zeigten sich am Beispiel der drei klassischen Entwicklungskonzeptionen Kants, Herders und Hegels die impliziten Voraussetzungen einer Entwicklungsdeutung der Geschichte. Im historischen Rückblick wurden die immanenten wie auch die zeitbedingten Schwierigkeiten der Vorstellung der Geschichtsentwicklung manifest. Dieses negative Ergebnis stimmt nun mit dem neuen historischen Wissenschaftsverständnis überein und findet in der Erkenntnis der Paradigmenabhängigkeit der wissenschaftlichen Rationalität sowie in der Neueinschätzung der Wissenschaftsgeschichte eine wichtige Bestätigung. In dieser Situation sieht sich das Denken, das philosophische wie das wissenschaftliche, in einem Ausmaß auf die Geschichte verwiesen, wie nie zuvor. Der Prozeß der Bewußtwerdung der Geschichtsgebundenheit des Denkens hat nun auch den Entwicklungsbegriff eingeholt. Damit verfällt dieser Begriff der historischen Kritik. Übrig bleibt das Faktum der Geschichtlichkeit.
3. Radikalisierung
des Geschichtsproblems
Die Vorstellung einer einheitlichen Menschheitsentwicklung zählt zu den ursprünglichsten Bildern, in denen sich der Mensch das Ganze der Geschichte vergegenwärtigte. Diese allgemeine Anschauung findet in einer bestimmten denkgeschichtlichen Situation ihre Ausformung zu einem rationalen Deutungsschema der Menschheitsgeschichte. Das daraus resultierende Modell, das in mehrfacher Hinsicht durch die geschichtlichen Umstände seiner Entstehung mitbestimmt ist, beansprucht, die gleichbleibende Grundstruktur der Weltgeschichte wiederzugeben und somit Aussagen über das Ganze der Geschichte zu ermöglichen. Auch dieser maßlose Anspruch der geschichtsphilosophischen Entwicklungskonzeptionen ist nur aus der Situation ihrer Begründung zu verstehen. Die aufgezeigten Schwierigkeiten des Entwicklungsgedankens lassen sich auf die verschiedenen historischen Bedingtheiten der einzelnen Ent-
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Wicklungskonzeptionen zurückführen. Die Feststellung der Zeitbedingtheit bestätigt die Berechtigung größter Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer philosophischen Entwicklungsdeutung der Geschichte. Nun ist das neuzeitliche Geschichtsdenken in hohem Maße durch den Entwicklungsgedanken fundiert. Mit dem Scheitern des Entwicklungsbegriffs, der geschichtsphilosophischen Grundkategorie, gerät die Philosophie der Geschichte in die Krise. Die moderne Lage der Geschichtsphilosophie ist somit paradox. Denn einerseits ist sie sich bewußt geworden, daß alles Menschliche der Geschichtlichkeit unterworfen ist. Andererseits muß sie ihr Unvermögen zu einer Gesamtdeutung, auf die jetzt doch alles ankäme, anerkennen. Gerade wegen des Verlusts der Möglichkeit einer rational verbindlichen Entwicklungsdeutung der Geschichte und damit einer Lösung des Geschichtsproblems ist die Geschichte zur letzten Instanz geworden. Das Scheitern der Geschichtsphilosophie macht das Faktum der Geschichtlichkeit und damit das Problem der Geschichte zur vordringlichsten Sache. Die geschichtsphilosophische Skepsis läßt keine Beruhigung bei einer Totalinterpretation mehr zu. Es ist zu akzeptieren, daß der Mensch der Geschichte ausgeliefert ist. Der durch die mächtige Wirkung der klassischen Geschichtsbilder in Gang gesetzte Prozeß der Historisierung hat die Geschichtsphilosophie selbst erfaßt, Zweifel an der Beantwortbarkeit der Fragen nach Wesen und Sinn der Menschheitsgeschichte entstehen lassen und schließlich zur Auflösung der großen Geschichtssysteme geführt. Die klassischen Konzeptionen sprachen noch vom konkreten Verlauf der Geschichte. Die spätere Geschichtsphilosophie verliert das Interesse an den inhaltlichen Problemen und wendet sich den formalen Bestimmungen der Geschichte zu. So verhält es sich auch heute. Aber das Problem der Geschichte bleibt weiterhin bestehen; es ist sogar, wie Gerhard Krüger es in seiner kleinen Schrift „Die Geschichte im Denken der Gegenwart" aus dem Jahre 1947 formulierte, „unser größtes Problem"54. Sie sei es, so erklärt Krüger, in einem dreifachen Sinn, denn sie stelle zugleich „unser dringendstes, unser umfassendstes und unser schwierigstes Problem" dar. Das dringendste Problem ist die Geschichte deshalb, weil von ihr nun „das Sein oder Nichtsein der Menschheit abhängt". Krüger denkt dabei 54
Gerhard K r ü g e r : Die Geschichte im Denken der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1947; wiederabgedruckt in: Freiheit und Weltverwaltung — Aufsätze zur Philosophie der Geschichte, Freiburg/München 1958, S. 9 7 - 1 2 6 ; Zitat: S. 97.
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zunächst an die jetzt zur Möglichkeit gewordene physische Vernichtung der Menschheit, dann aber auch und vor allem an das geistige Dasein, von dem die Gefahr physischer Vernichtung unmittelbar abhängig ist. Das gesamte Dasein unterliegt heute einem radikalen geschichtliche Wandel: „...wer heute lebt, bekommt zu spüren, was Geschichte ist. Wer es aber spürt, der empfindet auch in einer ganz elementaren Weise das Fragwürdige, Lebensgefahrliche dieses Geschehens." 55 Diese Bedrohung des Menschseins ist nun nicht nur durch das aktuelle Geschehen bedingt, sondern auch durch das vergangene, denn was heute geschieht, ist nur das Ergebnis früheren Geschehens, und eben aus diesem Grund wieder ist die Geschichte unser dringendstes Problem. Das Geschichtsproblem hat zugleich eine universelle Bedeutung gewonnen, da zum einen das Geschichtsgeschehen, das die Menschheit bedroht, den Menschen in jeder Tätigkeit betrifft, in keiner Situation die Haltung bloßen Zuschauens mehr erlaubt und in allem Denken und Handeln zu respektieren ist. Zum anderen stellen sich sämtliche Lebensbereiche als geschichtlich und fragwürdig heraus, da Geschichte nicht mehr als isoliertes Geschehen innerhalb einer feststehenden Ordnung begriffen werden kann. Die Geschichte, so zeigt sich nun, umfaßt auch noch das menschliche Verhältnis zu den Ordnungen von Welt, Natur und Sein, weil diese dem Menschen nur in Form geschichtlich variierender Auffassungen von Welt, Natur und Sein zugänglich sind. Die neue Sicht der Geschichte läßt auf der einen Seite das Ausmaß an menschlicher Freiheit erkennen, insofern der Mensch sich in seiner Geschichte selbst bestimmt, auf der anderen Seite aber macht sie zugleich die Abhängigkeit vom geschichtlichen Schicksal bewußt, das, weil die Geschichte in ihrem Fortgang keine Regelmäßigkeit und kein Ziel zu erkennen gibt, sich als undurchschaubarstes und sinnlosestes Schicksal erweist. 56 Aus diesem Grund ist die Geschichte auch zum schwierigsten Problem geworden. Man mag sich freilich fragen, ob die Geschichte überhaupt noch ein Problem bezeichne, wenn sie doch ein sinnwidriges Schicksalsgeschehen darstelle. Wenn nun die Geschichte trotzdem als das zentrale Problem zu begreifen ist, so deshalb, weil sie nicht nur Sache des Schicksals ist, sondern zugleich Sache der menschlichen Freiheit bleibt.
55 56
Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 109.
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Die Geschichte ist, so kann nun zusammenfassend festgestellt werden, nur deshalb zum dringendsten, umfassendsten und schwierigsten Problem geworden, weil das geschichtsphilosophische Entwicklungsdenken gescheitert ist. Denn die wesentliche Leistung des Entwicklungsgedankens bestand, wie bereits früher betont worden ist, darin, eine Verbindung von Geschichtlichem und Systematischem, von Dynamik und Statik, von Veränderung und gleichbleibender Struktur zu ermöglichen. Solange eine Systematisierung der Gesamtgeschichte als durchführbar erschien, solange sich also das Geschehen einem Entwicklungszusammenhang fügte, blieb der Blick auf das Problem der Geschichte in seiner ganzen Vordringlichkeit und Universalität verstellt. Dies ist auch in jenen Geschichtsdeutungen der Fall, die das klassische Verlaufsmodell eines universalen, zielgerichteten Geschichtsprozesses ablehnen, dennoch aber an einer Regelmäßigkeit im Verlauf geschichtlicher Teilprozesse festhalten. Dieser Typus wird etwa durch das Geschichtsdenken Spenglers repräsentiert. Spengler ist davon überzeugt, daß es „keinen Sinn in der Menschengeschichte, daß es nur eine tiefe Bedeutung in den Lebensläufen der einzelnen Kulturen gibt" 57 . Damit konzentriert sich die Aufgabe auf die Herausarbeitung der allen Kulturen gemeinsamen Entwicklungsstruktur, ihres Wachsens, Blühens und Verwelkens. Nur im Rahmen der je einzelnen Kulturentwicklung gewinnt Geschichte die Eigenschaft eines Sinngeschehens. Daraus folge die, wie Spengler bemerkt, „hier zum erstenmal festgestellte Tatsache", daß der Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos existiert, sondern auch „wieder geschichtlos wird, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat" 58 . In den späten Stadien einer Zivilisation fallt der Mensch wieder in den Zustand der Geschichtslosigkeit zurück, in den Zustand des „zoologischen Auf und Ab", in dem alle Bestrebungen, mögen sie sich auch „in noch so durchgeistigte religiöse, philosophische und vor allem politische Formen hüllen", letztlich doch nur als „Maske für rein zoologische Machtfragen" dienen:
57
58
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes — Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., München 1 9 1 9 - 1 9 2 2 ; Zitat: Band 2, S. 52. - Vgl. den Hinweis auf Spengler bei Krüger, a.a. O., S. 105. Ebd., S. 58.
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„Was übrig bleibt, ist der Kampf um die bloße Macht, um den animalischen Vorteil an sich." 59 Wie sehr sich auch eine solche Sicht der Geschichte von den klassischen Entwicklungskonzeptionen unterscheidet und wie wenig hoffnungsvoll sie auch sein mag, so bleibt doch in ihr das eigentliche Problem der Geschichte gleichfalls dadurch verdeckt, daß in Gestalt eines bestimmten organologischen Prinzips der Kulturentwicklung eine metaphysische Vorentscheidung getroffen und damit im Veränderlichen ein Unveränderliches vorausgesetzt ist. Ebenso bleibt noch überall dort, wo gleichbleibende Strukturen irgendeiner Art angenommen oder evolutionstheoretische Kategorien auf die Geschichte angewendet werden oder vielleicht auch nur von einer Evolution des Wissens die Rede ist, der eigentliche Charakter der Geschichte verborgen, also die einfache Tatsache, daß sie nicht Entwicklung ist, sondern nur Geschichte. Wenn es sich so verhält, wenn also die Geschichtlichkeit der Geschichte die Konstruktion gleichbleibender Sinnstrukturen in ihr verbietet, dann ist die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte grundsätzlich in Frage gestellt. Entsprechend ist denn auch die neuere Situation der Geschichtsphilosophie durch ihre, um mit Krüger zu sprechen, Ratlosigkeit gekennzeichnet: „Die moderne Frage nach der Geschichte aber ist seit Hegels Zusammenbruch im wesentlichen ratlos geworden, sie fragt zwar notgedrungen immer wieder nach Entwicklung und Fortschritt, nach dem relativen Wahrheitsgehalt der Zeitalter und der Synthese des Ganzen, aber sie weiß nun, daß die Geschichte noch im Gange ist, daß das Ganze noch aussteht und daß deswegen auch unsere Gegenwart, mitsamt ihrem Geschichtsbild, immer nur relativ ist, nur eine einseitige Perspektive." 60 Damit ist das Denken über Geschichte in die paradoxe Situation gelangt, in der es seine Unfähigkeit zur Thematisierung der Geschichte in universalgeschichtlicher Absicht erkennen muß, obwohl zugleich das Fehlen einer inhaltlichen, Orientierung ermöglichenden Philosophie der Geschichte in der Zeit der Geschichtsbedrohung schwerer wiegt als je zuvor. So kommt Krüger nicht umhin, festzustellen, „daß das Denken der Gegenwart für sein größtes Problem keine Lösung und nicht einmal eine sichere Fragestellung hat. Wer dergleichen sucht, dem muß man sagen: es gibt heute keine Philosophie der Geschichte" 61 . 59 60 61
Vgl. ebd., S. 58 f. G. Krüger: Die Geschichte im Denken der Gegenwart, S. 118. Ebd., S. 1 1 1 .
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Wenn nun die Geschichte wegen der Geschichtsgebundenheit des Menschen zur letzten Instanz geworden ist, dann wird man, weil allzu viel auf dem Spiel steht, den Verzicht auf die Entwicklungskategorie, der auf Grund des bisher Ausgeführten an sich naheliegt, doch besser zurückstellen und zuvor die Grenzen und Möglichkeiten eines geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens einer eingehenderen Überprüfung unterziehen.
IV. Kapitel: Gegenpositionen „Die Hegelianer, welche die Philosophie der G e schichte sogar als den Hauptzweck aller Philosophie ansehn, sind auf Plato zu verweisen, der unermüdlich wiederholt, daß der Gegenstand der Philosophie das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, nicht aber Das, was bald so, bald anders ist... Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenloose hervorgeht." 6 2 (A. Schopenhauer)
1. Die Kritik Jacob
Burckhardts
Von den bedeutenden Historikern des 19. Jahrhunderts, die alle mehr oder weniger ausdrücklich den geschichtsphilosophischen Systematisierungsbestrebungen gegenüber skeptisch eingestellt waren, ist neben Leopold von Ranke insbesondere Jacob Burckhardt zu erwähnen. Dessen entschiedene Zurückweisung des Entwicklungsgedankens macht es erforderlich, im Rahmen der vorliegenden Thematik wenigstens mit einigen knappen Hinweisen auf seine Sicht der Geschichte einzugehen. 63 Burck62
63
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band; in: Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hübscher, Bd. 3, Wiesbaden 1949, S. 506 und S. 508. Die zuverlässige Grundlage für die Kenntnis von Person und Werk Jacob Burckhardts bildet die monumentale Biographie Werner Kaegis, deren siebenter und letzter Band 1982 posthum erschienen ist (Werner Kaegi: Jacob Burckhardt — Eine Biographie, 7 Bde., Basel 1947 — 1982). Die verschiedenen Publikationen Karl Löwiths über Burckhardt liegen nun im Band 7 seiner „Sämtlichen Schriften" (Stuttgart 1984) gesammelt vor. Von der neueren Literatur zu Jacob Burckhardt sind insbesondere hervorzuheben: Wolfgang Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt — Jacob Burck-
Gegenpositionen
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hardts Absage an die Idee menschheitsgeschichtlicher Entwicklung geht aus einer Betrachtungsweise der Geschichte hervor, die der Hegeischen direkt entgegengesetzt ist und doch zugleich einen bestimmten Typus von Geschichtsphilosophie — oder zumindest eine bestimmte philosophische Haltung gegenüber der Geschichte — repräsentiert. Sie will zwar, wie Burckhardt selbst sagt, 64 keine Philosophie der Geschichte sein, sondern bloß ein Studium des Phänomens des Geschichtlichen, aber sie könnte sich aus heutiger Sicht möglicherweise gerade aus diesem Grund als eine aktuelle Form des Denkens über Geschichte herausstellen. Burckhardt geht von einem Begriff des Geschichtlichen aus, der die geschichtsphilosophische Voraussetzung eines invarianten Allgemeinen, einer gleichbleibenden Struktur im Geschichtsgeschehen nicht mehr zuläßt. Man kann sein Geschichtsverständnis zusammenfassend als Lehre vom permanenten Wandel aller Verhältnisse kennzeichnen. Ein durch und durch geschichtliches Wirklichkeitsbewußtsein bildet das letzte Fundament seiner Überlegungen zur Geschichte. Das ursprüngliche Manuskript der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" 65 , das sogenannte „Alte Schema", beginnt programmatisch mit folgenden Worten: „Wandelbarkeit des Geistigen so wie des Materiellen. — Das Geschichtliche vermeintlich das zum Bleiben
64
65
hardt in seiner Zeit, Göttingen 1974 sowie Olga Rubitschon: Elemente einer philosophischen Anthropologie bei Jacob Burckhardt, Basel 1981. In den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" heißt es gleich zu Beginn mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit: „Wir verzichten ferner auf alles Systematische; wir machen keinen Anspruch auf .weltgeschichtliche Ideen', sondern begnügen uns mit Wahrnehmungen und geben Querdurchschnitte durch die Geschichte, und zwar in möglichst vielen Richtungen; wir geben vor allem keine Geschichtsphilosophie" ( J a c o b Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen — Über geschichtliches Studium; in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Basel 1956, S. 1 f.). Burckhardts Vorlesungen „Über das Studium der Geschichte" sind 1905 von seinem Neffen Jacob Oeri unter dem Titel „Weltgeschichtliche Betrachtungen" aus dem Nachlaß veröffentlicht worden. Die Vorlesung ist insgesamt dreimal gehalten worden (in den Wintersemestern 1868/9, 1970/1, 1872/3). Oeri hat die verschiedenen, mehrfach umgearbeiteten, ergänzten und nur stichwortartig notierten Vorlesungsmanuskripte zu einem einheitlichen Text zusammengefügt und damit überhaupt erst ein lesbares Werk geschaffen. 1982 ist eine philologisch-kritische Ausgabe erschienen: Über das Studium der Geschichte — Der Text der Weltgeschichtlichen Betrachtungen' auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hrsg. von Peter Ganz, München 1982. Diese Edition bietet unter dem ursprünglichen Vorlesungstitel (der Titel „Weltgeschichtliche Betrachtungen" stammt von Oeri) die drei Fassungen der Vorlesung („Altes Schema", „Zwischenblätter" und „Neues Schema"), die mit philologischer Präzision in chronologischer Reihenfolge und getrennt abgedruckt sind. Dies erlaubt, wenn auch auf Kosten der Lesbarkeit und über den Weg einer parallelen Lektüre, einen Vergleich der unterschiedlichen Fassungen und führt zur Auffindung verschiedener Formulierungsvarianten.
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berechtigte; thatsächlich ist es schon das Überwundene. Der beständige Wandel der Zeiten rafft die Formen, welche das äußere Gewand des Lebens bilden, unaufhörlich mit sich, auch die Formen des geistigen Lebens." 66 Dies ergibt folgende knappe Wesensbestimmung der Geschichte: „Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung." 67 Burckhardt betont die „Neuheit dieser Erkenntniß. Erst unsere Zeit ist sich der Welt als einer völlig bewegten bewußt"68. In diesem fortgeschrittenen Stadium des geschichtlichen Bewußtseins kann nichts mehr von der Feststellung der geschichtlichen Relativität und Bedingtheit ausgenommen werden. Im ursprünglichen Vorlesungsmanuskript seiner „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" bezeichnet er die „Uberzeugung von der Wandelbarkeit und Hinfälligkeit alles Menschlichen" als eine letzte Voraussetzung. 69 Eine derart historisierte Geschichtsauffassung muß zur Ablehnung des Entwicklungsgedankens und damit in die geschichtsphilosophische Skepsis führen. Burckhardt fragt selbst danach, wieweit das Resultat Skeptizismus sei und antwortet: „Gewiß hat der wahre Skeptizismus seine Stellung in einer Welt, wo Anfange und Ende unbekannt sind und die Mitte in beständiger Bewegung ist..." 70 Von einem echten Skeptizismus, so bemerkt er darüber hinaus, könne man nie genug haben. 71 Für das Geschichtsproblem hat diese Haltung zur Folge, daß jede mögliche Lösung sich nur noch als gegenwartsbedingter Versuch begreifen läßt. Der skeptische Historiker wird sich davor hüten müssen, eine bestimmte Geschichtsauslegung mit dem objektiven Verlauf der Weltgeschichte zu verwechseln: „Uberhaupt müssen wir uns hüten, unsere geschichtlichen Perspektiven ohne weiteres für den Ratschluß der Weltgeschichte zu halten." 72 Die Konsequenz der Lehre vom radikalen geschichtlichen Wandel liegt in der grundsätzlichen Bestreitung der Systematisierungsmöglichkeit von Geschichte und damit in der Ablehnung der Geschichtsphilosophie. Diese, so erklärt Burckhardt, sei bisher chronologisch verfahren, habe Längendurchschnitte gegeben und auf diese Weise „zu einem allgemeinen Programm der Weltentwicklung durchzudringen" versucht, und zwar „meist in höchst optimistischem Sinne". Dieses „kecke Antizipieren eines Weltpla66 67 68 69 70 71 72
Über d. Studium Weltgesch. Betr., Über d. Studium Vgl. ebd., S. 107. Weltgesch. Betr., Vgl. ebd. Weltgesch. Betr.,
d. Gesch., S. 107. S. 19. d. Gesch., S. 165. S. 7. S. 192.
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nes" führe zu Irrtümern, weil es „von irrigen Prämissen" ausgehe. Denn wir seien „nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit" und kennten sie nicht. 73 Deshalb lasse sich das Geschichtsgeschehen auch nicht in ein lineares Entwicklungsschema fassen: „Die geistigen Entwicklungen vollziehen sich nicht logisch, sondern mit Sprüngen, Zögerungen und Rückfällen." 74 Diese Absage an die geschichtsphilosophische Entwicklungsidee enthält implizite auch eine Absage an das Fortschrittsdenken: „Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten..." 75 Daß die Geschichtsbetrachtung über keine absoluten Standpunkte verfügen kann, ist Burckhardts seit seiner Studienzeit feststehende Überzeugung. Im Jahr 1842 schreibt er aus Berlin: „An einen Standpunkt a priori kann ich ... gar nicht glauben; das ist die Sache des Weltgeistes, nicht des Geschichtsmenschen." 76 Damit mag zusammenhängen, daß sich Burckhardt schon früh von der allgemeinen Hegelbegeisterung kritisch distanzierte. 77 Nun wird man Burckhardt gewiß nicht unrecht tun, wenn man bemerkt, daß seine Auseinandersetzung mit Hegel recht oberflächlichen Charakter hat. 78 Die knappe und widerwillige Zusammenfassung einiger Grundgedanken der Hegeischen Geschichtsphilosophie in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" 79 wird Hegel in keiner Weise gerecht. Allerdings kann sich Burckhardt auch der Aufgabe einer sorgfältigeren Auseinandersetzung mit Hegels Geschichtsphilosophie enthoben sehen, da er schon deren Prinzip, die Idee einer notwendigen Entwicklung, grundsätzlich verneint. Ein besonders wichtiges Motiv seiner Ablehnung Hegels und der spekulativen Geschichtsauslegung insgesamt besteht darin, daß deren „freches (hegelsches) Antizipiren eines Weltplans" 80 auf eine Rechtfertigung der Geschichte hinausläuft. Der Theodizeegedanke verhindert aber nach 73 74 75 76
77 78
79 80
Vgl. ebd., S. 2. Über d. Studium d. Gesch., S. 158. Weltgesch. Betr., S. 3; vgl. S. 48 f. Brief an Willibald Beyschlag v o m 14. Juni 1842; in: Briefe — Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe, mit Benützung des handschr. Nachlasses hergest. von Max Burckhardt, Bd. 1, Basel 1949, S. 204. Vgl. W. Kaegi: J . Burckhardt, Bd. 2, S. 27. Vgl. ebd., Bd. 6, S. 58 und Eckhard Heftrich: Hegel und Jacob Burckhardt - Zur Krisis des geschichtlichen Bewußtseins, Frankfurt a. M. 1967, insbes. S. 14 ff. A u f S. 12 stellt Heftrich fest: „Burckhardts Hegelverständnis läuft denn auf ein Mißverständnis hinaus. Es ist freilich kein banales, sondern ein fruchtbares Mißverständnis..." Vgl. Weltgesch. Betr., S. 2 und Über d. Studium d. Gesch., S. 1 5 2 f . Über d. Studium d. Gesch., S. 170.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Burckhardt die Einsicht in die gleichbleibenden Daseinssituationen des „duldenden, strebenden und handelnden Menschen" 81 und damit eine geschichtliche Erfahrung, die, wenn sie den Menschen auch nicht zu ändern vermag, sich doch wenigstens mäßigend auswirken könnte. Burckhardt hält die Theodizeevorstellung, die bei ihm primär die Rechtfertigung des Bösen in der Geschichte und nicht mehr die Rechtfertigung Gottes bedeutet, in ihrem Kern für amoralisch. Hegel nun, so stellt Burckhardt fest, gebe „seine Betrachtung als eine Theodicee aus, vermöge der Erkenntnis des Affirmativen, in welchem das Negative (populär: das Böse) zu einem Untergeordneten und Überwundenen" 82 verschwinde. Doch angesichts der ununterbrochenen Zerstörungen und des damit verbundenen Leidens sei „der Trost mit einem höheren Weltplan u. dergl." schlecht. „Jede erfolgreiche Gewalttat ist allermindestens ein Skandal, d.h. ein böses Beispiel; die einzige Lehre aus gelungener Missetat des Stärkeren ist die, daß man das Erdenleben überhaupt nicht höher schätze, als es verdient." 83 Die Geschichtsphilosophie ist für Burckhardt „ein Kentaur, eine contradictio in adjecto; denn Geschichte, d.h. das Koordinieren ist Nichtphilosophie und Philosophie, d.h. das Subordinieren ist Nichtgeschichte." 84 Burckhardt bezieht sich hier vermutlich auf Schopenhauers Kritik an der Geschichte sowie am geschichtsphilosophischen Systemgedanken. Im Kapitel 38 des zweiten Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung" führt Schopenhauer aus, daß es der Geschichtsforschung versagt sei, das Einzelne mittels des Allgemeinen zu erfassen, und daß ihr deshalb kein wissenschaftlicher Status zukomme. Denn die Wissenschaft erhebe sich über die reale Mannigfaltigkeit, „wodurch sie den Weg zu einer Erkenntniß des Allgemeinen und des Besondern eröffnet, welche auch das unzählbare Einzelne befaßt, indem sie von Allem gilt, ohne daß man Jegliches für sich zu betrachten habe" 85 . Über den allgemeinen und abstrakten Erkenntnissen der Wissenschaften schwebe die Philosophie „als das allgemeinste und deshalb wichtigste Wissen, welches die Aufschlüsse verheißt, zu denen die andern nur vorbereiten". Die Geschichte nun dürfe nicht in
81 82 83 84 85
Weltgesch. Betr., S. 3. Ebd., S. 2. Ebd., S. 120. Ebd., S. 2. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band; in: Sämtliche Werke, hrsg. von A r t h u r Hübscher, Bd. 3, Wiesbaden 1949, S. 502; die nachfolgenden Zitate finden sich auf derselben Seite.
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die Reihe der Wissenschaften treten, da sie das Einzelne unmittelbar erfassen „und so gleichsam auf dem Boden der Erfahrung fortkriechen" müsse. Die Wissenschaften als Systeme von Begriffen handelten von Gattungen, die Geschichte aber von Individuen. „Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen; welches einen Widerspruch besagt." Und da ferner „die Geschichte es mit dem schlechthin Einzelnen und Individuellen zu thun hat, welches, seiner Natur nach, unerschöpflich ist; so weiß sie Alles nur unvollkommen und halb". Der Geschichte also fehle „der Grundcharakter der Wissenschaft, die Subordination des Gewußten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat. Daher giebt es kein System der Geschichte, wie doch jeder andern Wissenschaft. Sie ist demnach zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft". Ganz im Sinne dieser Schopenhauerschen Ausführungen bezeichnet Burckhardt die Geschichtsphilosophie als „curiosen Centauren", als „contradictio in adiecto", als „widersprechende Zusammensetzung — Coordinirtes und Subordinirtes schon im bloßen Namen", 86 — und erliegt mit dieser Bezeichnung einer Äquivokation 87 . Der Grund, weshalb es Burckhardts Meinung zufolge nicht gelingen kann, die Geschichte mittels eines Subordinationsprinzips systematisch zu erklären, liegt darin, daß ein solches Prinzip seine Rechtfertigung nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus der jeweiligen Gegenwart gewinnen kann. In Anbetracht dieser grundsätzlichen Schwierigkeit ist nun zu fragen, nach welchen systematischen Ordnungskriterien er selbst vorgeht. Zunächst versucht Burckhardt der angedeuteten Schwierigkeit dadurch aus dem Wege zu gehen, daß er ausdrücklich keine Systematisierungsprinzipien in Anspruch nehmen will. Er verzichte auf alles Systematische, sagt Burckhardt gleich zu Beginn seiner „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", er begnüge sich mit „Wahrnehmungen" und gebe „Querdurchschnitte
86 87
Vgl. Über d. Studium d. Gesch., S. 159, S. 166 und S. 225. Der logische Fehler besteht darin, daß in der Kennzeichnung der Geschichtsphilosophie als contradictio in adjecto die Doppelbedeutung von „Geschichte" nicht berücksichtigt wird. Der Ausdruck „Geschichte" benennt ja sowohl die „res gestae" als auch die „historia rerum gestarum". Wenn nun Schopenhauer das Vorgehen der Wissenschaft und damit auch der Philosophie als „Koordination" und im Unterschied dazu das der Geschichte als „Subordination" charakterisiert, so meint hier „Geschichte" das Fach, die Disziplin, die „historia rerum gestarum". Im Ausdruck „Geschichtsphilosophie" dagegen bezeichnet „Geschichte" das Geschichtsgeschehen selbst, also die „res gestae", und darum läuft die Beurteilung der Geschichtsphilosophie als eines logisch in sich unstimmigen Ausdrucks, als contradictio in adjecto, ihrerseits auf eine logische Unstimmigkeit, nämlich auf eine Äquivokation, hinaus.
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durch die Geschichte". 88 In der handschriftlichen Fassung heißt es: „Unser Verzicht auf Alles Systematische; wir wollen nur geistige Erfahrungen in irgend einen Zusammenhang drängen." 89 Und gleich am Anfang des zweiten Kapitels wieder, das die drei Potenzen Staat, Religion, Kultur und deren gegenseitiges Verhältnis thematisiert, bemerkt Burckhardt, daß er sich „der Willkür" der Trennung in diese drei Potenzen „wohl bewußt" sei. „Es ist", so fahrt er fort, „als nähme man aus einem Bilde eine Anzahl von Figuren heraus und ließe den Rest stehen. Auch soll die Trennung bloß dazu dienen, uns eine Anschauung zu ermöglichen, und ohnehin muß ja freilich jede fachweise trennende Geschichtsbetrachtung so verfahren" 90 . Und das dritte Kapitel, das die Betrachtung der sechs Bedingtheiten enthält, beginnt mit folgender Einschränkung: „Die Betrachtung der sechs Bedingtheiten ist ohne systematischen Wert, ja sachlich deshalb bedenklich, weil Bedingung und Bedingtsein so rasch und unmerklich miteinander wechseln und das wesentlich Vorherrschende bisweilen kaum zu ermitteln ist, zumal in längst vergangenen Zeiten." Er spricht im weiteren von der „systematischen Harmlosigkeit" der gewählten Anordnung, meint aber, sie sei doch „ein ganz geeignetes Gehäuse für eine Anzahl geschichtlicher Beobachtungen des verschiedensten Ranges und aus allen Zeiten, welche einen gewissen Wert der Betrachtung haben und doch sonst nicht unterzubringen wären". Die Einteilung sei nur, so formuliert es Burckhardt gleichnishaft, „derjenige Stoß an das Wasserglas, der die Eiskristalle anschießen macht". 91 Bildet demnach die Unterscheidung von drei Potenzen und das sechsfältige Verhältnis ihrer wechselseitigen Bedingtheit lediglich den äußeren Ordnungsrahmen, so ist nun nach den inneren Ordnungsschemata zu fragen. Wenn der Entwicklungsgedanke als Systematisierungsprinzip wegfallt, dann reduziert sich das Identische im steten Wandel der Geschichte auf die Wiederholung, und der Entwicklungszusammenhang schwächt sich zur bloßen Kontinuität ab. Damit sind zwei Kategorien genannt, die wohl als die beiden Hauptschemata der Geschichtsinterpretation Burckhardts bezeichnet werden können. Im Gegensatz zu der am Entwicklungsbegriff orientierten Geschichtsphilosophie zielen die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf „das sich Vgl. Weltgesch. Betr., S. 1 f. Über d. Studium d. Gesch., S. 166. 90 Weltgesch. Betr., S. 20. « Vgl. ebd., S. 60. 88
85
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Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches" 92 . Leitend ist also nicht ein entwicklungstheoretisches, sondern ein typologisches Schema. Als primäre Konstanz im geschichtlichen Wechsel erweist sich die gleichbleibende Natur des Menschen. Wiederum in direkter Entgegensetzung zum geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenken erklärt Burckhardt: „Unser Ausgangspunkt ist der vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein wird." 93 Ausgangspunkt und Zentrum der Untersuchungen bildet demnach das allgemein Menschliche in seinen in aller Mannigfaltigkeit und Buntheit des Geschichtsgeschehens gleichbleibenden Daseinssituationen. Nun darf aber Burckhardts Betonung des Typischen und sich Wiederholenden nicht überschätzt werden, denn solche Hinweise auf die Konstanten im Menschsein dienen ihm primär zur Abgrenzung von den einseitigen Entwicklungsbildern der Geschichte und den populären Fortschrittshoffnungen, denen gegenüber Burckhardt zum Ausdruck bringen möchte, daß in den menschlichen Dingen bisher alles beim Alten geblieben sei. Wichtiger ist ihm die Hervorhebung des geschichtlichen, bedingten Charakters alles Menschlichen. Davon ausgenommen ist allenfalls die Kunst. Im „Alten Schema" notiert sich Burckhardt: „Der einzige Vorbehalt des Ewigen auf Erden: die Kunst." Obwohl diese Notiz mit seiner ästhetizistischen Haltung gut übereinstimmt, wird sie doch wieder teilweise zurückgenommen in dem unmittelbar vorangehenden Satz, in dem er den „Genuß" als „die Freude an den höchsten Äußerungen des Bedingten" bestimmt, wobei man sich aber „bewußt bleibt, daß es ein Bedingtes ist". 94 In diesem eingeschränkten Sinne kann Burckhardt Kunst und Poesie als „der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben", als „irdisch-unsterblich" bezeichnen. 95 Das radikale geschichtliche Bewußtsein läßt für ein Konstantes in der Bedeutung eines objektiven Allgemeinen keinen Raum mehr. Die
92 93 94 95
Ebd., S. 3 Ebd. Vgl. Über d. Studium d. Gesch., S. 107. Vgl. Weltgesch. Betr., S. 45: „Aus Welt, Zeit und Natur sammeln Kunst und Poesie allgültige, allverständliche Bilder, die das einzig irdisch Bleibende sind, eine zweite ideale Schöpfung, der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben, irdisch-unsterblich, eine Sprache für alle Nationen. Sie sind damit ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter, so gut wie die Philosophie."
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Konstanten des Menschseins haben lediglich noch die Bedeutung wiederkehrender, ähnlicher und typischer Verhältnisse, die herauszuarbeiten nun allerdings die Aufgabe des skeptischen Historikers ist. Die Hervorhebung des Konstanten und die gleichzeitige Unterstreichung der Geschichtlichkeit schließen sich in dieser Sicht der Geschichte nicht aus. Die letzten Voraussetzungen sind demnach: „die Überzeugung von der Wandelbarkeit und Hinfälligkeit alles Menschlichen und der Drang nach Erkenntniß eben dieses Menschlichen" 9 6 . Alles Geistige hat eine geschichtliche Seite, „an welcher es als Wandlung, als Bedingtes, als vorübergehendes Moment erscheint"; alles Geschehen wiederum zeigt eine geistige Seite, „von welcher aus es an der Unvergänglichkeit teilnimmt". „Denn", so lautet die Begründung, „der Geist hat Wandelbarkeit, aber nicht Vergänglichkeit." 9 7 Was sich verändert, ohne doch zu vergehen, das unterliegt der Kontinuität. Die Unvergänglichkeit des Geistes und seine Kontinuität gehören zusammen. 9 8 Kontinuität meint bei Burckhardt nicht etwa das faktische Verbundensein der historischen Erscheinungen miteinander, sondern sie ist wesentlich Aufgabe und, wie Burckhardt sagt, „Pflicht" 9 9 . Der Zusammenhalt von Vergangenheit und Gegenwart liegt nicht vor, sondern entsteht erst mit und in dem historischen Bewußtsein. Sie ist Ausdruck des menschlichen Vermögens, sich in der Geschichte orientieren und aus ihr leben zu können. Die Möglichkeit der Zukunftsgestaltung hängt somit unmittelbar mit der Fähigkeit zusammen, sich der Kontinuität bewußt zu werden. Während das spekulative Entwicklungsdenken das Antizipieren eines Weltplanes erlaubt, müssen wir, so bemerkt Burckhardt, „froh sein", „nur die Continuität des Geistes nachzuweisen" 1 0 0 . Und da die Menschheitsgeschichte keinem feststehenden Entwicklungsplan folgt und die Kontinuität also jederzeit verloren gehen kann, sobald die Geschichte des Geistes in Vergessenheit gerät, sind wir auf die Gewinnung von Kontinuität angewiesen. „Die Vergangenheit als Continuität des Geistes aufgefaßt ist der höchste 96 97 98
99 100
Über d. Studium d. Gesch., S. 107. Weltgesch. Betr., S. 4. Vgl. ebd., S. 12 f.: „Jede einzelne Erkenntnis von Tatsachen hat nämlich neben ihrem speziellen Werte als K u n d e oder Gedanke aus einem speziellen Reiche noch einen universalen oder historischen als K u n d e einer bestimmten Epoche des wandelbaren Menschengeistes und gibt zugleich, in den richtigen Zusammenhang gebracht, Zeugnis von der Kontinuität und Unvergänglichkeit dieses Geistes." Vgl. Über d. Studium d. Gesch., S. 166. Ebd., S. 170.
