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German Pages [181] Year 2018
Alla Koval / Frank Dieckbreder / Thomas Zippert
Migration und Teilhabe Begriffe – Grundlagen – Praxisrelevanz
Alla Koval/Frank Dieckbreder/Thomas Zippert
Migration und Teilhabe Begriffe – Grundlagen – Praxisrelevanz
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 8 Abbildungen und 1 Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: © Jürgen Fälchle – Fotolia ISBN 978-3-666-70255-6 © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
1 Prolog oder warum dieses Buch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe . . . . 13
2.1 Raum, Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.2 Transnationale Sozialräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3 Zeitdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4 Ursachen und persönliche Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.5 Bedeutung von Migration – Subjektive Perspektiven von Zugewanderten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3 Zwischen Fremdheit und Diskriminierung –
Zuschreibungen der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.1 Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2 Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.3 Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.4 Ungleichheiten und Zuschreibungen der Gesellschaft . . . . . . . 45 3.4.1 Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.4.2 Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
4 Perspektive der professionell Handelnden –
Konzepte und methodische Ansätze in der Sozialen Arbeit . . . 55
4.1 Ausländerarbeit und -pädagogik in der Zeit von GastarbeiterInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4.2 Interkulturelle Sozialarbeit und Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4.3 Soziale Arbeit in der pluralen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
5 Organisationale und institutionelle Perspektiven . . . . . . . . . . . . . 80
5.1 Die institutionelle Logik der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 5.2 Irrtümer, Organisation und Handlungsoptionen . . . . . . . . . . . 94 5
6 Der Raum möglicher Teilhabe(n)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97
6.1 Soziologische Erweiterungen der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 98 6.2 Historische Erweiterungen der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . 107 6.2.1 Persönlicher Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 6.2.2 Systematisierungsversuche zur Migrationsgeschichte . . . . . 109 6.2.3 Geschichte der Migration bis zum Ende des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 6.2.4 Erstes Beispiel zur Vertiefung: die Hugenotten . . . . . . . . . . . 114 6.2.5 Geschichte der Migration ab dem 19. Jahrhundert bis nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 6.2.6 Zweites Beispiel zur Vertiefung: Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . 127 6.2.7 Die aktuelle Flüchtlingssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6.2.8 Drittes Beispiel zur Vertiefung: ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (»UMF«) . . . . 139 6.3 Die 11 Felder im Kontext der drei Fluchtgeschichten . . . . . . . 145
7 Epilog oder Aporien gegenwärtiger Arbeit mit geflohenen
Menschen und Fragmente einer neuen Ausrichtung . . . . . . . . . . 148
7.1 Aporien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 7.2 Teilhabe als Fragment einer neuen Ausrichtung . . . . . . . . . . . . 151 7.3 Teilhaben praktizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 7.4 Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
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Inhalt
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Prolog oder warum dieses Buch?
Die Auseinandersetzung mit den Themen Migration und Teilhabe führt in der professionellen sozialarbeiterischen Hinterfragung zu in Teilen verstörenden Erkenntnissen und Einsichten. Seit den Ereignissen im Jahr 2015 beginnen wohl sämtliche Artikel und Buchbeiträge zum Thema Migration, Flucht und Aufnahme mit »Integration«, sprich: Anpassung, und darin folgen dann Schlagworte wie »Überforderung« und »wir schaffen das« (Angela Merkel) – übrigens kaum »Teilhabe« – mit dem Hinweis auf eben jene Jahreszahl: 2015. Das Wort des Jahres 2015 lautete »Flüchtlinge« (https://gfds.de/wort-desjahres-2015/o. S., Zugriff am 22.11.2017), das Unwort »Gutmensch« (http:// www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/gutmensch-ist-unwort-des-jahres2015-a-1071545.html, o. S., Zugriff am 22.11.2017). Stellt jemand die Frage: »Weißt Du noch 2015?«, so wissen die Gefragten, was gemeint ist, nämlich Flüchtlinge und Gutmenschen. In einer der ersten Reaktionen im Jahr 2015 (z. B. auf dem Münchner Hauptbahnhof) schien es so, als gäbe es eine kollektive Erinnerung daran, dass nach dem zweiten Weltkrieg Flucht und Vertreibung allgegenwärtig waren in jenem Land, von dem aus der Krieg begonnen wurde. Und es schien so, als würde kollektiv gewusst, was zu tun ist, nämlich die Menschen ohne Ansehen der Person willkommen zu heißen. Bestes christliches Abendland, orientiert am Röm 2,11: »Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.« Aber was für Gott gilt, ist für Menschen nicht dauerhaft durchzuhalten. Und so »kippten« vielerorts Stimmungen. Weniger bekannt ist, dass die Situation vorhersehbar war. Und weniger bekannt ist auch, dass sie historisch gesehen im Grunde normal ist. Nur aus diesen unzureichenden Wenig-Kenntnissen heraus lässt sich erklären, warum auch diejenigen, die sich professionell mit solchen Themen beschäftigen, letztlich weitgehend wahrnehmungs- und handlungsüberfordert waren und in Teilen noch immer sind. Das ist eine steile These mit einem nicht nur implizierten Vorwurf. Und deshalb ist es angezeigt, dass auch diejenigen, die für Ausbildung und Stu7
dium in diesem Bereich Verantwortung tragen, also explizit auch die AutorInnen dieses Buches, sich diesen Vorwurf gefallen lassen müssen. Doch Schuldzuweisungen führen bekanntlich zu keinem Ziel. Deshalb ist es angezeigt, das aufzudecken und zusammenzuführen, was bekannt sein kann. Und bekannt sein kann zumindest alles, was in diesem Buch steht. Warum nun dieses Buch? Die AutorInnen dieses Buches blicken aus verschiedenen Perspektiven auf die Themen Migration und Teilhabe. Die berufliche Laufbahn führte Alla Koval durch viele interessante Themengebiete der migrationsbezogenen Sozialen Arbeit sowohl im praktischen als auch im wissenschaftlichen Bereich: Beratung und Betreuung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund nach dem Case Management-Ansatz, Evaluation von interkulturellen Bildungsprozessen in sozialen Einrichtungen sowie Bildungs- und Wirtschaftsinstitutionen während der Entwicklung von Instrumenten für die berufliche Integration junger Frauen mit Migrationshintergrund, wissenschaftliche Begleitung eines sozialraumorientierten Entwicklungsprojekts im Themenbereich Bildungsarmut im Quartier, in dem über 67 % der Bevölkerung einen Migrationshintergrund aufweisen. Thomas Zippert und Frank Dieckbreder schauen aus sozialdiakonischer und sozialhistorischer Perspektive sowie mit einem Modell, das sie gemeinsam in Bezug auf Teilhabe in den letzten Jahren entwickelt haben. Aufgrund der fachhochschulischen Nähe zur Praxis schauen alle drei aus der Perspektive und auf die Perspektive derjenigen, die versuchen, professionell, d. h. sowohl als Fachkraft mit spezifischen fachlichen und methodischen Kenntnissen und Kompetenzen als auch als Fachkraft unter den Rahmenbedingungen organisational getragener bzw. gesteuerter Arbeit, mit den Themen Migration und Teilhabe umzugehen. Und mit all diesen Blickwinkeln ist den AutorInnen aufgefallen, wie hilflos AkteurInnen in der Praxis (wiederum im direkten Kontakt, im Rahmen von Organisationen und im aktuellen gesellschaftlichen Kontext) im Umgang mit geflüchteten Menschen waren und sind. Aber auch die eigene Hilflosigkeit, im Grunde kaum Modelle anbieten zu können, die in der Praxis unterstützen. Die schlichte Wucht der Herausforderungen ist ursächlich für diese Situation zu nennen. Ein Beispiel: Aufgrund des Alters war und ist für den Personenkreis der sogenannten »unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge«1 die Jugendhilfe 1 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die offizielle Bezeichnung inzwischen »unbegleitete minderjährige Ausländer« lautet. Da diese Bezeichnung jedoch auch auf eine 16-jährige deutsche Austauschschülerin zutrifft, die ein Jahr in Spanien verbringt, ist diese Bezeichnung aus Sicht der AutorInnen Unfug und wird deshalb in diesem Buch nicht verwendet.
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Prolog oder warum dieses Buch?
(SGB2 VIII) zuständig und somit auch die Mitarbeitenden der Jugendhilfe und auch der übliche Methodenkoffer für die Jugendhilfe. Doch Menschen, die mehrere Jahre auf der Flucht waren, die die Hinrichtung ihrer Eltern als Handyvideo mit sich tragen, als Kindersoldaten vom Islamischen Staat (IS) eingesetzt wurden etc., sind keine Jugendlichen in dem Sinn, wie sie in Deutschland in Bezug auf Jugendhilfe bekannt sind. Das sorgt dafür, dass teils gestandene JugendhelferInnen kaum Ideen hatten und haben, wie sie mit dem Personenkreis umgehen können. Zum Teil wandelten sie sich nach der Euphorie der ersten Tage zu »hilflosen« HelferInnen (und Organisationen), die den Personenkreis abzulehnen begannen. Die Fluktuation in den Mitarbeitendenschaften dieser Bereiche war und ist vielfach höher als in anderen Kontexten. Zuvor wurde postuliert, dass die Ereignisse von 2015 vorhersehbar waren. Im Verlauf des Buches wird gezeigt, warum das so war (ist und bleiben wird). Doch im Nachgang ist dieser Hinweis besserwisserisch und wenig hilfreich, denn die benannte Hilflosigkeit steht im Zusammenhang mit dem (wenn auch erwartbaren) Unerwarteten und der großen Zahl von Menschen. Wenn wir sozusagen im Mainstream immer wieder auf die Jahreszahl 2015 verweisen, so ist es ein Anspruch mit diesem Buch, diesen Mainstream aufzubrechen. Denn streng genommen wissen wir, dass um uns herum eine merkwürdige Stille herrscht. Noch immer sind, was auf unabsehbare Zeit so bleiben wird, mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte3 – nur, dass sie stiller ertrinken als 2015 (medialer Überdruss), weniger von ihnen die Mitte Europas erreichen als 2015 (Türkeiabkommen und Lager in Libyen) und eine seit Jahren auf VOX ausgestrahlte Sendung über deutsche AuswanderInnen noch immer eine andere Option von Migration darbietet (Brot und Spiele). Inzwischen ist es noch ruhiger geworden vor den Behörden, in denen Registrierungen durchgeführt und Dokumente ausgegeben werden und scharenweise Leute eingestellt wurden, die von Berufswegen Entscheidungen4 treffen. Und es ist zumindest medial ruhiger geworden um Demos gegen 2 Sozialgesetzbuch. 3 Die UN nennt für 2017 über 65 Millionen Menschen auf der Flucht weltweit; vgl. http:// www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/fluechtlinge-syrien-zahl-rekordhoch-unhcr. 4 Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist die Berufsbezeichnung derjenigen, die über Asylanträge entscheiden, EntscheiderInnen. Vgl. z. B. unter: http:// www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/Entscheider/entscheidungen-node.html, Zugriff am 22.11.2017. Prolog oder warum dieses Buch?
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die Ansiedlung von Asylsuchenden, Brandanschläge auf deren Unterkünfte (immerhin fast 1000 im Jahr 20165) und ganz ruhig hinsichtlich von Erfolgsgeschichten, wobei auch schwer zu sagen ist, was denn Erfolge sein könnten. Denn die Frage der Integration, die Frage der Teilhabe, die Frage des Zusammenlebens ist noch immer unbeantwortet; sie arbeitet mit unreflektierten Zielsetzungen ohne Abwägung möglicher anderer Ziel- und Handlungsalternativen. Solche Ziel- und Handlungsalternativen versuchen wir mit Beispielen aus der älteren Migrationsgeschichte, einem erweiterten soziologischen Rahmen und organisationalen Analysen darzustellen und weitere anzuregen, zum Querdenken zu ermutigen und bisherige Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Denn Unbeantwortetes kann kein Erfolg sein. Und Unbeantwortetes kann nicht unterstützen, die passenden Maßnahmen zu finden, einen jungen Menschen, der Krieg und sonstiges Leid erlebt hat, in der Gestaltung seines weiteren Lebenswegs zu begleiten. Parolen wie »Ausländer raus« helfen da ebenso wenig wie der anmaßende Ausspruch, dass geflohene Menschen automatisch alle Neubürger seien. Nichts davon ermöglicht Handlung. Mit diesem Buch schlagen wir einen Pakt zwischen Ihnen als LeserInnen und uns als AutorInnen vor. Dieser Pakt besteht in der Einigung darauf, dass wir alle handlungsfähig sein wollen. Die Tatsache, dass Sie dieses Buch in der Hand halten, ist uns dabei Anlass, zu glauben, dass Sie diesem Pakt zustimmen. Es ist klar, dass wir dieses Buch vorlegen, weil wir zur Handlungsfähigkeit beitragen wollen. Aber es wäre anmaßend, zu glauben, dass wir nun die Konzepte vorlegen könnten, die sozusagen den Methodenkoffer um den Bereich Migration/Flucht/Teilhabe erweitern. Vielmehr bieten wir an, unsere Gedanken mit Ihnen zu teilen. Und zwar so, dass Sie das weiterdenken, was wir vorschlagen. Wenn es dann gelingt, dass Sie Ihre Gedanken, die aus dem, was wir hier vorlegen und Ihrem eigenen Vorwissen entstehen, mit anderen teilen, dann entstehen erweiterte Wahrnehmungen, Deutungen und so sukzessive eine bessere Handlungsfähigkeit, davon sind wir überzeugt. Wir haben dieses Buch so aufgebaut, dass wir Sie mit den Fakten konfrontieren, die wir recherchiert und in Teilen selbst erforscht haben. Wir beginnen damit, die zentralen Begriffe zu klären. Die begrifflichen Analysen stellen die Möglichkeit dar, dass wir uns als professionell Handelnde auf einheitliche Begriffe verständigen bzw. reale Mehrdeutigkeiten durchschauen. 5
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Genaueres z. B. verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article160655659/ Fast-1000-Anschlaege-auf-Fluechtlingsheime-im-Jahr-2016.html, Zugriff am 22.11.2017. Prolog oder warum dieses Buch?
Wir müssen wissen, wie vielfältig sich Migration darstellt, welche Gründe zu Migration führen, und wir müssen ebenso wissen, was Einwanderung von Flucht oder Asylsuche unterscheidet und wie bzw. wann das Ankommen mehr oder weniger gelungen ist. Es folgen Auseinandersetzungen mit verschiedenen Perspektiven; konkret der aufnehmenden Gesellschaft und eben der professionell Handelnden. Die Besonderheit unseres Lehrbuchs besteht in der durchgehenden Einbeziehung der Sichtweisen von Menschen, um die es im Buch geht – Menschen mit Migrationshintergrund. Die etablierten Theorien und statistischen Zusammenhänge werden mithilfe von Interviewtexten, Migrationsgeschichten und Fallvignetten veranschaulicht, erweitert oder revidiert. Unserem Lehrbuch liegt das Konzept der »transnationalen Sozialräume«6 zugrunde, das ständige und permanente psychische und/oder physische Hinund Her-Pendelbewegungen zur Normalität erklärt. Des Weiteren wird ein Versuch unternommen, Teilhabe differenziert und vielschichtig sowohl nach Feldern wie Formen zu denken. Mit dieser Theorie schauen wir danach auf einzelne Grundzüge der Migrationsgeschichte. Damit dies nicht zu abstrakt bleibt, sondern anschaulich wird, laden wir Sie anhand dreier exemplarischer Migrationsgeschichten aus Vergangenheit und Gegenwart dazu ein, mögliche andere, heute nicht mehr bewusste Umgangsweisen mit Zuwanderung nachzuvollziehen und sich so aus den Engführungen der gegenwärtigen Diskurse und deren monokausalen Behauptungen zu befreien. Eine davon ist die ebenso selbstverständlich wie unbegründet vorgetragene Norm, dass vermieden werden muss, dass Volksgruppen eigene Viertel gründen (»keine Parallelgesellschaften!«). Sie werden sehen, dass es in der Vergangenheit Ansätze gegeben hat, mit denen die Ansiedlung von Volksgruppen in Quartieren sogar gefördert wurde. Und Sie werden auch sehen, dass dies zum Erfolg führte. Hier gibt es also eine Erfolgsgeschichte. Was sollte uns also daran hindern, die Bedingungen dieser Erfolgsgeschichte auszuloten und so aus dieser Geschichte zu lernen?! Die Debatte darüber, warum und unter welchen Bedingungen es damals zum Erfolg führte und möglicherweise heute auch – oder aus ebenfalls noch nicht analysierten Gründen – nicht mehr, hat noch nicht einmal begonnen. Und erst, wenn es 6 Zum Konzept der transnationalen Sozialräume vgl. → Kap. 2.2 sowie ergänzend: Pries, Ludger, 2008: Die Transnationalisierung der sozialen Welt, Frankfurt und Pries, Ludger, 2010: Transnationalisierung, Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung, Wiesbaden. Prolog oder warum dieses Buch?
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hier Zwischenergebnisse gibt, können neue Handlungsoptionen und -konzepte begründet entwickelt werden. Auch hier ein Beispiel vorweg: Wir halten es in der Bundesrepublik für selbstverständlich, dass Migrantinnen und Migranten zunächst nicht arbeiten dürfen – aus welchen Gründen und mit welchen Folgen auch immer. In der Geschichte und in anderen Teilen der Welt ist genau die gegenteilige Auffassung üblich. Arbeiten zu dürfen, scheint das Ankommen in einer neuen Gesellschaft ungemein zu erleichtern, von Integration, Inklusion oder Teilhabe noch nicht einmal zu reden. So, nun sind Sie fast am Ende dieses Prologs angekommen. Und dieses Ende besteht darin, Sie darauf hinzuweisen, dass das Buch mit einem Epilog endet. In diesem treiben wir das didaktische Konzept, das diesem Buch zugrunde liegt, nämlich, dass wir Sie stets durch kleinere und größere Aufgaben7 bitten, unsere Ideen weiterzudenken und zu überprüfen, insofern auf die Spitze, dass der Epilog im Grunde in einer einzigen Aufgabe endet, nämlich zu erkennen, dass es erweiterte Handlungsoptionen gibt. Dann nämlich, wenn Sie durchaus auf der Basis von Ihnen durch die Ausbildung oder durch das Studium vertrauten Ansätzen und Methoden (wie der Sozialraumorientierung) für sich selbst erkennen, dass Sie kreativ sind. Ihnen werden Optionen einfallen, wie Sie Methoden modifizieren oder neu erfinden können; seien es Methoden der Wahrnehmung, (Um-)Deutung oder Handlungskonzepte. Es ist wichtig, dass Sie das Buch ganz lesen und die Aufgaben bearbeiten. Um noch einmal die Frage »Warum dieses Buch?« anzusprechen: Auch, damit Sie dazu beitragen, das zu gestalten, was jetzt hinsichtlich von Migration/Flucht/Teilhabe als Aufgabe zu klären ist. Das bedeutet, dass wir Sie bitten, zu dieser Klärung beizutragen, indem Sie Ihre Erkenntnisse in die Praxis übertragen und anderen davon berichten. Alla Koval Frank Dieckbreder Thomas Zippert
7 Symbolerklärung: Übungen zur Selbstreflexion; Übungen für Gruppen/Teams; Tipps/Anregungen; weiterführende Informationen; Begrifflichkeiten/ wichtige Erklärungen
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Prolog oder warum dieses Buch?
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Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
Lesen Sie die Definitionen von Migration in der Sozialen Arbeit durch: –– Welche Kategorien werden in allen Definitionen angesprochen? –– Welche unterschiedlichen Ausprägungen/Gewichtungen von Kategorien lassen sich feststellen? Migration ist … … »der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen« (Treibel 2011, S. 21). … »als Subkategorie einer allgemeineren Oberkategorie anzusehen, die man etwa als ›Bewegung von Einzelpersonen oder Gruppen im Raum‹ definieren könnte« (Hoffmann-Nowotny 1970, S. 53). … »ein permanenter oder semipermanenter Wechsel des Wohnsitzes« (Lee 1972, S. 117). … »jede(r) Wechsel des Wohnsitzes, und zwar des De-facto-Wohnsitzes, einerlei ob freiwillig oder unfreiwillig, dauerhaft oder vorübergehend« (Heberle 1955, S. 2). … »die dauerhafte Verlegung des Lebensmittelpunktes eines Menschen aus einer Region in eine andere (Binnenwanderung) oder von einem Staat in einen anderen (Außenwanderung)« (Eichenhofer 1999, S. 29). … »Wanderung, Bewegung von Individuen, Gruppen oder Gesellschaften (Bevölkerung) im geographischen und sozialen Raum, die mit einem ständigen oder vorübergehenden Wechsel des Wohnsitzes verbunden ist. Diese Verwendung des Begriffs ›Migration‹ schließt deutlich die Wohnortveränderung innerhalb eines Staates aus und bezieht sich auf den internationalen Charakter von Migration« (Hamburger 2001, S. 1211). 13
… »jede längerfristige, räumliche Verlagerung des Lebensschwerpunktes über eine größere Distanz, die ein Verlassen des sozialen Aktionsraumes zur Folge hat« (Wenning 1996, S. 13). … »dass Individuen aus einem Gesellschaftssystem in ein anderes überwechseln, wodurch direkt oder indirekt in beiden Systemen interne und externe Beziehungs- und Strukturveränderungen induziert werden« (Ronzani 1980, S. 17).
Das Phänomen Migration ist ein Forschungsgegenstand der Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Geografie, Demografie, Geschichtswissenschaft, Ethnografie, Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit. Die vorgestellten Definitionen verdeutlichen, dass zwar dieselben Kategorien wie Raum, Grenze, Zeit und Intention (Freiwilligkeit) verwendet, diese jedoch unterschiedlich gewichtet werden. Die Kategorien werden im Folgenden erläutert.
2.1 Raum, Grenze
Können Sie die folgenden Fragen eindeutig mit »ja« oder »nein« beantworten? Falls nein: Welche Diskussionsfragen und/oder Ambivalenzen lassen sich daraus ableiten? –– Haben Sie schon einmal Ihren eigenen Lebensmittelpunkt über die Staatsgrenzen hinweg verlagert? –– Hat Ihre Mutter oder Ihr Vater ihren/seinen Lebensmittelpunkt über die Staatsgrenzen hinweg verlagert? –– Haben Sie Ihren eigenen Lebensmittelpunkt über die Grenzen einer Stadt/eines Dorfs verlagert?
Bewegung im Raum ist eine Leitkategorie, die eine Grundlage für jede Definition darstellt. Einige AutorInnen explizieren ihr Verständnis vom »Raum« nicht, wodurch sie einen Interpretationsspielraum zulassen, wie »eine andere Gesellschaft bzw. eine andere Region« (Treibel 2011) oder »Bewegung von Einzelpersonen oder Gruppen im Raum« (Hoffmann-Nowotny 1970). Andere AutorInnen führen aus, dass »der Umzug über das Treppenhaus 14
Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
von einer Wohnung zur anderen« als eine Migration angesehen werden kann (Heberle 1955; Lee 1972). Das sehr weite Verständnis von Migration hängt möglicherweise zum einen damit zusammen, dass die internationale statistische Erfassung der Migrationsbewegungen bis 1950 einen Wohnortswechsel, der länger als ein Jahr dauerte, als Migration definierte (vgl. Han 2010, S. 6). Zum anderen kann in diesen Definitionen zum Ausdruck gebracht werden, dass Migration ein Normalzustand schon im Lebenszyklus früherer Generationen war und sich meistens frei und ungehindert vollzog. Erst durch die Festlegung unterschiedlicher Arten von Grenzen wurde die Bewegung von einzelnen oder mehreren Menschen auf einen geografischen Raum innerhalb einer bestimmten Grenze beschränkt. Daher setzen einige AutorInnen ihren Fokus in Definitionen auf Staatsgrenzen, um (internationale) Migration zu definieren (Eichenhofer 1999; Hamburger 2001). Die »Grenze« scheint hierbei zentral zu sein und verdient eine nähere Betrachtung, denn sie kann unterschiedliche Auswirkungen auf die Bewegung von Individuen haben. Bezüglich des Kriteriums Überschreiten oder Nicht-Überschreiten von Grenzen wird im Allgemeinen zwischen Binnen- und Außenwanderung unterschieden. Binnenwanderung ist die Verlagerung des Wohnsitzes innerhalb gesteckter Grenzen. Liegt mindestens eine Grenze dazwischen, so wird dies als Außenwanderung bezeichnet (vgl. Wenning 1996, S. 11). Wenn die überschrittene Grenze eine Staatsgrenze ist, wird von Aus- bzw. Einwanderung und von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen. Wenn die überschrittene Grenze ein Bundesland, eine Stadt, ein Dorf, eine Gemeinde etc. ist, wird dies Zu- und Fortzug bzw. Umzug genannt. Die Bewegung von Individuen über diese Art von Grenzen hinweg geschieht in der Regel frei und ungehindert (vgl. Koval 2016a, S. 158). Die Richtung und der zahlenmäßige Umfang der Ein- bzw. Auswanderungen werden durch politische Regulative bestimmt und potenzielle wie aktuelle Migrationsströme werden beschränkt, verhindert oder gefördert. Mit den rechtlichen Voraussetzungen der Migration hängt eng die Unterscheidung zwischen gewollter und ungewollter Migration zusammen (vgl. Nuscheler 2004, S. 29). Auch in diesem Zusammenhang ist die »Grenze« bedeutungsvoll. Es gibt Grenzen, die die Staaten des Schengener Abkommens8, dessen BürgerInnen sich frei und ungehindert bewegen können, von den Drittstaaten trennt. Diese Grenzen können in den meisten Fällen nur mit einer Einreiseerlaubnis passiert werden. Damit wird zugleich 8 Vereinbarung über den Abbau von Grenz- und Personenkontrollen an den Binnengrenzen der teilnehmenden Staaten. Raum, Grenze
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zwischen legaler und illegaler Migration unterschieden. Eine Migration als illegal zu bezeichnen, impliziert, dass der Grenzübertritt und der Aufenthalt im Zielland kriminelle Taten seien, bedeutet jedoch lediglich, dass der Wanderungsvorgang nicht nach vorgeschriebenen Regeln der jeweiligen Länder erfolgte. Zudem gibt es Grenzen zwischen den sicheren Ländern, in denen es keine staatliche Verfolgung gibt sowie Rechtsschutz bei erlittenen Menschenrechtsverletzungen gegeben ist, und unsicheren Herkunftsländern. Ob ein Mensch aus einem sicheren Herkunftsland kommt und über die Grenze eines sicheren Staats eingereist ist, ist dahingehend entscheidend, ob der Status als Flüchtling im jeweiligen Ankunftsland anerkannt wird oder nicht. So wird zwischen Anerkennung oder Nicht-Anerkennung des rechtlichen Status des/der MigrantIn unterschieden, z. B. »Asylberechtigte« bzw. »anerkannte Flüchtlinge« oder »De-facto-Flüchtlinge«, die entweder keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Asylantrag abgelehnt worden ist und deren Abschiebung temporär ausgesetzt wurde.
2.2 Transnationale Sozialräume Im Fokus der bisherigen Ausführungen stand die Bewegung von Individuen im geografischen Raum. In diesem Verständnis sind die Räume nach Deinet/Krisch (2002) »architektonische Hülsen« bzw. »Behälter«, die den menschlichen Handlungen vorgelagert sind. Migration bedeutet aber auch die Bewegung von Individuen in bzw. den Wechsel zwischen unterschiedlichen Milieus bzw. »sozialen Aktionsräumen«, worauf Wenning (1996) den Fokus in seiner Definition legt. Unter dem Begriff »sozialer Aktionsraum« versteht er die Bildung einer Gruppe von Menschen, die einerseits mindestens teilweise ein ähnliches Raumverhalten haben und andererseits bei der Erfüllung von sogenannten Grunddaseinsfunktionen (z. B. Wohnen, Arbeiten, Freizeit) Sozialkontakte untereinander entwickeln. Der Sozialraum erweitert laut Löw (2001) den reinen geografischen Raum, indem er Handlungs- und Deutungsmuster der in einem Quartier lebenden Menschen in den Blick nimmt und den interaktiven Aspekt der Raumherstellung über dieses Quartier hinaus hervorhebt. In jüngerer Zeit wird der Begriff »transnationale Sozialräume« verwendet, um familienbezogene, soziokulturelle, wirtschaftliche und politische Lebenswirklichkeiten zu bezeichnen, in denen MigrantInnen über Staatsgrenzen hinweg involviert sind. Der Begriff bringt zum Ausdruck, 16
Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
dass sowohl Migration als auch eine eventuelle Re-Migration keinen einmaligen, abgeschlossenen Vorgang darstellen müssen, sondern dass diese auf die sozialen Lebenswelten mit den damit jeweils verbundenen subjektiven Werte- und Normvorstellungen und Bedeutungen verweisen, die staatsund grenzübergreifend Bestand haben (vgl. Faist/Fauser/Reisenauer 2014, S. 61 f.; Ostergaard-Nielsen, 2012, S. 112 ff.; Geiger 2011, S. 56 ff.). Im Zuge einer Migration wird der »Lebensmittelpunkt« verlagert. Der Lebensmittelpunkt geht über den reinen Wohnsitz hinaus. Ein Hauptwohnsitz wird zwar durch eine meldebehördliche Registrierung festgelegt, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Person den Hauptwohnsitz auch als Lebensmittelpunkt betrachtet. Sie könnte bspw. über technische Kommunikationswege ihre soziale Lebenswelt weiterhin in ihrem Herkunftsland aufrechterhalten. In diesem Lehrbuch wird für die Verwendung des Begriffs »Lebensmittelpunkt in seiner subjektiven und alltagspraktischen Bedeutung« plädiert, wo die sozialen Bezüge von Personen zusammenlaufen (Ostwald 2007, S. 18).
2.3 Zeitdauer Eine weitere zentrale Kategorie, auf die die Definitionen von »Migration« gestützt werden, ist die »Zeitdauer«. Einige WissenschaftlerInnen legen den Schwerpunkt auf die dauerhafte, ständige Migration (Eichenhofer 1999; Treibel 2011) und andere dagegen fassen sowohl eine dauerhafte als auch vorübergehende Bewegung im geografischen Raum als Migration zusammen (Heberle 1955; Hamburger 2001). Laut Wenning (1996) kann »eine längerfristige Verlagerung« des Lebensmittelpunkts zeitlich nicht genau abgegrenzt werden, wobei Reisen im Sinne von Tourismus nicht unter den Migrationsbegriff fällt (vgl. Wenning 1996, S. 13 ff.). Hahn (2012) definiert Reise als »eine kurzfristig (freizeitbedingte) Ortsveränderung bei gleichzeitiger Beibehaltung des politisch-rechtlichen Aufenthaltsorts und Aufrechterhaltung der bisherigen Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse« (S. 26). Diese Erläuterungen werfen weitere Fragen auf: Wie ist es z. B. mit einer Beschäftigung als AltenpflegerIn, die jeden zweiten Monat einen Aufenthalt in einem anderen Land über mehrere Jahre hinweg vorsieht? Wie ist es im Fall von Studierenden aus einem nicht EU-Staat, die das ganze Studium in Deutschland absolvieren wollen, d. h. ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft verlegen möchten und ein Visum nur für ein halbes Jahr bekommen; d. h. dürfen sie sich rechtlich gesehen nur vorübergehend in Deutschland Zeitdauer
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aufhalten? Oder wie ist es mit einem Menschen im Ruhestand, der jährlich sechs Monate mehrere Jahre in einem anderen Land verbringt, um seine Enkelkinder zu betreuen? Es ist eine Definitionsfrage, ab welcher Dauer und welcher Häufigkeit der Hin- und Rückwanderung von einer Migration gesprochen werden kann. Es kann jedoch festgehalten werden, dass zum einen die Sichtweisen und Bedeutungszuschreibungen von betroffenen Personen in den vorgestellten Definitionen unberücksichtigt bleiben. Zum anderen kann konstatiert werden, dass die transnationalen Sozialräume berücksichtigt werden müssen, die ständige und permanente psychische und/oder physische Hin- und Her-Pendelbewegungen zur Normalität erklären. »Transnationale Studien zeigen, dass Migration keine Einbahnstraße darstellt, auf der Menschen von einem Ort aufbrechen, um an einem anderen anzukommen und dort früher oder später angepasst zu leben. MigrantInnen streben allerdings weder ausschließlich nach Assimilation noch nach sozialer und kultureller Grenzziehung, sondern leben soziale Beziehungen über nationale Grenzen hinweg, wodurch sie mindestens zwei Gesellschaften in ein einziges soziales Feld zusammenfügen« (Strasser 2012, S. 45).
Das Konzept der transnationalen Sozialräume legt somit das Verständnis der Sesshaftigkeit im Sinne eines einzigen permanenten Wohnorts als einen »Normalzustand« ab und geht von einem Zustand des Sich-in-BewegungBefindens als einem »Normalzustand« aus.
2.4 Ursachen und persönliche Intention Die theoretische Erfassung und Systematisierung von Migrationsursachen ist allgemein schwierig, weil Migration selten monokausal erklärt werden kann. Han (2010, S. 21) spricht von mehreren Bedingungen, die für die Entstehung des komplexen Ursachenbündels der Migration verantwortlich sind: –– politische (Verfolgung, gesetzlich verankerte Diskriminierung), –– soziokulturelle (Vorurteile und Stereotypen gegenüber Angehörigen von Minderheiten), –– wirtschaftliche (niedrigerer materieller Lebensstandard, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung), –– ökologische (Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen), 18
Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
–– religiöse (religiöse Verfolgung), –– ethnische (Spannungen zwischen ethnischen Gruppen) und –– kriegerische (Bürgerkriege, Kriege zwischen Staaten). Treibel (2011) fügt drei weitere Faktoren hinzu, welche Migration verursachen können: demographische (Bevölkerungsentwicklung), sozial-strukturelle und gruppenbezogene (Wanderung in das Zielland, in dem die sozialen Ungleichgewichte weniger ausgeprägt sind) und persönlichkeitsbedingte (persönliche Beziehungen zu Verwandten oder Bekannten, die schon eingewandert sind, Informationen über die Zielregion) (S. 29 ff.). Lee (1972) definierte Faktoren (als »Push-Pull-Faktoren« bekannt), die die Entscheidung, zu wandern, beeinflussen. Unter den Push-Faktoren werden alle Bedingungen des Herkunftsgebiets zusammengefasst, die die Auswanderung forcieren. Unter den Pull-Faktoren werden die Faktoren des Zielgebiets verstanden, die zur Einwanderung motivieren und anziehen. Die zwischen dem Herkunfts- und Zielort liegenden Hindernisse und persönliche Faktoren sind nach Lee (1972, S. 118) zwei weitere Faktoren. In einigen Studien werden unter »Migration« verschiedene Formen von mehr oder weniger freiwilliger Wanderung subsummiert. Flucht, welche aus Zwang zur Änderung des Lebensraums aufgrund von Gefahren oder Bedrohungen erfolgt und somit eine unfreiwillige Bewegung von Individuen darstellt, wird nicht darunter verstanden. In diesem Lehrbuch wird Migration als ein Oberbegriff sowohl für freiwillige als auch unfreiwillige/ erzwungene Wanderung verwendet (vgl. Treibel 2011, S. 157; Heberle 1955, S. 2; Lee 1972, S. 117; vgl. auch den Systematisierungsversuch in → Kap. 6.2.1). Eine spezifische Form einer erzwungenen Migration stellt demnach eine Flucht dar. In der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. im Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 wird definiert, welche Fluchtgründe für den rechtlichen Anspruch auf Hilfemaßnahmen anerkannt werden (vgl. UNHCR, 2015). Im Sinne des Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention kann der Begriff »Flüchtling« auf jede Person angewandt werden, wenn sie »[…] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt Ursachen und persönliche Intention
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hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will«.
Im juristischen Sinn gilt der Begriff »Flüchtling« nur für diejenigen Personen, bei denen eine gesetzliche Anerkennung vorliegt und ist mit einem gültigen Aufenthaltsstatus verbunden (vgl. Schirilla 2016, S. 26 ff.). Dies entspricht jedoch nicht der tatsächlichen Fluchtrealität. In der juristischen Definition werden weder Menschen mit einer Duldung, AsylbewerberInnen und De-facto-Flüchtlinge noch Armuts-, Klima- und Wirtschaftsflüchtlinge erfasst. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird dagegen der Begriff »Flüchtling« verwendet, um alle Menschen, die in einem sicheren Land Schutz suchen, zu bezeichnen. Die Grenzziehung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration ist allgemein problematisch. Es fehlt an klaren Indikatoren, ob, ab wann und aus der Perspektive von welchen Familienangehörigen die Migration freiwillig oder erzwungen vollzogen worden ist (siehe die unten folgende Aufgabe).
Lesen Sie bitte drei Interviewpassagen durch. Stellen die Interviewten ihre Intention auszuwandern eher als freiwillig oder erzwungen dar? Woher kommt der Zwang in diesen Erzählungen?9 I Elena, 40 J., wanderte im Alter von 30 Jahren aus Russland aus: »Im November haben wir geheiratet und im Dezember ist der Aufnahmebescheid gekommen. Aber ich wollte nicht ausreisen, weil ich wusste, dass ich von Anfang an … also von Null anfangen muss. Und das waren alles Familienumstände, warum ich so mich entschieden habe. Also .. die Beziehungsebene … .. war … also es ging auch alles schief irgendwie. Es war eine ideale Ehe von außen, aber .. meine Meinung hat nicht gezählt. Und es war der Grund, warum … Also der Grund hat auch viel dazu beigetragen, warum ich mich entschieden habe auszureisen. Mein Mann wollte nicht ausreisen. Er hatte dort eine gute, gut bezahlte Arbeit. Und er hatte auch Angst vom Nullanfang. Und eine Sprache .. zu lernen .. ob er das überhaupt beherrschen wird, es waren so die Sachen. Und für mich stand dann die Frage, reise ich aus ohne meinen Mann oder bleibe ich hier. Und .. ich habe sehr gezweifelt, 9 Die Transkriptionsregeln entnehmen Sie bitte dem Anhang.
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Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
und dann habe ich mich entschieden, wenn .. dann jetzt oder nie. Und .. es ist alles so gekommen, dass ich mich dafür entschieden habe. Und als dann der Aufnahmebescheid fertig war, da stand ich vor dem Zweifel, dann war schon meine zweite Tochter/eh/mein zweites Kind, meine Tochter geboren. Und da habe ich immer wieder gezweifelt. Meine Mutter hat eine Operation gebraucht, die nur hier [in Deutschland]… gemacht werden konnte. Und da .. hat meine Schwester zu meinem Gewissen aufgerufen, und hat gemeint, ich soll auch über die Mutter nachdenken. Alles andere habe ich schon erlebt, alles, was meinem Mann anging. Ich habe gezweifelt, reise ich aus oder nicht, allein mit zwei Kindern. Und dann habe ich mich für die Ausreise entschieden.« (Koval 2012, S. 128) II Katja, 27 Jahre, wanderte im Alter von 17 aus der Ukraine aus: Eltern »haben beschlossen, dass wir mit der ganzen Familie umziehen, unabhängig davon, wie lange das Ganze dauern wird: ein Jahr, zwei Jahre oder vielleicht … das heißt, keiner wusste wie lange, wie lange das Ganze dauern wird. Aber an einem Tag sind meine Eltern gekommen und haben tatsächlich gesagt: ›Wir siedeln nach Deutschland um. Punkt‹. (lächelt). Ich habe gesagt, ich will nicht. Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass ich bei meiner Oma bleibe. Das heißt, sie wussten selbst noch nicht, ob ich mitkomme oder ob ich die Schule in Kiev beende oder ob es alles auch in Deutschland klappt. Letztendlich … haben sie beschlossen, dass wir alle zusammen umsiedeln und ehm in zwei Monaten sind wir umgezogen. Das heißt, es war eine schnelle Entscheidung. Nu so … wurde das alles, wer mitkommt und wer nicht, in der Familie nicht besprochen.« (Koval 2012, S. 166 f.) III
Irina, 27, wanderte im Alter von 21 aus der Ukraine aus: »Ich hatte immer den Wunsch gehabt, ins Ausland zu gehen, da ich die Fremdsprachen studiert habe und ich wollte sie auch praktizieren. Wir haben Glück gehabt, da bei uns an der Uni die Dozenten aus Deutschland waren. Wir haben mit ihnen die praktischen Übungen gemacht und das war sehr gut. Eine hat gesagt, dass man mit dem Stipendium versuchen kann. Ich habe dann das Stipendium bekommen. Ich habe grade meine Diplomarbeit geschrieben und das war auch gut. Ich wollte hier einfach schauen und Literatur suchen. Ich habe damals nicht gedacht, dass ich hier studieren und arbeiten werde. Ich wollte einfach für mich wegen Sprache, dass sie praktiziere. (zu leise). Dann habe ich eine Entscheidung getroffen, was ich Ursachen und persönliche Intention
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weiter machen möchte. So habe ich mein Studium doch abgeschlossen, obwohl ich am Anfang das gar nicht dachte. Das war nicht mein Ziel am Anfang. Aber als ich angefangen habe … Ich bin so ein Mensch. Ich konnte irgendwie nicht … … Ich habe die Uni abgeschlossen. Es hat leider sehr lang gedauert. Ich wusste, ich sollte die Sachen bis zum Ende machen. Ich habe die ganze Zeit für dieses Projekt gemacht, also gearbeitet. Ja, deswegen hat es so lange gedauert. Dann habe ich mich beworben und arbeite schon das zweite Jahr und die Arbeit macht mir eigentlich viel Spaß. (zu leise)« (Koval, unveröffentlichtes Interview).
Exkurs
EXKURS I SpätaussiedlerInnen Da in den Kapiteln 2–4 oft auf Erzählungen von SpätaussiedlerInnen zurückgegriffen wird, wird im Folgenden der historische Hintergrund der Wanderungsbewegungen10 von deutschen Volkszugehörigen zusammenfassend beschrieben. »Als AussiedlerIn bzw. SpätaussiedlerIn werden deutsche Volkszugehörige aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (sowie auch aus Rumänien, Ungarn und Polen) bezeichnet, die in die Bundesrepublik einwandern. Die Unterscheidung zwischen ›AussiedlerIn‹ und ›SpätaussiedlerIn‹ hängt im Wesentlichen von dem Zeitpunkt der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ab. SpätaussiedlerInnen nennt man diejenigen, die seit Anfang 1993 einwandern. Laut Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) müssen AntragstellerInnen glaubhaft machen, dass sie am 31.12.1992 oder danach Benachteiligungen aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit ausgesetzt waren. Bei den SpätaussiedlerInnen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wird durch den Gesetzgeber prinzipiell ein Kriegsfolgenschicksal vermutet, deswegen reisen seit Anfang 1993 SpätaussiedlerInnen vorwiegend aus diesem Gebiet ein. Diese Einwanderer werden oft auch als ›Russlanddeutsche‹ bezeichnet« (Koval 2012, S. 56).
10 Bei der Darstellung des historischen Hintergrundes der Wanderungsbewegungen von deutschen Volkszugehörigen wird Bezug auf folgende Quellen genommen: Baaden (1997, S. 24 ff.), Bade/Oltmer (2003, S. 9 ff.), Brucks/Hooge/Janzen (2003, S. 31 ff.), Hibert (2005, S. 63 ff.), Sarazin (2005, S. 32 ff.), Schmitz (2013, S. 53 ff.).
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Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
Es gab drei Wanderungsbewegungen von deutschen Volkszugehörigen in die Gebiete der Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Im 17. Jahrhundert lud Zar Peter I. eine vergleichsweise kleine Gruppe von Ärzten, Wissenschaftlern und Offizieren in das damalige russische Reich ein, um die landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft zu modernisieren. Im Rahmen des Einladungsmanifests von Zarin Katharina II. im 18. Jahrhundert fand eine zahlenmäßig größere Migrationsbewegung von Menschen aus vorwiegend ländlich geprägten Gebieten (Bauern, Handwerker, Soldaten) in die nachfolgestatten der Sowjetunion statt. Im 19. Jahrhundert wanderten kleine Gruppen von qualifizierten Handwerkern und Landwirten nach Russland aus. Als Folge dieser drei Einwanderungswellen entstanden größere Siedlungen von deutschen Volkszugehörigen u. a. in Wolhynien, am Schwarzen Meer, im Kaukasus und an der Wolga. Die etwa 3.000 gegründeten Kolonien zeichneten sich durch die konfessionelle Homogenität und relativ hohe Autonomie aus. Viele BewohnerInnen vorwiegend aus der Pfalz, Hessen, Nordbayern und Baden empfanden die Umsiedlung als eine Chance, ihre als unbefriedigend empfundene Situation im Herkunftsland zu verbessern. Die Vorfahren der heute in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lebenden »Russlanddeutschen« bekamen in der Regel viele Privilegien. Sie erhielten Bodenbesitz, wohnten in eigenen Siedlungen mit Selbstverwaltung, sprachen ihren Dialekt, pflegten ihre Bräuche, übten ihre vorwiegend evangelische Religion aus und waren vom Wehrdienst befreit. Eine nationale Identität war in diesen Zeiten nebensächlich. Zum damaligen sogenannten Russischen Reich gehörten viele Völker. Neben den Russen, die mit 43,5 % den größten Teil der Gesamtbevölkerung bildeten, sind es Ukrainer, Tataren, Kirgisen und Turkmenen. Die verschiedenen Völker fühlten sich wenig zusammengehörig und die russische Sprache war damals noch nicht so verbreitet, sodass eine Verständigung schwierig war. Jedes Volk lebte für sich und es gab wenig Kontakte oder Konflikte zu anderen Bevölkerungsgruppen. Die Geschehnisse und die Folgen des 2. Weltkrieges trugen zu einem dramatischen Einschnitt in die Rechte und insgesamt zu einer deutlichen Verschlechterung der Lebenslage der deutschen Volkszugehörigen bei. »Viele BewohnerInnen der ›deutschen Dörfer‹ in der Ukraine und im Westen Russlands wurden nach Deutschland zwangsumgesiedelt. Nach dem Ende des Krieges wurden sie dann zur Rückkehr gezwungen und in Sonder lager in Sibirien und Mittelasien deportiert. Deutsche Siedler aus anderen Gebieten wurden von Stalin für die Verbrechen Deutschlands im 2. WeltEXKURS I SpätaussiedlerInnen
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krieg ›bestraft‹: Deutsche Dörfer wurden vernichtet, viele Menschen nach Sibirien und in die mittelasiatischen Republiken (Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan) deportiert und gezwungen, in der Arbeitsarmee, die sie erst 1955 wieder verlassen durften, schwere körperliche Arbeiten zu verrichten. Außerdem ließ Stalin Tausende erschießen oder verbannen« (Koval 2012, S. 57).
Darüber hinaus waren die deutsche Sprache, deutsche Bräuche und Kultur unter Androhung von Strafen jahrelang verboten. Erst 1964 fand eine formale Rehabilitation der deutschen Bevölkerung statt. Allerdings durften sie nicht in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurückkehren. Daraufhin wanderte ein Teil aus Sibirien nach Kasachstan und Kirgisien aus und gründeten dort neue deutsche Siedlungen. Zu Zeiten der Sowjetunion gab es keine Möglichkeit, in die BRD oder in die DDR auszuwandern. Der Ausreiseantrag konnte negative Konsequenzen wie z. B. Arbeitsplatzverlust, Lohnkürzung oder Geldstrafe haben. Die Ausreise nach Deutschland wurde erst ab 1985 in Folge der durch Gorbatschow geförderten Politik der Perestroika11 möglich. Viele deutsche Volkszugehörige haben diese Gelegenheit in Anspruch genommen (vgl. Koval 2012, S. 57). Die Zahlen der Registrierung und Antragseingänge bei dem Bundesverwaltungsamt zeigen allerdings seit dem Jahr 2005 einen Rückgang beim Zuzug von SpätaussiedlerInnen (vgl. Abb. 1) Dies hängt zum einen mit der Begrenzung der Zuzugszahlen seitens Politik und Regierung im Jahr 1993 und im Jahr 2000 zusammen. Zum anderen erschwert ein seit 2005 eingeführter Sprachtest für alle Familienangehörigen in den Herkunftsländern die Einreisebedingungen für die SpätaussiedlerInnen in die Bundesrepublik (vgl. Schmitz 2013). Für die SpätaussiedlerInnen ist die Außenstelle des Bundesverwaltungsamtes in Friedland die erste Anlaufstelle nach ihrer Ankunft in Deutschland. Die Erstaufnahmeeinrichtung dient zur Überprüfung der Identität und der Antragsangaben der eingereisten Personen. Im Anschluss an das Registrierungsverfahren werden die eingereisten SpätaussiedlerInnen nach einem vorgegebenen Verteilungsschlüssel auf die jeweiligen Bundesländer verteilt. Die SpätaussiedlerInnen und ihre Familienangehörigen müssen in dem zugewiesenen Übergangswohnheim bis zu drei Jahre wohnen,
11 Ein gebräuchliches Äquivalent im Deutschen ist Umbau, Umgestaltung, Umstrukturierung.
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Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
Anzahl 400.000 375.000 350.000 325.000 300.000 275.000 250.000 225.000 200.000 175.000 150.000 125.000 100.000 75.000 50.000 25.000 0
Kasachstan 616
397.073
*Westdeutschland
230.565
Russland 1.257
222.591
Ukraine 90 Kirgisistan 65 Polen 33 Rumänien 21 Sonstige 66
177.751 103.080 95.615
91.416 59.093
1990*
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
7.747
4.362
2.350
2.148
2006
2008
2010
2011
Jahr
Abb. 1: Zuzug von (Spät-)Aussiedlern und ihren Familienangehörigen (nach Herkunftsgebieten, in absoluten Zahlen, 1990 bis 2011) (eig. Darstellung nach Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2012; BAMF: Migrationsbericht 2010)
wenn der Bedarf einer finanziellen Unterstützung durch den Staat besteht (vgl. Koval 2012, S. 58). Im Gegensatz zu den Menschen mit Fluchthintergrund oder den als Gastarbeiter nach Deutschland gekommenen Menschen wurde SpätaussiedlerInnen mehr Akzeptanz entgegengebracht. Für Spät aussiedlerInnen gab es ursprünglich eine Eingliederungshilfe in Form eines Darlehens für einen Haus- oder Wohnungskauf und Entschädigungen. Seit dem Jahr 1992 besteht die Eingliederungshilfe nur noch aus einem sechsmonatigen Sprachkurs.