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geistige Besitz späterer Zeiten." Alles, was auch nur im entferntesten zur Erkenntnis der Kontinuität beitrage, müsse deshalb „mit aller Anstrengung und Aufwand" gesammelt werden, „bis wir zur Reconstruction ganzer vergangener Geisteshorizonte gelangen". 101 Somit erweist sich die Kontinuität „der geistigen Erinnerungen" als „ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins", auch wenn es sich bei der in der Erkenntnis der Kontinuität sich zeigenden und in ihr verbundenen Geschichte des Geistes um kein selbständiges und an sich sinnvolles Entwicklungsgeschehen handelt. Burckhardt stellt denn auch ausdrücklich die Frage: „Ob der Zusammenhang des Geistigen auch ohne unser Wissen davon vorhanden wäre, in einem Organ das wir nicht kennen? — wir wissen es nicht, können uns aber jedenfalls keine Vorstellung davon machen; und wünschen dringend daß das Bewußtsein jenes Zusammenhanges in uns lebe." 102 Der Bewußtwerdungsprozeß der geschichtlichen Dimension alles Menschseins hat bei Burckhardt sein radikales Stadium erreicht, das keine Beruhigung bei der Entwicklungsvorstellung mehr erlaubt, sondern nur noch den Weg der Bewußtmachung der Geschichtsabhängigkeit zum Zweck der Befreiung von ihr zuläßt. Dies ist der Sinn der Kategorie der Kontinuität bei Burckhardt. Die auf die Erhellung der Kontinuität ausgerichtete Geschichtsbetrachtung ist mehr als bloß fachwissenschaftliche Forschung 103 und gelangt doch wieder nicht zu den festen Ergebnissen einer spekulativen Ausdeutung der Universalgeschichte. Sie ist dabei nicht nur eine „Pflicht", sondern zugleich ein „Recht" sowie ein „Bedürfnis", denn „sie ist unsere Freiheit mitten im Bewußtsein der enormen allgemeinen Gebundenheit und des Stromes der Notwendigkeiten". 104 Ihre 101 102 103
104
Vgl. ebd., S. 171, S. 229. Ebd., S. 244. Die zeitgenössischen Geschichtsschreiber charakterisiert Burckhardt folgendermaßen: „Vor sich im Berg der Geschichte, graben sie ein Loch und hinter sich lassen sie einen Haufen Schutt und sterben. Auch viele der Bessern geben sich keine Rechenschaft mehr von der Kürze des Lebens der ernsthaften Leser; sie sammeln in ihrem Gebiet alle Bagatellen mit, und vertheuern ihre Werke durch Anhängung von Urkunden ohne Wahl. Endlich die Monographisten, wie sie jetzt größtentheils sind, ohne einen Blick auf Tacitus Agricola und auf die baldige Vergessenheit ihrer dicken Bücher." (Uber d. Studium d. Gesch, S. 108) Burckhardt distanzierte sich verschiedentlich von der positivistischen, auf Ereignisfeststellung ausgerichteten Historie. Den Gegensatz von bloßem Tatsachenbericht und geistig durchdachter Geschichtsschreibung umschreibt er an derselben Stelle (S. 109 f.) folgendermaßen: „Die Geschichte und die bloßen Ereignisse — nicht nur nicht dasselbe sondern im höchsten Sinn wahre Gegensätze; es ist ein Höheres, das nur widerwillig an den einzelnen Dingen klebt. — Die aufgehende Sonne röthet die Ränder der Gebirge und Inseln und die Wellen des Meeres, ist aber auch ohne sie die Sonne." Vgl. Weltgesch. Betr., S. 7.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
höchste Möglichkeit ist nach Burckhardt: Weisheit. „Der Geist muß die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln. Was einst Jubel und Jammer war, muß nun Erkenntnis werden, wie eigentlich auch im Leben des Einzelnen. Damit erhält auch der Satz Historia vitae magistra einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn. Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden." 1 0 5 Burckhardts Absage an den geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedanken kommt besonders scharf in seiner Polemik gegen den allgemeinen Fortschrittsoptimismus seiner Zeit zum Ausdruck. Darauf soll zum Abschluß der vorliegenden Hinweise zu Burckhardt noch kurz eingegangen werden. Im November 1871 überarbeitet Burckhardt die Einleitung zu seinem Kolleg über das Revolutionszeitalter. Der Krieg von 1870/71 läßt ihn besonders deutliche Formulierungen gegen das unvermindert zuversichtliche Fortschrittsdenken finden. Ein „großer optimistischer Wille, womit die Zeiten seit Mitte des 18. Jahrhunderts erfüllt sind", so führt er aus, „hofft von Änderungen ein wachsendes und definitives Heil und glaubt letzteres bei jeder Krise ziemlich nahe v o r sich zu sehen, wie eine Berghöhe beim Föhn. Eine Nation, Kaste, Bildungsschicht nach der anderen ist davon ergriffen worden und hat gemeint: wenn das für sie Wünschbare erreicht sei, so könnte die Welt dann für einige Zeit stillestehen; man ahnte nicht, daß dies eigene Wollen allen Übrigen und Künftigen auch ein Recht zum Wollen verlieh" 106 . Burckhardt erwägt die Möglichkeit, 105
106
Ebd. — Dem Bedeutungswandel des Topos „historia vitae magistra" vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Beschleunigung der Geschichte ist eine Abhandlung Reinhart Kosellecks gewidmet: Historia Magistra Vitae — Uber die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte; in: Vergangene Zukunft — Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 38 — 66. Koselleck zeigt auf, wie die Historie in der neuzeitlich bewegten Geschichte ihre angestammte Funktion einer Schule, ohne Schaden klug zu werden, allmählich verliert. (S. 39) In einer sich beschleunigenden Geschichte müssen auch die Rückgriffe auf das vergangene Geschehen immer kürzer werden. Koselleck weist vor allem auch auf den Zusammenhang zwischen der Sinnentleerung der Formel „historia magistra vitae" und der gleichzeitigen Bedeutungsverschiebung von „Historie". Dieser Ausdruck, der zunächst vornehmlich den Bericht von vergangenen Geschehnissen bezeichnete, wurde im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts durch den Terminus „Geschichte" verdrängt, der nun primär das Geschehen selbst meinte. Die Geschichte als Begebenheit konnte aber nicht in gleicher Weise belehren wie die Historie als exemplarischer Bericht. (S. 48) Die Herausbildung des Begriffs der Geschichte im kollektiven Singular schließlich verbaute endgültig den Blick auf das Belehrend-Exemplarische des vergangenen Geschehens und führte zur Auflösung des Topos. Historische Fragmente aus dem Nachlaß, hrsg. von Albert Oeri und Emil Dürr; in: Gesamtausgabe, Bd. 7, Basel 1929, S. 432.
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daß mit diesem „an sich blinden Willen der Veränderung (welche obenhin, durch den landläufigen Optimismus, als .Fortschritt', auch Kultur, Zivilisation, Aufklärung, Entwicklung, Gesittung und anders betitelt wird)" sich zwar etwas „relativ Dauerndes" realisieren werde, doch darüber, so stellt er fest, könne erst eine spätere Zeit urteilen. 107 Im Zuge der allgemeinen Tendenz zum Entwicklungsdenken würde, wie Burckhardt weiter ausführt, sogar Darwins Lehre vom Kampf ums Dasein mehr und mehr auch auf das Leben der Menschen sowie auf die Geschichte Anwendung finden. Der Kampf ums Dasein, meint er, sei zwar seit jeher vorhanden gewesen, aber bei der Langsamkeit der geschichtlichen Vorgänge viel weniger fühlbar gewesen; jetzt dagegen sei er „furchtbar lebendig und beschleunigt durch nationale Kriege und tödliche industrielle Konkurrenz". 108 Wer nun allerdings — Burckhardt denkt hier an Eduard von Hartmann und dessen darwinistische Geschichtsauslegung — den Fortschrittsgedanken mit dem Darwinismus verbinde und hoffe, daß der sich verschärfende Kampf ums Dasein „für die fortschreitende Entwicklung' der Gattung ... um so förderlicher" sei, der übersehe, daß dieser Gedanke sich selbst aufhebe. 109 Er vergesse, „wie ruchlos bei dem von ihm proponierten Entwicklungsgang die siegreich gebliebenen Rassen und Völker werden müßten" 110 . Wenn man, so bemerkt Burckhardt dazu, nur Wünsche und Phantasien walten lasse, so könne man immer „eine prachtvolle Schlußdekoration der Zukunft der Menschheit zustande bringen" 111 . Gegenüber solchen spekulativen Geschichtsausdeutungen faßt Jacob Burckhardt seine Position in die folgenden liebenswürdigen Worte, aus denen — um eine Formulierung O. Marquards zu übernehmen — die „Historikerweisheit eines weisen Historikers" spricht: „Wir verzichten auf solche historische Schlußdekorationen. Wir haben vielmehr eine Bitte ans Schicksal: Um Pflichtgefühl für das jedesmal Vorliegende, um Ergebung in das Unvermeidliche, und — wenn die großen Fragen der Existenz auf uns zukommen — um klare, unzweideutige Stellung derselben; endlich um so viel Sonnenschein für das Leben des Einzelnen, als nötig ist, um ihn bei der Erfüllung seiner Pflicht und der Betrachtung der Welt munter zu erhalten." 112 107 108 105 110 111 112
Vgl. ebd., S. 433. Vgl. ebd., S. 432 f. Vgl. ebd., S. 436 f. und S. 480 f. Ebd., S. 481. Ebd. Ebd., S. 437; vgl. S . 4 8 1 .
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Die Burckhardtsche Sicht der Geschichte bedeutet die endgültige Verabschiedung des an der Entwicklungsidee orientierten universalgeschichtlichen Denkens. An die Stelle der Entwicklungskategorie tritt bei ihm der Kontinuitätsbegriff und an die Stelle von Regel und Gesetzmäßigkeit Typus und bloße Wiederholung; das lineare, zielgerichtete Verlaufsschema wird durch die Vorstellung vom geschichtlichen Leben als unaufhörlicher, ordnungsloser Bewegung ersetzt und der Theodizeegedanke schließlich reduziert sich auf die Bitte an das Schicksal um ein menschenwürdiges Maß an Sonnenschein im Leben. Mit dieser Absage an die metaphysische Entwicklungsidee entfällt aber zugleich die Möglichkeit einer Sinndeutung der Menschheitsgeschichte und damit wiederum die Möglichkeit einer Sinnorientierung des Daseins am übergeordneten, universalgeschichtlichen Prozeß. Der Verzicht auf die geschichtsphilosophische Frage nach dem Geschichtsziel bedeutet konsequenterweise den Verzicht auf einen letzten Sinn. Im Vorlesungsmanuskript der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" notiert sich Burckhardt: „Das Ziel des Daseins und der ganzen Geschichte bleibt räthselhaft..." 1 1 3 Aber auch wenn Burckhardt die spekulativen Sinndeutungsbestrebungen als vermessen ablehnt und darum die Sinnfrage für letztlich unbeantwortbar hält, so verlangt doch die Auseinandersetzung mit den Daseinsfragen die Zuwendung zur Geschichte. Gerade wer die Relativität aller Werte und Uberzeugungen, also deren Bezogensein auf die jeweilige Gegenwart, betont, sieht sich auf die Geschichte als letzte, nicht weiter hinterfragbare Instanz verwiesen. Burckhardt bezeichnet es als „das große durchgehende Hauptphänomen", daß stets wieder geschichtliche Mächte „von höchster momentaner Berechtigung" entstehen. Diese geschichtlichen Grundmächte, denen im Lauf der Zeit ein Höchstmaß an Verbindlichkeit zugewachsen ist, üben eine integrierende Funktion aus: „...irdische Lebensformen aller Art: Verfassungen, bevorrechtete Stände, eine tief mit dem ganzen Zeitlichen verflochtene Religion, ein großer Besitzstand, eine vollständige gesellschaftliche Sitte, eine bestimmte Rechtsanschauung entwikkeln sich daraus oder hängen sich daran und halten sich mit der Zeit für Stützen dieser Macht, ja für allein mögliche Träger der sittlichen Kräfte der Zeit. Allein der Geist ist ein Wühler und arbeitet weiter. Freilich widerstreben diese Lebensformen einer Änderung, aber der Bruch, sei es durch Revolution oder durch allmähliche Verwesung, der Sturz von Moralen und Religionen, der vermeintliche Untergang, ja Weltuntergang kommt 113
Über d. Studium d. G e s c h . , S. 169.
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doch. Inzwischen aber baut der Geist etwas Neues, dessen äußeres Gehäuse mit der Zeit dasselbe Schicksal erleiden wird." 114 Das Bild, das Burckhardt hier zeichnet, beschreibt nicht einfach ein wirres Auf und Ab, sondern das Entstehen und Vergehen umfassender, Einheit gewährender Totalitäten. Diesen gegenüber erfahrt sich das Individuum einerseits als ohnmächtig, andererseits verdankt es ihnen immer schon seinen jeweiligen Standpunkt. Da wir als Menschen einer jeweiligen Zeit dem Geschichtsgeschehen „unvermeidlich unseren Tribut bezahlen", müssen wir ihm „zugleich beschauend gegenübertreten" 115 , denn die historische Kontemplation ist unsere einzige Freiheit im Strom geschichtlicher Notwendigkeiten. 116 Gerade das Bewußtsein des geschichtlichen Bedingtseins und der Relativität von allem nötigt zur erkennenden Haltung und hat eine „schwere Pflicht" zur Konsequenz, „nämlich sich auszubilden zum erkennenden Menschen". 117 Das historische Bewußtsein zwingt dazu, daß das Ziel aller Bemühungen — „nolens volens" — nur noch Erkenntnis sein kann. 118 Erst in der Vergegenwärtigung der historischen Horizonte gelingt ein Stück Unabhängigkeit des Daseins und zugleich ein Stück Sinngewinnung, die der philosophischen Spekulation, da sie zuviel will, versagt bleiben. Es gilt demnach, aus der Gegenwart nach Möglichkeit herauszutreten, um im Spiegel der Vergangenheit zu gültigeren Einsichten zu gelangen: „Wenn die Geschichte uns irgendwie das große und schwere Räthsel des Lebens auch nur geringstentheils soll lösen helfen, so müssen wir wieder aus den Regionen des individuellen und zeitlichen Bangens zurück, in eine Gegend, wo unser Blick nicht sofort egoistisch getrübt ist. Vielleicht ergiebt sich aus der ruhigen Betrachtung aus größerer Ferne ein Anfang der wahren Sachlage unseres Erdentreibens." 119
2. Die Kritik Karl
Löwiths
Das radikale historische Bewußtsein, wie es für Jacob Burckhardt bestimmend ist, führt zwangsläufig zur grundsätzlichen Frage, wie eine Philosophie der Geschichte überhaupt noch als möglich gedacht werden Weltgesch. Betr., S. 5. " 5 Ebd., S. 6. 116 Vgl. ebd., S. 7. 117 Vgl. ebd., S. 8. 118 Vgl. Über d. Studium d. Gesch., S. 169. 119 Ebd., S. 111. 114
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H a u p t s c h w i e r i g k e i t e n des E n t w i c k l u n g s d e n k e n s
könne. Burckhardt antwortet, indem er in die historische Kontemplation ausweicht. Seine Geschichtsbetrachtungen enthalten keine bestimmte philosophische Lehre, sie sind aber nur zu verstehen als Ausdruck einer bestimmten philosophischen Haltung. Auch Karl Löwith, der sich in mehreren Publikationen mit Burckhardt befaßte, antwortet auf die radikal geschichtliche Situation, in die der Prozeß der Historisierung aller Daseinsbereiche geführt hat, nicht mit einer geschichtsphilosophischen Lehre, sondern mit einer bestimmten philosophischen Haltung, die durch die Abwendung von der Geschichte und die Zuwendung zum Außergeschichtlichen, zur ewigen Naturordnung, gekennzeichnet ist. Nimmt Burckhardt in der Situation bewußt gewordener Geschichtlichkeit des Daseins und Relativität aller Orientierungsmöglichkeiten ausdrücklich eine historistische Position ein und betont das Erfordernis einer Hinwendung zur Geschichte, so bestreitet Löwith mit grundsätzlichen Argumenten die Berechtigung einer Orientierung an der alles relativierenden Geschichte. Man hat also guten Grund, danach zu fragen, ob nicht die Position Löwiths konsequenter durchgeführt ist und insofern besser zu überzeugen vermag als der historistische Standpunkt Burckhardts. Die Bedeutung Löwiths besteht darin, daß er in sorgfaltiger geistesgeschichtlicher Forschung die zuvor nicht mit derselben Klarheit erkannten Voraussetzungen des neuzeitlichen Geschichtsdenkens herausgearbeitet hat. Indem er die uneingesehene theologische Vorgeschichte des Entwicklungsdenkens einsehbar und damit kritisierbar machte, erhellte er die geschichtsphilosophische Voraussetzungsproblematik in hohem Maße. Die historische Beurteilung des Entwicklungsgedankens stellt die wohl radikalste Kritik an ihm dar. Das zuerst in englischer Sprache unter dem Titel „Meaning in History" 1949 erschienene, dann 1953 deutsch veröffentlichte Werk „Weltgeschichte und Heilsgeschehen" 1 2 0 will die, wie der Untertitel besagt, „theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie" historisch aufweisen. Das Ergebnis stellt, so darf man vielleicht zur Verdeutlichung formulieren, eine Antwort dar auf eine Frage, die wegen des naheliegenden und selbstverständlichen Charakters des in ihr Erfragten bisher ungestellt blieb. Die Frage lautet: Weshalb eigentlich kann die Geschichtsphilosophie wie selbstver-
120 M e a n i n g
in
History
—
The
theological
implications
o f the philosophy
of
history,
C h i c a g o / L o n d o n 1949; deutsch: Weltgeschichte und Heilsgeschehen — D i e theologischen V o r a u s s e t z u n g e n der G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e , S t u t t g a r t 1 9 5 3 ; jetzt in: S ä m t l i c h e S c h r i f t e n , B d . 2 , S t u t t g a r t 1 9 8 3 , S. 7 - 2 3 9 .
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ständlich von der Vorstellung ausgehen, daß das menschheitsgeschichtliche Geschehen einen geordneten und einheitlichen Prozeß darstellt? Dabei handelt es sich doch bei dem Gedanken, daß die so offensichtlich zufälligen Geschehnisse sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschließen, um eine durchaus fernliegende Annahme. Wie war es also möglich, daß die Uberzeugung eines einheitlichen, linearen Fortschreitens der Menschheitsgeschichte im allgemeinen Bewußtsein sich derart hartnäckig festzusetzen vermochte, daß sie keiner besonderen Rechtfertigung bedurfte? Löwith beantwortet die Frage historisch, indem er diese selbstverständliche und darum kritiklos geglaubte Vorstellung aus ihren geschichtstheologischen Ursprüngen herleitet. Die Wurzeln des modernen Geschichtsbegriffs liegen im jüdischen Prophetismus und in der christlichen Eschatologie. Das griechische Denken, das sich an der ewigen kosmischen Ordnung orientierte, vermochte in der Geschichte kein lohnendes Thema der philosophischen Reflexion zu sehen. Es gibt keine griechische Philosophie der Weltgeschichte und es ist keine denkbar, weil das als zufallig und regellos verstandene Geschehen der menschlichen Vorgänge nicht zum Gegenstand philosophischen Wissens, sondern höchstens zum Objekt politischer Betrachtungen gemacht werden kann. Bei Herodot etwa beschränkt sich die Geschichtsbetrachtung auf den Bericht vergangener, in der einen oder anderen Hinsicht bemerkenswerter und darum überlieferungswürdiger Ereignisse, deren Bedeutsamkeit im berichteten Geschehnis selbst ruht. Bei Thukydides tritt zwar das um Richtigkeit und historische Exaktheit bemühte historische Interesse ungleich stärker hervor als je zuvor, aber es liegt ihm völlig fern, das Geschehen im Hinblick auf ein Ziel als sinnvoll oder sinnwidrig zu deuten. Am ehesten erinnern noch die Geschichten des Polybius an eine an der Fortschrittsvorstellung orientierte Betrachtung, insofern er alle Ereignisse auf das Ziel der Weltherrschaft Roms hin interpretiert. Auch angesichts des unerbittlichen Wechsels von Entstehen und Niedergang kommt kein antiker Historiker auf den Gedanken, die Frage nach dem Sinn und letzten Zweck solchen Geschehens zu stellen. Beim Bedenken der Endlichkeit aller Dinge erwähnt Polybius den Ausspruch Scipios nach der Eroberung und Zerstörung Karthagos, daß das gleiche Geschick dereinst auch Rom treffen werde. Dieser Ausspruch wiederholt nur, was bereits in der Ilias angesichts des Schicksals von Troja gesagt worden ist 121 . Löwith bemerkt dazu, dies sei die „letzte Weisheit des Historikers der Weltgeschichte ohne Heilsgeschehen" 1 2 2 . 121 122
Vgl. Ilias, VI, 447 ff. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1950); in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 2 4 0 - 2 7 9 ; Zitat: S. 253.
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
270
Wenn man nun bedenke, so führt Löwith aus, daß Herodot und Deuterojesaja beinahe Zeitgenossen waren, dann könne man den ganzen Abstand ermessen, der griechisches Schauen und jüdischen Glauben trenne. 1 2 3 Das jüdische wie später das christliche und nachchristliche Verhalten zur Geschichte sei durch das zuversichtliche Warten und Hoffen auf eine künftige Erfüllung bestimmt. Das vergangene Geschehen werde als Vorbereitung der Zukunft, als Vorstufe eines künftigen Heils aufgefaßt. Löwith kennzeichnet die christliche Interpretation der Vergangenheit als eine „umgekehrte Vorhersage, welche die Vergangenheit als eine preparatio evangelica deutet" 1 2 4 . Das „nachhaltige Muster" einer solchen „Ausdeutung der Vergangenheit von der Zukunft her und auf sie hin" sei die „Auslegung des Alten Testaments im Sinne und zum Zwecke des Neuen". Ohne nun auf die einzelnen Stationen der Geschichte des Heilsdenkens — vom jüdischen Prophetismus und Messianismus über die Erfahrung der Parusieverzögerung, Augustinus, Joachims Neuordnung des Geschichtsschemas und die sich daran anschließende Auseinandersetzung im dreizehnten Jahrhundert, Bossuet, Vico, Voltaire bis zu den modernen Systemen von Hegel, Marx und Comte — näher einzugehen, kann als Ergebnis festgehalten werden, daß es sich in jedem Fall um dasselbe eschatologische Schema eines Fortschritts auf eine künftige Erfüllung hin handelt, wobei das letzte Ziel zuerst jenseits und später innerhalb des Weltgeschehens angenommen wurde. In der heilsgeschichtlichen Sicht erhält das Menschheitsgeschehen den Charakter der Ziel- und Sinnhaftigkeit. Darin besteht der radikale Unterschied zur griechischen Geschichtsauffassung, denn die „griechische Historie war weder zielhaft noch sinnvoll orientiert, weil sie nicht annahm, daß die Zukunft etwas wesentlich Neues bringen könne" 1 2 5 . Unter der Voraussetzung des jüdisch-christlichen Glaubens an ein Heilsgeschehen wird die Zukunft — und nicht etwa die Vergangenheit — zum wahren Horizont der Geschichte: Es ist das künftige „telos", das als ein „eschaton" allem Geschehen seine Bedeutung verleiht. Und der hoffnungsvolle Glaube an eine künftige Erfüllung wiederum läßt überhaupt erst die Frage nach dem Sinn im menschlichen Geschehen entstehen. Die an die Geschichte gerichtete Sinnfrage hat nach Löwith ihren Ursprung nicht etwa in der Erfahrung der Sinnwidrigkeit des Geschichtsgeschehens,
123 124 125
Ebd. Ebd., S. 254. Ebd.
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denn auch diese Erfahrung ist nur möglich im Hinblick auf eine in Aussicht gestellte künftige Sinnerfüllung: „Die Frage nach dem Sinn der Geschichte wäre gar nicht zur Existenz gekommen, wenn die Geschehnisse selber sinnvoll wären, und um ihren Mangel an Sinn gewahr zu werden, bedarf es andererseits schon eines Vorblicks auf Sinnerfüllung." 1 2 6 Die Rede vom Sinn der Geschichte erfordert also den Horizont einer eschatologischen Zukunft, einer Heilsgewißheit. Diese christliche Heilsgewißheit ist dem modernen Geschichtsdenken zwar verloren gegangen, aber die Ausrichtung auf die Zukunft hat sich ebenso erhalten wie die Frage nach dem Sinn im Geschehen. So bleibt ein Rest christlicher Theologie auch noch in jeder nicht mehr christlichen und vermeintlich rein weltlichen Philosophie der Geschichte verborgen. Die Vorherrschaft der Zukunftsperspektive, die das moderne Denken über Geschichte beherrschenden Fragen nach Wozu und Wohin wie schließlich das Sinnproblem ganz allgemein stellen folglich für Löwith Säkularisationsreste jüdisch-christlicher Eschatologie dar. Indem Löwith die Geschichtsphilosophie auf ihre verborgenen Prämissen, also auf die säkularisierten Traditionsbestände des jüdisch-christlichen Heilsdenkens zurückführt, macht er zugleich auf eine innere Widersprüchlichkeit der geschichtsphilosophischen Systeme von Condorcet und Turgot bis Hegel, Comte, Marx und Proudhon aufmerksam. Denn diese „Geschichtsphilosophien stellen noch immer die Frage nach dem Sinn als Wozu, aber ohne die Antwort in dem Glauben zu finden, daß mit Christus die Zeit erfüllt ist" 1 2 7 . Sie übernehmen zwar die biblische Vorstellung eines Fortschritts auf ein sinnerfüllendes Ziel hin, aber sie sind zugleich dem Glauben an göttliche Vorsehung und letztes Gericht entfremdet, obwohl dieser doch die heilsgeschichtliche Erwartung allererst begründet und rechtfertigt. Sie übernehmen ferner vom klassisch-antiken Weltbegriff die Vorstellung regelmäßiger Abläufe und kontinuierlicher Fortbewegung, ohne doch deren Voraussetzung, die periodische Kreisbewegung, akzeptieren zu wollen. „Das moderne Geschichtsdenken ist weder christlich noch heidnisch, sondern eine trübe Mischung von Glauben und Sehen. Es will an die Zukunft glauben und kann doch nicht umhin, die Wiederholung des Gleichen zu sehen." 1 2 8 Das christliche Geschichtsdenken hat sich im Laufe der Geschichte der Geschichtsphilosophie immer mehr verweltlicht, doch die verweltlichte 126 127 128
Ebd., S. 255. Ebd., S. 275. Ebd.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Philosophie der Geschichte ist in ihrem Kern christlich geblieben. Wäre sie konsequent und würde auf die letzten sie immer noch bestimmenden Traditionsreste verzichten, so müßte dies zu ihrer Selbstaufhebung führen. Genau dies ist die Forderung Löwiths. Denn die Geschichtsphilosophie ist nur dann noch legitim, wenn sie im christlichen Glauben an ein künftiges Heil fundiert und durch diesen Glauben sowohl begründet wie auch gerechtfertigt ist. Nun ist aber Löwith nicht bereit, diesen Glauben zu teilen; er nimmt ihm gegenüber eine skeptische Haltung ein: „Kein Mensch ist von Natur aus ein gläubiger Christ, wohl aber alles, was ist, bedenkend." 129 Darum wird bei Löwith die Erkenntnis der historischen Bedingtheit der Geschichtsphilosophie durch die theologischen und eschatologischen Voraussetzungen zum Grund der Ablehnung jeder Philosophie der Geschichte. Denn wenn man der Geschichte ihren Heilscharakter nimmt und in ihr nur noch das endliche Geschehen des endlichen Menschen sieht, dann wird eine Sinndeutung dieses Geschehens überflüssig. Wie sollte dieses endliche Geschehen zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung gemacht werden können? Wer die Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit alles Menschlichen ernst nimmt, der kann gar nicht mehr geschichtsphilosophisch nach dem Sinn der Geschichte fragen, weil ihm nun die Frage als falsch gestellt erscheinen muß. Und selbst noch das menschliche Sinnverlangen und das darin begründete Bedürfnis, wenigstens die Frage als Frage gelten zu lassen, auch wenn keine absolute Antwort gefunden werden kann, sondern je nach Situation eine je andere gewagt werden muß, scheinen ihm nur noch ein Säkularisierungsrest christlicher Geschichtseschatologie zu sein, da die Frage nur im Horizont einer Sinnerwartung sinnvoll formuliert werden kann. — Es ging Löwith, wie er im „Curriculum vitae" aus dem Jahre 1959 ausführt, in seinem Buch „Weltgeschichte und Heilsgeschehen" durchaus darum, die „Unmöglichkeit der Philosophie der Geschichte" aufzuzeigen. 130 Der historische Nachweis der Herkunft des modernen geschichtsphilosophischen Denkens aus der jüdisch-christlichen Tradition zeigt zugleich die biblische Bedingtheit des Entwicklungsgedankens auf und bedeutet demnach dessen Relativierung, insofern damit deutlich geworden ist, daß die Vorstellung einer universalgeschichtlichen Entwicklung
129 130
Karl L ö w i t h : Wissen, G l a u b e und Skepsis, G ö t t i n g e n 1956, S. 4. Karl L ö w i t h : Curriculum vitae (1959); in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 457.
Gegenpositionen
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nur im Rahmen des Heilsdenkens begründet, andernfalls aber ohne Rechtfertigung ist. Die Tatsache, daß die Frage nach dem Sinn der Geschichte nur im Glauben an ein Heilsgeschehen beantwortbar ist, muß nach Löwith über die geschichtliche Welt und die geschichtliche Denkweise hinausführen, und zwar „zur Welt überhaupt, welche das Eine und Ganze des von Natur aus Seienden ist. Gegenüber der Welt im Großen und Ganzen verliert aber die Frage nach dem Sinn im Sinne eines ,Wozu' oder Zweckes ihren Sinn, denn das immer gegenwärtige Ganze des von Natur aus Seienden, welches wir Welt nennen, kann nicht noch zu etwas anderem außer ihm und in Zukunft da sein" 1 3 1 . Es gilt demnach, die Denkhaltung der jüdischchristlichen Tradition zu überwinden und wieder zurückzufinden zur Weltsicht der griechischen Antike. Diese Aussage bedarf der Erläuterung. Nach Löwith befindet sich das gegenwärtige Denken in einer Situation, die durch das Ende einer Entwicklung gekennzeichnet ist, die in der Philosophie Hegels ihren Abschluß gefunden hat. Die spekulative Geschichtsauslegung Hegels bedeute, wie Löwith erklärt, die endgültige Übersetzung des Heilsgeschehens in Weltgeschichte. Die „innere Unmöglichkeit" dieser Konzeption liege nun darin, daß in ihr die christliche Zuversicht des Glaubens in ein Wissen der Vernunft verwandelt worden sei. „ D a s Ergebnis ist ein so vernünftiger Anblick der Welt, wie er sich in der Bibel und in den Kirchenvätern nicht findet. Die Propheten des Alten Testaments glaubten fest an die göttliche Lenkung des auserwählten Volkes, nicht aufgrund, sondern entgegen aller weltgeschichtlichen Evidenz, und das Neue Testament ist ein einziger Verzicht auf die Maßstäbe der Welt." 1 3 2 Grundlage des christlichen Glaubens sei gerade das offensichtliche Mißverhältnis zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Diese fundamentale Diskrepanz zwischen beiden habe Hegel so völlig verkannt, „daß er es wagen konnte, beide in eins zu setzen, das Heil herabsetzend, die Welt erhöhend und beide nivellierend. Hegels Weltgeschichte ist weder heilig noch profan, sondern beides zugleich, bzw. keins von beiden. Sie läßt den Willen Gottes im Weltgeist und in den Volksgeistern ohne Rest aufgehen" 1 3 3 . Hegels Geschichtsphilosophie kann nur unter der Voraussetzung der Wahrheit der christlichen Offenbarung nachvollzogen werden. Sie stellt 131 132 133
Ebd., S. 460. K. Löwith: Weltgesch. u. Heilsgeschehen, Sämtl. Schriften, Bd. 2, S. 273. Ebd., S. 273 f.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
gleichsam die vollendete Synthese von christlichem und Vernunftglauben dar. Wie ist eine Fortsetzung der Geschichtsphilosophie möglich, nachdem die Synthese zerbrochen ist? Die „postume Aktualität" Hegels beruht nach Löwith gerade darauf, daß er zeigt, daß eine solche Fortsetzung nicht mehr denkbar ist, weil Hegel die „gesamte abendländische Tradition verarbeitet, vollendet und mithin beendet hat". 134 Hegels wirkliche Aktualität, so sagt Löwith an anderer Stelle, bestehe darin, „daß er die Geschichte der nachchristlichen Metaphysik oder Hinterwelt vollendet und damit beendet hat. Mit Hegels Onto-Theo-Logik ist ein Neubeginn nötig geworden, der nicht über ihn hinaus, sondern nur hinter ihn zurück führen kann" 135 . Daß eine Fortsetzung des Denkweges nach Hegel nicht mehr möglich ist, zeigt nach Löwith der „revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts" 136 . Die Konsequenz des Weiterdenkens liegt in der Auflösung der Philosophie in Historismus, Pragmatismus und Existenzphilosophie, d.h. in Positionen, die alle durch ihren historistischen Ansatz gekennzeichnet sind. Nun läßt aber, nach dem Scheitern der Geschichtsphilosophie, die Geschichte selbst keinen Maßstab erkennen, der eine Orientierung ermöglichte. Die Absolutsetzung der Geschichte widerspricht sich selbst. „Diese moderne Einschätzung der Geschichte, wonach sie schon selber die maßgebende, umfassende und absolute Wirklichkeit ist, hat im ,Historismus' zu einer Überschätzung der Geschichte geführt, aus der es keinen historischen, sondern nur einen philosophischen oder theologischen Ausweg gibt." 137 Wenn sich also, so läßt sich der Gedankengang zusammenfassen, der Sinn der Geschichte nicht aus ihr selbst bestimmt, sondern aus der eschatologischen Glaubenshoffnung, dann führt dieser Nachweis des theologischen Sinnes des geschichtsphilosophischen Denkens über alles bloß geschichtliche Denken hinaus. 138 Es stellt sich dann überhaupt als verkehrt heraus, die menschengeschichtliche Welt, die immer relativ auf den Menschen ist, auf ihren „Sinn" zu befragen, da nur noch ein Außergeschichtliches mögliche Orientierungsinstanz sein kann. Vgl. Karl Löwith: Aufsätze und Vorträge 1 9 3 0 - 1 9 7 0 , Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971, S.244f. 135 Ebd., S. 7. 136 „Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts", so lautet ab der zweiten, veränderten Auflage der Untertitel des Werkes „Von Hegel bis Nietzsche". 137 Karl Löwith: Christentum, Geschichte und Philosophie (1966); in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 4 3 3 - 4 5 1 ; Zitat: S. 434. 138 Vgl. das V o r w o r t zu „Weltgeschichte und Heilsgeschehen", Sämtl. Schriften, Bd. 2, S. 9. 134
Gegenpositionen
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Die Menschen heute, so bemerkt Löwith, existieren und denken im Horizont der Geschichte, und zwar trotz des Wissens um die Vielzahl geschichtlicher Welten. Was uns fehle sei „die eine Welt, die älter und bleibender ist als der Mensch" 139 . Die „vor- und übermenschliche Welt", der Kosmos also, übertreffe die Menschenwelt unendlich, denn sie lasse sich ohne eine für sie konstitutive Beziehung zur Existenz von Menschen denken, während kein Mensch denkbar sei ohne Welt: „Wir kommen zur Welt und wir scheiden aus ihr; sie gehört nicht uns, sondern wir gehören ihr." 140 Diese Welt, von der hier die Rede ist, gehe nicht in den verschiedenen philosophischen Weltentwürfen auf, sie sei nicht nur eine kosmologische „Idee" im Sinne Kants, kein bloßer „Total-Horizont" im Sinne Husserls und auch kein Welt-„EntwurP im Sinne Heideggers, „sondern sie selbst, absolut selbständig: id quod substat"ul. Der von der Menschenwelt unabhängige Kosmos bildete für das griechische Denken die maßgebende Orientierungsinstanz. Doch mit dem Vordringen der jüdisch-christlichen Weltvorstellung mußte er in Vergessenheit geraten. Da nach biblischer Auffassung die Welt eine göttliche Schöpfung für den Menschen ist, verlor der Kosmos seine Selbständigkeit und Absolutheit. Der zuvor ewig gedachte Kosmos wurde zum „saeculum" einer vergehenden Welt. 142 Die biblische Herkunft unseres Weltbegriffs habe, behauptet Löwith, bis heute den Blick auf den immerwährenden Kosmos, wie er in der Antike gedacht worden ist, verstellt. Heute, in der Situation des Endes der christlich bestimmten Philosophie, die sich in Hegel vollendet habe, sei nur noch der Weg zurück gangbar, und zwar ein Weg, der das Denken hinter die jüdisch-christliche Tradition insgesamt zurück zum antiken Kosmosdenken und zum klassischen Begriff der Philosophie als „episteme theoretike" führen müsse. Ein solcher Rückgriff auf den antiken Kosmosgedanken erscheine aber, wie Löwith selbst bemerkt, dem modernen historischen Bewußtsein als undurchführbar. Wenn er trotzdem daran festhalte, so in der Überzeugung, „daß die Griechen eine Entdeckung machten, die — wie jede erste Entdeckung — für immer wahr bleibt, auch wenn sie verschüttet und wieder vergessen wird oder in Mißkredit fallt, weil es keine Philosophen mehr gibt, die noch das gute Gewissen zur Betrachtung der Welt haben" 143 . 139
140 141 142 143
Karl Löwith: Welt und Menschenwelt (1960); in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 2 9 4 - 3 2 8 ; Zitat: S. 294. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 305. Ebd., S. 314.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Gegenüber dem modernen geschichtlichen Denken wiederholt Löwith immer wieder dieselbe Frage, wie sich denn in der Welt der Geschichte ein Wahres und Wesentliches zeigen könne, wenn sich doch die Weltgeschichte nicht mehr als Heilsgeschehen denken lasse. Sofern das Denken den Anspruch erhebe, das Ganze zu bedenken, könne es die Welt nicht in Weltgeschichte aufgehen lassen, „als wäre unsere geschichtliche Welt, die Menschen weit, auch schon das Universum" 1 4 4 . Wer wirklich und nicht nur — wie etwa Heidegger — „dem Worte nach" das Seiende im Ganzen bedenke, wie es die Philosophie seit jeher beansprucht habe, der könne die Welt nicht auf Weltgeschichte einengen, ohne sein Thema zu verfehlen. „Der metaphysische Historismus von Hegel, der historische Materialismus von Marx und Heideggers Rede vom , Seinsgeschick' sind gleichermaßen unzulänglich für ein Verständnis der Welt, weil sie alle vom Menschen und seiner geschichtlichen Welt ausgehen. Der letzte historische Grund für diesen Ausgang liegt aber darin, daß sie alle noch innerhalb der biblischen Tradition stehen, der zufolge Himmel und Erde um des Menschen willen geschaffen sind. Wer sagt uns aber, daß die Welt auf den Menschen und seine Geschichte hin angelegt ist und nicht auch ohne uns sein könnte, nicht aber der Mensch ohne Welt, in der er und durch die er überhaupt da ist." 1 4 5 Es sei zur besseren Übersicht nochmals kurz der Gedankengang withs vergegenwärtigt. Den Ausgangspunkt bildete die bereits in Schrift „Von Hegel bis Nietzsche" gestellte Frage, ob Wesen und Sinn Geschichte sich aus ihr selbst bestimme oder aus etwas anderem. 146
144
145 146
Löder der Die
Karl L ö w i t h : Mensch und Geschichte (1960); in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 3 4 6 - 3 7 6 ; Zitat: S. 376. Ebd. Karl L ö w i t h : Von Hegel bis Nietzsche, Z ü r i c h / N e w York 1941. I m V o r w o r t erklärt L ö w i t h , daß in der Situation nach Hegel v o m absoluten Geist nur noch der „Zeitgeist" übrig geblieben sei. D o c h bedürfe es, selbst um überhaupt die Zeit als Zeit begreifen zu können, eines „Standpunktes, der das bloße Geschehen der Zeit überschreitet. Die Zeit selbst und die Zeitgeschichte bieten in keinem M o m e n t ihres beständigen Wechsels einen Punkt, auf welchem man fest stehen könnte. Bestand, Dauer und E w i g k e i t sind — unabhängig v o m Glauben an Fortschritt, Vernunft und Freiheit — die Voraussetzung für eine jede Philosophie der G e s c h i c h t e " (S. 8). D a nun die Gleichsetzung der Philosophie mit dem „Geist der Z e i t " durch Hegels Schüler eine „revolutionierende K r a f t " gewann, „wird zumal eine Studie über die Zeit von Hegel bis Nietzsche am E n d e die Frage aufwerfen müssen: bestimmt sich das Sein und der Sinn der Geschichte überhaupt aus der Zeit, und wenn nicht, woraus dann? Die Unausweichlichkeit dieser Frage deutlich gemacht zu haben, ist das ungewollte Verdienst von Heideggers ,Sein und Z e i t ' " ( E b d . ) .
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historische Kritik des abendländischen Geschichtsdenkens läßt dessen Herkunft aus der älteren Geschichtstheologie erkennen und zeigt die Säkularisationsreste christlicher Eschatologie in den modernen Geschichtskonzeptionen auf. Diese historisch fundierte Kritik der Geschichtsphilosophie und insbesondere der geschichtsphilosophischen Kategorien von Einheit, Entwicklung und Fortschritt muß konsequenterweise zu deren Ablehnung führen. Bis zu diesem Punkt wird man Löwith gerne folgen, denn dieses Resultat stimmt mit der historistischen Ansicht von der geschichtlichen Bedingtheit aller philosophischen Konzeptionen und damit auch der geschichtsphilosophischen Systeme überein. Aber Löwith hält den Historismus, der doch die logische und insofern unumgängliche Folge des Scheiterns des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens darstellt, für keine annehmbare Lösung des Geschichtsproblems, und er fordert aus diesem Grund eine Rückkehr zum antiken Kosmosdenken, also zu jenem ursprünglichen Denken, das der Verfälschung durch den biblischen Weltund Geschichtsbegriff vorausliegt. Nun erscheinen sowohl die Löwithsche Kritik am geschichtlichen Bewußtsein wie auch die Aufforderung zur Rückkehr zur antiken Weltsicht als höchst problematisch. Die Problematik soll wenigstens mit einigen Hinweisen angedeutet werden. Löwiths Kritik an der historistischen Betrachtungsweise zielt auf die spezifisch moderne Haltung, das Überlieferte in die verschiedenen „Entwürfe", „Interpretationen" und „Perspektiven" bestimmter geschichtlicher Welten aufzulösen, ohne auf das „Immerwährende und sich in der Zeit Bewährende", auf das „Bleibende und Beständige" zu achten: „Wir denken das ,Sein' in der Tat aus der ,Zeit', weil wir nichts Ewiges kennen. Dies klar gemacht zu haben ist das große Verdienst von Heideggers Sein und Zeit. Und doch zehrt schon alle geschichtliche Zeit davon, daß es im schwindenden Lauf und Verlauf der Geschichte Dauerndes, wenn schon nichts Ewiges gibt. Die Erkundung der Geschichte verlöre jedes Interesse und jeden Sinn, wenn die Geschehnisse der Geschichte nur das Vorübergehende wären und nicht auch relativ dauerhaft blieben."147 Es ist nun Löwith gewiß zuzugeben, daß „Dauer" eine grundlegende Kategorie des Geschichtsgeschehens darstellt. Aber daß gerade auch das den Wandel Überdauernde sich — wie Löwith selbst bemerkt — als nur „relativ dauerhaft" herausstellt, scheint doch die eigentlich zentrale Aussage dej Historismus zu sein. Dennoch beharrt Löwith darauf, daß der Mensch sich primär an dem orientieren müsse, „was ihn instand setzt, die g^schicht147
K. Löwith: Mensch und Geschichte, Sämtl. Schriften, Bd. 2, S. 358.
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
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liehen Wechselfälle zu überstehen". Als naheliegendste Konstante zeige sich die immer gleiche Natur des Menschen, die die Möglichkeit geschichtlichen Wandels allererst begründe. 1 4 8 E r hält es für eine moderne Verirrung, die sich gleichbleibende Natur des Menschen in eine Vielzahl geschichtlicher Existenzweisen aufzulösen, 1 4 9 er ist sich dabei freilich der Unzeitgemäßheit einer solchen Auffassung durchaus bewußt; aber er meint: „Das unzeitgemäße Wissen um das dauernde Wesen des Menschen läßt sich nicht durch das zeitgemäße Verstehen seiner geschichtlichen Existenz ersetzen... Man muß also daran festhalten, daß der Mensch zwar unausweichlich in der Geschichte steht und eine Geschichte hat, aber nicht von ihr lebt und sie ist und daß sich folglich Geschichte und Mensch niemals decken." 1 5 0 Löwith hält das historistische Geschichtsbewußtsein, das kein der Geschichtsveränderung Enthobenes mehr zuläßt, für einen Irrtum. Wie argumentiert er nun, um das Falsche an dieser modernen Einstellung aufzeigen zu können? E r argumentiert — und dies ist doch bemerkenswert — mit historischer Kritik, also damit, daß er die Entwicklungsgeschichte des modernen Standpunktes nachzeichnet: „Wir fragen nun: wie kam es zu dieser modernen Verirrung, welche den einen physischen Kosmos in eine Vielheit geschichtlicher Welten und die immer gleiche Natur des Menschen in eine Mannigfaltigkeit geschichtlicher Existenzweisen aufgelöst hat? Diese Frage läßt sich nur durch eine historische Besinnung beantworten, welche jedoch den Zweck hat, die Konstruktionen des historischen Bewußtseins abzubauen." 1 5 1 Löwith rekonstruiert sodann die Entstehungsgeschichte des Historismus, zeigt die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den Positionen von Vico, Hegel und Marx auf, doch alles nur zum Zwecke der Relativierung der modernen Gleichsetzung von Mensch und Geschichte. Löwith möchte also die Frage nach der Vernünftigkeit des modernen historischen Bewußtseins mittels der Methode der historischen Kritik entscheiden. Gegen dieses Vorgehen Löwiths läßt sich nun mit Löwith folgendermaßen argumentieren: Die Überzeugung, daß die Probleme der Philosophie historisch angegangen werden müssen, „stammt aus einer
148 149 150 151
Vgl. ebd., S. 359. Vgl. ebd., S. 360. Ebd., S. 359. Ebd., S. 360.
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Denkweise, die erst vor hundertfünfzig Jahren entstand und die darum auch wieder vergehen kann. Es wäre Aristoteles unvernünftig erschienen, die Frage nach der Vernunft und nach der besten politischen Verfassung in die Geschichte einzubeziehen und geschichtlich auszulegen" 152 . Dieses Argument Löwiths, das in einer gegen das historische Bewußtsein gerichteten Absicht formuliert worden ist, zeigt die ganze Widersprüchlichkeit des Unternehmens, mittels eines historisch geführten Nachweises der geschichtlichen Bedingtheit des geschichtlichen Denkens dieses zu diskreditieren, obgleich doch ein solcher Nachweis nur sinnvoll ist unter Voraussetzung der zu widerlegenden modernen Überzeugung, daß die Entscheidung philosophischer Fragen eine historische Betrachtungsweise erfordert. 153 Auch noch in der Abkehr von der historischen Denkhaltung teilt Löwith immer schon den historischen Standpunkt unserer Gegenwart. Dieser Standpunkt allerdings ist mit der Feststellung der eigenen geschichtlichen Bedingtheit sehr wohl verträglich, nicht aber mit der unhistorischen Einstellung des antiken Kosmosdenkens. Es wäre zwar Aristoteles nicht eingefallen, die Frage nach der besten Verfassung historisch zu behandeln, aber auch Löwith würde die politische Philosophie des Aristoteles nicht anders sehen wollen als in ihrem zeitgeschichtlichen Zusammenhang mit der athenischen Polis des vierten vorchristlichen Jahrhunderts. Die Position historistischer Skepsis könne aber, wie Löwith erklärt, nur in Anspruch nehmen, wer bereit sei, die dogmatischen Voraussetzungen des eigenen Denkens in Frage zu stellen. Eine solche durchaus dogmatische Prämisse unseres heutigen Denkens sei aber gerade „der Glaube an die absolute Relevanz des Relativsten: der Geschichte. Man glaubt auch im bürgerlich-kapitalistischen Westen, dessen Selbstkritik die Lehre von Marx ist, weder an den Geist des lebendigen Kosmos noch an ein Reich Gottes. Man glaubt nur noch an den ,Geist der Zeit', den Zeitgeist, ,the wave of the future', das .Geschick der Geschichte', vulgär verstanden oder sublim." 154 152 153
154
Ebd., S. 347. Jürgen Habermas bemerkt in seiner Löwith-Darstellung (Karl Löwith — Stoischer Rückzug v o m historischen Bewußtsein; in: Philosophisch-politische Profile, 3., erw. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 1 9 5 — 2 1 6 ) zu diesem Vorgehen, die Rückwendung zur natürlichen Weltansicht mittels historischer Kritik am historischen Denken zu begründen, daß Löwith seinem eigenen Unternehmen mißtrauen müßte, „soweit es darin besteht, den Bannkreis des historischen Bewußtseins mit Zaubersprüchen zu sprengen, die er von diesem selbst gelernt hat. Er müßte sich, strenggenommen, um der Unmittelbarkeit der kosmologischen Anschauung willen, der Künste historischen Vermitteins, die er nur zu virtuos beherrscht, entschlagen" (S. 203). K . Löwith: Mensch und Geschichte, S. 372.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Nun besteht das Dilemma des Historismus in der Tat darin, daß er aus Einsicht in den geschichtlich-relativen Charakter von allem gerade dem alles Relativierenden und Relativsten selbst, der Geschichte also, absolute Relevanz verleiht. Wenn sämtliche Instanzen, woran das Denken sich zu orientieren vermöchte, sich als der Geschichte unterworfen herausstellen, dann bleibt als letzte Orientierungsinstanz nur noch die alles relativierende Geschichte selbst übrig. Diese Konsequenz aber erscheint Löwith als absurd, denn gerade die Erfahrung der Geschichte verbiete doch die Orientierung an ihr: „...wenn die Weltgeschichte der letzten beiden Weltkriege uns irgend etwas lehren konnte, dann vielleicht dies, daß sie nichts ist, woran man sein Leben orientieren könnte. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem ^Schiffbruch an den Wogen anhalten wollte." 155 — Aber woran soll sich ein Schiffbrüchiger (und wir Menschen in der Situation des zwanzigsten Jahrhunderts sind doch die Schiffbrüchigen der untergegangenen Glaubenstraditionen) denn festzuhalten versuchen, wenn nicht an den Wellen, da ein anderes nicht gegeben ist? Löwith dagegen meint, daß schließlich zu allen Zeiten schon die auflösende Macht der Geschichte erfahren wurde, ohne daß daraus die moderne historistische Folgerung gezogen worden sei. Denn die griechische Kosmologie wie die christliche Theologie hätten eine solche Schlußfolgerung verboten: „In der Antike und im Christentum war die Erfahrung der Geschichte noch gebunden, geordnet und begrenzt: im griechischen Denken durch die Ordnung und den Logos des physischen Kosmos, kosmologisch\ im christlichen Glauben theologisch, durch die Schöpfungsordnung und den Willen Gottes." 156 Erst die Auflösung dieser beiden Glaubensüberzeugungen habe den Glauben an die Geschichte, den Historismus, ermöglicht. Nun verbiete sich aber für ein aufgeklärtes Denken eine Rückkehr zum christlichen Heilsglauben; und so stelle nur noch der Rückgang auf das antike Kosmosdenken eine offene Denkmöglichkeit dar. Wiederum zeigt sich mit aller Deutlichkeit, wie sehr Löwiths Kritik am modernen geschichtlichen Bewußtsein mit dem Mittel historischer Kritik operiert. Diese vermag nachzuweisen, daß der moderne historische Standpunkt eine unentdeckte Prämisse zur Voraussetzung hat, nämlich die biblische Lehre, daß Welt und Geschichte im Menschen ihr Zentrum besitzen. Was spricht, so ist nun zu fragen, gegen diese Prämisse? Ihre
156
Ebd., S. 359 f. Ebd., S. 355.
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Unentdecktheit? Ihr verborgener Charakter? Offensichtlich spricht gegen diese Prämisse doch nur die Tatsache, daß sie für Löwith unglaubwürdig geworden ist. Und warum ist sie unglaubwürdig geworden? Doch offensichtlich deshalb, weil sie nicht mehr in die gegenwärtige Situation des Denkens, wie sie von Löwith erfahren wird, paßt. Auch Löwith muß sich immer schon — und dies wäre die versteckte Prämisse seines Standpunkts — an dem von ihm verpönten „Geist der Zeit" orientieren. Der Prozeß wachsenden geschichtlichen Bewußtseins findet bei Löwith gleichsam seinen Abschluß, insofern die Löwithsche Position sich als Selbstüberwindung der historistischen Denkweise ausgibt: Das Problem des Historismus erweist sich in dem Moment als irrelevant, wo der Gedanke geschichtlicher Bedingtheit auf sich selbst bezogen wird. Es stellen sich dann auch nicht mehr die geschichtsphilosophischen Fragen nach Entwicklung, Einheit und Sinn der Geschichte, denn diese Fragen, so darf man vielleicht in äußerster Verkürzung des Gedankengangs Löwiths formulieren, sind nur sinnvoll vor dem Hintergrund des jüdisch-christlichen Heilsglaubens; entfallt diese Voraussetzung, dann ist das Geschichtsproblem dadurch gelöst, daß es sich nicht mehr stellt. Die Einsicht in diese „Lösung" der Geschichtsfrage bleibt allerdings so lange verstellt, als der biblisch begründete Geschichtsglaube in säkularisierter Gestalt als Entwicklungs- und Fortschrittsglaube sowie als Bedürfnis nach einem sinnhaften Verlauf der Menschheitsgeschichte unerkannt weiterwirkt. Es bedarf deshalb zuerst der ausdrücklichen historischen Kritik, um das Geschichtsproblem als ganzes überwinden und den Menschen nicht länger als Geschichtswesen, sondern als Naturwesen verstehen lernen zu können. Man kann Löwiths „stoischem Rückzug aus der Geschichte"157, der in der Erkenntnis der Bedeutungslosigkeit dieser Geschichte begründet ist, weder eine gewisse Folgerichtigkeit absprechen noch ein gewisses Maß an Sympathie versagen. Dennoch bleibt neben den bereits erwähnten Einwendungen nicht zuletzt auch noch die Frage bestehen, ob die Geschichte einen solchen Rückzug aus ihr überhaupt noch zuläßt. 157
Vgl. den in Anmerkung 1 5 3 genannten Aufsatz von J . Habermas. Auch H.-G. Gadamer bezeichnet den Löwithschen Weltbegriff als stoisch: „Nicht der ewige Gott und nicht der Heilsplan, den er mit den Menschen verfolgt, darf nach Löwith gedacht werden, wenn man die Endlichkeit des Menschen wirklich ernst nimmt. Man müßte auf den ewigen Lauf der Natur blicken, um an ihm den Gleichmut zu lernen, der der Winzigkeit des Menschendaseins im Weltganzen allein angemessen sei. Der .natürliche W e l b e g r i f f , den Löwith gegen den modernen Historismus ebensosehr wie gegen die moderne Naturwissenschaft ausspielt, ist also, wie man sieht, stoischer Prägung" (Wahrheit und Methode, 4. Aufl., Tübingen 1975, S. 502 f.).
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3. Geschichtsphilosophie
in der Krise
Auf „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie" hat vor einigen Jahren Odo Marquard aufmerksam gemacht. 158 Seine kritischen Ueberlegungen gelten dabei der Geschichtsphilosophie in ihrer klassischen Gestalt, also jener Auffassung, die von Einheit und zielgerichtetem Verlauf der Weltgeschichte ausgeht, die im Sinne der Aufklärung die geschichtliche Bestimmung des Menschen in der Realisierung von Autonomie erblickt und die deshalb Geschichte als Freiheits- und Fortschrittsprozeß begreift. 159 Als irrational erweist sich dieses rationale Schema der Weltgeschichte, so führt Marquard aus, zumindest überall dort, wo es im Namen der Emanzipation deren Gegenteil hervorbringt. 160 Daß die Geschichtsphilosophie die latente Tendenz hat, im Namen von Autonomie Heteronomie zu schaffen, zeigt sich etwa in folgendem Zusammenhang: Für das aufklärerische Bewußtsein ist es der Mensch — und nicht mehr Gott — , der die Geschichte hervorbringt, die bisherige wie auch die künftige. Damit hat sich das alte Theodizee-Problem nicht einfach restlos aufgelöst, sondern es besteht in gewandelter Form weiter. Der Mensch selbst erkennt sich nun in der Rolle des Angeklagten, er selbst hat nun „die Situation des angeklagten Täters einer schlimm verlaufenden Geschichte durchzustehen" 161 . Dies hat Identitätsschwierigkeiten zur Konsequenz. Das neue Geschichtsverständnis zwingt zur Suche nach dem Täter, und zwar nach dem als Alibi benötigten „anderen Täter". Ursache für die Übel der Geschichte sind jetzt zwar die Menschen, aber stets die anderen Menschen: „...auf der Suche nach dem anderen Täter entdeckt die Geschichtsphilosophie, indem sie von Gott nicht mehr spricht und von der Natur nicht mehr sprechen will, von den Menschen aber sprechen muß, als entscheidende Figur die anderen, die das menschlich gewollte Gute verhindernden Menschen: also die Gegner, die Feinde." 162 Marquard sieht hierin einen „Mechanismus" und gar „unvermeidlich wirkenden Zwangszusammenhang". Solange also „die Probleme der Geschichte nicht gelöst, d.h. solange Menschen unzufrieden sind", solange 158
159 160 161 162
Vgl. Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie — Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 76. Ebd., S. 78 f.
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gilt: „Autonomieanspruch erzeugt Alibibedarf und mindestens in diesem Sinne Heteronomie". Das Alibistreben des geschichtsmündig gewordenen Menschen erzeugt Polemik, Gegnerschaft, Feindesbilder und Kritik. 163 Der eigentliche Ertrag geschichtsphilosophisch argumentierender Kritik liegt denn auch nicht in der Kritik, sondern im Alibi. 164 Der Mensch, der nun selbst zum Täter der Geschichte avanciert ist, unterliegt der Nötigung, sich durch Kritik zu entlasten. Im Hinblick darauf läßt sich von der Geschichtsphilosophie sagen: „Sie begann als Kritik der Religion; sie endet als Religion der Kritik..." 165 Unter Berücksichtigung des Zusammenhangs von Autonomiebestreben und Aggressionsbedarf ist das Verhängnis der Geschichtsphilosophie in ihrer klassischen Gestalt gerade in ihrem Erfolg zu sehen, also in der Tatsache, daß ihre Sicht der Geschichte selbst in hohem Maße geschichtswirksam geworden ist. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Marquard angesichts der Geschichtsmächtigkeit der Geschichtsphilosophie resignierend feststellt: „Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen." 166 Dort also, wo die Geschichtsphilosophie in ihrem Autonomiebestreben sich erfolgreich durchsetzt und im Namen von Freiheitsverwirklichung ein bestimmtes Programm aufstellt, dort gerade geht die Autonomie verloren. Die Geschichtsphilosophie, sofern sie geschichtswirksam wird, ist gleichsam dazu gezwungen, sich in das Gegenteil dessen, was sie anstrebt, zu verkehren. In dieser Hinsicht kann man Marquard wohl folgen, wenn er aus der Erkenntnis dieses Zusammenhangs heraus fordert, es gelte, die Welt künftig vor Geschichtsphilosophie zu verschonen. Wie aber läßt sich die Welt vor Geschichtsphilosophie verschonen, wenn es zutrifft, daß der Mensch als geschichtliches Wesen immer schon in Geschichtsbildern lebt und unter ihrer Anleitung handelt? Marquard selbst fragt: „...wie macht man das? Wie verschont man die Welt, die Veränderer vor den Veränderern, sich selbst vor sich selbst?" 167 Marquard bleibt freilich die Antwort weitgehend schuldig. Doch er gibt Hinweise und spricht von „Abwesenheit", „Flucht", „Emigration" und „Pilgerschaft" und erinnert mit solchen vagen Andeutungen an antike, insbesondere spätantike Positionen einer in der Skepsis begründeten Verweigerung und 163 164 165 166 167
Vgl. ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 182, Anm. 28. Ebd., S. 80. Ebd., S. 13. Ebd., S. 81.
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
Weltflucht. Gleichwohl wird das zentrale Anliegen deutlich spürbar: die Warnung vor einer Geschichtsphilosophie, die reüssiert. Marquard ist sich dabei der Unzulänglichkeit seiner Hinweise bewußt, er meint aber, die Antworten der Geschichtsphilosophie seien noch „unzulänglicher". 168 Die Einsicht, daß die geschichtsphilosophischen Illusionen der Menschheit gefährlicher sind als ein Dasein ohne Geschichtsphilosophie, muß nach Marquard schließlich zum Abschied von ihr führen. Was bleibt, ist Skepsis. Diese bedeutet den Verzicht auf das Stellen der großen Geschichtsfragen und folglich auch auf die Formulierung großer Antworten. Der zum Skeptiker Gewordene mag keiner bestimmten Geschichtsdoktrin mehr folgen und glaubt auch nicht länger an ein bestimmtes Menschenbild, sondern „er sucht das Weite, das Weitere mag sich finden"169. Man kann diese Haltung als „Eskapismus" bezeichnen. Marquard bemerkt dazu: „...wer in bestimmten Situationen nicht flieht, ist einfach unvernünftig: wer in ihnen direkte Konfrontation mit der Wirklichkeit sucht, nimmt sie nicht ernst genug. Die Philosophie aber muß sich hüten, leichtsinnig sein zu wollen." 170 Der Skeptiker hat deshalb zweierlei gegeneinander abzuwägen: „den Leichtsinn, der in der Möglichkeit liegt, sich durch Optionen zu versteigen, gegen den Leichtsinn, der auch im Versuch liegen kann, ein Einzelner zu sein" 171 . Marquard wählt die zweite Möglichkeit, er tritt also für die Verteidigung des Einzelnen ein und plädiert für die skeptische Auflösung der Geschichtsphilosophie. Diese Wahl entspricht der Position der Vorsicht, der Zurückhaltung in der allgemeinen Begeisterung, der vorsorglichen Nüchternheit bei latenter Gefahr geschichtsphilosophischer Trunkenheit. Sie ist ferner Ausdruck der Weigerung, feste Positionen zu beziehen und absolute Standpunkte zu vertreten, um damit von vornherein zu verhindern, daß man sich je durch bestimmte Optionen ins Unrecht setzt. In einer so verstandenen skeptischen Haltung steckt ein gutes Stück Engagement. Marquard kann deshalb gegen Horkheimers Verdikt „Die Skepsis, einst die Negation der geltenden Illusionen, steht heute gegen
168 Ygj e bd., S. 81. — Eine solche Haltung bedeutet nicht etwa die Abkehr von den menschlichen Denkbemühungen, sondern meint lediglich die kritische Distanznahme gegenüber einem Denken, das — scheinbar — gelingt und sich als absolut setzt. „Flucht und Pilgerschaft" setzen vielmehr Bildung voraus. Dies erlaubt eine neue Definition von Bildung: „Bildung ist die Sicherung der Emigrationsfähigkeit" (ebd.). 169 Ebd., S. 30. 170 Ebd. 171 Ebd.
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gar nichts mehr als gegen das Interesse an einer besseren Zukunft" mit Recht darauf hinweisen, daß die Skepsis sich nicht gegen dieses Interesse richtet, „sondern gegen die Illusionen dieses Interesses". 172 Die Warnung vor den illusionären Hoffnungen, die der Geschichtsphilosophie als Momente fortwirkender säkularisierter Eschatologie anzuhaften pflegen, ist gewiß berechtigt; die Motive, die zur Absage an die Geschichtsphilosophie führen, sind legitim; die Skepsis hat ohne Zweifel eine gewinnende Seite. — Aber, so ist nun zu fragen, ist das Programm der Programmlosigkeit überhaupt durchführbar? Ist der standpunktlose Standpunkt überhaupt nur denkbar? Widerspricht die Absage an die Geschichtsphilosophie nicht der menschlichen Daseinswirklichkeit und ihrem Angewiesensein auf Bilder geschichtlicher Herkunft und geschichtlicher Zukunft? Bedeutet daher die Ablehnung philosophischer Geschichtsanschauung nicht einfach die Überantwortung des Daseins an die immer schon gelebten Geschichtsbilder und die immer schon befolgten Zukunftsideale? Auf diese kritischen Einwendungen wird an anderer Stelle noch näher einzugehen sein. Zunächst gilt es festzuhalten, daß Marquard das aufklärerische Anliegen der Geschichtsphilosophie durchaus anerkennt. Diese hat seiner Auffassung nach ihre angestammte Aufgabe darin, aus Heteronomien zu befreien und dem Menschen zum Ausgang aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu verhelfen. Die Geschichtsphilosophie vertritt also den „Mythos der Aufklärung"; nur — so ist zu fragen — ist sie nun „Mythos oder ist sie Aufklärung"? 173 Für Marquard ist sie bloß Mythos der Aufklärung und bloß Mythos der Emanzipation, da der „geschichtsphilosophische Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit" mit der „Schlüsselgewalt ihrer selbstverschuldeten Vormünder" endet. 174 Nun hat die aufklärerische Geschichtsphilosophie ohne Zweifel über den Weg ihrer idealistischen Geschichtsinterpretation Welt verändert und Geschichte gemacht, und zwar menschliche Geschichte und also schlechte. Doch darin zeigt sich nicht nur das Verhängnis der Geschichtsphilosophie, sondern zugleich der konstitutive Zusammenhang, der zwischen der Geschichtsinterpretation und dem Fortgang der Geschichte besteht. Und da uns unsere Zukunft nicht gleichgültig sein kann, sehen wir uns doch
172
173 174
Vgl. ebd., S. 31 f. — Marquard bezieht sich auf: Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis (1938); in: Kritische Theorie II, Frankfurt a. M. 1968, S. 238. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 19.
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wieder zur Geschichtsphilosophie genötigt, und dies auch dann, wenn sie sich als verhängnisvoll erweist, denn noch verhängnisvoller ist es, auf sie verzichten zu wollen, obgleich man es — als denkender und handelnder Mensch — nicht kann. So hat man zwar „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie", aber ohne sie wohl noch mehr. Wer dennoch, wie Marquard, weiterhin darauf beharrt, es sei der Geschichte selbst zu überlassen, ihren künftigen Weg zu finden und die Bahn ihres Fortgangs festzulegen, der verfällt entweder einer Geschichtshypostasierung oder er verkennt, in welchem Ausmaß die Zukunft der Geschichte durch die Bilder und Träume, Ängste und Illusionen der gegenwärtig handelnden Menschen bestimmt wird. Träume, Wünsche, Hoffnungen, Bestrebungen und die daraus entspringenden Geschichtsvorstellungen: sie stellen ein weitgehend irrationales Geschehen dar. Die Absage an die Geschichtsphilosophie bedeutet darum zwangsläufig die Auslieferung an ein Irrationales und das heißt zugleich: an ein nicht mehr Kritisierbares und in letzter Konsequenz Uneingesehenes. Der skeptische Verzicht auf die Geschichtsphilosophie zum Zwecke der Befreiung von geschichtsphilosophischen Illusionen erweist sich seinerseits als Illusion und als Selbsttäuschung, da durch einen solchen Verzicht bewirkt wird, was verhindert werden soll: Fremdbestimmung durch ein Unerkanntes. Diese Hinweise treffen allerdings nicht Marquards Kritik an der Geschichtsphilosophie, sondern gelten lediglich seiner Absage an sie. Seine Schlußfolgerung, es sei künftig die Welt vor Geschichtsphilosophie zu verschonen, ließe sich doch wohl mit gleichem Recht auf jede menschliche Bemühung anwenden, insofern die von ihm herausgestellten Schwierigkeiten jedem Weltdeutungs- und Sinnbestimmungsversuch, ja jeglicher Veränderungsbestrebung anhaften. Stets nämlich zeigt der Mensch die natürliche Tendenz, mittels der Philosophie und der Wissenschaft sich selbst zu täuschen und sich mit Illusionen zu betrügen. Darauf haben insbesondere Schopenhauer und Nietzsche hingewiesen. Der Mensch ist ein großer Selbstbetrüger, und er betrügt sich noch mit seiner Philosophie, — auch und ganz besonders mit derjenigen der Geschichte. Nun kann man es der Geschichtsphilosophie wohl nur schlecht als Mangel anrechnen, daß sie den menschlichen Illusions- und Alibibestrebungen Hand bietet, daß sie der Anlage zum Selbstbetrug dienlich ist, daß sie zur bequemen Maske werden kann. Die Möglichkeit zu solchem Mißbrauch liegt darin begründet, daß die Geschichtsphilosophie — darin der Ethik vergleichbar — vom Menschen in abstrakt-allgemeiner Weise
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spricht. Ihr Interesse gilt dem Menschen in seiner weltgeschichtlich-allgemeinen Lage und nicht dem Einzelnen in seiner je eigenen geschichtlichkonkreten Lebenssituation. Bei allen diesen Überlegungen ist freilich vorausgesetzt, daß Geschichtsphilosophien lediglich mögliche Selbstdeutungen des Menschen in seiner Geschichte darstellen und daß auch das Geschehen, auf das sie sich beziehen, bloß Menschliches widerspiegelt. Es handelt sich hierbei um eine Einsicht, die nach dem Scheitern der geschichtsphilosophischen Entwicklungskategorie unausweichlich geworden ist. Sie bezeichnet zugleich das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Geschichtsdenken in seiner klassischen Zeit und seiner gegenwärtigen Situation. Das „VicoAxiom" 175 , daß der Mensch seine Geschichte selbst macht, galt zwar als allgemein anerkannte Grundlage des Nachdenkens über Geschichte, aber nur in der Gestalt, daß der Mensch in seinem freien Handeln zugleich seine vorgegebene Bestimmung realisiert. In allen ihren Entwürfen glaubten die Klassiker der Geschichtsphilosophie ein Übergeschichtliches, ein Notwendiges, einen höheren Willen oder doch wenigstens ein dem bloß Menschlichen überlegenes, allgemeines Gesetz entdeckt zu haben. Jedesmal war damit die Geschichte als Entwicklung begriffen, und jedesmal war die philosophische Deutung mit allen jenen Widersprüchen und Schwierigkeiten behaftet, die sich, wie gezeigt, mit dem geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedanken notwendigerweise verbinden. Die klassischen Entwicklungskonzeptionen beanspruchten, die zeitlose Geschichtsstruktur und mithin ein Geschichtsloses im Geschichtlichen erkannt zu haben. Dieses Selbstverständnis stellte sich seinerseits als zeitbedingt heraus. Ist nun, so lautet die jetzt zu klärende Frage, die Geschichtsphilosophie, die zum Bewußtsein ihrer eigenen Geschichtlichkeit gelangt ist, zugleich zu einem aussichtslosen Unternehmen geworden, wie die heute gängige Rede vom „Ende der Geschichtsphilosophie" suggeriert?
4. Anfang und Ende der
Geschichtsphilosophie
Die heute übliche Rede vom „Ende der Geschichtsphilosophie" setzt voraus, daß diese eine historisch datierbare Periode in der Geschichte des Denkens darstellt. Nun ist die Geschichtsphilosophie tatsächlich in 175
Vgl. Ferdinand Fellmann: Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/ München 1976.
288
Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
gewissem Sinne eine spezifisch neuzeitliche Formation. Dies haben gerade die neueren begriffsgeschichtlichen Untersuchungen über die historischen Grundbegriffe wieder eindrücklich belegt. 176 Der Beginn der modernen Geschichtsphilosophie ist somit ziemlich genau datierbar. Er fällt in die Mitte des 18. Jahrhunderts, in der die bestimmenden Kategorien des Geschichtsdenkens ihre Prägung erfahren haben. Es stellt ferner ein historisches Faktum dar, daß die Geschichtsphilosophie ein Produkt des Aufklärungsdenkens ist. Diese Feststellung läßt sich sogar verschärfen zur Formulierung, daß die klassische Geschichtsphilosophie ihrem Wesen nach nichts anderes ist als die Entfaltung des in der Idee der Aufklärung implizit enthaltenen Geschichts- und Menschenbildes. 177 Indem die geschichtsphilosophischen Leitbegriffe der modernen Geschichtsphilosophie — die kollektiven Singularbildungen „Geschichte", „Menschheit", „Entwicklung", „Fortschritt", „Freiheit" u.a. — einen historisch feststellbaren Ursprung haben, liegt der Schluß nahe, in der Geschichtsphilosophie selbst ein datierbares Phänomen zu sehen, das, wenn es einen genau bestimmbaren Anfang hat, wohl auch ein datierbares Ende finden wird. Nun trifft aber die begriffsgeschichtlich orientierte Bestimmung der Geschichtsphilosophie nur eine besondere Gestalt dieser philosophischen Fragerichtung und verkennt überdies, daß jeder der angegebenen Grundbegriffe — dem Begriff, d.h. dem gedanklichen Sachverhalt, nicht der Wortgestalt nach — auch eine Vorgeschichte hat. In einer nicht ausschließlich von der Begriffsgeschichte ausgehenden Sicht zeigt sich die Geschichtsphilosophie keineswegs als ein spezifisch neuzeitliches Phänomen, sondern als Komplex von Frage- und Problemstellungen, die das Denken seit jeher herausforderten. Der einmalige Glücksfall, daß die Terminologiegeschichte von „Geschichtsphilosophie" im Ausdruck „Philosophie de l'Histoire", einer Wortschöpfung Voltaires 178 , einen genau datierbaren Anfang hat, darf nicht überbewertet werden. Daß die Geschichtsphilosophie nicht erst in der Neuzeit einsetzt, bestätigt auch die Säkularisierungsthese Löwiths, in der die moderne Geschichtsphilosophie als Fortsetzung der älteren Geschichtstheologie in176
177 178
Vgl. insbesondere die verschiedenen Beiträge in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner, W. Conze, R.Koselleck, bisher 5 Bde., Stuttgart 1972 ff. Vgl. A n m . 141 des zweiten Teils. Voltaires „Philosophie de l'Histoire" aus dem Jahr 1765 versteht sich als „discours préliminaire" seines „Essai sur les Moeurs et l'Esprit des nations" und wird 1769 der 2. A u f l . dieses Werkes als „Introduction" vorangestellt (vgl. Oeuvres complètes, Bd. 3, Paris 1877, S. 1).
Gegenpositionen
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terpretiert wird. Die Herkunft des neu2eitlichen Geschichtsdenkens aus der Geschichtstheologie weist auf ein bei aller Unterschiedlichkeit Identisches: auf die Konstanz der Problematik im Wechsel der verschiedenen Lösungsmodelle. Unter der Berücksichtigung der Konstanz der die Geschichte betreffenden Frage- und Problemstellung erscheint das „Ende der Geschichtsphilosophie" bloß als Ende einer bestimmten Gestalt oder eines bestimmten Typus der Antwortgebung auf die sich gleichbleibende Fragen. Nun mögen zwar die traditionellen Lösungsvorschläge der Geschichtsphilosophie unglaubwürdig und damit inaktuell geworden sein, aber trifft dies auch für die geschichtsphilosophische Problemstellung zu? Hat das Problem der Geschichte seine frühere Aktualität eingebüßt? Falls dies nicht zutrifft und falls ferner der Nachweis gelingt, daß das Geschichtsproblem seinen eigentlichen Grund in der Geschichtlichkeit des Menschen selbst hat und mithin unausweichlich ist, dann wird dadurch auch die Rede vom „Ende der Geschichtsphilosophie" relativiert. Die Formel des „Endes der Geschichtsphilosophie" beruht auf der Verwechslung eines bestimmten Typus der Geschichtsphilosophie mit dieser selbst. Aus diesem Grund erweist sich diese Redewendung geradezu als verhängnisvoll, wenn sie das Ende der Geschichtsphilosophie als Disziplin anzeigen soll. Die Aufhebung der geschichtsphilosophischen Disziplin müßte zur Folge haben, daß man sich den verschiedenen, unbemerkt geltenden geschichtsphilosophischen Ersatzkonstruktionen um so stärker ausliefert. Erwartet man von der Geschichtsphilosophie eine objektive und rational verbindliche Theorie der Menschheitsentwicklung, so muß — entgegen dem Selbstverständnis der Klassiker des Geschichtsdenkens — das Scheitern der Geschichtsphilosophie festgestellt werden. Aber eine solche Erwartung widerspricht allen Ergebnissen der historistischen Aufklärung und steht im Gegensatz zum modernen geschichtlichen Bewußtsein, das zur Einsicht in die Geschichtsabhängigkeit auch des Geschichtsdenkens gelangt ist: dem Menschen — als Geschichtswesen — bleiben zeitlos gültige Ansichten über die Geschichte, deren Teil er ist, versagt; wenngleich er — als Geschichtswesen — jederzeit auf solche Ansichten angewiesen ist. Es sind deshalb grundsätzliche Zweifel an der Folgerichtigkeit jenes Arguments anzubringen, das aus der Tatsache, daß das klassische Antwortschema auf die geschichtsphilosophische Fragestellung unglaubwürdig geworden ist, auf das Ende der gesamten Disziplin schließt, die sich mit dem Geschichtsproblem auseinandersetzt. Demgegenüber gilt es
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Hauptschwierigkeiten des Entwicklungsdenkens
zu betonen, daß das Scheitern der totalen Entwicklungsdeutungen nicht das Ende der Geschichtsphilosophie bedeutet, sondern vielmehr den Rechtfertigungsgrund für die Feststellung ihrer Unabweisbarkeit. Auch nach dem „Ende der Geschichtsphilosophie" bleibt das Problem der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung mit allen seinen weitreichenden Implikationen als ein philosophisches Grundproblem bestehen. Dies geht auch daraus hervor, daß das Entwicklungsmodell als geschichtstheoretisches Lösungsmuster heute zwar alle Glaubwürdigkeit verloren hat, aber das allgemeine Bewußtsein weiterhin maßgebend beeinflußt. Die klassischen Geschichtsbilder stimmen mit den gegenwärtigen Geschichtsidealen weitgehend überein. Die Differenz zwischen den früheren und den heutigen Geschichtskonzeptionen liegt folglich weniger im Inhalt, als vielmehr im Erkenntnisanspruch. Den klassischen geschichtsphilosophischen Leitideen wie „Ausgang aus der Unmündigkeit", „Autonomie", „Überwindung des Leidens in einem steten Progreß", „Freiheit aller", „Einheit der Menschheit" usw. kommt heute zwar nicht mehr der Status des Wissens, sondern nur noch der einer Hoffnung zu, aber es sind gerade unsere Hoffnungen, mit denen heute das Morgen der Geschichte entschieden wird. So mag also der geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanke, was seinen Erkenntnisanspruch betrifft, die frühere Verbindlichkeit verloren haben, seine Aktualität dagegen bleibt ihm erhalten.