Arbeiten Sie bitte, anhand der zuvor dargestellten Wanderungsgeschichte, die auf unterschiedliche Weise ineinander wirkenden Formen der freiwilligen und erzwungenen Migration heraus. Multiple-Choice-Fragen zu den Kapiteln 2.1–2.4 1. Welche der im Folgenden genannten Verfolgungsgründe gehören nicht zur Definition des Begriffs »Flüchtling« nach der Genfer Flüchtlingskonvention? Bitte kreuzen Sie zwei Antworten an: a) Rasse b) Armut c) Religion d) Nationalität e) politische Überzeugung f) Umweltkatastrophen EXKURS I SpätaussiedlerInnen
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2. Welche der folgenden Merkmale sind für die Ableitung des »Migrationshintergrunds« in den amtlichen Statistiken relevant? Bitte kreuzen Sie vier Antworten an: a) Eigene Migrationserfahrung (Zuzug aus einem anderen Land) b) Zugehörigkeitsgefühl eines Menschen zum Herkunftsland c) Eigene Dauer des Aufenthalts in Deutschland d) Migrationserfahrung (Zuzug aus einem anderen Land) der Eltern e) Dauer des Aufenthalts der Eltern in Deutschland f) Eigene Staatsangehörigkeit g) Grund der Einreise der Eltern nach Deutschland h) Staatsangehörigkeit der Eltern i) Eigene Deutschkenntnisse j) Deutschkenntnisse der Eltern 3. Welches Verständnis von Grenzen liegt dem statistisch-juristischen bzw. politisch-rechtlichen Zweck der Erfassung von Menschen mit Migrationshintergrund zugrunde? Kreuzen Sie bitte eine Antwort an: a) Grenzen zwischen Bundesländern b) Individuell (subjektiv) wahrgenommene Grenzen c) Staatsgrenzen d) Grenzen von sogenannten sicheren Staaten
2.5 Bedeutung von Migration – Subjektive Perspektiven von Zugewanderten Jede Auswanderung bedeutet, dass eine Person in ein für sie fremdes soziales und räumliches Umfeld eines neuen kulturellen und gesellschaftlichen Systems gerät. Für diese Person sind Handlungs- und Deutungsmuster, nach denen die dort wohnenden Menschen ihr Leben gestalten, und die Sprache, in der die Kommunikation stattfindet, in der Regel neu. Sie kann ihr alltägliches Leben nicht immer nach den bewährten Prinzipien ihres »Denken-wie-üblich« (vgl. Schütz 1972, S. 58) gestalten und muss sich mit den neuen Lebensumständen, Fertigkeiten, Rollenverständnissen etc. der dort bereits lebenden Menschen zurechtfinden. Jede Migration impliziert den Verlust der vertrauten Umgebung, den Bruch in Beziehungen durch die Trennung von Angehörigen und Freunden, den Bruch in der kulturellen Erfahrung, in den Selbstverständlichkeiten und im gewohnten Selbstbild. Das Individuum sieht sich herausgefordert, seine soziale Einbindung 26
Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
neu zu gestalten und sich u. a. mit Kenntnissen, Fertigkeiten und Rollenverständnissen der dort bereits lebenden Menschen zurechtzufinden und sich diese sukzessive anzueignen.
Versetzen Sie sich in die Lage einer neu zugewanderten Person oder erinnern Sie sich an Ihre eigene Ankunft in einem für Sie fremden Land (ausgenommen sind Urlaubsreisen): Was könnte die Ankunft im neuen Land für das psychosoziale Befinden dieser Person bedeuten? Welche Auswirkungen könnte es für die weitere Identitätsentwicklung geben?
Auswanderung als eine Belastung Nach Ansicht von Andrea Hettlage-Varjas und Robert Hettlage (1995) stellt eine Migration einen Stressfaktor für das Individuum dar, kann ein Schockerlebnis verursachen und schließlich zu einer traumatischen Erfahrung führen, worauf MigrantInnen mit dem subjektiven Gefühl von »Verlassenheit« und »Ausgeschlossen-Sein« (Hettlage-Varjas/Hettlage 1995, S. 18) reagieren würden. Die AutorInnen vergleichen dieses Gefühl mit der Panik eines kleinen Kindes, das plötzlich von seiner Mutter getrennt wird. Sie stellen fest, dass nicht so sehr die Tatsache des Weggehens traumatisch sei, sondern ständige und immer wieder vorkommende Situationen von Verletzung und Demütigung im Aufnahmeland. Einige MigrantInnen würden gerne in ihre Heimat zurückkehren, aber verschiedene Gründe sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmeland sind so gewichtig, dass eine Heimkehr nicht in Frage kommt, sodass sie ständig mit diesem schmerzhaften Verlustgefühl leben müssen. Gerd Wenninger (2001) versteht den Migrationsprozess als eine große Belastung bereits von dem Zeitpunkt an, an dem eine Person eine Auswanderung in Betracht zieht. Die Trennung von Angehörigen und Freunden, der Verlust vertrauter Umgebung, fremdes Klima und fremde Ernährungsgewohnheiten können bei vielen Menschen Stress, Angst, Depression und Entfremdungsgefühle verursachen, die wiederum zu einer erhöhten Anfälligkeit für Erkrankungen und psychosomatischen Reaktionen führen können (vgl. Wenninger 2001, S. 34).
Bedeutung von Migration – Subjektive Perspektiven von Zugewanderten
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Flucht und Trauma Die psychosozialen Schwierigkeiten und speziell die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (nach der ICD-10, International Classification of Diseases) werden aktuell insbesondere in Bezug auf Menschen mit Fluchtgeschichte diskutiert, die Opfer von Krieg und Verfolgung wurden sowie Zerstörung und Gewalt erfahren haben. Eine Posttraumatische Belastungsstörung zeichnet sich zum einen durch Symptome des Wiedererlebens, die durch Reize wie z. B. (Fernseh-)Bilder, Gerüche etc. ausgelöst werden können oder in Form von Albträumen zum Vorschein kommen. Weitere kennzeichnende Merkmale sind eine erhöhte angstbedingte Erregung wie Schlafstörung, Konzentrationsschwierigkeit, Nervosität oder Reizbarkeit sowie die Vermeidung als bewusster Versuch, bestimmten Orten, Menschen oder Situationen auszuweichen (vgl. Zito 2015, S. 76 f.; Zito/Martin 2016, S. 32 ff.), die an das Trauma erinnern. Ob Menschen nach äußerst erschwerenden und belastenden Lebensereignissen eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln, hängt von einem Zusammenwirken unterschiedlicher personen- und umweltbezogener Faktoren ab. Zum einen hängt es davon ab, ob es sich um einmalige, zeitlich begrenzte, zufällige Traumata wie z. B. Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen handelt oder um länger andauernde und von Menschen verursachte Traumata wie z. B. Kriegserlebnisse, sexualisierte Gewalt, welche deutlich schwieriger zu verarbeiten sind. Zu den Risikofaktoren zählen ungünstige ökonomische und ökologische Lebensbedingungen sowie lebensgeschichtliche Faktoren wie Sucht und Erkrankungen. Als Schutzfaktoren werden das Vorhandensein formeller und informeller Unterstützung sowie schützende persönliche Haltungen wie Widerstandsfähigkeit eines Individuums oder eines Systems mit belastenden Lebensumständen erfolgreich umzugehen, verstanden (vgl. Wustmann 2012, S. 18; Zito 2015, S. 84 f.; Zito/Martin 2016 S. 28 ff.). Auswanderung als eine Ressource: Anstoß für Bildungsprozesse und für die Herausbildung von Kompetenzen Der von Vera King und Hans-Christoph Koller (2009) herausgegebene Band »Adoleszenz – Migration – Bildung« zeichnet sich dadurch aus, dass Bildung als »ein Prozess grundlegender Transformationen der Art und Weise, in der Menschen sich zur Welt und zu sich selbst verhalten« (vgl. Koller 2009) definiert und die Auswanderung als einen Anstoß von Bildungsprozessen betrachtet wird. Koller (2009) weist auf die doppelte und komplexe Ver28
Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
schränkung adoleszenz- und migrationsspezifischer Themen hin, die er am Bespiel von einer 23-jährigen Studentin aus Lena Goreliks Roman »Meine weißen Nächte« herausgearbeitet hat. Marga Günther (2009) nimmt als Beispiel die zum Zweck des Studiums nach Deutschland ausgewanderten Migrantinnen aus Guinea und zeigt auf, wie durch die Migration eine Verunsicherung der bisherigen sozialen Positionierung provoziert wird und demzufolge eine Neuorientierung und -verankerung in der fremden Welt geschieht. Koval (2016b) betrachtet ebenso die Auswanderung als einen Auslöser von Bildungsprozessen, die zur Veränderung der eigenen Handlungs-, Deutungs- und Selbstbeschreibungsmuster geführt hat. Sie zeigt auf, dass die Erzählungen von Befragten, in denen biografische Bildungsprozesse zum Ausdruck gebracht wurden, den Eindruck von Menschen entstehen lassen, die eine offene Haltung und Resilienz sowie Kompetenzen wie Reflexivität, Empathiefähigkeit, Ambiguitätstoleranz und transkulturelle Kompetenz entwickelt haben.
Befragen Sie bitte Personen aus Ihrem privaten oder beruflichen Umfeld, die selbst aus einem anderen Land nach Deutschland migriert sind, zur Bedeutung von Auswanderung und ethnischer Zugehörigkeit. Stellen Sie hierfür offene, erzählgenerierende Fragen wie »Erzählen Sie bitte die Geschichte Ihrer Auswanderung nach Deutschland von dem Tag an, an dem Sie erfahren/ beschlossen haben, dass Sie ausreisen bis heute.« Arbeiten Sie anschließend die subjektiv zugeschriebene Bedeutung der Auswanderung heraus. Lesen Sie bitte die drei folgenden Interviewpassagen durch: Rekonstruieren Sie Bedeutungen, die der Auswanderung zugeschrieben werden und die damit verbundenen subjektiven Bewältigungsstrategien.12 I (aus: Zito, Überlebensgeschichten. Kindersoldatinnen und -soldaten © 2015 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel) L., 22 Jahre, Flucht aus einem afrikanischen Land »Ich wurde nur einfach von dieser Hilfsorganisation irgendwie gerettet. […] Die haben mir nur gesagt, dass- es lohnt sich nicht, mich da im (Herkunftsland) zu lassen, in dem UN-Refugee-Camp zu lassen, weil das ist noch etwas bedrohlich, und auch, also, auch wegen dem […] was mit meinem Vater und 12 Die Transkriptionsregeln entnehmen Sie bitte dem Anhang. Bedeutung von Migration – Subjektive Perspektiven von Zugewanderten
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meiner Familie vorgefallen ist, sagen die, ja, einfach weg aus Afrika. […] Auf einer Seite habe ich mir auch Sorgen gemacht, dass, […] wie wir während des Krieges gehört haben, dass viele von uns, die Jugendlichen einfach nur als Sklaven verkauft wurden, weil, ja, wir suchen einfach nach Rettung und so, ein neues Leben anzufangen und ja, viele wurden einfach verkauft zur Sklaverei. Da habe ich mir gesagt, okay, am schlimmsten, egal ob ich verkauft werde oder nicht, weg von- ja, diesem Tod-Gefühl, ja? Also, ich möchte ja nicht sterben, es wäre mir lieber einfach woanders, wo ich ein bisschen ja, die Chance ha- habe zum Leben als ja irgendwie da zu- (im Herkunftsland) zu bleiben und dann meine Tage zu zählen, ja?« (Zito 2015, S. 276) »Da hast du einfach keine Chancen mehr, hast du keine Überlebenschance. Dann sitz ich nur da, vielleicht, hätten diese Leute nicht gesagt, es kommt eine Überraschungsreise. Ich sage, ich mach mit. Ja. Wenn ich da […] da gesessen, keine Schule oder so. Ja, oder vielleicht wär ich ein schlimmer Verbrecher geworden. […] Aber da ist ein Mensch, der hat gesagt: ›Egal, was das uns kostet, wir schicken dich einfach hier weg. Du fängst ein neues Leben an. Glaub uns.‹ […] Ich konnte es nicht glauben. Aber ich kann immer diese- wenn ich in diese Phase so in meinen Gedanken hingehe, ich hör immer diese Frau, ne. Was sie gesagt hat: ›Die Zeit, Kindersoldat zu sein ist vorbei. Ist vorbei. Ist vorbei. Glaub mir, ist vorbei‹. Weil sie hat so geschrien, ja, nicht so- weil ich war so wie: näh? Weiß es nicht. Nee, ich war verzweifelt, aber um mich zu ermutigen, hab ich gesagt, okay, schön. Schön.« (Zito 2015, S. 277) »Mein Traum war, endlich bin ich unterwegs (in einen westlichem lndustriestaat), ja, wo mein Vater irgendwie- ja, sowas, so. Aber, naja, die haben nur einfach gesagt, ja, die werden mich für eine lange Reise vorbereiten, aber das die- das Ende ist ja, was am meisten zählt, ja. Dass, wenn ich da bin, wo ich endlich sein sollte, dass ich einfach Leute finden werde, die sehr sympathisch, sehr nett, sehr gut sind, die werden sich einfach um mich kümmern, um zu sehen, dass ich wieder also mit meinem Leben zurechtkommen kann, dass ich auch irgendwie die Träume meiner Eltern erfüllen kann, ja, dass ich- ich soll mir keine Sorgen machen, ich soll mir auch irgendwie keine Hintergedanken machen, ich soll nur einfach, also, in das Schiff reingehen und nur machen, was der Begleiter da mir erzählt.« (Zito 2015, S. 288) »Ein normaler Mensch soll sich einfach nur sagen, dass so was einfach nicht sein Schicksal sein soll. Einfach nicht teilzunehmen und auch so was nicht zu sehen. Ja, weil die ganzen Bilder bleiben in Erinnerung, und sobald man darüber redet, kommt alles wieder. Weil man man sieht diese ganzen unschuldigen Kinder, ja, abgemagert, den Kopf und die Gliedmaßen, einfach so ein dick gewachsener Bauch und nur mit Beinen, die so zu zu zu 30
Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
dünn sind, und die können einfach nicht mehr, und die Eltern können auch nicht mehr mit diesen Kindern weiter laufen. Wie kann einfach ein Kind, ein unschuldiges Kind sterben, einfach nur so, weil es keine Hilfe gibt, und man hat einfach so zugelassen, einfach so zu sterben. Man weiß (weint und schnauft) wirklich also (bricht ab).« (Zito 2015, S. 385) »Das war die Hölle, glaub mir. Ja, Hölle. Das hat mich immer zurück zur Kriegszeit gebracht, weil es gab keine Woche, in der wir nicht einen Feueralarm hatten. Mitten in der Nacht siehst du nur- so wie (im Herkunftsland), hörst du nur Sirenen, Geschrei und so bumbumbum (Geräusch mit dem Mund wie Sirene oder ähnliches), wachst du auf und so siehst du Alarm überall und so. Und dann du bist dann einfach in dieser- ich weiß nicht, dieses Bewusstsein verlierst du, du denkst, pah, ich bin wieder im Krieg.« (Zito 2015, S. 385) »Dann bleibe ich dann in meinem Zimmer, und dann- die ganze Welt dreht sich auseinander. Fängt dann richtig Horror an, ja? (atmet aus, stöhnt) Nee. Die ganzen Erfahrungen, Kriegserfahrungen, alles kommt, eines nach dem anderen. Weil, ich bin einfach in meinen Gedanken versunken.« (Zito 2015, S. 386) II O., 29, Auswanderung aus Russland mit 21 Jahren »Ich habe begriffen, dass ich in St. Petersburg nicht leben will und nicht kann. Unter solchen Bedingungen, unter denen ich dort leben konnte, wollte ich nicht. […] Ich habe sofort gedacht ehm … Gott hat mich nicht verlassen, es wird noch etwas Positives in meinem Leben geben, dass ich aufhöre zu denken, ehm mein Gott, wieso habe ich hier [Robototechnik in St. Petersburg] studiert. Das war alles so … langweilig und überhaupt .. So und ich … habe damals schon gedacht, dass alles gerade für mich so arrangiert wurde. Das Schicksal hat es so veranlasst. Und ich war mir sicher, dass ich dort angenommen werde, weil ich wusste, wenn ich nicht angenommen würde, wäre es eine Katastrophe in meinem Leben. Und ich wüsste nicht, wie ich sie überleben würde. […] Ich habe mich sehr gefreut, ich habe begriffen, dass mein Leben sich .. völlig ändern wird. Ich habe begriffen, dass es … nun irgendwie. nun wie Licht im Fenster ist, das heißt, es wird etwas Neues in meinem Leben passieren. Das war ein Weg aus der Sackgasse. […] Als ich nach M. gekommen bin, war das erste, was ich erlebt habe, so ein Schock. Weil ich begriffen habe … dass es hier gar kein Paradies ist, dass man. irgendwie … überall und immer studieren und arbeiten muss, obwohl es Deutschland ist, […] und ich fühlte mich sozusagen .. wieder .. nu. nicht Bedeutung von Migration – Subjektive Perspektiven von Zugewanderten
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als Prinzessin, sondern so ein bisschen in die Ecke gedrängt. […] Die ersten drei Monate ich nun. ich habe innerhalb von drei Monaten zehn Kilogramm zugenommen. Ich habe danach begriffen, dass ich auch schrecklich aussehe. Abgesehen davon, dass ich kein Deutsch gesprochen habe, sah ich noch dazu schrecklich aus, ich habe irgendwelche Pickel im ganzen Gesicht bekommen. Ich hatte nichts zum Anziehen, weil … zehn Kilo, ich konnte nicht nur keine Hose anziehen, sondern auch die Schuhe waren zu eng (lacht lange). Nun .. ja .. übrigens war es im Winter, vielleicht war es eine Winterdepression, weiß ich nicht. […] Nun dann im März ist die Sonne wiedergekommen … ich fühlte mich viel besser. Ich habe verstanden, dass ich mich zusammenreißen muss … und ich habe wieder zehn Kilogramm abgenommen (lachend). Ich habe durch den Wald in M. gejoggt. […] Dann habe ich verstanden, dass wenn man in so einem Tempo leben will, muss man selbst auf sich aufpassen, für sich selbst die Verantwortung übernehmen, und aufpassen, dass das Studium gut läuft. […] Nun ich musste aber auch meine russischen Gewohnheiten bekämpfen, zum Beispiel, zum Beispiel man muss den Müll nicht mit geschminkten Augen runterbringen oder wenn man ins Geschäft geht, um Brot zu kaufen, muss man nicht die Schuhe mit hohen Absätzen anhaben. […] Nun habe ich verstanden, dass vieles egal ist, dass es unwichtig ist, ob man Schuhe mit hohem Absatz trägt oder nicht. Man muss wie ein Mensch aussehen. Ich habe mir Sportschuhe gekauft und habe verstanden, dass .. ja … nun irgendwie … ich habe ein bisschen meinen Lebensstil verändert, sozusagen. Das heißt, wenn ich in die Küche gegangen bin, war es mir egal, was sie von mir halten, mit welchem Akzent ich spreche. Ich habe so gesprochen, wie ich konnte.« (Koval 2012, S. 137 ff.) III
I., 40, Auswanderung aus Kasachstan mit 34 »Ich stand hier wie ein Baby. Ich konnte … kaum was verstehen, oder wenig. Ja erst mal, wenn du kommst, egal, ob du gelernt hast oder nicht gelernt hast, ja. Die Leute sprechen anders, die sprechen schnell, man versteht gar nicht. Ich hab .. ich war in Schockzustand, ich dachte, ich verstehe nicht mal ›Guten Tag‹, also (lacht). Man dann … hat man nichts. Man hatte dann, ja, schon mal Genossen, ja, @ beste Schauspielerin des Jahres@. Hier kennt dich keiner, es ist egal, was du warst irgendwann. Und genau dieses Gefühl, glaube, haben wir gebraucht, oder .. gesucht […] Ich hatte viele Momente, wo ich dachte, okay, das geht aber nicht, weil bei uns anders ist, zum Beispiel ich hatte einfach sehr viele Stunden gehabt, da bei uns Studenten anders arbeiten. Sie sind ab acht Uhr morgens bis elf Uhr abends da – Schauspiel. 32
Migration – Allgemeine Grundlagen und zentrale Begriffe
Ich habe auch so gearbeitet, als Studentin. […] Jetzt habe ich einmal pro Woche fünf Stunden in der Gruppe. Es war für mich zuerst ganz schwierig und unvorbereitet. Ich dachte, na wie schaffe ich? Aber dann hatte ich andere Dinge verstanden, ja. Man muss schon offen sein, man darf nicht mit diesen Vorstellungen, bei uns war es so. […] Ich arbeite an einem privaten … das ist eine private Schule, ganz normale, staatlich anerkannte. Die kriegen Diplom, aber trotzdem eine private Schule. Und die ist nicht so groß auch. Und hier gibt es keine Kapazität für das, was bei uns war, eine groooße staaaatliche Schule. Das ist unmöglich. Man muss einfach ganz anders aufbauen, weg von der Unterstützung ehm. Und ich bin froh, dass ich das gelernt habe. […] Ich dachte, ich war offen, weil ich, ja, doch versucht habe, alles zu begreifen und zu akzeptieren. In Wirklichkeit bin ich auf diesem Weg [Auswanderung] viel offener geworden, weil ich mich mehrmals überwinden musste, weil es zu mir nicht passte. Aber ich habe mich überwunden und dann, entweder habe ich das, was ich für richtig meinte, angepasst, sogar in der Schule angepasst jetzt, ja. Die Leute sind da offen, etwas möglich ist aus meinen Erfahrungen, hören sie ja auch. Oder ich habe mich verändert dann, ehm, mein Stil, weiß ich nicht. Stil nicht, ich hatte ja nicht so großartiges Stil, aber auf jeden Fall das alles zusammen.« (Koval 2012, S. 146 ff.)
Bedeutung von Migration – Subjektive Perspektiven von Zugewanderten
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3
Zwischen Fremdheit und Diskriminierung – Zuschreibungen der Gesellschaft
In den letzten Jahren stieg – nach einer Pause (vgl. → Kap. 6.2.5 f.) – die Anzahl der Menschen mit Fluchterfahrung in der Bundesrepublik Deutschland wieder stark an. Die Fluchtthematik wird in der Politik kontrovers diskutiert und in der Gesellschaft sehr unterschiedlich gelebt. Viele ehrenamtliche HelferInnen an unterschiedlichen Orten zeigten beispielsweise bemerkenswertes Engagement und großen Einsatz für Menschen mit Fluchterfahrung; an vielen Orten wurden Willkommensfeste veranstaltet. Gleichzeitig gingen teilweise mehr als 20.000 Menschen, die sich als »patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (PEGIDA) bezeichnen, auf die Straße, um gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu protestieren. So werden in der Mitte der Gesellschaft Angst vor und Vorurteile gegenüber »Fremden« sowie deren Diskriminierung offensichtlicher (vgl. Küpper/Zick/Krause 2015). Laut dem Bundeskriminalamt wurden im Jahr 2015 1.005 Straftaten gegen Flüchtlingsheime verübt – vier Mal so viel als im Jahr zuvor (vgl. Küpper/Zick 2016, S. 13). In den meisten Bundesländern konnte die mit PEGIDA sympathisierende Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) bei den Kommunalwahlen in 2016/2017 dieser Zeit gewichtige Wahlerfolge erzielen, in östlichen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ist die Partei zweitstärkste politische Kraft (vgl. Hafeneger 2016, S. 126), bei der Bundestagswahl in Sachsen die stärkste politische Kraft geworden. Mit den 94 Sitzen ist die Partei 2017 in den Bundestag eingezogen. Medial werden gemeinhin die beiden extremen Positionen von Willkommenskultur und (teils gewalttätiger) Ablehnung dargestellt. Für ein Lehrbuch ist es wichtig, sowohl diese Positionen zu analysieren, als auch die dazwischen befindlichen Grauzonen aufzuzeigen. Deshalb werden in diesem Kapitel unterschiedliche Dimensionen von Fremdheit, Vorurteilen und Diskriminierungen erläutert und Fragen nach deren Ursachen und Bedeutungen nachgegangen. Des Weiteren werden die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund am Beispiel von Schule und 34
Beschäftigung veranschaulicht, Erklärungen zu deren Entstehungsursachen dargelegt sowie die subjektiven Sichtweisen von Betroffenen vorgestellt.
3.1 Fremdheit
Erinnern Sie sich bitte an eine Situation, in der Sie sich zum ersten Mal richtig fremd gefühlt haben: Welche Gefühle und Gedanken hatten Sie dabei? Worin bestand das Besondere der Situation, das zur Entstehung des Fremdheitsgefühls beigetragen hat? Haben Sie versucht, diese Gefühle und Gedanken zu vermeiden? Reflektieren Sie bitte, welche (Personen-)Gruppen in Ihrem privaten und beruflichen Umfeld als »fremd« bezeichnet wurden. Was waren die Kriterien, anhand derer die Fremdheitszuschreibung erfolgte?
»Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.« Dieses Zitat von Karl Valentin (1940) ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden und verweist u. a. darauf, dass Fremdes meistens nebensächlich ist, solange es in der Ferne bleibt, d. h. im Alltag nicht vorkommt. Die Welt rückt jedoch immer mehr zusammen. Durch Globalisierung, Mobilität und Digitalisierung werden weit entfernt lebende Menschen vertrauter, wobei »weit« nicht immer eine große geographische, sondern auch eine soziale Distanz bedeuten kann. Gleichzeitig sind sich viele Menschen, die sich in unterschiedlichen Zusammenhängen im Alltag begegnen, fremd. Jedoch nicht alle unbekannten Menschen werden zugleich als Fremde wahrgenommen. Das geschieht vorrangig dann, wenn alltägliche Routinen nicht funktionieren, z. B. wenn jemand sich auf eine als befremdlich empfundene Weise verhält. Im Folgenden wird ein Versuch unternommen, unterschiedliche Dimensionen der Fremdheit zu erläutern. Fremdheit als Konfrontation mit der Infragestellung des Selbstverständlichen Die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie die Vorstellung über die Weltwirklichkeit von Menschen, die in demselben sozialen und kulturellen Fremdheit
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Umfeld wohnen, sind ähnlich, sie werden nicht hinterfragt und als selbstverständlich hingenommen. Dieses Phänomen hat Schütz (1972) als »Denkenwie-üblich« (S. 58) bezeichnet. Das Vorhandensein des »Denken-wie-üblich« entlastet zum einen das Alltagshandeln vom vermeidbaren Aufwand des Analysierens, Bewertens und Kategorisierens und stellt zum anderen einen Orientierungsrahmen für legitim geordnete Handlungsmuster dar. Diese ermöglichen einem Menschen, ohne die Richtigkeit in Frage zu stellen, das Erfahrene jeden Tag zu praktizieren, ohne nachzudenken, ohne zu überlegen, die passenden Worte zu sagen, andere verstehen zu können und verstanden zu werden (vgl. Koval 2016c, S. 139 f.). Die Individuen streben nach Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit von menschlichem Denken und Verhalten als Voraussetzung für Verhaltenssicherheit und Geborgenheit. Demzufolge wird das Auftreten von Menschen, die zumindest in einigen Bereichen nach einem anderen »Denken-wie-üblich« als wir selbst handeln, als irritierend, bedrohlich oder gar unheimlich empfunden (vgl. Bergmann 2001, S. 39). Fremd ist auch das, was Angst macht, weil man die Reaktionen des fremden Menschen nicht kennt. Ältere Menschen, die sich nicht gut wehren können, sind hier empfindlicher, wenn sie der bisher vertrauten Umgebung nicht mehr vertrauen können. Dies hat bei vielen etwas mit dem Verlust von Heimat in ihrer Kindheit durch Kriege zu tun. Eine Möglichkeit, die Gefährdung der sicheren und fraglos hingenommenen Wirklichkeit des Menschen zu vermeiden, ist die soziale Konstruktion von Fremdheit. Indem jemand als fremd eingestuft wird, wird die Klarheit über eine mögliche Ursache für befremdlich wirkende Dinge wiederhergestellt (vgl. Kleinert 2004, S. 30). Fremdheit als soziale Konstruktion und als Generalisierung Als fremd wird ein Individuum wahrgenommen, welches nicht der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft angehört. Die Grenzziehung zwischen »eigen« und »fremd« geht mit der Bestimmung der eigenen Zugehörigkeiten einher. Es erscheint paradox: Je mehr positive Eigenschaften bei der Selbstidentifikation genutzt werden, desto mehr Arten von Ausgrenzungen entstehen bei den »Fremden« (vgl. Hahn 1994, S. 142). Fremdheit ist also keine Eigenschaft einer Person, sondern eine Definition einer Beziehung, die in gesellschaftlichen Kontexten hergestellt wird und oft anders hätte ausfallen können. Die soziale Konstruktion von Fremdheit erfolgt jedoch nicht anhand beliebiger Merkmale eines Individuums oder einer Gruppe. Für eine soziale Wirksamkeit müssen die Merkmale nachvollziehbar und anschließbar sein 36
Zwischen Fremdheit und Diskriminierung
an bestehende Strukturen und Traditionen, aber auch an aktuelle Krisen der beteiligten Gruppen. Dies spiegelt sich auch im aktuellen Diskurs zu Fremdheit in Bezug auf Menschen mit Fluchtgeschichte wider, der mittlerweile die breite Öffentlichkeit erreicht hat. Die geflohenen Menschen werden oft pauschal als »Fremde« und als »Bedrohung« wahrgenommen und bezeichnet. Eine Fremdheitsbeziehung ist durch Generalisierung geprägt, d. h. es sind in der Regel nur typische Eigenschaften und Merkmale der Fremden bekannt. »Darum werden die Fremden auch eigentlich nicht als Individuen, sondern als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt empfunden« (Simmel 1995, S. 512). Mit dem Kennenlernen eines Fremden wird dieser mit der Zeit ein Bekannter und als Ausnahme für die typischen Eigenschaften und Merkmale der Fremden betrachtet. Die Generalisierung scheint demnach für individuell wahrgenommene Fremde nicht mehr zu gelten. Wenn beispielsweise Menschen mit Fluchtgeschichte nur in den für sie vorgesehenen Unterkünften leben dürfen, wenn sie keine Arbeitserlaubnis und keinen Zugang zu Bildungsangeboten haben, bekommt die Bevölkerung keine Möglichkeit, sie als NachbarInnen kennenzulernen oder ihnen als SchülerInnen, Studien- oder ArbeitskollegInnen zu begegnen. Das trägt dazu bei, dass diese Menschen vorrangig durch ihren Fluchthintergrund definiert und in der Bevölkerungswahrnehmung auf ihr Fremdsein zurückgeworfen werden. Wenn die Unterscheidungen in »wir« und »Fremde« sozial gefestigt sind, werden Gemeinsamkeiten als Eltern, als StadtteilbewohnerInnen, als Arbeitsuchende, als Kinder oder als Jugendliche meistens ignoriert, auch wenn sie bedeutender als die fremdheitskonstruierende Differenz sind (vgl. Koval 2016c, S. 142). Migrationshintergrund und Fremdheit Personen können durchaus unterschiedlich sein und werden trotzdem nicht als fremd bewertet und wahrgenommen. Beispielsweise werden geschlechtsund generationsspezifische Unterschiede oder solche körperlichen Merkmale wie die Körpergröße, die Haar- und Augenfarbe nicht als fremd aufgefasst. Andere körperliche Eigenschaften, wie z. B. die Hautfarbe oder die Augenform, lösen ein Fremdheitsgefühl aus. Häufig verwendete Merkmale zur Kennzeichnung der eigenen Gruppe sind der kulturelle Hintergrund, der Migrationsstatus oder die ethnische Zugehörigkeit. Menschen aus als fremd wahrgenommenen Kulturen galten und gelten als Fremde, d. h. als etwas Besonderes, auf deren Begegnung sich Fremdheit
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auf eine besondere Art und Weise vorbereitet werden müsse. Um Fremden als Repräsentanten unbekannter Kulturen zu begegnen, ist es längst nicht mehr notwendig, in die Fremde im Sinne von geografisch weit entfernten Regionen zu verreisen. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Im Dortmunder Stadtteil Scharnhorst-Ost wiesen 63,8 % der EinwohnerInnen einen Migrationshintergrund auf, welche ursprünglich aus 90 unterschiedlichen Ländern der Welt stammten (vgl. Koval 2015, S. 46). Auffallend ist, dass Quartiere wie Scharnhorst-Ost sehr oft als Brennpunkte gelten. Auf sozialplanerischen Aufzeichnungen von statistischen Ämtern, mit zumeist dunkelroter Farbe markiert, wirken diese Gebiete angsteinflößend und senden ein Warnsignal wie »Achtung! Stopp!« aus. Es gibt grundsätzlich eine Tendenz, Mitgliedern einer Fremdgruppe die schlechtesten Eigenschaften der schlechtesten ihrer Mitglieder zuzuschreiben. Die Unterschiede zwischen der Eigen- und Fremdgruppe werden zudem übertrieben und zumeist nicht überprüft, was zum Thema Vorurteil überleitet.
3.2 Vorurteile
Lesen Sie bitte den Text durch und beantworten Sie folgende Fragen: Wie viele und welche Vorurteile werden im Text genannt? Welche Funktionen erfüllen Vorurteile? Ein fiktives Beispiel eines Gesprächs unter Freunden, die sich auf ein Bier in einem Stammtischlokal getroffen haben: »Egon: Ja, schaut euch doch mal um in der Stadt: eine Döner-Bude neben der anderen. Die deutschen Metzgereien schließen. Jessica: Und in den Betrieben haben wir auch nur noch billige ausländische Arbeitskräfte. Carmen: Aber du hast doch noch Arbeit. Hans: Wie lange hat sie die noch? Dann sitzt ein Türke oder was weiß ich für einer an ihrem Schreibtisch. Egon: … und der rollt den Gebetsteppich aus. Jessica und Hans lachen. Hans: Und in der Fastenzeit heißt es dann ›Nix arbeiten heute‹. Uwe: Mein Gott, ihr werft ja alles durcheinander. Meinen Schweinebraten 38
Zwischen Fremdheit und Diskriminierung
kriege ich immer noch in unserer Stadt und mein Kollege Mustafa ist ein ganz netter. Egon: Bis er sich an deine Tochter ranmacht und die dann mit einem Kopftuch rumläuft. Edith: Nicht jede islamische Frau trägt auch gleich ein Kopftuch.« (Hufer 2014, S. 28 f., mit freundlicher Genehmigung vom Wochenschau Verlag)
Beim Vorurteilsbegriff handelt es sich um einen Begriff aus der Alltagssprache. Die Semantik des Begriffs »Vorurteil« enthält zunächst weder eine positive noch eine negative Konnotation. Im Duden wird »Vorurteil« als »ohne Prüfung der objektiven Tatsachen voreilig gefasste oder übernommene, meist von feindseligen Gefühlen gegen jemanden oder etwas geprägte Meinung« definiert (Dudenredaktion 2017). Insbesondere in Bezug auf Fremdgruppen und Minderheiten erhält der Begriff »Vorurteil« eine negative Bedeutung und wird als »von anderen ohne ausreichende Begründung schlecht denken« (Allport 2008b, S. 40) definiert. Vorurteilsbildung als Bewältigung von inneren Konflikten und Projektion Aus der Sicht der psychologischen Forschung werden Vorurteile als ein Ausdruck von inneren Spannungen und unbewältigten Konflikten angesehen, die durch einen autoritären Erziehungsstil der Eltern oder durch die Bevormundung durch den Staat unterdrückt und nicht anders ausgelebt werden konnten. Wenn ein Individuum eigene unerfüllte Wünsche, unbefriedigte Bedürfnisse, Ängste und Schuldgefühle auf andere projiziert, entsteht eine sogenannte »Sündenbockpraktik« (Allport 2008a, S. 20). Dadurch können das eigene Selbstwertgefühl erhöht und Minderwertigkeitskomplexe kompensiert werden. Vorurteile können zudem weitere psychische Funktionen erfüllen, wie z. B. die Schaffung von Orientierung in unübersichtlichen Situationen und die Reduktion von Unsicherheit. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass die Unterschiede zwischen einem Individuum und seiner »Sündenbockzielgruppe« nicht immer vorhanden sein müssen. Oft werden Vorurteile auf die Menschen gerichtet, mit denen sehr wenig Kontakt besteht, unabhängig davon, ob Unterschiede vorhanden sind oder nicht. So ist beispielsweise allgemein bekannt, dass die Vorurteile gegen Menschen mit Migrationshintergrund in den Gegenden verbreitet sind, in denen der Anteil von Menschen Vorurteile
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mit Migrationshintergrund am geringsten ist und kein Kontakt zu diesen Menschen besteht. Zudem tendieren die Personen, die Ambivalenzen nicht ertragen können, dazu, andere Menschen als »absolut gut« oder »absolut schlecht« zu beurteilen. Es fällt ihnen in der Regel schwer, Eigenschaften und Verhaltensweisen von Personen in Abhängigkeit der Situation unterschiedlich zu bewerten. Wegen der Einfachheit wird dieser Weg ggf. bevorzugt, statt sich mit der Komplexität der Umwelt auseinanderzusetzen. Menschen mit Vorurteilen besitzen oft eine scharfe Strukturierung ihrer Welt, auch wenn die Struktur zu eng und inadäquat sein sollte. Wann immer es möglich ist, begrenzen sie sich auf das Sichere, Vertraute, Einfache und Entschiedene (vgl. Allport 2008b, S. 53). Steigerung des Zusammengehörigkeitsgefühls einer Gruppe und Sicherung der Machtposition Aus der Sicht der soziologischen Forschung werden Vorurteile als Ergebnis der Interaktionen im Gruppenkontext angesehen. Elias und Scotson (1990) untersuchten beispielsweise über Jahrzehnte Beziehungen zwischen Einheimischen und Zugewanderten in einem kleinen englischen Vorort. Es handelte sich um englische Arbeiter, die in zwei getrennten Bezirken wohnten. Die beiden Gruppen unterschieden sich weder in ethnischer noch in sozialer Hinsicht, lediglich in ihrer Wohndauer vor Ort. Die Alteingesessenen lebten seit Generationen dort und kannten sich untereinander. Um die eigene Machtposition zu monopolisieren und somit ihre überlegene Identität zu rechtfertigen, entwickelten die Alteingesessenen eine stark nach außen demonstrierte Befolgung der scheinbar einheitlichen Normen. Dadurch wurden die Neuankömmlinge zunächst von den Alteingesessenen als »eine Bedrohung der bestehenden Ordnung« und als »Übertreter von Gesetzen und Normen« (Elias/Scotson 1990, S. 238) wahrgenommen. Die Alteingesessenen demonstrierten ebenso einen besonders starken Zusammenhalt in der eigenen Gruppe und bauten eine räumliche und soziale Distanz auf. Die Neuankömmlinge konnten nicht begreifen, warum die Alteingesessenen sie verachteten und warum sie sich von ihnen distanzierten. Und sie konnten keine eigene geschlossene Gruppe bilden, weil sie sich untereinander nicht kannten. Im Laufe der Zeit akzeptierten und verinnerlichten die Außenseiter das von den Etablierten entwickelte Bild von Minderwertigkeit. Die Außenseiter begannen zu glauben, dass sie tatsächlich von Natur aus minderwertig und den Etablierten unterlegen wären. Dadurch wurde das Machtgefälle zwischen diesen beiden Gruppen gefestigt. Die bestehenden Vorurteile und diskriminierenden Einstellungen wurden 40
Zwischen Fremdheit und Diskriminierung
von Eltern an ihre Kinder mit einem verstärkten Effekt weitergegeben. Es ist diesbezüglich allgemein bekannt, dass das Selbstbild des Kindes nicht nur durch direkte Erfahrungen mit seinen Eltern geprägt wird, sondern auch durch die Meinung, die über ihre Eltern in deren Umwelt vorherrscht. So stellten Elias und Scotson (1990) fest, dass die jüngeren, in Winston Parva geborenen Generationen den Etablierten-Außenseiter-Konflikt in einer ausgeprägteren Form weiterführten. Die Forscher legen dar, dass die Unterschiede in der Hautfarbe, in der ethnischen Herkunft Nebenaspekte sind. Sie dienen als Erkennungsmerkmal, das die Angehörigen der Außenseitergruppe leichter als solche kenntlich macht. Ein zentraler Aspekt, um den es sich in den Etablierten-Außenseiter-Beziehungen handelt, ist laut den Forschern vielmehr das Bestreben, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu steigern, die eigene Machtposition zu sichern und die Gruppenidentität von anderen positiv abzuheben.
3.3 Diskriminierung
Lesen Sie bitte die folgenden kurzen Situationsbeschreibungen durch. Handelt es sich um Diskriminierung oder um Schutzmaßnahmen bzw. Chancengleichheit? 1. In die Diskothek werden nicht rein gelassen: (a) Jugendliche mit dunkler Hautfarbe; (b) Jugendliche unter 16 Jahren. 2. Alle sieben SchülerInnen mit Migrationshintergrund in der 6. Klasse bekommen eine 15-minütige Verlängerung bei der Bearbeitung von Prüfungsfragen im Fach Geschichte: vier SchülerInnen wurden in Deutschland geboren, zwei Schüler leben in Deutschland seit fünf Jahren, eine Schülerin ist vor einem halben Jahr nach Deutschland eingereist und spricht sehr schlecht Deutsch. 3. In einer Beratungsstelle, welche vorrangig von türkisch- und russischsprechenden Menschen kontaktiert wird, werden ausschließlich MitarbeiterInnen mit einer türkischen und russischen Herkunft beschäftigt.
In den meisten Fällen ist es schwierig, eindeutig festzustellen, ob es sich um einen Fall von Diskriminierung handelt (vgl. Liebscher/Fritzsche 2010, S. 25). So ist beispielsweise die Beziehung zwischen »Vorurteil« und »Diskriminierung« hinsichtlich Ursache-Wirkung nicht eindeutig bestimmbar. Diskriminierung
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In einigen Fällen verursachen Vorurteile eine Diskriminierung, z. B. eine Wohnung wird an eine Familie mit Migrationshintergrund nicht vermietet, weil sie vermutlich wenig Wert auf Sauberkeit legen würde. In anderen Fällen führt die bereits erfolgte Diskriminierung möglicherweise zur Entstehung von Vorurteilen. Beispielsweise wenn Menschen mit Fluchtgeschichte während des (nicht selten lang andauernden) Asylverfahrens keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, kann das zur Entstehung des Vorurteils, sie würden Sozialleistungen ausnutzen, führen. Ähnlich uneinheitlich ist die Beziehung zwischen Diskriminierung und Benachteiligung, gesellschaftlicher Chancenungleichheit und individueller Sensibilität. Laut dem Duden Fremdwörterbuch (Dudenredaktion 2015) bedeutet »Diskriminieren«, abgeleitet vom Lateinischen, »trennen«, und »unterscheiden«. Zur Diskriminierung wird diese Trennung, wenn dadurch »soziale Gruppen und Personenkategorien gekennzeichnet und die zur Begründung und Rechtfertigung gesellschaftlicher (ökonomischer, politischer, rechtlicher, kultureller) Benachteiligungen verwendet werden« (Scherr 2016, S. 9). Liebscher/Fritzsche (2010) unterscheiden zwischen einer bewussten, absichtlichen, willentlichen und einer unbewussten, als solche nicht wahrgenommenen Diskriminierung. Beleidigung, Beschimpfung, Anfeindung, Gewaltausübung, Ausgrenzung durch Nicht-Einladen und Nicht-Berücksichtigen gelten als Beispiel einer bewussten Diskriminierung. Eine unbewusste Diskriminierung findet z. B. statt, wenn bei einem Stadtteilfest für alle BewohnerInnen ausschließlich Gerichte mit Schweinefleisch serviert werden. Ein anderes Beispiel für eine unbewusste Diskriminierung ist die Verwendung von herabwürdigenden sprachlichen Ausdrücken und Witzen über Menschen anderer Zugehörigkeiten, um eine aus der Sicht der erzählenden Person angenehme Atmosphäre zu schaffen (vgl. Liebscher/Fritzsche 2010, S. 29 f.). Auf die Notwendigkeit der kritischen Betrachtung der Benennungspraxis hat Eisenhuth (2014) hingewiesen. Die Begriffe »AsylbewerberInnen«, »Geduldete«, »Illegale« bezeichnen im eigentlichen Sinn die formale Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Die Begriffe werden auch in der Alltagssprache für die Bezeichnung und oft für die Charakterisierung von Menschen verwendet und enthalten eine negative Konnotation (vgl. Eisenhuth 2014, S. 22). Schmidt (2009) hat vier Ebenen herausgearbeitet, auf denen eine Diskriminierung erfolgen kann. Auf der individuellen Ebene handelt es sich um eine indirekte Diskriminierung. Es sind Haltungen, Voreingenommenheiten und Selbstverständlichkeiten in Bezug auf soziale oder ethnische Merkmale, aufgrund derer andere Menschen als ungleich bzw. minderwertig angesehen werden. Auf der interpersonellen/zwischenmenschlichen Ebene bezieht 42
Zwischen Fremdheit und Diskriminierung
sich Diskriminierung auf das direkte Verhalten in den Interaktionen wie Beschimpfung und Beleidigung, wodurch nachteilige Folgen für andere Menschen entstehen. Auf der strukturellen Ebene sind es etablierte institutionelle Gesetze, Satzungen und Richtlinien (direkte Form), welche zum Ausschluss von Individuen aus den gesellschaftlichen Teilbereichen führen: z. B. kein Wahlrecht für eine in Deutschland geborene Person mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit. Wenn bei der Anwendung von gleichen Regeln nachteilige Folgen für eine Personengruppe entstehen, wird von indirekter Form der Diskriminierung, z. B. keine zusätzliche Zeit bei der Prüfung, um die Aufgabe in Deutsch als Fremdsprache zu verstehen, gesprochen.13 Eine weitere Ebene ist die diskursive/ideologische. Sie umfasst unge schriebene Werte und Normen, Gesetze, Diskurse und Ideale, die in einem bestimmten sozialen Kontext wirksam sind. Die Selbstverständlichkeit von allem, was die dominierende Mehrheit als normal, richtig, gut und schön anerkennt, führt zur Benachteiligung von Gruppen, die als anders dargestellt werden, weil sie sich hinsichtlich eines bestimmten Aspekts von der Mehrheit unterscheiden (vgl. Schmidt 2009, S. 85). Beispielsweise wird von »farbigen Menschen« gesprochen. Niemand aber sagt: »Menschen mit heller Hautfarbe« usw.