Vierter Teil Kritik und Rechtfertigung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens
I. Kapitel: Das Scheitern des Entwicklungsdenkens I: die Probleme des Historismus „Aller Historismus kommt, wenn er konsequent ist, auf Relativismus, ja Nihilismus hinaus, oder er verdeckt seine Leerheit dadurch, daß er willkürlich diese oder jene Gestalt des geschichtlichen Lebens herausgreift, um aus ihr den Inhalt für eine Weltanschauung zu nehmen..." 1 (H. Rickert)
1. Die
Problemstellung
Im Rückblick verbinden sich die verschiedenen Stadien des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens zum Bild des Auflösungsprozesses der Entwicklungsvorstellung, die ihre frühere universalgeschichtliche Relevanz nach und nach eingebüßt hat. So bleibt nur noch das Faktum der menschlichen Geschichtlichkeit als solches übrig. Es gewinnt dadurch eine neue philosophische Bedeutung. Das Problem der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins erhält fundamentalphilosophische Relevanz. Im Rahmen der klassischen Geschichtssysteme konnte „Geschichtlichkeit" nichts anderes als das Aufgenommensein alles Menschlichen in den übergeordneten Entwicklungsgang der Geschichte bezeichnen. Mit dem Verlust dieser Sichtweise der Geschichte mußte der Begriff der Geschichtlichkeit einen radikal neuen Bedeutungsgehalt annehmen. Der Terminus wird nun zum Ausdruck der Endlichkeit und Vergänglichkeit alles Menschlichen. Er bezeichnet jetzt nicht mehr die Geborgenheit in, sondern vielmehr das Ausgeliefertsein an die Geschichte. Der Begriff der Geschichtlichkeit hat sich damit in sein Gegenteil verwandelt. Einst war das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Geschichte existenztragend, heute scheint durch 1
Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung — Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 3. u. 4., verb. u. erg. Aufl., Tübingen 1921, S. 7.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
die Tatsache des geschichtlichen Charakters aller Bereiche menschlicher Wirklichkeit jede Möglichkeit einer historischen Sinnorientierung zerstört zu sein. Früher wurde die Geschichte als absolut gedacht, jetzt kann nur noch die Geschichtlichkeit Absolutheitsanspruch erheben. Es ist unter dieser Voraussetzung nur konsequent, bei der Geschichtlichkeit des Menschen anzusetzen, um von daher Aufschluß über das Problem der Geschichte zu erlangen. An die Stelle des Denkens über Geschichte tritt das Bedenken der Geschichtlichkeit. Die verschiedenen Geschichtskonzeptionen werden von verschiedenen Konzeptionen der Geschichtlichkeit abgelöst. Die Geschichtlichkeit als Grundbestimmung des Daseins ist vor allem von der Existenzphilosophie herausgearbeitet worden. Es soll deshalb kurz auf den Begriff der Geschichtlichkeit bei Martin Heidegger und Karl Jaspers eingegangen werden. Zuvor seien noch einige allgemeine Hinweise zur Thematik erlaubt. Jede Beschäftigung mit dem Problem der Geschichtlichkeit muß mit der Feststellung der Vieldeutigkeit dieses Begriffs beginnen, die der ganzen Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten menschlicher Einstellungen gegenüber der geschichtlichen Welt entspricht. 2 Der Prozeß der Bedeutungsveränderung von „Geschichtlichkeit" spiegelt sich im Bedeutungswandel von „Historismus" wider. Beide Ausdrücke zeigen ein ambivalentes Schwanken zwischen einer eher positiven und einer eher negativen Bedeutung. Beide können sowohl zur Legitimation als auch zur Diffamierung einer Position verwendet werden. Es ist freilich zu bedenken, ob die irritierende Bedeutungsambivalenz der beiden Termini nicht eine unvermeidliche Folge des menschlichen Verhältnisses zur Geschichte ist, das sowohl durch Abhängigkeit von ihr wie auch durch ein gewisses Maß an freier Mächtigkeit ihr gegenüber gekennzeichnet ist. Friedrich Meinecke hat die Entdeckung der geschichtlichen Welt und das Entstehen eines historischen Bewußtseins als „eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat" 3 , gefeiert. 2
3
Dem Begriff der Geschichtlichkeit sind zwei Monographien gewidmet: Gerhard Bauer: „Geschichtlichkeit" — Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963 und Leonhard von Renthe-Fink: Geschichtlichkeit — Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck, Göttingen 1964. Die beiden Untersuchungen hinterlassen einen verwirrenden Eindruck, was nicht den Autoren anzulasten, sondern gerade auf die Angemessenheit ihrer Darstellungen an die Thematik zurückzuführen ist, insofern sie die Uneinheitlichkeit und Vielschichtigkeit des Bedeutungsgehalts klar machen. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, hrsg. u. eingel. von Carl Hinrichs; in: Werke, Bd. 3, München 1959, S. 1.
Die Probleme des Historismus
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Das „reichere und tiefere Weltbild", das aus dem Historismus hervorging, bedeutete einen Bruch mit dem bisher gültigen Geschichtsbild: „Alles in der Geschichte sah nun anders aus als bisher, nicht mehr flächenhaft einfach und übersehbar, sondern perspektivisch mit unausmeßbaren Hintergründen, nicht mehr wie man bisher vermeint hatte, mit ewiger Wiederkehr des Gleichen, sondern mit ewiger Neugeburt des Eigenartig-Unvergleichlichen." 4 Meinecke hat die Auffassung vertreten, der Historismus stelle „die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge" dar und man dürfe ihm „eine echte Entwicklungsfähigkeit auch für die um uns und vor uns liegenden Probleme der Menschheitsgeschichte" zutrauen, denn der Historismus selbst sei imstande, „die Wunden, die er durch die Relativierung der Werte geschlagen hat, zu heilen". 5 Trotz dieser grundsätzlich positiven Beurteilung warnt Meinecke wiederholt vor den dem Historismus immanenten Gefahren, und er meint, man müsse „immer den Blick auf die Tatsache geheftet halten, daß in dem alles relativierenden Historismus allerdings ein korrosives Gift steckt" 6 . Dieses „korrosive Gift" besteht nach Meinecke in der auflösenden, alles auf bloße Veränderung reduzierenden Wirkung des historistischen Standpunkts. Die alles Menschliche relativierende Konsequenz des Historismus rückhaltlos anzuerkennen, ist keiner seiner Vertreter bereit. Aus diesem Grund bleibt die Einstellung gegenüber dem Historismus auch bei seinen Anhängern zutiefst ambivalent, wie dies wohl am deutlichsten bei Ernst Troeltsch zum Ausdruck kommt. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, daß der Historismus weniger eine theoretisch durchgearbeitete und in eindeutiger Begrifflichkeit gefaßte Konzeption bezeichnet, sondern eher eine Welteinstellung und ein bestimmtes Lebensgefühl wiedergibt. In seinem Werk über die „Entstehung des Historismus" verfolgt Meinecke ja das allmähliche Werden einer neuen, historisch ausgerichteten Weltanschauung sowie allgemeinen Grundstimmung, und nicht etwa die Herausbildung einer bestimmten Philosophie des Historismus, die als solche nicht vorliegt, obwohl jeder neuere philosophische Entwurf durch die historistische Weltansicht mitbestimmt ist. So weist der Begriff des Historismus das weite Bedeutungsspektrum einer allgemeinen Welteinstellung auf, und entsprechend vage ist das Bewußtsein 4
5 6
Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hrsg. u. eingel. von Walther Hofer; in: Werke, Bd. 2, München 1957, S. 426. Vgl. ebd., S. 4. Friedrich Meinecke: Geschichte und Gegenwart, hrsg. u. eingel. von Eberhard Kessel; in: Werke, Bd. 4, Stuttgart 1959, S. 9 0 - 1 0 1 ; Zitat: S. 95.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
der Voraussetzungsproblematik des historistischen Standpunkts. In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Meineckes äußerst aufschlußreich. Auf die Frage, ob der Historismus fähig sei, die Wunden, die er geschlagen habe, selbst zu heilen, antwortet er: „Nun, wer wirklich, wie einst Goethe, jene wundersame Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins in voller ursprünglicher Tiefe einmal gehabt hat, wird ohne Zögern mit einem Ja antworten, noch bevor er alle Argumente dafür in logische Ordnung gebracht hat." 7 Deutlicher als an dieser Stelle kann wohl das Eingeständnis eines Begründungsdefizits nicht zum Ausdruck gebracht werden. Eine solche zutiefst ambivalente Einstellung gegenüber dem Historismus-Problem kennzeichnet auch die Position Diltheys. Kaum jemand hat wie er die historistische Position in eindeutigen Formulierungen wiedergegeben und zugleich ihre Unausweichlichkeit sowie Überlegenheit gegenüber anderen Betrachtungsweisen hervorgehoben. „Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte." 8 Und der siebzigjährige Dilthey meint rückblickend, er habe es unternommen, die Natur und die Bedingung des geschichtlichen Bewußtseins zu untersuchen, und zwar im Sinne einer Kritik der historischen Vernunft. Dadurch sei er zu einer allgemeinsten Aufgabe gelangt, denn ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz entstehe, sobald das geschichtliche Bewußtsein bis in seine letzten Konsequenzen bedacht werde. „Die Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, sie sei eine Religion oder ein Ideal oder philosophisches System, sonach die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhangs der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend. Und dagegen erhebt sich das Bedürfnis des Denkens und das Streben der Philosophie nach einer allgemeingültigen Erkenntnis. Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die
7 8
Ebd., S. 94. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften; in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Leipzig/Berlin 1927, S. 290 f.
Die Probleme des Historismus
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Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben — aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?" Damit ist das Grundproblem formuliert, das aus der Feststellung der geschichtlichen Bedingtheit einerseits und der Drohung des historischen Relativismus andererseits hervorgeht und das seither die Historismusdebatte — soweit eine solche überhaupt stattfindet — bestimmt. Dilthey scheint von der Möglichkeit einer Überwindung der Schwierigkeit überzeugt gewesen zu sein. In Fortsetzung der eben zitierten Stelle schreibt er: „An der Auflösung der Probleme, welche an dieses sich in langer Reihe anschließen, habe ich mein Leben lang gearbeitet. Das Ziel sehe ich." 9 Solche Stellen machen deutlich, daß selbst Dilthey vor einer rückhaltlosen Anerkennung der Geschichtlichkeit des Daseins zurückschreckt und sich deshalb um eine Auflösung des Problems des Historismus bemüht, obwohl es doch gerade zum Wesen der Geschichtlichkeit des Daseins gehört, daß das Faktum der Geschichtlichkeit bereits dem Bemühen um seine Überwindung widerspricht, deren der Mensch, sofern er sich seiner geschichtlichen Natur bewußt wird, ohnehin nicht bedarf. Doch an einer solchen Einsicht hinderte Dilthey schon seine Wissenschaftsgläubigkeit; denn auf die Frage, ob sich im steten Wandel geschichtlicher Veränderung nicht „allgemeine Entwicklungen, die durch die ganze Geschichte hindurch gehen", feststellen ließen, verweist Dilthey auf den wissenschaftlichen Fortschritt: „Durch die ganze Geschichte hindurch geht der Fortschritt der Wissenschaften. Dieser Fortschritt ist stetig, ununterbrochen, unaufhaltsam; denn er hängt davon ab, daß Begriffe restlos übertragbar sind von Person zu Person und von Zeit zu Zeit. Im ganzen Gebiet des Verstehens von Lebensäußerungen findet hier allein eine solche Übertragbarkeit statt. So ist da eine allgemeine Regelmäßigkeit in dem Fortgange der Veränderungen innerhalb der Menschheit." 10 In diesem Vertrauen in die überzeitliche Geltung wissenschaftlicher Rationalität liegt denn auch Diltheys Projekt einer Kritik der historischen Vernunft begründet. Noch ambivalenter als Diltheys Haltung gegenüber dem Historismus ist diejenige von Ernst Troeltsch. In seinem monumentalen Werk über den „Historismus und seine Probleme" aus dem Jahr 1922, das sich die 9
10
Wilhelm Dilthey: Rede zum 70. Geburtstag (1903); in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1924, S. 9. Wilhelm Dilthey: Der A u f b a u d. gesch. Welt, S. 346.
298
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
Aufgabe stellt, Bedeutung und Wesen des Historismus zu vergegenwärtigen, meint er zwar, es gelte „dieses Wort von seinem schlechten Nebensinn völlig zu lösen" 11 ; aber auch er ist nicht bereit, die logischen Konsequenzen des Historismus uneingeschränkt zu akzeptieren. Troeltsch beharrt zwar stets auf dem geschichtlichen Standpunkt und vertritt etwa die Auffassung, daß für die Auffindung der Normen der Lebensgestaltung nur noch „die Geschichte als Quelle und die Geschichtsphilosophie als Lösung" 12 bleibe. Aber er kennt auch einen anderen Historismus, den er etwa in den frühen Schriften Georg Simmeis vorfindet und der ihn zu harten Formulierungen wie der folgenden veranlaßt: „Es ist der trostloseste Relativismus und Historismus ohne jeden Rest von Gläubigkeit an das historische Leben, lediglich ein Spiel des Intellekts, ein Strom ohne Anfang, Ende und Ufer, auf dem nicht einmal der englische Utilitarismus einen Halt gewährt." 13 Troeltschs Lösung des Historismusproblems, die in keiner theoretischen Ausarbeitung vorliegt, sondern nur aus im Werk zerstreuten Hinweisen zu rekonstruieren ist, kommt etwa in der folgenden Stelle zum Ausdruck: „Nicht die Spinozistische Identität von Denken und Sein oder von Natur und Geist, sondern die wesenhafte und individuelle Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste und ebendamit die intuitive Partizipation an dessen konkretem Gehalt und bewegter Lebenseinheit ist der Schlüssel zur Lösung unseres Problems." 14 Meinecke bemerkt zu dieser Stelle, man könne dieses metaphysische Bekenntnis nur „mit Bewegung" lesen. 15 Sowohl die zitierte Aussage Troeltschs wie auch Meineckes Urteil über sie bezeugen die ambivalente Einschätzung des Historismus selbst seitens seiner Vertreter. Auch Meinecke sucht nach dem festen Punkt, der uns dazu befähigen solle, dem mit dem Historismus notwendigerweise verbundenen Relativismus standzuhalten. Er sieht im wesentlichen drei Lösungsvorschläge. Der erste ist die romantische Flucht in eine verklärte und idealisierte Vergangenheit, und der zweite besteht im Glauben an einen Fortschritt der Menschheit auf ein absolutes Ziel hin. Gegenüber der Vergangenheits11
12 13 14 15
Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie; in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Tübingen 1922, S. 102. Ebd., S. 1 1 0 . Ebd., S. 573. Ebd., S. 677. Friedrich Meinecke: Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus; in: Werke, Bd. 4, S. 3 6 7 - 3 7 8 ; Zitat: S. 376.
Die Probleme des Historismus
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romantik sowie dem Fortschrittsoptimismus verweist Meinecke auf den Strom des Werdens, der alles relativiere und in Wellen auflöse, also „eben auch die beiden von der Menschensehnsucht gemachten Versuche, seiner geistig Herr zu werden" 16 . Der dritte Lösungsvorschlag ist zugleich Meineckes Antwort auf den geschichtlichen Relativismus. Unter Hinweis auf Goethes „Der Augenblick ist Ewigkeit" und das bekannte Ranke-Wort „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott" fordert Meinecke dazu auf, „das Ewige im Augenblick, in der individuellen Konstellation des Lebens zu suchen und zu schaffen". Es bleibt demnach nur noch die Möglichkeit, „das Gottverwandte in der Geschichte im Augenblicke zu suchen". Damit werde zwar das „Flüchtigste des Flüchtigen", der Augenblick, „zum Träger von Ewigkeitswerten" gemacht, aber, so erklärt Meinecke, „gerade diese Paradoxie befreit uns von dem lähmenden Drucke der Vergänglichkeit, gibt jedem geisterfüllten Momente und jeder geisterfüllten Gestaltung des geschichtlichen Werdestromes ihre besondere Dignität und Eigenwert". 17 So konsequent und möglicherweise zugleich existentiell überzeugend diese Position auch sein mag, so wenig befriedigend ist Meineckes Antwort auf die Frage, weshalb denn gerade dieser Lösungsvorschlag im Vergleich zu den beiden anderen vom alles relativierenden Strom des Werdens nicht in Frage gestellt werde. Denn Meinecke argumentiert mit dem Hinweis auf die horizontale Geschichtsansicht von Vergangenheitsromantik und Fortschrittsoptimismus, die darum auch von dem horizontal verlaufenden Werdestrom widerlegt würden. Nun lasse sich aber die Sache auch vertikal ansehen und somit eine „feste Brücke über den Strom" bauen. Dann könne im vollen Bewußtsein der Unendlichkeit des Werdestromes ein „Ewigkeitsgedanke über das bloß zeitlich Unendliche" siegen, denn: „Der Augenblick ist Ewigkeit." 18 Nun ist diese Betrachtungsweise der Geschichte zwar gewiß vertikal, aber doch eine Auffassung, die im horizontalen Verlauf der Geschichte entstanden ist und deshalb ebenso wenig wie die beiden anderen Positionen eine überzeitliche Gültigkeit beanspruchen kann. Mit dem Verlust der Möglichkeit, Geschichte als universale Entwicklungseinheit zu denken, entfallt das Geschichtsgeschehen als Orientierungs- und Sinninstanz. Einen letzten Halt gewährt lediglich noch der existentiell erlebte und als sinnhaft erfahrene geschichtliche Augenblick. 16 17 18
F. Meinecke: Geschichte und Gegenwart, Werke, Bd. 4, S. 97. Vgl. ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 98.
300
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
Die Berufung auf das Individuelle und Augenblickhafte angesichts der historischen Relativität und die Überwindung der Vergänglichkeitserfahrung im Ewigkeitserlebnis des Augenblicks stellen eine Lösung des Problems dar, deren christliche Herkunft auch in den Formulierungen Meinekkes noch deutlich zum Ausdruck kommen: „Mögen wir über Gott denken, wie wir wollen, mögen wir ihn uns persönlich oder unpersönlich vorstellen, mögen wir das Wort selbst streichen und nur von höchsten Werten zu sprechen wagen, — ein jeder darf in jedem Augenblick unmittelbar zu ihnen sich fühlen und wird, je stärker er dies fühlt, um so sicherer seinen Weg finden..." 19 Der Gedanke der Überwindung der Vergänglichkeit und Zeitlichkeit im Ewigkeitserlebnis des Augenblicks weist nicht nur auf Goethe und Ranke zurück, sondern insbesondere auf Kierkegaards Theorie des Augenblicks 20 . Ausgehend vom christlichen Glauben, der die Wirklichkeit als paradoxe Einheit von Zeitlichem und Ewigem erfahren lehrt, interpretiert Kierkegaard den Augenblick als Einbruch der Ewigkeit in die Zeit. Die Vorstellung von der erfüllten Gegenwart ist vor allem in der Existenzphilosophie wirksam geworden. In diesem Sinne kann Karl Jaspers die Geschichtlichkeit geradezu als „Einheit von Zeit und Ewigkeit" definieren, denn in der existentiellen Vertiefung wird der faktische Augenblick zur „ewigen Gegenwart".21 Was in der historischen Betrachtung als bloßes Moment in der Veränderung erscheint, wird in der existentiellen Erfahrung zum „substantiellen Jet^t"22. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Es bleibt ein grundsätzlicher Zweifel bestehen gegenüber der Möglichkeit, das durch die Geschichtlichkeit des Daseins gestellte Problem durch die Beschwörung des Augenblicks — und mag er noch so tief und unmittelbar erfahren sein — zu überwinden. Es ist hierbei allerdings auch streng zu unterscheiden zwischen den verschiedenen philosophischen Theorien des Augenblicks einerseits und einem verbreiteten allgemeinen Lebensgefühl andererseits, das zwar um die Endlichkeit von allem weiß und dennoch gerade in der Vergegenwärtigung der Endlichkeit ein Unendliches zu erfahren vermeint. Diese paradoxe Grundstimmung hat vielleicht ihre eindringlichste Formulierung in den folgenden Worten aus Rilkes neunter Duineser Elegie gefunden: „Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal » Ebd., S. 99. Vgl. Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst, übers, von Emanuel Hirsch; in: Gesammelte Werke, 11. u. 12. Abt., 6.-7. Tsd., Düsseldorf 1965, insbes. S. 8 2 - 9 5 . 21 Vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956, S. 126. 22 Ebd., S. 400. 20
Die Probleme des Historismus
301
und nichtmehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar." Damit bestätigt sich erneut, daß die — hier exemplarisch angeführten — historistischen Positionen von Dilthey, Troeltsch und Meinecke ihren geschichtlichen Standpunkt wenig konsequent vertreten, da sie sich alle vom historischen Relativismus kritisch distanzieren, ohne doch eine solche Abgrenzung theoretisch überzeugend begründen zu können. Sie halten zwar am Prinzip der Geschichtlichkeit und Endlichkeit fest, sehen sich aber doch immer wieder genötigt, von diesem Prinzip zeitweilig abzusehen, da offensichtlich nicht sein kann, was unter dem Namen des historischen Relativismus nicht sein darf. Das ambivalente Verhältnis des Historismus gegenüber seinem eigenen Grundprinzip der Historizität, das er zwar bejaht, ohne doch bereit zu sein, alles auf bloße Geschichtlichkeit zu reduzieren, hat zur Folge, daß er, wie Meinecke bemerkt, nicht mehr imstande ist, „etwas Festes und Handgreifliches, vor allem nicht etwas Allgemeingültiges und die Massen Hinreißendes über die höchsten Lebenswerte zu sagen", ohne aber in einen „anarchischen Relativismus" fallen zu dürfen. Der Historismus muß sich also begnügen, „den Menschen zu sagen, den Sinn der individuellen Lebenseinheiten, in denen sie stehen, zu erfassen und ihnen hingebend zu dienen, um sie zur höchsten individuell möglichen Vollkommenheit zu führen". 23 Die innere Ambivalenz des Historismus entspricht dem Doppelverhältnis des modernen Denkens zu den Vorstellungen der Zeitlichkeit und Endlichkeit. Dieses zwiespältige Verhältnis stellt nach von Rintelen ein allgemeines Charakteristikum des modernen Endlichkeitsbewußtseins dar. Da der Weg zu einer „klärenden, überwölbenden, echten metaphysischen Haltung" für den heutigen Menschen weitgehend verbaut sei, bleibe, so führt von Rintelen aus, „die Philosophie der Endlichkeit" einerseits in einer „gesuchten, stark empfundenen, aber die Spannungen fordernden, tragischen, let^tgültigen Gegensätzlichkeit stehen", und andererseits werde zugleich eine Identität des Gegensätzlichen „paradox angenommen". 24 Besonders wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang die Feststellung
23
24
Friedrich Meinecke: Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus; in: Werke, Bd. 4, Stuttgart 1959, S. 3 6 7 - 3 7 8 ; Zitate: S. 377. Vgl. Fritz-Joachim v o n Rintelen: Philosophie der Endlichkeit als Spiegel der Gegenwart, Meisenheim/Glan 1951, S. 60.
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von Rintelens, daß der erwähnte paradoxe Grundzug des modernen Endlichkeits- und Vergänglichkeitsbewußtseins seine stimmungsmäßige Aneignung nicht störe, wohl aber eine philosophisch-rationale Rechtfertigung verbiete: „Ein solches Weltbild ^u bejahen, ist rational nicht so einfach, denn es bleibt unbefriedigend; aber stimmungsmäßig ist es durchaus möglich." 25 So mag zwar das Bewußtsein der Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit als moderne Grundstimmung unabweisbar sein, aber als Denkposition stellt sich das durch keine Entwicklungsvorstellung abgemilderte Historizitätsbewußtsein als äußerst problematisch heraus. Es eröffnet sich hier eine Problematik von fundamentalphilosophischer Relevanz. Insbesondere ist nun danach zu fragen, ob denn unter der Voraussetzung der historistischen Denkweise die angestrebte Uberwindung des Problems der Geschichtlichkeit nicht ein grundsätzlich vergebliches Bemühen darstellen müsse; ob also im Rahmen der historistischen Position nicht bereits schon die Frage nach einem Übergeschichtlichen und Zeitlosen jeglicher Grundlage entbehre. Denn wenn ich beispielsweise einem Dreieck eine seiner drei Seiten wegnehme und dennoch auf der Frage beharre, wie mit den restlichen beiden Seiten ein neues Dreieck gebildet werden könne, so fehlt dieser Frage jede Rechtfertigung und sie gibt sich als falsch gestellt zu erkennen. Um in dieser Problematik weiterzukommen, soll im folgenden zunächst Diltheys Auffassung der Geschichtlichkeit vergegenwärtigt werden, um von seiner Position aus einen besseren Zugang zum Verständnis der Geschichtlichkeitsthematik bei Heidegger und Jaspers zu gewinnen.
2. Die Position Wilhelm
Diltheys
Der Prozeß der Historisierung des Denkens findet in der Philosophie Wilhelm Diltheys eine konsequente Fortsetzung. In kritischer Distanzierung von Hegels Auffassung der Geschichte des objektiven Geistes als Entwicklung des absoluten Geistes zum Bewußtsein seiner selbst verweist Dilthey auf den Umstand, daß an den Voraussetzungen der Hegeischen ideellen Geschichtskonstruktion nicht mehr festgehalten werden könne. Den Unterschied zwischen dem Ausgangspunkt Hegels und dem seiner eigenen Philosophie der Geschichte faßt er an einer Stelle in der Abhandlung über den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaf25
Ebd.
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ten" folgendermaßen zusammen: „Er (Hegel) konstruierte die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen... Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene." 26 Die dem Nachdenken allein noch verbliebene Gegebenheit ist das Leben. Dieses bildet die nicht weiter zurückführbare Grundtatsache, von der das Denken künftig ausschließlich noch auszugehen hat. Die Begriffe „Leben" und „Geschichte" werden von Dilthey im wesentlichen synonym verwendet. „Leben" meint nichts anderes als die Geschichte in besonderer Akzentuierung: „Leben...ist seinem Stoffe nach eins mit der Geschichte. An jedem Punkte der Geschichte ist Leben. Und aus Leben aller Art in den verschiedensten Verhältnissen besteht die Geschichte. Geschichte ist nur das Leben, aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt des Ganzen der Menschheit, das einen Zusammenhang bildet." 27 Indem Dilthey das Leben — d.h. also die Geschichte — als letzte Wirklichkeitsebene begreift, hinter die nicht auf eine tiefere Schicht zurückgegangen werden kann, muß er den Hegeischen Begriff einer Entwicklungstotalität des Geistes aufgeben; an dessen Stelle tritt der Begriff einer bloßen Lebenstotalität. Der nun ausnahmslos alles umfassende Begriff des Lebens bedeutet im Vergleich zu Hegels Begriff des Geistes sowohl eine Erweiterung wie eine Relativierung. Denn das Leben läßt keine Systematisierung anhand eines gleichbleibenden Prinzips mehr zu. Die Veränderungen im Lebenszusammenhang können nicht wie die Geschichte des objektiven Geistes als ein notwendiger, vernünftig verlaufender Entwicklungsprozeß gedacht werden. Mit dem Verlust der universalgeschichtlichen Entwicklungskategorie fallt, wie Dilthey ganz deutlich sieht, die Möglichkeit eines zukunftsgewissen, harmonischen Welt- und Geschichtsbildes. Deshalb müsse eine „heutige Analyse" uns alle „mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Triebes, des Leidens an den Dunkelheiten und den Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen", erfüllen. 28 Im Gegensatz zu den metaphysisch begründeten Geschichtssystemen und deren Fortschrittsvertrauen hat ein vom Leben selbst ausgehendes Geschichtsverständnis die von Dilthey nachdrücklich herausgestellte „Kor26 27 28
Wilhelm Dilthey: Der A u f b a u d. gesch. Welt, S. 150. Ebd., S. 256. Ebd., S. 150.
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ruptibilität" des Lebens zu berücksichtigen. Wenn nun allerdings die „beständige Korruptibilität unseres Lebens" 29 , also dessen Hinfälligkeit, Endlichkeit und Brüchigkeit, eine Grundbestimmung des Lebens ist, dann stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eine Orientierung an ihm möglich sein soll. Die Beantwortung dieser Frage, die ja zugleich unserer Leitfrage im Zusammenhang der Thematisierung der Geschichtlichkeitsproblematik entspricht, erfordert ein näheres Eingehen auf Diltheys Begriff des Lebens, auf den geschichtlichen Lebenszusammenhang sowie auf die Kategorien, in denen Leben erfaßbar wird. Diltheys Rekurs auf das Leben selbst als das letzte Fundament der philosophischen Besinnung hat eine Entsprechung in seinem Anliegen, von einer volleren, wirklichkeitsnäheren und zugleich umfassenderen Erfahrung auszugehen. Er formuliert programmatisch: „Der Grundgedanke meiner Philosophie ist, daß bisher noch niemals die gart^e, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde gelegt worden ist, mithin noch niemals die ganze und volle Wirklichkeit." 30 Dieses ganz auf das Diesseits ausgerichtete Programm findet seinen Ausgangspunkt im Leben als der letzten, nicht weiter hinterfragbaren Basis. „Leben" meint dabei nicht nur das individuelle, isolierte Dasein des einzelnen Menschen, sondern zugleich das Subjekt in seinem Weltbezug und im Wechselverhältnis zu den Mitmenschen sowie schließlich die geschichtlichen Objektivationen der Lebenstätigkeit, also ein Überindividuelles. In seinem umfassendsten Sinne bezeichnet „Leben" die menschlich-geschichtliche Wirklichkeit insgesamt. Die einzige Begrenzung des Begriffs besteht in der Einschränkung auf die Menschenwelt. 31 Sein Gegenbegriff ist der Begriff der Natur. Diese bildet das im Vergleich zum Leben gänzlich Andere: „Es scheint uns in der Natur etwas Fremdes zu sein, was wir niemals ganz gefühlsmäßig realisieren können; eine Gesetzmäßigkeit ist in ihr, die mit der Gesetzmäßigkeit unseres Gefühlsverlaufs nichts zu tun hat. Es ist die Kluft, die zwischen uns und der Natur ist, die uns zum Bewußtsein kommt." 32
29 30
31
32
Ebd., S. 72. Wilhelm Dilthey: Weltanschauungslehre — Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie; in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Leipzig/Berlin 1 9 3 1 , S. 175. Vgl. Der Aufbau d. gesch. Welt, S. 228: „Leben ist der Zusammenhang der unter den Bedingungen der äußeren Welt bestehenden Wechselwirkungen zwischen Personen, aufgefaßt in der Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den wechselnden Zeiten und Orten. Ich gebrauche den Ausdruck Leben in den Geisteswissenschaften in der Einschränkung auf die Menschenwelt..." Ebd., S. 58.
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So ergibt sich schon aus dieser Abgrenzung des Lebens- und Geschichtsbegriffs vom Naturbegriff die Unhaltbarkeit aller geschichtsphilosophischen Versuche, mittels des aus der Naturbeobachtung gewonnenen Entwicklungsbegriffs das Ganze der Menschheitsgeschichte begreifen zu wollen. Geschichte und Leben folgen offensichtlich einer „anderen" Rationalität als die Natur. Man kann deshalb, wenn es die Erscheinungen der Geschichte zu begreifen gilt, nicht mehr unkritisch die Erkenntnismittel, wie sie sich im Rahmen der Naturerkenntnis ausgebildet haben, in Anspruch nehmen, sondern muß von den Begriffen und Kategorien ausgehen, wie sie in der letztgegebenen Realität des Lebens vorliegen. Die Einsicht in das unauflösliche Verwobensein der geistesgeschichtlichen Erscheinungen mit der Lebenswirklichkeit macht eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften erforderlich. Es entsteht das Projekt einer in Analogie zu Kants „Kritik der reinen Vernunft" durchgeführten „Kritik der historischen Vernunft". Beantwortet Kants Erkenntnistheorie die Frage, wie eine reine Naturwissenschaft möglich sei, so soll die „Kritik der historischen Vernunft" eine Grundlegung der historischen Wissenschaften des Lebens leisten. In Entsprechung zum Vorbild sucht Dilthey nach den die historische Erkenntnis ermöglichenden Kategorien. Im Unterschied zu den Kategorien der Naturerkenntnis handelt es sich hierbei um Kategorien, die in einem Lebenszusammenhang fundiert sind, also um Lebensbegriffe. Nun sind die Ausdrücke „Lebenskategorie" und „Lebensbegriff in gewisser Hinsicht selbstwidersprüchlich, da die Allgemeinheit und Zeitlosigkeit der Begriffe mit der individuellen, bewegten Lebenswirklichkeit unvereinbar zu sein scheinen: „Zwischen dieser Wirklichkeit und dem Verstand scheint kein Verhältnis des Auffassens möglich, denn der Begriff trennt, was im Fluß des Lebens verbunden ist, er repräsentiert etwas, das unabhängig vom Kopf, der es ausspricht, gilt, also allgemein und immer. Der Fluß des Lebens aber ist überall nur einmal, jede Welle in ihm entsteht und vergeht." 33 Die Aufgabe der Feststellung der Lebenskategorien gleicht damit dem Bemühen, „als sollten in einem beständig strömenden Fluß Linien gezogen werden, Figuren gezeichnet, die standhielten" 34 . Die Überwindung der angedeuteten Schwierigkeit scheint Dilthey gerade dadurch garantiert zu sein, daß das erkennende Individuum und die geschichtliche Wirklichkeit immer schon ineinander verwoben sind. 33 34
Ebd., S. 280. Ebd.
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Im Unterschied zur Naturerkenntnis, in der es um die Erfassung eines Wesensfremden geht, handelt es sich bei den historischen Wissenschaften um die Erkenntnis einer vom Menschen selbst hervorgebrachten Wirklichkeit, also in gewissem Sinne um Selbsterkenntnis. Es ist dem Menschen gar nicht möglich, aus seinem Bezug zur geschichtlichen Wirklichkeit herauszutreten. „Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht nur von außen, sondern es ist in sie verwebt... Es ist nicht möglich, diese Beziehungen abzusondern... Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen." 35 Da der Mensch, „welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht", und da ferner die Erkenntnismittel, also die Sprache und die Begriffe, in denen er denkt, „in der Zeit entstanden..., in ihr herangewachsen" sind, da er also „bis in nicht mehr erforschbare Tiefen" seines Selbst „ein historisches Wesen" ist, darf eine Korrespondenz von Lebensbegriff und Lebenswirklichkeit angenommen werden. 36 Das entscheidende Moment dieser Überlegung besteht darin, daß die Kategorien des Lebens „nicht a priori auf das Leben als ein...Fremdes angewandt werden, sondern daß sie im Wesen des Lebens selber liegen" 37 . Die Lebenskategorien sind nicht äußere, in einem begrifflichen Verfahren erarbeitete Formen, unter denen die Lebenswirklichkeit begriffen wird, sondern es sind Formen des Lebens selbst. Dilthey resümiert diesen Zusammenhang in der Formel: „Leben erfaßt hier Leben..." 38 Damit ist die Frage, wie eine Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit möglich ist, in einer grundsätzlichen Weise beantwortet; unbeantwortet ist allerdings noch die Frage, auf welchem Weg die Kritik der historischen Vernunft zur Auffindung der Kategorien gelangt. Nun kann nach Dilthey der Ausgangspunkt der erkenntnistheoretischen Untersuchung nur in der Erlebniswelt des Individuums liegen. Die Analyse des Lebenszusammenhangs, wie er vom Individuum erfahren wird, legt die zentralen Lebenskategorien frei, die auch für den Aufbau der überindividuellen geschichtlichen Welt konstitutiv sind. Als Grundkategorie stellt sich das Erleben heraus. Der Vorrang dieser Kategorie ist darin begründet, daß das Erlebnis die kleinste Einheit der bewußten Lebenswirklichkeit darstellt. Das Erlebnis ist nicht weiter aufteilbar in den Vorgang des Erlebens
35 36 37 38
Ebd., S. 277 f. Vgl. ebd., S. 278. Ebd., S. 232. Ebd., S. 136.
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auf der einen und dem Objekt des Erlebens auf der anderen Seite. Das Erlebnis steht dem Erlebenden nicht wie ein Objekt gegenüber, sondern „sein Dasein für mich ist ununterschieden von dem, was in ihm für mich da ist". Oder anders ausgedrückt: „Das Bewußtsein von einem Erlebnis und seine Beschaffenheit, sein Fürmichdasein und was in ihm für mich da ist, sind eins..." 39 Damit finden wir das Erlebnis als ein letztes Wirklichkeitsmoment vor, das wir zugleich selbst sind. Es stellt deshalb ein Letztgegebenes dar: Es ist, als was es sich vorgibt, denn wir können es nicht auf eine Wirklichkeit hinter ihm beziehen. In diesem Sinne sagt Dilthey kategorisch: „Das Erleben ist immer seiner selbst gewiß." 40 Eine weiterführende Analyse des Erlebens läßt seine Strukturierung erkennen, insbesondere seinen zeitlichen Charakter, seine Einheitlichkeit, seine immanente Teleologie, seine Zentrierung in sich selbst usw. Sämtliche Kategorien, die aus einer Strukturanalyse des Erlebens resultieren, kennzeichnen zugleich auch das Lebensgeschehen insgesamt und wiederholen sich noch im überindividuellen Geschehen der Geschichte. Es zeigt sich hier eine aufsteigende Linie vom Erlebniszusammenhang als der kleinsten Einheit der Lebenswirklichkeit über den Lebenszusammenhang des Individuums bis zum übergreifenden Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit. Somit kann Dilthey das Erlebnis geradezu als „Urzelle der geschichtlichen Welt" bezeichnen. 41 Im Unterschied zu den von Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" herausgearbeiteten Kategorien der Naturerkenntnis können die Kategorien des Lebens weder auf eine bestimmte Anzahl begrenzt noch in eine logische Ordnung gebracht werden, denn es handelt sich bei ihnen nicht um abstrakte Denkformen, sondern um „die strukturellen Formen des Lebens selbst", also um Formen, deren Zahl und Ordnung vom konkreten Lebenszusammenhang mitbestimmt sind. Solche Kategorien des Lebens sind etwa: Zusammenhang, Ganzes und Teile, Struktur, Zeitlichkeit, Bedeutung, Bedeutsamkeit, Wert, Zweck, Kraft, Wirken und Leiden, Entwicklung, Gestaltung, Ideal, Wesen usw. 42 Diltheys Idee einer Fundierung der Geschichte in der geschichtlichen Lebenswirklichkeit bedeutet eine Absage an die Versuche einer rationalen Geschichtskonstruktion, die er alle als „metaphysisch" ablehnt. Denn das 39 40 41 42
Ebd., S. 139. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 161. Vgl. ebd., S. 203, 231, 253, 262 sowie Otto Friedrich Bollnow: Dilthey rung in seine Philosophie, Leipzig/Berlin 1936, S. 1 2 2 f f . , insbes. S. 123.
Eine Einfüh-
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historische Bewußtsein kommt nicht um die Feststellung der geschichtlichen Bedingtheit der verschiedenen Geschichtskonzeptionen und ihrer metaphysischen Grundlagen herum. „Das historische Bewußtsein erweist immer deutlicher die Relativität jeder metaphysischen oder religiösen Doktrin, die im Verlauf der Zeiten aufgetreten ist." 43 Das historische Bewußtsein führt damit folgerichtig zum „Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Uberzeugungen" 44 . Das Faktum einer anarchischen Vielfalt philosophischer Systeme hat seinen Grund in der „Mehrseitigkeit des Lebens". Wenn nun das Leben selbst mehrseitig ist, dann ist es grundsätzlich unmöglich, ein letztes, widerspruchsloses philosophisches System aufzubauen. Der „Mehrseitigkeit der Lebendigkeit" 45 entspricht eine Mehrzahl gleich berechtigter Weltanschauungen. Dilthey spricht in diesem Zusammenhang von einer „Insuffizienz im Verhältnis zur Mehrseitigkeit des Lebens" 46 . An die Stelle der Begründung eines abschließenden philosophischen Weltbildes tritt nur noch die Möglichkeit des Vergleichs und der Typisierung der verschiedenen Weltanschauungen. Es zeichnet sich sodann eine „Ordnung der Weltanschauungen" ab, „welche die Mehrseitigkeit der Wirklichkeit für unseren Verstand in verschiedenen Formen aussprechen, die auf Eine Wahrheit hinweisen. Diese ist unerkennbar" 47 . Diltheys Bewertung des Faktums der geschichtlichen Relativität aller philosophisch-weltanschaulichen Standpunkte schwankt zwischen einer positiven Beurteilung, die auf den dadurch erzielten Gewinn an Freiheit verweist, und einer negativen Einschätzung, die sich bis zur Klage über die Endlichkeit und „Korruptibilität" des Lebens steigert. 48 Trotz dieser ambivalenten Stellungnahme gegenüber der Endlichkeit und Relativität jeder geschichtlichen Erscheinung wird das Faktum selbst von Dilthey nie in Frage gestellt. Wenn also überhaupt eine Auflösung des Relativismus43 44 45 46 47 48
Weltanschauungslehre, S. 198. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd., S. 54. Ebd., S. 223. Vgl. etwa: „Die Geschichte macht uns frei, indem sie uns über die Bedingtheit des aus unserem Lebensverlauf entstandenen Bedeutungsgesichtspunktes erhebt" (Der Aufbau d. gesch. Welt, S. 252). A n anderer Stelle wiederum betont Dilthey, das historische Bewußtsein erweise immer deutlicher „die Relativität jeder metaphysischen oder religiösen Doktrin, die im Verlauf der Zeiten aufgetreten ist". Es scheint ihm deshalb „im menschlichen Erkenntnisstreben selbst etwas Tragisches zu liegen, ein Widerspruch zwischen Wollen und Können". Anschließend hebt er den „Schmerz der Leere", das „Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Überzeugungen" und die „Unsicherheit über die Werte und Ziele des Lebens" hervor (Weltanschauungslehre, S. 198; vgl. auch S. 75 ff.).
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problems möglich sein soll, dann ist sie nur geschichtsimmanent — und das heißt ja zugleich: lebensimmanent — vorstellbar. Wenn Dilthey trotz aller Einsicht in die Relativität an der Objektivität historischer Erkenntnis festhält, dann aus der dargelegten Überlegung heraus, daß eine Fundierung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis in den Urerlebnissen des Individuums möglich ist. Die Rückführung der „historischen Vernunft" auf die letzten, nicht weiter hinterfragbaren Grundtatsachen des Lebens ergibt einen Bestand an Kategorien, die nach Dilthey eine objektive Ordnung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit in gleichbleibende Funktionen und Strukturverhältnisse sowie in wiederkehrende Typen erlauben. Wiederum anders stellt sich das Problem des Relativismus, wenn es die Frage nach der Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit philosophischer Orientierungsbemühungen betrifft. Können auch die philosophischen Wert- und Sinnfragen auf die Grundmomente des Lebens selbst zurückgeführt werden und von daher eine allgemeingültige Auflösung finden? Lassen sie sich überhaupt lebensimmanent beantworten? Wie soll eine Grundlegung der Philosophie in den Tatsachen des Lebens gelingen, wenn doch das Leben durch „Korruptibilität" und Endlichkeit gekennzeichnet ist? — Demgegenüber kann Dilthey darauf verweisen, daß ein anderes Vorgehen nicht einmal vorstellbar ist, da doch selbst noch die Philosophie sich als eine Objektivation des Lebens zu erkennen gibt. 49 Neben dieses logische Argument tritt nun allerdings als zweites die Überzeugung, daß das Leben in sich selbst bedeutungs- und sinnhaft ist.
3. Entwicklung als Kategorie des Lebens Nach dem Verlust des metaphysischen Rahmens und nach der Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der verschiedenen philosophischen Positionen zeigt sich als eine letzte Möglichkeit rationaler Sinn- und Wertbe49
H.-G. Gadamer hat im Dilthey-Kapitel von „Wahrheit und Methode" die Unanfechtbarkeit der lebensphilosophischen Position in erhellender Weise dargestellt: „Der Zusammenhang von Leben und Wissen ist also nach Dilthey eine ursprüngliche Gegebenheit. Das macht Diltheys Position gegen alle Einwände unangreifbar, die von der Philosophie aus und insbesondere mit Argumenten der idealistischen Reflexionsphilosophie gegen den historischen .Relativismus' gerichtet werden können." Denn die philosophische Besinnung denkt hier „das Leben selbst zu Ende, indem sie auch noch die Philosophie als eine Objektivation des Lebens versteht" (S. 223).
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gründung der Rekurs auf die Geschichte selbst. Dies ist bereits die Leitidee der klassischen Geschichtsphilosophien gewesen. Aber die fortgeschrittene historische Weltansicht läßt auch diesen Ausweg nicht mehr zu, da die Orientierung an der Geschichte die Erkenntnis der teleologischen Entwicklungsstruktur der Universalgeschichte zur Voraussetzung hat und diese Voraussetzung sich ihrerseits als historisch bedingt herausstellt. Die teleologische Betrachtung der Welt und der Geschichte, so stellt Dilthey fest, „ist als eine auf einer einseitigen, nicht zufalligen, aber teilweisen Ansicht des Lebens beruhende Metaphysik erkannt" 50 . Und dennoch kann nur die Geschichte, d.h. das Leben, ein möglicher Ausgangspunkt für die philosophischen Begründungsverfahren sein. Denn es gibt nicht mehr wie früher den Weg von der Welt zur Erfassung des Lebens, sondern nur noch den „Weg von der Deutung des Lebens zur Welt. Und das Leben ist nur da in Erleben, Verstehen und geschichtlichem Auffassen". „Wir tragen", so erläutert Dilthey seinen historistischen Standpunkt, „keinen Sinn von der Welt in das Leben. Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen. Aber nicht im Einzelmenschen, sondern im geschichtlichen Menschen. Denn der Mensch ist ein Geschichtliches..." 51 Sinn und Bedeutung lassen sich also nicht aus dem Entwicklungsganzen der Geschichte ableiten, sondern liegen stets schon in den gelebten geschichtlichen Zusammenhängen vor. Das Leben realisiert sich in geschichtlich vorgegebenen Sinn- und Wertbezügen. Es erfahrt „einen Zusammenhang des Lebens und der Geschichte, in welchem jeder Teil eine Bedeutung hat. Wie die Buchstaben eines Wortes haben Leben und Geschichte einen Sinn. Wie eine Partikel oder Konjugation gibt es syntaktische Momente in Leben und Geschichte, und sie haben eine Bedeutung" 52 . Die geschichtsphilosophische Aufgabe kann folglich nicht in der spekulativen Konstruktion bestehen, sondern nur darin, in engster Zusammenarbeit mit der historischen Einzelforschung die vorliegenden Sinnzusammenhänge und Wertbezüge zu begrifflicher Deutlichkeit und systematischer Klarheit zu bringen. Die Antworten auf die philosophischen Fragen gehen somit aus dem geschichtlichen Leben selbst hervor; die Philosophie bringt die von der Geschichte vorformulierten Antworten lediglich zur Artikulation. Aus „Erleben, Verstehen, Poesie Der Aufbau d. gesch. Welt, S. 291. 51 Ebd. 52 Ebd. 50
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und Geschichte" entsteht, so sagt Dilthey, „eine Anschauung des Lebens. Sie ist in und mit diesem immer da. Die Besinnung erhebt sie nur zu analytischer Deutlichkeit und Klarheit" 53 . Sinn und Bedeutung der Geschichte liegen nicht in einem künftigen Telos und nicht in einer bestimmten Gesetzmäßigkeit des Fortgangs, denn das Geschichtsgeschehen hat kein letztes Ziel und folgt keiner bestimmten Regelmäßigkeit. Dennoch verläuft die Geschichte in sich sinnhaft, indem sie sich immer wieder von neuem um eine Mitte zentriert und sich zu übergreifenden Entwicklungszusammenhängen organisiert. Damit erweist sich der Begriff der Entwicklung als eine für den Aufbau der geschichtlichen Welt konstitutive Kategorie. Wie im individuellen Leben, so ist auch in der Geschichte Entwicklung nur dadurch möglich, daß die „Korruptibilität jedes Vorgangs" durch einen inneren Zusammenhang des zeitlich Getrennten überwunden und das Frühere mit dem Späteren zu einer inneren Einheit verbunden wird. Diesen „von innen bestimmten Zusammenhang im Lebensverlauf, der den rastlosen Fortgang zu Veränderungen bestimmt," nennt Dilthey Entwicklung. 54 Folglich bedeutet Entwicklung in der Geschichte die sich in der Gegenwart vollziehende Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft zu einer sinnhaften Einheit: „So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich. Dies ist der Sinn des Wortes ,Entwicklung' in den Geisteswissenschaften." 55 In dieser Weise hat der Entwicklungsbegriff auch noch bei Dilthey seine die Zeitlichkeit und Endlichkeit abmildernde Funktion ebenso wie seine sinnstiftende Bedeutung bewahren können. Obwohl nach Dilthey dieser Begriff sich von den „spekulativen Phantasien eines Fortgangs zu immer höheren Stufen" 56 stark unterscheidet und obwohl ihm jeglicher Fortschrittscharakter fehlt 57 , meint er doch gerade mehr als 53
54 55 56 57
Ebd. — Dazu ist ein anderes aufschlußreiches Nachlaßfragment zu vergleichen (ebd., S. 290): „Der Weg, den ich einschlage, ist durch folgende Sätze bestimmt: 1. Aus dem Leben ergibt sich der Wertbegriff. 2. Der Maßstab für jedes Urteil usw. ist in den relativen Wert-, Bedeutungs- und Zweckbegriffen von Nation und Zeitalter gegeben. 3. Die Aufgabe ist darzulegen, wie sich diese zu etwas Absolutem erweitert haben. 4. Zusammengefaßt heißt dies die vollständige Anerkennung der Immanenz auch der als unbedingt auftretenden Werte und Normen im geschichtlichen Bewußtsein." Ebd., S. 244 f., vgl. S. 325. Ebd., S. 232. Ebd., S. 245. Vgl. ebd., S. 253.
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bloße Veränderung, nämlich einen Zweckzusammenhang. Zwar weist Dilthey nachdrücklich darauf hin, daß der Begriff der Entwicklung eine Kategorie des Lebens selbst und keine Naturkategorie sei und er es deshalb nicht erlaube, „daß wir auf das Leben des Individuums oder der Nation, der Menschheit den Begriff eines Zweckes anwenden können, der sich hier realisiert; dies wäre eine dem Gegenstand jenseitige Betrachtungsweise, die auch abgelehnt werden könnte"; vielmehr bezeichne dieser Begriff „nur das dem Leben einwohnende Verhältnis". 58 Es sind somit nicht äußere, sondern dem Leben immanente Zwecke, die sich in den Entwicklungsvorgängen des Lebens und der Geschichte realisieren und diesen eine unumkehrbare Richtung, eine bestimmte Tendenz, eine zunehmende Differenzierung usw. verleihen. 59 Entwicklung bedeutet demnach Entwicklung zur gestalteten Einheit 60 , d.h. den Herausbildungsprozeß von Gestaltungen und Formungen im Rahmen eines geschichtlichen Wirkungszusammenhangs. Und da in den geschichtlichen Geschehenszusammenhängen sämtliche dabei auftretenden Wertgesichtspunkte entwicklungsimmanent sind, kann trotz des teleologischen Verlaufscharakters solcher Prozesse keinem Entwicklungsstadium ein Vorrang vor einem anderen zukommen. 61 Wenn das universalgeschichtliche Entwicklungsdenken aus dem Grund aufgegeben werden muß, daß es dem Faktum der Geschichtlichkeit des Lebens widerspricht, da die Geschichtlichkeit gerade auch die Systematisierungsversuche anhand des zeitlosen Entwicklungsschemas in Frage stellt, dann müssen die geschichtsphilosophischen Orientierungsbemühungen beim Faktum der Geschichtlichkeit selbst einsetzen. Dies ist die Grundidee der Diltheyschen Fundierung der Geschichte in der Geschichtlichkeit des Daseins und in dessen Kategorien. Zu den Kategorien des geschichtlichen Daseins — des Lebens, wie Dilthey sagt — zählt nun auch der Begriff der Entwicklung. Die Kategorie der Entwicklung, die sich aus einer Analyse des Lebens selbst ergibt, bringt zum Ausdruck, daß Leben sich immer schon in einheitlichen Entwicklungszusammenhängen realisiert. So ist es gerade das Faktum der Geschichtlichkeit des Lebens wiederum, das Entwicklung als 58 59 60
61
Vgl. ebd., S. 232. Vgl. ebd., S. 245. Vgl. Ludwig Landgrebe: Das Problem der Geschichtlichkeit des Lebens und die Phänomenologie Husserls; in: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1968, S. 20. Vgl. Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie; in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1924, S. 2 1 8 ff.
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geschichtsphilosophische Kategorie begründet und legitimiert, obwohl dasselbe Faktum der Geschichtlichkeit der Entwicklungskategorie jeden Anspruch auf universalgeschichtliche Geltung nimmt. Die kategoriale Gleichsetzung von individueller Lebens- und überindividueller Geschichtswirklichkeit hat ihre Rechtfertigung in der Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Menschen. Diese besteht nach Dilthey nicht etwa nur in der Tatsache, daß der Mensch eine Geschichte hat, sondern primär darin, daß er seinem Wesen nach selbst geschichtlich ist. Der Mensch kann deshalb nicht länger als übergeschichtliche Möglichkeit verstanden werden, da er in seinem ganzen Wesen ein Geschichtliches darstellt. Was er selbst ist, kann er darum auch nicht durch Selbstreflexion erhellen, sondern nur aus der Geschichte erkennen: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte." 62 Eine andere Fassung dieses von Dilthey oft wiederholten Gedankens lautet sogar: „Die Totalität der Menschennatur ist nur in der Geschichte." 63 Dies bedeutet nichts anderes, als daß das Wesen des Menschen der geschichtlichen Variabilität unterworfen ist, daß also die menschliche Seinsweise selbst geschichtlich ist. Wiederum bestätigt sich, daß das letzte Fundament der philosophischen Besinnung nicht ein Außergeschichtliches sein kann, etwa die als gleichbleibend vorgestellte „Natur" des Menschen, sondern immer nur das Leben, d.h. die Geschichte. Darin liegen Wert und philosophische Bedeutung einer Beschäftigung mit der Geschichte begründet. „Alle letzten Fragen nach dem Wert der Geschichte haben schließlich ihre Lösung darin, daß der Mensch in ihr sich selbst erkennt. Nicht durch Introspektion erfassen wir die menschliche Natur." 64 So hat Dilthey eine durchaus neuartige Konzeption von Geschichtlichkeit vorgelegt, die ein grundsätzlich neues Verständnis von Mensch und Geschichte bedeutet. Die Geschichte erweist sich nun als der letzte und absolute Bestimmungsgrund menschlichen Daseins. Wenn der Mensch in diesem Ausmaß der Geschichte ausgeliefert ist, dann bleibt der philosophischen Besinnung nur noch ein Weg offen, nämlich der Weg der Bewußtmachung und rationalen Durchdringung der geschichtlichen Situationen. So kommt es denn auch, daß die Relativismusfrage, von der wir zunächst ausgegangen sind, gar nicht mehr so recht in den Rahmen dieser radikalen 62 63 64
Ges. Schriften, Bd. 8, S. 224. Ebd., S. 166. Der Aufbau d. gesch. Welt, S. 250.
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Auffassung der Geschichtlichkeit passen will. Denn wenn das Leben, d.h. die Geschichte, das letzte Fundament philosophischer Orientierung bezeichnet und keine andere Instanz vorstellbar ist, dann stellt sich das Relativismusproblem als irrelevant heraus. Die Frage, ob der historistische Standpunkt nicht notwendigerweise den Relativismus zur Konsequenz haben müsse, ist nur berechtigt, wenn sie von einer geschichtsenthobenen Position aus gestellt wird; sie hat also bereits die Annahme einer außer- oder übergeschichtlichen Instanz zur Voraussetzung. Wird diese Voraussetzung aber aufgegeben, dann läßt sich das Relativismusproblem nicht einmal mehr sinnvoll formulieren.
II. Kapitel: Das Scheitern des Entwicklungsdenkens II: die Geschichtlichkeit des Menschseins „Unser Horizont schließt sich nicht ab mit inhaltlich erfüllten Bildern. Das für uns philosophisch Letzte sind Formen unserer Haltung, sind Angaben eines Ziels, das selbst nur als Form gedacht ist, und die Wahrheiten, die nur in Ansätzen erfahren werden, sind nicht fremde Unmöglichkeiten, sondern zu sprechen beginnende Möglichkeiten, wenn diese auch ständig wieder zu versinken scheinen." 65 (K. Jaspers)
1. Martin Heidegger:
die Geschichtlichkeit
des Daseins
Wie Dilthey gezeigt hat, läßt sich das Problem der Geschichte nicht durch eine in direkter Einstellung durchgeführte Analyse des Geschichtsgeschehens klären, sondern nur durch eine Rückbesinnung auf die Grundstrukturen des Lebens selbst. So wird die Untersuchung der Geschichte und der Geschichtlichkeitsproblematik umgebogen in eine Selbstauslegung des Lebens. Martin Heidegger greift den Dilthey sehen Ansatz auf und weitet ihn zugleich zum Grundprinzip der Fundamentalontologie des Daseins aus: Alles Verstehen von Seiendem gründet in der Selbstauslegung des Daseins. Heideggers Ausgehen vom Dasein, also vom Subjekt, darf aber nicht im Sinne des subjektivistischen Ansatzes der neuzeitlichen Tradition verstanden werden, denn das Subjekt, wie Heidegger es thematisiert, ist nicht mehr das formale Ich oder Selbst, sondern das welthafte und geschichtsbezogene Dasein in seiner konkreten Seinsverfassung. 66 Man kann deshalb 65 66
Karl Jaspers: Von der Wahrheit, München 1947, S. 979. D a r a u f h a t besonders nachdrücklich F.-W. von Herrmann hingewiesen. Um den Grundgedanken von Heideggers philosophischem Ansatz beim Dasein richtig zu sehen, so führt
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
die daseinsanalytischen Untersuchungen von „Sein und Zeit" auch als Versuch einer Überwindung der traditionellen „theoretischen" Einstellung gegenüber dem Untersuchungs-„objekt" lesen. 67 Das neu gewonnene Verständnis für das unauflösliche Verflochtensein des Denkens in das Geschichtliche — und das heißt zugleich: in die Wirklichkeit des Lebens — macht es notwendig, vom Leben in seiner Tatsächlichkeit auszugehen. Wenn der Ursprung in der faktischen Daseinssituation zu sehen ist, dann bleibt nur noch eine Vorgehensweise möglich, nämlich die Methode einer Selbstauslegung des faktischen Lebens. Damit ist auch bereits über den Ort einer Thematisierung des Geschichtsproblems entschieden. Denn er kann nicht, wie Heidegger ausführt, in der Historie als der Wissenschaft von der Geschichte liegen; und zwar selbst dann nicht, wenn sich die „wissenschaftstheoretische Behandlungsart des Problems der .Geschichte'" auch tatsächlich auf die „Gegenstandsseite" richtet und nicht nur auf die erkenntnistheoretische Klärung des historischen Erkennens — wie bei Simmel — oder die Logik historischer Begriffsbildung — wie bei Rickert — abzielt. In allen diesen Fragestellungen wird nämlich „die Geschichte grundsätzlich immer nur als Objekt einer Wissenschaft zugänglich". Damit ist aber das „Grundphänomen der Geschichte, das einer möglichen Thematisierung durch die Historie voraus und zugrunde liegt..., unwiederbringlich auf die Seite gebracht". Die jeder denkbaren geschichtswissenschaftlichen Fragestellung vorausliegende Frage, wie Geschichte überhaupt „möglicher Gegenstand der Historie werden kann..., läßt sich nur aus der Seinsart des Geschichtlichen, aus der Geschichtlichkeit und ihrer Verwurzelung in der Zeitlichkeit entnehmen". 68 Das Problem der Geschichtlichkeit stellt sich Heidegger im Zusammenhang seiner Frage nach dem Sinn von Sein. Diese ist seine Ausgangsfrage;
67
68
von Herrmann aus, komme „alles darauf an zu verstehen, daß die Seinsverfassung des Menschen, wenn sie als Dasein bezeichnet wird, gerade nicht mehr innerhalb der Grenzen des Selbst und des Ich, sondern aus dem Bezug des seinsverstehenden Menschen zum Sein als solchem der Ganzheit des Seienden zur Abhebung kommt" (Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Subjekt und Dasein — Interpretationen zu „Sein und Zeit", Frankfurt a. M. 1974, S. 10). Vgl. Otto Pöggeler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 1983, S. 153: „In ,Sein und Zeit' sucht Heidegger die überlieferte theoretische' Einstellung des Denkens zu distanzieren, jene Einstellung, für die die Wahrheit Entdecktheit des Seienden für ein unvoreingenommenes Sehen oder, von diesem Sehen her gedacht, die Richtigkeit der Anmessung an ein ständiges Sein von Seiendem ist." Martin Heidegger: Sein und Zeit, 12., unveränd. Aufl., Tübingen 1972, S. 375.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
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und sie ist zugleich jene Frage, die die Geschichte der Philosophie seit ihren Anfangen bestimmte, ohne doch seit Piaton und Aristoteles je wieder eine ausdrückliche Thematisierung zu finden. Man blieb bei der Feststellung der verschiedenen Bedeutungen, die der Ausdruck „Sein" annehmen kann, stehen, ohne danach zu fragen, wie die Einheit der unterschiedlichen Seinsbedeutungen zu denken sei. Heidegger versteht die Frage nach dem Sinn von Sein als Frage nach dem Einheitsgrund der variierenden Bedeutungen von Sein. Auf diese Frage fehlt jedoch nicht nur eine Antwort, sondern die Frage selbst sei, wie Heidegger bemerkt, „dunkel und richtungslos"; die Wiederholung der Seinsfrage erfordere deshalb zuerst einmal eine zureichende Ausarbeitung der Fragestellung. 69 Aber wie ist zu beginnen? — Die Frage nach dem Sinn von Sein kann nun überhaupt nur deswegen als Frage gefaßt werden und Vordringlichkeit gewinnen, weil wir uns immer schon in einem Seinsverständnis bewegen, ohne doch schon über eine geeignete Begrifflichkeit für die Artikulation der Frage zu verfügen. Dieses „durchschnittliche und vage Seinsverständnis" stellt ein allgemeinmenschliches Faktum dar. 70 Es bildet zugleich den einzigen möglichen Ansatzpunkt für die Auseinandersetzung mit der Seinsfrage. Deren Entfaltung hat demnach vom seinsverstehenden Dasein auszugehen. Das Dasein, das sich dem Sein gegenüber verhält und darum über ein gewisses Seinsverständnis verfügt und aus diesen beiden Gründen schließlich auch die Seinsfrage zu stellen vermag, hat somit einen ontologischen Vorrang vor allem anderen Seienden. Es erweist sich als das primär zu Erfragende. 71 Dies soll in der existenzialen Analytik des Daseins geschehen. Damit erweist sich die spezielle Interpretation „eines bestimmten Seienden, des Daseins, darin der Horizont für Verständnis und mögliche Auslegung von Sein gewonnen werden soll", als der Denkweg zum Sein. Dieser führt in seinem ersten Teil zur „Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit" und zur „Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein" und in seinem zweiten Teil zu einer „phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität". Der erste Teil zerfällt in drei Abschnitte: „1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins. 2. Dasein und Zeitlichkeit. 3. Zeit und Sein." 72 Dieser 3. Abschnitt wie 69 70 71 72
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
ebd., ebd., ebd., ebd.,
S. S. S. S.
4. 5. 13. 39.
318
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
auch der ganze zweite Teil von „Sein und Zeit" sind von Heidegger nicht veröffentlicht worden. Dies bezeugt, daß Heidegger mit dem Versuch, den Sinn von Sein von der Zeit her zu denken, gescheitert ist. Der großangelegte Entwurf ist im wesentlichen nicht über die vorbereitenden Analysen der Zeitlichkeitsstrukturen des Daseins hinausgekommen. Im Zusammenhang der vorliegenden Thematik interessiert vor allem der zweite Abschnitt des ersten Teils, in dem das Dasein auf seine Zeitlichkeit hin ausgelegt werden soll. Ohne nun auf die Herleitung und Begründung näher eingehen zu können, sei nur an das Ergebnis erinnert, daß Heidegger den Sinn des Seins von Dasein als Zeitlichkeit bestimmt. Die Analyse der Zeitlichkeit führt dann weiter zur Geschichtlichkeit als deren ursprünglichem Wesen. Die Geschichtlichkeit gibt sich damit als die entscheidende Zeitigungsweise von Zeit zu erkennen. „Der existenziale Entwurf der Geschichtlichkeit des Daseins bringt nur zur Enthüllung, was eingehüllt in der Zeitigung der Zeitlichkeit schon liegt." 73 Das Wesen der Geschichtlichkeit kann folglich nur aus einer vertieften Analyse der Zeitlichkeitsstrukturen des Daseins erhellt werden. Es soll nun in sechs Punkten ein erster Überblick über das Problem der Geschichtlichkeit, wie es von Heidegger entfaltet wird, gegeben werden. 1. Wenn sich nach Heidegger ein ursprüngliches Verständnis von Geschichtlichkeit nur aus der Thematisierung der Zeitlichkeit des Daseins gewinnen läßt, so bedeutet dies, daß das Dasein nicht deswegen geschichtlich ist, weil es sich immer schon in einer Geschichte befindet, sondern weil es selbst von zeitlicher Seinsart ist. „Die Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins versucht geigen, daß dieses Seiende nicht ¡zeitlich' ist, weil es ,in der Geschichte steht', sondern daß es umgekehrt geschichtlich nur existiert und existieren kann, weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist,"74 Die Daseinsbestimmung der Geschichtlichkeit liegt jedem möglichen Geschichtsgeschehen voraus, und zwar als Bedingung seiner Möglichkeit. Geschichtlichkeit meint „die Seinsverfassung des ,Geschehens' des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst so etwas möglich ist wie ,Weltgeschichte' und geschichtlich zur Weltgeschichte gehören" 75 . Der Mensch ist also nicht deswegen geschichtlich, weil er sich in einer Geschichte befindet, sondern er befindet sich in einer Geschichte, weil er seinem Sein nach selbst geschichtlich ist. Was Geschichte ist, läßt sich darum erst in der Rückwen-
73 74 75
Ebd., S. 376. Ebd. Ebd., S. 20.
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dung auf das Dasein und die Analyse seiner Geschichtlichkeit begreifen. Die Geschichte erweist sich als in der Geschichtlichkeit des Menschen fundiert, da nur dieser, wie Heidegger in einer Vorlesung des Wintersemesters 1937/38 nochmals hervorhebt, geschichtlicher Seinsart ist: „Das Geschehen als Art und Weise zu sein eignet nur dem Menschen. Der Mensch hat Geschichte, weil er allein geschichtlich sein kann, d.h. in jenem offenen Bereich von Zielen, Maßstäben, Antrieben und Mächten stehen kann und steht, indem er ihn aussteht und besteht in der Weise des Gestaltens, Lenkens, Handelns, Austragens und Duldens. Nur der Mensch ist geschichtlich — als jenes Seiende, das, ausgesetzt dem Seienden im Ganzen, in der Auseinandersetzung mit diesem Seienden sich freistellt in die Notwendigkeit. Alles nichtmenschliche Seiende ist geschichtslos, kann aber in einem abgeleiteten Sinne geschichtlich sein und ist dies notwendig, sofern es in den Umkreis jener Auseinandersetzung des Menschen mit dem Seienden gehört." 76 2. Durch diese Feststellung des ontologischen Vorrangs der Geschichtlichkeit vor der Geschichte wird die Aussage, daß das Dasein sich immer schon in einer geschichtlichen Situation befindet und immer schon eine Geschichte „hat", nicht etwa in Frage gestellt, sondern zugleich unterstrichen: Weil Dasein geschichtlich ist, ist es stets in das Geschichtsgeschehen verwoben. Die, wie Heidegger sagt, „vulgäre" Geschichtsauffassung behält daher „in ihren Grenzen" ihr Recht. 77 Das Dasein ist primär geschichtlich im Unterschied zum innerweltlich und innerzeitlich Begegnenden, das sekundär geschichtlich ist. 78 Oder anders ausgedrückt: weil das Dasein das im primären Sinne Geschichtliche ist, erfahrt es sich in seiner Gegenwart durch das sekundär Geschichtliche, durch das Geschehen der Vergangenheit also, bestimmt. „Das Dasein ist je in seinem faktischen Sein, wie und ,was' es schon war. Ob ausdrücklich oder nicht, ist es seine Vergangenheit." 79 Der Mensch unterliegt in seiner jeweiligen Gegenwart immer schon dem ihm weitgehend verborgen bleibenden und nie restlos aufdeckbaren Einfluß der fortwirkenden Vergangenheit, die ihn ebenso prägt wie die mit dem Vergangenen untrennbar verbundenen Vorstellungen und Entwürfe möglicher Zukunft. In der jeweiligen Gegenwart verschmelzen 76
77 78 79
Martin Heidegger: Grundfragen der Philosophie — Ausgewählte „Probleme" der „Logik", Freiburger Vorlesung, Wintersemester 1937/38, hrsg. von F.-W. von Herrmann; in: Gesamtausgabe, Bd. 45, Frankfurt a. M. 1984, S. 36. Vgl. ebd., S. 377 f. Vgl. ebd., S. 381. Ebd., S. 20.
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Vergangenheit und Zukunft zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Nun wechselt aber mit der Gegenwart auch die jeweilige Vergangenheit und Zukunft, so daß das Dasein sich ändernden Traditionen und Zukunftsbildern unterworfen ist. 3. Die Geschichtlichkeit bedeutet darum drittens auch, daß das Dasein stets in „eine überkommene Daseinsauslegung hinein- und in ihr aufgewachsen" ist. Der überkommene Horizont ist daseinsbestimmend, er eröffnet einen vorgegebenen Bestand an Möglichkeiten und verschließt andere. Die jeweilige Tradition , folgt dem Dasein nicht nach, sondern geht ihm je schon vorweg" 8 0 . In diesem Ausgeliefertsein an eine jeweilige geschichtliche Situation besteht die Faktizität des Daseins. Die Geschichtlichkeit erweist sich somit als eine Weise des „In-der-Welt-seins": Der Mensch als geschichtliches Wesen befindet sich immer schon in einer bestimmten Lage, die er als seine geschichtliche Situation begreift oder doch zu begreifen sich bemühen kann. Diese Situation ist nicht als ein Inbegriff objektiver Gegebenheiten zu verstehen, sondern als die Art und Weise, wie Dasein jeweils existiert. Dazu gehört, daß Geschichte immer schon gedeutet und in einer bestimmten Weise ausgelegt ist. Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Selbstverständnis und der jeweiligen historischen Selbstdeutung. J a es läßt sich sogar formulieren, daß je nach der Art und Weise, wie der Mensch sich in seiner geschichtlichen Situation und in seinen darin begründeten Möglichkeiten versteht, abhänge, was für ein Mensch er sei. 4. Heidegger unterscheidet konsequent zwischen „Historie" sowie „historisch" zur Bezeichnung der „historia rerum gestarum" und „Geschichte" sowie „geschichtlich" zur Bezeichnung der „res gestae" selbst. Beide, Historie wie Geschichte, sind nur möglich unter der Bedingung der Geschichtlichkeit des Daseins. Nun existiert das Dasein auch dann geschichtlich, wenn ihm sein Verwobensein in die Geschichte verborgen bleibt und es die in der historischen Forschung sich bietende Möglichkeit einer ausdrücklichen Thematisierung seiner Geschichtsabhängigkeit ungenützt läßt. Das Fehlen einer Historie ist demnach, wie Heidegger bemerkt, „kein Beweis gegen die Geschichtlichkeit des Daseins, sondern als defizienter Modus dieser Seinsverfassung Beweis dafür. Unhistorisch kann ein Zeitalter nur sein, weil es geschichtlich' ist" 8 1 .
80 81
Ebd. Ebd.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
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5. Die Frage nach dem Sinn von Sein, Heideggers Grundfrage, erfordert eine vorgängige Explikation des Daseins. Diese zeigt das Dasein in seiner Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Wenn nun das Dasein sich seiner Geschichtlichkeit bewußt wird, dann wird nach Heidegger die Einsicht unumgänglich, daß „das Fragen nach dem Sein, das hinsichtlich seiner ontisch-ontologischen Notwendigkeit angezeigt wurde..., selbst durch die Geschichtlichkeit charakterisiert" 82 ist. Die Ausarbeitung der Seinsfrage sieht sich damit genötigt, „historisch zu werden, um sich in der positiven Aneignung der Vergangenheit in den vollen Besitz der eigensten Fragemöglichkeiten zu bringen" 83 . 6. Geschichtlichkeit ist eine allgemeine Seinsweise des sich um sich sorgenden Daseins. Dies bedeutet, daß es sich immer schon in einem bestimmten Traditionszusammenhang befindet, wozu auch die jeweils maßgebenden Zukunftsbilder gehören. Die Traditionsgebundenheit läßt sich nicht überspringen, das Dasein kann sich aber ihr gegenüber verschieden verhalten. Zur Situation, in die der Mensch hineingeboren wird, gehört wesentlich eine mehr oder weniger präzis bestimmte Geschichtsdeutung in einem geschichtsphilosophischen Sinne. Der Mensch als Gemeinschaftswesen lebt immer schon in einer vorgegebenen Auslegung der Geschichte. Somit liegt in der zeitlichen Struktur des Daseins selbst der philosophische Sinn einer Auseinandersetzung mit der Geschichte begründet. Der Mensch wird sich seiner selbst erst bewußt in dem Maße, als er sich mit der Geschichte befaßt. Doch diese Forderung muß richtig verstanden werden, denn Geschichte ist kein objektiv vorgegebener Tatbestand, sie ist überhaupt nicht vorhanden im Sinne konkreter Objektivität, sondern sie ist
82 83
Ebd. Ebd., S. 21. — Die Einsicht, daß der Geschichtlichkeitscharakter des Daseins zur Konsequenz hat, daß jede systematische Untersuchung der Ergänzung durch die historische Betrachtungsweise bedarf, ist bereits in Diltheys Neufassung der menschlichen Geschichtlichkeit angelegt. Es sei in diesem Zusammenhang auf die bemerkenswerten Ausführungen Landgrebes darüber verwiesen. Er schreibt: „Es ist die noch längst nicht allgemein verstandene Konsequenz von Diltheys neuer Methode, daß die Trennung von historischer und systematischer Betrachtungsweise in der Philosophie damit im Prinzip aufgehoben ist; denn jede systematische Untersuchung ist...darauf angewiesen, sich des geschichtlichen Horizontes bewußt zu werden, in dem sie darin steht, und der aus der Tradition stammenden Perspektiven, durch die ihre Tragweite begrenzt ist. Andererseits muß jede historische Untersuchung vergangener Weisen des Lebens, sich in der Gestaltung der Gesellschaft, der Religion, der Wissenschaft, der Kunst, der philosophischen Systematik zu objektivieren, ausdrücklich die Grenzen ihrer Verständnismöglichkeiten des Vergangenen mit in Rechnung ziehen, die durch die Situation der verstehenden Gegenwart und ihrer Horizonte gesetzt sind" (Ludwig Landgrebe: Philosophie der Gegenwart, Berlin 1958, S. 98).
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
ein Auszulegendes, wobei der Vorgang der Auslegung zugleich eine Selbstauslegung bedeutet. Es stellt eine eigentliche Daseinsmöglichkeit dar, in bewußter Übernahme der Vergangenheit sich einen Raum möglicher Selbstbestimmung zu eröffnen. In der Art und Weise, wie sich das Dasein die Vergangenheit aneignet, kommen Möglichkeiten zum Ausdruck, die der Faktizität des Daseins entgegengesetzt sind.
2. Die Fundierung der Geschichte in der Geschichtlichkeit
des Daseins
Es kann sich im folgenden nur darum handeln, einige Punkte, die für den Fortgang der vorliegenden Untersuchung besonders wichtig sind, wenigstens in Kürze zu vergegenwärtigen. Heidegger interpretiert die Geschichtlichkeit als eine Weise des „Inder-Welt-seins"; und in dieser Hinsicht ist Geschichtlichkeit Ausdruck der Faktizität des Daseins. Diese wiederum bezeichnet die „Tatsächlichkeit des Faktums Dasein, als welches jeweilig jedes Dasein ist" 8 4 . Welt und Geschichte stellen jenen Wirklichkeitsraum dar, in den Dasein sich je schon eingeschlossen findet und der zugleich sämtliche Daseinsmöglichkeiten vorgibt. Nur innerhalb des durch die faktische Daseinssituation gezogenen Rahmens kann von Möglichkeiten des Menschseins gesprochen werden. Nun darf aber die jeweils vorgegebene Situation des Sichbefindens nicht als ein Bestand objektiver Gegebenheiten vorgestellt werden. So zu denken wäre nur möglich unter der Annahme, daß sich die vorgegebene Lage und das Dasein, das sich — wie man zu sagen pflegt — „in" ihr befindet, voneinander scharf trennen ließen. Die Geschichtserfahrung des modernen Historismus verbietet aber, wie wir gesehen haben, diese Annahme. Heideggers Begriff des In-der-Welt-seins wie auch der Terminus „Geschichtlichkeit" wollen gerade auf die wechselseitige Verschränkung von Dasein und Welt wie auch von Dasein und Geschichte hinweisen. Geschichtliche Situation und jeweiliges Menschsein lassen sich nicht auseinanderdividieren; sie bilden eine Einheit. Deshalb handelt es sich bei der vorgegebenen geschichtlichen Situation erst in zweiter Linie um jene Fakten, die das mögliche Untersuchungsfeld historischer Wissenschaften bezeichnen, primär jedoch um die Vorgabe der Art und Weise, wie der Mensch sich jeweils in seinen Möglichkeiten
84
M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 56.