Das Diskriminierungsverbot ist zum einen im Grundgesetz (GG) und zum anderen im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verankert. Lesen Sie bitte die Gesetzespassagen durch und beantworten Sie folgende Fragen: Aufgrund welcher Merkmale darf eine Person nicht diskriminiert werden? Warum sind es gerade diese Merkmale? Warum werden z. B. Bildungsabschluss, Vorhandensein einer Erwerbstätigkeit, Einkommen etc. nicht aufgeführt? (→ Kap. 4.3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Art. 3 GG) Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Welt13 Zum Thema institutionelle Diskriminierung im Bildungssystem → Kap. 3.4.1. Diskriminierung
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anschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. (Art. 1 AGG) Suchen Sie nach Beispielen von positiven Vorurteilen und positiver Diskriminierung. Lesen Sie bitte die Interviewpassagen durch. Welche Dimensionen von Fremdheit, Vorurteilen und Diskriminierung werden zum Ausdruck gebracht?14 I Anastasja, 27 Jahre, wanderte im Alter von 13 aus Russland aus: »Wir mussten von Bayreuth in die Nachbarstadt erstmal fahren, weil wir im Nachbardorf gelebt haben. Und natürlich waren unsere Klamotten nicht die hippsten und wir haben auch die Menschen nicht verstanden. Und da hatten sich paar Jungs, die waren paar Jahre älter, keine Ahnung wie viel, die haben uns mit einem, also meine große Schwester und mich mit einem billigsten Parfum eingesprüht von oben bis unten. Der Busfahrer hat angehalten, der hat die auch daraufhin aus dem Bus geworfen. Aber wie soll man sich da wehren, da erlaubt sich man nicht, das war Gedränge, das war nach der Schule, man, alle wollten nach Hause. Meine Haare haben gestunken, meine Klamotten haben gestunken, das war nicht schön. Das war wirklich in der ersten oder zweiten Woche, dass wir überhaupt auf deutschem Boden waren, in einer deutschen Schule waren. Weiß nicht, also seitdem bin ich auch geprägt, also @ich mag kein Gedränge im Bus@ und ich mag auch nicht, wenn Menschen altes oder halt dieses billige Parfum tragen, weil mich das gleich wieder an diese Situation erinnert, wo man sich total hilflos gefühlt hat. Und da wollte ich nur noch weg, dachte ich, na die Deutschen. Das wäre mir aber in Russland wahrscheinlich genauso passiert, vielleicht in einem anderen Zusammenhang.« (Koval 2012, S. 151 f.) II Adrianne, 33 Jahre, wanderte im Alter von 24 aus Armenien aus: »Im Westen war immer: ›Woher kommen Sie?‹ Auf die Frage sagte ich immer Armenien. Ach R u m ä n i e n. Nein, nicht Rumänien, Armenien. @und die wissen nicht, wo es ist@ Und dann ist es immer ehm sehr kompliziert zu erklären und zu erzählen so ganz schnell, was für ein Land es ist, welche Menschen. Dann kommen immer die Fragen: ›Sind Sie Christen?‹ Und jaaa 14 Die Transkriptionsregeln entnehmen Sie bitte dem Anhang.
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Zwischen Fremdheit und Diskriminierung
so ein Grundpunkt der Geschichte Armeniens und dann versuchst du es zurückzuhalten, möchtest aber in der Kürze alles darbieten. […] Im Westen wurde ich manchmal, vor allem in Darmstadt, weil dort so viele Türken sind, irgendwie haben mich alle Türken dann begrüßt am Anfang. Ich weiß nicht, sie haben gedacht, dass ich auch eine Türkin bin. Es ist nicht schlimm, aber ich musste das erstmal verstehen, worum es hier geht. […]Hier im Osten, wo wir uns grade befinden, fühle ich mich als Armenierin sehr wohl. Bis jetzt habe ich wirklich keine Schwierigkeiten gehabt. Ich bin so froh, dass sie hier wissen, wo Armenien liegt. Ich meine, okay, es waren so viele Ausländer aus unterschiedlichsten Ländern und wir können ja nicht verlangen, dass alle es kennen, aber dadurch, dass Osten eben zu Sowjetzeiten sehr gebunden war und unser Land Thüringen zu Armenien immer Partnerschaft hat, an der Universität bei den ehm Lehrkräften oder bei den Professoren, die waren fast alle irgendwann mal in Armenien: ›Oh ich war dort und ich habe 1976 diese Städte besucht.‹ Da fühle ich mich so wohl, es ist so angenehm.« (Koval 2012, S. 154 ff.)
3.4 Ungleichheiten und Zuschreibungen der Gesellschaft 3.4.1 Schule
Analysieren Sie bitte die Daten aus dem aktuellen Bericht »Bevölkerung und Erwerbstätigkeit« des Statistischen Bundesamtes hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund einerseits und unterschiedlichen Arten von Schulabschlüssen inkl. des Nicht-Vorhandenseins eines Schulabschlusses andererseits: Welche Phänomene/Tendenzen werden sichtbar? Was sind mögliche Erklärungen? https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Mi grationIntegration/Migrationshintergrund2010220157004.pdf?__blob=publicationFile
Das Thema »Ungleichheiten im deutschen Schulsystem« steht seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 vermehrt im Fokus der Ungleichheiten und Zuschreibungen der Gesellschaft
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bildungspolitischen Debatten (vgl. Becker/Lauterbach 2016; Fereidooni 2011; Gomolla 2013; Kornmann 2013). Eine Erklärung für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung von Bildungsungleichheiten liefert das im Bereich der Ökonomie entwickelte Modell der rationalen Bildungswahl nach Boudon (1974). Es wird zwischen primären und sekundären Effekten unterschieden. Zu den primären Effekten gehört die Beeinflussung der Leistung in der Schule durch die ungleichen Ausgangslagen der Herkunftsfamilien. Die Unterschiede in den Ausgangslagen der Herkunftsfamilien bestehen in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht: z. B. Anzahl der Kinder, die sich ein Zimmer teilen, Vorhandensein familiärer Verpflichtungen bei den Kindern, wie das Aufpassen auf Geschwister, Notwendigkeit der Hilfe im Haushalt, der Zugang zu Büchern, Ernährung, Gestaltung der Freizeit, Vorhandensein einer lernförderlichen Umgebung und finanzieller Ressourcen für den (inzwischen fast obsoleten) Nachhilfeunterricht etc. Kinder aus privilegierten Bildungsmilieus erwerben infolge ihrer Sozialisation, Erziehung und gezielten Förderung im Elternhaus eher die Kompetenzen und Kenntnisse, die seitens der Institution Schule erwartet und belohnt werden (vgl. Becker/Lauterbach 2016, S. 13). Eine weitere Annahme auf Basis von diesem Modell ist, dass bildungsbiografische Verläufe das Resultat von bewusst getroffenen rationalen Kosten-Nutzen-Abwägungen bei der Investition in die höhere Bildung darstellen, welche wiederum von der unterschiedlichen Ausstattung der Familien hinsichtlich ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital abhängen. Dies zählt Boudon zu den sekundären Effekten. Hierbei handelt es sich zum einen um monetäre Aufwendungen, wie z. B. finanzielle Investitionen für die Nachhilfe und zum anderen um das Erzielen eigener Einkünfte zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund eines längeren Bildungswegs. Für die Entscheidung für einen bestimmten Bildungsweg sind laut Boudon zudem soziale Kosten von Bedeutung, wie z. B. der Verlust von Freunden, die wahrscheinlich mehrheitlich eine andere Schulform besuchen oder Entfremdungsprozesse gegenüber der Herkunftsfamilie (vgl. Boudon in Brake/Büchner 2011, S. 99).
Setzen Sie sich bitte mit folgenden Fragen auseinander: –– Inwiefern ist ein 12-jähriges Mädchen, deren Großeltern aus Griechenland nach Deutschland ausgewandert sind und ein griechisches Restaurant als Familienunternehmen betreiben, schon deswegen benachteiligt, 46
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weil sie zur Hauptschule geht, schlechte Noten hat und am Nachmittag aushilft? –– Unter welchen Bedingungen wird ein Bildungsunterschied zu einer Bildungsungleichheit?
Im Ansatz der soziokulturellen Reproduktion von Ungleichheiten nach Bourdieu (1982) werden die Wechselwirkungen zwischen den Personenmerkmalen und dem Angebot bzw. der Nutzung schulischer Ressourcen in den Blick genommen. Die Normalitätserwartungen der Schule entsprechen in der Regel denen der im weitesten Sinne christlich sozialisierten deutschsprachigen Kinder aus den Mittelschichtmilieus. Die Institution Schule setzt voraus, dass SchülerInnen bestimmtes inkorporiertes kulturelles und soziales Kapital (Bourdieu 2009) aus ihrer familiären Sozialisation mitbringen, z. B. differenziertes sprachliches Ausdrucksvermögen, Sozialverhalten, Sicherheit des Auftretens, Geschmackssicherheit, Kunstverständnis, Zugang zu Musik etc. (vgl. Brake/Büchner 2011, S. 108). Kinder haben jedoch unterschiedliche Startbedingungen. Wenn ihnen aufgrund von familiären Vorbildern die Schul- und Bildungskultur beigebracht worden ist, können sie diese Kenntnisse oder familiäre Unterstützung als Vorteil nutzen, indem sie hemmungsfreier Bildungs- und Kulturangebote wahrnehmen können. Seit den 1990er-Jahren wird der Fokus bei der Erklärung der Bildungsbenachteiligung zunehmend auf die institutionellen Strukturen und Arbeitsweisen gelegt. Es seien die »Schieflagen« im deutschen Bildungssystem (vgl. Auernheimer 2013; Krüger/Rabe-Kleberg/Budde 2011), die Entwertung des Bildungskapitals durch Migration (vgl. Sixt/Fuchs 2009) etc., die zu unterschiedlichen Bildungschancen für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund bzw. für MigrantInnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern führen. Vor allem die eingeschränkten Möglichkeiten des Schulsystems, Unterschiede in den familiären Ausgangslagen kompensieren zu können, werden zunehmend hervorgehoben. In diesem Zusammenhang wird zwischen der direkten und indirekten institutionellen Diskriminierung unterschieden. Unter der direkten Diskriminierung werden »regelmäßige, intentionale Handlungen und Organisationen« (Gomolla 2013, S. 90) verstanden. Als Beispiel dafür gelten gesetzliche Regelungen, Richtlinien und Satzungen wie z. B. das Vorhandensein von Integrationsklassen für SchülerInnen mit Migrationshintergrund – vorrangig an den Gesamtschulen oder an Hauptschulen. Die indirekte institutionelle Diskriminierung bezieht sich hingegen auf »die gesamte Bandbreite institutioneller Vorkehrungen, die (ob absichtUngleichheiten und Zuschreibungen der Gesellschaft
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lich oder unbeabsichtigt) Angehörige bestimmter Gruppen, wie ethnische Minderheiten, überproportional negativ treffen« (Gomolla 2013, S. 90). Hierbei handelt es sich um die Anwendung einheitlicher Regeln, die bei unterschiedlichen sozialen Gruppen grundsätzlich ungleiche Chancen hervorrufen. Beispiele der indirekten institutionellen Diskriminierung sind u. a.: –– Das selektive Beratungs- und Empfehlungsverhalten von Lehrkräften: Wenn trotz guter Noten, oft aus Sorge vor einer vermeintlichen Überforderung des Kindes, nach der Grundschule häufig der Besuch einer Gesamt-, Real- oder Hauptschule empfohlen wird. –– Die Deutung von Lehkräften der mangelnden Kenntnisse der deutschen Sprache als Lernbeeinträchtigung bzw. als allgemeines kognitives Defizit: Damit geht oft eine Empfehlung für eine Sonderschule einher, was eine der Erklärungen für den überproportional hohen Anteil von SchülerInnen ausländischer Staatsangehörigkeit an den Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen darstellt (vgl. Kornmann 2013, S. 71). –– Die Aufteilung von Kindern nach der 4. Klasse in die unterschiedlichen, oft auch räumlich voneinander getrennten Schulformen der Sekundarstufe I (vgl. Hormel/Scherr 2004). –– Die sozialräumliche Platzierung von Schulen: Die Zusammensetzung der Schülerschaft in unterschiedlichen Schultypen und Quartieren, die als Folge der »Konzentration oder sogar Segregation bestimmter Bevölkerungsgruppen in bestimmten Stadtvierteln« (Heckmann 2015, S. 134) angesehen werden kann, beeinflusst die Schulleistung. Während sich das Leistungsniveau zwischen SchülerInnen mit unterschiedlicher sozialer Herkunft innerhalb einer Klasse angleichen kann, vergrößern sich meistens die Leistungsunterschiede zwischen unterschiedlichen Schulklassen bzw. Schulen.
Lesen Sie bitte die Interviewpassage15 durch und beantworten Sie folgende Fragen: –– Welche Aspekte von Bildungsungleichheit werden thematisiert? –– Welche unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe/-verfahren bzgl. der schulischen Leistung werden von wem angewendet? –– Was sind die Bewältigungsmuster von Erzählenden?
15 Die Transkriptionsregeln entnehmen Sie bitte dem Anhang.
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A., 27, Auswanderung aus Russland mit 13 Jahren »Wir sind mit meiner Tante, also wir kamen relativ spät erst in die kleine Stadt W. Und also das war irgendwie Mitte Oktober das Schuljahr hatte schon längst im August angefangen. Deswegen waren wir mitten in das Halbjahr reingeplatzt und so sind wir von Schule zu Schule gegangen, vom Gymnasium zur Realschule. Und die wollten keine Neuankömmlinge mehr in diesem Jahr aufnehmen. Und also blieb dann nix anderes übrig als zur Hauptschule zu gehen […] Weil da haben, da haben gerade die Herbstferien hinter sich gehabt und mitten in Schuljahr reinzuplatzen, haben sich geweigert. Ich war in Russland ein sehr sehr guter Schüler. Ich hab immer ne Woche früher als die Ferien begonnen hatten, hab ich schon Ferien gehabt, weil für die Schüler mit guten Leistungen, die durften früher in die Ferien. Das war üblich. Mein Klassenlehrer guckte mich an und sagte: ›Du willst Abitur machen?‹ Das hat mich sehr entmutigt, wenn man 16 ist, ist es nicht empfehlenswert, jemanden so was zu sagen. Ich weiß, meine Noten waren nicht die allerbesten, aber ich hatte halt den größten Ehrgeiz der Welt, noch halt die 10 B zu besuchen, habe ich gemacht und ich war nicht die Schlechteste vom Jahrgang. Und ich bin nach einer Woche, ich war regelrecht krank vor Sorge. Weil in Russland hat man uns beigebracht, dass Lehrer Autoritätspersonen sind und dass sie Pädagogen sind, die eigentlich wissen, was die sagen. Weil ich hatte halt bis jetzt immer gute Erfahrungen mit Lehrern gehabt. Also unsere Klassenlehrerin in Russland hat mich sehr, also hat uns alle gut geleitet und unterstützt. Wir haben anderen, die ein bisschen schwächer waren, geholfen und das hat sich alles gut zusammengefügt. Und jetzt sagt einem auf einmal ein erwachsener Mensch mitten ins Gesicht und sagt: ›Du willst Abitur machen?‹ Das war wirklich wie ein Schlag ins Gesicht mit ausgeholter Hand. Also ich hab eine Woche lang hin und her überlegt […] und natürlich Abitur gemacht. […] Und natürlich war ich den ersten Tag, habe das halt meinen Eltern erzählt. […] Weil ich mich richtig dumm gefühlt habe. Und natürlich sind meine Noten schlechter geworden im Vergleich zu Russland. Da war ich ein Einserkandidat und jetzt zwei bis drei. Man kann nicht alles können. Ehm aber die haben mir eingeredet, du bist nicht dumm. Und da habe ich gesagt: ›Ja!‹ Aber der hat schon viele Schüler in seinem Leben gesehen, der muss doch wissen wovon er spricht. Und da haben sie gesagt: ›Ja, überleg, was du machen willst, und entscheide dann, was du dann machst.‹ Und da habe ich überlegt, ich habe meine Noten angeguckt. Ich wusste, dass die nicht die schönsten und die besten waren. Und habe gedacht, die Entwicklung, die ich gemacht habe, hat keiner von meinen Klassenkameraden bis Ungleichheiten und Zuschreibungen der Gesellschaft
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auf die, die auch aus Russland kommen. Und in den zwei Jahren, die ich da, also einfach reingeschmissen in die 7. Klasse, mal eben Englisch gelernt, mal eben Deutsch gelernt. Das haben sie alles nicht und die haben die gleiche Note. Also wenn ich das eine geschafft habe, habe ich mir gedacht, dann schaffe ich das andere auch.« (Koval 2012, S. 149)
3.4.2 Erwerbstätigkeit
Analysieren Sie bitte selbstständig die Daten aus dem aktuellen Bericht des Statistischen Bundesamtes hinsichtlich folgender Zusammenhänge: Bevölkerung nach Migrationsstatus und (a) überwiegender Lebensunterhalt, (b) Erwerbstätige nach Migrationsstatus und Wirtschaftsbereich, (c) nach Stellung im Beruf, (d) Einkommen: Welche Phänomene/Tendenzen werden sichtbar? Was sind mögliche Erklärungen? https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.html
Die Tatsache, dass Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich hoch von Erwerbslosigkeit betroffen sind, sich in einem verengten Spektrum von schlecht entlohnten und wenig angesehenen Berufsfeldern oft mit prekären Arbeitsbedingungen konzentrieren, ist inzwischen vielfach belegt (vgl. Heckmann 2015; Hunkler 2010; Granato 2003; Liebig/Widmaier 2009; Quenzel/Hurrelmann 2010; Reiners 2010). Die Art einer Beschäftigung wird darüber hinaus als ein Indikator für die strukturelle und soziale Integration von MigrantInnen angesehen (Heckmann 2015, S. 95) und fungiert als eines der Bewertungskriterien bei der behördlichen Entscheidung bzgl. der Verlängerung von Aufenthaltstiteln oder bei der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit. Für die Erklärung der benachteiligten Stellung der Erwerbspersonen mit Migrationshintergrund stellt Heckmann (2015) einige Thesen auf. Die erste These stellt die Anwerbung von sogenannten »GastarbeiterInnen mit geringem Qualifikationsniveau« für die Beschäftigung in den von der in Deutschland lebenden Bevölkerung nicht favorisierten Sektoren (→ Kap. 4.1) in den 50
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Fokus. Dabei wird die Reproduktion der benachteiligten Stellung durch eine geringe Veränderung der Beschäftigungsart der nachfolgenden Generationen angenommen. Eine weitere These besagt, dass immer weniger Arbeitsplätze im Produktionsbereich als Folge des Strukturwandels von einer Industriegesellschaft hin zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft vorhanden sind. Damit einher geht die Steigerung der Qualifikationsanforderungen in vielen Berufen als eine Erklärung für die hohe Arbeitslosigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund. Eine weitere aus der Segmentationstheorie stammende These besagt, dass »Flexibilitätsprobleme des betrieblichen Personaleinsatzes in Folge konjunktureller Schwankungen« (Heckmann 2015, S. 104) dadurch gelöst werden, dass bestimmte Personengruppen, u. a. Menschen mit Migrationshintergrund, vorrangig im sekundären Segment beschäftigt sind. Schließlich wird die Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt durch Diskriminierungen erklärt, worauf im Weiteren näher eingegangen wird. Studien mit unterschiedlichen Untersuchungsdesigns belegen, dass nicht ausschließlich das Qualifikationsniveau für die benachteiligte Stellung der Erwerbspersonen mit Migrationshintergrund ausschlaggebend ist, sondern vorrangig die ethnische Zugehörigkeit bzw. der Migrationshintergrund. Einige Untersuchungen greifen auf bereits bestehende repräsentative Erhebungen zurück (z. B. Mikrozensus oder SOEP [Sozio-ökonomisches Panel]), um die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt zu untersuchen. Komplexe statistische Analysen von umfassenden Bevölkerungsdaten ermöglichen, den Einfluss der Kategorie »Migrationshintergrund« von anderen Kategorien, die zur benachteiligenden Stellung auf dem Arbeitsmarkt führen können, zu separieren, so z. B. Alter, Geschlecht oder Qualifikation. Die Analyse von Liebig/Widmaier (2009) zeigt, dass die Beschäftigungschancen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund bei einer gleichwertigen Qualifikation und gleichem Bildungsniveau deutlich geringer sind als von jungen Menschen ohne Migrationshintergrund. Laut einer repräsentativen Befragung16 im Auftrag der Bertelsmann Stiftung (2009) gaben 51 % der Befragten mit Migrationshintergrund an, dass sie nicht den Eindruck haben, dass alle, unabhängig von ihrer Herkunft, etwa die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder im Berufsleben haben; 23 % der Befragten stimmten der Aussage zu, den Eindruck zu haben, persönlich 16 Der quantitativen Befragung liegen 1.581 Interviews mit Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei, der ehemaligen Sowjetunion, dem ehemaligen Jugoslawien, Polen, Italien, Spanien und Griechenland ab 16 Jahren zugrunde. Ungleichheiten und Zuschreibungen der Gesellschaft
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benachteiligt worden zu sein (Bertelsmann Stiftung 2009, S. 69). Laut der Studie des Forschungsbereichs beim Sachverständigenrat (SVR) deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2012) gaben vor allem jüngere Personen mit Migrationshintergrund an, in allen angefragten Bereichen u. a. auf dem Arbeitsmarkt eine signifikant höhere Diskriminierung erlebt zu haben als Menschen ohne Migrationshintergrund (vgl. SVR 2012, S. 22). Insgesamt belegen die Studien, dass das Phänomen Diskriminierung im Beschäftigungsbereich verbreitet ist, was jedoch nicht im Fokus politisch- öffentlicher Diskurse steht. Peucker (2010) sieht »das nahezu vollständige Nicht-Thematisieren von ethnischer Diskriminierung als eine zusätzliche Erklärung der Arbeitsmarktdisparitäten« (Peucker 2010, S. 38). In einer Untersuchung des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen wurde die Qualifikationsstruktur von Arbeitslosengeld-II-Beziehern (ALG) mit Migrationshintergrund untersucht. Ein Ergebnis lautet, dass 28,8 % der Menschen, die ALG II beziehen, über einen in Deutschland nicht anerkannten Berufsabschluss verfügen (vgl. Brussig/ Dittmar/Knuth 2009, S. 7). Somit wird der Fokus der kritischen Betrachtung auf die hohe Zahl an ungenutztem Potenzial der in Deutschland nicht anerkannten Qualifikationen gelegt und nicht auf das Ausbildungsniveau der als Arbeit suchend gemeldeten Menschen mit Migrationshintergrund.
Betrachten Sie bitte Abb. 2 und setzen sich mit folgenden Fragen auseinander: –– Wie könnte eine passendere Überschrift lauten? –– Welche inhaltliche Aussage wird getroffen? Welche Inhalte vermittelt Abb. 3? Wie lautet die Erklärung bzgl. der überproportional hohen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund laut dieser Darstellung? Welche anderen Begründungen gibt es? Lesen Sie bitte die Interviewpassage17 durch. –– Wie kann das Bewältigungsmuster der Erzählerin in Bezug auf Arbeitslosigkeit charakterisiert werden? –– Wie können Sie die Ursachen für die Arbeitslosigkeit erklären? 17 Die Transkriptionsregeln entnehmen Sie bitte dem Anhang.
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Abb. 2: Von fast drei Viertel der Arbeitslosen ist der Migrationsstatus bekannt (nach Bundesagentur für Arbeit (BA) 2014, S. 2)
Abb. 3: Mehr als zwei Drittel der Arbeitslosen mit Migrationshintergrund sind ohne formalen Berufsabschluss (nach Bundesagentur für Arbeit (BA) 2014, S. 8)
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M., 37, Auswanderung aus Russland mit 30 Jahren »Sie haben hier ein dämliches System mit diesen ganzen Kursen. Man versteht nicht, warum und wieso. Bei uns in der Sowjetunion gab es so was nicht. Du hast eine Ausbildung gemacht und das war’s. Das restliche Leben arbeitest du. […] Und dann genau so mit den Kursen … jeder war auf der Suche. Wie hießen denn meine Kurse … Buchhalter … Kaufmanager.. Kauffrau oder Kaufmanager oder irgend so was. Nu haben wir dort wie viel, acht Monate gesessen und gelernt. Dort war noch eine Frau aus dem Heim. Sie war etwas älter als ich, sie hat ihr ganzes Leben als Buchhalterin gearbeitet. […] Darum als ich überhaupt nicht verstanden habe, sagte ich ihr: ›Erkläre mir‹. Weil ich in der Buchhaltung, ich eine Null bin, ich habe nie als Buchhalterin gearbeitet. Es war der Kurs für Buchhaltung, das war halt das, ich weiß es halt nicht, Kurse für Buchhaltung oder nicht für Buchhaltung. So.. darum also … ich hatte immer eine Pause zwischen den Kursen, ich war dann zwei/drei Monate zu Hause. Und dann gibt es hier in der Nähe des Bahnhofs eine technische Akademie. […] Es waren die Kurse fürs Programmieren … so.. dann habe ich auch sechs Monate in dieser Akademie gelernt. […] Und mein Kurs war auch gerade halt zu Ende. Ich wollte halt einen anderen Kurs machen. Da ich im Kurs vom Eurofonds war, durfte ich keinen anderen Kurs besuchen. Und ich wollte irgendwas vom Arbeitsamt haben, nu irgendwas, wo man Geld kriegt, damit man die Rentenbeiträge zahlen kann. Alle unsere Leute haben angefangen, eine Umschulung für Krankenpfleger zu machen. Ich dachte: ›Warum nicht? Vielleicht klappt es auch bei mir.‹ Also bin ich halt in ein … in eine Einrichtung gefahren, in der sie Unterricht geben. Sie sagten: ›Du hast so eine wunderscherschöne, nu so eine wunderschöne … ein Diplom.‹ Nu du schreibst doch im Lebenslauf, was du abgeschlossen hast, welches Diplom du hast. Sie sagten: ›Du hast so einen wunderschönen Beruf, warum willst du gerade das machen?‹ Sie sagten: ›Wir bieten eine Umschulung nur für diejenigen an, die genau das in Russland gemacht haben.‹ Also, wir haben so darüber gesprochen. Nu sie sagten nein und gaben mir zu verstehen, dass es viele Leute mit einer medizinischen Ausbildung gebe, die diese Umschulung machen wollen, darum hätte ich keine Chancen, also. Nu, ich war halt verärgert … und dachte: ›Was soll ich denn machen?‹« (Koval 2012, S. 104)
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Perspektive der professionell Handelnden – Konzepte und methodische Ansätze in der Sozialen Arbeit
Was bedeuten »Assimilation«, »Integration« und »Inklusion« im Kontext von Migration? Bitte schreiben Sie jeweils vier Begriffe auf (also insgesamt zwölf). Reflektieren Sie bitte, wie eindeutig/einfach die Zuordnung der Begriffe war.
Migrationsbezogene Ansätze in der Sozialen Arbeit werden in der Regel mit dem Begriff »Integration« assoziiert. Integration ist jedoch ein gesellschaftlich, politisch, rechtlich und nicht zuletzt medial umkämpfter Bereich, in dem unterschiedliche Begriffe und theoretische Modelle verwendet werden. Im Verlauf der letzten sechzig Jahre gab es eine bedeutsame Verschiebung im Verständnis von »Integration«: Anfangs wurde mit dem Konzept der »Assimilation« im Sinne einer Anpassungserwartung auf Seiten der Eingewanderten gearbeitet. Später veränderte sich diese einseitige Erwartungshaltung hin zur »Integration« im Sinne von Veränderungserwartung auf beiden Seiten. Heutzutage wird das Konzept der »Inklusion« als Verzicht auf jegliche Etikettierungsprozesse in der Aufnahmegesellschaft zunehmend auch im Bereich der migrationsbezogenen Sozialen Arbeit umgesetzt (vgl. Offenberg, 2014). Der Integrationsbegriff enthält in einigen aktuellen politisch-öffentlichen Debatten, wie z. B. in den Demonstrationen von sich selbst als »mündige BürgerInnen« bezeichnenden Gruppen, eine assimilatorische Konnotation, indem die Verantwortung der Aufnahmegesellschaft weitgehend verneint wird und die vermeintlichen Fremden hinsichtlich der Integrationsfähigkeit und -willigkeit beurteilt werden. In anderen öffentlich-politischen Diskursen wird dagegen der Begriff »Inklusion« nicht selten synonym mit dem Begriff »Integration« oder als dessen Paraphrase verwendet (vgl. Köttig 2017, S. 32; Kunz/Blum/Köttig 2017, S. 14). 55
Einleitend wird angemerkt, dass die Soziale Arbeit als Disziplin aus zwei Bereichen gespeist wird – Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Sozialarbeit verstand sich lange Zeit als Ersatz für verschwindende familiäre und verwandtschaftliche Sicherheitsleistungen und bezog sich auf das System der sozialen Sicherung für Erwachsene. Die Leitwissenschaften für Sozialarbeit waren Soziologie, Rechtswissenschaft und Psychologie. Sozialpädagogik sollte die zurückgehenden familiären und verwandtschaftlichen Erziehungsleistungen für Kinder und Jugendliche kompensieren. Die Leitwissenschaften für Sozialpädagogik waren jahrzehntelang Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Die beiden Bereiche Sozialarbeit und Sozialpädagogik sind heute weitgehend zu einem Gesamtbereich »Soziale Arbeit« zusammengewachsen und haben u. a. die theoretischen Hintergründe und praktischen Ansätze der ausländer- und später migrationsbezogenen Sozialarbeit und Pädagogik »geerbt«. In diesem Kapitel werden unterschiedliche Ansätze in der zeitlich- historischen Perspektive vorgestellt. Zur Veranschaulichung wird die Geschichte der »MigrantInnen der ersten Generation« herangezogen, welche als sogenannte ausländische Arbeitskräfte in den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen und die anhaltende Integrationsdebatte auslösten.
4.1 Ausländerarbeit und -pädagogik in der Zeit von GastarbeiterInnen
Begriffe: 1. Was verbinden Sie mit dem Begriff »Gastarbeiter?« 2. Wie wirken die Begriffe »ausländische Arbeitskraft« und »ausländische Arbeitnehmer« auf Sie? 3. Was sagen diese Begriffe über die gesellschaftliche Auffassung von Migration und Integration?
Vom »Gastarbeiter« zum Migranten der ersten Generation Heute werden Menschen, die in den 1960er- bis 1970er-Jahren in die Bundesrepublik Deutschland kamen, um das Land als Arbeitskraft zu unterstützen, als »MigrantInnen der ersten Generation« bezeichnet. Zu der damaligen Zeit 56
Perspektive der professionell Handelnden
wurden sie als »Gastarbeiter« tituliert. Sie sollten sich, wie die Bezeichnung sagt, eigentlich nur vorrübergehend als »arbeitender Gast« in Deutschland aufhalten. Eine zweite und dritte Generation von MigrantInnen, d. h. Kinder und Enkel, die in Deutschland geboren oder aus Herkunftsländern nachgeholt wurden, war nicht vorgesehen (vgl. Treibel 2011, S. 129). Der Anfang der sogenannten »Gastarbeitermigrationsbewegung« geht auf das Jahr 1955 zurück, als Deutschland und Italien ein Abkommen über den Einsatz italienischer Arbeitskräfte für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt schlossen. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, in der ein großer Arbeitskräftemangel herrschte. Nachdem der Zustrom von Menschen aus den östlichen Gebieten Deutschlands stoppte, als die Mauer 1961 errichtet wurde, wurde eine Reihe weiterer Abkommen geschlossen – mit Spanien, Griechenland, Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien, Jugoslawien (vgl. Schulte/Treichler 2010, S. 20). Gefragt waren Arbeitskräfte in denjenigen Bereichen, in denen Arbeits- und Einkommensbedingungen unattraktiv waren und die von den in Deutschland lebenden ArbeitnehmerInnen nicht favorisiert wurden – in der Landwirtschaft, im Bergbau und in der Eisen- und Metallindustrie. Dort wurden in erster Linie Arbeiter für körperlich-gesundheitlich belastende Tätigkeiten benötigt, die außerdem mit wenig sozialem Prestige verbunden und in beruflichen Hierarchien ganz unten angesiedelt waren. Jedoch waren die Verdienstmöglichkeiten in Deutschland gegenüber denen in den Herkunftsländern weit über dem Durchschnitt (vgl. Schulte/Treichler 2010, S. 31). Die Rekrutierung von ausländischen Arbeitern erfolgte nach einem Rotationsprinzip. Sie wurde als eine zeitlich begrenzte Unternehmung für ein Jahr konzipiert – sowohl seitens Deutschlands, des jeweiligen Herkunftslandes als auch von den Menschen selbst. Alle gingen davon aus, dass die eingeladenen Arbeiter mit den Ersparnissen den Lebensstandard im Herkunftsland erhöhen wollten und bald zurückkehrten (→ Kap. 6.2.4). Aufgrund der aufwendigen Einarbeitungszeit erschien das Rotationsprinzip den Arbeitgebern in Deutschland aber schnell als zu unwirtschaftlich, weswegen die Möglichkeit geschaffen wurde, die Beschäftigung über ein Jahr hinaus auszudehnen (vgl. Schulte/Treichler 2010, S. 21). In den 1960er-Jahren wohnten zwei Drittel der eingeworbenen Gastarbeiter in den von Unternehmen oder städtischen Behörden zur Verfügung gestellten Gemeinschaftsunterkünften, die räumlich von den übrigen Wohngegenden getrennt lagen. Die Kosten für die Unterkunft wurden in der Regel vom Lohn abgezogen (vgl. Herbert 1986, S. 202 f.). Da es sich um einen vorrübergehenden Aufenthalt handelte, passten sich die eingeladenen Arbeiter Ausländerarbeit und -pädagogik in der Zeit von GastarbeiterInnen
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an die Aufnahmegesellschaft nur soweit an, wie es für den Arbeitsalltag notwendig war – es ging vorrangig um funktionale Anpassungen im Bereich der Beschäftigung. Sie definierten sich über das Herkunftsland sowie ihre in der Regel noch dort lokalisierten familiären Orientierungen und unterstützten ihre Familien finanziell. Kurz (1967) arbeitete in ihrer empirisch angelegten Studie über Gastarbeiter aus Süditalien in München heraus, dass unter den Männern eine ungeschriebene Verhaltensnorm herrschte, mit der die Lebensunterhaltskosten auf ein Existenzminimum gesenkt werden sollten. Diejenigen, die mehr als 300 DM im Monat für sich selbst beanspruchten, wurden beispielsweise als »Verschwender und familienvergessene Verbrecher« von ihren Kollegen beschimpft (vgl. Kurz 1967, S. 133). Ausländerarbeit Das Ziel der sogenannten »Ausländerarbeit« in den 1960er- bis 1970er-Jahren war die soziale Integration für die Zeit des Aufenthalts zum Zweck der Beschäftigung (vgl. Schulte/Treichler 2010, S. 148). Für diese Tätigkeit wurden MuttersprachlerInnen mit einem akademischen Abschluss bevorzugt. Dies wurde mit der Annahme begründet, dass Menschen aus demselben Herkunftsland eine Ausländerberatung besser durchführen können. Einzelne Wohlfahrtsverbände waren für ausgewählte Herkunftsländer zuständig und boten Sozialberatung in Fragen von Beschäftigung und Beruf, Sozialversicherung, Wohnungssuche, Rückkehr, Familien- und Finanzfragen, Aufenthalt und bei anderen rechtlichen Fragen an (vgl. Tiedt 1985, S. 65). Die Zahlen der sogenannten »GastarbeiterInnen« stiegen rapide an – von einer Million im Jahr 1968 auf 2,6 Millionen in 1973 (vgl. Herbert 1986, S. 212). Die größten Personenkreise stellten Menschen türkischer und jugoslawischer Herkunft dar. Infolge der steigenden Arbeitslosigkeit und der Ölkrise verhängte die Bundesregierung jedoch bereits im Jahr 1973 einen Anwerbestopp. Im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre gab es einen weiteren Rückgang der Zuwanderungen durch strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft und Sozialpolitik. Der Umbau der Wirtschaft bedingte eine Welle von Entlassungen vor allem bei gering qualifizierten Arbeitern, zu denen die als Gastarbeiter bezeichneten Arbeitnehmer gehörten. Parallel dazu führte die Bundesregierung das sogenannte Inländerprimat ein, das besagt, dass bei der Besetzung einer Arbeitsstelle Erwerbspersonen mit deutscher Nationalität zu bevorzugen sind (vgl. Schulte/Treichler 2010, S. 22). Der Anwerbestopp hatte Auswirkungen in zwei Richtungen: Zum einen ging die Anzahl der sogenannten »ausländischen Gastarbeiter« von 2,59 Mil58
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lionen (1973) auf 1,86 Millionen (1978) zurück. Unter den Rückkehrern befanden sich überproportional viele Migranten aus Spanien, Portugal, Italien und Griechenland (vgl. Heckmann 1981, S. 151). Zum anderen bewirkte der Anwerbestopp eine längere Verweildauer bereits eingereister Arbeiter und ihrer Familien. Sie verzichteten auf die vorgesehene Ausreise wegen der geringen Aussichten auf eine erneute Einreise. Vielmehr gingen die Arbeiter dazu über, sich in Deutschland auf einen längerfristigen Aufenthalt einzurichten und ihre Familienangehörigen aus ihren Herkunftsländern nachzuholen. Durch das im selben Jahr geänderte Kindergeldgesetz, wonach nur für in Deutschland lebende Kinder gezahlt wird, wurde der Nachzug der Familienangehörigen weiter forciert. Die Maßnahmen der Bundesregierung führten politisch unbeabsichtigt zu einem weiteren Anstieg des ausländischen Bevölkerungsanteils, zu dem überwiegend MigrantInnen aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien zählten (vgl. Schulte/Treichler 2010, S. 22 f.).
Bevor Sie weiterlesen, beantworten Sie bitte folgende Fragen: –– Die ersten Gastarbeiter kamen bereits 1955, die meisten in den 1960er-/1970er-Jahren. Die Einleitung der Maßnahmen zur Eingliederung geschieht erst ca. ab den 1980er-Jahren. Was fällt Ihnen auf? –– Stellen sie sich eine Familie vor, die bereits seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt und ihren eigenen Weg in dieser Gesellschaft gefunden hat. Jetzt kommen SozialarbeiterInnen und werben für Integrationskurse oder Ähnliches. Wie könnten die Menschen reagieren?
Auf der politischen Ebene wurde versucht, die Prozesse der Einwanderung und der Eingliederung durch unterschiedliche Instrumente und Methoden wie Gesetze, Förderprogramme und Projekte zu steuern und zu regulieren. 1979 wird beispielsweise das »Kühn-Memorandum« zur »Integration ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien« bekannt. Die Maßnahmen sollten dazu dienen, die Eingliederung von sogenannten »ausländischen ArbeitnehmerInnen« zu fördern. Die Angebote zur Integration und Eingliederung wurden jedoch seitens der zugewanderten ArbeitnehmerInnen kaum wahrgenommen. Der zeitliche Abstand zwischen Einwanderung und Maßnahmen war nur einer der Gründe (vgl. Kühn 2013, S. 244). Da die Integrationsmaßnahmen wenig WirAusländerarbeit und -pädagogik in der Zeit von GastarbeiterInnen
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kung zeigten, erließ die Bundesregierung ein paar Jahre später, im Jahr 1983, ein Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft ausländischer Arbeitnehmer. Durch die finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der Rückreise in die Heimatländer wurde versucht, die Anzahl der als Gastarbeiter eingeladenen Menschen zu reduzieren. Sowohl das Kühn-Memorandum als auch das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft ausländischer Arbeitnehmer legt die Vermutung nahe, dass es zwischen der in Deutschland lebenden Bevölkerung und den Zugewanderten Spannungen gab, deren Verursachung in erster Linie bei den Eingewanderten gesehen wurde. Zur Reduzierung der Spannungen sollten sich die Einwanderer entweder an die in Deutschland lebende Bevölkerung anpassen und unauffälliger werden oder in ihre Heimatländer oder die ihrer Eltern zurückkehren (vgl. Treibel 2011, S. 136).
Welche Themen werden aktuell in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert? Welche MigrantInnengruppen stehen im Fokus der politisch-öffentlichen Diskussion? Dominieren dabei eher positive oder negative Inhalte?
Assimilations- bzw. Ausländerpädagogik Da die Anzahl der Kinder aus »Gastarbeiterfamilien« in der Anfangszeit noch sehr gering war, fand diese Zielgruppe keine Beachtung in der (Sozial-) Pädagogik (vgl. Auernheimer 2012, S. 39). Im Jahr 1964 wurden Recht und Pflicht zum Schulbesuch auf diese Kinder ausgedehnt (vgl. Nohl 2014, S. 23 ff.). Diese Bildungsmaßnahmen basierten auf verschiedenen Zielen. Zum einen sollten die Kinder der ersten Gastarbeitergeneration schulisch integriert werden, indem sie in Vorbereitungsklassen eingeschult wurden. In den Stadtteilen, in denen die Zahl der ausländischen Kinder und Jugendlichen höher als 20 % war, wurden National- und Ausländerklassen gegründet, da der hohe Anteil an ausländischen Kindern in dem damaligen Schulsystem als schädlich angesehen wurde. Ein weiteres Ziel der schulischen Maßnahmen war der Erhalt der Rückkehrfähigkeit durch muttersprachlichen Unterricht. Anzumerken ist, dass es sich hierbei für viele Kinder um eine zweite Fremdsprache handelte, wie z. B. Deutsch und Türkisch für Kinder kurdischer Abstammung aus der Türkei. 60
Perspektive der professionell Handelnden
Insgesamt zeichnete sich der bildungspolitische und wissenschaftliche Diskurs durch eine defizitäre Ausrichtung aus. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden viele Studien veröffentlicht, die die mangelnde Integrationsfähigkeit und -bereitschaft von zugewanderten Familien in den Fokus stellten. Die Aufmerksamkeit richtete sich nicht nur auf mangelnde Sprachkenntnisse, sondern auch auf den restringierten, d. h. im Vergleich zur Mittelschicht ohne Migrationshintergrund, als beschränkt wahrgenommenen Sprachcode. Außerdem wurden die als defizitär bewerteten Orientierungs- und Verhaltensmuster sowie Erziehungsstile in Migrantenfamilien als Zielscheibe der Veränderung durch (sozial-)pädagogische und schulische Maßnahmen angesehen (vgl. Nohl 2014, S. 26 ff.). »In diesen Prozessen bedeutet Assimilation die kulturelle Unterdrückung von ethnischen und nationalen Minderheiten und steht oft auch für gewaltsame Versuche, die Minderheiten in Konformität zur Mehrheit zu zwingen« (Heckmann 2015, S. 75).
Das Hauptziel der Assimilations- bzw. der Ausländerpädagogik war auf die Beseitigung der als Defizit angesehenen Befangenheit in der Herkunftskultur durch die Anpassung der Kinder aus Einwandererfamilien an die kulturellen Standards in der Mehrheitsgesellschaft ausgerichtet (vgl. Nohl 2014, S. 47). Sprachlich-kulturelle, ethische und religiöse Heterogenität wurde als ein zu beseitigender Störfaktor angesehen (vgl. Gogolin/Krüger-Potratz 2006, S. 70). Die einzelnen Menschen wurden (und werden es auch heute noch) nicht selten nach ihrer individuellen Integrationsbereitschaft und die verschiedenen Nationalitäten nach ihrer kulturellen Integrationsfähigkeit beurteilt.
4.2 Interkulturelle Sozialarbeit und Pädagogik
Was bedeutet es für Sie, »sich integriert zu fühlen«? Was sind die Dimensionen/Anhaltspunkte, die für Sie diesen Zustand beschreibbar machen?
Seit den 1990er-Jahren überwiegen im deutschsprachigen Raum Veröffentlichungen, in denen eventuelle Benachteiligungen von MigrantInnen nicht an die Wahrnehmung einer kulturellen Differenz geknüpft werden, sondern Interkulturelle Sozialarbeit und Pädagogik
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vorrangig durch Ausgrenzungsprozesse auf der Seite der Einwanderungsgesellschaft erklärt werden. Somit geraten die gesellschaftliche Ungleichheit stiftenden Faktoren in den Blick. Der Begriff »Integration« wird dem Begriff »Assimilation« (Anpassung) gegenübergestellt und die aktive Rolle der Aufnahmegesellschaft wird hervorgehoben (vgl. Kühn 2013, S. 236). Richtungweisend für die neue Integrationspolitik der Bundesregierung, der Bundesländer und der Kommunen war der Nationale Integrationsplan aus dem Jahr 2007. Integration wird darin als eine Aufgabe von nationaler Bedeutung angesehen und stellt einen Versuch dar, die Integrationsinitiativen des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Bürgergesellschaft erstmals auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) o. J.). Heckmann (2015) definiert »Integration« wie folgt: »Integration ist der Mitgliedschaftserwerb von Zuwanderern in den Institutionen, sozialen Beziehungen und sozialen Milieus der Aufnahmegesellschaft. Integration als Prozess der Mitgliedschaftswerdung und Angleichung der Lebensverhältnisse entwickelt sich schrittweise entlang der Dimensionen der strukturellen, kulturellen, sozialen und identifikativen Integration. Sie erfordert Integrationsleistungen der Migranten und bedarf der Offenheit und Förderung seitens der Aufnahmegesellschaft. […] Integration als Zustand und Ergebnis soll heißen, dass volle und gleichberechtigte gesellschaftliche Mitgliedschaft einer zugewanderten Gruppe in der Aufnahmegesellschaft besteht und sich die Lebensverhältnisse angeglichen haben. Ethnische Herkunft und Migrationshintergrund spielen für Ressourcenverteilung und die Strukturierung sozialer Beziehungen keine Rolle mehr.« (S. 82)
Auch wenn die Prozess-Integration als ein wechselseitiger Entwicklungsvorgang sowohl seitens der Menschen mit Migrationshintergrund als auch seitens der aufnehmenden Gesellschaft definiert wird, ist unter Integration die Eingliederung in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gemeint, z. B. durch den gleichberechtigten Erwerb von Mitgliedschaft an unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft wie Arbeitsmarkt, Bildung, soziale Sicherung, Recht, Politik, etc. sowie durch die Entwicklung eines Gefühls der Zugehörigkeit (vgl. auch Reinprecht/Weiss 2012, S. 23). Der Begriff der Zustand-Integration beinhaltet dagegen einen inklusiven Gedanken, worauf im → Kap. 4.3 näher eingegangen wird.