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versteht, und die nicht wiederum ein Wählbares bildet, da sie überhaupt außerhalb jeglicher Verfügungsmacht des Menschen liegt. Diese Auffassung der geschichtlichen Faktizität des Daseins stellt einen weiteren, wenn nicht sogar den letzten denkmöglichen Schritt in der stets radikaleren Interpretation der Geschichtlichkeit des Menschen dar. Es läßt sich jetzt nicht mehr nur mit Dilthey sagen, daß, was der Mensch ist, sich nicht anders als durch die Geschichte in Erfahrung bringen lasse; vielmehr muß jetzt formuliert werden: Was der Mensch ist, das bestimmt sich durch die Geschichte. Wiederum ist darauf hinzuweisen, daß dieser Satz nicht so verstanden werden darf, als sei der Mensch in seiner jeweiligen Daseinssituation durch die jeweiligen objektiven Gegebenheiten determiniert. Denn was der Mensch ist, hängt davon ab, wie er sich gegenüber dem Vorgegebenen verhält. Das Faktum der Gebundenheit bedeutet nicht zwangsläufig, sich unselbständig und in „uneigentlicher" Daseinsweise der Situation überlassen zu müssen. Dasein ist in seinem Sein modifizierbar, es existiert entweder im Modus der „Eigentlichkeit" oder in dem der „Uneigentlichkeit". Mit diesen Termini bezeichnet Heidegger die beiden Möglichkeiten des Daseins, sich gegenüber dem Vorgegebenen zu verhalten. „Uneigentlichkeit kennzeichnet eine Seinsart, in die das Dasein sich verlegen kann und zumeist auch immer verlegt hat, in die es sich aber nicht notwendig und ständig verlegen muß." 85 Seine eigentlichen Existenzmöglichkeiten ergreift das Dasein erst in der „Entschlossenheit". Diese realisiert sich nur „als verstehend-sich-entwerfender Entschluß". Aber, so ist nun zu fragen, wozu soll sich das Dasein in seiner Entschlossenheit entschließen? Diese Frage vermag nach Heidegger nur der Entschluß selbst zu beantworten. „Es wäre ein völliges Mißverstehen des Phänomens der Entschlossenheit, wollte man meinen, es sei lediglich ein aufnehmendes Zugreifen gegenüber vorgelegten und anempfohlenen Möglichkeiten. Der Entschluß ist gerade erst das erschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit.''1 Damit bleibt das Wozu der Entschlossenheit grundsätzlich unbestimmt und ungewiß. Diese Ungewißheit wird erst im Entschluß selbst überwunden: „Ihrer selbst sicher ist die Entschlossenheit nur als Entschluß." 86 Auf die Frage, woher das Dasein seine eigentlichen Existenzmöglichkeiten gewinnt, gibt Heidegger also eine Antwort, die den Antworten der traditionellen Philosophie widerspricht. Nicht aus einer zeitlosen Wesens85 86
Ebd., S. 259. Ebd., S. 298.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
bestimmung des Menschen, nicht aus dem Naturvorbild und auch nicht aus dem Entwicklungsgang der Menschheitsgeschichte, sondern nur aus der geschichtlichen Vorgabe, der das Dasein immer schon überantwortet ist, kommen die Möglichkeiten, auf die hin das Dasein sich faktisch entwirft. „Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt."87 Oder anders ausgedrückt: in der entschlossenen Übernahme seiner Faktizität — also auch seiner Zeitlichkeit, Endlichkeit und Geschichtlichkeit — kann das Dasein seine eigentlichen Möglichkeiten realisieren. Für das individuelle Dasein bedeutet diese Haltung die entschlossene Annahme seiner Endlichkeit und seines „Schicksals". Mit diesem Terminus bezeichnet Heidegger „das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert"88. Für das Dasein in der Gemeinschaft mit anderem Dasein bedeutet dies die Bereitschaft zur Übernahme des „Geschicks", das das Geschehen der Gemeinschaft bezeichnet. Aber im bloßen Blick zurück läßt sich nicht eigentlich existieren. Erst im Vorblick auf die Zukunft wird das Vergangene daseinsrelevant. Das Vergangene ist von der Zukunft her zu aktualisieren. Die Geschichte als Seinsweise des Daseins hat „ihr wesentliches Gewicht weder im Vergangenen, noch im Heute und seinem Zusammenhang' mit dem Vergangenen, sondern im eigentlichen Geschehen der Existenz, das aus der Zukunft des Daseins entspringt". Die Geschichte hat somit ihre Wurzel „wesenhaft in der Zukunft". 89 Die Einsicht in die Faktizität bedeutet das Erkennen des Faktums, daß der Mensch in jeder geschichtlichen Situation mit einem schlechthin Unverfügbaren konfrontiert ist. Die bewußte Annahme der Faktizität, und zwar in Ausrichtung auf die Zukunft, eröffnet die jeweiligen existenziellen Möglichkeiten. Faktizität des Daseins und existenzielle Möglichkeit verweisen aufeinander. Heideggers Daseinsanalyse bleibt formal. Wozu sich das Dasein faktisch zu entschließen hat, sagt Heidegger nicht. Er beschränkt sich auf die 87 88 89
Ebd., S. 383. Ebd., S. 384. Vgl. ebd., S. 386.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
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formale Kennzeichnung der eigentlichen Existenzweise als Entschlossenheit. „Wozu sich das Dasein je faktisch entschließt, vermag die existenziale Analyse grundsätzlich nicht zu erörtern." 90 Daß es allerdings auch einer philosophischen Erörterung der möglichen Inhalte, für die sich die Existenz einsetzen soll, bedarf, geht aus den Überlegungen von „Sein und Zeit" mit aller Deutlichkeit hervor, obwohl sich die Ausführungen Heideggers konsequent im Bereich des Formalen halten. Entsprechend gibt „Sein und Zeit" keine Philosophie der Geschichte, sondern eine existenziale Analyse der Geschichtlichkeit. Trotzdem weist wohl kein anderes philosophisches Werk nach dem „Ende der Geschichtsphilosophie" mit einem vergleichbaren Nachdruck auf die Unabweisbarkeit einer inhaltlich durchgeführten Philosophie der Geschichte, wenngleich dies nur indirekt geschieht, insofern die formale Bestimmung der Geschichtlichkeit des Daseins die Ergänzung durch eine inhaltliche Analyse der jeweils konkret bestehenden Geschichtsmöglichkeiten erfordert. Wenn die existenziale Analyse der Geschichtlichkeit einen über das Formale hinausgehenden Sinn, d.h. eine mich in meiner konkreten Existenz betreffende Bedeutung haben soll, dann muß der Schritt von der formalen zur inhaltlichen Analyse vollzogen werden. Eine solche Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins in seiner konkreten Situation kann nur von der Geschichtsphilosophie geleistet werden. Man soll die rein formale Durchführung der Daseinsanalysen Heidegger nicht zum Vorwurf machen. In der Beschränkung auf das Formale besteht zugleich der theoretische Vorzug dieser Untersuchungen, die deshalb auch eine allgemeinere, d.h. eine über die unmittelbare zeitgeschichtliche Situation hinausreichende, wenngleich — ihrem eigenen Ergebnis nach — nicht zeitlose Geltung beanspruchen können. Aber es bleibt die Feststellung, daß die bloß formale Bestimmung der Entschlossenheit einer inhaltlichen Erfüllung bedarf. Daß dies nur über den Weg einer Analyse und rationalen Durchdringung der jeweiligen Geschichtssituation geschehen kann, stellt ebenfalls ein Ergebnis von „Sein und Zeit" dar. Die Herausarbeitung der Zeitlichkeitsstrukturen des Daseins diente Heidegger zur Gewinnung eines Standpunkts für die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn von Sein. Wenn nun aber der Ansatz beim Dasein und seiner Geschichtlichkeit richtig war, dann betrifft diese Geschichtlichkeit auch noch die Fragen nach Wahrheit und Sein. Diese Fragen ändern sich konsequenterweise in die nach der Geschichte von 90
Ebd., S. 383.
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Wahrheit und Sein. In der Phase nach dem Scheitern von „Sein und Zeit" bestimmt Heidegger den Sinn von Sein neu als Wahrheit des Seins. Diese kann nun nicht mehr als etwas Auffindbares vorgestellt, sondern muß als etwas seinsgeschichtlich „Zugeschicktes" gedacht werden. Wahrheit löst sich in Geschichte auf. O. Pöggeler teilt eine erhellende Stelle aus Heideggers noch unveröffentlichter Arbeit „Die Uberwindung der Metaphysik" aus den Jahren 1938 — 1939 mit: „Wenn jeder Anhalt für jedeine Maßgabe im Seienden hinfallig geworden und ,nur' die Jähe der Lichtung des Seins, die Einzigkeit des Ereignisses ,ist', dann ist Geschichte. Für diese Geschichte gibt es keine Zeitrechnung und keine Ewigkeit eines An-sich. Geschichte — da nicht etwas, nicht dies und das geschieht — sondern, da das Daß der Wesung des Seins und zuvor das Sein ist."91 Es wird damit das Verhältnis zwischen Denken und Wahrheit des Seins in Analogie zum Verhältnis zwischen Dasein und ihm vorgegebener Situation bestimmt: die Wahrheit des Seins geschieht als ein unverfügbares geschichtliches Ereignis. „Das Geschehen der Geschichte west als das Geschick der Wahrheit des Seins aus diesem... Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht: Es gibt sich und versagt sich zumal." 92 Und für den das Sein bedenkenden Menschen bedeutet dies: „Die Geschichte des Seins trägt und bestimmt jede condition et Situation humaine." 93 Diese erneute Umkehrung des Verhältnisses zwischen Dasein und Sein hat die erste Umkehrung, wie sie in „Sein und Zeit" vollzogen wurde, zur Voraussetzung. Insofern muß die spätere seinsgeschichtliche Position als das Ergebnis eines konsequenten Weiterdenkens des früheren Ansatzes, der die Geschichte in der Geschichtlichkeit des Daseins fundiert sein ließ, verstanden werden. Der Titel „Sein und Zeit" spricht die Vermutung aus, daß der Sinn des Seins von der Zeit her offenbar wird. Die Rückführung von Zeit und Geschichte auf die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins macht nun deutlich, daß der Sinn von Sein oder — wie Heidegger jetzt sagt — die Wahrheit des Seins selbst zeitlich-geschichtlicher Art sein müssen. Sinn, Wahrheit, Sein lösen sich in Geschichte auf. Fragende wie in Frage stehende Instanz teilen denselben zeitlich-geschichtlichen Charakter, ohne doch durch einen mit Notwendigkeit sich vollziehenden Entwicklungsprozeß miteinander verbunden zu sein, wie dies bei Hegel und seiner Sicht 91 92 93
O. Pöggeler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, S. 158. Martin Heidegger: Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, S. 23. Ebd., S. 5 f.
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der Geschichte der Vernunft der Fall war. Denn auch Hegel ging zwar von der Tatsache der Geschichtlichkeit des Denkens über Wahrheit und mithin der Wahrheit selbst aus; aber er verstand diese Geschichte als Entwicklung: die Wahrheitsgeschichte spiegelt die Entwicklung des zu sich selbst kommenden Geistes wider. Der Moment, wo der Geist zum Bewußtsein seiner selbst gelangt ist, bezeichnet den Punkt, in dem die beiden Entwicklungsstränge konvergieren. Doch Denken und Geschichte lassen sich nicht mehr in dieser Weise aufeinander beziehen. Der Entwicklungsgedanke trägt nicht mehr, und deshalb ist, wie Heidegger im Hinblick auf Hegel bemerkt, keine Systematik mehr denkbar, „die das Gesetz ihres Denkens zum Gesetz der Geschichte machen und diese zugleich in das System aufheben könnte" 94 . Verliert die Geschichte des Denkens ihren Entwicklungscharakter, dann erfahrt sich die fragende Instanz — gerade und nur weil sie selbst geschichtlicher Seinsart ist — als machtlos an die in Frage stehende Instanz ausgeliefert: Das, was sich jeweils als Wahrheit zeigt, ist ein je und je aufbrechender, unverfügbarer Ursprung. Hegels geistesgeschichtliches und Heideggers seinsgeschichtliches Denken unterscheiden sich wesentlich durch den Entwicklungsgedanken, der im Rahmen der seinsgeschichtlichen Konzeption keinen Platz mehr hat. Löwiths Feststellung, daß Hegels „konstruktiver Fortschritt und Aufstieg und Heideggers destruktiver Rückschritt und Abstieg" im Prinzip nicht verschieden seien, erweist sich damit als unzutreffend. Löwith schreibt: „Der Zeitgenosse Napoleons dachte seine Vollendung der europäischen Geschichte des Begriffs als die erreichte Fülle eines unentwickelten Anfangs; der Zeitgenosse Hitlers denkt dieselbe Geschichte des abendländischen Geistes als einen sich vollendenden Hervorgang des Nihilismus." 95 Aber diese äußere Übereinstimmung darf doch nicht die innere Differenz der beiden denkgeschichtlichen Positionen verdecken. Denn der Terminus „Seinsgeschick" will doch gerade zum Ausdruck bringen, daß die Geschichte des Wahrheits- und Seinsdenkens keiner einsehbaren Entwicklung folgt und sich nicht als zielgerichtetes Geschehen begreifen läßt, sondern in ihrem faktischen Verlauf das Denken in eine unverfügbare Situation stellt, in der auch noch die Tradition des Denkens sich je anders präsentiert: Das im Seinsgeschick zufallende Schicksal ist mächtiger als das Denken, auch wenn es nichts anderes als die Folgen früherer Bemühungen des Denkens darstellt. 94 95
Ebd., S. 23. Vgl. Karl Löwith: Heidegger — Denker in dürftiger Zeit; in: Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart 1984, S. 165 f.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
Heideggers existenzial-ontologische Exposition der Geschichtlichkeit, die in der Zeitlichkeit des Daseins fundiert ist, möchte im Grunde, wie Heidegger bemerkt, „die der heutigen Generation erst noch bevorstehende Aneignung der Forschungen Diltheys an ihrem Teil wegbereitend...fördern" 96 . Aber Heidegger greift den Diltheyschen Ansatz nicht nur auf, er radikalisiert ihn zugleich, indem er die geschichtliche Relativität absolut setzt. Man kann deshalb mit Löwith die Position Heideggers als Selbstüberwindung des Historismus charakterisieren, da sich das Problem des Historismus nun gar nicht mehr stellen kann. Die Absolutsetzung der geschichtlichen Relativität geschieht erstens durch die Wesensbestimmung des Daseins als eines geschichtlich existierenden und zweitens durch die Wesensbestimmung des Seins selbst als einer Seinsgeschichte und eines Seinsgeschicks. Als ein Letztes und nicht weiter Zurückführbares kann das Seinsgeschick auf nichts anderes mehr relativ sein. 97 Damit bleibt keine denkmögliche Instanz mehr übrig, die von der total gewordenen Geschichte unberührt bliebe. Diese Konsequenz von Heideggers Rückführung der Geschichte und schließlich sogar des Seins auf die Zeitlichkeit des Daseins hat auch Walter Schulz deutlich hervorgehoben: „Die eigentlich bleibende Bedeutung der Analyse der Geschichtlichkeit in ,Sein und Zeit' aber liegt — das zeigt sich nach fünfzig Jahren sehr deutlich — darin, daß Heidegger die Frage, wie Geschichtliches und Ubergeschichtliches, sei dieses als ewige Menschennatur, als Wertbezirk oder als Gott bestimmt, .zusammenzudenken' sei, entschlossen beiseite geschoben hat. Alle Versuche, die Metaphysik zur Deutung der Geschichte anzusetzen, das heißt, das Zeitliche vom Überzeitlichen her auszulegen, sind seit dem Erscheinen von ,Sein und Zeit' eigentümlich suspekt geworden." 98 Mit der Fundierung der Geschichte in der Geschichtlichkeit des Daseins verliert — dies ist die erste Konsequenz — die Geschichte den ihr bisher selbstverständlich zugesprochenen Charakter eines Orientierung gewährenden Gegenüber. Eine zweite Konsequenz dieser Umkehrung 96 97
98
M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 377. Vgl. K. Löwith: Heidegger — Denker in dürftiger Zeit, S. 167: „Ein Dasein, das nicht nur ,in' der Zeit ist und nebenbei eine Geschichte ,hat', sondern im Wesen zeitlich und geschichtlich existiert, ist nicht mehr relativ auf Zeit und Geschichte." Aber auch diese existenzial verabsolutierte Geschichtlichkeit sei, wie Löwith weiter ausführt, noch nichts Letztes, da sie in Heideggers späteren Schriften von einem „Seinsgeschick" her gedacht werde, „das als eine allerletzte Instanz auf nichts anderes mehr relativ ist, auch nicht auf eine zum nichtigen Ende entschlossene Existenz". Walter Schulz: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 530.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
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des Verhältnisses zwischen Mensch und Geschichte kommt darin zum Ausdruck, daß nun überdies die beiden anderen Orientierungsinstanzen, Wahrheit und Sein, zu Geschichte werden. Es ist darum drittens auch nicht mehr möglich, das Insgesamt dieses Geschehens als Entwicklung zu denken; — denn worin könnte der Entwicklungsgedanke noch einen Anhalt finden? Die als Entwicklung begriffene, in der Entwicklungsvorstellung gleichsam „gezähmte" Geschichte und die Geschichte, die als „Schicksal" und „Geschick" den Menschen in seiner jeweiligen Situation „überfallt", bilden extreme Gegenpositionen. „Schicksal" und „Geschick", zwei Begriffe, die, wie Pöggeler bemerkt, sich am ehesten aus der griechischen Tragödie herleiten lassen," verbieten den Ausweg des Entwicklungsdenkens. Damit ist nun die vorliegende Untersuchung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens in gewissem Sinne bei einem Endpunkt angelangt. Doch der Verlust der Möglichkeit, Geschichte als objektiven Entwicklungsprozeß zu denken, bedeutet nicht das Ende des Entwicklungsbegriffs als geschichtsphilosophischer Kategorie. Denn die radikal erfahrene Geschichtlichkeit des Daseins verweist nur um so vordringlicher auf die Notwendigkeit einer geschichtsphilosophischen Orientierung in und aus der jeweiligen Situation. Am Beispiel der Philosophie von Karl Jaspers soll nun aufgezeigt werden, daß der Ausgang von der Erfahrung der Geschichtlichkeit in dem Moment, wo die Ebene einer rein formalen existenzialanalytischen Betrachtung verlassen wird, in eine inhaltlich durchgeführte geschichtsphilosophische Entwicklungskonzeption münden muß.
3. Karl Jaspers:
die Geschichtlichkeit
der Existenz
Auch für Jaspers ist die kritische Einsicht leitend, daß die Epoche der klassischen geschichtsphilosophischen Systeme unwiederbringlich vergangen ist. Damit ändert sich das Verhältnis des Menschen zur Geschichte radikal. Angesichts des Scheiterns seines Wissenwollens des Ganzen der Geschichte und ihres Sinns sieht sich der Orientierung suchende Mensch auf sich selbst in seiner Geschichtlichkeit verwiesen. Die Frage nach der 99
Vgl. Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, 2., um ein Nachwort erw. Aufl., Pfullingen 1983, S. 337.
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Geschichte scheint jetzt nur noch in der Geschichtlichkeit des fragenden Menschen selbst einen letzten und unmittelbaren Anhalt der Antwortfindung zu haben. Nun darf von der Zurückführung der Frage nach der Geschichte auf die nach der Geschichtlichkeit des Menschen keine endgültige Auflösung des Problems erwartet werden. Einer solchen Erwartung widerspricht wiederum die im Zuge der Ausbreitung des historischen Bewußtseins elementar gewordene Erfahrung der geschichtlichen Bedingtheit aller Denkbemühungen. Vielmehr ist durch das Beginnen bei der Geschichtlichkeit des Daseins gerade mit einer Bestätigung des Faktums geschichtlicher Gebundenheit aller menschlichen Hervorbringungen zu rechnen, indem dieses Faktum nun eine Begründung in der subjektiven Zeitlichkeitsstruktur findet. Von einer existenzphilosophischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Geschichtlichkeit ist ferner eine Anweisung zu erwarten, wie der Mensch, der sich seiner Geschichtlichkeit bewußt geworden ist, mit der neuen Einsicht umzugehen hat. Die moderne Grunderfahrung der Geschichtlichkeit, die alles Denken bestimmt und die jede Absolutsetzung eines Standpunkts verbietet, kann also auch durch den existenzphilosophischen Ansatz bei der Geschichtlichkeit des Menschen selbst nicht einfach überwunden werden. Aber es ist eine Erhellung der existentiellen Situation möglich. Ein solches Vorgehen macht deutlich, daß das Denken sich in einer Lage befindet, in der es „mit keinem Standpunkt als objektiv gültig ausgesprochenem zufrieden sein" kann und es dennoch „in jedem Augenblick auf einem Standpunkt stehen" muß, um überhaupt denken zu können. 100 Die Historie läßt die geschichtsphilosophischen Fragen unbeantwortet. Als Wissenschaft bleibt sie an den Bereich partikularen Sachwissens gebunden. Die historische Forschung vermag zwar immer weiter in den Raum des Vergangenen vorzudringen und erarbeitet stets vollständigere historische Übersichten, aber ohne je die Geschichte selbst, also deren Struktur, Ursprung, Ziel und Sinn zu erfassen. Die Historie bietet nicht nur keine Möglichkeit philosophischer Orientierung, sondern verstellt zugleich, indem sie die objektiven historischen Voraussetzungen und Bedingtheiten und damit die Relativität des Denkens aufzeigt, jede Aussicht auf ein endgültiges Gelingen philosophischer Antwortfindung. Das Wissen um die jeweiligen historischen Bedingungen eines Gegenwärtigen bezeichnet Jaspers als „historisches Bewußtsein", dem er das 100
Vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956, S. 124.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
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„geschichtliche Bewußtsein" gegenüberstellt. Dieser Terminus benennt die je eigene geschichtliche Daseinsweise, die je unterschiedliche Art geschichtlichen Existierens. Beide Formen des Bewußtseins vom Vergangenen verweisen aufeinander; das historische Bewußtsein gewinnt erst im Bezug auf das geschichtliche Bewußtsein der Existenz Rechtfertigung und Sinn, das geschichtliche Bewußtsein bedarf des historischen Wissens als der Voraussetzung möglicher existentieller Orientierung. Der Ubergang vom historischen zum geschichtlichen Bewußtsein vollzieht sich dort, wo das Historische „Funktion möglicher Existenz" wird: „Mein theoretisches Wissen von der Historie wird aber über alle Geschichtswissenschaft hinaus Funktion möglicher Existenz, sofern ihre Inhalte und Bilder zu mir sich richten, mich ansprechen, fordern oder mich abweisen, nicht als nur ferne Gestalten für sich geschlossen bestehen, oder anders: sofern sie angeeignet in einem geschichtsphilosophischen Bewußtsein zur Funktion ewiger Gegenwart des Existierens werden." 101 Das geschichtliche Bewußtsein meint demnach eine bestimmte Art der Einstellung gegenüber und der Orientierung an dem Vergangenen: Das Historische wird zum Medium existentiellen Selbst Werdens. Der existenzphilosophische Begriff der Geschichtlichkeit dient in der Jaspersschen Terminologie nicht zur Benennung der Faktizität des Daseins, sondern gerade zur Kennzeichnung ihrer existentiellen Überwindung. Die Geschichtlichkeit ist nichts objektiv Faßbares. Sie ist Ausdruck der Identität des Einzelnen, in der er sich seiner in seinem je individuellen Lebensgang gewiß ist.102 Sie ist somit „Erscheinung der Existenz"103. Die Existenz ihrerseits bedeutet nicht etwa das allgemeine, zeitlose Wesen des Menschen, sondern wird von Jaspers als „Selbstsein", d.h. als die Möglichkeit des Menschen verstanden, als er selbst zu existieren. Auch die Existenz ist auf die jeweilige geschichtliche Situation bezogen; Existenz ist selbst geschichtlich. Nur als geschichtliches Wesen kann der Mensch mögliche Existenz sein. Die als Erscheinung der Existenz gefaßte Geschichtlichkeit verbindet in dialektischer Weise Gegensätzliches in sich. In der existenzerhellenden Reflexion lassen sich die gegensätzlichen Momente isolieren und einander gegenüberstellen. Allerdings besteht diese Doppelheit widersprüchlicher Ebd., S. 120. 102 Vgl Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, S. 170 f. 103 K . Jaspers: Philosophie, Bd. 2, S. 122. 101
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
Momente nur für das Denken, das begrifflich trennt, was eine ursprüngliche Einheit bildet. Eine erste Einheit der Geschichtlichkeit zeigt sich in der Verbindung der beiden von Jaspers als Gegensätze verstandenen Momente „Dasein" und „Existenz". „Dasein" bezeichnet die der „Existenz" oder dem „Selbstsein" entgegengesetzte Lebensmöglichkeit. Menschsein, das sich ans Dasein verliert, ist ohne Existenz. „Nicht mein Dasein also ist Existenz, sondern der Mensch ist im Dasein mögliche Existenz. Jenes ist da oder nicht da, Existenz aber, weil sie möglich ist, tut Schritte zu ihrem Sein oder von ihm hinweg ins Nichts durch Wahl und Entscheidung... Dasein ist empirisch da, Existenz nur als Freiheit. Dasein ist schlechthin zeitlich, Existenz ist in der Zeit mehr als Zeit."104 Im geschichtlichen Bewußtsein erfahrt sich der Mensch einerseits an das Vorgegebene der jeweiligen Geschichtssituation gebunden, andererseits weiß er sich noch in dieser Gebundenheit als Erscheinung möglicher Existenz. Im geschichtlichen Bewußtsein vollzieht sich die Einheit von Dasein und Existenz dadurch, „daß die faktische Gebundenheit als eigene ergriffen" wird. Wie dies im einzelnen zu geschehen hat, dafür lassen sich keine allgemeingültigen Kriterien bestimmen, sondern hat sich aus der jeweiligen Situation selbst zu ergeben, indem eine Daseinsmöglichkeit als eigene und unbedingte gewählt wird: „...in diesem Zugriff verwirklicht Existenz durch ihr Schicksal ihr Wesen."105 Als Dasein lebt der Mensch im Bereich des Geschichtlich-Zeitlichen, in diesem ergreift er als Existenz seine eigentlichen Möglichkeiten und gewinnt dadurch ein Überzeitliches, das allerdings nur bestehen kann, sofern es auf das Geschichtlich-Zeitliche bezogen bleibt. Das existentiell Unbedingte und Wahre läßt sich nur aus dem Bedingten der jeweiligen geschichtlichen Situation erzielen, es ist darum auf diese relativ und stellt also keinen Wahrheitsbesitz für immer dar: „Die Wahrheit, die Existenz sich hier, zu ihrem Selbst kommend, erwirbt, ist nur in der Erscheinung, aber die Erscheinung als solche, objektiv gedacht und festgehalten, ist nicht diese Wahrheit..." 106 Dies bedeutet zugleich, daß das Dasein durch die konkreten Lebenssituationen stets wieder in Frage gestellt sieht, was existentiell trägt und worin Existenz ihren Anhalt hat. So bleibt Existenz in der Gefahr, nur noch als Dasein aus Verabsolutierungen bloßer Erscheinungen zu leben. Gegenüber dieser Gefahr kommt
104 105 106
Ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 123. Ebd., S. 124.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
333
es gerade darauf an, das vermeintlich Absolute, das doch nur Erscheinung ist, wieder zu relativieren, denn man „darf mit keiner Erscheinung als dauernder, allgemeingültig werdender zufrieden sein und muß doch, sofern man existiert, stets mit einer absolut identisch sein" 107 . Daß der Mensch, der sich der Geschichtlichkeit bewußt geworden ist, einem solchen prekären Hinundhergerissensein ausgesetzt ist, stellt sich als unvermeidliche Konsequenz dar, wenn er doch als Dasein Existenz sein soll und als Existenz an das Dasein gebunden bleibt. Geschichtlichkeit stellt sich zweitens als Einheit von Notwendigkeit und Freiheit dar. Das geschichtliche Bewußtsein ist einerseits das Bewußtsein der Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins an die geschichtlichen Umstände, andererseits ist es das Bewußtsein freien Entscheidenkönnens. Es enthält die doppelte Erfahrung des Bestimmtseins durch das Vorgegebene wie der ursprünglichen Freiheit. Es drückt eine ambivalente Grundstimmung aus, die Jaspers folgendermaßen umschreibt: „Es ist schon entschieden, ich stehe in dem Entschiedenen darin, und zugleich habe ich noch zu entscheiden ein Leben lang... Ich kann die Notwendigkeit über alles breiten und mich als so seiend für restlos gebunden erachten. Und ich kann die Freiheit über alles verbreiten und jede Endgültigkeit mit einem Schimmer der Möglichkeit versehen." 108 Der Mensch, der existierend sich seiner gewiß und sich selbst ist, lebt aus dem Bewußtsein der Möglichkeiten von Wahl und Entscheidung. Er weiß sich aber zugleich eingebunden in das Geschichtsgeschehen, das ihn immer schon bestimmt, wobei die Abhängigkeiten sich nie restlos einsehen lassen, so daß er noch dort gebunden ist, wo er vermeintlich frei handelt. Aber gerade im Bewußtmachen dieser Zusammenhänge liegt die Möglichkeit zum Selbstsein, das in der ausdrücklichen Entscheidung für ein Gegebenes gelingt: „Mein wissendes Übernehmen des anscheinend nur Gegebenen verwandelt dieses sonst nur Gegebene in ein Eigenes." 109 Geschichtliches Bewußtsein im existentiellen Sinne heißt: im Wirklichen das Mögliche sehen, aber zugleich auch nicht die Abhängigkeit des Möglichen vom Wirklichen übersehen. Es ist das Bewußtsein eines mittleren Bereichs der dialektischen Verknüpfung von absoluter Notwendigkeit und absoluter Freiheit. „Sowohl die absolute Notwendigkeit bloß objektiv gegebener Dinge als auch die widerstandslose Freiheit sind im geschichtlichen Bewußtsein aufgehoben zu dem
107 108 109
Ebd. Ebd., S. 125. Ebd.
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
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ursprünglichen In-seinem-Grund-Stehen, das verwirklicht wird vom eigentlichen Selbstsein." 110 Geschichtlichkeit erweist sich drittens als Einheit von Zeit und Ewigkeit. Existenz, so sagt Jaspers, ist „weder Zeitlosigkeit noch die Zeitlichkeit als solche, sondern das eine im anderen, nicht das eine ohne das andere" 111 . Nun ist ein Zeitloses, Ewiges, dem Menschen nicht gegeben; und das nur Zeitliche ist existentiell irrelevant. Geschichte als bloßes Auf und Ab ist bedeutungslos. In der existentiellen Einstellung wird das Zeitliche zum Ausdruck des Zeitlosen. Dann stellt der gegenwärtige Augenblick nicht einfach mehr ein Momenthaftes und Vergängliches dar, sondern Gegenwart, die Dauer gewinnt. „Gegenwart als Zusammenwachsen von Vergangenheit und Zukunft" wird „zum substantiellenJet%t"n2. Existieren bedeutet somit Vertiefung des Augenblicks und Erfüllung der Gegenwart: „Der Augenblick als die Identität von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit ist die Vertiefung des faktischen Augenblicks zur ewigen Gegenwart."113 Aber das zeitlos Gültige ist gerade als Zeitloses auf die jeweilige zeitlich-geschichtliche Situation bezogen, von der es sich nicht absondern läßt, da das von allem Zeitlichen unberührte Zeitlose für den menschlichen Standpunkt uneinsehbar und darum wie inexistent ist. Die Ewigkeit, die im erfüllten Augenblick gegenwärtig werden soll, ist keine absolute Ewigkeit, denn „diese Ewigkeit ist an diesen Augenblick absolut gebunden" 114 . Die Einsicht des historischen Denkens in die Geschichtlichkeit alles Menschlichen stellt zuletzt dieses Denken selbst in Frage. Die sich daraus ergebende Problematik bildet den Gegenstand der Historismus- und Relativismusdebatten. In allen diesen Diskussionen geht es am Ende um die Frage einer Überwindung dieses spezifisch modernen Skandalons der Auflösung alles Feststehenden und Allgemeingültigen in bloße Geschichtlichkeit. Vor diesem Hintergrund der üblichen Art der Thematisierung des Geschichtlichkeitsproblems kommt die Eigenheit der Jaspersschen Auffassung um so deutlicher zum Ausdruck; denn der existentielle Begriff der Geschichtlichkeit ist wesentlich positiv. Jaspers' uneingeschränkte Bejahung der Geschichtlichkeit wie auch aller ihrer Konsequenzen hat ihren Grund in der Überzeugung, daß Existenz nur in der bewußten "0 Ebd. 1 1 1 Ebd., 1 1 2 Ebd., 1 1 3 Ebd., » 4 Ebd.,
S. S. S. S.
126. 400. 126. 127.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
335
Übernahme der Geschichtlichkeit gelingt. Das Bewußtwerden der menschlichen Geschichtlichkeit ist die Chance der Existenz. Eine „Überwindung" der Geschichtlichkeit brächte das Dasein gerade um die Möglichkeit existentiellen Selbstseins. In der kleinen Schrift „Die geistige Situation der Zeit" stellt Jaspers fest, das philosophische Denken habe seit Jahrhunderten „die Bewußtheit in die letzten Gründe des menschlichen Seins getragen, die Religion säkularisiert und die Unabhängigkeit des freien Einzelnen zu entschiedener Wirklichkeit gebracht". Dennoch habe, wie Jaspers weiter ausführt, der Einzelne nicht den „Grund" verloren, „sondern dieser wurde in seiner absoluten Geschichtlichkeit nur tiefer erhellt". Also erst die Bewußtwerdung des Geschichtlichkeitscharakters der existenztragenden Dimension habe die Möglichkeit zu einem tieferen Verständnis des Menschseins eröffnet. Wenn trotzdem die Wirklichkeit des Einzelnen fragwürdig geblieben sei, so deshalb, „weil die Helligkeit sich lockern und leer werden konnte in einem reinen Bewußtsein ohne Existenz". 115 Darum wurde die sich in dieser Situation bietende Chance nicht genutzt, die Philosophie ging im Betrieb auf, versuchte sich dem Wissenschaftsideal anzugleichen oder bestand weiter als bloß historisches Wissen von ihrer Vergangenheit. So blieb die Philosophie ohne Bezug auf das eigene Dasein des einzelnen. Von den verschiedenen philosophischen Schulen, die „im Grunde alle nur dasselbe waren", sagt Jaspers: „Sie beschwichtigten das radikale philosophische Fragen zur Harmlosigkeit." 116 Dabei hätte die Philosophie nach Jaspers in der gegenwärtigen Lage „die größte Aufgabe": „Nur in ihr könnte der Mensch, der aus einem Offenbarungsglauben nicht mehr zu leben vermag, seines eigentlichen Wollens gewiß werden." Der Sinn der Philosophie könne demnach heute nur noch sein, „sich in seinem unabhängigen Glauben aus eigenem Grunde zu vergewissern". 117 Heute, in der Situation bewußt gewordener Ungeborgenheit, biete die Philosophie die einzige Möglichkeit der Orientierung. Denn zum einen dürfe die Bewußtheit nicht aufgegeben werden, und zum andern sei die wissenschaftlich angestrebte, alles in Eindeutigkeit und Berechenbarkeit fassende oberflächliche Bewußtheit der wirklichen, nicht vollendbaren Seinsweise des Menschen unangemessen. „Die platte Bewußtheit, welche alles als erkenntnis-
115
116 117
Vgl. Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, 7., unveränd. Abdr. d. 5. Aufl., Berlin 1 9 7 1 , S. 1 3 0 f. Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 132.
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
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mäßiges Wissen und als machbare Zwecke vor Augen stellt, ist vom Philosophieren zu überwinden..." 1 1 8 Der Mensch der Moderne sieht sich damit vor die Alternative gestellt, entweder die „absolute Geschichtlichkeit" oder das Nichts zu wählen. Denn nach der Einsicht in die „Ungebundenheit" des Menschseins gibt es „nur noch die unübertragbare Wahl": „entweder zum Nichts oder zur absoluten Geschichtlichkeit des eigenen Grundes, die zu Hause ist in aller Möglichkeit mit dem Bewußtsein von bindender Grenze" 1 1 9 . Jaspers versteht die Existenzphilosophie als ein Philosophieren aus der bewußten Annahme der Geschichtlichkeit heraus. Denn erst das Bewußtsein der Geschichtlichkeit bringt jenes Maß an Relativität bzw. — positiv gewendet — an Offenheit in das Philosophieren, das dem eigentlichen Wesen des Menschen allein angemessen ist. Der dialektische, alles in die Schwebe bringende, aussprechend-zurücknehmende, uneindeutige, in Chiffren sich ausdrückende Charakter der Jaspersschen Existenzphilosophie ist eine unmittelbare Folge des Ausgehens von der menschlichen Geschichtlichkeit. Für die existenzphilosophische Denkweise stellt sich das Relativismusproblem nicht mehr, denn es gehört zum geschichtlichen Wesen der Existenz, sich immer schon der doppelten Notwendigkeit ausgesetzt zu sehen, sich einerseits entscheiden und in der Praxis des Daseins zu einem bestimmten Standpunkt gelangen zu müssen und andererseits für die verschiedenen Möglichkeiten offenzubleiben und sich nicht festzulegen und die jeweilige Position wieder zu relativieren. Zwischen diesen beiden Notwendigkeiten der Existenz, sich zu verpflichten und dennoch offenzubleiben, braucht keine vermittelnde Lösung gesucht zu werden; Bemühungen, das Relativismusproblem zu überwinden, würden vielmehr der existentiellen Wirklichkeit widersprechen. Jaspers faßt das Wesen der existentiellen Geschichtlichkeit in dialektische Bestimmungen wie Notwendigkeit und Freiheit oder Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit. Dieselben Kategorien kennzeichnen auch das Verhältnis zur Geschichte, und zwar sowohl das des einzelnen Menschen wie auch das der Gemeinschaft und schließlich der Menschheit insgesamt. Es ist deshalb von der Geschichtsphilosophie, die das konkrete Geschichtsverhältnis thematisiert, nicht zu erwarten, daß sie zu eindeutigen und unzweifelhaft 118 1,9
Ebd., S. 133. Ebd., S. 130
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
337
gewissen Antworten gelangt. Dennoch ist die geschichtsphilosophische Aufgabe unabweisbar, da für das seiner Geschichtlichkeit bewußt gewordene Denken das letzte Fundament philosophischer Orientierung und Erhellung der Daseinssituation nur noch im vergangenen Geschehen der Geschichte liegen kann. Dieses Faktum macht sofort verständlich, weshalb der zu vergegenwärtigende geschichtliche Rahmen möglichst weit gefaßt werden muß und letztlich nur im Ganzen der Menschheitsgeschichte bestehen kann. Aus diesem Grund scheint die Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Menschen als Existenz vom Gelingen einer Anschauung des Ganzen der Geschichte abhängig zu sein. So liegt auf der einen Seite alles daran, ein Bild des Geschichtsganzen zu gewinnen und Geschichte als Einheit zu verstehen, denn es ist „die Einheit der Menschheitsgeschichte, auf die alles, was Wert und Sinn hat, bezogen" ist. 120 Auf der anderen Seite zwingt gerade wieder das kritische Bewußtsein der geschichtlichen Bedingtheit auch der geschichtsphilosophischen Konzeptionen dazu, die Undurchführbarkeit einer Totaldeutung der Geschichte anzuerkennen. Dem Wissenwollen und Wissenmüssen des Ganzen der Geschichte steht das Nichtwissenkönnen gegenüber. Wiederum zeigt sich das geschichtliche Bewußtsein durch ein dialektisches Verhältnis, durch gleichzeitige Bejahung und Verneinung einer totalgeschichtlichen Deutung, bestimmt. Dies sei im folgenden näher erläutert. Das Ganze der Geschichte ist nicht wißbar; Geschichte hat keinen erkennbaren Anfang und erreicht nie ihr Ende. Sie ist ein unabschließbares Geschehen und ist deshalb auch unabschließbar für unser Wissenwollen. Und dennoch brauche ich eine Vorstellung des Geschichtsganzen, seiner Struktur und Gliederung, um, wie Jaspers sagt, „meiner selbst, meines Ortes und der Gegenwart erst ganz gewiß zu werden" 121 . Die Anschauung des Ganzen ist für die philosophische Selbstvergewisserung unentbehrlich: „Wir wollen die Geschichte als ein Ganzes verstehen, um uns selbst zu verstehen." 122 Nun kann die Philosophie der Geschichte im Gegensatz zur Historie niemals zu gegenständlicher Erkenntnis führen. Nur im Bewußtsein der grundsätzlichen Beschränktheit unserer Wissensmöglichkeiten ist Geschichte philosophisch überhaupt noch angemessen themati-
120 121
122
Vgl. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 305. Karl Jaspers: Weltgeschichte der Philosophie — Einleitung, aus d. Nachlaß hrsg. von H. Saner, München 1982, S. 29. K . Jaspers: Vom Ursprung u. Ziel d. Geschichte, S. 287.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
sierbar. Es kann und darf heute kein Wissen des Ganzen der Geschichte im Sinne der früheren geschichtsphilosophischen Konstruktionen mehr geben, kein Totalwissen, das den Menschen zum bloßen Mittel für die Erreichung feststehender Geschichtszwecke degradieren müßte. Vor allem aber würde ein solches den Menschen determinierendes Wissen des Ganzen die Möglichkeit dessen ausschließen, was eine geschichtsphilosophische Anschauung im Jaspersschen Sinne begründen will: die Selbstverwirklichung des Menschen als Existenz. Als weiteres bestätigendes Moment kommt hinzu, daß es für die heutige Erfahrung nicht mehr vorstellbar ist, daß die Geschichte sich einst als ein Ganzes vollenden wird. Denn was immer künftig geschehen mag, die Menschheitsgeschichte wird sich nicht zu einem einheitlichen Ganzen runden: „Und wenn die Erde kosmisch zugrunde geht und alles Menschsein aufhört, wird es immer ein vorzeitiges Ende sein, nicht der Abschluß eines Ganzen, das sich vollendet hätte." 123 Es kann also auch deswegen kein Totalwissen der Geschichte geben, weil es sich auf ein fiktives Objekt bezöge. Somit „ist alle Wahrheit und Freiheit des Menschen darin gegründet, daß er im Ganzen nicht nur nicht wissen kann, sondern daß der Gegenstand dieses Wissens selber inexistent ist. Der Gang der Dinge steht für den Menschen offen, der in wissender Orientierung über das Tatsächliche aus Freiheit seine Entschlüsse faßt" 124 . Das paradoxe, aber mit der dialektischen Struktur der Geschichtlichkeit übereinstimmende Ergebnis dieser Überlegungen besteht nun darin, daß die geschichtsphilosophische Totaldeutung gar nicht gelingen darf und soll, obgleich sie sich als unabweisbar herausstellt. Das Scheiternmüssen der Aufgabe ist als ebenso notwendig zu begreifen wie die Aufgabe selbst. Die Totalanschauung der Geschichte bleibt eine unabschließbare, gleichwohl aber unerläßliche Aufgabe. Die Geschichte kann demnach auch nicht als ein an sich sinnhaftes Geschehen begriffen werden, obwohl sie die einzige Grundlage philosophischer Sinnorientierung darstellt. Ihren Sinn gewinnt die Geschichte erst durch die theoretische wie praktische Auslegung, also durch unsere Geschichtsideen und durch unser gegenwärtiges Tun. „Daher ist Geschichte zwar die einzige große Autorität, das alles, was wir sind, Begründende. Aber sie bleibt dabei immer auch das noch erst zu Ergründende. Denn sie ,23 124
K . Jaspers: Weltgeschichte d. Philosophie, S. 30. Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen — Politisches Bewußtsein in unserer Zeit, München 1958, S. 372.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
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ist nicht eindeutig, zeigt nicht eindeutig, sondern muß aus der Wirklichkeit jeweiliger Gegenwart erst noch begriffen werden." 125 Gerade diese Tatsache, daß Geschichte Sinn nicht einfach hat, sondern ihn je nach unserem Verhalten erst gewinnt — oder auch verliert — , ermöglicht ein sinnerfülltes Menschsein, das Jaspers als das Wagnis versteht, den Sinn des künftigen Geschehens mitzubestimmen. Gerade das letztliche Scheiternmüssen der philosophischen Sinndeutung der Menschheitsgeschichte garantiert die Möglichkeit sinnvollen Selbstseins. Es ist somit die Geschichtlichkeit des Menschen, welche die Philosophie dazu nötigt, einen mittleren Weg zu begründen zwischen dem Weg geschichtsmetaphysischer Totalkonstruktion und dem radikaler Skepsis oder gar nihilistischen Stehenbleibens beim Faktum menschlichen Nichtwissenkönnens. Die Geschichtsphilosophie wird demnach unter Respektierung des historisch Wißbaren eine Gesamtdeutung der Geschichte versuchen müssen, diese zugleich aber mit veränderten Ansprüchen vertreten, denn Totalbilder der Geschichte verlieren, wie Jaspers betont, ihre Berechtigung, sobald sie mit Absolutheitsanspruch auftreten, oder wenn man in ihnen mehr sehen will, als sie wirklich leisten: es handelt sich um Deutungen, bloße Schemata, mögliche Perspektiven. Es gilt, „sich in ihnen so zu bewegen, daß ihre Täuschungen verschwinden, doch ihr Gehalt nicht verlorengeht" 126 ; sie „täuschen, wenn sie mehr sein sollen als Symbole" 127 ; sie sind nur wahr „als Hinweis und Zeichen" 128 . Geschichtsphilosophische Entwürfe im Sinne der Existenzphilosophie von Karl Jaspers beanspruchen rationale Verbindlichkeit, ohne jedoch absolute Geltung zu verlangen. Dies ist kein Selbstwiderspruch, sondern Ausdruck menschlicher Geschichtlichkeit, die absolute Standpunkte verbietet, obwohl immer schon eine Position eingenommen ist und stets eine Entscheidung getroffen werden muß. Das geschichtliche Bewußtsein erlaubt es nicht, im Allgemeinen der Geschichte ein Absolutes zu sehen. Das als absolut erkannte Allgemeine würde überdies die Möglichkeit existentiellen Selbstseins verhindern, denn es „ist unmöglich, im Allgemeinen als dem Absoluten zu leben, ohne als Selbst Verblasen zu werden" 129 . Man wird zwar einwenden, daß ein geschichtsphilosophisches Allgemeines 125 126 127 128 129
K . Jaspers: Weltgeschichte d. Philosophie, S. 33. K . Jaspers: Die Atombombe u. d. Zukunft d. Menschen, S. 413. K . Jaspers: Vom Ursprung u. Ziel d. Geschichte, S. 326. Ebd., S. 322. K . Jaspers: Philosophie, Bd. 2, S. 130.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
und Wahres, das sich gleichsam wieder selbst negiert, dem menschlichen Wissenwollen nicht zu genügen vermöge. Aber ein solcher Einwand verkennt die Differenz zwischen der Wahrheit im Sinne eines absoluten Wissens der Geschichte — ein Wissen, das dem geschichtlichen Bewußtsein unmöglich geworden ist und das zugleich Existenz verhindern würde — und der existentiellen Wahrheit, denn „geschichtliche Wahrheit ist unbedingt im Leben der Existenz, aber in ihren Bildern, Symbolen, Aussagen nicht allgemeingültig für alle Menschen. Die Nichtallgemeingültigkeit raubt nichts von der Tiefe der gelebten Wahrheit" 130 . In der Geschichtsphilosophie wird der Bereich des historisch-gegenständlich Wißbaren überschritten. In ihr erweitert sich das historische Bewußtsein zum geschichtlichen. Sie ist die Art und Weise, wie sich das geschichtliche Bewußtsein methodisch seine Möglichkeiten vergegenwärtigt. Sie ist auf das geschichtliche, nicht das historische Bewußtsein bezogen. Obwohl sie diesem nicht widerspricht, ist sie doch nur wahr für das geschichtliche Bewußtsein der Existenz. „Die geschichtsphilosophischen Konstruktionen haben ihre Wahrheit als Ausdruck für eine Existenz, die darin ihren Raum erhellt, Vergangenheit und Zukunft umgreift." 131 In seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" legte Jaspers eine philosophische Sinndeutung der Menschheitsgeschichte auf existenzphilosophischer Grundlage vor. Der Jasperssche Geschichtsentwurf lebt gleichsam aus dem Bewußtsein seiner Unmöglichkeit. Diese paradoxe Selbsteinschätzung entspricht der paradoxen Struktur des geschichtlichen Bewußtseins und stimmt mit der „Grundparadoxie der Existenz" überein, die darin besteht, daß sich nur in der Welt über sie hinausgehen läßt und daß nur in der Geschichte eine Gesamtansicht dieser Geschichte entworfen werden kann. Denn die Deutung der Menschheitsgeschichte führt über die Geschichte hinaus, obwohl sie von einem bestimmten geschichtlichen Standort aus konzipiert ist. Deshalb wird der geschichtsphilosophische Entwurf zur Täuschung, wenn er sich die Qualität übergeschichtlicher Geltung zumißt. „Die Grundparadoxie unserer Existenz, nur in der Welt über die Welt hinaus leben zu können, wiederholt sich im geschichtlichen Bewußtsein, das sich über die Geschichte erhebt. Es gibt keinen Weg um die Welt herum, sondern nur durch die Welt, keinen Weg um die Geschichte herum, sondern nur durch die Geschichte." 132 130 131 132
Karl Jaspers: A n t w o r t ; in: Karl Jaspers, hrsg. v o n P. A . Schilpp, Stuttgart 1957, S. 771. K . Jaspers: Philosophie, Bd. 2, S. 139. K . Jaspers: Vom Ursprung u. Ziel d. Geschichte, S. 339.
Die Geschichtlichkeit des Menschseins
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Die Menschheitsgeschichte hat nach Jaspers ihr Zentrum in der sogenannten „Achsenzeit" um 500 vor Christus. In dieser Epoche haben im Raum der alten Hochkulturen oder doch in deren Umkreis jene geistigen Ereignisse stattgefunden, die das Bewußtsein bis heute bestimmen. Das geistige Geschehen der Achsenzeit ist ein historischer Tatbestand, seine Erhebung zur Achse der Weltgeschichte dagegen ist eine geschichtsphilosophische Wertung. Jaspers interpretiert die Achsenzeit als den Beginn eines neuen Menschseins im Sinne möglicher Selbstverwirklichung des Menschen als Existenz. Indem Jaspers die geistigen Ereignisse der Achsenzeit und das in ihnen begründete neue menschliche Selbstverständnis zur Achse der Geschichte erhebt, setzt er eine bestimmte Idee des Menschseins als maßgebend. Diese Idee stimmt mit der Idee des Menschen, wie Jaspers sie in seiner Existenzphilosophie entworfen hat, überein. Sie besagt, daß der Mensch erst in der Verwirklichung seiner Existenz eigentlich Mensch werde. Entsprechend deutet Jaspers die Menschheitsgeschichte als das existentielle Werden des Menschen. 133 Heidegger wie Jaspers weisen nach, daß die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Geschichte bei der Frage nach der Geschichtlichkeit des Menschen selbst zu beginnen habe, da diese das primäre, jene dagegen das abgeleitete Phänomen darstelle. Im Unterschied zu Heidegger betont Jaspers nachdrücklicher das Angewiesensein des Menschen auf die Geschichte als den Raum vorgegebener existentieller Möglichkeiten. Denn die Möglichkeiten der Existenz sind zunächst Möglichkeiten der Geschichte. Deshalb ist es philosophisch wie existentiell unerläßlich, die Geschichte, obwohl sie in ihren übergreifenden Zusammenhängen und in ihren Sinnbezügen nicht objektivierbar ist, in immer neuen Entwürfen zu vergegenwärtigen. Geschichtlichkeit, Geschichte und Existenz bilden somit einen Verweisungszusammenhang: Wie Geschichtlichkeit auf die Geschichte verweist, so diese wiederum auf die Existenz, die, weil sie geschichtlich ist, ihre Ursprünge in der Geschichte hat. Damit gewinnt die Geschichtsphilosophie eine neue Legitimität, und zwar aus denselben Gründen, die zunächst zur Ablehnung der spekulativen Geschichtskonstruktionen geführt haben, also aus Gründen der Geschichtlichkeit des denkenden Menschen selbst.
133
Vgl. zu dieser Thematik: Andreas Cesana: Werdende Existenz — Zur Geschichtsphilosophie von Karl Jaspers; in: Philosophisches Jahrbuch, 91. Jg. (1984), S. 3 4 1 — 3 5 7 .
342
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
Mit der Geschichtsphilosophie als „der Selbsterhellung der Existenz" 134 erlangt auch die geschichtsphilosophische Grundkategorie, der Entwicklungsbegriff, ein neues Recht. „Entwicklung" ist bei Jaspers eine Vernunft-, keine Verstandeskategorie. Sie liegt seiner Deutung der Menschheitsgeschichte zugrunde; sie erlaubt es, diese als Prozeß der Verwirklichung von Vernunft und Existenz zu begreifen. Als Idee der Vernunft enthält der Entwicklungsgedanke kein bestimmtes Wissen über den Ablauf der Geschichte; als Idee der Vernunft ist dieser Gedanke zugleich unabweislich. „Geschichtlichkeit" hat in der Existenzphilosophie von Karl Jaspers den positiven Sinn, die Unabschließbarkeit und Offenheit der Existenz bewußt werden zu lassen. In der Geschichtlichkeit liegt nicht ein Negativum vor, sondern die Chance, aus Freiheit und Vernunft Existenz zu realisieren. Die Geschichtlichkeit verweist zugleich auf die Geschichte als den Ort, aus dem heraus erst existentielles Selbstsein gelingt: Weil auch Existenz geschichtlich ist, ist sie auf Geschichte angewiesen. Aber die Inhalte, an denen Existenz sich orientiert, liegen nicht wissensmäßig vor, sondern bieten sich nur in Form philosophischer Vergegenwärtigung von Möglichkeiten an. Die innere Zusammengehörigkeit von „Geschichtlichkeit", „Geschichte" und „Existenz" kommt auch darin zum Ausdruck, daß Jaspers sie mit denselben Kategorien und in derselben dialektischen, andeutenden Weise zu bestimmen versucht. Ihre Zusammengehörigkeit zeigt sich schließlich auch darin, daß sie weder auseinander noch von einem ihnen Übergeordneten ableitbar sind, da sie nicht weiter zurückführbare Grundgegebenheiten des Menschseins darstellen. Darin stimmen sie mit der die drei Dimensionen in Zusammenhang setzenden Philosophie selbst überein. „Philosophie", so formuliert Jaspers in der aus dem Nachlaß herausgegebenen Einleitung zur „Weltgeschichte der Philosophie", „ist das Denken, das sich nicht in Abhängigkeit lassen will von einem Undurchdrungenen, fraglos Hingenommenen. Es ist das Denken, das sich auf sich selbst in der Welt und in der Existenz des Menschen stellt, diese erhellt, indem es sie ohne Grenze befragt. Philosophie kann sich daher aus nichts anderem herleiten. Sie definiert sich selbst durch ihr Tun. Sie ist Ursprung und Anfang." 1 3 5
134 135
K. Jaspers: Philosophie, Bd. 2, S. 400. K . Jaspers: Weltgeschichte d. Philosophie, S. 42 f.
III. Kapitel Das Scheitern des Entwicklungsdenkens III: die Geschichtlichkeit der Vernunft „ D e r M a ß s t a b f ü r jedes U r t e i l u s w . ist in d e n relativen Wert-, Bedeutungs- und
Zweckbegrif-
fen v o n Nation und Zeitalter gegeben."136
(W.
Dilthey)
1. Die
Problemstellung
„Da er (Piaton) nämlich von Jugend auf mit dem Kratylos und den Ansichten des Herakleitos bekannt geworden war, daß alles Sinnliche in beständigem Flusse begriffen sei, und daß es keine Wissenschaft davon gebe, so blieb er auch später bei dieser Annahme. Und da sich Sokrates mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur, in jenen aber das Allgemeine suchte und sein Nachdenken zuerst auf Definitionen richtete, brachte dies den Piaton, der seine Ansichten aufnahm, zu der Annahme, daß die Definition auf etwas von dem Sinnlichen Verschiedenes gehe; denn unmöglich könne es eine allgemeine Definition von irgendeinem sinnlichen Gegenstande geben, da diese sich in beständiger Veränderung befanden." 137 In diesem Bericht, der die Entdeckung des Allgemeinen durch Sokrates und Piaton schildert, macht Aristoteles deutlich, daß alles wissenschaftliche Erkennen auf die Erfassung des Allgemeinen gerichtet ist. Zu dieser Einsicht, so betont Aristoteles auch an einer anderen Stelle, seien Sokrates und Piaton gerade dadurch gelangt, weil sie die Heraklitische Lehre, daß alle sinnlichen Dinge einem steten Fluß und Wandel unterliegen, für richtig hielten; es müsse deshalb
136 137
W. Dilthey: Der Aufbau d. gesch. Welt, S. 290. Aristoteles: Metaphysik, in d. neubearb. Übers, v o n Hermann Bonitz, mit Einl. u. Kommentar hrsg. von Horst Seidl, 2 Halbbde., Hamburg 1 9 7 8 - 1 9 8 0 , I, 987 a 32 987 b 7.
344
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
etwas von den sinnlichen Dingen Verschiedenes existieren, „denn von dem Fließenden gebe es keine Wissenschaft" 1 3 8 . Auch Aristoteles bestimmt das Allgemeine in Entgegensetzung zum Einzelnen und Besonderen. E r versteht Allgemeinheit als Einheit in der Vielheit, als das einer Vielheit Gemeinsame: „...denn eben das heißt ja allgemein, was seiner Natur nach mehreren zukommt." 1 3 9 Dieses Allgemeine, obwohl sinnlich nicht wahrnehmbar, muß jedem Einzelnen mit Notwendigkeit und in stets gleicher Weise zukommen. „Denn es ist kein Dieses und ist nicht jetzt, sonst wäre es nicht allgemein; denn unter dem Allgemeinen verstehen wir, was immer und überall ist." 1 4 0 Das Allgemeine als ein „immer und überall" (aei kai pantachou) Seiendes bildet das Erkenntnisziel der Wissenschaft. E s wird auch überhaupt erst als Ergebnis des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses faßbar; es entspringt dem Vergleich vieler Einzelfälle. 1 4 1 Dies führt auf folgende knappe Definition: „...die Wissenschaft aber besteht in der Erkenntnis des Allgemeinen." 1 4 2 Das Allgemeine, wie es von Aristoteles bestimmt worden ist, kennzeichnet jegliche Form theoretischen Erkennens, da dieses stets über die Konstatierung der Phänomene hinauszugehen und die Mannigfaltigkeit des Gegebenen auf Einheit und Allgemeinheit zurückzuführen genötigt ist, um überhaupt zu einer Einsicht gelangen zu können. J e nach Zusammenhang tritt das Allgemeine als Regel oder Gesetzmäßigkeit, als Struktur, als Begriff, Kategorie, Wesen, Prinzip oder Apriori, als Norm oder Wert usw. auf. Welche Gestalt auch immer das Allgemeine annimmt, stets bezeichnet es ein dem Individuellen, d.h. dem Kontingenten, Veränderlichen und Zeitlichen, Entgegengesetztes. Das Allgemeine selbst gewinnt durch diese Gegenüberstellung den Charakter des Übergeschichtlichen und Zeitlosen. Dabei ist uns nur das Einzelne in seiner Zeitlichkeit und Vergänglichkeit unmittelbar sinnlich gegeben. Das Allgemeine selbst ist kein empirischer Gegenstand, wohl aber eine notwendige Bedingung für die Erkenntnis von Gegenständen. Die Auflösung dieses Zusammenhangs und die Entgegensetzung von Einzelnem und Allgemeinem führten zur Entdekkung des Problems des Allgemeinen. — Aber nach welcher Schlußregel 138 139 140
141 142
Vgl. ebd., X I I I , 1078 b 16 f. Ebd., V I I , 1038 b 11 f. Aristoteles: Lehre vom Beweis oder zweite Analytik, übers, u. mit Anm. vers. von Eugen Rolfes, Nachdr. d. Ausg. von 1922, Hamburg 1975, I, 87 b 3 2 - 3 4 . Vgl. ebd., 88 a 4 f . Ebd., 87 b 38 f.
Die Geschichtlichkeit der Vernunft
ließe sich unterliegt, schließen? überhaupt
345
nun von der Tatsache, daß das Einzelne dem Fluß der Zeit auf die Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit des Allgemeinen Handelt es sich beim Begriffspaar „Einzelnes — Allgemeines" um miteinander Vergleichbares?
Seit Sokrates und Piaton bezeichnet das Problem des Allgemeinen ein Grundproblem der Philosophie. In ontologischer Hinsicht kann mit Gottfried Martin in der Frage nach dem Allgemeinen geradezu das Hauptthema aller Metaphysik gesehen werden. 143 Dabei stellt nicht das Allgemeine als solches ein Problem dar, wohl aber seine ontologische Interpretation. Die systematischen Schwierigkeiten und die Differenzen zwischen den verschiedenen Positionen beginnen erst mit der Deutung des Allgemeinen. 144 So führt etwa die Frage nach der Seinsweise des Allgemeinen unter dem Titel des Universalienproblems zur Formulierung mehrerer Lösungsmodelle, bei deren Erörterung sich das Denken in die verschiedensten Schwierigkeiten verwickelt, die schließlich die Vermutung einer prinzipiellen Unlösbarkeit der Fragestellung in ihrer klassischen Gestalt nahelegen. Ein weiterer Punkt der Auseinandersetzung mit der komplexen Thematik gilt der Differenzierung in unterschiedliche Grade und Stufen des Allgemeinen. Ohne nun auf die Fragen nach dem ontologischen Status des Allgemeinen oder nach seiner möglichen Klassifizierung anhand verschiedener Allgemeinheitsgraden näher einzugehen, kann festgehalten werden, daß in der Beschäftigung mit dem Problem des Allgemeinen diesem gerade durch seine Gegenüberstellung zum konkreten Einzelnen stets ein übergeschichtlicher und — je nach Typus weitgehend oder sogar uneingeschränkt — überzeitlicher Charakter zugesprochen wird. Das Medium, in dem der Mensch das Allgemeine erfaßt, ist nach Aristoteles der Logos. 145 Der Mensch, als „zoon logon echon" verstanden, ist das Lebewesen, das des Allgemeinen fähig und des Allgemeinen mächtig ist. Es schafft sich, weil es über den Logos verfügt, eine eigene Welt allgemeiner Gebilde — der Symbole, Zahlen, Ideen, Sinnbilder, Wertvorstellungen usw. — , es durchbricht dadurch sein Eingebundensein in das unmittelbar Vorgegebene und gewinnt ein Stück Unabhängigkeit. Die 143 Vgl. Gottfried Martin: Allgemeine Metaphysik — Ihre Probleme und ihre Methode, Berlin 1965. A u f S. 93 bezeichnet Martin das Allgemfeine als den „eigentlichen Kampfplatz der Metaphysik", als den Ort der Auseinandersetzung um die Möglichkeit der Metaphysik wie um die verschiedenen Standpunkte innerhalb der Metaphysik. 144 145
Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Physik, 189 a 5 f.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
Gebilde des Allgemeinen, in und mit denen der Mensch als das mit dem Logos begabte Wesen existiert, sind Gebilde des Immerseienden und Zeitlosen. In ihnen überwindet er sein Ausgeliefertsein an die Gegenwärtigkeit; in ihnen erfährt er eine Dimension des Übergeschichtlichen und Unvergänglichen; in ihnen gelingt ein Stück Bezwingung der Zeitlichkeit. Was dadurch entsteht, ist der Raum der Kultur im weitesten Sinne. Der Mensch als Vernunftwesen, so läßt sich jetzt formulieren, ist zugleich das Wesen, das sich eine kulturelle, d.h. selbsterrichtete und selbstgeordnete Sphäre schafft. Es ist gerade seine Vernunftfähigkeit, die den Menschen zur Kultur zwingt. Die Vernunft darf darum nicht als ein isoliertes Phänomen betrachtet werden, sondern muß in ihrer Wechselwirkung mit den verschiedenen kulturellen Bezügen gesehen werden. Als Kulturwesen lebt der Mensch zwar immer in irgendeiner, aber nicht in der Kultur, sondern in einer jeweils besonderen,146 Sein Angewiesensein auf Kultur ist nicht ein Angewiesensein auf eine bestimmte Kulturform. Im Gegensatz zum Tier bleibt der Mensch also nicht an seine allgemeinen Raster gebunden, er wird vielmehr stets eine neue Kulturwelt errichten. Gemäß dem Prinzip der Rückwirkung dessen, was der Mensch hervorbringt, ist er als Erzeuger der Kultur zugleich ihr Erzeugter, als Schöpfer der Kultur zugleich ihr Geschöpf, als Kulturpräger zugleich kulturgeprägt: Er ist, um mit Landmann zu sprechen, „Geschöpf seiner eigenen Schöpfungen" 147 . Als kulturelles Wesen muß der Mensch zugleich auch ein geschichtliches Wesen sein. Kulturalität und Geschichtlichkeit gehören unauflöslich zusammen. Der Mensch als Vernunftwesen ist zugleich Kultur- und Geschichtswesen. Es besteht ein Wesenszusammenhang zwischen Vernunftfahigkeit, Kulturalität und Geschichtlichkeit: Der Mensch ist das Geschichtswesen, gerade weil er das „zoon logon echon" ist; seine Vernunftfähigkeit — das Medium des übergeschichtlichen Allgemeinen — ist die Bedingung der Möglichkeit seiner Geschichtlichkeit. Der Mensch ist nur deshalb geschichtlich, weil er des Allgemeinen mächtig ist. Insofern er aber das Geschichtswesen ist, unterliegt seine Vernunft stets veränderten Bedingungen und Ausgangssituationen und gelangt darum zu immer neuen Ergebnissen: die Vernunft hat Geschichte.
146 147
Vgl. Michael Landmann: Fundamental-Anthropologie, 2., erw. Aufl., Bonn 1984, S. 145. Michael Landmann: Philosophie — Ihr Auftrag und ihre Gebiete, Darmstadt 1972, S. 267.
Die Geschichtlichkeit der Vernunft
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Vernunft, Inbegriff des Geschichtslosen und Unveränderlichen, und Geschichte, Inbegriff des Unvernünftigen und Veränderlichen, bilden ein problematisches Begriffspaar. Der Widerspruch zwischen beiden scheint unauflöslich zu sein, denn was vernünftig ist, gilt gerade wegen seiner Vernünftigkeit als übergeschichtlich, und was geschichtlich ist, gilt gerade wegen seines geschichtlichen Charakters als unvernünftig. Und doch gehören beide zusammen, da keines ohne das andere sein kann. Die Vernunft ist von der geschichtlich-kulturellen Sphäre, in der sie sich immer schon befindet und auf die sie als ihre Voraussetzung angewiesen ist, nicht abtrennbar; und die Geschichte weist auf die Vernunftfähigkeit des Menschen als ihre Vorbedingung zurück. Vernunft schafft Geschichte. Und die Geschichte bestimmt die Vernunft. Diese bringt selbst die Bedingungen hervor, denen sie unterliegt. Die Vernunft als Organon des Allgemeinen, Immerseienden und Ubergeschichtlichen hat eine Geschichte. Diese Tatsache bedeutet erst dann eine Relativierung der Vernunft, wenn feststeht, daß die Geschichte der Vernunft nicht ihrerseits einen vernünftigen Prozeß darstellt. Solange man annimmt, daß diese Geschichte selbst in ihrem Verlauf ein Allgemeines und Notwendiges realisiere, daß also ein das Insgesamt ihres Fortgangs übergreifender Entwicklungszusammenhang bestehe, solange braucht die Geschichtlichkeit der Vernunft nicht zum Problem zu werde. Doch das Scheitern der Entwicklungsidee verbietet diese Annahme und hat zur Konsequenz, daß die Vernunft ihre Geschichtlichkeit im Sinne von zeitlicher Bedingtheit anzuerkennen genötigt ist. Mit der Vernunft also läßt sich die Geschichtlichkeit nicht überfliegen. Sie ist zwar das Medium des Allgemeinen, aber ihre Geschichte unterliegt keinem Allgemeinen mehr. Das Allgemeine selbst kann deshalb kein Immerseiendes und Zeitloses sein, wie seit seiner Entdeckung durch Sokrates und Piaton angenommen worden ist, sondern nimmt geschichtlich sich wandelnde Gestalt an, ohne doch aufzuhören, ein Allgemeines zu sein; allerdings nur ein menschliches Allgemeines, auch wenn in ihm etwas getroffen wird, das über das Menschliche hinausweist. Die Vernunft hat keine andere Wahl, sie muß sich als geschichtlich begreifen. Sie kann nicht mehr als Organon eines Immerseienden und zeitlos Gültigen auftreten. Dazu zwingt sie die anthropologische Erkenntnis der Gleichursprünglichkeit und des gegenseitigen Verweisungscharakters von Vernunft, Kulturalität und Geschichtlichkeit. Es ist bei dieser Feststellung nicht etwa die Überzeugung maßgebend, mit der Kennzeichnung des Menschen als Vernunft-, Kultur- und Geschichtswesen sei eine
348
Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
zeitlos gültige Wesensbestimmung des Menschen erzielt. Es wäre absurd, die Wesensdefinition des Menschen von der Geschichtlichkeit auszunehmen. Auch jenes Allgemeine, das die Grundbestimmung des Menschen wiedergibt, bleibt an die Zeit gebunden. Andernfalls müßte man mit Picht fragen: „Aber können wir dann noch ernsthaft von Geschichte reden, wenn das Wesen des Menschen dem Wandel in der Zeit entrückt ist und von dem Gang der Geschichte nicht berührt wird? Wenn die Wesensbestimmung des Menschen zeitlos ist, wird dann nicht seine Geschichtlichkeit im Sinne des Aristoteles zu einem symbebekos, einem accidens, einem beiläufigen Umstand, gegen den der Mensch als solcher in seinem Wesen gleichgültig bleibt?" 148 Allerdings nimmt diese Einschränkung der Erkenntnis der Geschichtlichkeit menschlicher Vernunft nichts von ihrem zwingenden Charakter, weil in ihr eine allgemeine Erfahrung ausgesprochen ist, die — in der gegenwärtigen Denksituation — durch keine andere widerlegt wird: Alles Seiende erscheint uns als zeitlich und, sofern es menschlich ist, als geschichtlich.
2. Vernunft und Evolution Das Problem der Geschichtlichkeit der Vernunft umfaßt eine doppelte Fragestellung, nämlich einerseits die Frage nach ihrem geschichtlich-kulturellen Wandel und andererseits die nach ihrer naturgeschichtlichen Entstehung. Die zweite Frage scheint die leichter beantwortbare zu sein, denn sie betrifft die Vernunft als menschliche Naturanlage, d.h. eine biologische Ausstattung des Menschen, von der wir heute allerdings annehmen, daß sie sich im Evolutionsprozeß herausgebildet habe. Es sei deshalb zuerst die zweite Frage behandelt. Wie jede umfassende Theorie, so ist auch die heutige Theorie der Evolution und Genetik, wie Hans Jonas bemerkt, „ein verwickeltes Netzwerk aus Tatsachenwissen, Hypothese und Deduktion". Als Tatsache könne die Evolution als solche gelten, also der Wandel der Arten, wobei die Übergänge kontinuierlich seien und das Einfache dem Komplexen vorhergehe. Tatsachen seien ferner das Auftreten von Mutationen, das Bestehen einer Wettbewerbssituation und schließlich die Unterschiede zwischen den Wettbewerbern. Die Vorstellung der natürlichen Zuchtwahl 148
Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung — Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 286.
Die Geschichtlichkeit der Vernunft
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stelle eine Deduktion aus den beiden zuletzt genannten Tatsachen dar. Der Zufallscharakter der Mutationen dagegen müsse als eine Hypothese angesehen werden; und die Auffassung schließlich, daß die zufalligen Mutationen „für das Zustandekommen der größeren taxonomischen Ordnungen" ausreichten, sei eher als metaphysische Behauptung denn als wissenschaftliche Hypothese zu bewerten. 149 Die Ausführungen von Jonas weisen auf einige strittige Punkte der modernen Evolutionstheorie und verdeutlichen die Schwierigkeiten, eine geschlossene, lückenlose und allseitig überzeugende Theorie der Evolution aufzustellen. Die Jonasschen Hinweise zeigen aber auch, daß der Grundgedanke der Evolutionslehre, die Abstammung der Arten voneinander, kein ernsthafter Diskussionspunkt mehr sein kann. Nicht das „Daß" der Evolution, sondern nur noch ihr „Wie" steht in Frage. Reduziert man nämlich die Evolutionstheorie auf die ihr zugrunde liegende Idee, so gewinnt sie ein Höchstmaß an Überzeugungskraft. Dies wird nicht selten übersehen, da man die Schwierigkeiten einer bestimmten Evolutionstheorie als Schwierigkeiten der Evolutionsidee selbst mißversteht. Idee und Theorie der Evolution sind jedoch streng auseinanderzuhalten. Es macht die Eigenart wissenschaftlicher Theorien aus, daß sie einem Prozeß der permanenten Modifikation und Anpassung an die neuesten Ergebnisse der Forschung unterliegen. Dies gilt auch für die moderne Evolutionstheorie, die als einheitliche Theorie gar nicht existiert, sondern stets in einer Vielzahl variierender Konzepte vorliegt. Von dieser Dynamik wissenschaftlicher Theorien bleibt die Idee der Evolution unberührt. Sie hat ihr eigenes Recht. Ihre Geltung ist unabhängig von den verschiedenen theoretischen Entwürfen der Wissenschaft wie auch von den speziellen Problemen und Schwierigkeiten, die sich früher oder später für jede Theorie ergeben. Ihre Verbindlichkeit gewinnt die Idee der Evolution aus der schlichten Tatsache, daß denkmögliche Erklärungsalternativen nicht mehr überzeugen. Die Frage nach der Entstehung der Arten führt vor die Alternative, entweder eine Entwicklung der Arten auseinander oder dann eine — nur als übernatürliches Ereignis vorstellbare — Schöpfung der verschiedenen Arten anzunehmen. Die zweite Möglichkeit widerspricht der ganzen Denkart der Gegenwart und bildet einen vollständigen Gegensatz zur modernen Weltsicht. Die Grundidee der Evolution, daß Arten nur auseinander 149
Vgl. Hans Jonas: Organismus und Freiheit — Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 68.
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
entstehen können, ist primär rational gerechtfertigt und kann durch die empirische Wissenschaft bloß bestätigt werden. 150 Die Vorstellung der phylogenetischen Entwicklung der Arten auseinander bildete schon für Schopenhauer, also zu einer Zeit, als der Darwinismus noch kein Diskussionsthema war, „die einzige rationelle, d.h. vernünftigerweise denkbare Entstehungsart der Species, die sich ersinnen läßt"151. Schopenhauers rein rationale Herleitung der Evolutionsidee entbehrt zwar der wissenschaftlichen Ausdrucksweise, trifft aber in ihrem gedanklichen Gehalt das Wesentliche, wenn er von der Entstehung der obereren Arten der Tiere, „des Löwen, des Wolfes, des Elephanten, des Affen, oder gar des Menschen," sagt: „...ihre Entstehung kann nur gedacht werden als generatio in utero heterogeneo, folglich so, daß aus dem Uterus, oder vielmehr 150
151
Darauf hat besonders nachdrücklich Eduard May hingewiesen. Er bezeichnet in diesem Zusammenhang die Idee der Deszendenz als „apriorisch-rationales Postulat, das einer empirischen Begründung oder Bestätigung weder fähig noch bedürftig ist, das aber auch niemals a posteriori widerlegt werden kann" (Eduard May: Schöpfung und Entwicklung — Logische Betrachtungen zur Deszendenztheorie; in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 2, 1947, S. 209—230; S. 211). Dieser apriorisch-postulatorische Charakter der Abstammungsidee, so führt May weiter aus, sei „fast stets verkannt oder gar überhaupt nicht gesehen worden; teils infolge Denkträgheit und empiristischer Voreingenommenheit, teils dadurch, daß man spezielle deszendenztheoretische Fragen mit der allgemeinen Abstammungs/i&e, die ja alle Einzelheiten des Wie, Warum und Wodurch offen läßt, vermengte." Im Gegensatz dazu sei jede bestimmte Abstammungslehre, jede „spezielle Ausprägungsform" des Prinzips „omne vivum e vivo" hypothetisch und könne möglicherweise durch neue Erfahrungsdaten zu Fall gebracht werden. (Ebd.) Das Prinzip „omne vivum e vivo" impliziert bereits die Evolutionsidee. Über die Rechtfertigung dieses Prinzips schreibt May folgende bemerkenswerte Sätze: „Seine Rechtfertigung erfährt es durch sich selbst, durch seine rationale, in unserer ganzen wissenschaftlichen Denkweise gründenden Struktur, und dies eben macht seine Apriorität aus. Es mag die Vermutung erlaubt sein, daß die Menschheit im Laufe ihrer zukünftigen Entwicklung sich vielleicht aus ihrer gegenwärtigen Denkwelt herauslebe, daß die Wissenschaft verfalle oder ihre theoretische Bedeutung einbüße und der abendländische Mensch sich eine grundsätzlich neue (vielleicht wieder echt mythische) Welt schaffe, in der die Frage nach der Herkunft des Organischen entweder überhaupt nicht auftritt, oder eine durchaus andere Lösung erfährt. Unter einer derartigen Voraussetzung, also im Rahmen einer kulturphilosophischen Betrachtung, die das Ganspe der Wissenschaft und unsere gan^e Art des Denkens, unseren geistigen Lebensstil sozusagen, sich zum Problem macht, hat es selbstverständlich seine Berechtigung und seinen guten Sinn, auch den Abstammungsgedanken als solchen in der genauesten Bedeutung des Wortes ,in Frage zu stellen'. Es geht aber nicht an, diese Frage auf einem Boden zu diskutieren, für den die Abstammungsidee selbst von konstituierender Bedeutung ist. Wenn man also auf naturwissenschaftlicher Seite die Möglichkeit einer empirischen Widerlegung des ,omne vivum e vivo' ins Auge faßt, so ist man sich dort offenbar nicht darüber im klaren, daß damit bereits gegen das wissenschaftliche Denken schlechthin verstoßen wird" (S. 212). Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, 2. Band; in: Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hübscher, Bd. 6, Wiesbaden 1947, S. 163.
Die Geschichtlichkeit der Vernunft
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dem Ei, eines besonders begünstigten thierischen Paares, nachdem die durch irgend etwas gehemmte Lebenskraft seiner Species gerade in ihm sich angehäuft und abnorm erhöht hatte, nunmehr ein Mal, zur glücklichen Stunde, beim rechten Stande der Planeten und dem Zusammentreffen aller günstigen atmosphärischen, tellurischen und astralischen Einflüsse, ausnahmsweise nicht mehr seines Gleichen, sondern die ihm zunächst verwandte, jedoch eine Stufe höher stehende Gestalt hervorgegangen wäre; so daß dieses Paar, dieses Mal, nicht ein bloßes Individuum, sondern eine Species erzeugt hätte." 152 Der Evolutionsidee kommt in der gegenwärtigen Denksituation zwingende Geltung zu, und zwar im Unterschied zu den einzelnen evolutionstheoretischen Konzepten, deren hypothetischer Charakter ungleich stärker ausgeprägt ist. Es ist demnach davon auszugehen, daß der Mensch im Ablauf des organischen Evolutionsprozesses entstanden ist. Er stellt deshalb auch in seinem Vernunftvermögen und in seiner Denkfähigkeit das Ergebnis der Evolution dar. Anders ausgedrückt: Es ist vernünftig, die Evolution als eine Grundgegebenheit anzuerkennen, der das Vernunftvermögen selbst unterworfen ist. Die Vernunft hat demnach davon auszugehen, daß sie sich im Ablauf eines naturgeschichtlichen Prozesses herausgebildet hat. Daraus ergibt sich die Frage, was dies für das Selbstverständnis der Vernunft bedeutet und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Das Faktum des evolutionären Gewordenseins der menschlichen Vernunftanlage bedeutet zunächst einen Widerspruch zur klassischen Selbsteinschätzung der Vernunft als eines Vermögens unveränderlicher Formen und zeitlos gültiger Strukturen. Doch was folgt daraus? Wird durch die Auffassung einer Evolution der menschlichen Vernunftorganisation und durch den daraus gefolgerten Wandel der bisher als unveränderlich gedachten Strukturen nicht in letzter Konsequenz sogar die Geltung der mathematischen Sätze und der logischen Gesetze in Frage gestellt? Und würde dies nicht auf die Selbstaufhebung des Evolutionsgedankens hinauslaufen? Müßte dies nicht das Ende der Erkennbarkeit der Welt bedeuten? Zur Verdeutlichung dieses Einwandes kann auf eine Überlegung G. Freges hingewiesen werden. Mathematische Sätze, so führt Frege in seinen „Grundlagen der Arithmetik" aus, hörten ebensowenig auf, wahr zu sein, wenn man nicht mehr an sie denke, wie die Sonne dadurch vernichtet werde, daß man die Augen schließe. „2 • 2 = 4" müsse zeitlose Geltung 152
Ebd., S. 162.