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Perspektive der professionell Handelnden
Interkulturelle Pädagogik/interkulturelle Soziale Arbeit Interkulturelle Pädagogik beinhaltet Ansätze, in denen Kulturen als different, unterschiedlich, jedoch gleichberechtigt angesehen werden. Interkulturelle Pädagogik richtet sich an alle Mitglieder der Gesellschaft und fördert das gegenseitige Kennenlernen und Zusammenleben (vgl. Nohl 2014, S. 47). Das kulturelle Angebundensein der Menschen wird hierbei als eine Ressource betrachtet. Es werden pädagogische Konzepte entwickelt, die die ethnischen Minderheiten als Teile der deutschen Gesellschaft ernst nehmen und in die Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse einbeziehen. Interkulturelle Erziehung und Bildung werden als Bestandteil von Allgemeinbildung aufgefasst, auch die Zweisprachigkeit wird als eine Ressource angesehen und gefördert (vgl. Nieke 2008, S. 19 f.). Die Umsetzung von Konzepten der interkulturellen Arbeit erfolgt durch die Organisation von interkulturellen Stadtteilfesten, Austauschprogrammen, interkulturellen Trainings für (vorwiegend) Fachkräfte ohne Migrationshintergrund. Mit der Abwendung von der Ausländerpädagogik und -arbeit hin zur interkulturellen Sozialen Arbeit und Pädagogik rückten die Herangehensweisen, Haltungen und Einstellungen von Fachkräften ins Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Auernheimer 2012, S. 45 f.). Interkulturelle Kompetenz wird zu einer Schlüsselkompetenz erklärt und deren Erwerb zu einer Querschnittsaufgabe in der Sozialen Arbeit. Laut Erl/Gymnich (2010) enthält interkulturelle Kompetenz drei Teilkompetenzen: 1. Die kognitive Kompetenz umfasst zum einen das Wissen über die Funktionsweisen von eigenen und fremden Kulturen, über kulturelle Unterschiede und deren Implikationen. Zum anderen geht mit der kognitiven Kompetenz die Fähigkeit zur Selbstreflexivität einher. 2. Die affektive Teilkompetenz schließt folgende Bestandteile ein: Interesse an und Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen; Empathie und Fähigkeit des Fremdverstehens sowie Ambiguitätstoleranz. 3. Die pragmatisch-kommunikative Teilkompetenz ist die Fähigkeit, geeignete kommunikative Mittel und wirkungsvolle Konfliktlösungsstrategien in den konkreten Interaktionssituationen einsetzen zu können. (vgl. Erl/Gymnich 2010, S. 11 ff.) Für die Herausbildung einer interkulturellen Kompetenz wurden zahlreiche Übungen, Rollenspiele und Simulationen entwickelt. Dabei wird oft mit den von Anthropologen entwickelten Kulturdimensionen gearbeitet. Es handelt Interkulturelle Sozialarbeit und Pädagogik
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sich hierbei um größtenteils unbewusste Grundannahmen und Glaubenssätze, teilweise aber auch um bewusste Werte und Normen, die bestimmen, wie gefühlt und gedacht wird und welches Verhalten erwünscht oder nicht erwünscht ist. Im Folgenden werden einige Kulturdimensionen zusammenfassend beschrieben. Beziehung zum Raum Die räumliche Entfernung von InteraktionspartnerInnen in einer bestimmten Situation ist ein Aspekt der nonverbalen Kommunikation, der von Edward T. Hall (1966) als »Proxemik« bezeichnet wird. Nähe und Distanz wird hergestellt, indem InteraktionspartnerInnen sich aufeinander zubewegen oder sich voneinander entfernen; was zumeist unbewusst geschieht, da das Maß intuitiv festgelegt wird. Die Voraussetzung dafür ist, dass die InteraktionspartnerInnen das gleiche Raumbedürfnis, -verständnis und -empfinden haben. Ist das Einhalten eines als richtig empfundenen Abstands nicht möglich, löst das bei den meisten Menschen deutliches Unbehagen aus und wirkt befremdlich: das Gefühl, bedrängt (zu nah) bzw. bei zu großem Abstand (zu distanziert) nicht erwünscht zu sein. So kann das unterschiedliche Raumverhalten der Aufdringlichkeit, der Herabsetzung oder der Missachtung des anderen zugeschrieben werden (vgl. Koval 2015, S. 46). Zeitverständnis Der Umgang mit Vereinbarungen und Terminen sowie der Wert der Pünktlichkeit können von einem unterschiedlichen Zeitverständnis abhängen. Ein lineares Zeitverständnis mit einem Anfang, einem relativ festgelegten Ablauf und einem Ende, in dem eine Aufgabe nach der anderen erledigt und Pünktlichkeit erwartet wird, wird als monochrones Zeitverständnis bezeichnet. Polychrones Zeitverständnis begreift die Zeit als Kreislauf. Die Zeit kann aus Sicht der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft gesehen werden. Verzögerungen und spontane Terminänderungen sind zulässig und sogar notwendig, wenn die Beziehungen zwischen den InteraktionspartnerInnen dies erlauben bzw. erfordern (vgl. Hall/Hall 1990, S. 13 ff.). Beziehung zur Machtdistanz Menschen, die in einem soziokulturellen Umfeld mit hoher Machtdistanz sozialisiert worden sind, erwarten von den Autoritäten klare Anweisungen 64
Perspektive der professionell Handelnden
sowie Kontrolle und werten dies als Zeichen von Anerkennung. Ihrerseits legen sie einen großen Wert auf Gehorsam und Respekt im Umgang mit ExpertInnen. Menschen, die in ihrer Sozialisation durch eine niedrige Machtdistanz geprägt sind, schätzen die persönliche Initiative und spontanes Handeln. Sie erwarten, in Entscheidungen eingebunden zu werden und betrachten ExpertInnen als ihresgleichen (vgl. Hofstede/Hofstede 2006, S. 58 ff.). In Bezug zu den Methoden der Sozialen Arbeit ist die Frage kritisch zu reflektieren, inwieweit Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen ressourcenorientierte partizipative Beratungsansätze vertraut sind, wie z. B. die motivierende, klientenzentrierte oder lösungsorientierte Gesprächsführung, bei der sich der Beratende vorrangig als Experte für den Prozess versteht. In Abhängigkeit zur Machtdistanz der Menschen in ihrer Sozialisation müssen daher jeweils passende Beratungsansätze gewählt werden. Auffassung von Normierung Ob Ordnungen, Regeln und Vorschriften dafür da sind, um sie zu befolgen oder sie zu umgehen, kann dadurch geklärt werden, welcher Wert eine höhere Akzeptanz besitzt – Regeln und Vorschriften oder Beziehungen. Im Fall einer universalistischen Prägung wird ein hoher Wert darauf gelegt, das gegebene Wort oder einen unterschriebenen Vertrag zu akzeptieren und zu realisieren. Für eine partikularistisch geprägte Person hat die Aufrechterhaltung einer Beziehung Vorrang vor der Befolgung einer Regel. Es wird geschätzt, wenn dafür Veränderungen und wenn nötig die Regelverletzung in Kauf genommen werden (vgl. Trompenaars/Hampden-Turner 2012, S. 39 ff.). Kommunikation Die Veröffentlichungsbereitschaft von Menschen, der Umgang mit Tabus und allgemein die Art und Weise, über eigene Lebensereignisse zu berichten, ist unterschiedlich. Wenn Informationen implizit ausgerichtet und kodiert werden, zwischen den Zeilen gelesen wird und der verbale Teil nur einen kleinen Teil der unmittelbaren Nachricht umfasst, spricht Hall (1990) von der High-context-Kommunikation. Low-context-Kommunikation dagegen trennt zwischen dem Beruflichen und Privaten, den persönlichen und sachlichen Aspekten einer Kommunikation. Es werden wenige kontextbezogene Informationen über persönliche Beziehungen benötigt, entscheidend ist, Interkulturelle Sozialarbeit und Pädagogik
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dass möglichst alle sachrelevanten Inhalte berücksichtigt werden (vgl. Hall/ Hall 1990, S. 13 ff.).
Wie lassen sich die verschiedenen Kulturdimensionen in der Sozialen Arbeit berücksichtigen? Schreiben Sie zu jeder Kulturdimension ein Beispiel auf.
Die vorgestellten Kulturdimensionen werden u. a. im Rahmen von »interkulturellen Trainings« oft eingesetzt, um Fachkräfte auf die Begegnung mit AdressatInnen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen vorzubereiten und die als befremdlich wirkenden Verhaltensweisen und die damit einhergehenden Konflikte in interkulturellen Interaktionen erklären zu können. Interkulturelle Öffnung Während es beim Konzept der interkulturellen Kompetenz um die Herausbildung einer selbstreflexiven Haltung gegenüber der eigenen Kultur auf der individuellen Ebene geht, zielt das Konzept der interkulturellen Öffnung auf eine strategische Ausrichtung einer Organisation als Querschnittsaufgabe. Das Konzept zur »Interkulturellen Öffnung« hat seit der Publikation von Wolfgang Hinz-Rommel Interkulturelle Kompetenz, ein neues Anforderungsprofil für Soziale Arbeit (1994) eine breite Resonanz gefunden. Der Ansatz der interkulturellen Öffnung hat das Ziel, einen gleichberechtigten Zugang zu den sogenannten Regeldiensten für Menschen mit Migrationshintergrund durch institutionelle Veränderungen zu schaffen. »Interkulturelle Öffnung kann zusammenfassend verstanden werden als ein bewusst gestalteter Prozess, der (selbst-)reflexive Lern- und Veränderungsprozesse von und zwischen unterschiedlichen Menschen, Lebensweisen und Organisationsformen ermöglicht, wodurch Zugangsbarrieren und Abgrenzungsmechanismen in den zu öffnenden Organisationen abgebaut und Anerkennung und Gleichheit ermöglicht werden« (Schröer 2011, S. 310).
Auf der institutionellen Ebene geht es zum einen um den Abbau von Zugangsbarrieren, z. B. durch Einsatz von fremdsprachigen Informationsbroschüren, Berücksichtigung von unterschiedlichen Essgewohnheiten von AdressatIn66
Perspektive der professionell Handelnden
nen. Zum anderen geht es um die Verankerung des Interkulturellen im Leitbild und in den Konzepten der jeweiligen Einrichtung. Die interkulturelle Personalentwicklung kann durch die Einstellung muttersprachlicher Fachkräfte sowie durch die Teilnahme von Mitarbeitenden an interkulturellen Fort- und Weiterbildungen erfolgen (vgl. Behrens 2011, S. 57 ff.; Eppenstein/ Kiesel 2008, S. 50 ff.). Die vorgestellten konzeptionellen Ansätze der interkulturellen Sozialen Arbeit und der (Sozial-)Pädagogik wurden (und werden immer noch) breit rezipiert und implementiert. Sie geraten jedoch zunehmend in die Kritik. »Diese gut gemeinte Berücksichtigung von Kultur ist eine Sackgasse. Sie ruft häufig erst die Diskriminierung hervor, die sie abzubauen anstrebt« (Schmilz 2011, S. 68). Die bevorzugte Einstellung von Fachkräften mit Migrationshintergrund, um die eigene Organisation interkulturell zu öffnen, könnte als eine (positive) Diskriminierung aufgefasst werden, weil die Menschen vorrangig durch ihre ethnische Zugehörigkeit und nicht durch ihre fachliche Qualifikation charakterisiert und qualifiziert werden. Auch AdressatInnen werden vorrangig durch die kulturellen Orientierungen ihres Herkunftslandes wahrgenommen, wodurch ethnische Unterschiede hergestellt und noch gefestigt werden können.
Die Migrationssoziologin Annette Treibel wirft folgende Frage auf: »Einen ›Migrationshintergrund‹ zu haben ist für viele Menschen so normal, dass sie nur ungern in dieser Richtung – ob nun als Migrantin, Ausländer oder Person mit Migrationshintergrund – etikettiert werden möchten. Die wissenschaftspolitisch und propädeutisch zentrale Frage ist die, ob man deshalb aufhören soll, danach zu fragen und gesonderte Studien zu ›Migrantinnen‹, ›Jugendlichen mit Migrationshintergrund‹ […] anzufertigen.« (Treibel 2010, S. 155) Was ist Ihre Meinung dazu? Wenn es einen Migrationshintergrund gibt, müsste es dann nicht auch einen Migrations- oder Integrations-vordergrund geben – und was könnte das sein? Inwiefern könnte der Wechsel zum Begriff »Migrationsgeschichte« besser sein? (vgl. → Kap. 1.2)
Interkulturelle Sozialarbeit und Pädagogik
67
4.3 Soziale Arbeit in der pluralen Gesellschaft Das Konzept der Inklusion wurde im Bereich der Pädagogik in Bezug auf Menschen mit Behinderung entwickelt. Der Begriff »Inklusion« findet eine rasante Verbreitung in der fachöffentlichen Diskussion seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. »Unter ›Inklusion‹ soll […] die Aufnahme von Menschen in kleinteilige Arbeitsund Lebenszusammenhänge verstanden werden, die nach den üblichen, konventionellen Erwartungen dafür nicht geeignet sind und somit in diskriminatorischer Hinsicht als ›ungeeignet‹ abgestempelt sind. Inklusion wirkt somit in zwei Richtungen: sie ermutigt und bestärkt die bisher Ausgeschlossenen, sich weiter zu entwickeln und wirkt gegen deren Stigmatisierung, während sie die scheinbar ›Normalen‹ darüber aufklärt, dass im Bereich von Fertigkeiten und Fähigkeiten die Grenzen sehr viel weniger starr sind, als bisher gedacht« (Brumlik 2017, S. 25).
Der Leitgedanke des Konzepts – der Verzicht auf jegliches Etikettieren von sozialen Gruppen – wird sukzessive in allen Bereichen der Sozialen Arbeit berücksichtigt (vgl. Offenberg 2014, S. 25), insbesondere in der migrationsbezogenen Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit wird allgemein als Exklusionsvermeidung und Inklusionsarbeit verstanden und findet dort statt, wo Menschen an den gesellschaftlichen Teilsystemen dauerhaft nicht teilhaben oder davon bedroht sind, z. B. schulmüde Jugendliche, längere Zeit durch Arbeitslosigkeit betroffene Menschen, Personen mit einem ungeklärten rechtlichen Status usw. Die Soziale Arbeit fokussiert sich ferner auf die spezifischen Lebenslagen und Lebenswelten, z. B. auf die Frage der materiellen Sicherheit, des fehlenden (anerkannten) Bildungsabschlusses, die Berücksichtigung der Heterogenitätsaspekte der BewohnerInnen bei der Quartiersgestaltung, Training sozialer Kompetenzen wie Reflexions- oder Konfliktfähigkeit etc. Um die Individualisierung und insbesondere die Kulturalisierung von zumeist gesellschaftlich verursachten Problematiken zu vermeiden, betrachten konzeptionelle Ansätze unterschiedliche Dimensionen der Heterogenität in ihrer Wechselwirkung, wie Geschlecht, Ethnie, Religionszugehörigkeit, Nationalität, soziale Unterschiede, Bildungsmilieus, Alter, gesundheitliche Einschränkungen (vgl. Frühauf 2008). In Verbindung mit der interkulturellen Kompetenz werden außerdem die Fragen der Handlungsmacht in einer interkulturellen Begegnung thematisiert, welche sich 68
Perspektive der professionell Handelnden
aus Ungleichheit der sozialen, rechtlichen und ökonomischen Lage ergeben können (vgl. Castro Varela/Mecheril 2013, S. 414). Zudem wird die Makroebene, d. h. Gesetze, aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, Anerkennungspraxis von Abschlüssen etc., der aufnehmenden Gesellschaft als eine Ebene der interkulturellen Kompetenz berücksichtigt (vgl. Fischer 2011, S. 346). Reflexive interkulturelle Pädagogik Der Ansatz der reflexiven interkulturellen Pädagogik (Hamburger 2009) zielt beispielsweise darauf ab, dass PädagogInnen Konflikte nicht pauschal aufgrund ihres Wissens über Interkulturalität einordnen und somit Menschen vorschnell auf ihre kulturelle bzw. ethnische Zugehörigkeit reduzieren. Die Ethnizität und Kultur sind nicht naturgegeben, sondern werden in sozialen Praxen durch das Handeln der AkteurInnen und durch die von ihnen vorgenommenen Zuschreibungen hervorgebracht. Dies könnte zum Übersehen bzw. Ignorieren von grundlegenden Fragestellungen, wie z. B. Paradoxien des professionellen Handelns, führen und zur Festigung von kulturellen Stereotypen beitragen (vgl. Nohl 2014, S. 126). Intersektionalität Das Modell der Intersektionalität wurde im angelsächsischen Raum, inspiriert durch feministische Forschungen, entwickelt. Intersektionsanalyse wird sowohl als »Identitätstheorie als auch ein Instrument, das der Analyse der sozialen Positionierung von Menschen dient« (Lutz/Davis 2005, S. 231), verstanden. Diese Theorie beschreibt vielfältige, auf unterschiedliche Weise miteinander verwobene und sich überlagernde und gegenseitig verstärkende Merkmale, wie Geschlecht, Religion, ethnische Zugehörigkeit, Alter, sexuelle Orientierung, wodurch Ungleichheit und Diskriminierungen von Menschen erklärt und analysiert werden können (vgl. Schrader/von Langsdorff 2014). Dieser Zusammenhang wird am Beispiel des Themas Homosexualität unter Menschen mit Fluchterfahrung verdeutlicht. Asylsuchende Menschen können Asyl erhalten, wenn sie in ihrem Heimatland wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Je nach Normen im Herkunftsland kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität gelten (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Die Überprüfung, ob ein solcher Verfolgungsgrund vorliegt, ist nur durch einen schlüssigen Sachvortrag vor dem BAMF des Betroffenen selbst möglich. Für Soziale Arbeit in der pluralen Gesellschaft
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viele ist das Outing vor Fremden jedoch mit der Angst, den Unterdrückungsund Ausgrenzungsmechanismen in Flüchtlingsunterkünften ausgesetzt zu werden und/oder mit der Angst vor der Art und Schwere der im Herkunftsland drohenden Maßnahmen verbunden. Auffallend ist außerdem, dass die Bedeutung des Themas für Frauen in den geführten Diskursen keine Berücksichtigung findet, was vermutlich auf die noch stärkere Tabuisierung des Themas zurückgeführt werden kann. Ein weiteres Beispiel stellt die Kumulation von zur Benachteiligung führenden Persönlichkeitsmerkmalen wie Migrations- und insbesondere Fluchthintergrund, Alter und Behinderung dar. Solche Menschen haben auf der Flucht nicht zuletzt aufgrund der Einschränkungen in der Mobilität und in Flüchtlingslagern aufgrund der Sprachschwierigkeiten und Unkenntnisse des neuen Systems größere Schwierigkeiten, sich zu bewegen, zu orientieren und benötigte Hilfen zu erlangen (vgl. Lorenzkowski 2002, S. 54). Kultursensibilität/Transkulturelle Kompetenz Der Begriff Kultur erfährt durch die Akzentuierung folgender drei Ebenen eine deutliche Bedeutungserweiterung: Erstens werden die individuellen Eigenschaften und Charakterzüge einer Person, ihre lebensgeschichtlichen Relevanzen und Erfahrungen in den Blick genommen. Zweitens werden unterschiedliche kollektive Zugehörigkeiten wie geschlechtsspezifische, generationale, bildungsbezogene und regionale in ihrer Wechselwirkung betrachtet (vgl. Nohl 2014, S. 137). Und drittens wird der kulturell-religiöse bzw. ethnische Hintergrund unter der Berücksichtigung der jeweiligen sozialräumlichen Verankerung relevant (vgl. Koval 2016c, S. 142). So ist beispielsweise das Herkunftsland (Nord vs. Süd) lediglich eine Dimension neben dem Alter, dem Geschlecht und den gesundheitlichen Voraussetzungen in Verbindung mit der aktuellen Situation und dem Charakter eines Individuums, die das Raumbedürfnis, -verständnis und -empfinden oder das Zeitverständnis prägt. Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs ist eine Tendenz zu beobachten, die inter- bzw. transkulturelle Kompetenz um den Aspekt der interreligiösen Kompetenz zu erweitern (vgl. Bernlochner 2013; Schambeck 2013) bzw. beide miteinander zu verschränken und aufeinander zu beziehen (vgl. Koval/Zippert 2016). Denn auch Religion ist eine Dimension von Kultur – ebenso wie Kultur eine Dimension von Religion ist. Unter Interreligiöser Kompetenz wird demnach die Fähigkeit zum Umgang mit diesen Dimensionen unter Einbeziehung der eigenen religiösen Verortung verstanden. 70
Perspektive der professionell Handelnden
Wie die transkulturelle Kompetenz in der (Beratungs-)Praxis umgesetzt werden kann, wird an einem Interviewbeispiel aus eigener Forschung mithilfe der nachstehenden Abb. 4 verdeutlicht. Exploration von Deutungs- und Wahrnehmungsmustern Bedeutung, Funktion
Alternative/Äquivalent zu dem Ziel, Vorstellung etc. SozialarbeiterIn
Ziel, Vorstellung, Anliegen einer Person Assessment/ Soziale Diagnose
1. Biografie des Individuums
2. Kollektive Zugehörigkeiten im sozialen und räumlichen Umfeld
3. G esellschaftlicher und kulturell-religiöser Kreis des Herkunftslandes
Abb. 4: Exploration von Deutungs- und Wahrnehmungsmustern (eig. Darstellung)
Um die Bedeutung von geäußerten Zielen, Vorstellungen oder Problemen für eine Person zu verstehen, ist es notwendig, die Bedeutung auf drei Ebenen herauszuarbeiten: 1. der Biographie eines Individuums; 2. den Besonderheiten der kollektiven Zugehörigkeiten, z. B. Milieu, Bildung, Religion, Alter und den 3. Normen und Werten des gesellschaftlichen und kulturell-religiösen Kreises des Herkunftslandes. Erst wenn die tatsächliche Bedeutung eines Sachverhaltes für die zu beratende Person exploriert worden ist, können bei Bedarf in einem zweiten Schritt die Äquivalenzen eruiert werden, welche im neuen System eine ähnliche Bedeutung für die Person haben könnten. Anschließend können Interpretationen vorgenommen oder Interventionen bzw. Lösungswege gemeinsam erarbeitet werden.
Soziale Arbeit in der pluralen Gesellschaft
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Beispiel für die Exploration von Deutungs- und Wahrnehmungsmustern Lena, zum Zeitpunkt des Interviews 23 Jahre alt, sprach im Interview über ihren Traumberuf, Näherin zu werden und ein Nähatelier zu eröffnen. Obwohl ihr Herz immer noch am Nähen hängt, ist ihr bewusst, dass die Existenzsicherung dadurch nicht gewährleistet werden kann: »Natürlich gefällt mir das Nähen und so was. Man kann davon aber nicht leben. In Russland konnte man davon leben. Und hier ist es sehr teuer und nicht jeder kommt //nicht jeder kommt und lässt sich etwas nähen. Es ist sehr teuer bei Ihnen, weil die Arbeitsstunde bei Ihnen teuer ist. Darum klappt es nicht.« Der Berufswunsch kann auf der Ebene der Biografie und Identität als das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit gedeutet werden. Dies äußert sich darüber hinaus in der Bewunderung ihrer Lehrerin, die als freischaffende Designerin tätig war sowie in dem von Lena direkt geäußerten Wunsch nach Unabhängigkeit: »Ich hatte in Russland einen solchen Wunsch, wenn ich den Abschluss bekomme, werde ich arbeiten, vielleicht öffne ich etwas Eigenes, vielleicht das. Ich wollte Auto fahren lernen. Wir hatten eine Lehrerin, sie wohnte allein, sie hatte keinen Mann, sie war so 32 Jahre alt, ungefähr in dem Alter. Sie war Designerin. Sie hat für sich genäht. Ich sah sie an und wunderte mich. Sie hatte solche Modelle, die man nicht kaufen konnte. Alles war sehr akkurat gemacht und sie ist mit dem eigenen Auto gefahren, sie war von keinem abhängig. Das Wichtigste für mich ist, unabhängig zu sein. Es ist schrecklich für mich, mit jemandem zu wohnen und von jemandem abhängig zu sein. Das Wichtigste, das ich wollte, war die Unabhängigkeit von den Eltern und von den anderen. Und vielleicht der Wunsch, eine Ausbildung zu bekommen.« Auf der Ebene der kollektiven Zugehörigkeiten ihres sozialräumlichen Umfeldes scheint Lena in diesem Berufswunsch einen praktischen Nutzen im Alltag für sich und für ihr Netzwerk zu sehen – Nähen für Freunde und Verwandte. Auf der Ebene des gesellschaftlich-kulturellen Kreises des Herkunftslandes könnte der Berufswunsch Näherin darin liegen, positiv aufzufallen und 72
Perspektive der professionell Handelnden
Bewunderung durch das Tragen von einzigartigen, passgenau hergestellten Kleidungsstücken hervorzurufen. Lena scheint selbstständig – ohne Unterstützung von Fachkräften – Alternativen gefunden zu haben, um ihre Ziele zu verwirklichen, ohne eine gelernte Näherin sein zu müssen. Ihre Wünsche, getrennt von den Eltern zu wohnen und Autofahren zu lernen – welche als Ausdruck der Unabhängigkeit und Freiheit gewertet werden können – gingen in Erfüllung. Lenas informell erworbene Fähigkeit, nähen zu können, wird von ihr und von den Verwandten genutzt und wertgeschätzt. Eine gesellschaftliche Anerkennung im neuen kulturgesellschaftlichen Umfeld kann sie durch das Erlernen eines sozialräumlich »gefragten« Berufs, z. B. Friseurin, erlangen.
Ressourcenerschließung und -aktivierung Die Ressourcenarbeit ist ein konstitutiver Teil der professionellen Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit in der pluralen Gesellschaft, was im Folgenden am Beispiel von Menschen mit Fluchthintergrund verdeutlicht werden soll. Viele Menschen mit Fluchthintergrund befinden sich in akuten Nöten aufgrund von Krieg und Verfolgung im Herkunftsland und als Ergebnis eines langen Fluchtwegs, was oft eine Traumatisierung bewirkte (vgl. Zito/ Matin, 2016). Hinzu kommen noch repressive und restriktive strukturelle Bedingungen für geflohene Menschen, die dazu führen können, dass Menschen ausschließlich als Opfer ihres Fluchtschicksals definiert und Mängel und Probleme in den Vordergrund gerückt werden. Eine defizitorientierte Sichtweise kann den Zugang zu und die Entfaltung von eigenen Stärken und Kräften verhindern sowie Menschen auf ihren Fluchthintergrund reduzieren. Ressourcen wie z. B. das Beherrschen von mehreren Sprachen, Dolmetschen, Übersetzen, ein professionelles Knowhow, Konflikt- und Kritikfähigkeit können zwar vorhanden sein, sie werden aber erst dann aktiviert, wenn sie vom Individuum als solche erkannt werden. Aktuell werden Mut machende Prozesse der Selbstbemächtigung mit dem Empowerment-Konzept in Verbindung gebracht. Empowerment zielt auf die »(Wieder-) Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags ab« (Herriger 2010, S. 20). Wenn eine Fachkraft ihren Blick ausschließlich auf Ressourcen einer hilfesuchenden Person und ihres Umfeldes fokussiert, kann sie möglicherweise übersehen, dass es meistens ökonomische und/oder ökologische Mängel oder rechtliche Restriktionen gibt, die erst erschlossen bzw. behoben werSoziale Arbeit in der pluralen Gesellschaft
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den müssen (vgl. Koval 2017, S. 46). Menschen mit Fluchthintergrund sind oft in alltäglichen Angelegenheiten von asylrechtlichen Vorgaben abhängig und können über ihre Belange nicht selbstständig entscheiden: z. B. Zwangsunterbringungen in Sammelunterkünften und daraus resultierende prekäre Wohnverhältnisse mit häufigen Ortswechseln, unsicherer Aufenthaltsstatus und Angst vor Abschiebung, ein begrenzter Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und psychosozialer Betreuung (vgl. Gitschier 2017, S. 29), erschwerter Zugang zu Beschäftigungsangeboten (vgl. Schroeder 2017, S. 205). Das Hauptziel der Ressourcenerschließung ist nach Staub-Bernasconi (2007): »die ressourcenmäßige Besserstellung von Individuen, Familien, gesellschaftlichen Gruppen als auch von territorialen und organisationalen Gemeinwesen. Teilziele sind sowohl die gezielte Erschließung, Ausschöpfung, eventuelle Schaffung von direkt und/oder indirekt zugängigen Ressourcen, im Besonderen materielle Güter, Wissen über Anrechte und entsprechende Verpflichtungen, Gesetznormen und Dienstleistungen als auch die Ermöglichung des direkten Zugangs der Klientel zu diesen Ressourcen« (S. 273).
Ressourcenerschließung bedeutet die Veränderung bzw. Schaffung von äußeren Rahmenbedingungen, um die Versorgung von bzw. den Zugang zu notwendigen Ressourcen zu ermöglichen oder aufrechtzuerhalten. Fremdsein überwinden/Kennenlernen ermöglichen Wenn die Unterscheidungen in »wir« und »Fremde« bzw. »Andere« sozial gefestigt sind, werden Gemeinsamkeiten meistens geleugnet. Die gemeinsame Betroffenheit als Eltern, als Stadtteilbewohner, als Arbeitsuchende, als Kinder, als Jugendliche wird ignoriert, auch wenn sie bedeutender ist als die fremdheitskonstruierende Differenz (vgl. Koval 2016c, S. 140). Wünschenswert wäre es, Gelegenheiten zu schaffen, um eine persönliche Begegnung und somit ein Kennenlernen in unterschiedlichen Lebensbereichen zu ermöglichen. Durch den persönlichen Kontakt werden negative Emotionen abgebaut, es werden Kenntnisse über die andere Gruppe vermittelt und das gegenseitige Hineinversetzen in die Situation der anderen ermöglicht. Dadurch werden Kategorisierungen zunehmend entschärft (vgl. Wagner 2016, S. 66). Dies kann besonders dann gelingen, wenn das Fremde als interessant, faszinierend und bereichernd wahrgenommen wird, wenn die Konfrontation mit einer anderen Denkweise als eine Anregung genutzt wird, eigene Gewohnheiten und Routinen zu reflektieren und als eine Chance zur 74
Perspektive der professionell Handelnden
persönlichen Weiterentwicklung zu nutzen. Diese Betrachtungsweise impliziert einen ressourcenorientierten Standpunkt. Der Fokus richtet sich auf die Herausbildung eines reflexiven Vermögens und einer offenen Haltung, die es ermöglicht, eigene Vorurteile zu reflektieren sowie einen Blickwechsel vornehmen zu können. Diese Fähigkeit wird als transkulturelle Kompetenz bezeichnet. Man wird sich bewusst, dass das Denken, Fühlen und Handeln von der eigenen Kultur geprägt ist und die Weltsicht der eigenen Gruppe begrenzt ist. Wenn die eigene und die fremde Gruppe diese offene Haltung und transkulturelle Kompetenz besitzen, verschwinden die Grenzen und das vermeintlich Fremde erscheint vertrauter. Für die Herausbildung einer transkulturellen Kompetenz ist ein weltoffenes Klima in der Gesellschaft, Gemeinde, Politik und in den Medien eine wichtige Voraussetzung und natürlich persönliche, charakterliche Stärken, Habitus und Vorlieben. Eine weitere Ebene stellt die Arbeit an der Veränderung der oft restriktiven gesetzlichen Lage für einige Menschen, wie z. B. solche mit Fluchthintergrund, dar. Durch die gesetzlich verankerten Exklusionen besteht in der Regel keine Möglichkeit des Kennenlernens in Bereichen wie Freizeit, Bildung, Arbeit oder als Nachbarschaft.
Multiple-Choice-Fragen 1. Was bedeutet der Begriff »Inklusion« im Kontext von Migration? Bitte kreuzen Sie eine Antwort an: a) Verzicht auf jegliches Etikettieren bestimmter sozialer Gruppen, gleichberechtigte Teilhabe aller Mitglieder einer Gesellschaft, ohne dass diese wegen individueller Merkmale (z. B. Migrationshintergrund) dem sozialen Ausschluss ausgesetzt wären b) Kulturelle und sprachliche Anpassung einer Minderheit an eine Mehrheit, Identifikation mit dem Aufnahmeland c) Ausrichtung von Angeboten und Maßnahmen zum Erreichen von bestimmten MigrantInnengruppen, Interkulturelle Trainings für vorwiegend Fachkräfte ohne Migrationshintergrund 2. Ausländische ArbeitnehmerInnen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren von der BRD angeworben wurden, nannte man … Kreuzen Sie bitte eine Antwort an: a) SchwarzarbeiterInnen b) GastarbeiterInnen c) ZeitarbeiterInnen d) SchichtarbeiterInnen Soziale Arbeit in der pluralen Gesellschaft
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3. Welche Länder gehören nicht zu den Herkunftsländern von sogenannten »GastarbeiterInnen« in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1955–1968? Bitte kreuzen Sie zwei Antworten an: a) USA b) Türkei c) Italien d) Ehemalige Sowjetunion e) Griechenland f) Portugal g) Spanien h) Ehemaliges Jugoslawien 4. Was enthält der handlungsfeldintegrative (inklusive) Ansatz in der Sozialen Arbeit? Kreuzen Sie bitte eine Antwort an: a) Ausrichtung von Angeboten und Maßnahmen zum Erreichen von bestimmten MigrantInnengruppen b) Interkulturelle Trainings für Fachkräfte vorwiegend ohne Migrationshintergrund c) Ausrichtung des professionellen Handelns auf spezifische Lebenslagen von Menschen, unabhängig von einem Migrationshintergrund 5. Was beinhaltet der Begriff »Assimilation«? Bitte kreuzen Sie eine Antwort an: a) Anpassung bis hin zum Aufgehen in einer neuen Umgebung seitens der Menschen mit Migrationshintergrund b) Abbau von Ungleichheit stiftenden Faktoren auf der Seite der Einwanderungsgesellschaft c) Eingliederung von Immigranten in die Gesellschaft als ein beidseitiger Prozess sowohl seitens der Menschen mit Migrationshintergrund als auch seitens der Gesellschaft d) Verzicht auf jegliches Etikettieren bestimmter sozialer Gruppen, gleichberechtigte Teilhabe aller Mitglieder einer Gesellschaft, ohne dass diese wegen individueller Merkmale (z. B. Migrationshintergrund) dem sozialen Ausschluss ausgesetzt wären.
Ausländerinnen und Ausländer haben die Möglichkeit seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Voraussetzung hierfür sind nach §§ 10 ff. des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) ein rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland von mindestens acht Jahren, Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grund76
Perspektive der professionell Handelnden
ordnung, die Bestreitung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen und das Fehlen von Vorstrafen. Seit dem 01.09.2009 müssen zusätzlich Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland im Allgemeinen durch den sogenannten »Einbürgerungstest« nachgewiesen werden. Alle Fragen des Einbürgerungstests sind kostenlos online zugänglich unter https://www.einbuergerungstest-online.eu/.
Testen Sie, ob Sie den Einbürgerungstest bestehen würden und reflektieren Sie die Fragen des Einbürgerungstests. Stellen Sie sich vor, dass Sie als SozialarbeiterIn im unten beschriebenen Jugendzentrum und in der Beratungsstelle arbeiten und setzen Sie sich mit folgenden Fragen auseinander: –– Wer hat ein Problem mit wem? –– Wie können Sie die Entstehung des Problems erklären? –– Wie können Sie als SozialarbeiterIn das Problem bearbeiten? Welche Konzepte/Methoden/Verfahren bieten sich an? Jugendclub Cem (14 Jahre) lebt mit seinen Eltern in einer Mietwohnung in der Vorstadt. Seine Eltern und sein älterer Bruder sind hauptsächlich in der türkischen Gemeinde aktiv. Cem besucht regelmäßig ein Jugendzentrum und nimmt hier z. B. an Sportangeboten teil. Es wird immer wieder deutlich, dass Cem unter dem Druck der Familie, ein möglichst unauffälliges Kind zu sein und seine Pflichten als Muslim und als Teil der Familie wahrzunehmen, leidet. Im Jugendzentrum nimmt man Cem als einen sehr lebendigen, aufgeschlossenen Jugendlichen wahr, der gerne den Kontakt zu älteren Jugendlichen sucht. Auf dem Spielplatz neben dem Jugendzentrum trifft sich oft eine Clique älterer Jugendlicher, die offensichtlich Alkohol und Drogen konsumieren. Cem schließt sich dieser Clique zunehmend häufiger an. Cem ist nun meist nur noch bei den Feiern freitagsabends im Jugendzentrum anzutreffen. Da bemerkt ein/e SozialarbeiterIn des Jugendzentrums Cems glasigen Blick und spricht ihn daraufhin an, ob er Haschisch konsumiere. Cem antwortet nur, dass das doch heute jeder tue. Am folgenden Montag taucht Cem im Jugendzentrum auf und bittet den/die MitarbeiterIn kleinlaut darum, nichts seinen Eltern zu erzählen, da er sonst furchtbaren Ärger Soziale Arbeit in der pluralen Gesellschaft
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bekäme. Auf den Vorschlag, doch wieder häufiger im Jugendzentrum zu erscheinen, reagiert Cem abweisend und sagt, dass das doch nur etwas für Kinder sei. Beratungsstelle Tanja wurde 1985 in Russland geboren. Nachdem sie 2002 die Schule beendet hatte, bekam sie einen Studienplatz an der Fakultät für Anglistik und Germanistik. In demselben Jahr lernte sie ihren späteren Mann Wowa kennen. Er lernte Kfz-Mechaniker an der Berufsschule. Im Jahr 2003 heirateten sie. 2004 beendete Wowa die Ausbildung und bekam sofort eine gut bezahlte Arbeit. 2006 wurde ihre Tochter Luda geboren. Tanja blieb ein Jahr zuhause und kümmerte sich um die Tochter, Wowa verdiente den Lebensunterhalt. 2007 reisten Tanja, Wowa, Luda sowie ihre Eltern als Spätaussiedler nach Deutschland aus. Sie wohnen zurzeit in einer kleinen Stadt. Tanjas Abitur wurde anerkannt. Sie studiert im 3. Semester das Fach Germanistik und Slawistik und muss jeden Tag zur Universität eine Stunde hin- und zurückfahren. Der Berufsabschluss von Wowa wurde nicht anerkannt. Nach der Einreise besuchte er einen Deutschkurs und absolvierte anschließend eine Umschulung für Schweißer. Seine Deutschkenntnisse sind laut Tanjas Schilderung eher schlecht, er zeige keine Motivation, sich beruflich weiterzuentwickeln. Den ganzen Tag hänge er mit seinen russischen Freunden herum und spiele Computer. Er beschuldigte zudem Tanja, dass sie eine schlechte Mutter sei, weil sie sich um ihre 4-jährige Luda nicht richtig kümmere, da sie viel Zeit fürs Studium aufwende. Mit der Erziehung der kleinen Luda und mit dem Haushalt sei er überfordert, weil dies die Aufgabe der Frau sei, so die Schilderung von Tanja. Es gefällt Wowa zudem nicht, dass ihre deutschen Freunde zu Besuch kommen. Seit einem halben Jahr will Tanja sich scheiden lassen. Wowa ist dagegen, die Eltern von beiden Seiten sind entsetzt, es kommt oft zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Eltern von Tanja und Wowa wohnen in demselben Ort. Tanja kommt in einen Jugendmigrationsdienst: Sie wirkt niedergeschlagen, müde und erschöpft. Sie kann das Leben zuhause nicht mehr aushalten. Die ganze Zeit streitet sie sich mit ihrem Mann und mit den Eltern. Sie weiß nicht, wie das Scheidungsverfahren in Deutschland abläuft, was auf sie zukommt und womit sie anfangen soll. Sie hat auch Angst, nach der Scheidung keine Unterstützung von den Eltern und anderen Verwandten zu bekommen. Das Wichtigste für sie sind das Kind und das Studium, das sie auf jeden Fall abschließen will. Bald kommen Prüfungen und sie hatte 78
Perspektive der professionell Handelnden
überhaupt keine Zeit, sich vorzubereiten, und hat Angst, die Prüfungen nicht zu bestehen.
Vielleicht haben Sie sich bei der Bearbeitung der letzten Aufgabe gefragt, in welchem Kontext Sie eigentlich den Personen begegnen, die im Beispiel genannt sind. Die Antwort ist: Im Kontext von Organisationen. Aus diesem Grund machen wir Organisationen zum Thema des folgenden Kapitels.
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Organisationale und institutionelle Perspektiven
These: Alle bisher beschriebenen Perspektiven stehen im Kontext zu Organisation und Institution.
Ziel des nachfolgenden Kapitels ist es, die einleitende These zu verifizieren, also zu bestätigen. Als ersten Schritt auf diesem Weg bitten wir Sie, sich zu notieren, was Sie unter den Begriffen Organisation und Institution verstehen.
Bei der Übung ist Ihnen womöglich aufgefallen, dass Sie die Begriffe Organisation und Institution synonym verwenden oder vielleicht Schwierigkeiten haben, sie zu unterscheiden. Zumindest ist das unsere Annahme, denn wir erleben diese Deutungsschwierigkeit in Bezug auf Abgrenzungen der Begriffe seit Jahren in unseren Seminaren. Sollte dies bei Ihnen nicht der Fall sein, dann wissen Sie vielleicht schon, was die Begriffe verbindet und unterscheidet. Wenn nicht, dann unbedingt weiterlesen. In unseren Seminaren blicken Studierende bei der Bitte, die Begriffe Organisation und Institution zu erklären und ihre Unterscheidung darzulegen gemeinhin betreten auf die Tischplatte vor ihnen und hoffen darauf, dass jemand anderes die Frage beantwortet oder wir für Erlösung sorgen. Die Frage nicht beantworten zu können löst offenbar Scham bei Studierenden der Sozialen Arbeit aus, was angesichts der zentralen Bedeutung verständlich ist. Denn allen ist bewusst, dass ihr Leben (und das der AdressatInnen) und die Ausrichtung der Arbeit oder des mit dem Studium angestrebten Berufsziels ganz wesentlich mit den Themen Organisation und Institution einhergehen. Und da ist es irritierend, diesen zentralen Aspekt nicht reibungslos beschreiben zu können. Und weil diese Begriffe und die Bedeutungen, die 80
mit ihnen einhergehen, auch für die Inhalte des vorliegenden Buches zentral sind, hier nun die Auflösung: Zunächst von den Wortstämmen aus betrachtet, ist eine Institution vom lateinischen institutio abgeleitet und bedeutet: »Einrichtung, Erziehung oder Anleitung«. Organisation ist ursprünglich griechisch (ὄργανον, gesprochen: órganon) und bedeutet: »Werkzeug«. Als Faustregel kann festgehalten werden, dass die Organisation das Werkzeug der Institution ist. So ist z. B. eine einzelne Schule eine Organisation, in der (hoffentlich) das praktiziert wird, was mit der Institution Schule gemeint ist. Das ist nicht ganz leicht zu verstehen und bedarf daher einer genaueren Analyse: Im vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. bereits in der achten Auflage vorgelegten Fachlexikon der Sozialen Arbeit (2017) schreibt Veronika Tacke zum Begriff der Institution: »Institution18 Der Begriff der I. hat eine lange Tradition, aber keine einheitliche Definition gefunden.« (S. 438)
Mit Blick auf die Schwierigkeit, die Begriffe zu erklären, befreit diese Aussage. Zumindest für den Augenblick.Wenden wir uns nun dem Begriff »Organisation« zu. Hierzu schreibt Tacke (2017) weiter: »Allgemein bezieht er19 sich auf soziale Strukturen, denen zum einen mehr oder weniger große gesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben wird, denen zum anderen eine vergleichsweise hohe Stabilität eigen erscheint. Auch gilt allgemein, dass I. sich sozial unwillkürlich herausbilden und entwickeln, sie werden also, anders als v. a. […] Organisationen, nicht durch Entscheidungen geschaffen, auch können sie nicht willkürlich durch individuelle, organisatorische oder politische Entscheidungen verändert oder abgeschafft werden.« (ebd.)
Konstruktivistisch gedeutet, wird hier das System Institution über Abgrenzung (hier Organisation) definiert. Das geschieht leider missverständlich, da die Worte »unwillkürlich« und »willkürlich« zwar alltagssprachlich richtig sind, aber semantisch falsch genutzt werden. Denn da unwillkürlich eben nicht Willkür ist, müssen wir annehmen, dass Institutionen aufgrund ihres auto-
18 Hervorhebung im Original. 19 Der Begriff der Institution. (Anm. der AutorInnen). Organisationale und institutionelle Perspektiven
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poetischen20 Entstehens eher willkürlich und die Organisation zumindest in ihrer Erschaffung gelenkt, also nicht willkürlich, sondern un-willkürlich, also willentlich ist. Bauen Sie daher in Ihre Überlegungen bitte diesen »Dreher« mit ein. Im selben Lexikon bringt Jürgen Burmeister (2017) die Klärung mit wenigen Strichen auf den Punkt: »Organisation21 O. sind soziale Einheiten, die im Wesentlichen durch zwei Merkmale charakterisiert werden können: 1. Formale Mitgliedschaft und 2. Ziel- und Zweckgerichtetheit.« (S. 615)
Werden die Bilder über Institution und Organisation klarer? Um das zu vertiefen, lesen Sie bitte die Textausschnitte von Tacke zum Thema Institution und Burmeister zum Thema Organisation, auf die wir uns hier berufen haben. Beantworten Sie nach der Lektüre bitte zunächst folgende Fragen: 1. Was sind Institutionen? 2. Was sind Organisationen? 3. Wodurch unterscheiden sich Institutionen und Organisationen? Wenn Sie die Fragen beantwortet haben, vergleichen Sie diese bitte mit Ihren Ausgangsnotizen, die Sie zu Beginn dieses Kapitels gemacht haben. Was hat sich verändert? Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen? Erweitern Sie nun Ihre Notizen, indem Sie aufschreiben, welche Bedeutung die Themen Organisation und Institution im Kontext zu Migration und Flucht für Sie haben. Ausschnitt aus dem Text von Veronika Tacke (2017) zum Begriff der Institution: »Der I. Begriff hat in den Sozialwissenschaften seit den 1980er-Jahren eine Renaissance v. a. im Zusammenhang mit politikwissenschaftlichen und sozio20 Die Autopoiesis oder das autopoetische System geht wesentlich auf den Soziologen Niklas Luhmann zurück, der unter diesem Systeme versteht, die sich selbst erhalten und entwickeln. Vgl. Luhmann, N. (1987): Soziale Systeme – Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 21 Hervorhebung im Original.
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Organisationale und institutionelle Perspektiven
logischen, aber auch ökonomischen Organisationsforschungen erfahren. In Absetzung vom klassischen I. Begriff (etwa der Anthropologie und des Funktionalismus) interessieren sich neuere Forschungen weniger für die Stabilität als für den Wandel von I., stärker für die kognitive und wissensbezogene Bedeutung als für die normative und regulative Funktion von I. Sie schränken den I. Begriff zugleich auf solche generalisierten Strukturen ein, die für Organisationen als gesellschaftlich relevante Umwelten jeweils gelten. Ein besonderes Forschungsinteresse gilt der weltgesellschaftlichen Bedeutung und globalen Verbreitung (Globalisierung) ›westlicher‹ I. und den kulturell damit verbundenen Rationalitätsvorstellungen. Zu den diesbezüglich wichtigsten Einsichten gehört, dass Organisationen aus ihrer gesellschaftlichen Umwelt zahlreiche institutionalisierte Strukturmuster (›Rationalitätsmythen‹) in ihre formalen Strukturen übernehmen, um Legitimität und Unterstützung der Umwelt zu gewinnen; allerdings entkoppeln sie zugleich ihre formalen, für rational gehaltenen Strukturen von ihren tatsächlichen Aktivitätsstrukturen.« (S. 438) Ausschnitt aus dem Text von Jürgen Burmeister (2017) zum Begriff der Organisation: »Organisation22 O. sind soziale Einheiten, die im Wesentlichen durch zwei Merkmale charakterisiert werden können: 1. Formale Mitgliedschaft und 2. Ziel- und Zweckgerichtetheit. In der Regel kommt hinzu, dass O. auch über eine rechtliche Gestalt verfügen (eingetragener Verein, Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), Körperschaft usw.). Organisieren ist Gestalten von Strukturen, Prozessen und Beziehungen in sozialen Systemen. Strukturen legen fest, welche O.einheiten auf welchen Ebenen es gibt (Aufbauorganisation), welche Aufgaben ihnen übertragen werden und welche Leistungen sie zu erbringen haben. Prozesse ordnen die zeitliche Folge der Arbeiten zur Herstellung einer Leistung sowie das Zusammenwirken von Mitarbeiter/innen und den Einsatz von Arbeitsmitteln (Ablauforganisation). Beziehungen bestimmen die notwendige Kommunikation zwischen den einzelnen O.einheiten und Mitarbeiter/innen bei der Leistungserstellung. Organisatorische Regelungen machen das Handeln der O.mitglieder erwartbar und damit berechenbar. Für die O.mitglieder ist das Verhältnis zu der O., der sie angehören, formalisiert. So sind Rechte und Pflichten der einzelnen Mitglieder verbindlich und im Zweifel einklagbar. Bei der Konzeption 22 Hervorhebung im Original. Organisationale und institutionelle Perspektiven
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organisatorischer Regelungen ist neben dem O.zweck zu bedenken, wie sich Menschen in einer konkreten Situation typischerweise verhalten, wenn man möchte, dass diese Regelungen von den O.mitgliedern akzeptiert werden. Umfassende Veränderungsprozesse werden systematisch am besten durch eine Organisationsentwicklung angegangen. Diese umfasst in einem ersten Schritt eine Organisationsanalyse, bei der häufig auf eine externe Organisationsberatung zurückgegriffen wird, um einen methodisch fundierten und vorbehaltlosen Analyseprozess zu gewährleisten. Grundsätzliches Ziel ist dabei immer, den vorhandenen (unbefriedigenden) Ist-Zustand möglichst exakt zu erfassen, einen künftig angestrebten Zustand darzustellen und den Weg der Umsetzung zu planen. […] Die jüngere O.theorie basiert auf systemtheoretischen Überlegungen. Die am weitesten gehende Variante gemäß der Theorie sozialer Systeme nach N. Luhmann geht gegenüber bisherigen Vorstellungen von einem sehr dynamischen O.verständnis aus. Danach entstehen und reproduzieren sich O., wenn es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt. O. sind demnach sinnhafte, auf sich selbst bezogene Entscheidungszusammenhänge, mit deren Abbruch es zu einem Erliegen der O. kommt. Der Vorteil dieses theoretischen Ansatzes liegt vor allem darin, dass sich O. als eigenständige und eigensinnige soziale Systeme beschreiben lassen, deren Veränderung immer einen Wandel bestehender Entscheidungs- und damit Kommunikationsstrukturen voraussetzt.« (S. 615 f.)