352
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haben. Gegen diese Auffassung läßt nun Frege einen fiktiven Vertreter der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise folgendermaßen argumentieren: „...aber die Zahlvorstellung hat ja eine Entwickelung, eine Geschichte! ... Woher weißt du, daß in jener Vergangenheit dieser Satz schon bestand? Könnten die damals lebenden Wesen nicht den Satz 2 - 2 = 5 gehabt haben, aus dem sich erst durch natürliche Züchtung im Kampf ums Dasein der Satz 2 - 2 = 4 entwickelt hat, der seinerseits vielleicht dazu bestimmt ist, auf demselben Wege sich zu 2 - 2 = 3 fortzubilden?" 153 Gegen die entwicklungsgeschichtliche Ansicht und deren absurde Konsequenzen hält Frege mit Entschiedenheit an der Zeitlosigkeit der Strukturen und Gesetze des Denkens fest: „Die geschichtliche Betrachtungsweise, die das Werden der Dinge zu belauschen und aus dem Werden ihr Wesen zu erkennen sucht, hat gewiß eine große Berechtigung; aber sie hat auch ihre Grenzen. Wenn in dem beständigen Flusse aller Dinge nichts Festes, Ewiges beharrte, würde die Erkennbarkeit der Welt aufhören und Alles in Verwirrung stürzen." 154 Denn die geschichtliche Auffassung „zieht Alles ins Subjective und hebt, bis ans Ende verfolgt, die Wahrheit a u f 1 5 5 . Der letzten Aussage Freges läßt sich nun freilich, ohne den nachfolgenden Erörterungen vorzugreifen, bereits mit Bestimmtheit entgegenhalten, daß der Terminus „Wahrheit" den Terminus „Vernunft" zur Voraussetzung hat, daß also dort, wo das Vernunftvermögen fehlt, sich auch das Wahrheitsproblem nicht stellt. Im Unterschied zu Frege erwägt Husserl ausdrücklich die Möglichkeit eines Wandels der Vernunftstrukturen und selbst der logischen Gesetze und meint: „Biologische Gedankenreihen drängen sich auf. Wir werden an die moderne Entwicklungstheorie erinnert, wonach sich der Mensch etwa im Kampf ums Dasein und durch natürliche Zuchtwahl entwickelt hat, und mit ihm natürlich auch sein Intellekt und mit dem Intellekt auch alle die ihm eigentümlichen Formen, näher die logischen Formen. Drücken danach die logischen Formen und logischen Gesetze nicht die zufallige Eigenart der menschlichen Species aus, die auch anders sein könnte und im Verlauf der künftigen Entwicklung auch anders sein wird? Erkenntnis ist also wohl nur menschliche Erkenntnis, gebunden an die menschlichen
153
154 155
Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik — Eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Nachdruck der Ausg. Breslau 1934, Hildesheim 1961, S. X V I I I f. Ebd., S. X I X . Ebd.
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intellektuellen Formen, unfähig die Natur der Dinge selbst, die Dinge an sich zu treffen." 156 Es ist nun zu überlegen, ob die Vernunft nicht in eine aporetische Situation gelangt, wenn sie sich selbst als geschichtlich entstanden behauptet, und zwar auf der Basis einer Theorie, die einerseits von der Vernunft als gültig anerkannt wird, die aber andererseits zugleich die Gültigkeit der Vernunft in Frage stellt. Ein unauflöslicher Selbstwiderspruch, also eine Aporie, liegt in der Tat dann vor, wenn die Uberzeugung leitend ist, der Evolutionsgedanke in Gestalt der modernen Evolutionstheorie könne zur Grundlage einer wissenschaftlichen Erklärung der Vernunft gemacht werden. Es kann der Vernunft nicht gelingen, mittels des Gedankens ihres evolutionären Entstandenseins Aufschluß über die tatsächlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit zu erzielen und also gleichsam aus sich selbst herauszutreten, da sie in jedem Fall an ihre gegenwärtige Gestalt gebunden bleibt und bei allen derartigen Bemühungen, ihre eigene Genese zu begreifen, ihre jetzigen allgemeinen Strukturen und Kategorien zur Voraussetzung hat. Alles vernünftige Denken steht unter den formalen Bedingungen des gegenwärtigen Vernunftvermögens, das es evolutionsgeschichtlich zu erklären gilt. Jeder Versuch einer Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte des menschlichen Vernunftvermögens bleibt an die Vernunft in ihrer jetzigen Gestalt als ein letztgegebenes Fundament gebunden. Der Gedanke der Evolution der Vernunft ist kein Urteil von außerhalb, sondern ein Stück Selbsterhellung und zugleich Selbstrelativierung. Die eigentliche Bedeutung dieses Gedankens besteht gerade darin, daß er die Unmöglichkeit einer Erklärung der Vernunft zur Konsequenz hat.
3. Der Anspruch der evolutionären
Erkenntnistheorie
Die evolutionäre Erkenntnistheorie 157 , die in jüngster Zeit rasch an Einfluß gewinnt, scheint sich an der zuversichtlichen Vorstellung zu 156
157
Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie — Fünf Vorlesungen, hrsg. u. eingel. von Walter Biemel, 2. A u f l . ; in: Husserliana, Bd. 2, Den Haag 1958, S. 21. Vgl. insbes. Gerhard Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie — Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext v o n Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1975; Rupert Riedl: Biologie der Erkenntnis — Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft, 3., durchges. Aufl., Berlin/Hamburg 1981; Franz M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik — Folgerungen aus der modernen Biologie,
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Kritik und Rechtfertigung des Entwicklungsdenkens
orientieren, es ließe sich die Evolutionstheorie zur Grundlage einer wissenschaftlichen Erkenntnislehre machen, die endlich eine wissenschaftliche Lösung des Erkenntnisproblems erlaubt. Zur Realisierung dieses Programms ist freilich nicht nur eine bestimmte Theorie der Evolution, sondern 2ugleich eine bestimmte erkenntnistheoretische Ausgangsposition erforderlich. Dies spricht zwar keineswegs gegen die Legitimität einer Analyse des Erkenntnisvermögens auf entwicklungsgeschichtlicher Basis, wohl aber gegen allzu weitreichende Erwartungen gegenüber der Erklärungskraft des evolutionstheoretischen Ansatzes. Die evolutionäre Erkenntnistheorie erhebt den Anspruch, wissenschaftlich erklären zu können, weshalb eine weitreichende — wenngleich nicht vollständige — Übereinstimmung zwischen den objektiven Strukturen der Wirklichkeit und den subjektiven Erkenntnisstrukturen besteht. Der Grundgedanke, auf dem die Erklärung beruht, läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Die Evolution des Lebens ist ein Prozeß der Herausbildung immer besserer Erkenntnisfähigkeiten und immer geeigneterer Methoden der erkenntnismäßigen Orientierung in der Umwelt. Die jeweils bessere Anpassung der Erkenntnisstrukturen an die Wirklichkeitsstrukturen schafft Selektionsvorteile. Die Entstehung des Bewußtseins erlaubt schließlich eine bewußte, d.h. planende und zielstrebige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und gewährt somit wiederum Überlebensvorteile. Die Übereinstimmung oder, um den von G . Vollmer eingeführten Terminus zu verwenden, die „Passung" von kognitiven Strukturen und Wirklichkeitsstrukturen stellt das Ergebnis eines durch die Evolutionsmechanismen von Mutation und Selektion zustandegekommenen Anpassungsprozesses dar. Die Passung muß dabei so geartet sein, daß ein Überleben möglich ist; sie muß also „überlebensadäquat" sein. 158 In diesem Sinne läßt sich „jede subjektive Erkenntnisstruktur als eine Hypothese über die Struktur der Welt auffassen" 1 5 9 . Dabei bleibt die Frage, woran sich nun der Grad an Wirklichkeitsadäquatheit bemißt, unbeantwortet, da das evolutionstheoretisch allein relevante Kriterium in der Überlebensadäquatheit besteht. Entsprechend bezeichnet Vollmer diejenigen Hypothesen Darmstadt 1984 sowie die verschiedenen Beiträge im Sammelband „Die Evolution des Denkens", hrsg. von Konrad Lorenz und Franz M. Wuketits, München/Zürich 1983. 158 Vgl. Gerhard Vollmer: Mesokosmos und objektive Erkenntnis — Uber Probleme, die von der evolutionären Erkenntnistheorie gelöst werden; in: Die Evolution des Denkens, S. 41. 159 Ebd.
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als „gut", die „den evolutionären Erfolg erhöhen". 1 6 0 Eine Feststellung des Übereinstimmungsgrades zwischen Erkenntnis- und Wirklichkeitsstrukturen dagegen erweist sich als grundsätzlich undurchführbar. Eine vollständige Übereinstimmung, d.h. eine „objektive Erkenntnis" erscheint zwar als möglich, sie wäre aber als solche nicht beweisbar. „In der evolutionären Erkenntnistheorie ist dies eine endgültige Schranke für menschliche Erkenntnis..." 1 6 1 Die evolutionstheoretische Betrachtungsweise der Erkenntnis macht deutlich, daß es „keinen Beweis für Wahrheit oder Objektivität" geben kann. 1 6 2 Die evolutionäre Erkenntnistheorie mündet in einen „hypothetischen Realismus" 1 6 3 . Realistisch ist diese Position, da nach ihr das menschliche Denken sich im Evolutionsprozeß an die Strukturen der Wirklichkeit angepaßt hat; hypothetisch ist sie, insofern keine Möglichkeit besteht, die Objektivität einer Erkenntnis zu beweisen. Stellt somit der hypothetische Realismus eine Konsequenz des evolutionstheoretischen Ansatzes dar, so ist doch zu bedenken, daß dieser Ansatz seinerseits bereits eine realistische Position zur Voraussetzung hat. Nicht gering einzuschätzen ist allerdings die daraus folgende Konsequenz des bloß hypothetischen Charakters aller menschlichen Erkenntnis. Eine solche „Lektion in Bescheidenheit", zumal wenn sie von einer naturwissenschaftlich auftretenden Richtung stammt, wird man gerne annehmen, und es ist zu hoffen, daß sie sich in der gegenwärtigen Situation wissenschaftlicher Hybris heilsam auswirken werde. In Vollmers Worten ausgedrückt: „Die Tatsache, daß unsere kognitiven Fähigkeiten nicht vollkommen sind..., daß es andere kognitive Systeme auf der Erde und vielleicht auch auf anderen Planeten gibt, daß unser erkennendes Gehirn ein Ergebnis einer jahrmilliardenlangen Evolution ist, daß wir mit phylogenetischen Vorurteilen über die Welt und andere Leute beladen sind, daß solche Überzeugungen ratiomorph, aber nicht rational sind — all dies ist geeignet, uns Bescheidenheit zu lehren." 1 6 4 In dieser kritisch-aufklärerischen Absicht zumindest trifft sich die an der Naturwissenschaft orientierte evolutionäre Erkenntnistheorie wieder mit der philosophischen Erkenntnistheorie. 160 161 162 163
164
Vgl. ebd. Ebd., S. 42. Vgl. ebd. Vgl. etwa ebd., S. 45 f. sowie G. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 3 4 f f . und ferner R. Riedl: Biologie der Erkenntnis, S. 31 f. — Der Ausdruck „hypothetischer Realismus" wurde nach Auskunft Vollmers (Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 192, Anm. 21) v o n D. T. Campbell und K . Lorenz in die Diskussion eingeführt. Ebd., S. 91.
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Im Widerspruch zu diesem Anliegen steht dagegen die Tatsache, daß die evolutionäre Erkenntnistheorie in einem irritierend hohen Ausmaß jenes Problembewußtsein vermissen läßt, das erarbeitet zu haben den eigentlichen Wert der philosophischen Erkenntnistheorie ausmacht und das nicht wieder vergessen zu lassen wohl als ihre gegenwärtige Hauptaufgabe zu betrachten ist. Zur Illustration dieser Bemerkung sei kurz auf die Neuformulierung des Begriffs des Apriorischen durch die evolutionäre Erkenntnistheorie eingegangen. Im Rahmen der Erkenntnistheorie Kants, so führt F. M. Wuketits aus, sei das Apriorische nicht weiter hinterfragbar, auf evolutionärer Basis könne es jedoch „als stammesgeschichtlich entstanden erklärt werden". Dies habe eine „phylogenetische Relativierung des Apriorischen" zur Folge. 165 Denn was ontogenetisch a priori sei und menschliche Erkenntnis konstituiere, das sei, wie Vollmer darlegt, phylogenetisch a posteriori, insofern es im Laufe der Evolution erworben wurde und also „ein Ergebnis guter und schlechter Erfahrungen während Tausender und Millionen von Jahren" darstelle. 166 Das Apriorische, bei Kant eine notwendige Grenze aller Erkenntnis, verliere durch seine evolutionäre Herleitung seinen Erkenntnis einschränkenden Charakter. Damit eröffne sich ein Zugang zum Raum der Dinge an sich: „Tatsächlich dürfen wir hoffen, dem Ding an sich mit unserer Erkenntnis näher zu kommen, durch wissenschaftliche Theorien, wenn auch nicht durch Wahrnehmung oder unmittelbare Erfahrung. Wir hoffen, schließlich doch Wahres herauszufinden über die Welt, wie sie ist, nicht nur, wie sie uns erscheint." 167 Solche Ansprüche erklären, weshalb sich die evolutionäre Erkenntnistheorie gerne als eine revolutionäre und eine neue kopernikanische Wende vollziehende Theorie ausgibt. Während die kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie Kants darin bestand, daß sie nicht länger von der Annahme ausging, die Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, sondern diese nach jener, 168 wird in der evolutionären Erkenntnistheorie diese Wende gleichsam wieder rückgängig gemacht, indem behauptet wird, daß die Erkenntnisstrukturen über den Weg des evolutionären Anpassungsprozesses von der realen Welt geformt worden seien. Aufgrund
Vgl. F. M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik, S. 97. 166 Yg] G Vollmer: Mesokosmos und objektive Erkenntnis, S. 43. 167 Ebd. 168 Vgl. K r V , B X V I (s. Anm. 1 des zweiten Teils). 165
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dieser Überlegung meint die evolutionäre Erkenntnistheorie beanspruchen zu können, eine, wie Vollmer formuliert, „wahrhaft kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie" herbeigeführt zu haben. 169 Ein Zirkelschluß ist eine Schlußfolgerung, in der das Ergebnis bereits eine der Voraussetzungen bildet, aus denen es allererst durch Ableitung gewonnen werden soll. Nun kann die evolutionäre Entstehungsgeschichte des menschlichen Vernunftvermögens nur mittels jener Strukturen und Formen erfaßt werden, die das Ergebnis des Evolutionsprozesses darstellen. Eine solche stammesgeschichtliche Rekonstruktion der Vernunftanlage bedeutet gewiß noch keine zirkuläre Erkenntnissituation, sie führt aber auch nicht zur Lösung der erkenntnistheoretischen Grundfragen. In dem Moment jedoch, wo die evolutionäre Herleitung der Vernunftstrukturen mit dem Anspruch der Erklärung dieser Strukturen auftritt, verwickelt sie sich in einen vitiösen Zirkel, da eine solche Erklärung bereits voraussetzt, was sie erklären will. Auch eine entwicklungstheoretische und in diesem Sinne dynamische Betrachtungsweise bleibt an die unveränderliche Statik des menschlichen Vernunftvermögens gebunden. In allen Überlegungen zur naturgeschichtlichen Herkunft der Vernunft ist dieselbe Vernunft immer schon in Anspruch genommen und vorausgesetzt. Und es mag nun die naturwissenschaftliche Forschung noch so viel Material zur Entstehungsgeschichte der Strukturen und Formen vernünftigen Denkens zusammentragen, ja sie mag sogar eine lückenlose Rekonstruktion der Entwicklungslinie von einfachsten Erkenntnisorganisationen bis zur menschlichen Vernunftfähigkeit erarbeiten, so bleibt dies doch eine vernunftimmanente Rekonstruktion, d.h., sie gelangt gar nicht bis zur Klärung der transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von vernünftiger Erkenntnis, da diese Bedingungen als transzendentale auch diejenigen der Möglichkeit evolutionstheoretischer Rekonstruktionsversuche sind. In einer Analogie ausgedrückt: Zielsetzung und Verfahren der evolutionären Erkenntnistheorie erinnern an den — vergeblichen — Versuch, das transzendentale Ich im Sinne Kants durch eine Rekonstruktion der ontogenetischen Entwicklungsgeschichte des empirischen Ichs erklären zu wollen. Es besteht eben, um einen Ausdruck Erich Heintels zu verwenden, eine „transzendentale Differenz" zwischen der Vernunft, die vernünftiges Denken ermöglicht, auf der einen Seite, und diesem selbst auf der anderen: 169
Vgl. G. Vollmer: Mesokosmos und objektive Erkenntnis, S. 44 sowie ders.: Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 1 7 0 ff.
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„Ganz generell besagt die transzendentale Differenz, daß Vermittlung nicht in der Weise gedacht werden kann wie das Gegebene, das in ihr jeweils vermittelt wird." 170 Die erste, Vernunftausübung allererst ermöglichende Vernunft ist nicht weiter rückführbar und schon gar nicht historisch erklärbar; sie kann grundsätzlich nicht den Gegenstand vernünftiger Erkenntnis bilden. Die Vernunft, die es zu erklären gilt, kann nicht identisch sein mit der Vernunft, die erklärt. Wenn versucht wird, Vernunft als Bedingung der Möglichkeit vernünftiger Erkenntnis zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Theorie zu machen, dann fällt das Wesentliche der Vernunft, daß sie nämlich Wissenschaft ermöglicht, gerade aus dem Blickfeld. Es zeigt sich damit von neuem, daß die Vernunft sich mit Vernunftargumenten weder rechtfertigen noch begründen läßt, daß sie aber auch weder der Rechtfertigung noch der Begründung bedarf, da sie in beiden Vorgehen bereits vorausgesetzt wäre. Darum kann auch, wer Vernunft ablehnt, nicht mit rationalen Mitteln für sie gewonnen werden. Dies bestätigt sich auf eine besonders schmerzhafte Weise in der gegenwärtigen Weltsituation, in der nun zwar die äußeren Voraussetzungen für eine universale vernünftige Verständigung gegeben sind, aber keine Verständigung darüber gelingt, Vernunft als Medium universaler Konsensgewinnung anzuerkennen. In der Tatsache, daß Vernunft sich nicht selbst zu begründen vermag, liegt somit der Grund für ihre, wie es H. M. Baumgartner formuliert hat, „Widerspenstigkeit, sich aus Geschichte erklären zu lassen" 171 . Wenn es aber nicht die Vernunft selbst sein kann, die durch eine evolutionstheoretische Rekonstruktion erklärt wird, was ist es dann, das durch eine solche Betrachtungsweise sichtbar wird? Im Hinblick auf Schellings Konzeption einer Naturgeschichte der Vernunft antwortet Baumgartner darauf: „Was durch eine Naturgeschichte des Geistes erklärt wird, ist nicht die Vernunft selbst, wie immer sie im übrigen definiert sein mag — sie ist ja immer schon vorausgesetzt; sondern wie sie zu sich kommt und genau diese Natur erkennen kann, die sie umgibt. Nicht Vernunft wird erklärt, sondern die Natur als ihr mögliches Objekt." 172
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Erich Heintel: Grundriß der Dialektik — Ein Beitrag zu ihrer fundamentalphilosophischen Bedeutung, Bd. 1, Darmstadt 1984, S. 202. Vgl. Hans Michael Baumgartner: Über die Widerspenstigkeit der Vernunft, sich aus Geschichte erklären zu lassen — Zur Kritik des Selbstverständnisses der evolutionären Erkenntnistheorie; in: Wandel des Vernunftbegriffs, hrsg. von Hans Poser, Freiburg/ München 1981, S. 3 9 - 6 4 . Ebd., S. 61.
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In der evolutionären Erkenntnistheorie sollen die naturgeschichtlichen Voraussetzungen der Erkenntnis freigelegt werden. In der philosophischen Erkenntnistheorie sollen jene Bedingungen reflektiert werden, denen auch jede mögliche entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion unterworfen ist; sie sucht also jenes Apriorische aufzuzeigen, das noch jeder wissenschaftlichen Untersuchung vorausliegt. Wie ist nun das Verhältnis zwischen diesen beiden verschiedenen Disziplinen zu bestimmen? In versöhnlicher Absicht meint Wuketits zu dieser Frage, die Befürchtung sei unbegründet, daß mit der evolutionären Erkenntnistheorie ein „Konkurrenzunternehmen" zur philosophischen Erkenntnislehre aufgebaut würde, da jene sich auf die Untersuchung der phylogenetischen Vorbedingungen des Erkennens beschränke. 173 Es seien deshalb zwei Ebenen zu unterscheiden: die Ebene der philosophischen Erkenntnistheorie, die menschliches Erkennen voraussetze, und die Ebene einer Biologie der Erkenntnis, die genau diese Voraussetzungen untersuche. Und hierdurch vermöge „die evolutionäre Erkenntnistheorie eine breitere Basis für die ,reine', philosophische Erkenntnistheorie zu schaffen" 174 . Indem sie die Fundamente menschlicher Erkenntnisleistungen und damit auch der Vernunft zu erhellen suche, komme ihr die Bedeutung einer „elementaren Erkenntnistheorie zu: Erst wenn ich weiß, wie die für die Informationsaufnahme und -Verarbeitung maßgeblichen Strukturen beschaffen sind und welche funktionalen Eigenschaften sie involvieren, kann ich mit der Fragestellung einer reinen, philosophischen Erkenntnistheorie beginnen" 175 . Eine solche Selbsteinschätzung erlaubt in einem, den Vorwurf zirkulären Argumentierens zurückzuweisen, ihn umzuwenden und ihn schließlich gegenüber der philosophischen Erkenntnistheorie zu erheben. Wuketits führt also weiter aus: „Suche ich ... nach einem Apriori der Vernunft ohne Bezugnahme auf relevante empirische Resultate über den Apparat, der diese Vernunft ermöglicht, bewege ich mich zwangsweise im Kreis. Die evolutionäre Erkenntnistheorie, die auf jenen Resultaten aufbaut, ist nicht nur selbst nichtzirkulär, sondern sie ermöglicht auch der Erkenntnistheorie schlechthin eine nichtzirkuläre Vorgangsweise." 176 In dieser und ähnli-
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Vgl. F. M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik, S. 64. Franz M. Wuketits: Evolutionäre Erkenntnistheorie — Die neue Herausforderung; in: Die Evolution des Denkens, S. 16. F. M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik, S. 92 f. Ebd., S. 93.
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chen 177 Argumentationen der Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie bleibt die transzendentale Voraussetzungsproblematik menschlichen Erkennens konsequent ausgeklammert. Es wird deshalb übersehen, daß es in der transzendentalphilosophischen Rückwendung des Denkens nicht um den Aufweis wissenschaftlich erfaßbarer, gegenständlicher Sachverhalte — etwa naturgeschichtlicher Erkenntnisbedingungen — geht, sondern um jene apriorischen Momente, die jeder gegenständlichen Erkenntnis vorausliegen und die gegenständliche Erkenntnis allererst konstituieren. Eine Entwicklungsgeschichte der Vernunft erscheint als wissenschaftlich durchführbar und ist ohne Zweifel wünschenswert. Es ließe sich aus ihr vielfacher Gewinn ziehen, insbesondere würde sie ein besseres Verständnis der Stellung des Menschen im Ganzen der organischen Evolution gewähren. Aber das, was die evolutionäre Erkenntnistheorie verspricht, nämlich die Fundamente menschlichen Erkennens und Denkens aufzuzeigen und damit das Erkenntnisproblem einer wissenschaftlichen Lösung zuzuführen, dies wird sie aus grundsätzlichen Gründen nie zu leisten imstande sein. Sie wird also auch nicht, wie Vollmer sich vom evolutionären Ansatz erhofft, zu einer Neufassung des Apriorischen führen oder gar einen Einblick in den Raum der Dinge an sich gewähren. Als verbindlich erweist sich dagegen eine dazu entgegengesetzte Folgerung aus dem naturgeschichtlichen Gewordensein des Vernunftvermögens, daß nämlich, wie Husserl in der bereits zitierten Stelle formulierte, Erkenntnis also nur menschliche Erkenntnis sein könne, „gebunden an die menschlichen intellektuellen Formen, unfähig die Natur der Dinge selbst, die Dinge an sich zu treffen". 177
Auch R. Riedl weist den Vorwurf einer zirkulären Argumentation zurück und wirft seinerseits der philosophischen Erkenntnistheorie vor, sie würde die Grundlagen der Erkenntnis aus vernunfteigenen Prinzipien erschließen und nicht, wie die evolutionäre Erkenntnistheorie, durch stammesgeschichtliche Momente, die „außerhalb" des erkennenden Subjekts lägen. Die für das Selbstverständnis der evolutionären Erkenntnistheorie wie für den Grad an erkenntniskritischem Problembewußtsein äußerst aufschlußreiche Stelle verdient es, vollständig zitiert zu werden: „Unsere Position unterscheidet sich also insoferne grundsätzlich von der, welche die philosophische Erkenntnistheorie einnimmt, als die Grundlagen der Vernunft nicht nur aus ihren eigenen Prinzipien erschlossen werden, sondern durch eine vergleichend stammesgeschichtliche Erforschung eben aller Erkenntnisprozesse. Damit ist der Gegenstand der Untersuchung nicht mehr mit dem erkennenden Subjekt ,identisch', sondern befindet sich in der Hauptsache außerhalb desselben; und die Methode bleibt die der vergleichenden Naturwissenschaft. Auf diese Weise wird jene Beschränkung vermieden, die entstehen muß, wenn sich die rationale Vernunft aus sich allein begründen soll" (Biologie der Erkenntnis, S. 7).
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4. Vernunftlosigkeit der Geschichte als Geschichtlichkeit der Vernunft Die bisherigen Erörterungen der vorliegenden Untersuchung ließen eine Vielzahl variierender Konzeptionen von Entwicklung erkennen. Der in dieser Unterschiedlichkeit sich dokumentierende geschichtliche Wandel des Entwicklungsbegriffs führt diesen aus einem doppelten Grund in einen Selbstwiderspruch. Denn zum einen ist in der Geschichte des Entwicklungsdenkens keine Entwicklungsstruktur feststellbar, und zum anderen läßt sich nicht einmal entscheiden, auf welche Entwicklungsstruktur hin die Geschichte des Entwicklungsdenkens befragt werden sollte, da die einzelnen Entwicklungskonzeptionen sich als situationsbedingt und historisch kontingent herausgestellt haben. Die Tatsache also, daß der geschichtsphilosophische Entwicklungsbegriff eine Geschichte hat, die sich nicht auf eine einheitliche Entwicklungsstruktur zurückführen läßt, weist darauf hin, daß es dem Denken ganz allgemein versagt bleiben muß, das Geschichtsgeschehen in zeit- und geschichtslosen Strukturen zu erfassen, da es gerade der Entwicklungsbegriff ist, dem die Funktion zukommt, die Mannigfaltigkeit eines Geschehens auf die Einheit einer gleichbleibenden Struktur zu beziehen. Oder anders gewendet: Der Gedanke geschichtlicher Entwicklung ist erst dann zu Ende gedacht, wenn er auf sich selbst Anwendung findet. Doch gerade dies gelingt nicht, weil die Geschichte des Entwicklungsdenkens keinen Entwicklungscharakter zeigt. Damit erweist sich der Entwicklungsgedanke selbst als geschichtlich kontingente Vorstellung. Die Problematik, die sich hieraus ergibt und auf die das Entwicklungsdenken zwangsläufig stößt, sobald es sich seiner eigenen geschichtlichen Bedingtheit bewußt wird, stellt lediglich einen speziellen Fall des allgemeinen Problems der Geschichtlichkeit der Vernunft dar. Allerdings handelt es sich nicht um einen beliebigen, sondern um einen „ausgezeichneten" Fall des Problems, da gerade der Entwicklungsidee zugetraut wurde, einen Ausweg aus der Schwierigkeit zu eröffnen und das beunruhigende Faktum der Geschichtlichkeit menschlicher Rationalität zu überwinden. Die Tatsache der Geschichtlichkeit der Vernunft konnte also erst nach dem Scheitern des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens zum Problem werden und sich mit dem Gedanken einer geschichtlich bedingten Relativität verbinden. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs sei nochmals auf Kants Konzeption der Geschichte der Vernunft hingewiesen. Für ihn ist der Geschichtsbegriff vom Entwicklungsbegriff nicht ablösbar, und deshalb blieb das dem unbestreitbaren Faktum der Geschichtlichkeit
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der Vernunft inhärente Problem verdeckt. Und obwohl nach Kant nicht nur die menschliche Vernunft, sondern sogar auch die Natur und schließlich die Schöpfung insgesamt eine Geschichte haben, so handelt es sich doch um eine wesentlich ungeschichtliche Sicht, da der geschichtliche Wandel von Vernunft und Natur bloß Ausdruck ihres Entwicklungscharakters ist und damit gerade ihre teleologische Bestimmung bezeichnet. Die Vernunft als menschliche Naturanlage wird demnach einem nach dem Modell organischer Entwicklung vorgestellten Prozeß folgen; sie ist dazu bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig zu entwickeln. 178 Daß sie sich im Verlauf ihrer Geschichte wird realisieren können, liegt dabei in ihrem ursprünglichen Wesen begründet, insofern sie die Fähigkeit bezeichnet, die es dem Menschen erlaubt, sich vernünftige Zwecke zu setzen, ihnen gemäß zu handeln und auf diesem Weg sich allmählich „aus der größten Rohigkeit dereinst zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und (so viel es auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit" 179 emporzuarbeiten. Die Vernunft bedarf der Geschichte. Sie muß geschichtlich sein, um werden zu können, was sie jetzt nur ihrer Möglichkeit nach ist. Sie kann nicht von Anfang an vollkommen sein, weil der Mensch als Vernunftwesen von der Natur verpflichtet ist, an keinen anderen Fortschritten teilzuhaben, als an solchen, die er sich durch eigene vernünftige Bemühungen erworben hat. 180 Der Mensch soll, wie es in den „Reflexionen zur Anthropologie" heißt, „die humanitaet sich selbst zu danken haben" 181 . Und in einer anderen Reflexion formuliert Kant: „Der Mensch soll alle Vollkommenheit aus sich selbst herausbringen. Der Mensch muß erzogen und belehrt werden, also wächst die Gattung an Vollkommenheit. Der erste Zustand ist der schlechteste." 182 In einer solchen Sichtweise, so läßt sich zusammenfassend festhalten, bleibt der Zugang zur Problematik der Geschichtlichkeit der Vernunft durch die Überzeugung verstellt, daß die Geschichte der Vernunft den Entwicklungsprozeß ihrer eigenen Verwirklichung darstelle. Die Feststellung des Mißlingens aller Versuche, die Geschichte als Entwicklung, als rationalen Prozeß, zu begreifen, erlaubt es nicht länger, Geschichte als etwas Vernünftiges zu verstehen, sondern zwingt dazu, Vernunft als etwas Geschichtliches anzuerkennen. Die Umkehrung des 178 Vgl. v i i i , 18. 179 VIII, 20. i » v g l . VIII, 19 f. 181 XV, 621, Nr. 1423. 182 XV, 779, Nr. 1498.
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Verhältnisses von Vernunft und Geschichte ist eine unmittelbare Konsequenz des Scheiterns des geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriffs. Damit ist dem Denken ein Problem erwachsen, das über die Geschichtsphilosophie hinaus für das Selbstverständnis der Philosophie grundlegende Bedeutung besitzt. Das Thema der Geschichtlichkeit der Vernunft stellt also gewiß kein Randproblem der Philosophie dar, obwohl es heute eine eher beiläufige Behandlung erfährt. 183 Dagegen zählt das Problem der Geschichtlichkeit der wissenschaftlichen Rationalität zu den gegenwärtig meistdiskutierten. Nun sind diese beiden Themen trotz der Ähnlichkeit ihrer Titel keineswegs identisch. Bei der letzteren Problematik geht es nämlich um die Auseinandersetzung mit der erst spät bewußt gewordenen Tatsache, daß sogar die theoretischen Erkenntnisse der Wissenschaften einem geschichtlichen Wandel unterliegen. In diesem Faktum der historischen Bedingtheit wissenschaftlicher Ergebnisse wird nun primär eine wissenschaftstheoretische Herausforderung gesehen, die möglicherweise wissenschaftspraktische Folgen haben wird, aber bestenfalls sekundär — und keineswegs notwendigerweise — ein Problem, das die menschliche Rationalität ganz allgemein betrifft; denn erst unter der Voraussetzung, dass auch am Fortschrittsund Entwicklungscharakter der Wissenschaftsgeschichte gezweifelt wird, drängt sich die radikale Frage auf, ob denn nicht die Vernunft selbst der Geschichtlichkeit unterworfen sei. Der Terminus „Vernunft" soll dabei im Zusammenhang der nachfolgenden Überlegungen zum Problem der Geschichtlichkeit der Vernunft eine sehr weit gefaßte, allgemeine Bedeutung haben. Insbesondere muß hier der in anderen Kontexten so wichtige Unterschied zwischen Vernunft und Verstand unberücksichtigt bleiben. Herbert Schnädelbach hat in verschiedenen Publikationen zum Problem der Historizität der Vernunft Stellung genommen. 184 Seine UntersuVon der neueren Literatur zur Thematik ist besonders der von Hans Poser herausgegebene Sammelband „Wandel des Vernunftbegriffs" (Freiburg/München 1 9 8 1 ) zu erwähnen. Von den acht Beiträgen des Bandes behandeln jedoch nur die beiden Abhandlungen von H. Schnädelbach und H. M. Baumgartner das durch das Faktum der Geschichtlichkeit der Vernunft hervorgerufene Problem selbst. 184 Vgl. Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel — Die Probleme des Historismus, Freiburg/München 1974; Über historistische Aufklärung; in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 4. Jg. (1979), S. 17—36; Zur Dialektik der historischen Vernunft; in: Wandel des Vernunftbegriffs, hrsg. von Hans Poser, Freiburg/München 1981, S. 1 5 - 3 7 . 183
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chungen legen dar, daß das moderne, historistisch begründete Geschichtsverständnis, das sich nach und in Entgegensetzung zu Hegel herausgebildet hat, nicht nur eine Systematisierung der Geschichte an Hand ahistorisch vorgestellter Strukturen verbietet, sondern konsequenterweise auch auf den Vernunftbegriff Anwendung finden muß. Damit hat der Prozeß der Vergeschichtlichung die Vernunft selbst erfaßt. Für die Vernunft bedeute dies, so führt Schnädelbach aus, daß sie sich von nun an als veränderlich, kontingent und situationsabhängig zu verstehen habe; es bedeute ferner, „daß die historische Vernunft nur als jemandes Vernunft, als Vernunft eines identifizierbaren Individuums oder Kollektivs identifiziert werden" könne, ja daß sie sich schließlich sogar als undefinierbar erweise. Es stelle sich deshalb die Frage: „Was sollte schon veränderlich, kontingent und individuell sein und zugleich ,Vernunft' genannt werden können?" Es ziehe also der Gedanke der Historizität der Vernunft den Verdacht auf sich, „widersprüchlich zu sein und Unvereinbares %usammen%udenken".185 Schnädelbach möchte nun in seiner Abhandlung „Zur Dialektik der historischen Vernunft" zu „zeigen versuchen, daß der Gedanke der Historizität der Vernunft unser Denken in eine dialektische Situation bringt, die der Situation entspricht, in der sich nach Kant die reine Vernunft als Organon der Metaphysik befindet. Man kann sie als eine antithetische Situation beschreiben, in der man gleichzeitig beweisen kann, daß die Vernunft etwas Historisches ist und daß sie nichts Historisches sein kann" 186 . Die philosophische Problematik, so führt Schnädelbach weiter aus, beginne nun dort, wo uns bewußt werde, daß der Gedanke der Historizität der Vernunft unseren eigenen Vernunftgebrauch betreffe: „Denn wir können nicht im Ernst die Vernunft als etwas Historisches denken, ohne unsere eigene Vernunft schon als etwas Historisches gedacht zu haben; versuchen wir, unsere eigene Vernunft von der Historizität auszunehmen, haben wir den Gedanken ,historische Vernunft' nicht wirklich gedacht. Dieser Gedanke ist selbstrückbezüglich in dem Sinne, daß er die Vernunft selbst betrifft, die ihn denkt." 187 Um bei den weiteren Überlegungen nicht von einem bestimmten Vernunftbegriff ausgehen zu müssen und dem Vorwurf eines Zirkels in der Argumentation möglichst ausweichen zu können, läßt sich Schnädelbach gar nicht erst auf eine nähere Bestimmung des Vernunftbegriffs ein, 185 186 187
Vgl. H. Schnädelbach: Zur Dialektik der historischen Vernunft, S. 19 f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 22.
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sondern begnügt sich mit dem Prädikat „vernünftig". „Historizität" meine nun „nur soviel, daß die Sinn- und die Anwendungsbedingungen dieses Prädikats in dem Sinne historisch sind, daß sie einem nicht a priori konstatierbaren Wandel unterliegen und nur kontingenterweise und im individuellen Falle erfüllt sind" 188 . Mittels der Unterscheidung zwischen der 1. und 3. Person läßt sich nach Schnädelbach an der Prädikation „Ich bin vernünftig" eine doppelte Bedeutung aufzeigen. Nehme ich bei der Prädikation „Ich bin vernünftig" zugleich die Perspektive der 3. Person ein und fälle ein Urteil aus der Sicht eines Betrachters, dann kann erstens nicht ausgeschlossen werden, daß die Zusprechung von Vernunft eventuell irrtümlicherweise erfolgte, und zweitens unterliege ich dann in meinem Urteil notwendigerweise den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen. Demgegenüber meint „Ich bin vernünftig" in der Perspektive der 1. Person diejenige Präsupposition, die ich immer schon mache, „wenn ich rede und handle und dabei ernstgenommen werden will" 189 . Von dieser Präsupposition behauptet Schnädelbach, sie habe unbedingten Charakter, da doch selbst Zweifel an unserer Vernünftigkeit vernünftige Zweifel sein müßten, also Vernünftigsein schon voraussetzten: „Es ist also nicht möglich, von der Tatsache der Historizität der Vernunft auf die Vernünftigkeit, die in jeder Rede präsupponiert wird, rückschließend zurückzugehen und die präsupponierte Vernünftigkeit selbst 190 als etwas bloß Historisches interpretieren,.." Damit befänden wir uns in einem Dilemma, denn auf der einen Seite seien wir „nach der historischen Aufklärung aufgeklärt genug, um einzusehen, daß unser Vernünftigsein in die Geschichte eingelassen ist, von der wir nicht mehr unterstellen können, daß sie die Theodizee der Vernunft ist". Auf der anderen Seite könne „diese Einsicht nicht die Präsupposition unserer Vernünftigkeit im Denken und Handeln betreffen, weil es dann überhaupt nicht zu dieser Einsicht selbst oder zu sonst etwas Vernünftigem käme". 191 Schnädelbach möchte nun aufzeigen, daß eine Auflösung des Dilemmas nicht nur nicht möglich ist, sondern „daß dieses Dilemma uns über die Dialektik der historischen Vernunft hinaus in die Aporetik der historischen Vernunft hineintreibt" 192 . Er hält deshalb auch die Unterscheidung zwischen dem Daß und dem Was des Vernünftigseins für keinen gangbaren 188 189 190 191 192
Ebd., S. 23 f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 29. Ebd., S. 32.
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Ausweg aus dem Dilemma. Dieser Ausweg sei insofern verstellt, als auch das Daß des Vernünftigseins der Geschichtlichkeit unterliege. Selbst die Sphäre des Transzendentalen, die Kant für eine Sphäre zeitlich invarianter Strukturen hielt, sei nun von der Historisierung erfaßt, so daß für eine Theorie historisch-invarianter Denk- und Erfahrungsstrukturen keine Grundlage mehr bestehe: „Das Resultat der historistischen Aufklärung ist historisches Bewußtsein in dem Doppelsinn, daß das Bewußtsein vom Historischen sich zugleich selbst als etwas Historisches begreift." 193 So könnten wir einerseits der Präsupposition „Ich bin vernünftig" keinen bloß historischen Sinn beilegen, und zwar „um der Vernünftigkeit unseres Redens und Handelns, ja selbst um des vernünftigen Zweifels an der Ahistorizität von Vernunft willen"; wir könnten andererseits aber auch „nicht mehr in einen Bereich apriorischer und ahistorischer Strukturen und Prinzipien ausweichen". 194 Wir können demnach, so faßt Schnädelbach die Aporie zusammen, die Ahistorizität unserer Vernünftigkeit „nur präsupponieren, und wir unterstellen damit etwas als gesichert, von dem wir gleichwohl wissen, daß es nicht gesichert ist. Zugleich müssen wir dies tun, weil wir sonst das ,Ich bin vernünftig' nicht vernünftig auslegen könnten, und wissen doch, daß wir es nicht tun dürfen"x