5.1 Die institutionelle Logik der Organisation Der Münsteraner Sozialarbeitsprofessor Joachim Merchel beginnt sein 2003 veröffentlichtes Buch Trägerstrukturen in der Sozialen Arbeit – eine Einführung mit dem Satz: »Soziale Arbeit ist eine institutionalisierte Form gesellschaftlichen Handelns.« (S. 7) Aus diesem Satz geht hervor, dass Soziale Arbeit etwas ist, das sich gesellschaftlich sozusagen verselbständigt hat. Was das bedeutet, kann anhand der Perspektiven der vorangegangenen Kapitel dargelegt werden. Anmerkung: Dieses Buch hat Migration und Teilhabe als Themen, die beide an verschiedenen Stellen analysiert und dargestellt wurden und werden. Deshalb wird hier eine Metaanalyse vorgenommen, bei der die Bedeutungen der Begriffe als bekannt vorausgesetzt werden.
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Organisationale und institutionelle Perspektiven
Die Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft Aus der Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft bedeutet die These Merchels, dass ›Soziale Arbeit eine institutionalisierte Form gesellschaftlichen Handelns sei‹ (vgl. Merchel 2003), dass die abstrakte Größe, die »Gesellschaft« genannt wird, davon ausgeht, dass die Themen Migration (darin Flucht) und Teilhabe (auch) professionell organisiert werden. Als Aufgabenträgerin wird diesbezüglich die Soziale Arbeit identifiziert, weil diese bereits qua Name (Soziale Arbeit) ihre Zuständigkeit suggeriert. Ein Beispiel: Als im Jahr 2015 besonders viele geflohene Menschen nach Deutschland kamen, war die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung (zunächst) groß. Sprich, dass zumindest ein großer Teil der aufnehmenden Gesellschaft bereit war, Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich der Institution Soziale Arbeit mit ihren Organisationen (gesellschaftlich) zugewiesen sind. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass auch diese Hilfsbereitschaft mit der Erwartung einherging, dass sich Soziale Arbeit zu kümmern habe. So z. B. in Bezug auf das Betreiben von Heimen für AsylbewerberInnen und Flüchtlinge. Als die erste Hilfsbereitschaft vergangen war, zeigte sich in besonderer Weise, was die gesellschaftliche Perspektive auf Soziale Arbeit in der Wahrnehmung und Zuschreibung als Institution bedeutet. Der Philosoph Konrad Ott bringt dies in seinem Buch »Zuwanderung und Moral« (2016) auf den Punkt. Er schreibt: »Der privaten Hilfsbereitschaft sind kaum Grenzen gesetzt, die institutionelle Verantwortung für Flüchtlinge liegt jedoch letztlich beim Staat, der […] in diesem Sinne als Gewährleistungsstaat verstanden wird.« (S. 14 f.) Aus diesem Zitat sind verschiedene Aspekte ableitbar, die die These der Institutionalisierung Sozialer Arbeit stärken. Da ist zunächst der Hinweis, dass die private Hilfsbereitschaft kaum Grenzen habe. Damit ist auch gesagt, dass es auf der Basis der Annahme, dass Soziale Arbeit die Aufgaben fortsetzt, den Freiwilligen möglich ist, ihre Hilfsleistung jederzeit wieder einzustellen (so ja auch zahlreich geschehen.) Weiter geht aus dem Zitat ein zentraler Ansatz sozialstaatlicher Organisation in der Bundesrepublik Deutschland hervor, die Subsidiarität. »Das Subsidiaritätsprinzip bezeichnet das herrschende gesellschafts- und familienpolitische Konzept, wonach jeder zuerst für sich selbst zu sorgen hat und bei Hilfebedürftigkeit in gestufter Reihenfolge die Leistungen seiner Angehörigen, die der Sozialversicherung und schließlich die der allgemeinen Die institutionelle Logik der Organisation
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sozialstaatlichen Daseinsvorsorge beanspruchen soll. Es folgt aus Art. 20 Abs. 1,3 GG23 und ist vor allem im Fürsorgerecht (Sozialhilfe, Grundsicherung, Jugendhilfe; Stichwort Eigenverantwortung) von großer Bedeutung.« (Hinrichs/Öndül 2017, S. 50)
Bei genauer Betrachtung und Fortschreibung dieses Zitats wird erkennbar, dass auch das Subsidiaritätsprinzip in die Institutionalisierung Sozialer Arbeit mündet. Diesmal vom gesellschaftlich legitimierten und sozialarbeiterisches Handeln legitimierenden (Subsidiarität) (Sozial-)Staat. Wird in diesem Zusammenhang neben der Hilfsbereitschaft zudem auf die gesellschaftliche Ablehnung von Flüchtlingen aus dem Beispiel des Jahres 2015 hingewiesen, ergeben sich für die Soziale Arbeit aus der gesellschaftlichen Perspektive folgende Konsequenzen: »Sozialpolitik beschränkt sich letztlich auf die Forderung Ruhe und Ordnung und überträgt – unterm Strich, weil sie es selbst exekutiv nicht will – den Interventionsauftrag allgemein der Freien Wohlfahrtspflege […]. Ohne genau wissen zu können, was denn mit Ruhe und Ordnung gemeint sei, müssen diese Sozialunternehmen unter Anwendung von z. B. sozialarbeiterischen Methoden und im Kontext gesetzlicher Rahmenbedingungen Aufgaben […] definieren und umsetzen. Aufgrund der Unklarheit des Auftrags, in dem – wie gesagt – nicht eindeutig benannt ist, was Ruhe und Ordnung ist, geschieht die Erfüllung in Form negativer Messung durch eine abstrakte Öffentlichkeit. Für diese wird, bei aller Wirkungsforschung, mit der Sozialunternehmen versuchen, die Wahrnehmung ins Positive zu ermöglichen, gemeinhin sichtbar, was nicht gelingt. Im Nachhinein wird dann Ruhe und Ordnung dadurch konkret, dass benannt wird, was nicht Ruhe und Ordnung ist. Und da die abstrakte Öffentlichkeit für Sozialpolitik ebenso konkret Wahlstimmen bedeutet, wird das […] sozialpolitische Agieren nachvollziehbar. Dieses besteht letztlich darin, den Ruf nach Ruhe und Ordnung mit der Metaebene der Schuld zu verknüpfen. Eine Schuld, die von der Sozialpolitik immer in Richtung der sozialen Unternehmungen zu schieben versucht wird. Denn als Auftraggeber kann sich Sozialpolitik immer darauf berufen, für Ruhe und Ordnung sorgen zu wollen. Wenn das in der öffentlichen Wahrnehmung, weil nicht kritisiert, gelingt, hat sie Sozialunternehmen gut eingesetzt. Wenn es Kritik gibt, haben die Sozialunternehmen ihren Auftrag nicht erfüllt. Die Sozialpolitik ist dadurch in der 23 Grundgesetzt (Anmerkung der AutorInnen).
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Position, selbst wenig angreifbar zu sein. Sozialunternehmen gelangen so womöglich zu der Wahrnehmung, am Gelingen von Ruhe und Ordnung (keine Kritik) wenig sichtbar beteiligt und für ein sichtbares Scheitern (Kritik) verantwortlich zu sein.« (Dieckbreder 2016, S. 67 f.)
Aus der Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft hat Soziale Arbeit einen institutionellen Auftrag zu erfüllen. Die Umsetzung erfolgt organisational. Das jedoch ist aus der gesellschaftlichen Perspektive ebenso wenig relevant, wie es für Tätige in der Sozialen Arbeit von Interesse ist, mit welchen Organisationsabläufen ein Auto gebaut wird. Schlicht: Es wird sich gegenseitig darauf verlassen, dass Aufgaben von denjenigen übernommen werden, denen die Verantwortung für diese zugeschrieben wird. Die organisationale Ebene wird dann gesamtgesellschaftlich wahrgenommen, wenn etwas nicht gelingt, oder bewusst ein Regelverstoß begangen wird. In der Sozialen Arbeit sind dies z. B. nicht erbrachte (aber abgerechnete) Leistungen, wie es in der Automobilindustrie manipulierte Abgaswerte sind. Aus diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass Institutionen auch darüber entstehen, dass Sie bei denjenigen, die die organisationalen Abläufe nicht überschauen können (niemand weiß, wie alles funktioniert), auf Vertrauen stoßen. Es wird darauf vertraut, dass in Organisationen der Sozialen Arbeit so gearbeitet wird, dass z. B. ein in der Jugendhilfe betreuter junger Mensch gute Chancen im Leben hat und keine Gewalt in der Einrichtung erfährt. Und es wird eben auch darauf vertraut, dass Autohersteller Motoren entwickeln, die tatsächlich weniger giftige Abgase ausstoßen. Die gesellschaftliche Erwartung ist immer, dass dieses Vertrauen nicht enttäuscht wird, wobei die Gesellschaft selbst bestimmt (oder durchaus durch Einzelfallskandalisierung auch durch Medien gelenkt wird), wann das Vertrauen entzogen wird. Bezogen auf das Thema des Buches ist die Erwartung der aufnehmenden Gesellschaft sicherlich dahingehend different, dass Integration erwartet wird, wo wir aus professioneller Sicht mit dem Begriff der Teilhabe agieren. Darauf wird im weiteren Verlauf genauer eingegangen. Die Perspektive der Zugewanderten Es liegen diesem Buch explizite Interviews mit den Fragestellungen zugrunde, mit welchen Erwartungen Menschen nach Deutschland migrieren/fliehen und welche Perspektiven sie im Verlauf der Migrationsschritte zu diesen Erwartungen geführt haben. Aus organisationaler Sicht Die institutionelle Logik der Organisation
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sind dies jedoch nur bedingt zentrale Fragen. Denn eine Erwartung ist letztlich eine Abstraktion einer Tatsache, die sich in dem Moment in Klarheit wandelt, wenn sie mit der Realität konfrontiert wird. In diesem Sinne ist die Perspektive der Zugewanderten eine auf organisationale Zusammenhänge, die sie vorfinden.
Bevor Sie weiterlesen: Versuchen Sie, sich in die Situation eines geflohenen Menschen zu versetzen. Was meinen Sie, mit welchen Zielen er/sie in Deutschland ankommt? Was bedeutet es, wenn Sie diese Ziele mit dem in Beziehung setzen, was ihnen hier organisational begegnet?
Auf der Basis Ihrer Antworten hier als Beispiel der Ablauf des Asylverfahrens: »Nach Art. 16a Grundgesetz haben politisch Verfolgte in der Bundesrepublik Deutschland einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte. Wer dieses Recht in Anspruch nehmen will, muss sich einem Anerkennungsverfahren unterziehen. Der Ablauf eines Asylverfahrens ist im Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) geregelt. 1. Ankunft
Meldet sich ein Flüchtling bei der Grenzbehörde, übergibt diese ihn an die nächstgelegene Erstaufnahmeeinrichtung, wo er registriert und untergebracht wird. […] Sofern sich ein Flüchtling erst im Inland als Asylsuchender zu erkennen gibt, kann er sich an jede Behörde wenden, die ihn dann ebenfalls an die jeweilige Erstaufnahmeeinrichtung vermittelt. Dort wohnen Flüchtlinge in der Regel maximal für die ersten drei Monate, bis sie einer bestimmten Stadt oder einem Landkreis zugewiesen werden. Die Verteilung bestimmt ein bundesweites Quotensystem. 2. Antragstellung
In unmittelbarer Nähe einer Erstaufnahmeeinrichtung befindet sich jeweils eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wo der Asylantrag gestellt werden kann. Die Flüchtlinge erhalten eine Aufenthaltsgestattung, die ihnen erlaubt in Deutschland zu bleiben, bis über den Asylantrag entschieden ist. 88
Organisationale und institutionelle Perspektiven
3. Anhörung und Entscheidung
Die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung des Asylbewerbers erfolgt durch einen Sachbearbeiter des Bundesamtes unter Hinzuziehung eines Dolmetschers. […] Der Sachbearbeiter trifft ggf. unter Nutzung weiterer Informationsquellen die Entscheidung über den Asylantrag. Diese Entscheidung geht dem Antragsteller schriftlich zu und enthält eine Begründung. 4. Anerkennung
Wird der Antragsteller als Asylberechtigter anerkannt, erhält er eine auf längstens drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. […] 5. Ablehnung
Wird der Antrag als unbegründet oder offensichtlich unbegründet abgelehnt, prüft der Sachbearbeiter, ob auf Grund der Situation im Heimatland eine Abschiebung nicht verantwortet werden kann. […] 6. Klagemöglichkeit
Gegen eine negative Entscheidung steht dem Asylsuchenden der Weg zum Verwaltungsgericht offen. Ist sein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden, kann er binnen einer Woche hiergegen Klage erheben und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gegen den Vollzug der Abschiebung beantragen. Das Verwaltungsgericht entscheidet dann vorab in einem Eilverfahren darüber. […]« (UNO-Flüchtlingshilfe o. J. Verfügbar unter: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/fragen-antworten/wc/J102?gclid=CP2Sx8 mUldYCFe4Q0wodOHAIlg, o. S., Zugriff am 23.11.2017) Aus der Perspektive der Zugewanderten muss ein solches Vorgehen besonders dann befremdlich erscheinen, wenn die behördlichen Bedingungen im Herkunftsland weniger stringent organisiert sind, als es in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Auf der anderen Seite bietet ein strukturierter organisationaler Ablauf Sicherheit und Klarheit. Allerdings immer vorausgesetzt, dass die Abläufe auch verstanden werden. In diesem Zusammenhang wird dann besonders Ihre Perspektive als professionell Handelnde relevant. Die Perspektive der professionell Handelnden In einem Beitrag für den Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. weist Wilfried Nodes (o. J.) darauf hin, dass der Anteil der Selbständigen Die institutionelle Logik der Organisation
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in der Sozialen Arbeit ca. 6 % betrage. (S. 1) Daraus ist im Umkehrschluss abzuleiten, dass 94 % in Organisationen tätig sind. Diese Organisationen sind entweder staatlich, also z. B. Jugend- und Sozialämter, oder gehören zur sogenannten »Freien Wohlfahrtspflege«, zu denen kirchliche Träger wie Diakonie und Caritas gehören und säkular Arbeiterwohlfahrt, Lebenshilfe, Deutsches Rotes Kreuz usw. SozialarbeiterInnen sind also sowohl auf der Seite tätig, die über – um im Beispiel zu bleiben – Asylanträge entscheidet, als auch auf jener, die Asylsuchende darin unterstützt, die organisationalen Aspekte zu verstehen und zu durchlaufen, also in konträr agierenden, jedoch zugleich kooperierenden Organisationen. Eine zentrale sozialarbeiterische Expertise muss somit im Handeln in Organisationen bestehen. SozialarbeiterInnen sind in ihrer Perspektive also zu über 90 % selbst im Kontext einer Organisation tätig und unterstützen Menschen darin, mit Organisationen zurechtzukommen. Diese Perspektive bedeutet zwangsläufig das Erkennen einer Ausgangslage, zu deren Ausgestaltung SozialarbeiterInnen ihr gesamtes Berufsleben gefordert sind. Diese Ausgangslage ist das sogenannte »sozialrechtliche Dreiecksverhältnis«, das landläufig »Leistungsdreieck« genannt wird. Klaus Schellberg (2014) beschreibt dieses wie folgt: »Das Leistungsentgelt basiert auf dem sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis. Der Leistungsempfänger hat an den öffentlichen Sozialleistungsträger einen individuellen Rechtsanspruch. Dieser schließt mit einem Leistungserbringer (Sozialunternehmen) eine Leistungs- und Entgeltvereinbarung, in dem sich der Leistungserbringer zur Erbringung bestimmter sozialer Dienstleistungen verpflichtet und der öffentliche Träger zur Zahlung von Entgelten. Die Leistung wird dann am Leistungsempfänger erbracht« (S. 261).
In einem gemeinsamen Artikel mit Thomas Zippert hat Frank Dieckbreder (2013) unter dem Titel Institutionsgeleitete Aspekte von Wahrnehmung geschrieben: »Im deutschen Sozialstaat ist vorgesehen, bei Hilfeleistungen über Geld zu sprechen« (S. 123). Wenn Sie sich das, was Schellberg geschrieben hat, einmal grafisch vorstellen, dann sieht das Dreieck wie in Abb. 5 aus. Und wenn Sie dieses Dreieck dann mit Geld in Verbindung bringen, stellen Sie fest, dass die These, die Dieckbreder aufgestellt hat, darin gleich mehrfach enthalten ist. Es beginnt damit, dass jemand (AdressatIn) einen Rechtsanspruch geltend machen kann. Dies geschieht häufig bereits durch die Unterstützung von professionell Handelnden. 90
Organisationale und institutionelle Perspektiven
Leistungsempfänger
Leistungserbringer
Leistungsträger
Abb. 5: Sozialrechtliches Dreiecksverhältnis (eig. Darstellung)
Nehmen Sie auch hier das Thema Asyl. Diesbezüglich gibt es Beratungsstellen (Organisationen), für die z. B. SozialarbeiterInnen tätig sind. Diese wollen für Ihre Beratungstätigkeit bezahlt werden. Also bedeutet bereits die Möglichkeit auf Asyl einen monetären und organisationalen Aufwand für den Staat und die subsidiären Organisationen. Aus der Perspektive der professionell Handelnden folgt daraus, erklären zu müssen, dass die Investition in eine Beratungsstelle notwendig ist. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der organisationalen Logik, dass es einen Rechtsanspruch auf Asyl gibt. Dieser Rechtsanspruch ist institutionalisiert (Merchel) und wirkt als solcher auf Organisationen dahingehend, ihn zur Umsetzung zu bringen. Dabei ist die Beratung zunächst »nur« eine organisationale Folge mit monetärem Aufwand. Monetär bleibt es auch, wenn es darum geht, tatsächlich einen Asylantrag zu stellen. Denn sowohl unterstützende professionell Handelnde aus z. B. der Beratungsstelle, als auch jene, die den Antrag bearbeiten, wollen für dieses Handeln wieder Geld erhalten. Geld, das der Kostenträger aufbringen muss. Bei diesem sind übrigens erneut SozialarbeiterInnen etc. beschäftigt, die für das, was sie tun, bezahlt werden wollen. Es klingt jetzt ein wenig so, als seien SozialarbeiterInnen ausschließlich an ihrem Einkommen interessiert. Das ist vermutlich nicht (immer) so. Aber aus der Perspektive der professionell Handelnden bedeutet das Organisationale in erster Linie Arbeitgeber. Diesem gegenüber gilt es loyal zu sein. Ein Teil dieser Loyalität besteht dabei aber auch darin, den AdressatInnen gegenüber loyal zu sein, die im organisationalen Kontext Unterstützung erhalten. Und eine dritte Loyalität besteht sich selbst als professionell handelnde PerDie institutionelle Logik der Organisation
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son gegenüber, in Fachtermini wird alles zusammen »das Tripelmandat« genannt. Diese Situation ist nicht »nur« der sprichwörtliche Spagat, sondern im Konfliktfall (es wird ja an drei Ecken gezogen) eine Zerreißprobe.
Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer Beratungsstelle für Asylsuchende. Dort lernen Sie eine Frau kennen, die aufgrund von Gewalterfahrungen in ihrer Heimat nach Deutschland geflohen ist. Das Herkunftsland gilt politisch als »sicher«, sodass kein Asylgrund vorliegt. Sie wissen jedoch, dass die Frau bei einer Rückführung wieder denselben Repressalien oder sogar dem Tod ausgesetzt ist. Das können Sie allerdings nicht beweisen. Bedenken Sie nun alle Loyalitäten sowie Möglichkeiten des Asylrechts (die Quelle ist zuvor genannt, recherchieren Sie!). Finden Sie einen Weg professionellen Handelns, der weder Loyalitäten gefährdet, noch rechtswidrig ist.
Die Perspektive der Organisation Wenn Sie sich vorstellen, dass eine Organisation zunächst ein abstraktes Gebilde ist, in dem Personen miteinander interagieren, dann versuchen Sie, diese Abstraktion womöglich zu schmälern, indem Sie eine Organisation mit einem Gebäude in Verbindung setzen. Und so wird aus einem Haus dann z. B. eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Und wenn sich Menschen über dieses Gebäude unterhalten, dann nennen Sie es vermutlich das BAMF, bezeichnen also das Gebäude als die Organisation, die es beherbergt. Wenn es nun darum geht, die Perspektive der Organisation einzunehmen, so ist schnell klar, dass ein Gebäude nicht in der Lage ist, einen Blickwinkel einzunehmen. Das Gebäude steht da und kann nichts. Es tut lediglich etwas, wofür es nichts kann, sondern gebaut wurde; so z. B. Platz für Büroräume zu bieten, diese durch eine Heizung zu wärmen etc. Aber was kann eine Organisation? Kann sie z. B. an etwas schuld sein? Gehen wir das am Beispiel eines Asylantrags durch. Angenommen, dieser wurde abgelehnt. Ist dann das BAMF daran schuld? Es geht hierbei nicht um die Frage, dass es Rechtsgrundlagen gibt und diese dann daran schuld sind, dass jemand aus einem bestimmten Land kein Asyl gewährt bekommt, das BAMF aber diese Gesetze nur anwendet und sie nicht selbst macht. Das ist 92
Organisationale und institutionelle Perspektiven
auch eine interessante Frage, sozusagen der Sache auf den Grund zu gehen. Aber hier geht es darum, ob eine Organisation schuldig werden kann? Sie kennen vielleicht den Ausspruch des Organisationsversagens? Was ist damit gemeint? Und vor allem, wer oder was? Eine Antwort auf diese Fragen kann uns Dietmar Vahs geben, der in der 9. Auflage seines Buches Organisation – Ein Lehr- und Managementbuch (2015) schreibt: »Jedes zielgerichtete Zusammenwirken von Teilen eines Ganzen beruht auf einer Ordnung. Ohne Ordnung herrscht Chaos24, was in der Übersetzung nichts anderes als totale Verwirrung oder Durcheinander bedeutet. Im Durcheinander lassen sich aber komplexe Aufgaben nicht systematisch und zielgerichtet bewältigen. Deshalb bedarf es einer entsprechenden Organisation, wobei unter ›Organisation‹ zunächst einmal der bewusste Entwurf von Regeln zu verstehen ist, die Gebilden, wie beispielsweise einem Unternehmen, eine Ordnung geben.« (S. 10)
Oder wie beispielsweise dem Gebilde des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Wieder die Bilder von 2015. Diesmal mit Menschen, die vor den Außenstellen des BAMF ausharrten, mitten in Deutschland dem Wetter ebenso schutzlos ausgesetzt waren, wie der Überforderung, dem Chaos in der Organisation. Mit Vahs (2015) können diese Ereignisse als Organisationsversagen dahingehend verstanden werden, dass es nicht mehr möglich war, die Ordnung herzustellen. Was dabei geschehen ist, ist leicht zu erklären. Grundsätzlich sind alle Organisationsbeteiligten, womit sowohl die Gebäude als auch die darin tätigen Menschen gemeint sind, in der Lage, Ordnung in Bezug auf Asyl herzustellen. Zumindest die Ordnung, die (verwaltungs-) rechtlich vorgesehen ist. Dies jedoch offenbar ausschließlich im Rahmen einer bestimmten Kapazität. Denn es leuchtet ein, dass ein Haus nur eine bestimmte Anzahl Menschen in sich aufnehmen kann. Und es leuchtet auch ein, dass jemand, der z. B. Sozialarbeiter im BAMF ist, nur eine begrenzte Anzahl von Aufgaben erledigen kann. In Organisationen der Art des BAMF stehen die Größe eines Hauses und die Zahl und Arbeitskapazitäten von dort Tätigen in einem Verhältnis, das zumindest so kalkuliert ist, dass es nicht mehr (z. B.) SozialarbeiterInnen gibt, als das Haus Personen aufnehmen kann, Büros bietet etc. Solange dieses Organisationsverhältnis proportional oder unterproportional zu jenen steht, die ein Anliegen vortragen, kann die Ordnung sichergestellt werden. Überproportionale Ereignisse wie die im 24 Hervorhebung im Original. Die institutionelle Logik der Organisation
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Jahr 2015 sorgen in Organisationen dafür, dass es egal ist, ob die Ordnung beibehalten oder aufgegeben wird. Beides führt ins Chaos. So gesehen kann an dieser Stelle nur dann von einem Organisationsversagen gesprochen werden, wenn die Unterproportionalität lange genug bekannt war, um gegensteuern zu können. Aus Sicht der Organisation war dies in Bezug auf das Beispiel der Ereignisse des Jahres 2015 nicht möglich. Aus Sicht der Organisation BAMF ist die Ordnung wieder hergestellt.
5.2 Irrtümer, Organisation und Handlungsoptionen Werden alle Perspektiven des letzten Unterpunktes zusammengetragen, ist leicht vorstellbar, dass es zu Irritationen und Irrtümern kommen kann. Jemand, der in ein Land einreist/flieht, wird organisationale Regeln (vgl. Vahs 2015) irritierend finden. SozialarbeiterInnen finden es womöglich grundsätzlich befremdlich, dass sie ein Berufsbild haben, mit dem sie sich sowohl anwaltschaftlich z. B. für AsylbewerberInnen einsetzen, als auch Anträge von diesen ablehnen. Und dann scheinen Organisationen nicht nur über ein eigenes Bewusstsein zu verfügen, sondern im Zweifel das letzte Wort zu haben. Beispielsweise könnte eine als Entscheiderin arbeitende Sozialarbeiterin sagen: »Ich würde den Antrag ja befürworten, aber die Organisation lässt es nicht zu.« Deshalb ist festzuhalten, dass die Einnahme von jeweils ausschließlich einer Perspektive Irrtümer in Serie provoziert. Was folgt daraus für Sie als SozialarbeiterIn? Wie oben beschrieben, arbeiten 94 % aller SozialarbeiterInnen in Organisationen. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch Sie in einer Organisation tätig sind oder sein werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt somit sehr hoch. Es ist daher an dieser Stelle des Buches unsere Pflicht, Sie auf die Irrtümer, die durch eindimensionale Betrachtungsweisen entstehen ebenso hinzuweisen, wie auf den zentralen Aspekt, dass mit der Systemtheorie nach Niklas Luhmann (1987) zunächst unterstellt werden kann, dass Organisationen ein eigenes Bewusstsein haben. Diese These ist mit Luhmann dahingehend zu begründen, dass in seiner Theorie Soziale Systeme (eine Organisation wie das BAMF wäre ein solches Soziales System) kommunizieren und Handlungen wie Beobachtungen und strukturelle Koppelungen vollziehen. So unkompliziert wie möglich: Wird das BAMF als Soziales System angenommen, so beobachtet es seine Umwelt auf für das eigene System relevante Ereignisse. Zu dieser Umwelt gehören dann in Bezug auf das BAMF Migrations-/Fluchtbewegungen. Erkennt das BAMF für sich eine Relevanz, 94
Organisationale und institutionelle Perspektiven
z. B. dass die Zahl der Menschen, die nach Deutschland kommen, um hier einen Asylantrag zu stellen, steigt, leitet das System BAMF aus dieser Information ab, dass es für das eigene System eine hohe Relevanz hat, die Kapazitäten (Gebäude, Mitarbeitende) temporär zu steigern, um die Ereignisse von 2015 zu vermeiden. Damit das alles gelingt, bedarf es eines zentralen Mittels, um solche, wie Luhmann es nennen würde, Operationen durchzuführen. Dieses Mittel ist die oben genannte Kommunikation, respektive das Kommunizieren. (vgl. Luhmann 1987)
In den meisten Curricula von Sozialarbeitsstudiengängen ist vorgesehen, sich mit der Systemtheorie in ihren Facetten und speziell nach Niklas Luhmann auseinanderzusetzen. Sollten Sie dies schon getan haben, überprüfen Sie Ihr diesbezügliches Wissen bitte auf die Frage, welche Bedeutung der Mensch in der Systemtheorie hat. Wenn Sie diese Theorie erst lernen, seien Sie von vornherein kritisch mit Hilfe der Frage.
Es ist wichtig zu beachten: Die Ideen und Organisationsbeschreibungen, die mit der Systemtheorie einhergehen, erklären viele Phänomene. Darunter würde auch der Satz fallen, den in unserem fiktiven Beispiel die Sozialarbeiterin aus dem BAMF ausspricht: »Ich würde den Antrag ja befürworten, aber die Organisation lässt es nicht zu.« Sie müssen für sich entscheiden, ob Sie die Systemtheorie, die streng genommen ohne Menschen auskommt, weil diese immer Umwelt eines Systems sind, nicht »nur« nutzen, um solche Phänomene zu erklären, oder ob Ihnen durch die damit einhergehenden Erkenntnisse nicht jedes Mal bewusst werden sollte, dass eine Organisation letztlich aus Menschen (zugegeben oft in einem Gebäude) besteht. Und dass die organisationale Antwort auf Herausforderungen wie Asyl immer global angelegt sein muss, es aber in letzter Konsequenz immer um einen einzelnen Menschen geht. Hier müssen Sie jedoch aufpassen, dass Sie nicht umgekehrt global werden, indem sie jeden Einzelfall zum Gegenentwurf z. B. der Organisation des BAMF machen, indem Sie gesinnungsethisch (Ott 2016, S. 18 ff.), also ohne Berücksichtigung z. B. organisatorischer und/oder gesamtgesellschaftlicher Handlungsbedarfe, jeden Antrag für gerechtfertigt halten. Vielmehr geht es darum, sich selbst als Teil einer Organisation zu verstehen, was natürlich mit Einschränkungen einhergeht. Dass Sie jedoch innerhalb dieser EinIrrtümer, Organisation und Handlungsoptionen
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schränkungen nicht noch kleiner agieren, ist Ihre Verantwortung als selbstdenkender und Organisation reflektierender Mensch, der die Profession der Sozialen Arbeit ausübt.
Sofern Sie dort nicht beschäftigt sind, stellen Sie sich bitte vor, dass Sie mit asylsuchenden Menschen arbeiten, die in Deutschland bleiben wollen. Ihr gesetzlich und somit auch organisational gegebener Auftrag besteht darin, dass Sie die Menschen bei ihrer Integration unterstützen sollen. Als professionelle/r SozialarbeiterIn ist Ihnen diesbezüglich bewusst, dass Integration Teilhabe voraussetzt. Sie agieren also nach dem Motto: Integration durch Teilhabe. Bitte reflektieren sie folgende Fragen: –– Welche Organisationen fallen Ihnen ein, die mit dieser Aufgabe beschäftigt sind? Versuchen Sie einmal, sie nach ihren Handlungsaufträgen zu ordnen! –– Was bedeutet Integration durch Teilhabe für Menschen in den unterschiedlich möglichen Bleiberechten (Geduldet, von Abschiebung bedroht etc.)? –– Und was sind gesellschaftliche Bereiche, an denen es teilzuhaben gilt, um Integration zu ermöglichen? –– … Bitte nehmen Sie Ihre Gedanken und Notizen mit in das nächste Kapitel. Sie werden Sie dort weiter schärfen.
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Organisationale und institutionelle Perspektiven
6
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Im vorletzten Kapitel (→ Kap. 4) ging es um die unterschiedlichen Konzepte von Assimilation, Integration und Inklusion. Sie können sicher die Unterschiede schnell für sich memorieren. Im letzten Kapitel (→ Kap. 5) ging es um Institutionen und Menschen in Organisationen. Auch hier memorieren Sie für sich kurz Ihre wesentlichen Erkenntnisse. Indem Sie das tun, beobachten Sie, welche Bilder der Größen, AkteurInnen bzw. Instanzen des gesellschaftlichen Raumes in Ihnen entstehen, um die es bei diesen Konzepten auf unterschiedliche Weise geht: Wer macht was (nicht)? Wer ist wie woran beteiligt, wofür verantwortlich oder ausgeschlossen und von was? So oder so werden Verknüpfungen zwischen noch nicht Assimilierten, Integrierten oder Inkludierten und den sozialen Räumen, Strukturen, Instanzen um sie herum, ja, vom Bild der Gesellschaft mit ihren Institutionen und Organisationen insgesamt entstanden sein. Offensichtlich versteht es sich nicht von selbst, an allen Dimensionen des Lebens bzw. den Lebensbereichen, die zu einem Leben unvermeidlich dazuzugehören, auch aktiv mitgestaltend und mitbestimmend teilzuhaben. Welche Bereiche sind das? Welche müssten es sein?
Beschreiben oder skizzieren Sie Ihr Ideal- oder Realbild von Gesellschaft: Welche Lebensbereiche bzw. Lebensdimensionen, vielleicht auch: Welche Institutionen und Organisationen insgesamt gehören zur Gesellschaft, wie Sie sie sich vorstellen, dazu?
Oft werden hier Politik, Wirtschaft, Soziales, Kultur usw. als Institutionen mit jeweils vielfältigen Organisationen genannt. Was gerät aus dem Blick? Welche Bereiche bzw. Organiationen werden unterschätzt? 97
Die uns bekannten Sozialgesetze, die UN-Behindertenrechtskonvention und z. B. die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF; Verfügbar unter: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/, Zugriff am 13.12.2017; vgl. Schuntermann 2009) zählen jeweils unterschiedliche Lebensbereiche auf, an denen die Menschen allgemein bzw. deutsche Bürgerinnen und Bürger das Recht auf Teilhabe haben: ein Recht, das es ihnen erlaubt, Unterstützung einzufordern und finanziert zu bekommen, um nicht nur einen Rechtstitel zu haben, sondern diesen auch in konkreten Formen und Prozessen der Teilhabe verwirklichen zu können. Denn die Teilhabe an den unterschiedlichen Lebensbereichen gehorcht in der Regel unterschiedlichen Gesetzen und Regeln und hat unterschiedliche Voraussetzungen. Manchen muss man sich fügen (Steuerrecht!) – manche sind nur unter sehr speziellen Voraussetzungen erreichbar (Golf-Club, Rotary u. a.), bei wieder anderen ist die Teilhabe nett, aber nicht nötig usw. Um dies genauer zu klären, werden wir in diesem Kapitel die Perspektive in zwei Richtungen erweitern: zum einen soziologisch und zum anderen historisch. Denn wenn soziologisch im Blick auf MigrantInnen von Ausschluss, von Assimilation, Integration oder Inklusion die Rede ist, muss nicht nur gefragt werden, wovon und wodurch jemand ausgeschlossen wird bzw. an was er oder sie sich anpassen, sondern auch, wohinein sich jemand integrieren muss bzw. in welchem Gesamtrahmen Inklusion vorzustellen ist. Wir fassen dies unter den Begriff des »Raums möglicher Teilhabe« (6.1). Wer aber als Migrant oder Migrantin woran teilhaben konnte oder durfte bzw. nicht, das ist in unserem Land im Lauf der Geschichte einem erstaunlichen Wandel unterworfen gewesen, der heute nur noch wenigen bewusst ist (6.2). Sich diesen Wandel an ausgewählten Beispielen zu vergegenwärtigen, weitet den Blick auf andere Optionen und Entscheidungen als die, die heute im Blick auf MigrantInnen selbstverständlich und unhinterfragt gelten.
6.1 Soziologische Erweiterungen der Perspektive Persönlicher Zugang
Denken Sie zurück an Ihre Vergangenheit: Der Besuch der Kita war noch freiwillig, aber in die Schule mussten Sie, ob Sie wollten oder nicht: War Ihnen das bewusst? Im Ernstfall sorgt sogar die Polizei dafür, dass Sie hingehen. Gleichzeitig wurde Ihnen mit der Zeit deutlich, dass es zum Teil auch von Ihnen und Ihren Leistungen abhing, ob Sie die Schule wechseln (»down graden«) oder verlassen mussten, ob Sie mit Ihrem Abschlusszeugnis eine 98
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
wirksame Eintrittskarte in ein Studium Ihrer Wahl hatten oder nicht, ob es für eine Lehre reichte oder nicht usw.
Frank Dieckbreder und Thomas Zippert haben ein Schaubild entwickelt (→ Abb. 6), das unsere Überlegungen zusammenfasst (vgl. Zippert u. a. [2016], S. 96–119; 286; Grafik S. 102). –– Was fällt Ihnen mit Blick auf sich selbst auf? –– Entwickeln Sie empathische Hypothesen, wie sich unterschiedliche Gruppen von Migrantinnen und Migranten hier verorten würden!
passive Rollen: Rechtsperson Flüchtling, Gefangener, Entrechteter u. a. aktive Rollen: Politiker, Richter, Wähler/Bürger, Meinungsäußerer (»Protestant«) u. a.
Ort: Schule, Hochschule, Akademie
passive Rolle: Schüler, Kita-Kind aktive Rolle: Erzieher/innen
transnationale Verbindungen
Ort: Laden, Fabrik, Klinik
Ort: Haus, Wohnung, Hinterhof, …
RELIGION
passive Rollen: Schüler, Lehrling, Studentin, Fort-/ Weiterbildungsteiln. aktive Rollen: Lehrer, Experte, Forscherin, Peer
KULTUR
Ort: Cafés, Arenen, Demo Marktplatz, Vereine
passive Rollen: Konsument, Teilsystem Gesundheit: Patientin. aktive Rollen: Teilhaber, Unternehmer, Arbeiter Teilsystem Gesundheit: Arzt, Pflege
aufgrund des geringen Differenzierungsgrads aktiv-passive Rollen als Kinder-Eltern-Großeltern-Verwandte, auch Freunde und »gute Nachbarn«
PRIVATSPHÄRE
passive Rollen: Zuschauer, Flaneure, Festteilnehmer, Vereinsmitglieder aktive Rollen: Organisatoren, Initianden
Infrastruktur/Medien
FREIZEIT BILDUNG
ERZIEHUNG
Gesamtgesellschaft/Sozialität
Ort: Rathaus, Amt, Gericht
passive Rolle: Patientin aktive Rolle: Arzt/Ärztin, Pflegefachkraft
ÖKONOMIE
GESUNDHEIT
passive Rolle: Angeklagter u. a. aktive Rolle: Richter, Rechtsanwalt
POLITIK
RECHT
Umwelt/Ökologie
passive Rollen: Gläubige, Laien, (Leser/Zuschauer) aktive Rollen: Priester/ Pfarrer, (Künstler, Virtuosen, Stars) Ort: Kirche, Kino, Theater (← TV/Medien?, vgl. Medien)
nicht dem Gesamtsystem zurechenbarer Rückzugsraum
internationale/ökumenische Verbindungen
passive Rolle: Zuschauer/Zuhörerin aktive Rolle: Künstler, Virtuosin
© Zippert/Dieckbreder Stand: Juni 2016
Abb. 6: Raum möglicher Teilhabe (vgl. Zippert 2016, S. 102) Soziologische Erweiterungen der Perspektive
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Sie werden gemerkt haben: Als erwachsener Mensch kann man es an fast keinem Tag vermeiden, an diesen Lebensbereichen nicht teilzuhaben: Sie wachen (hoffentlich) in Ihrem Bett in Ihrer Privatsphäre auf. Sie stehen auf und waschen sich: Dass Wasser in Ihr Haus bzw. aus dem Wasserhahn kommt, ist enorm voraussetzungsreich. Regelmäßig erwartbar ist dies bei uns in den Städten erst seit 150 Jahren – auf dem Land dauerte es deutlich länger, in anderen Weltteilen stehen jetzt noch mühsame, kilometerlange Wege zum Brunnen an. In Deutschland gehört die Bereitstellung des Wassers durch das Wasserwerk zum System der Politik, andere Länder haben dies kommerzialisiert. Möglicherweise denken Sie: »Was bringt mir dieser Tag? Was ist meine Aufgabe? Wer bin ich für mich – wer für die anderen?« Mit solchen Fragen sind Sie mitten im System Religion, in dem es um Ihre Vision des Lebens, Ihre Weltanschauung, Ihre Lebensziele und Ressourcen geht, mit Krisen umzugehen (die Psychologie nennt das heute auch »Kohärenzsinn«). Sie frühstücken – und um das zu können, müssen Sie arbeiten oder von anderen Geld bekommen, um am System Wirtschaft als Kunde eines Lebensmittelgeschäfts teilhaben zu können. Falls Sie eine Tablette verschrieben bekommen haben und einnehmen, sind Sie als PatientIn eines Arztes oder einer Ärztin schon fest im System Gesundheit verankert. Auch was und wie Sie essen, hält Sie möglicherweise gesund oder steigert Ihren Cholesterin. Unsere Lebensweisen, also ob wir Sport treiben oder zum beruflichen Stress keinen Ausgleich finden, haben Einfluss auf das System Gesundheit, das wir als ein großes System voraussetzen, und das für viele meist im Hintergrund funktioniert, es sei denn, man arbeitet dort oder wird mit einem Beinbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Vielleicht hören Sie Radio, sehen TV, checken Ihre Social Media, lesen Zeitung – damit haben Sie Teil an den medialen Infrastrukturen der Gesellschaft: den Radio- und TV-»Kanälen«, den Telefon- oder DSL-Leitungen, die Nachrichten, Mitteilungen, Bilder zu Ihnen ins Haus bringen oder bei schlechter Netzabdeckung eben nicht oder nur sehr langsam. Wenn Sie dann das Haus verlassen, stoßen Sie (wie schon bei Wasser und Strom) auf weitere, jetzt eher materiale Infrastrukturen Ihrer Stadt oder Ihres Dorfes. Sie müssen sich den Regeln des Straßenverkehrs beugen (System Recht) oder sich des öffentlichen Personennahverkehrs bedienen, um von A nach B zu kommen (System Politik/Wirtschaft), z. B. … … zur Arbeit (System Wirtschaft) oder in die Hochschule, wo sie studieren (System Bildung) – das System der Erziehung glauben Sie als junge 100
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Erwachsene hinter sich gelassen zu haben. Da liegen Sie falsch: Sie werden es nicht erst als Eltern mit gemischter Freude wiederentdecken; Sie werden im System Gesundheit Adressat einer Psychoedukation oder Sie werden Opfer einer Verkehrserziehung, falls Sie ein Polizist mal herauswinkt, weil Sie glaubten, die Ampel gilt für Sie als RadfahrerIn nicht, oder weil Sie vergessen haben, die Änderung der Fahrtrichtung anzuzeigen. In der Pause treffen Sie sich mit Freunden und verabreden sich für den Abend in den Biergarten, zu einer »Demo gegen Rechts« (oder Links oder die spießige Mitte), besuchen vorher noch eine »Muckibude« oder den Sportverein oder eine Kurzandacht einer Kirche am Straßenrand (oder Sie handeln das zwischen sich und Gott direkt ab) – so oder so: Sie bewegen sich im weiten Feld der Zivilgesellschaft, die sich aber regelmäßig auf andere Felder bezieht: Sport soll die Gesundheit fördern, Demos die Politik beeinflussen, die Andacht oder Ihr Stoßgebet (»Ach du lieber Gott!«) Ihre Seele erleichtern und ein Biergartenbesuch die örtliche Brauwirtschaft ebenso ankurbeln wie Ihre Sozialkontakte vertiefen. Aber in diesem Feld der Freizeit bzw. der Zivilgesellschaft ist alles freiwillig und die Teilhabe vollständig Ihre Entscheidung – mit der einen Einschränkung: Haben Sie die nötigen Finanzmittel? Vielleicht gehen Sie auch noch ins Kino, ins Theater oder ins Konzert, in eine Ausstellung oder Sie lesen ein Buch – dann haben Sie explizit am Lebensbereich der Kultur teilgenommen, der natürlich auf Medien angewiesen ist. Kultur ist aber nicht auf bestimmte Lebensbereiche, Orte oder Organisationen beschränkt, denn Teilhabe am System Kultur wie an dem der Religion geschieht auch schon indirekt, indem Sie sich einer bestimmten (Landes-)Sprache bedienen und mit dieser Sprache Ideen ausdrücken oder auch nicht so gut ausdrücken und sich mitteilen können.
Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Felder, die sich diesen Oberbegriffen nicht oder nicht eindeutig zuordnen lassen?
Wissenschaftlicher Zugang: Was ist Teilhabe? Wie wird Teilhabe gedacht?
Dieser leicht heitere Gang durch die Lebensbereiche hat ernste Hintergründe und eine ganze Reihe theoretischer Begründungen. Sie finden solche Kataloge von Lebensbereichen in den Sozialgesetzbüchern, in der UN-Behindertenkonvention, in den Inklusionsleitfäden. Begründungen, in wie Soziologische Erweiterungen der Perspektive
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viele Lebensbereiche man Gesellschaft aufteilen könnte, liefern nicht nur die Soziologie und die Politikwissenschaft. Seit biblischen Zeiten (aber da natürlich für deren jeweilige Gegenwarten) tun dies auch Philosophie und Theologie. Letztere versucht, die biblischen Kategorien im Blick auf die Gegenwart und im Dialog mit den Fachwissenschaften weiterzuentwickeln. Luhmann und Herms
Der Soziologe Niklas Luhmann hat in umfangreichen Werken die wohl umfassendste Analyse der Gesellschaft, ihrer Teilsysteme und Entwicklungsdynamiken (»Ausdifferenzierung«) vorgelegt (Luhmann 1987). Der Theologe Dierk Starnitzke hat diese Thesen und Kategorien auf die Diakonie angewendet (Starnitzke 1996 und 2016). Über Niklas Luhmann hinaus greift der Theologe und Sozialethiker Eilert Herms Ideen des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher auf (Herms 1991). Anders als Luhmann und Starnitzke versteht Herms die Teilsysteme der modernen Gesellschaft(en) nicht nur als Systeme im Sinne der Systemtheorie, sondern auch als Lebensbereiche, in denen Organisationen die systemspezifischen Leistungen für die anderen Teilsysteme bzw. einzelne Menschen erbringen. Er weist, wie auch Schleiermacher, nach, dass diese Lebensbereiche zum Leben des Menschen qua Menschsein dazugehören und sich aus einem spezifischen Verständnis des Menschen und seiner Umweltrelationen begründen lassen. Frank Dieckbreder und Thomas Zippert haben die beiden Ansätze von Luhmann und Herms in zwei Richtungen weitergedacht: a) durch Erweiterung der Grundbereiche bzw. Systeme und b) durch Hinzufügen zweier neuer Lebensbereiche. (a) Den Ausdifferenzierungsdynamiken und -tendenzen Rechnung tragend, haben wir die vier Grundbereiche nach Herms (Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur/Religion) sozusagen mit jeweils einem in der Grundfunktion sehr ähnlichen, in der Durchführung aber anders operierenden Lebensbereich bzw. System hinterlegt bzw. erweitert (→ Abb. 6): Das System Recht ist zwar seit den früheren Staatstheoretikern wie Montesquieu eine der Gewalten im System Politik, funktioniert aber nach eigener Logik (Recht, nicht Macht). Sowohl das System Wirtschaft wie das der Gesundheit dienen auf unterschiedliche Weise aber beide dem Lebenserhalt, und haben vollkommen unterschiedliche Organisationslogiken entwickelt. Kultur und Religion können jeweils als Teilmenge der anderen verstanden werden (Koval/Zippert 2016): Beide pflegen den Bereich der jeder Handlung vorausliegenden Weltanschauung, des Lebensstils bzw. dessen, wonach 102
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
wir faktisch unser Handeln ausrichten. Freilich funktionieren die verfassten Religionen anders als die Kunst mit ihren unterschiedlichen Medien (Bild, Ton, Skulptur usw.) und den dazugehörigen Orten der Kommunikation. Bildung und Erziehung kann man nur im deutschen Sprachgebrauch gut trennen: Erziehung meint die absichtliche Willensbeeinflussung von Menschen, Bildung hingegen hebt ab auf die offenen Prozesse des selbstgesteuerten bzw. gegenseitigen Beeinflussens (Selbst-/Fremdbildung). (b) Wir haben darüber hinaus zwei eigenständige Lebensbereiche hinzugefügt bzw. wieder aufgegriffen, die nicht streng organisational oder systemisch verfasst sind, aber in der Sozialen Arbeit und ihrer Theoriebildung eine große Rolle spielen. Schleiermacher notierte sie noch als das alle gesellschaftlichen Funktionen in sich abbildende Familiensystem und statt Bildung die freie Geselligkeit. Den ersten Bereich, das Familiensystem, haben wir erweitert zur Privatsphäre, die natürlich auch Raum für Familie sein kann, aber nicht immer muss. Auch der Freundeskreis und ggf. die Nachbarschaften der Menschen, also das, was im engeren Sinn als seine Lebenswelt gelten kann, rechnen wir hier zu. Wir greifen Anregungen aus der Lebenswelttheorie nach Hans Thiersch (2014) auf, der sich wieder auf die Theorie des kommunikativen Handelns nach Jürgen Habermas (1981) bezieht; dieser Lebensbereich ist auch der Bereich nicht organisational vermittelter direkter Interaktion zwischen Menschen. Den zweiten spitzen wir zu als Zivilgesellschaft, die andere AutorInnen den »Dritten Sektor« der Gesellschaft nennen (Dörner 2012; Hofmann/ Coenen-Marx 2017, Freiwilligensurvey 2016). Hier geht es nicht um notwendige und unvermeidliche Funktionen der Gesellschaft, an denen teilzuhaben man nicht wirklich vermeiden kann (wie wir oben beim Gang durch den Tag aufzuzeigen versucht haben), sondern um freiwillige Teilhabe, um das Ausleben, Gestalten und Kooperieren bei den Dingen, die das Leben schön oder interessant oder sozial gestalten, wie z. B. Hobbys, Sport, Vereine, Selbsthilfegruppen, Initiativen usw. Sie sind freiwillig, in dauernder Entwicklung und offen in ihrer jeweiligen Gestalt, also durchaus beliebig und (bis auf die Regeln zum Vereinsrecht) nicht staatlich reglementiert oder erzwungen. Dass es solche freiwillige, ja beliebige oder spielerische Teilhabe gibt, das scheint uns notwendig zum menschlichen Leben in unserer gegenwärtigen Situation dazuzugehören. Wie notwendig dieser Sektor war, zeigte sich z. B. in der hohen Bereitschaft vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger, die mithalfen, die große Zahl von geflohenen Menschen im Jahr 2015/16 willkomSoziologische Erweiterungen der Perspektive
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men zu heißen, sie zu unterstützen, ja sie in ihre Häuser und Familien aufzunehmen. Bisweilen übernehmen sie für die Gesellschaft im wörtlichen Sinn »Not-wendige« Funktionen, wie beim Roten Kreuz, bei den freiwilligen Feuerwehren oder einer der anderen Hilfsorganisationen. Schon die im engeren Sinn systemische Betrachtungsweise dieser Felder führte Luhmann zu der Erkenntnis, dass sich ein System unvermeidlich von seiner Umwelt durch seine Funktion, seinen Auftrag bzw. seine spezifischen Kommunikationen samt dem dazugehörigen Medium unterscheidet. Auf diese Weise baut es Grenzen auf – freilich solche, die unter bestimmten Bedingungen durchlässig für die Umwelt sind. Erst recht gilt das für die Organisationen, in denen sich der Auftrag bzw. Teilleistungen der Systeme verdichtet haben. Schon Herms wies mehrfach darauf hin, dass sich systemische Kommunikationen in Organisationen verstetigen, verwirklichen und so auch Machtverhältnisse schaffen (Herms 1991). Ohne Pass (oder Äquivalent) kann man in der Regel eine Grenze nicht passieren (abgesehen vom Schengen-Raum) – ohne Geld (Papier oder Karte) nicht einkaufen bzw. Arbeitnehmer entlohnen, ohne Hochschulreife (oder Äquivalente) nicht studieren, ohne Taufe nicht Kirchenmitglied sein usw. Weil die Zugehörigkeit zu einer Organisation oder einem Lebensbereich an Bedingungen geknüpft ist, erzeugt die Inklusion der einen automatisch die Exklusion der anderen. Exklusion in einem Bereich hat übrigens oft auch Exklusion in anderen Bereichen zur Folge: ohne Schulabschluss keine Lehre, dann auch keine Arbeit und kein Geld für Hobbys (vgl. Liedke/Wagner 2016, S. 14 ff.). Dialektisch hat Luhmann diese Argumentation auch umgekehrt: Wer aufgrund bestimmter Bedingungen keinen Zugang zu einem Lebensbereich bzw. einer ihrer Organisationen hat, zu dem hat diese Organisation in diesem Moment ein ihn in dieser Außenseiterrolle festlegendes Inklusionsverhältnis aufgebaut (exkludierende Inklusion). AsylbewerberInnen – erst recht abgelehnte, aber geduldete – leben in dieser höchst unkomfortablen Lage durch Zuschreibung eines Status, dazuzugehören und doch nicht dazuzugehören. Zu früheren Zeiten hatten Hofnarr und Dorfdepp eine ähnliche Funktion: In ihrer Außenseiterrolle gehörten sie dazu und doch nicht dazu. Diese systemischen bzw. organisationalen Mechanismen stellen nun kein Naturgesetz dar, funktionieren aber sehr hart und zuverlässig. Eine barrierefreie, alle Menschen in alle Lebensbereiche gleichermaßen inkludierende Gesellschaft mit ihrem ausdifferenzierten Apparat an Organisationen ist unter diesen Voraussetzungen weder denkbar noch wünschbar. Wie aber 104
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
kann Zugehörigkeit bzw. Durchlässigkeit der systemisch wie organisational gesetzten Grenzen gefördert werden?
Wenn ein Staat die Grenzen, z. B. für Flüchtlinge, die vor ihnen liegen, öffnet, hebt er dann sich selbst auf, weil Grenzen für einen Staat nun einmal konstitutiv sind? Welche Alternativen neben der Schließung der Grenzen gibt es Ihrer Meinung nach für das politische System? Welche Vor- und Nachteile hat die für eine Bürokratie unverzichtbare Pflicht zu kontrollieren, wer in ein Land eintritt? Sind Ihnen aus anderen Ländern oder Zeiten Beispiele bekannt?
Liedke/Wagner und Rosa
In jüngster Zeit sind zwei Theorien erschienen, die sich genauer der Entfaltung dessen, was Teilhabe sein könnte, widmen. Ulf Liedke und Harald Wagner unterscheiden zunächst wie die Systemtheorie nach Luhmann drei Inklusionsebenen: die direkt zwischenmenschliche Interaktion, die indirekte Inklusion in Organisationen und die Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft. Darüber hinaus unterscheiden sie mit Axel Honneth drei »qualitative Formen der Anerkennung«, nämlich die »Anerkennungssphären Liebe, Recht und soziale Wertschatzung […] als Grunddimensionen sozialer Integration«, die sie dann »sozio-emotional«, »sozial-strukturell« und »sozial-ethisch« nennen (vgl. Liedke/Wagner 2016, S. 33). Im Jahr 2016 hat der Soziologe Hartmut Rosa unter dem Titel Resonanz die bisher umfassendste und viel diskutierte »Theorie der Weltbeziehungen« vorgelegt. Er legt vollkommen zu Recht die körperlichen Formen der Weltbeziehung zu Grunde: Atmen, Essen, Trinken, Stimme und Blick (also die Sinne), Bewegung im Raum, »Lachen, Weinen, Lieben« (und auch andere Ge-fühle bzw. Af-fekte unseres inneren Erlebens und Fühlens durch etwas von Außen). Von dieser körperlich grundierten Weltbeziehung unterscheidet er dann drei Resonanzachsen, die insgesamt einen sehr weiten Raum von Weltbeziehungen aufspannen, an denen Menschen teilhaben können: ȤȤ horizontal: Familie, Freundschaft, Politik; ȤȤ diagonal: Objektbeziehungen, Arbeit, Schule, Sport, Konsum; ȤȤ vertikal: Religion, Natur, Kunst, Geschichte. Soziologische Erweiterungen der Perspektive
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Die drei Richtungen kann man so unterscheiden, muss man aber nicht. Er selbst relativiert sie als »Heuristik« (Rosa 2016, S. 339 f.; sprich: als vorläufige Theorie, die gleichwohl interessante Gedanken bzw. Schlussfolgerungen zu finden erlaubt; vom griechischen Wort heurísko = finden), da diagonale und vertikale Resonanzachsen sich nicht nur auf zugrunde liegende »Stoffe« der Bearbeitung oder ihrer Symbole beziehen, sondern in ihren organisierten Formen mindestens so stark auch horizontale Resonanzen zwischen allen Beteiligten erfordern bzw. ja schon einschließen. Vor allem dann sollte es so sein, wenn es wie bei der Arbeit in Dienstleistungsberufen nicht um die Bearbeitung von Stoffen oder Materialien, sondern um die Gestaltung von Beziehungen zu Menschen geht. Alle diese wie auch unser Modell sind also nicht abschließend fertig; sie sind im Fluss und heuristisch zu verstehen, um eine möglichst umfassende und differenzierte Vorstellung vom Raum möglicher Teilhabe zu gewinnen. Unser Modell nimmt gegenüber diesen anderen Modellen sehr betont in den Blick, dass Teilhabe an Systemen und Organisationen immer auch mit der Vergabe und der Gestaltung von eher aktiven bzw. eher passiv-nutzenden Rollen zu tun hat und damit auch mit dem Phänomen von Macht bzw. sogar Gewalt. Der Macht, Rollen zu verteilen (als Steuerzahler, Häftling, Wehrdienstleistender – zumindest früher), steht dann auf den ersten Blick nur die Ohnmacht gegenüber, dies hinzunehmen; auf den zweiten fällt auf, dass auch diese Rolle innerlich bzw. organisational gestaltbar ist, da jede Macht ja nicht nur deshalb besteht, weil sie durch Sanktionsandrohungen und Gewalt durchgesetzt wird, sondern auch, weil sie anerkannt, geglaubt und durch Unterwürfigkeit (zumindest äußerlich) akzeptiert wird. Macht ist keine Eigenschaft, sondern eine Relation, eine Beziehung, in der Machtanteile asymmetrisch verteilt sind. Wenn man das so beurteilt, werden natürlich auch Umkehrungen dieser Machtverhältnisse denkbar und dann bei entsprechendem Mut bzw. Ermutigung (Empowerment durch wen und von wem auch immer) auch erlebbar. Nur mit Hilfe eines solchen umfassenden Begriffs oder – vorsichtiger formuliert – eines Bildes oder Konzepts kann verhindert werden, Zugehörigkeit, Partizipation und Teilhabe nicht zu kurz und zu klein zu denken. Das führt dazu, dass nicht nur absichtlich und – von wem auch immer gewollt – explizit Ausschluss betrieben und vollzogen wird, sondern auch unbewusste und implizite Ausschlusstendenzen aufgedeckt werden bzw. Teilhabedimensionen, die für Menschen wesentlich bzw. notwendig sind, aus dem Blick geraten und deshalb nicht eröffnet bzw. unterstützt werden können. 106
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Stellen Sie sich – am besten auf eine Ihnen gefallende Weise grafisch – den Menschen als bio-psycho-sozial-ökologisches-spirituelles Wesen in der Fülle und Vielfalt seiner Welt- und Umweltbeziehungen einschließlich der unterschiedlichen Formen von Teilhabe (interaktional, organisational, ästhetisch, körperlich, rechtlich, aktiv und passiv usw.) vor und versuchen Sie für sich in diesem Bild die folgenden Begriffe zu verorten: –– Teilhabe bzw. Partizipation –– Ausschluss/Exklusion bzw. Inklusion –– Integration –– Gemeinwesen und Sozialraum –– Selbstbestimmung und Fremdbestimmung –– Empowerment.
6.2 Historische Erweiterungen der Perspektive In einer kurzen Skizze der Migrationsgeschichte Deutschlands wenden wir die in → Kap. 6.1 entwickelten Kategorien aus Gründen der Anschaulichkeit auf drei Beispiele an, die wir ausführlicher darstellen: ȤȤ auf eine Hugenottin, deren Eltern um ca. 1685 aus Frankreich fliehen und in Nordhessen Aufnahme finden (→ Kap. 6.2.4), ȤȤ auf eine Vertriebene, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland ankommt (→ Kap. 6.2.6), ȤȤ um dies dann in Ansätzen mit der Situation eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings heute zu vergleichen (→ Kap. 6.2.8). Diese geschichtliche Erweiterung der Perspektive, die alle Migrationen in den Blick nimmt, ist nötig, denn oft verstellt die öffentliche Fixierung auf die aktuelle »Flüchtlingswelle« den Blick darauf, dass Migration keine Erscheinung der letzten Jahre ist, sondern ein allgemein menschliches Phänomen, seit die ersten Menschen vor 100 000 oder 120 000 Jahren aus Afrika aufbrachen. Sie waren zunächst alle Nomaden, die sich hier und dort für eine Weile niederließen, bevor erst in der Jungsteinzeit vor etwa 5000 Jahren im Nahen Osten die ersten Städte gegründet wurden. Diese Städte erzeugen seit ihrer Entstehung bis heute immer neue Schübe von Wanderungen vom Land in die Stadt (seltener umgekehrt). Dazu kommen Migrationen aus anderen »Beweg-Gründen«. Historische Erweiterungen der Perspektive
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6.2.1 Persönlicher Zugang Bevor wir uns das für die deutsche Neuzeit genauer anschauen, bitten wir Sie, Ihr geschichtliches, regionales oder familiales Vorwissen zu prüfen:
1. Von welchen Einwanderungen nach Deutschland wissen Sie und woher wissen Sie das? Was erinnert an diese Einwanderungen noch heute? 2. Von welchen Auswanderungen aus Deutschland wissen Sie? 3. Kennen Sie andere Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands? 4. Nennen Sie einige Märchen, in denen Menschen aus ihrer Heimat aufbrechen und ihr Glück suchen (z. B. die Bremer Stadtmusikanten, Hans im Glück) oder als arme Wanderer bzw. entlassenen Soldaten durch die Welt ziehen. 5. Identifizieren Sie in der Bibel wichtige Wanderungen, die für das Selbstverständnis von Juden und Christen große Bedeutung erlangten; informieren Sie sich über die Lexikon-Stichwörter »Exodus«, »babylonisches Exil«, »wanderndes Gottesvolk« – schauen Sie auch nach, um welche Migrationen es sich in Gen./1. Mose, Kp. 4; 12 und 37–50 handelt!
Sie werden entdeckt haben, dass es eine ganze Reihe von Ein- und Auswanderungsgruppen oder -schüben gab, dass Migration zum Alltag schon der Vergangenheit gehörte. Einen Teil dieser Migrationen werden wir in dieser Skizze erwähnen. Wenn die von Ihnen genannten Gruppen nicht darunter sind, dann haben Sie möglicherweise nicht nur eine Lücke entdeckt, wie es in einem solchen kleinen Lehrbuch unvermeidlich ist, sondern vielleicht auch eine Forschungsaufgabe gefunden. Dieses Feld lebt von lokalgeschichtlichen Forschungsinitiativen, z. B. im Umfeld von Kriegsgefangenenlagern, Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Dazu gehören auch Siedlungen zur Aufnahme von Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (z. B. Trutzhain, Espelkamp, Neu-Gablonz) oder Städte, die von alten Migrationen, z. B. der Hugenotten, zeugen (Bad Karlshafen; aber auch Friedrichstadt in Holstein, Altona, Hanau, Emden, Erlangen u. a.).
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Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Gruppenaufgabe: Sie können die Vieldimensionalität von Migration an sich selbst überprüfen, wenn Sie sich als Gruppe von Studierenden so im Seminarraum aufstellen, dass Sie mit Ihrem Standort Ihren eigenen Geburtsort auf einer imaginären Europa- oder Weltkarte markieren. Sie werden wahrscheinlich feststellen, dass sich sehr viele Mitstudierende in der Mitte des Raums aufhalten. In der nächsten Runde gehen Sie dorthin, wo der Geburtsort desjenigen Elternteils von Ihnen liegt, der weiter weg geboren wurde. Dasselbe wiederholen Sie für Ihre Großelterngeneration: Sie nehmen den Ort desjenigen Großelternteils ein, der am weitesten entfernt geboren wurde. Was stellen Sie fest?
Sie werden vermutlich feststellen, dass auch in Ihrer Familiengeschichte Migration vorkommt – in welchem Sinn und auf welche Weise auch immer. Dass es nicht nur in Ihrer Familie so ist, werden Ihnen die Mitstudierenden erzählen können. 6.2.2 Systematisierungsversuche zur Migrationsgeschichte In den letzten zehn bis zwanzig Jahren hat die Erforschung von Migration einen enormen Aufschwung genommen. Die von K. J. Bade entworfene »interdisziplinär orientierte Historische Migrationsforschung« versteht »Migration als multidimensionalen und multikausalen Sozial- und Kulturprozess, als ein Phänomen mit unterschiedlichen Hintergründen, Erscheinungsformen und Bewegungsmustern« (Oltmer 2016, S. 61 f.). Sie widmet sich sowohl den großräumigen wie den kleinräumigeren Wanderungsbewegungen, sowohl denen, die auf dauerhafte Niederlassung abzielen, als auch zeitlich befristeten bzw. zirkulären Aufenthalten. Bei diesem multifaktoriellen und multiperspektivischen Ansatz geht es auch um die bleibenden Wechselwirkungen von Ausgangs- und Zielregionen; ebenso wird die Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilliger Wanderung zu einem fließenden Übergang: Motive und Zwänge überlagern, verstärken oder schwächen sich gegenseitig (→ Kap. 2.4). Schon diese Weitung ist neu – noch neuer und bisher ohne wirklich handfeste Ergebnisse ist die Forschung zu den wechselseitigen Abhängigkeiten der unterschiedlichen Wanderungsformen (Oltmer 2013, S. 63). Ein Ort der Erforschung ist das 1991 in Osnabrück Historische Erweiterungen der Perspektive
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gegründete Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Im Jahr 2014 wurde das Berliner Institut für empirische Integrationsund Migrationsforschung (BIM) gegründet. Sehenswert auch wegen seiner Sammlungen und Forschungen ist ferner das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven. Weitere Informationen verfügbar unter: http://dah-bremerhaven.de/, Zugriff am 13.12.2017.
Überschaut man alle Migrationsbewegungen zugleich und fixiert sich nicht nur auf Immigration oder Arbeitsmigration, dann sind Voraussetzungen dafür geschaffen, Migrationsprozesse anders wahrzunehmen und zu beurteilen, weil sich neben den Abhängigkeiten der diversen Migrationsprozesse plötzlich auch Ähnlichkeiten zwischen der eigenen Geschichte bzw. den eigenen Migrationsmotiven und denen der »Fremden« zeigen (→ Kap. 3.1). Jochen Oltmer unterscheidet 13 Erscheinungsformen von Migration: Tab. 1: 13 Erscheinungsformen von Migration von Oltmer (2016, S. 18 f.; auch in Oltmer 2017, S. 30 f.)
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Formen
Merkmale, Teilphänomene und Beispiel
Arbeitswanderung
Migration zur Aufnahme unselbständiger Erwerbstätigkeit in Gewerbe, Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungsbereich
Bildungs- und Ausbildungswanderung
Migration zum Erwerb schulischer, akademischer oder beruflicher Qualifikationen (Schülerinnen und Schüler, Lehrlinge/Auszubildende)
Dienstmädchen-/ Hausarbeiterinnenwanderung
Migration im Feld der haushaltsnahen Dienstleistungen, häufig gekennzeichnet durch relativ enge Bindung an eine Arbeitgeberfamilie, ungeregelte Arbeitszeiten und prekäre Lohnverhältnisse
Entsendung
Grenzüberschreitende, temporäre Entsendung im Rahmen und im Auftrag von Organisationen/Unternehmen: ›Expatriats‹/›Expats‹; Kaufleute und Händlerwanderungen zur Etablierung/Aufrechterhaltung von Handelsfilialen; Migration im Rahmen eines militärischen Apparates (Söldner, Soldaten, Seeleute), von Beamten und Missionaren
Gesellenwanderung
Wissens- und Technologietransfer durch Migration im Handwerk, Steuerungsinstrument in gewerblichen Arbeitsmärkten durch Zünfte
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Formen
Merkmale, Teilphänomene und Beispiel
Gewaltmigration
Migration, die sich alternativlos aus einer Nötigung zur Abwanderung aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen ergibt (Flucht, Vertreibung, Deportation, Umsiedlung, [sowie Evakuierung, Ergänzung von T. Z., vgl. Oltmer 2016, S. 25])
Heirats- und Liebeswanderung
Wechsel des geographischen und sozialen Raumes wegen einer Heirat oder einer Liebesbeziehung
Lebensstil-Migration
Migration finanziell weitgehend unabhängiger Personen (nicht selten Senioren) aus vornehmlich kulturellen, klimatischen oder gesundheitlichen Erwägungen
Nomadismus/Migration als Struktur
Permanente oder wiederholte Bewegung zur Nutzung natürlicher, ökonomischer und sozialer Ressourcen durch Viehzüchter, brandrodende Bauern, Gewerbetreibende oder Dienstleister
Siedlungswanderung
Migration mit dem Ziel des Erwerbs von Bodenbesitz zur landwirtschaftlichen Bearbeitung
Sklaven- und Menschenhandel
Migration (Deportation) zum Zweck der Zwangsarbeit, das heißt jeder Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendwelcher Strafen verlangt wird
Wanderarbeit
Arbeitswanderung im Umherziehen, ortlose Wanderarbeitskräfte finden sich vor allem im Baugewerbe (Eisenbahnbau, Kanalbau, andere Großbaustellen)
Wanderhandel
Handelstätigkeit im Umherziehen, meist Klein- und Kleinsthandel, z. B. Hausierer
Memorieren Sie die im → Kap. 2.4 und 2.5 dargestellten Interviewpassagen: Um welche Erscheinungsformen der Migration handelt es sich?
Die Motive sind vielfältig und beliebig kombinierbar: Oltmer (2016, S. 15) nennt die folgenden: ȤȤ »Chancen wahrnehmen, Handlungsmacht erschließen (z. B. Arbeits-, Siedlungs- oder Bildungswanderungen) ȤȤ Gewalt (Flucht, Vertreibung, Deportation [= Verschleppung, Ergänzung von T. Z.], politisch und weltanschaulich bedingt oder in Folge von Kriegen) ȤȤ Katastrophen (z. B. Abwanderung aufgrund von Natur- und Umweltkatastrophen).«
Historische Erweiterungen der Perspektive
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Die Räume der Migrationen beziehen sich auf alle Distanzen von nah bis interkontinental bzw. transnational (vgl. → Kap. 2.2). Auch alle Richtungen sind möglich: »unidirektional«, »etappenweise«, »zirkulär« oder als »Rückwanderung«, und der Zeitraum kann saisonal, mehrjährig, das Arbeitsleben oder das gesamte Leben betreffen, als solcher intendiert, dann aber oft auch anders gelebt werden (ebd.). Mit diesen Unterscheidungen ist zwar schon Einiges gewonnen und relativiert, abewr noch nicht wirklich verstanden. Die Forschung steht erst am Anfang, um die Zusammenhänge und Auswirkungen der unterschiedlichen Migrationsformen zu untersuchen. Deutlich aber ist: Migrationen gab es immer; sie beeinflussen sich gegenseitig – und sie greifen auf Vorerfahrungen und alte Muster zurück, z. B. im sehr ähnlichen Umgang mit »Fremd-« bzw. »Gastarbeitern«). Eine besondere Rolle spielt der Aufstieg der Nationalismen, die zu einem in der Geschichte vorher noch nie dagewesenen Motor von Migration werden (Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen), auch wenn sie das Gegenteil von sich behaupten, nämlich einen einheitlichen Volkskörper mit einheitlicher Sprache und Kultur zu erhalten oder zu schützen oder für ihn neuen kulturell homogenen Lebensraum anstreben. Zugleich helfen diese Systematisierungsversuche, immer wieder neu danach zu fragen, was Menschen suchen, wenn sie aufbrechen: Arbeit und Auskommen? Horizonterweiterungen und Liebe? Eine »Neue Heimat« oder ein »gelobtes Land, in dem Milch und Honig fließt« (2. Mose/Ex. 3,8 u. ö.)? Freiheit? Oder etwas dazwischen oder aus alledem? 6.2.3 Geschichte der Migration bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Zur Einordnung und Relativierung einzelner Migrationen braucht es daher etwas mehr Migrationsgeschichte des eigenen Landes als bisher in diesem Buch bzw. in der Sozialen Arbeit üblich. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende größere Gruppen von Migrantinnen und Migranten genannt: Die Handwerksgesellen (bis ins 19. Jahrhundert) galten als »zirkuläre Wanderer« (Hoerder 2010, S. 37) – in Frankfurt machten diese Gesellen ca. 40 % der Stadtbevölkerung aus (ebd., S. 46). Ebenso waren Akademiker und andere Eliten seit dem Mittelalter europaweit unterwegs (z. B. Luther, Kopernikus, schon Thomas von Aquin), sei es aus Gründen der akademischen Karriere (Studenten!) oder sei es als Bildungsreise (v. a. ab dem 18. Jahrhundert: Goethes Italienreise bis hin zu »Go, Trabi, go« – einem Film aus dem Jahr 1991). 112
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Ferner gab es eine deutlich höhere Zahl an Pilgern, die nicht immer wieder Zuhause ankamen. Pilgerrouten vor allem nach Santiago de Compostela werden seit der Jahrtausendwende wiederentdeckt und einige Menschen versuchen, die besonderen Erfahrungen des Pilgerns neu für sich zu erschließen; am bekanntesten war Hape Kerkeling (2006). Seit der Reformation und den Religionskriegen in ihrem Gefolge spricht man in Europa von Glaubensflüchtlingen, da seit dem Religionsfrieden von Augsburg (1555) konfessionell homogene Herrschaftsgebiete als politisches Ziel galten: Wer nicht die Religion seines Landesherrn hatte, musste entweder konvertieren oder auswandern (»cuius regio eius religio«, lat., übersetzt: wessen Herrschaft [man unterworfen ist, Ergänzung von T. Z.], dessen Religion [hat man zu übernehmen, Ergänzung von T. Z.]). Einige Gruppen von Glaubensflüchtlingen haben Spuren bis heute hinterlassen, z. B.: ȤȤ die »Niederländer« (»Wallonen«), die um 1544–1648 aus den katholischen Niederlanden durch König Philipp II. vertrieben wurden; Aufnahmeorte waren z. B. Wesel und Hanau (vgl. Gresch 2005, S. 80); ȤȤ die »Böhmischen Glaubensflüchtlinge«, die zu Beginn des 30-jährigen Krieges aus Böhmen vertrieben wurden und Aufnahme vor allem im benachbarten Sachsen fanden; ȤȤ die »Hugenotten« und »Waldenser« (evangelisch-reformierte Christen aus Frankreich), die nach der Aufhebung des Toleranzedikts 1685 aus dem überwiegend katholischen Frankreich flohen und in einigen deutschen, meist ebenfalls reformierten Ländern bevorzugte Aufnahme fanden (zunächst im Rhein-Main-Gebiet, dann in Hessen-Kassel, Preußen, Sachsen, der Pfalz, Franken und Württemberg; vgl. Gresch, 2005, S. 82) – eine Spur sind französische Familiennamen, z. B. Lafontaine (eingedeutscht: Fontane), de Maizière, Bonnet), → Kap. 6.2.4; ȤȤ die »Salzburger Protestanten«, die der aufgeklärte Fürstbischof von Salzburg 1731/32 vertrieb und die Aufnahme vor allem in Preußen fanden. Diese und andere Glaubensflüchtlinge waren u. a. auch deshalb willkommen, weil sie in den durch den 30-jährigen Krieg stark in ihrer Bevölkerung dezimierten Gebieten für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgen sollten (»Peuplierungspolitik« für Landwirtschaft, Handwerk und erste Manufakturen).
Historische Erweiterungen der Perspektive
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6.2.4 Erstes Beispiel zur Vertiefung: die Hugenotten Dorothea Viehmann (1755–1815)
Abb. 7: Stich von Ludwig Emil Grimm, dem dritten der Brüder Grimm, für den 2. Band der Kinder- und Hausmärchen (nach der Ausgabe des Insel-Verlags 1984, S. 7)25
Dorothea Viehmann war die Tochter des Gastwirts Johann Friedrich Isaak Pierson und seiner Frau Martha Gertrud, geboren am 8. Nov. 1755 auf der Knallhütte zwischen Niederzwehren und Kirchbauna.26 In diese hatte 1749 ihr Großvater Johann Friedrich Pierson eingeheiratet. Familie Pierson war hugenottischer Herkunft; der Urgroßvater väterlicherseits, Isaak Pierson, stammte aus Metz und gehörte zu den ersten Glaubensflüchtlingen, die 1686 aus Frankreich in Hessen eintrafen. Er war Diakon und Vorsteher der Hugenottengemeinde Schöneberg bei Hofgeismar. Die Brüder Grimm stilisierten die »Viehmännin« zu ihrer »Märchenfrau«; sie war eine der wichtigsten mündlichen Quellen für deren Kinder- und Hausmärchen und lieferte ihnen in den Jahren von 1813 bis 1815 etwa 40 Märchen (vgl. Ehrhardt 2012). Diese Märchen mag sie wohl auch von den in der Knallhütte einkehrenden Fuhrleuten, Bauern oder auch Soldaten der durchziehenden Heere des Siebenjährigen Krieges gehört haben. Ebenso klar ist, dass sie auch aus Märchensammlungen schöpfte, d. h., sie wird sie von ihren hugenottischen Eltern oder Großeltern gehört haben. Eine dieser Märchensammlung stammte von Charles Perrault (1628–1703) und erschien 1697: Histoires ou Contes du temps passé, avec des moralités: Contes de ma Mère l’Oye (frz.: 25 Verfügbar unter: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/RNJHYFBHYLGTALQ46XYCF475G66KX6XF, Zugriff am 12.12.2017. 26 Dieses Gasthaus ist noch heute zu sehen am Autobahnkreuz von A 44/A 49.
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Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Geschichten, oder Erzählungen aus alter Zeit, mit Moral: Erzählungen meiner Mutter Gans). Die Brüder Grimm würdigen sie in der Vorrede zur 2. Auflage ihrer Kinder- und Hausmärchen (1815) und stilisierten sie zu einer Frau aus dem Volk. Offensichtlich schätzten sie ihr Erzähltalent so sehr, dass sie an ihren Märchen wenig redigierten, anders als bei Märchen, die sie von anderen Erzählerinnen – darunter weitere Nachfahren hugenottischer Flüchtlinge aus Kassel – hörten. Ihre Herkunft aus dem Volk wird heute anders beurteilt. Sie war zwar verarmt, hatte aber gemeinsame Vorfahren mit Goethe und Friedrich Savigny. Auch ihr Erzählstil wurde erst in den letzten Jahren genauer analysiert und in seiner Originalität neu bewertet (vgl. die Beiträge im Sammelband von Ehrhardt, 2012).
Stellen Sie Gründe zusammen, warum im Jahre 1815 die Brüder Grimm kurz nach den Eroberungskriegen von Napoleon die Migrationsgeschichte ebenso wie Dorothea Viehmanns Bildung (sie sprach wohl noch französisch) verschwiegen, gleichwohl aber ihr Erzähltalent schätzten, auch weil die Brüder Grimm einen Teil der französischen Quellen kannten. Suchen Sie nach weiteren Beispielen (jenseits von Pizza und Döner), wie Migranten unsere Kultur (und Technik) bereichert haben, oft ohne dass uns das noch bewusst ist und ohne dass es ihnen gedankt wurde!
Dieses Beispiel der Hugenotteneinwanderung im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert ist insofern interessant, weil sie in einer Zeit stattfand, in der es noch keinen Nationalismus gab, der vorgab, sprach-, kultur- und oft auch religionshomogene Nationen schaffen zu wollen, aus denen dann Menschen anderer Kultur, Sprache und anderer Kriterien auszuschließen sind. Wir sahen schon an den historischen Fakten, dass dies eine Fiktion ist, weil schon in den Blütezeiten des Nationalismus Fremdarbeit und koloniale Verquickungen aus dem Funktionieren dieser Staaten nicht wegzudenken waren. Am Beispiel von Dorothea Viehmann kann man die ersten Auswirkungen des in den Napoleonischen Kriegen langsam entstehenden Nationalismus erkennen. Die Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts wurden durch die zahlreichen Kriegs- und Eroberungszüge der absolutistischen Fürsten immer bunter, was Sprache, Konfession und Kultur anging. Nach dem dreißigjährigen Krieg wurde der Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens nicht mehr Historische Erweiterungen der Perspektive
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angewendet, dass sich die Religion der Untertanen nach der des Herrschers zu richten habe – Religionsfreiheit wurde so zu einem der ersten Grundrechte. Und Toleranz wurde ein Erfordernis der Zeit. Zugespitzt hat dies der preußische König Friedrich II. (der Große) in seinem berühmten Bonmot: »Jeder soll nach seiner Façon selig werden« – zumindest solange die oberste Autorität des Königs nicht hinterfragt wird. Die Staaten und Fürstentümer in Deutschland betrieben nach dem dreißigjährigen Krieg von 1618–1648 eine Politik der »Peuplierung«, d. h. einer Politik der Bevölkerungsvermehrung, um die hohen Verluste nach diesem Krieg auszugleichen und so die Wirtschaft wieder anzukurbeln (Oltmer 2017, S. 50 ff.). Sie fand statt als Einladung an Einwanderer. Unter diesen Umständen kamen die Hugenotten gerade recht, als sie zunächst in kleineren Zahlen Frankreich ab 1572 nach dem Massaker der Bartholomäusnacht und einer Folge von acht Konfessions- genauer: Bürgerkriegen in den Folgejahren verließen. Ab 1685 (Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes) wuchsen die Zahlen erheblich. Etwa 150.000 bis 200.000 Menschen verließen Frankreich (Oltmer 2017, S. 51; vgl. Gresch 2005, S. 51 f.: etwa 1 % der dortigen Gesamtbevölkerung); etwa 40.000 kamen nach Deutschland; weitere 40.000 nach England, 50.000 in die Niederlande, 20.000 in die Schweiz. Die größte Gruppe in Deutschland landete in Brandenburg (18.000). Zeitweise stellten die hugenottischen Flüchtlinge ein Fünftel der Berliner Bevölkerung (Gresch 2005, S. 92); 3.800 kamen nach Nordhessen; 3.700 nach Südhessen; 3.400 in die Kurpfalz; 3.200 nach Franken; 2.500 nach Württemberg (zu den Zahlen insgesamt: ebd., S. 83). Die meisten kamen über Frankfurt/Main und die Schweiz und wurden gezielt angeworben. Erste Anlaufpunkte waren schon bestehende hugenottische Gemeinden. Interessant sind die Edikte (= Erlasse) der jeweiligen Landesherren zu Aufnahmebedingungen bzw. -privilegien. Sie unterscheiden sich signifikant vom heutigen Ausländerrecht.
Auf der Internetseite des Deutschen Hugenottenmuseums in Bad Karlshafen sind einige Edikte fotografiert bzw. transkribiert und übersetzt, die die damalige Rechtslage für diese Glaubensflüchtlinge zeigen. Vergleichen Sie sie mit der heutigen Rechtslage! http://www.hugenottenmuseum.de/hugenotten/edikte/index.php
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Hervorzuheben ist hier u. E.: 1. Politik: Die Fürsten wiesen diesen Flüchtlingen eigene Siedlungsgebiete zu. Zum Teil waren dies Wüstungen, d. h. verlassene Dörfer aus der Zeit des 30-Jährigen Krieges, oder neu anzulegende Stadtteile, wie die Oberneustadt in Kassel oder das Viertel um den Französischen (!) Dom in Berlin-Mitte. Ihnen wurde ein hohes Maß an Selbstverwaltung unter landesherrlicher Oberhoheit zugestanden. 2. Ökonomie: Der Landesherr stellte Bauholz zur Verfügung und sorgte durch mehrjährige Steuerbefreiungen dafür, dass ökonomisch ein Anfang gemacht werden konnte. Aus diesen Privilegien ergab sich eine Pflicht zur Arbeit, um sich Unterkünfte zu bauen und nach einem Auskommen zu suchen. Diese Privilegien wurden wohl hin und wieder eifersüchtig von den einheimischen Nachbarn beäugt, zumal einige der Immigranten neue Techniken mitbrachten, wie z. B. Webmaschinen, Strumpfwirkmaschinen und Maschinen zur Herstellung von feinen Handschuhen. Hugenotten konnten damit am Hof begehrte Waren produzieren und trugen so zur »Überwindung wirtschaftlicher Rückständigkeit« bei (Gresch 2005, S. 85), auch wenn fehlendes Eigenkapital, mangelnde Infrastrukturen usw. das wirtschaftliche Wachstum zunächst behinderten. 3. Bildung/Religion: Dass die Hugenotten und die Regionen, die die meisten Flüchtlinge aufnahmen, derselben reformierten Konfession angehörten, erhöhte die Aufnahmebereitschaft. Dennoch wurden den Gemeinden eigene Pfarrer und eigene Schulen, die französisch sprachen, zugestanden. Auch die Verwaltung war zunächst eine eigene, freilich unter der Oberhoheit von König oder Landesfürsten. Sie gingen jedoch spätestens bis 1918 in den lokalen bzw. regionalen Landes- und Kirchenverwaltungen auf. In den Hugenottendörfern Nordhessens sprachen, so wird mündlich berichtet, noch um 1900 – also 200 Jahre nach Einwanderung! – die älteren Menschen französisch. Integration scheint nicht zuerst durch Kultur, sondern durch Heirat, Handel und Militärdienst zustande gekommen zu sein – so der erste Blick. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es mit der Zeit auch zum kulturellen Austausch kam (vgl. Dorothea Viehmann). 4. Arbeit war auch deshalb nötig, weil es keine andere Form der Unterstützung gab als das Recht auf Ansiedlung und zeitweilige Steuerbefreiungen. Für die Unterstützung derer, die sich nicht selbst ernähren konnten (Arme, Waisen, Witwen, Kranke und Beeinträchtigte) musste diese Flüchtlingsgruppe selbst sorgen. Denn nach (alt)deutschem Hausarmenrecht war keine einheimische Gemeinde für sie zuständig. Als reformierte Christen brachten sie ein ausgefeiltes System vor allem ambuHistorische Erweiterungen der Perspektive
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lanter diakonischer Selbstorganisation mit (den Diakonat und das Amt des Diakons/diacre; vgl. Desel 1986, Wenzel 2013; 2016). Für die Diakonie- und Sozialgeschichte ist es insofern interessant, als bisher davon ausgegangen wurde, dass erst Wichern bzw. Fliedner in den 1830er-Jahren das Amt des Diakons bzw. der Diakonisse wiederbelebt haben. In den Hugenottengemeinden war es zu dieser Zeit längst vorhanden! An ihrem neuen Wohnort erweiterten sie diese Funktion auf die Ausbildung hochinnovativer ambulanter Arbeit, stationärer Häuser und präventiver Bildungsarbeit: Waisenhäuser mit Schulen – nach dem Vorbild von Hugenotten in Frankreich und nach August Herrmann Franckes Schulstadt in Halle (Saale).
Überprüfen Sie durch eigene Recherche folgende Thesen: Die besondere Situation als Flüchtlingsgemeinde samt der besonderen diakonischen Traditionen der Hugenotten (vgl. Wenzel 2013) hat dazu geführt bzw. dazu beigetraten, sozial innovativer als die einheimische Bevölkerung zu sein. Auch noch heute müssen Migrantengemeinden eigene soziale Unterstützungsnetzwerke aufbauen (vgl. hierzu die Forschungen von Alexander K. Nagel 2013; 2016). Hintergrund: Das große Berliner Universitätskrankenhaus, das im Jahr 1727 den Namen »Charité« bekam, wurde zuerst 1710 als Pestlazarett gegründet. Zu dieser Zeit hatten die Hugenotten Berlins schon seit spätestens 1686 ein eigenes Hospital (»l’Hôpital Français«), ein »Maison Française de Charité« (für ältere und pflegebedürftige Menschen), das 1689 gegründet worden ist (vgl. hierzu Wenzel 2016, S. 131 ff.). Hinzu kamen 1688 ein Pensionsfond auf Gegenseitigkeit, im Jahr 1699 und 1704 Flüchtlingsheime und ab ca. 1725 bzw. 1747 ein Waisenhaus mit Armenschule (»Maison d’Orphelins«; »École de Charité«: ebd., S. 278 ff.; 404 ff.), die nicht wie die anderen Berliner Häuser mit Zwangsarbeit in Manufakturen verbunden waren, sondern auf Grund der beruflichen Neigungen der Kinder arbeiteten.
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Exkurs
EXKURS II Die Juden – Glaubensflüchtlinge anderer Art? Zur Gruppe der Glaubensflüchtlinge oder -migrantInnen werden nicht immer die Juden in Europa gezählt, obwohl sie sozusagen dauernd in meist unfreiwilliger Bewegung waren; u. a. wegen ihres Glaubens. Die Antisemitismusforschung hat weitere Gründe und Dynamiken herausgearbeitet. Immer wieder wurden seit den großen Pogromen im Kontext der Kreuzzüge und der Pest (1349 ff.) auch Juden vertrieben – diese Gruppe Flüchtlinge wird in der Migrationsgeschichte selten mitbedacht. Die Gruppe von europäischen Mitmenschen wird quasi immer noch »sonderbehandelt« (ein Nazi-Begriff), obwohl sie aus der europäischen Migrationsgeschichte bis heute nicht wegzudenken ist. Nachdem den Juden im Gefolge der Französischen Revolution und des Code Napoleon erstmals das Bürgerrecht zugestanden wurde, beruhigten sich deren Zwangsmigrationen, bis sie im Zuge der Pogrome des 20. Jahrhunderts einen nie dagewesenen Höhe- bzw. Tiefpunkt erreichten.
Einen guten Überblick über die jüdische Geschichte in Deutschland finden Sie in den Jüdischen Museen, die es in vielen großen deutschen Städten gibt (z. B. sind die in Berlin, Frankfurt, München, Hamburg sehr informativ). Einen Überblick über die sehr eigene Geschichte der Juden in Deutschland, die aufgrund von christlichem Antijudaismus bzw. rassistischen Antisemitismus eine sehr eigene Dynamik hatte, die immer wieder auch zu Migrationen nötigte, finden Sie (ausnahmsweise) im Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Deutschland und auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung http://www.bpb.de/izpb/7643/juedisches-leben-in-deutschland.
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6.2.5 Geschichte der Migration ab dem 19. Jahrhundert bis nach dem Zweiten Weltkrieg Nachdem im Laufe des 18. Jahrhunderts die glaubensbedingten Migrationen nachließen, standen im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert politisch und ökonomisch bedingte Migrationen im Vordergrund. Ostwärts gerichtete Wanderungen von landwirtschaftlichen Siedlern, z. B. die Mennoniten, Baltendeutschen, die Donau-Schwaben, Ungarn-Deutsche u. a. (Hoerder 2010, S. 39), gab es schon in den 1740er–1790er-Jahren. Noch früher, im 13. Jahrhundert, wurden die Siebenbürger Sachsen von der Habsburger Monarchie in das Gebiet des heutigen Rumänien zum Schutz vor dem Osmanischen Reich gerufen. Auch seit Zeiten der Zarin Katharina wurden immer wieder Siedler nach Russland gerufen (»Wolga-Deutsche«, vgl. Exkurs I, → Kap. 2.4). Bereit zu einem Aufbruch als Siedler waren Menschen u. a. deshalb, weil in manchen deutschen Regionen das Erbrecht zur Aufteilung in immer kleinere Höfe bzw. Ländereien geführt hatte, die ihre Besitzer nicht mehr ernähren konnten. Viele verarmten auch durch Hungersnöte und durch die hohe Anzahl von dynastischen Kleinkriegen der absolutistischen Fürsten bis ins 19. Jahrhundert (Hoerder 2010, S. 41). Ein Teil dieser Siedler ist während des Dritten Reiches zurückgerufen worden. Nach zum Teil kurzer Inbesitznahme von »Land im Osten« (also im besetzten Polen) wurden sie nach 1945 in Richtung Westen vertrieben bzw. kehrten erst nach dem Fall des Eisernen Vorhanges 1989 aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in die sie nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 vertrieben worden waren, zurück (»Russlanddeutsche«). Die enormen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts veränderten das Gesicht der gesamten Welt: Kriege, Kolonialisierungen (auch das waren z. T. sehr brutale Kriege), Landnahmen, Industrialisierungen, Abbau von Bodenschätzen und dadurch bedingt eine Intensivierung jeder Art von Verkehr und Wachstum der Städte (Osterhammel 2009). Die Napoleonischen Kriege (ca. 1799–1816) führten nicht nur zu vielen Massenfluchten der Zivilbevölkerung in ganz Europa bis hin nach Russland, nachdem schon die Französische Revolution ab 1789 etwa 150.000 Franzosen zur Flucht getrieben hatte (Hoerder 2010, S. 51). Diese Kriege wurden auf allen Seiten auch durch Söldnerheere unterschiedlicher Zunge geführt – es gab ja noch keine Nationalstaaten! An ihrem Ende ließen sie zahllose heimatlos gewordene Soldaten (auch Kriegskrüppel) zurück, die hier und da Aufnahme fanden oder umherzogen – die Soldaten-Märchen in der Samm120
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lung der Brüder Grimm, aber auch von Hans Christian Andersen (»Der standhafte Zinnsoldat« – der nur ein Bein hat) spiegeln dieses Geschehen. Diese Kriege hinterließen auch einige auf den Straßen lebende Waisenkinder, die Anlass zu den ersten diakonischen Aktivitäten des 19. Jahrhunderts gaben: Johannes Daniel Falk gründete für sie 1813 den Lutherhof in Weimar, der zum Vorbild u. a. des von Johann Hinrich Wichern gegründeten Rauhen Hauses in Hamburg wurde. Insofern geht ein Teil der Neubegründung diakonisch-sozialer Arbeit auf die Bearbeitung von Migrationsfolgen zurück. Die Industrialisierung bestand nicht nur im Aufbau neuer Industrien, die Menschen in die Städte lockte. Sie bestand in sich aus mehreren Wanderungsbewegungen, die ihren Grund auch darin hatten, dass das Land seine seit dem 18. Jahrhundert langsam aber stetig anwachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren konnte (Hoerder 2010, S. 50). Sie führte zu einer letztlich bis heute nicht nachlassenden Land-Stadt-Wanderung, sei sie innerstaatlich oder über Staatsgrenzen hinweg. In dieser Zeit wuchsen die europäischen Städte um ein Vielfaches ihrer Größe an. Erste Untersuchungen für das Land zeigen, dass sich dort das Bevölkerungswachstum nicht (so sehr) zeigte, wie in den Städten.
Veranschaulichen Sie sich dies, indem Sie das Wachstum der Städte anhand historischer Stadtpläne von Ihnen bekannten Großstädten eruieren! Berlin, Hamburg und Städte des Ruhrgebiets zeigen diese auf ihren Homepages.
Die Industrialisierung führte auch zu einer schon als »Massenexodus« (!) zu bezeichnenden Auswandererwelle in die Vereinigten Staaten von Amerika. Genaue Statistiken fehlen noch, aber die neuere Forschung geht von 5–7 Millionen Deutschen aus, die von 1815–1914 in die USA auswanderten (aus Europa waren es insgesamt 55–60 Millionen; vgl. Oltmer 2012/2016, S. 11); Auswanderungen in andere Kontinente gab es auch, aber in weitaus geringerer Zahl (Hoerder 2010, S. 56–70). Sie müssen im Unterschied zu den Auswanderern aus religiösen Gründen als klassische »Wirtschaftsflüchtlinge«, d. h. Flüchtlinge aus wirtschaftlichen und nur z. T. auch politischen
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Gründen, gelten.27 Allerdings sollte die Zahl von Rückwanderern (vgl. Auswanderermuseum Bremerhaven) nicht unterschätzt werden. Daneben gab und gibt es seit Jahrhunderten kleinere, z. T. saisonale oder biografisch bedingte inter- oder intraregionale Wanderungen: ȤȤ »Schwabenkinder« (Hoerder 2010 S. 54) waren Kinder aus Tirol, Vorarlberg und Graubünden, dienten auf Bauernhöfen im Schwäbischen; andere Kinder aus den armen Alpentälern (es gab noch keinen Tourismus) wurden »Verdingkinder«, z. B. auf Bauernhöfen oder als Kaminkehrer in den Großstädten (Hofstetter 2013 f.).28 ȤȤ Viele Frauen verpflichteten (»verdingten«) sich für eine Weile als Mägde in Haushalten der Städte, betreuten Kinder, nähten die Kleider. ȤȤ Viele Männer arbeiteten auch im 19. Jahrhundert noch als saisonale Wanderarbeiter in der Landwirtschaft, z. B. Ziegelhersteller aus dem Lipperland (vgl. Ziegelmuseum in Lemgo), Bauernsöhne aus dem Weserbergland in der deutschen Heringsflotte (Hoerder 2010, S. 55). Die »Hollandgänger« aus Nordwestdeutschland übernahmen in den deutlich stärker verstädterten Niederlanden landwirtschaftliche Tätigkeiten, die die Niederländer nicht mehr selber übernehmen wollten. Seit dem Wirtschaftsaufschwung der deutschen Gründerjahre ab 1870 wird Deutschland trotz weiterhin laufender, aber sinkender Emigrationen zum Immigrationsland, genauer zum »Arbeitskräfteeinfuhrland« (Klaus J. Bade nach Hoerder 2010, S. 83). Und das ist es seither geblieben, auch wenn dies vor allem konservative Kräfte in Deutschland bis heute nicht wahrhaben wollen. Selbst das Dritte Reich, das doch scheinbar so sehr auf völkische Reinheit bedacht war, hat diesen Trend verstärkt, und zwar sowohl willentlich (durch den millionenhaften Einsatz von sogenannten Fremd- und ZwangsarbeiterInnen) als auch unwillentlich durch die größten Bevölkerungsverschiebungen, zu denen es im Gefolge des Zweiten Weltkrieges in Mitteleuropa kam.
27 Hier wird der UnSinn dieses Begriffs deutlich: Man kann nicht vor der Wirtschaft fliehen, aber aus prekären Lebens- und Arbeitssituationen, die einem keine Auskommen ermöglichen, was letztlich heißt: Es handelt sich um Migrationen, um letztlich den Hungertod zu vermeiden, weil das Land seine BewohnerInnen nicht mehr ernähren kann, sei es, weil es zu viele werden, oder sei es, weil die Preise fallen, oder sei es, weil die Löhne in der Stadt zwar sehr niedrig sind, aber höher als alle Einkünfte aus landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft. 28 Dargestellt wird das Leben dieser Kinder exemplarisch im Film »Schwabenkinder« (2003), Regie führte Jo Baier.
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Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Eine besondere Gruppe sind die »Ruhrpolen«: Diese waren preußische Staatsbürger, also Inländer, die aus Gebieten stammten, die früher polnisches Staatsgebiet waren aber damals zu Preußen gehörten; nur wenige »Auslandspolen«, die auch kamen, stammten aus annektierten, d. h. dem eigenen Staatsgebiet nicht einverleibten Gebieten im russischen oder Habsburger Reich. Sie kamen ins Ruhrgebiet, um in den neuen Zechen zu arbeiten. Insgesamt war es ca. eine halbe Million Menschen, zu denen eine weitere halbe Million Arbeitskräfte auf Zeit im Ruhrgebiet hinzukamen. Viele jedoch blieben, gründeten eigene polnische bzw. religiöse Vereine, die freilich sehr streng überwacht wurden, weshalb einige hunderttausend das Ruhrgebiet wieder verließen, als Polen nach dem 1. Weltkrieg als Staat neu gegründet wurde. Noch heute zeigen manche Namen im Ruhrgebiet die polnische Herkunft (nicht nur bei Kommissar »Schimanski«).
Überprüfen Sie, in welchen Bereichen der Gesellschaft die »Ruhrpolen« Arbeitsmigranten integriert waren und wo nicht! Gibt es tatsächlich einen blinden Fleck in der lokalen Geschichtsschreibung? Vgl. folgende Ausstellungsseiten: https://www.lwl.org/industriemuseum/standorte/zeche-hannover/migration-ausstellen/sonderausstellungen/westfalczycy-ruhrpolen
Ferner gab es nicht nur im Osten des Reiches auf den Landgütern große Mengen saisonaler Arbeitskräfte, deren Aufenthalt streng reglementiert und überwacht wurde (Arbeitszwang, Verbot des Arbeitgeberwechsels, Rückkehrzwang, Rotationsprinzip). Dieses Modell stand noch 60–70 Jahre später Pate für die Regelungen der dann sogenannten »Gastarbeiter« bzw. »ausländischen Arbeitnehmer« (seit 1955). Die ökonomischen Eliten in Industrie und Landwirtschaft holten lieber, weil deutlich profitträchtiger, fremdkulturelle Menschen ins Land, als dass sie die eigene Arbeiterklasse besser stellten bzw. diese im Land hielten. Deshalb sank auch die Auswanderung aus Deutschland erst im und nach dem 1. Weltkrieg für eine Zeit merklich ab. »Die scheinbar nationalen Eliten strebten einen hierarchisierten Mehrvölkerstaat an« (Hoerder 2010, S. 85). Zu diesen Nationen gehörten selbstverständlich auch Kolonien auf anderen Kontinenten mit vollkommen anderer Kultur, die den Wohlstand der Kolonisatoren Historische Erweiterungen der Perspektive
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oft deutlich mehr steigerten als den der Kolonisierten. Freilich begannen sich in den Kolonien die Kulturen dort mit denen der Besatzer zu vermischen, was sich z. B. noch heute in der auffallenden Ähnlichkeit der Bildungs- und Verwaltungsstrukturen mit denen der Kolonisatoren zeigt. Die Wanderungsbewegungen aus und in diese Kolonien hatten in Deutschland, das ja erst spät und dann nur wenige Kolonien erwarb, nur einen relativ kleinen Umfang. An diesen Gruppen lässt sich eine bis heute stark nachwirkende Umdeutung von Arbeitsmigration erklären: Aus normalen inländischen Wanderarbeitern, egal ob saisonal, für einige Jahre oder auf Dauer, wurden Ausländer und Fremde, für die sehr restriktive, d. h. die Partizipation an anderen Lebensbereichen begrenzende Regelungen galten. Woran lag das? Die vornationalen und über Jahrhunderte selbstverständlich multikulturellen, vielsprachigen und ab dem 18. Jahrhundert auch multikonfessionellen und sogar multireligiösen Staaten der Fürsten und Könige (allen voran Preußen und Habsburg) wurden erst im Gefolge der napoleonischen Kriege zu »Nationen«, die begannen, sich trotz weiterhin gegebener bzw. durch Arbeitsmigration sogar vermehrter Vielfalt kulturell homogen zu verstehen und Menschen anderer Kultur, Sprache bzw. vorherrschender Religion, Konfession bzw. »Rasse« auszugrenzen. Die um 1900 einsetzende »Phase intensiver Nationalismen« und Rasseideologien (Hoerder 2010, S. 71) wirkte sich mehrfach aus: Die erst jetzt erfundenen und beschlossenen Staatsangehörigkeitsgesetze teilen Menschen anders als bisher nicht nach dem Geburts- oder Lebensort (ius soli), sondern in z. T. wilden Mischungen aus Volks-, Staats-, Rasse- oder Blutszugehörigkeiten ein und sorgen so für wirksamen Ausschluss von »undeutschen« oder »fremdrassigen« Gruppen der Bevölkerung, obwohl sie als Arbeitsmigranten konstitutiver Teil des Wirtschaftssystems waren. In dieser Zeit blühen auch die großen nationalen Erzählungen nicht nur des Deutschtums auf mit ihren Nationaldenkmälern – vom Kyffhäuser-Denkmal, über die renovierte Wartburg, den endlich fertiggestellten, wenn auch bleibend renovierungsbedürftigen Kölner Dom bis hin zum Reichstag in Berlin. Sie machten auch die ausgewanderten Deutschen zu »Auslandsdeutschen« bzw. zur »Deutschen Diaspora«. Man räumte ihnen z. B. bis vor kurzem Rückkehrrechte »heim ins Reich« ein. Das war sicherlich nicht bei all diesen Auswanderern willkommen: In den USA sank im Gefolge des 1. Weltkrieges der Anteil derer, die sich in Zensusdaten dort als ethnische Herkunft »deutsch« angaben, deutlich – gleichzeitig stieg die Zahl derer, die sich »dutch« nannten (was ja so ähnlich klingt), um »ein Vielfaches« (Hoerder, 2010, S. 92). 124
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Auch ein anderes Modell, das diesen nationalistischen Homogenisierungstendenzen offensichtlich widersprach, wurde im ersten Weltkrieg erstmals erprobt, um dann im zweiten Weltkrieg deutlich ausgeweitet zu werden: Zu Beginn des ersten Weltkriegs wurden ca. eine Million Menschen, die aus anderen Ländern Europas stammten, von Fremdarbeitern zu Zwangsarbeitern. Im zweiten Weltkrieg waren es dann zusätzlich zu den schon direkt vor dem Krieg angeworbenen ca. 436.000 Fremdarbeitern weitere ca. 13,5 Millionen Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Gefangene in SS- und Vernichtungslagern. 1944 waren dies zusammen ca. ein Viertel aller im Reich Beschäftigten (alle Zahlen nach Hoerder 2010, S. 99). Deren Partizipation an anderen Lebensbereichen sank jetzt gegen Null. Nach dem ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Auswanderer aus Deutschland: Zwischen 1918 und 1933 verließen ca. 420.000 Menschen Deutschland; die Weimarer Republik »betrieb eine äußerst restriktive Zuwanderungs- und Eingliederungspolitik« (Hoerder 2010, S. 94 f.), und dies mit Unterstützung der Gewerkschaften. Es ging angesichts hoher Arbeitslosenzahlen um »Inländerprimat und Ausländerabdrängung«: »Das umfangreiche regierungsseitige Kontrollinstrumentarium ließ sich nach 1933 nahtlos vom nationalsozialistischen Regime weiterverwenden« (ebd., S. 96). Mit Beginn der Wirtschaftskrise 1929 sanken dann zunächst überall die Auswanderungszahlen, auch wegen der im Dritten Reich nochmals verschärften Auswanderungsbedingungen, auch wenn bis 1939 etwa eine halbe Million Deutsche (darunter mehr als die Hälfte Juden) das Land aus politischen Gründen verließen oder verlassen mussten. Direkt nach dem 2. Weltkrieg war Europa nicht nur ein Trümmerfeld, es waren Millionen von Menschen in unterschiedliche Richtungen und mit sehr verschiedenen Motiven »unterwegs«: Die Zukunft von ca. 10–12 Millionen überlebenden ZwangsarbeiterInnen (»displaced persons«, damals abgekürzt als »DP’s«) war oft sehr unklar – den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen wurde ihr Überleben als Kollaboration ausgelegt; auch die überlebenden Juden hatten erst nach Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 ein Land, das sie ohne Beschränkung aufnahm. Ca. 10. Millionen aus den zerstörten Großstädten Evakuierte, von denen im Jahr 1947 noch viele in Notunterkünften lebten, kehrten langsam in ihre Heimatstädte zurück. Von den ca. 1,8 Millionen deutschen Kriegsgefangenen im Westen blieb ca. ein Fünftel dort (!). Historische Erweiterungen der Perspektive
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Von ca. 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten starben auf der Flucht ca. 2 Millionen Menschen – die Eingliederung erfolgte nur zögerlich. Für diese Um- bzw. Neusiedler plante der Staat separate Flüchtlingsviertel bzw. eigene Siedlungen. Oft wurden sie im Ort, in der Schule, bei der Arbeit diskriminiert. Bei einer Umfrage der Alliierten galten sie bei 61 % der eingeborenen Bevölkerung als »Störenfriede« (Oltmer 2017, S. 155 f.). Allerdings wurde ihnen im Unterschied zu »heimatlosen Ausländern« (sprich: ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangenen oder KZ-Internierten) die Staatsbürgerschaft und politische Rechte zugesprochen. Bis heute sind sie bzw. ihre Nachkommen in eigenen (analogen) sozialen Netzwerken (Landsmannschaften, Bund der Vertriebenen) organisiert. Zwangsarbeitern wurden diese Rechte über Jahrzehnte verwehrt. Erst in den 2000er-Jahren, nachdem schon Millionen verstorben waren, gab es Ansätze der Entschädigung. Nicht übersehen werden sollte, dass trotz anfänglichen Verbots schon im Hungerwinter 1946/47 eine erneute Auswanderung aus Deutschland begann; sie dauerte bis ca. 1955. Die Einwanderungsländer suchten Arbeitskräfte: Ca. 180.000 wanderten innerhalb Europas aus; bis 1961 780.000 nach Übersee (USA, Kanada, Australien).
Summieren Sie die Zahl der Menschen unterwegs und vergleichen Sie diese mit aktuellen Flüchtlingszahlen. Stellen Sie sich vor, wie groß allein die Herausforderung war, diese Menschen mit Nahrung und einem Dach über dem Kopf zu versorgen. Überlegen Sie, ggf. miteinander, ob, und wenn ja, welche Folgen diese enormen Zahlen an MigrantInnen für die heutigen Einstellungen gegenüber Migration haben könnten, und zwar sowohl positive Einstellungen, weil sie aufgrund der eigenen Migrationsgeschichte Verständnis und Solidarität zeigen, als auch negative, weil Zwangseinquartierungen und überforderte Verwaltungen ungute Erinnerungen hinterlassen haben.
Angesichts von Auswanderung einerseits und von massivem Bevölkerungswachstum andererseits suchte man bald auch im deutschen Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre wieder Arbeitskräfte. Das erste Anwerbeabkommen wurde 1955 mit Italien geschlossen (→ Kap. 4.1). Weitere Anwerbeabkommen mit einzelnen Ländern um das Mittelmeer folgten bis 1968. In diesen Jah126
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ren kamen insgesamt 14 Millionen Menschen für einige Jahre, 11 Millionen kehrten wieder zurück. Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps 1973 (Ölkrise) lebten 2,6 Millionen Ausländer in Deutschland, mit nachgeholten Familienmitgliedern waren es ca. 3 Millionen. 1980 stellten sie 10 % der abhängig Beschäftigten bzw. 7,2 % der Wohnbevölkerung. Diese Regelungen für Gastarbeiter lehnten sich an die Regelungen für Fremdarbeiter am Ende des 19. Jahrhunderts (»Ruhrpolen«) an.
Das waren jetzt sehr viele Zahlen. Sie haben sich vielleicht eine Tabelle erstellt und überprüft, was in welchem Zeitraum auch immer der Netto-Saldo von Aus- und Einwanderung ist. Das hilft die Rede von »Flüchtlingswellen« zu relativieren, hatte aber möglicherweise Folgen: Überprüfen Sie die These, dass die in diesem Unterkapitel skizzierten Wanderungsbewegungen hauptsächlich politisch motivierte Gewalt- bzw. Arbeitsmigrationen waren, sodass andere Wanderungsmotive in den Hintergrund traten! Diskutieren Sie die These, dass Menschen dieser Wanderungsbewegungen jeweils nur sehr eingeschränkt an den Lebensbereichen der Gesellschaft Teil hatten bzw. in der Regel mehr oder weniger stark ausgeschlossen wurden und Integrations- bzw. Inklusionsphänomene als Gegenbeispiele aus dem Bewusstsein verschwanden.
6.2.6 Zweites Beispiel zur Vertiefung: Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg Meine Mutter (Thomas Zippert) Manchmal ist es hilfreich, sich über die eigene Herkunft und deren Nachwirkungen klar zu werden. Ich möchte das hier tun und kurz von meiner Mutter (* 1933) erzählen, die als 11-Jährige im Januar 1945 aus dem schlesischen Kattowitz (heute Katowice in Polen) zusammen mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern (15, 10, 3 und knapp 2 Jahre alt) nach Westen aufbrach, Dresden brennen sah, von der Front überholt wurde, immer in der Angst vor Vergewaltigungen und Tieffliegern lebte und stets hungrig. Anfangs war die Flucht noch mit dem Zug möglich, dann zu Fuß, mitgenommen mal von russischen Armee-LKWs: meine Mutter mit dem einen Historische Erweiterungen der Perspektive
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Kinderwagen, ihre Mutter mit dem zweiten und die ältere Schwester mit dem Gepäck. Einmal fuhr der Zug ohne die Mutter los, die auf Essenssuche war. Es ist für mich kaum vorstellbar, was meine Mutter und ihre vier Geschwister in dieser Situation gefühlt haben. Einige Tage später fand die Mutter den Zug, dessen Lokomotivnummer sie sich gemerkt hatte, wieder. Das Kriegsende erlebten sie in Tschechien, wurden dann von dort vertrieben und kehrten wiederum ca. 500 km zu Fuß mit Armee-LKWs usw. bis vor die Tore von Kattowitz zurück. Ohne das Brot, das ihnen mitleidige russische Soldaten abgaben, hätten sie nicht überlebt. Dort angekommen, warnte sie ein Onkel, der geblieben war, nach Hause zu gehen. Ihnen drohe Tod oder Verhaftung, da der Vater meiner Mutter polnisch konnte und deswegen während seiner Zeit in der Wehrmacht Dolmetscher bei Verhören mit Partisanen war. Die fünfköpfige Familie floh ein drittes Mal. Schon während des Krieges hatten sich meine Großeltern für den Fall der Niederlage verabredet, sich an einem Ort im Westen zu treffen. Das gelang. Mein Großvater war zum Glück nur sehr kurz in Kriegsgefangenschaft und fand die Familie bald wieder. Dort angekommen, wurde er vom Feld weg, wo er landwirtschaftliche Hilfsarbeiten machte, in seinen alten Beruf zurückgeholt. Bald darauf fanden sie in einem Gebiet mit lauter Schrebergärten – es lag außerhalb der Kernstadt – ein kleines Grundstück, auf dem sie in Eigenarbeit ein kleines Häuschen bauten. Auch eine Krebserkrankung der Großmutter wurde zum Glück schnell erkannt. Sie blieb für ein Jahr im Krankenhaus und wurde erfolgreich behandelt. Das Gesundheitssystem funktionierte halbwegs: Es war nötig, dass meine Mutter jeden zweiten Tag Essen in die Klinik brachte, was damals in Kassel eine Tagesreise vom Stadtrand ins Zentrum erforderte. Viel schwerer war für meine Mutter das Ankommen im neuen Land. Sie hatte kriegsbedingt nur die Grundschule besucht und konnte auch nach dem Krieg wegen der Krankheit ihrer Mutter die Schule nur sporadisch besuchen. An die Hänseleien ihr gegenüber als »Polackin« erinnert sie sich noch heute sehr schmerzhaft. Hilfreich waren nur wenige Menschen, z. B. einige LehrerInnen bzw. ein Schulleiter, die ihr im Alter von ca. 20 Jahren ermöglichten, die Mittlere Reife in kurzer Zeit nachzuholen. Dann folgten Frauenfachschule (Abschluss Hauswirtschaftsmeisterin) und das Seminar für soziale Berufe (Abschluss Fürsorgerin). Ohne unbürokratische Lösungen und Unterstützung durch engagierte LehrerInnen hätte meine Mutter den Einstieg ins Berufsleben nicht geschafft. Inzwischen erzählt meine Mutter häufiger von der Flucht – und sie bekommt dabei noch heute, nach über 70 Jahren, Tränen in den Augen. Ihre 128
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alte Heimat hat sie nie wieder besucht, dafür fehlte der Mut. Sie wohnt an einem Ort, wo sie sich zuhause fühlt. Bewunderungswürdig finde ich, wie sich diese Familie ein Überleben und Ankommen an neuem Ort geschaffen hat.
Vielleicht gibt es in Ihrer Familie ähnliche Geschichten? Fragen Sie Eltern und Großeltern! Meist erzählen sie gerne – nicht immer fällt es leicht, die traumatischen oder belastenden Erfahrungen der Flucht oder der Zwangseinquartierung usw. zu erzählen. Woran können Sie noch heute die Stadtviertel oder Siedlungen der »Ost-Vertriebenen« bzw. »Ostflüchtlinge« erkennen? Wer wohnt da heute? Mit diesen Erfahrungen fällt es möglicherweise leichter, sich in die heutigen Menschen auf der Flucht hineinzuversetzen – und die signifikanten Unterschiede im Erleben der Flüchtlingssituation damals und heute wahrzunehmen. Kriegskinderromane, z. B.: Christine Brückner (1982), Nirgendwo ist Poenichen – der 2. Teil der Poenichen-Trilogie setzt mit der Flucht 1945 ein. Auch Filme oder das TV-Historiendrama »Die Flucht« (2007 mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle) veranschaulichen das Geschehen erzählerisch.
Deutschland hat, wie im letzten Unterkapitel dargestellt, in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ca. 12,5 Millionen Flüchtlinge bzw. Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (v. a. Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen) aufgenommen. Die Zahl stammt aus einer Volkszählung von 1950. Das entsprach in Westdeutschland einer Steigerung der Bevölkerung um ca. ein Viertel (25 %)! Noch 1955 »lebten 185750 Flüchtlinge und Vertriebene in insgesamt 1907 Lagern« (Oltmer 2017, S. 157) – und das in einer Situation, in der zumindest in den Großstädten etwa ein Drittel des Wohnraums zerstört war. 1945 lebten noch etwa zehn Millionen Stadtflüchtlinge als Evakuierte auf dem Land – 1947 waren es noch vier Millionen. In den Folgejahren zogen viele Flüchtlinge von selbst in andere Bundesländer bzw. Besatzungszonen um (ca. 1,7 Millionen), eine weitere Million wurde umgesiedelt, Millionen weiterer zogen in dieser Zeit aus wirtschaftlichen oder Familienzusammenführungsgründen um. Die Länder an der Historische Erweiterungen der Perspektive
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»Zonengrenze« (Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern), in denen die meisten Flüchtlinge angekommen waren, gaben dabei Flüchtlinge an die weiter im Westen bzw. Südwesten gelegenen Bundesländer ab. Schon »Anfang der 1960er Jahre galten die Wohnverhältnisse von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung als weithin angeglichen« (Oltmer 2017, S. 157, alle Zahlen auf den letzten beiden Seiten aus: ebd., S. 151–160). Wie sah die Lage der Flüchtlinge und Vertriebenen im Blick auf die 11 Felder aus (→ Kap. 1; → Kap. 6.1)? Familie: Vielen Familien gelang es, zumindest als Teilfamilie schon auf der Flucht zusammenzubleiben. Andere Familien wurden auseinandergerissen oder Kinder blieben allein »auf der Strecke«, schlugen sich allein durch oder verloren ihre Eltern durch Hunger, Tod, Krankheit, Gefangennahme, Hinrichtung o. ä. (»Wolfskinder«, Straßenkinder). Es dauerte bisweilen Jahre, z. T. bis heute, bis Angehörigen mit Hilfe der Suchdienste des Roten Kreuzes und der Kirchen wieder zusammenfanden. Manche verloren ihre ursprüngliche familiäre Anbindung auf Dauer. Das, was damals die unter Federführung des Roten Kreuzes vereinigten Suchdienste von Caritas und Ev. Hilfswerk mit mühsamer Karteikartenarbeit und öffentlich ausgehängten Flüchtlingssuchlisten anstrebten, ist heute viel einfacher geworden, da auch Menschen auf der Flucht über Internet und mobile Medien miteinander in Verbindung bleiben bzw. sich leichter auffinden können. Unter Bedingungen von Mobilität und ihrer verschärften Form, der Migration, leisten diese Instrumente wertvolle Hilfe bei Familienzusammenführung und -zusammenhalt. Die Wohnsituation und das Wohnumfeld waren natürlich beengt, manchmal katastrophal und voller Spannungen. Aufgrund des Wohnungsmangels entschieden sich die Besatzer für Zwangseinquartierungen – vor allem auf dem Land. Das fördert keine Willkommenskultur. Küchen und sanitäre Einrichtungen mussten oft von mehreren Familien gemeinsam genutzt werden, was bei unterschiedlichen regionalen Kochtraditionen die Spannungen verschärfte. Noch die letzten Kammern, auch Ställe und Scheunen waren bewohnt, provisorische Unterkünfte errichtet, auch Lager mit sogenannten »Nissenhütten« neu errichtet; auch Zwangsarbeiter- oder Kriegsgefangenenlager der Nazis wurden umfunktioniert. Später begann die Zeit der großen Wohnungsbaugenossenschaften, die innerhalb weniger Jahre hunderttausende von Wohnungen bauten; das Unternehmen des Deutschen Gewerkschaftsbundes hieß passenderweise »Neue Heimat«. 130
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Ein weiteres Beispiel ist Trutzhain (bei Ziegenhain, heute ein Ortsteil von Schwalmstadt in Nordhessen). Das Kriegsgefangenenlager wurde nach dem Krieg zunächst für displaced persons genutzt, dann zur zeitweiligen Internierung von Nationalsozialisten während der Entnazifizierung. Schließlich wurden Flüchtlinge aus Böhmen einquartiert – die bis heute in den Baracken des Lagers wohnen, weil ihnen keine Grundstücke verkauft wurden. Erst in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden rund um das Lager die typischen Eigenheimsiedlungen. Die weiterhin vor allem von der jüngeren Generation der Trutzhainer genutzten Baracken stehen unter Denkmalschutz. Inzwischen gibt es eine Gedenkstätte für diesen Ort. Ihre Wallfahrt haben sie aus Böhmen auch mitgebracht. Informieren Sie sich über Trutzhain, z. B. auf http://www.gedenkstaettetrutzhain.de/ oder http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/wagner20130321/?p=all. Vergleichen Sie z. B. für Ostwestfalen: Michael Hallerberg u. a (Hg.) (2011): Heimat für Fremde? Migration und Integration in Deutschland vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart mit Beispielen aus Ostwestfalen-Lippe. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte. –– Versuchen Sie sich in die Lage der Vertriebenen und dort angesiedelten Menschen zu versetzen – auch derer, die in den Dörfern rund herum wohnten, um die spezifischen Schwierigkeiten dieser Lebenssituation nachempfinden und mitfühlen und so einen Perspektivwechsel vollziehen zu können. –– Sie können auch andere Städte für die Flüchtlinge oder Vertriebenen, wie z. B. Espelkamp oder Neugablonz, auswählen. Auch ehemalige Lager für Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter haben oft eine interessante Nutzungsgeschichte nach dem 2. Weltkrieg (vgl. Stammlager VI K [3269] bei Stukenbrock). –– Forschen Sie in Ihrer Familiengeschichte, welche Rolle Ihre Vorfahren in dieser Zeit spielten. –– Recherchieren Sie, wie das Leben in einer »Nissenhütte« aussah. Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven (http://dah-bremerhaven. de/) bietet weitere Möglichkeiten für spannende Recherchen zum Thema Auswanderung aus und – inzwischen auch – Einwanderung nach Deutschland.
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Politik: Flüchtlinge und Vertriebene erhielten aufgrund des Abstammungsrechtes zwar schnell die deutsche Staatsbürgerschaft und wurden »Neubürger« – anders als ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene: Diese waren davon ausgeschlossen, auch wenn sie in Deutschland bleiben wollten oder mussten, weil in ihren alten Heimaten im Osten keine Überlebenden mehr da waren und Gefangennahme oder Verfolgung wegen eines pauschal unterstellten Kollaborationsverdachtes drohten. Willkommen waren sie freilich nicht, im Gegenteil hieß es: »Die Polacken kommen« (Kossert 2008, S. 43–86). Man sprach lange von der »Flüchtlingsfrage«, die als Sprengstoff der Gesellschaft galt. Passive – wie auch aktive – Erfahrungen von Ausgrenzung gehören spätestens seit dem Aufblühen des deutschen Nationalismus in Gründerzeit des Zweiten Deutschen Reiches zur deutschen Gesellschaft hinzu. Damals war lange Zeit nicht klar, ob es nicht doch eine Rückkehr gab. So war es den Neubürgern zunächst bis ca. 1950 verboten, eigene Parteien zu gründen. Einige Jahre lang bestimmten deren Parteien die politische Landschaft mit, z. B. der »Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten« (BHE) – bis zu den Bundestagswahlen 1957. Mit der Zeit gingen diese Sonderparteien in den sich bildenden großen Parteien auf. Undiskutiertes Ziel war die Assimilation an die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Hilfreich dafür war das 1953 verabschiedete Bundesvertriebenengesetz, das sie im Sinne des Grundgesetztes gleich stellte, ihnen aber besondere Unterstützung und die »Förderung ihrer kulturellen Eigenart« gewährte, sowie auch für eine erste wissenschaftliche Aufarbeitung der Flucht- und Vertreibungsgeschichte sorgte (»Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa«, 1953–1962). Bis 1969 gab es ein eigenes »Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte«. Die Entschädigungen und der Lastenausgleich aufgrund dieses Gesetzes förderten »praktisch und psychologisch die soziale und wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen und entfaltete mit seinem Ausgleichsgedanken eine für die zusammengewürfelte bundesdeutsche Gesellschaft nivellierende und integrative Wirkung« (Stiftung Haus der Geschichte 2005, S. 120). Wirtschaft: Unter schwierigsten Bedingungen (zerstörte Infrastruktur, brachliegende Felder, besonders kalte Winter) sicherten in den ersten Nachkriegsjahren die Besatzer das Überleben – auch mit Hilfe von Hilfsorganisationen (Rotes Kreuz), Kirchen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen – und dem Überlebenswillen der Betroffenen (Schwarzmarkt!). Die von amerikanischen Familien gepackten »Care-Pakete« wurden durch die Kirchen und ihre Hilfswerke (Ev. Hilfswerk/Caritas) verteilt. 132
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Anders als bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ging es damals nicht um Arbeitsverbote, sondern um das Gegenteil. Zwar waren einige Industrieanlagen zerstört oder als Reparationsleistung demontiert (so vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR). Das führte für kurze Zeit zu hohen Erwerbslosenzahlen. Bald aber nach der Währungsreform von 1948 nahm dann das in diesem Buch beschriebene sogenannte deutsche »Wirtschaftswunder« Fahrt auf, das schnell so viele Arbeitskräfte brauchte, dass schon bald über die Anwerbung neuer Fremdarbeiter, die erst jetzt Gastarbeiter genannt wurden, nachgedacht und 1955 die ersten Anwerbeabkommen geschlossen wurden. Flüchtlinge und Vertriebene übernahmen zunächst statusniedrige Arbeiten, gaben diese Rolle aber bald an die neu angeworbenen Gastarbeiter ab. In einigen der Siedlungen oder Städte für Heimatvertriebene blühten auch wieder Handwerks- und Industrietraditionen aus den Herkunftsgebieten auf (z. B. die Schmuck- und Glasindustrie in Neugablonz, die Webereien in Trutzhain). Die gemeinsame Herkunft zeigte sich teil- und zeitweise in eigenen Siedlungen; sie führte nicht zur Abkapselung, sondern erleichterte offensichtlich die Integration (vgl. Oltmer 2017, S. 157 f.). Der Arbeitsmarkt erwies sich als der leistungsfähigste Integrationsmotor der Nachkriegsgesellschaft. Die hohe Zahl an Zerstörungen hatte einen Vorteil: Sie ermöglichte es, die Wirtschaft besonders schnell und dynamisch zu modernisieren – was vor allem dadurch ermöglicht wurde, dass man zumindest Westdeutschland, anders als die Weimarer Republik, nach 1918 nicht durch Reparationsleistungen wirtschaftlich in die Knie gezwungen, sondern im Gegenteil durch den Marshallplan unterstützt hat. Bildung/Erziehung: Der Wirtschaftsaufschwung ermöglichte es auch, die zerstörten bzw. neu benötigten Bildungseinrichtungen wieder bzw. neu zu eröffnen. Es wurde großer Wert darauf gelegt, dass der in den Kriegszeiten nur sehr sporadische Schulbesuch wieder regelmäßig stattfand. Viele holten als ältere Jugendliche und junge Erwachsene Schul- und Berufsabschlüsse nach. Zwar gab es keine direkten Sprachbarrieren wie bei heutigen Flüchtlingen aus anderen Ländern oder gar Kontinenten. Aber andere Dialekte, unterschiedliches Alter und zum Teil traumatische Erfahrungen, sowohl bei den Kindern selbst als auch das Leiden unter denen der Eltern und Großeltern, machten das Miteinander nicht einfach. Auch wenn es das Wort »Mobbing« noch nicht gab – Mobbing selbst gab es sehr häufig. Erzieherisch galt es, sich inhaltlich neu zu positionieren. Die nationalsozialistische Ideologie musste ebenso überwunden werden, wie z. B. sozialistische Ideen aus Herkunftsländern bestimmter »Flüchtlinge« und MigrantInHistorische Erweiterungen der Perspektive
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nen. Didaktisch-methodisch, also hinsichtlich der Frage, wie z. B. Hilfen zur Erziehung gestaltet werden, war Deutschland durch die eindimensionalen Erziehungsansätze der Hitlerjugend und darin dem Bund deutscher Mädel selbst zum Hilfefall geworden. Es dauerte bis weit in die sechziger Jahre, bis die Generation, die vor 1945 ausgebildet bzw. geprägt worden war, in den Ruhestand ging (vgl. http://www.rundertisch-heimerziehung.de/). Deshalb griff man zunächst nur zögerlich auf Konzepte aus der Weimarer Republik zurück, bis erst allmählich neue Ideen z. B. in der Sozialen Arbeit entwickelt bzw. importiert wurden (vgl. auch Kap 4). Soziale Arbeit verdankt sich in Teilen selbst der Migration!
Überlegen Sie, welche Methoden der Sozialen Arbeit (Rück-)Importe aus dem englischen Sprachraum sind! Drei Hinweise seien gegeben: Casework (Einzelfallhilfe) nach Übersetzungen von Hertha Kraus, Social Group Work (Gruppenarbeit) durch die Lehrtätigkeit von Gisela Konopka und Gemeinwesenarbeit. Erkunden Sie die Biografie dieser Migrantinnen. Kennen Sie weitere Methoden?
Religion/Kultur: Im Blick auf die Flüchtlinge und Vertriebenen übernahmen die Kirchen in den ersten Nachkriegsjahren wichtige Funktionen. Die Kirchen und ihre Hilfswerke waren auf den ersten Blick nicht durch den Nationalsozialismus korrumpiert und als gesellschaftliche Großeinrichtungen intakt geblieben. Dadurch waren sie für die Siegermächte Kooperationspartner, u. a. bei der Verteilung von Hilfsgütern und bei den ersten Ansätzen von Seelsorge an den Neuankömmlingen, auch bei der Trauer um die alte Heimat und den Versuchen, den neuen Wegen einen Sinn zu geben und sich – so die katholische Kirche als »wanderndes Gottesvolk« neu zu verstehen. Zum Teil fungierten die Kirchen auch als erste Interessenvertretung der Flüchtlinge – quasi als Ersatz für die anfangs verbotenen Parteien. Weil unter den Flüchtlingen und Vertriebenen auch Pfarrer waren, die teilweise ihre Gemeinden begleitet hatten, wuchsen sie schnell in die Rolle von Vertriebenenpfarrern und -seelsorgern hinein und wurden nach einiger Zeit auch förmlich als Pfarrer eingesetzt. In einigen Fällen (eigenen Siedlungen, Stadtteilen usw.) wurden mit der Zeit eigene Gemeinden gegründet. Weit nachhaltiger aber war ein anderer Effekt: Die vielen Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen sorgten für ein Aufbrechen der vorher homogenen 134
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konfessionellen Milieus und so für eine konfessionelle Durchmischung der Bevölkerung, was mit der Zeit zum Abbau konfessioneller Vorurteile führte, aber auch zum Machtverlust der alten Mehrheitskirchen (vgl. insgesamt zu diesem Bereich: Flucht, Vertreibung, Integration, ebd., S. 132–143). Es zeigt sich hier nicht nur, dass die Kirchen ihrem genuinen diakonischen Auftrag von Leib- und Seelsorge nachkamen, sondern auch, dass sie nach der organisatorischen Trennung von Staat und Kirche 1918 ihren Freiraum und ihre organisatorische Selbständigkeit zum Nutzen aller einsetzen konnten. In Zeiten dieser Massenmigrationen konnte zumindest hier und da deutlich werden, dass der Gott der Christen in der alten wie der neuen Heimat derselbe ist, er die Menschen egal an welchem Ort begleitet, sodass Ursprungserfahrungen des jüdischen Volkes neu erfahrbar wurden, das immer wieder auszog oder ins Exil vertrieben wurde (→ Kap. 2.2). Zivilgesellschaft: Die Gleichschaltungspolitik des NS-Regimes hatte nach dem Krieg zur Folge, dass sich das zivilgesellschaftliche Gefüge von Vereinen und Verbänden neu bilden musste. Hier wird deutlich, dass man die Kirche als uralte Großorganisationen nicht einfach diesem Feld zuordnen kann, auch wenn Teile der Kirche diesem Bereich zuzurechnen sind (zu diesem Thema vgl. Stiftung Haus der Geschichte, S. 145–153). Für den Bereich der Migration ist ein Teilbereich von besonderem Interesse: die Selbstorganisation der Flüchtlinge und Vertriebenen in nach Herkunftsregionen sortierten Landsmannschaften. Dieser Prozess begann ab 1948. Er diente der Pflege der Verbundenheit ebenso wie der des Brauchtums der alten Heimat (besonders auf den Pfingsttreffen), fungierte aber auch als politische Interessenvertretung, die das Recht auf Heimat (»Verzicht ist Verrat«; vgl. Kossert 2008, S. 139–192), immer wieder stark machte und die deutsche Frage samt der Möglichkeit zur Rückkehr in die alte Heimat offen zu halten versuchte, und zwar sowohl gegen die Realpolitik unter Konrad Adenauer als auch besonders scharf in der Zeit der auf Entspannung bedachten Ostpolitik unter Willy Brandt (Bundeskanzler von 1969–1974), die durch den in den Ostverträgen dokumentierten offiziellen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Inzwischen sind sie bei steigenden Mitgliederverlusten politisch beinah bedeutungslos. Zum Teil haben sich auch ihre Ziele nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erledigt: Unter dem Dach der Europäischen Union war es wieder möglich, in die alte Heimat zu reisen bzw. sogar dort wieder zu wohnen und zu siedeln, wovon freilich nur wenige Gebrauch machten. Trotz aller Kritik an ihrer oft rückwärtsgewandten Politik wurde die Legitimität der Selbstorganisation bei diesen Verbänden als solche nie in Historische Erweiterungen der Perspektive
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Frage gestellt. Landsmannschaftliche Selbstorganisation scheint als solche auch kein Hindernis bei Assimilation und Integration zu sein, sondern eher Ausdruck eines selbstverständlichen Bedürfnisses, alte Rituale, Sitten, Bräuche – auch alte landsmannschaftliche und familiäre Kontakte (also insgesamt so etwas wie »Heimat«) zu pflegen, zu betrauern und sich zugleich neuen Horizonten zuzuwenden. Offensichtlich braucht es beides. Trauer und Traumatisierung? (Gesundheit) Die Erfolgsgeschichte des Wirtschaftswunders hatte auch Schattenseiten. Ein Klassiker der Nachkriegszeit fasst es 1967 unter dem Schlagwort »Die Unfähigkeit zu trauern« zusammen, so der Buchtitel des Psychoanalytikerehepaars Alexander und Margarete Mitscherlich (1908–1982/1917–2012). Es gab schon früher eindeutige Analysen, die aber nicht die Öffentlichkeit erreichten (vgl. Kossert 2008, S. 43 f.). Erst in den 1990er-Jahren wurde es möglich, hinter und nach und zusätzlich zum immer wieder notwendigen Gedenken der deutschen Schuld und Verantwortung auch das Leiden der Kriegsgenerationen zu entdecken und zu thematisieren, vor allem auch das der Kriegskinder (Heinl 1994; Radebold 2015; Bode 2004). Diese Geschichte sensibilisiert für die Fluchterfahrungen der jüngeren Vergangenheit. Es scheint aber ebenso zu sein, dass die lange Verdrängungsgeschichte es erschwert, sich in Menschen, die in ihrer Not (welcher auch immer) zu uns flüchten, hineinzuversetzen und Lösungen zu finden, die ein Ankommen und eine Integration in eine neue Kultur erleichtern.
Vergleichen Sie die Migrationssituation nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Arbeitsmigration ab 1955. Diskutieren Sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten (→ Kap. 4.1 und → Kap. 6.1): Wie beurteilen Sie die Integration der 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945? Was ist daran gelungen, was nicht? Was könnte übertragbar für den Umgang mit anderen Formen der Migration sein, was nicht? Wieso fehlt Ihrer Meinung nach in den aktuellen sozialarbeitswissenschaftlichen Diskursen ein Bezug zu dieser Art von Migration, die in zeitlich unmittelbarer Nähe bzw. sogar in sachlichem Zusammenhang stattfand? Beziehen Sie insbesondere zu folgenden Fragen Stellung: –– Welche Rolle spielt die landsmannschaftliche und religiöse Selbstorganisation? –– Welche Rolle spielt nach 1945 die gemeinsame Sprache und Religion trotz der Unterschiede in Dialekt und Konfession im Unterschied zum 136
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Fehlen gemeinsamer Sprache und gemeinsamer religiöser Ausdrucksformen bei späteren Migrationsgenerationen? –– Welche Rolle spielt die Politik, wenn sie die Ziele und Rahmenbedingungen der einen wie der anderen Migration festlegt (Förderung vs. Begrenzung)? Welche Formen von demokratischer Beteiligung sind zu beobachten? Wie sind die Bedingungen in den anderen Feldern (Förderung einer prosperierenden Wirtschaft, Bildung, Zivilgesellschaft) zu beurteilen? –– Welche Formen der Unterstützung gab es, die späteren MigrantInnen gruppen nicht gewährt wurden?
6.2.7 Die aktuelle Flüchtlingssituation Arrival Cities
Neuere Untersuchungen zu MigrantInnengemeinden (Nagel 2013) oder »arrival cities« (Saunders 2011/2013) zeigen sehr deutlich, wie zumindest einige Generationen lang starke Verbindungen – auch finanzielle Verbindlichkeiten – sowohl untereinander als auch zum Herkunftsort und zu den Angehörigen dort bestehen bleiben, ja konstitutiv für die Migration sind. Prozesse der Integration, Anpassung und des Heimischwerdens an neuem Ort schließen gar nicht aus, dass man soziale Netzwerke der Herkunftskultur, sei es in der Herkunftsregion oder sei es in der Ankommensregion braucht, nutzt und pflegt (vgl. → Kap. 2.2). Die Rücküberweisungen der ersten MigrantInnengenerationen sind überlebensnotwendig für die Herkunftsgebiete und bringen die Handelsbilanzen der Ankunftsländer bisweilen in Schieflage. Sie sind heutzutage um ein Vielfaches höher als jede Entwicklungshilfe. Gleichzeitig zeigt sich jedoch auch, dass eine Rückkehr mit der Zeit immer seltener in Frage kommt. Immer mehr Menschen ziehen – global gesehen – in die Städte; nur ein kleiner Teil zurück aufs Land oder in ihr Herkunftsland. Diese Untersuchungen zeigen auch, was erfolgreiche arrival cities auszeichnet: Menschen dort verfügen in der Regel über klare Ziele und haben oft Pläne, wie sie über ein bis zwei Generationen hinweg aus diesen arrival cities wegziehen, bzw. diese transformieren und so in der neuen Gesellschaft ankommen wollen. Dazu müssen sie aber erstens die Möglichkeit haben, sich zu geringsten Kosten Wohnraum zu mieten oder selbst zu bauen (und selbst wenn dies für kurze Zeit Wellblechhüten sind); sie müssen zweitens arbeiten dürfen und können (z. B.: in kleinen Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen in der arrival city, wofür die Netzwerke ihrer Herkunftskultur Historische Erweiterungen der Perspektive
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bzw. früherer MigrantInnengenerationen von primärer Bedeutung sind). Und drittens muss die aufnehmende Gesellschaft dann mit der Zeit die nötigen Infrastrukturen aufbauen (Schulen, Gesundheitsversorgung, Verkehrsanbindung usw.). Geschieht das nicht, können solche Städte oder Stadtviertel zu Sackgassen werden; oft übernehmen dann mafiose Strukturen quasistaatliche Funktionen.
Gruppenaufgabe: 1. Was kennzeichnet heutige Wohnbezirke mit einem besonders hohen sogenannten »Ausländeranteil«? Sind dies exkludierende Parallelgesellschaften oder Orte, in denen Menschen ähnlicher Kultur einander unterstützende Netzwerke finden? 2. Sollte man diese besonderen Viertel (arrival cities) abschaffen oder fördern? 3. Falls ja, auf welche Weise und wann – falls nein, warum nicht? 4. Welche wirtschaftlichen Aktivitäten können Sie in diesen Vierteln (nicht) beobachten? 5. Wie bewerten Sie nach diesen Forschungsergebnissen die Furcht vor sogenannten »Parallelgesellschaften« und wie beurteilen Sie die politischen Maßnahmen zu deren Verhinderung? 6. Entwickeln Sie Alternativen zu bisherigen Selbstverständlichkeiten der Politik gegenüber Migranten und Migrantinnen!
Die Welt ist auf eine Weise in Bewegung, wie sie es selbst in Zeiten der sogenannten »Völkerwanderung« noch nie war. Das fordert aber auch Gesellschaften neu heraus, ihr Miteinander neu zu »bestimmen«, um mal ein neutrales Wort für die komplizierten und vielfältigen politischen, ökonomischen, kulturellen, religiösen und anderen Prozesse zu wählen. Es zu ignorieren, wird nicht gelingen. Es mit Gewalt zu stoppen, wird nur noch größere Migrationen auslösen – das jedenfalls zeigt die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Was unter diesen Bedingungen für Menschen »Heimat« ist, bleibt unklar. Heimat wird sich auch nicht nur am Geburtsort oder an der Verwurzelung in einer bestimmten Landschaft festmachen. Noch wird sie sich auf gut funktionierende und vertraute ebenso wie Vertrautheit und verlässliche Unterstützung garantierende Netze von Verwandten, Nachbarn und FreundIn138
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
nen oder auf die Verwurzelung in einer Sprache oder Kultur und Religion beschränken lassen. Die Geburtsregion kann irrelevant werden und in den Hintergrund der Geschichte treten bzw. zur Vision einer Heimkehr in ein gelobtes Land transformieren – das zeigt die Geschichte aller Migrationen. Auch die anderen Aspekte sind wandelbar. Menschen können und wollen sich anpassen und sind unter bestimmten Bedingungen bereit, sich neue unterstützende Beziehungsnetzwerke aufzubauen und dafür die merkwürdigsten Sprachen zu erlernen. Was allerdings nicht zur Disposition steht, ist eine Gesellschaft, die halbwegs funktioniert, und bereit ist, neue Menschen aufzunehmen. Das erfordert zu allererst Kommunikation: Ohne eine (bzw. die vor Ort übliche) gemeinsame Sprache kann keine Demokratie, keine gewaltfreie Konfliktregelung oder Interessenabstimmung funktionieren. Ferner müssen die Bedingungen benannt werden, die für ein Funktionieren von Gesellschaft wesentlich, notwendig bzw. unverzichtbar sind (→ Kap. 6.1, → Abb. 6).
Gruppenaufgabe: 1. Diskutieren Sie untereinander, was für Sie Heimat ist! 2. Überlegen Sie auch, inwiefern Sie selbst als Bildungsmigranten zu gelten haben und was für Sie demnächst Heimat oder ihr »gelobtes Land« sein dürfte. 3. Denken Sie an Rückkehr: falls nein, warum nicht? Falls ja, warum? 4. Wenn Sie die MigrantInnenzahlen nach dem 2. Weltkrieg und heute vergleichen: Wann bzw. unter welchen Bedingungen gelingt Heimischwerden – und wann nicht?
6.2.8 Drittes Beispiel zur Vertiefung: ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (»UMF«) In dem Buch »Im Meer schwimmen Krokodile« (2011) erzählt der Italiener Fabio Geda die achtjährige Fluchtgeschichte von Enaiatollah Akbari, der als Zehnjähriger von seiner Mutter auf die Flucht geschickt wird, weil die Taliban in Afghanistan sein Leben real bedrohen bzw. ihm der Verkauf in Schuldsklaverei droht. Das Buch erzählt die wahre Geschichte seiner Flucht als Kind, dann als Jugendlicher, zunächst über Pakistan, dann Iran, die Türkei und Griechenland, bis sie in Italien nach ca. fünf Jahren zu Ende ist, er eine Historische Erweiterungen der Perspektive
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Pflegefamilie findet, anerkannt wird und nach einiger Zeit dort sogar seine Mutter erstmals am Telefon wieder erreicht. Die Etappen sind bewegend und wohl auch typisch: mal allein, dann wieder mit anderen Flüchtlingen unterwegs, immer wieder auf Schlepper angewiesen, von denen hunderte auf dieser Route von den Flüchtlingen ihr Auskommen haben. Zwei Razzien bringen ihn kurzzeitig nach Afghanistan zurück, von wo er sofort wieder aufbricht. Zwischendurch arbeitet er monatelang als illegaler Bauarbeiter im Iran, später in Griechenland, um die nächsten Fluchtetappen zu finanzieren. Zwei lebensgefährliche Passagen berühren besonders: ein vierwöchiger Marsch über das verschneite Hochgebirge zwischen dem Iran und der Türkei bzw. die Überfahrt mit anfangs vier weiteren Jungen im winzigen Schlauchboot über das offene Meer nach Lesbos. Auf diesen Stationen findet er Menschen, die ihm überraschend helfen oder ihn verraten – und dennoch hält er über Jahre an seinem Vorhaben fest, einen Ort für sich zum Leben zu finden.
Lesen oder schauen Sie eine, am besten mehrere der unzähligen im Netz kursierenden Geschichten von flüchtenden Kindern aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Eritrea oder anderen Ländern, z. B. : Yussuf: Zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=mahpZMgkY28 https://www.youtube.com/watch?v=WH9Q4VO9R6k https://www.youtube.com/watch?v=nU86cbL6 mkA Geben Sie Stichworte, wie »Flüchtlingskinder« oder »unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« ein – Sie werden sicher fündig. Versuchen Sie, sich ein Bild zu machen, was die Fluchtmotive sein könnten!
In den letzten Jahren sind vermehrt sogenannte »unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« nach Deutschland gelangt. Sie stammen aus verschiedenen Ländern des Mittleren und Nahen Ostens bzw. aus Nord- und Zentralafrika. Die Motive, hierher zu kommen, sind unterschiedlich. Vielen aber ist gemeinsam, dass Sie Verantwortung für die in ihrem Herkunftsland verbliebenen Familienangehörigen übernehmen (wenn sie noch Familie haben), indem sie die Erwartung zu erfüllen versuchen, damit ihren Familien unter extrem erschwerten Bedingungen das Überleben gesichert wird, durch Überweisung von Geld bzw. Vorbereitung weiterer Fluchtmöglichkeiten. 140
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Wie bei den Hugenotten oder den Vertriebenen nun die Teilhabe bzw. Nicht-Teilhabe an den elf Lebensbereichen darzustellen, ist signifikant anders, aber wegen der sich oft ändernden Gesetzeslage bzw. deren wechselnden Anwendungen sehr schwierig. Wir können hier nur auf Ihre Rechtsmodule verweisen, die zu besuchen ja eine der wenigen explizit genannten Voraussetzungen zur staatlichen Anerkennung als SozialarbeiterIn ist. Gute und zahlreich vorhandene Handreichungen von Organisationen der Flüchtlingshilfe werden herausgegeben und immer wieder überarbeitet – von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, wie der Diakonie und der Caritas, von Gewerkschaften, Kommunen, Schulämtern, vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), aber auch von Flüchtlingsinitiativen. Sie können ein erster Anhaltspunkt sein, ersetzen aber nicht fundierte Rechtskenntnisse und Anwendungskompetenzen in einem außerordentlich komplizierten und dynamischen Rechtsbereich, womit wir beim ersten Feld wären. System Recht: Hier ankommende Flüchtlinge können sehr unterschiedliche Rechtsstatus haben, davon unterscheiden sich noch einmal die der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (z. B. Schulpflicht). Von den zuständigen Instanzen wird der Rechtsstatus erst in zum Teil mehrjährigen Verfahren und Gerichtsprozessen geklärt. Welche Grund-, Bürger- und Menschenrechte auch für sie gelten, unterscheidet sich deutlich von denen der BürgerInnen. Das deutsche Rechtssystem verfügt nicht wie andere Länder über das Instrument eines Einwanderungsgesetzes, das es ermöglicht, unterschiedliche Migrationsarten abzubilden und dafür jeweils differenzierte Regeln zu entwickeln. Ein solches Einwanderungsgesetz, das die in → Kap. 2.4 bzw. Kap. 6.2.1 (Tab. 1) genannten Migrationsgründe abbilden würde, hat das System Politik aus parteipolitischen Gründen bisher nicht zu Stande gebracht. Seit Jahrzehnten hangelt sich dieses System von Asylkompromiss zu Asylkompromiss und revidiert die Beschränkungen des Grundrechts auf Asyl entsprechend der politischen Stimmungs- und wirtschaftlichen Interessenlage, was in der Regel deren immer weitergehende Einschränkung bedeutete. Dass im System Politik für Kinder (und auch Nicht-EU-Ausländer) keine eigenständige politische Interessenvertretung vorgesehen ist, erschwert es sehr, für diese Personengruppen Verbesserungen durchzusetzen.
1. Überprüfen Sie – z. B. in Ihrem Rechtsmodul – die aktuelle Rechtslage für Flüchtlinge bzw. unbegleitete minderjährige Flüchtlinge! Historische Erweiterungen der Perspektive
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2. Diskutieren Sie untereinander, ob und inwiefern es sinnvoll ist, Flüchtlingen und Asylbewerbern nicht alle Grundrechte (sofort) zuzuerkennen. 3. Welche Logik zeigt sich Ihnen in den aktuellen Veränderungen und Anpassungen des Rechts? 4. Welche Art von Interessenvertretung für Nichtbürger wäre denkbar?
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürfen, ja müssen am System Erziehung und am System Bildung einschließlich Berufsausbildung teilhaben, solange sie unter 18 Jahren sind. Dann verlieren Sie dieses Recht meist sofort, auch wenn das Geburtsalter nur geschätzt wird (durch entwürdigende Praktiken der medizinischen Schätzung des biologischen Lebensalters durch die Gerichtsmedizin) oder sie durch Krieg, Flucht u. a. gar keine Gelegenheit zum Erwerb eines Schul- oder Ausbildungsabschlusses hatten und inzwischen (außerhalb des Kreises der SGB-Zahlungsempfänger!) ein lebenslanges Recht bzw. sogar eine Pflicht auf Bildung besteht. Wie sinnvoll ist diese Schulpflicht für Jugendliche ohne Deutschkenntnisse und zum Teil ohne Schulerfahrung und -besuch in Schulen, die nur bedingt auf diese Gruppe von SchülerInnen vorbereitet sein kann? Wie sinnvoll wären heute wie bei den Hugenotten früher muttersprachliche Schulen? Auch berufliche Ausbildungen sind möglich, aber auch sie haben aufgrund von Sprachschwierigkeiten und unterschiedlichen Auffassungen von »Arbeit«, »Lernen« bzw. den Lehrlings-/Meisterrollen sehr hohe Hürden für das Gelingen. Hinzu kommt, dass viele dieser Jugendlichen Berufsvorstellungen haben, die aus ihren Herkunftsländern stammen, aber nicht zum deutschen Bildungssystem passen, das ca. 450 verschiedene Ausbildungsberufe und ca. 10.000 Bachelor-Studiengänge beinhaltet. Da verirren sich sogar manche »Eingeborenen«. Als Jugendliche partizipieren sie in der Regel noch nicht in Arbeitnehmerrollen sondern nur als Konsumenten bzw. als Auszubildende am System Wirtschaft. Welche Unterstützung sie aktuell unter welchen Bedingungen erhalten, lohnt sich ebenso zu klären wie die Frage, ob nicht Ausbildung und spätere Arbeit in Netzwerken von MigrantInnen für die ersten Jahre oder Jahrzehnte zumindest nicht auch eine erfolgversprechende Option darstellt als sie zwangsweise in vorhandene Normalsysteme einzugliedern, die die zusätzlichen Unterstützungsbedarfe nicht leisten (können, sollen oder wollen). Wenn diese unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dann (nominell bzw. dem Recht nach) erwachsen werden, drohen ihnen oft die strengen Auf142
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
lagen des Asylrechts. D. h., es gilt z. B. Arbeitsverbot, das nach Vorläufern Ende der 1970er-Jahre übrigens erst 1986 eingeführt wurde. Damals waren es zur Abschreckung fünf Jahre, in den letzten Jahren wurde die Phase wieder verkürzt, wohl um den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, der jetzt – anders als in den 1980er- und 1990er-Jahren – nach Fachkräften ruft.
Klären Sie, welche gesetzlichen Regelungen aktuell für Arbeit bzw. Ausbildung gelten, und überlegen Sie, welche Vorbereitung und Unterstützung es aus Sicht der langsam erwachsen werdenden, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge eigentlich bräuchte, um auf ein Arbeitsleben in Deutschland vorbereitet zu werden.
Trotz sehr knapper Unterstützung haben auch diese Flüchtlinge die unverzichtbaren Kosten für Telekommunikation (System mediale Infrastruktur). Sie benötigen diese Kommunikationsmittel, um (falls noch vorhanden) mit ihrer Herkunftsfamilie, -region bzw. Mitflüchtlingen, die aus denselben Regionen wie sie selbst stammen, zu kommunizieren, sich gegenseitig zu unterstützen und über Ressourcen welcher Art auch immer zu informieren und diese zu teilen bzw. zu nutzen. Dasselbe gilt für das Recht auf Leistungen im Krankheitsfall (System Gesundheit). Wie eingeschränkt dieses Recht ist, das ja aus dem Grundrecht »auf Leben und körperliche Unversehrtheit« (Art. 2 GG) folgt, ist ebenfalls aktuell zu prüfen. In der Regel ist auch wegen der offensichtlichen bzw. zu vermutenden (Psycho-)Traumatisierungen vor und während der Flucht nicht mit einem niedrigeren, sondern mit einem höheren Bedarf zu rechnen. Wie wird nicht nur rechtlich begründet, dass dieser nicht gewährt wird? Erfahrungen mit Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen, dass die in diesen Phasen erlittenen Verletzungen auch noch nach Jahrzehnten offene Wunden sind, die nach Abschluss des Berufslebens im Alter oft verstärkt aufbrechen. Im Bereich der Zivilgesellschaft ist nicht nur die sehr vielfältige Unterstützer-Szene für Flüchtlinge angesiedelt (»Willkommenskultur«). In dieser Willkommenskultur sind sehr unterschiedliche AkteurInnen der Zivilgesellschaft engagiert: nicht nur Kirchengemeinden und andere Freiwillige, sondern auch Gemeinden und Vereine von MigrantInnen, die schon etwas länger hier sind. Historische Erweiterungen der Perspektive
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Oft ist der Sport dann ein sehr gut geeignetes Mittel der Teilhabe, wenn Sportvereine sich diesen Menschen öffnen oder sie in Wettbewerbe miteinbeziehen. Sport ist seit dem Wiederaufleben der Olympischen Idee vor ca. 120 Jahren als Mittel der friedlichen Völkerverständigung (was freilich nicht für alle Zuschauer gilt) zu verstehen. Andere Vereine stehen in mühsamen Veränderungsprozessen (vgl. die Diskussion um muslimische Schützenkönige!). Das System Familie ist für diese Menschen mehrfach beeinträchtigt: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müssen als Jugendliche auf den Schutz der Eltern verzichten, ja, sie müssen oft noch für deren Unterstützung sorgen. Das Asylrecht erschwert es außerordentlich, für Familienzusammenführung zu sorgen, da die kommunalen Verteilungsschlüssel vorrangig exekutiert werden. Gemeinschaftsunterkünfte, oft multinational, multikulturell und multireligiös auf engstem Raum, erschweren die Ausbildung von unterstützenden Netzwerken, wie sie MigrantInnengruppen untereinander beinah von selbst immer schon ausgebildet haben, wenn man sie nicht daran hindert, zusammenzuziehen oder sich zusammenzuschließen.29 Das kann und wird immer häufiger durch die religiösen bzw. landsmannschaftlichen Selbstorganisationen in Migrantengemeinden (System Religion u. a.) geleistet. Die Hilfsbereitschaft durch Moscheegemeinden oder christliche Gemeinden von Menschen anderer Sprache ist weit überdurchschnittlich ausgeprägt gegenüber der der eingeborenen Bevölkerung. Das hat die Migrationsforschung immer wieder bestätigt (vgl. Nagel 2013; 2016). So zeigt sich die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge als enorm beschränkt und behindert in ihren Teilhaberechten und -möglichkeiten, sogar wenn dies mehrere Menschen- bzw. Bürgerrechte verletzt. Es bleibt zu prüfen, ob die Minderjährigen in der Regel zugebilligte und bei minderjährigen Flüchtlingen wahrscheinlich erhöhte Schutzbedürftigkeit ausreichend gewährleistet wird.
29 Als Grund dafür wird oft die Sorge vor Parallelgesellschaften angeführt – wir werden darauf zurückkommen. Sollten Sie selbst einmal für längere Zeit (z. B. ein Jahr) im Ausland gewesen sein, werden Sie an sich beobachtet haben, dass man im Ausland gerne Kontakt zu Menschen aus dem eigenen Herkunftsland sucht, die einem das neue Land auf- und erschließen können.
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Der Raum möglicher Teilhabe(n)
Weitere Anregungen: Schauen Sie sich den Film »Gangsterläufer« an: http://www.bpb.de/politik/ innenpolitik/gangsterlaeufer/gangsterlaeufer/202802/ueber-das-lebendes-yehya-e Oder die Reportagen: http://www.spiegel.de/sptv/spiegeltv/spiegel-tv-ueber-unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge-a-1100435.html http://www.t-online.de/eltern/familie/id_76985522/-37-grad-doku-ueberjunge-fluechtlinge-lernen-und-warten.html
6.3 Die 11 Felder im Kontext der drei Fluchtgeschichten Der Vergleich der drei exemplarischen Fluchtgeschichten (→ Kap. 6.2.4., → Kap. 6.2.6. und → Kap. 6.2.8) ist auf vielfältige Weise möglich. Der Vergleich mit anderen Migrationsgeschichten führt aus Verengungen nur auf die Gastarbeitergeschichte hinaus und zeigt Ressourcen ebenso wie schon lange angelegte Erschwernisse, die Normalität von Migration wahrzunehmen, zuzulassen und konstruktiv und nicht überwiegend exkludierend zu gestalten. In diesem Kapitel soll angedeutet werden, welche analytischen Vorteile der Blick auf die 11 Felder erbringt. Die Betrachtung zeigt, dass offensichtlich nicht nur das eigene private Leben in mehreren Lebensbereichen, mit mehreren Rollen und Aufgaben jonglieren muss. Auch das Leben derer, die hier einwandern, auch aus früheren Zeiten, zeigt, a) dass fast alle in den 11 Feldern genannten Lebensbereiche, Organisationen und Systeme betroffen sind und Integration darin besteht, an diesen Feldern mit der Zeit teilzuhaben; b) dass sie entweder unterstützend bzw. erschwerend auf das Ankommen in der neuen Heimat einwirken können. c) Vor allem das Feld der Politik kann entscheidend zu einem gelingenden Ankommen und Teilhaben beitragen, wenn sie Flüchtlinge – in unseren Beispielen waren es fast immer Flüchtlinge vor Gewalt – etwas (!) stärker als die einheimische Bevölkerung unterstützt, weil sie durch Verlassen der Heimat, durch die Kosten der Flucht und des Neuanfangs nicht nur Die 11 Felder im Kontext der drei Fluchtgeschichten
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finanziell besonders geschwächt sind und Anschubfinanzierungen oder -erleichterungen brauchen, um sich ein eigenständiges, nicht mehr von Unterstützung abhängiges Leben aufzubauen. d) Den Geflüchteten Arbeit und Gelderwerb auf legale Weise zu ermöglichen, und zwar unter erleichterten Bedingungen, scheint eine Schlüsselfrage zu sein, ohne die ein Ankommen nicht gelingen kann (vgl. D. Saunders 2011/2013), zumal Neuankömmlingen nicht alle Unterstützungsoptionen der neuen Heimat bekannt sind, offenstehen oder ihnen zu nutzen möglich erscheinen. e) Offensichtlich ist auch, dass neben Politik und Ökonomie auch die anderen Lebensbereiche unterstützend einwirken können und müssen. Sie können dies auf je spezifische Weise anders als Politik und Ökonomie, bisweilen sogar subsidiär, wie z. B. die Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg, das Bildungssystem und auch die Zivilgesellschaft als der Ort, wo sich gastfreundliche Einheimische ebenso wie initiativfreudige Migrationsgruppen selbst organisieren können. f) Die Familien und Familienverbände als primäre Bezugsgruppen haben entscheidende Bedeutung – sie zu schwächen, indem man sie auseinanderreißt, Familienzusammenführung verhindert oder unnötig bürokratisch erschwert, oder Unterstützung untereinander unmöglich macht sowie Privatsphäre verhindert (Asylantenheim), belastet MigrantInnen oft erheblich. g) Zudem brauchen die durch Migrationserfahrungen geschwächten Menschen neben der Eröffnung von Freiräumen und der Chance, sich als handlungsfähig, handlungsmächtig und selbstwirksam in den neuen Lebensbedingungen zu erfahren, auch besondere gesundheitliche und soziale Unterstützung, um die inneren und äußeren Verletzungen der Flucht lindern zu können – am besten durch oder mit Hilfe eigener Ressourcen. h) Erstaunlicherweise scheint es für den Erfolg des Ankommens und Teilhabens ziemlich förderlich zu sein, wenn sich Immigrationsgruppen in den ersten Generationen in eigenen Siedlungen, Quartieren oder Stadtteilen sammeln. Sie können so die ihnen bekannten alten Netzwerke besser nutzen; heute gelingt das auch durch mediale Vernetzung. Sie haben möglicherweise durch Rückbindung an ihre Herkunftskultur, -religion und familiären Netzwerke (vgl. → Kap. 2.2) bessere Möglichkeiten, sich der neuen Kultur zu öffnen und die richtigen Wege zum Einstieg zu finden. Parallelwelten oder -kulturen sind nicht per se ein Hindernis – sie stellen auch eine Ressource dar. 146
Der Raum möglicher Teilhabe(n)
1. Diskutieren Sie bzw. sammeln Sie für sich die »Pros« und »Contras«, ob bzw. inwiefern das Leben in homogenen Migrantengruppen das Ankommen in der neuen Heimat fördert oder hindert! 2. Welche weiteren Bedingungen sind nötig, damit Integration, Teilhabe und Ankommen in neuen Ländern gelingen? 3. Welche zusätzlichen Erkenntnisse bringt der Vergleich mit früheren Migrationsgruppen?
Die 11 Felder im Kontext der drei Fluchtgeschichten
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Epilog oder Aporien gegenwärtiger Arbeit mit geflohenen Menschen und Fragmente einer neuen Ausrichtung
7.1 Aporien Das griechische Wort Aporie bedeutet Ratlosigkeit im Kontext von sich widersprechenden Vorstellungen. In Bezug auf den ersten Teil der Überschrift dieses Epilogs ist also gemeint, dass die gegenwärtige Arbeit mit geflohenen Menschen mit Ratlosigkeiten dahingehend einhergeht, dass viele verschiedene und sich zum Teil widersprechende Ansprüche nicht ausschließlich an jene gestellt werden, die, ob durch Flucht oder auch anders motivierte Migration, in dieses Land gekommen sind, sondern auch in Bezug auf jene, die professionell mit diesen Menschen arbeiten. Aber nicht nur fachlich, sondern auch gesellschaftlich gibt es kein einheitliches Bild, an dem sich orientiert werden könnte. Vom schwarzen Bereich der Ablehnung und Gewaltbereitschaft gegenüber migrierten Menschen bis zur weißen, gesinnungsethisch intendierten Befürwortung absoluter Grenzöffnung (vgl. Ott 2016) sind unzählige Grauzonen gegeben, die zu bedienen ebenso unmöglich ist, wie daraus einen Handlungsauftrag abzuleiten. Auch politisch-rechtlich sind die Aufträge unklar. Zwar gibt es Handlungsabläufe, was z. B. bei einer Aufnahme in eine sogenannte Clearingeinrichtung30 zu tun ist (nämlich als erstes eine medizinische Untersuchung einzuleiten), aber hinsichtlich pädagogischer Maßnahmen bleibt die Angelegenheit eher diffus. Zumindest in der Jugendhilfe geschieht das, was üblicherweise bei einer Aufnahme prozesshaft vorgesehen ist. Allerdings wird es schwierig, hehre Ziele aus dem dort üblichen Hilfeplangespräch (SGB VIII) umzusetzen, wenn ein nicht unerheblicher Teil der verhandelten Kostensätze für
30 Einrichtungen, in denen z. B. unbegleitete minderjährige Flüchtlinge temporär zur Klärung des weiteren Vorgehens (z. B. Asylantrag ja/nein) aufgenommen und/oder beraten werden.
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den Einsatz von Sicherheitskräften verwendet werden muss, weil man noch gar nicht dazu kommt, überhaupt pädagogisch zu handeln. Die Frage, welche Ziele z. B. ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling hat, muss im Zusammenhang mit der aufnehmenden Gesellschaft, ihrer Legislative und der Herkunftsfamilie betrachtet werden. Viele Menschen sind nicht gekommen, um hier ihre eigene Zukunft zu sichern, sich zu qualifizieren, eine Ausbildung zu machen und irgendwann Geld zu verdienen. Sie sind gekommen, weil sie als diejenigen ausgesucht wurden, die es schaffen können, sich durchzuschlagen. Und wenn dies gelingt, geht es darum, die Heimgebliebenen zu unterstützen, gemeinhin monetär. Und die Not, die es zuhause zu stillen gilt, ist gegenwärtig, und deshalb nicht immer vereinbar mit den Rahmenbedingungen des dualen Ausbildungssystems, an die jeder Azubi sich anpassen muss, wenn er erfolgreich seine Lehre abschließen will. Doch genau an diese erfolgreiche Teilhabe am Ausbildungssystem ist letztlich, bezogen auf sogenannte sichere Herkunftsstaaten, das Bleiberecht gebunden. Sofern im Herkunftsland die Volljährigkeit auch 18 Jahre31 beträgt, werden Menschen aus bestimmten Regionen, wenn sie keinen Ausbildungsplatz haben, abgeschoben, besonders dann, wenn sie straffällig geworden sind, um an das Geld zu kommen, das zu verdienen oft der Auftrag ihrer Familie war, aber von ihnen nicht erfüllt werden konnte oder durfte. Und so mühen Sie sich als Mitarbeitende, Menschen einen Ausbildungsplatz zu vermitteln, weil Sie die Menschen kennengelernt haben und nicht wollen, dass sie zurück müssen in die Länder, aus denen sie geflüchtet sind. Doch im selben Kontext werden Sozialprognosen schlechter und schlechter, weil die Widersprüche zwischen den Anforderungen des aufnehmenden Landes und den Aufträgen der geflüchteten Menschen aus der Heimat nicht aufgehoben werden können. Und so finden Sie sich, die Sie eigentlich professionell agieren können und wollen, gefangen in unzähligen Grauzonen und Widersprüchen. Sie versuchen nachzuvollziehen, was die AdressatInnen Ihrer Arbeit wollen, und finden dies ggf. heraus. Aber Sie können diese nicht darin unterstützen, ihrem Willen nachzukommen. Widersprüche, die auch darin bestehen, dass die jugendlichen AdressatInnen nicht die »Kunden« sind, denn das sind die Leistungsträger. Und diesen sind die Organisationen, für die Sie als Mitarbeitende tätig sind, als Dienstleister ebenso verpflichtet, wie Sie es in Loyali31 Hinweis: Prüfen Sie in jedem konkreten Fall, ob im Herkunftsland die Volljährigkeit ggf. 21 Jahre beträgt. Eine Rückführung ist dann nicht statthaft, weil sie bei der Rückkehr dann minderjährig sind. Aporien
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tätspflicht gegenüber ihren Arbeitgebern, ihrer Fachlichkeit, ihrem Gewissen usw. sind. (→ Kap. 5) Wie soll in diesem Dilemma gearbeitet werden?
Nehmen Sie dieses Dilemma bewusst wahr? Versuchen Sie es anhand von Beispielen zu konkretisieren und entwickeln Sie mit KommilitonInnen oder ArbeitskollegInnen Konzepte, mit diesem Dilemma umzugehen. (Beziehen Sie diesbezüglich gerne die Antwort ein, die wir nachstehend geben. Sie können aber auch erst Ihre eigenen Ideen entwickeln und dann mit unseren abgleichen.)
Die Antwort, die wir von Seiten der AutorInnen vorbringen, lautet: Kurs halten. Es gibt ein paar Grundprinzipien, die letztlich doch die Richtung weisen können. Diese bestehen darin, dass bestimmte sozialstaatliche Errungenschaften, bei aller Ambivalenz politisch motivierter Aussagen (z. B. »Wir schaffen das« ja/nein), nicht zurückgenommen wurden. So mag es zwar sein, dass die Jugendhilfe, um in diesem Beispiel zu bleiben, in ihrer gesetzgeberischen Intention nicht den Personenkreis im Blick hat, um den es hier geht. Aber sie ist sicherlich die sinnvollste Grundlage, um Menschen überhaupt Unterstützung anbieten zu können. Was die Ausgestaltung der Arbeit betrifft, so gibt es inzwischen Erfahrungen, was im Vergleich zur »normalen« Jugendhilfe anders ist. Und es ist eine Frage des Aushandelns zwischen Leistungsträgern und Leistungsanbietern, das, was diejenigen, die direkt mit den Menschen arbeiten, sagen, zur Grundlage für Verhandlungen zu machen. Das aber setzt voraus, dass Sie, als LeserIn dieses Buches, Ihre Ideen vortragen (und vortragen und begründen können). Wenn klar ist, dass diese Ideen (z. B. in der Organisation, für die Sie tätig sind) aufgegriffen werden, dann ist der Weg beschritten, der zu Handlungsoptionen führt. Der Kompass für diese Ideen basiert wieder auf sozialstaatlichen Prinzipien wie Subsidiarität, aber auch auf Rechtstaatlichkeit. Und fachlich muss es darum gehen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Willen von AdressatInnen und Gesamtgesellschaft gestalten zu helfen. Das ist ein ganz normaler Handlungsauftrag und eben nicht die Idee einer assimilierenden Integration, sondern übergeordnet z. B. im Begriff der Teilhabe gegeben, der als Fragment einer neuen Ausrichtung dienen kann.
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Epilog
7.2 Teilhabe als Fragment einer neuen Ausrichtung In → Kap. 6.1 wurde mithilfe eines eigens entwickelten und weiterer wissenschaftlicher Ansätze der Raum möglicher Teilhabe(n) beschrieben. Sie erinnern sich sicher an die 11 Felder, die dort entwickelt wurden; vielleicht auch daran, dass man bzw. frau an diesen Feldern auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Rollen bzw. mit unterschiedlichen Dialektiken von Ein- und Ausschluss teilhaben kann. Jetzt wollen wir dies auf das Feld der organisationalen Unterstützung von Teilhabe unter aktuellen Bedingungen von Migration übertragen.
Geben Sie bitte z. B. bei einer Suchmaschine den Begriff »Teilhabe« ein und analysieren Sie, mit welchen anderen Begriffen/Themen dieser verknüpft wird. Inwiefern können Sie Unterschiede zwischen »Teilhabe und Menschen mit Behinderung« einerseits und »Teilhabe und Menschen mit Migrationshintergrund« anderseits feststellen? Ergänzen Sie die nachstehenden Beschreibungen um die Ergebnisse Ihrer Recherchen insbesondere in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund. Beschreibungen von Teilhabe »Artikel 29 – Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben32 Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit andren zu genießen […]« (Art. 29 UN-Behindertenrechtskonvention) »[…] Leistung und Teilhabe [haben] ein gemeinsames Element: die gegenwärtigen Alltagsbedingungen. Jede Leistung wird in einem Kontext erbracht und jede Teilhabe vollzieht sich in demselben Kontext. […] Erbringt eine Person alle Leistungen in einem Lebensbereich, genau dann hat sie volle Teilhabe an diesem Lebensbereich.« (Schuntermann 2009, S. 102) »§ 1 SGB IX Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft33 Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe 32 Hervorhebung im Original. 33 Hervorhebung im Original. Teilhabe als Fragment einer neuen Ausrichtung
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am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dabei wird den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder Rechnung getragen.« (§ 1 Abs. 1 SGB IX)
Wie das Kästchen mit den verschiedenen Beschreibungen und Deutungen von Teilhabe zeigt, ist diese als Begriff weder selbsterklärend noch mit einer einzigen Bedeutung hinterlegt. Für den Begriff der Teilhabe ist in Bezug auf die Beschreibungen festzuhalten, dass sie allesamt auf Menschen mit Behinderungen bezogen sind. Und tatsächlich ist dies der Personenkreis, auf den in der politischen und fachlichen Debatte der Fokus in Bezug auf Teilhabe gelegt wird. So schreiben z. B. Erhardt und Grüber (2013) in ihrem Beitrag Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Kommune: »Wir fokussieren auf Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, weil die besonders prekäre Teilhabesituation dieser Gruppe untergeht, wenn in einem allgemeinen Sinn von Menschen mit Behinderung die Rede ist« (S. 12). Der hier genannte »allgemeine Sinn« kann auf die politische Debatte bezogen werden, der dann auch sofort wieder in eingeschränktem Sinn verstanden wird. So wird das in diesem Kontext genutzte Stichwort Inklusion mit dem besonderen Fokus auf Schule ins Feld geführt, womit zugleich eine Reduzierung von gleichberechtigter Teilhabe (Inklusion, → Kap. 4.3) auf einen Lebensbereich, nämlich Schule, gelegt wird. Das ist der Grund, aus dem heraus Erhardt und Grüber (2013) ihren Schwerpunkt auf erwachsene Menschen legen. Der Kontext Menschen mit Behinderung bleibt dabei jedoch bestehen. Um diesen Kontext zu öffnen, zeigt ein Blick in eine andere UN-Konvention, die der Kinderrechte, dass Teilhabe auch hier mitgedacht ist. Dort steht: »Beteiligungsrechte34 garantieren Kindern das Recht, ihre Meinungen frei zu äußern und einen freien, kindgerechten Zugang zu Informationen und Medien zu erhalten. Kinder haben ein Recht darauf, dass ihre Meinungen in der Gesellschaft Gehör und Berücksichtigung finden. Die Beteiligungsrechte sichern Kindern auch Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie eine Privatsphäre. Kinder haben zudem ein Recht auf Freizeit sowie ein Recht auf Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben.« (UN-Kinderrechtskonvention) 34 Hervorhebung im Original.
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Epilog
Umgesetzt sind diese Beteiligungsrechte juristisch u. a. im achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Dort wird z. B. in § 45, in dem die Betriebserlaubnis für die Eröffnung einer Jugendhilfeeinrichtung geregelt ist, verlangt, dass ein Beteiligungskonzept der antragstellenden Organisation vorliegt. Werden diese beiden Ansätze von Teilhabe verglichen, wird eine Abschwächung von Teilhabe im Sinne der selbstverständlichen Zugehörigkeit (Inklusion) zu Beteiligung, also der Machtoption zu beteiligen statt schlicht teilzuhaben, deutlich. Bedeutet nämlich Inklusion, dass Menschen ohne irgendeine Bedingung oder Leistung zur Gesellschaft gehören und deshalb die Gesellschaft als Ganzes den Auftrag hat, das vorhandene Miteinander zu gestalten, deutet die Beteiligung an, dass es offenbar Personenkreise gibt, die beteiligen und solche, die beteiligt werden. Nun kann in Bezug auf Kinder und Jugendliche der Einwand erhoben werden, dass diese aufgrund ihrer Entwicklungsphasen, die sich von späteren Entwicklungen im Erwachsenenalter sicherlich hinsichtlich Verantwortung, Einschätzung von Risiken etc. unterscheiden, mit Beteiligungsstrategien angemessen Teilhabe erfahren. Das ist zum Teil sicherlich richtig, lässt jedoch die Frage offen, wer bestimmt, wer wann an was teilhaben kann/darf, respektive beteiligt wird und wann nicht – und (bis) zu welchen Kosten! Weiter ist zu fragen, ob das dann für den Personenkreis der Menschen mit Behinderung (womit gemeinhin geistige Behinderung gemeint ist) bedeutet, dass es bei Ihnen aufgrund von Entwicklungseinschränkungen lebenslang ausschließlich um Beteiligung geht? Und was sind die Kriterien, die zu Beteiligungsentscheidungen führen?
Was meinen Sie zu diesen Fragen? Diskutieren Sie, welche Beteiligungsentscheidungen Sie für angemessen halten. Klären Sie dabei auch, wie Sie »Angemessenheit« begründen.
Es sei an dieser Stelle lediglich darauf hingewiesen, dass es in diesem Zusammenhang zu Beteiligungswillkür kommen kann, weil es schwer zu kontrollieren ist, wer wen und warum wann wie beteiligt (hat) oder nicht. Und um es auf die Spitze zu treiben: Wer sind eigentlich die KontrolleurInnen und welche Kriterien legen diese zugrunde? Und wer könnte Beistand für die Durchsetzung der Rechte dieser Kinder sein?
Teilhabe als Fragment einer neuen Ausrichtung
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Die Antworten auf die o. g. Doppelfrage finden Sie z. B. auf den Internetseiten von Leistungsträgern (z. B. www.lwl.org). Aber das ist oberflächlich. Wenn Sie die Möglichkeit haben, dann sprechen Sie mit jemand, der oder die z. B. für die aufsichtführende Behörde (früher »Heimaufsicht«) tätig ist und fragen ganz konkret, welche Kriterien grundgelegt werden. Vergleichen Sie diese Aussagen dann mit dem, was Sie auf der Homepage finden. Überlegen Sie auf der Basis Ihrer Professionalität, ob Sie die Kriterien nachvollziehen können.
An dieser Stelle wird mit einer weiteren, aus dem Kästchen mit den Beschreibungen ableitbaren Erkenntnis fortgesetzt. Diese Erkenntnis besteht darin, dass der Begriff der Teilhabe in den vielen Büchern und Aufsätzen über Migration und Flucht, die auch zum Verfassen dieses Lehrbuchs herangezogen wurden, nicht oder nur impliziert auftaucht. So gesehen lässt sich ein Trend von Teilhabe in Bezug auf Menschen mit Behinderungen feststellen, der jedoch durch seine willkürliche Fokussierung auf Schule bereits nicht allumfassend gilt. Von diesem führt der Teilhabebegriff im Kontext der Jugendhilfe zur Beteiligung, womit Machtstrukturen dahingehend deutlich werden, dass Teilhabe offenbar von bestimmten, schwer zu identifizierenden Personen gedeutet und (ggf. willkürlich) realisiert wird. Ein weiterer Kontext: In seiner Definition weist Schuntermann (2009, S. 102) auf die Gemeinsamkeiten der Teilhabe und Leistung (Ökonomie) hin, ohne genau zu definieren, in welcher Beziehung diese zueinander stehen. Im Kontext von Unterstützungssystemen endet hier der Teilhabebegriff in einem Grundverständnis, dass Menschen sich entscheiden, woran sie teilhaben wollen. In Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund wird jedoch deutlich, dass die Teilhabe am Berufsausbildungs- oder Arbeitsmarkt aufgrund von Namen und Aussehen oder aufgrund der fehlenden Arbeitsgenehmigung bei bestimmten Personenkreisen (vgl. → Kap. 3.4) eingeschränkt wird oder das Recht auf Wohnung zu Ghettoisierungen (vs. Quartiersentwicklung, → Kap. 6.1) führt, sodass Teilhabe im Sinn von freier Entscheidung räumlich und kulturell begrenzt und die eigene Entscheidungsfreiheit zur Teilhabe faktisch negiert wird.35 35 Anmerkung: Organisationen dürfen übrigens Teilhabebedingungen wie Zeugnisse, Pässe, Sprachkenntnisse usw. setzen. Hier kommt das Teilhabe- und Inklusionskonzept an seine sachlichen Grenzen.
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Epilog
Sowohl bei Menschen mit Migrationshintergrund als auch beim darin enthaltenen Personenkreis der geflohenen Menschen ist der Begriff der Teilhabe, wie zuvor beschrieben, nicht vorgesehen. Ist der Begriff der Inklusion, wie vertiefend zum → Kap. 4.3 festzustellen ist, in der Behindertenhilfe inzwischen zum »geflügelten«, wenn auch unklar definierten Wort und zunehmend zur gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit des Zusammenseins geworden, findet er in Bezug auf Migration und Flucht eher weniger Verwendung. Stattdessen wird ein Integrationsbegriff verwendet, der Zugänge zu Teilhabe in sehr eng definierten Grenzen und unter restriktiven Bedingungen herstellen soll. Ein Beispiel hierfür ist die Integration in den Arbeitsmarkt. Heipertz-Saouidi (2016) schreibt diesbezüglich: »Der Integration wird […] eine hohe Bedeutung beigemessen. Dies jedoch nicht nur aufgrund der Möglichkeit von Anerkennung, Teilhabe und […] Schaffung von Normalität und Selbstwert, sondern oder gerade vor dem Hintergrund ökonomischer Erwägungen« (S. 62). Teilhabe als Form und Art
Teilhabe muss mit Blick auf die verschiedenen Beschreibungen und Definitionen immer als Plural und doppelt relational als Teilgabe und Teilnahme in beiden Richtungen verstanden werden, was jedoch mit den Mitteln der deutschen Sprache nicht leicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Aus diesem Grund wird Teilhabe auch mit anderen Begriffen zusammengesetzt, mit denen dann Teilhabe sowohl eine Richtung als auch die Mehrzahl im Ausdruck ermöglicht wird. So gelingt es, von einer bestimmten Möglichkeit als Teilhabechance im Singular (am gesellschaftlichen Leben insgesamt) und ganz allgemein von Teilhabechancen im Plural, z. B. an einzelnen Lebensbereichen bzw. an den dort relevanten Organisationen, zu sprechen. Nun ist Verschiedenheit das Merkmal des Plurals, denn das Gleiche ist niemals ganz gleich und dasselbe bei genauer Betrachtung mehrere Singulare. Das gilt auch für die Teilhabe, sodass wir darauf schauen müssen, in welchen Formen und Arten sie daherkommt. Mit Form gilt es der Frage nachzugehen, in welchen Gestalten Teilhabe auftritt. Denn wenn Teilhabe Formen annimmt, dann sind diese, so die These in diesem Epilog, das Ergebnis von Gestaltung. Und das führt zu der Frage: Wer gestaltet die Formen der Teilhabe?
Teilhabe als Fragment einer neuen Ausrichtung
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Klären Sie für sich und mit KommilitonInnen und/oder ArbeitskollegInnen diese Fragen: Welche Formen von Teilhaben gibt es? Erinnern Sie sich noch an die Unterscheidung von interaktional, organisational und gesellschaftlich (→ Kap. 6.1)? Was könnte damit gemeint sein? Wie beurteilen Sie die Leistungsfähigkeit dieser Unterscheidung vor den Eigenarten dieses Praxisfeldes? Wer gestaltet die Formen der Teilhabe? Und wer bestimmt darüber?
Die Art von Teilhabe geht im alltäglichen Sprachgebrauch mit dem Wort Weise einher. Es geht also um die Art und Weise von Teilhabe. Sprachlich tut sich hier ein Abgrund auf. Denn der deutsche Begriff Art bezeichnet im biologischen Sinn eine Spezies, die anhand von Merkmalen identifiziert (biologisch: bestimmt) wird. Diese Identifizierungen sind wesentlich auf die Morphologie bezogen, die wiederum die »Lehre der Gestalten« ist. Und genau das führt zurück zu der Frage, wer die Form gestaltet, die letztlich dazu führt, dass an ihr eine Art identifiziert wird? Sie sehen, sich mit Formen und Arten von Teilhabe zu beschäftigen, kommt einem Minenfeld gleich. Denn es besteht immer die Gefahr, die sich »in Teilen« gar nicht verhindern lässt, dass Sie als professionell Handelnde durch Ihr Handeln formgebend gestalten und somit dazu beitragen, dass ein Bild von Menschen entsteht, das Ihre Formgebung, nicht aber die Form zeigt, die entstanden wäre, wenn Menschen selbst ihre Teilhabe entschieden und entwickelt hätten. Sozialarbeiterischer Auftrag kann es daher nur sein, Menschen darin zu unterstützen und zu begleiten, ihre eigenen Formen von Teilhabe so gut und vielfältig wie möglich zu gestalten, um sich so Formen zu geben, die, wenn sie sichtbar sind und als Art bestimmt werden, zu dem führen, was sie sind und nicht zu dem, was sie angeblich sind und somit zwangsläufig das Bild nicht erfüllen, weil sie als das, was sie sind, gar nicht »abgebildet« sind. Um das zu realisieren, übertragen wir die Ihnen aus dem Hauptteil bekannte Abb. 6 (→ Kap. 6.1) in die Praxis: Auf den ersten Blick scheint diese Abbildung die Frage nach Formen und Arten des Teilhabens mehr zu komplizieren, denn als Erklärung zu dienen. Und ganz falsch ist diese Einschätzung nicht, denn der Anspruch mit dieser Darstellung besteht darin, auf die Komplexität sozialer Zusammenhänge nicht mit Minderung von Komplexität, wie der Soziologe Niklas Luhmann es nennen würde, zu reagieren, sondern die Komplexität aufzuzeigen, um daraus Handlungsfähigkeit abzuleiten (vgl. Dieckbreder 2016, S. 26). Doch so weit sind wir noch 156
Epilog
nicht. Zunächst geht es darum, die Abbildung zu nutzen, um Teilhabe zu verstehen. Denn in der Sozialen Arbeit geht mit dem Begriff der Teilhabe immer eine Frage einher. Diese lautet: »Teilhabe an was?« Und die Antwort lautet: »Mindestens an dem, was in der Abbildung benannt ist.«
Um diese Antwort einordnen zu können, betrachten Sie bitte die Felder von Abb. 6 (→ Kap. 6.1) (gerne auch ohne die Beschreibungen) und legen diese einmal imaginär (a) über sich selbst (b) Freund/Freundin (c) Eltern etc.
Sie haben vermutlich feststellen können, dass Sie sich allen Feldern zuordnen können (→ Kap 6.1). Und wenn Sie das können, dann können Sie sich nicht »nur« vorstellen, dass es z. B. Ihren FreundInnen genauso geht, sondern auch dem Personenkreis, den wir AdressatInnen, KlientInnen oder wie auch immer nennen. Und Sie können erkennen, dass für Menschen, die dicht gedrängt auf einem überfüllten Schlauchboot auf dem Mittelmeer treiben, die einzelnen Aspekte aus der Abbildung ebenfalls gültig sind. Also können wir erkennen, dass die Kategorien von Teilhabe ebenso konstant sind, wie ihre Formen und Arten verschieden. Sehen wir uns das genauer an: Die Aspekte oder Begriffe aus der Abbildung beschreiben Lebensbereiche. Und wenn es Lebensbereiche sind, die, wie Sie soeben selbst nachvollzogen haben, zu jedem Menschen gehören, dann ist in Bezug auf Teilhabe eindeutig klar, dass es um Teilhabe an allen Lebensbereichen geht. Und genau hier zeigen sich die Differenzen, die mit Teilhabe und daraus resultierend Teilhabechancen und -risiken einhergehen. Dabei kann eine erste grobe Unterteilung dahingehend vorgenommen werden, dass zwischen selbstbestimmter und ermöglichter Teilhabe unterschieden wird. Um das zu verstehen, muss an dieser Stelle ein kleiner Exkurs über die Merkwürdigkeit der Sozialen Arbeit im Umgang mit Begriffen vorgenommen werden:
Teilhabe als Fragment einer neuen Ausrichtung
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Exkurs
EXKURS III Teilhabe und Partizipation Das Wort Teilhabe kennen wir in der Sozialen Arbeit auch in seiner lateinischen Form Partizipation, die auf das Substantiv participatio zurückgeht. Für unseren Kontext ist das wichtig, um die Frage zu klären, in welchem Zusammenhang eigentlich die Nutzung des Wortes Partizipation in dem historischen Zeitraum, den wir überblicken können, entstanden ist. Und dann stellen wir fest, dass es sich (einmal mehr) um die Ökonomie36 handelt. Denn mit Teilhabe ist vor der sozialen (sozial im Sinn professioneller Sozialer Arbeit) Nutzung gemeint gewesen und noch heute gemeint, dass jemand TeilhaberIn eines Geschäfts ist. Das ist eine völlig andere Perspektive, als wir sie in unseren professionellen Kontexten aufwerfen. Denn bei uns geht es bis jetzt immer darum, Menschen teilhaben zu lassen, indes TeilhaberInnen an einem Geschäft so einen Gedanken als Almosen verstehen würden, mit dem sie sich nicht abspeisen lassen würden. Für TeilhaberInnen im ökonomischen Kontext ist völlig klar, dass sie zumindest MitbestimmerInnen sind. Wie es gelungen ist, den Begriff in einer so radikalen Fehldeutung in unseren Kontext zu bringen, ist zumindest uns momentan noch ein Rätsel. Doch vielleicht: Aus der Fürsorge kommend, ist es womöglich für viele im sozialen Bereich Tätige schwierig, das Gegenüber als mehr zu sehen, als einen Hilfefall, als ein Objekt der Barmherzigkeit, und nicht als Subjekt mit allen Rechten wie andere auch. Die Defizitorientierung ist bis heute faktisch durch den defizitkompensierenden Auftrag aus dem Sozialrecht immer noch die Grundlage des Handelns, wie das Motto: »je komplexer die Einschränkung, desto höher der genehmigte Unterstützungsaufwand« anzeigt. Doch kommen wir zurück zum Fragenkomplex: Wer eigentlich an was und ggf. mit wem partizipieren soll? WAS
In einer leichten Umstellung beginnen wir mit einer Reflexion über das WAS, kommen dann aber darüber zum WER und auch zum mit ggf. WEM und zum WIE. Abgeleitet aus der Inklusionsdebatte könnte an dieser Stelle angeführt werden, dass mit WAS die Teilhabe an allem, was Gesellschaft ist, gemeint 36 Erinnern Sie sich an das Zitat von Heipertz-Saouidi. Darin wies sie darauf hin, dass Integration und Teilhabe in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergund letztlich eine ökonomische Kategorie ist. Hier schließt sich also ein Kreis.
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Epilog
ist. Das ist jedoch aus mindestens zwei Gründen Unfug. Zum einen deshalb, weil niemand weiß, was »alles Gesellschaftliche« ist und zum anderen, weil es niemanden gibt, der an allem Gesellschaftlichen teilhaben will und/ oder teilhaben kann. Es geht also höchstens darum, dass mit WAS gemeint ist, dass Menschen an dem teilhaben können, woran sie partizipieren wollen bzw. was der Raum möglicher, aber nicht immer realisierter Teilhabe ist, nämlich die 11 Felder. Kleiner Einwurf an dieser Stelle: Fällt Ihnen auf, dass im Klangmuster, wie hier »partizipieren« beschrieben wird, das Ökonomische in dem Sinn durchscheint, dass es darum geht, einen Nutzen zu haben? Sie partizipieren z. B. davon, also haben einen Nutzen, dass Ihr Arbeitgeber so gut mit Geld umgeht, dass Sie monatlich ein Gehalt bekommen.
Für die Klärung des WAS reicht das aber noch nicht aus. Denn das WAS beschreibt das, was wir Rahmenbedingungen nennen. Dröseln wir das einmal praktisch und auf Sie bezogen auf: Die Tatsache, dass dieses Buch vorliegt und darin über das Thema Partizipation nachgedacht wird, ist der Rahmenbedingung Flucht/Migration in der Konsequenz von Unterstützungssystemen geschuldet. Mit Luhmann (1987) gesprochen können wir sagen, dass diese Rahmenbedingung dem (Unterstützungs-) System Flucht/Migration entspricht. Ein System, das wie jedes andere auch, danach strebt, am Leben zu bleiben.37 Und damit es das kann, muss es sich darauf einlassen, Umweltaspekte in sich aufzunehmen. Mit anderen Worten: Würden sich in der Flucht- und Migrationshilfe aktive Einrichtungen und Organisationen verweigern, sich mit Partizipation zu beschäftigen, würde das Unterstützungssystem als Ganzes überleben, die spezielle Einrichtung oder Organisation aber nicht, weil andere Partizipation als Standard entwickeln und deshalb vom Kostenträger bevorzugt belegt werden. In einer Idee des WAS als Rahmenbedingung bedeutet die Partizipation am Markt der Flucht- und Migrationshilfen also, dass die Rahmenbedingung der Flucht- und Migrationshilfen (Umwelt) umgesetzt werden müssen, weil
37 Dieser Satz mag Ihnen merkwürdig erscheinen. Schließlich wäre es ja schön, wenn es dieser Unterstützungssysteme nicht bedürfte. Aber stellen Sie sich vor, Sie würden in diesem Kontext arbeiten. Dann liegt Ihnen sehr wohl daran, dass das System erhalten bleibt. Sollten Sie das als paradox empfinden, so deshalb, weil es paradox ist. Die Logik von Systemen trifft auf die Logik von Themen. Solche »Konfrontationen« gehen nicht immer auf und gemeinhin gewinnt das System. Mit anderen Worten: Es bleibt paradox. EXKURS III Teilhabe und Partizipation
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sonst die Einrichtung oder Organisation sterben würde. Diese Form der Teilhabe ist also eine »lebensnotwendige« Form. Eine andere Form der Teilhabe ist weniger dramatisch, deshalb aber nicht weniger wichtig: Immer noch mit Luhmann können wir sagen, dass die Herausforderungen des Lebens komplex sind, sodass wir ständig damit beschäftigt sind, die Komplexität zu mindern. Manche Menschen machen das sehr extrem; was dazu führen kann, dass ihnen z. B. jede kleine Veränderung am Arbeitsplatz schwer fällt. Wichtig ist hierbei, nicht zu vergessen, dass ein solches Verhalten gemeinhin nicht boshaft ist, sondern aus Angst oder Bequemlichkeit (und Faulheit) entsteht. Klar ist aber auch, dass ein Fürsorgeansatz solchen Menschen zuspielt.
Klären Sie, was Ihnen schwerfällt. Wie gehen Sie mit Veränderungen um? Entwickeln Sie zusammen mit KommilitonInnen und/oder KollegInnen ein Konzept, wie über eigene Veränderungsängste sanktionsfrei gesprochen werden kann und wie diese ggf. überwunden werden können.
Dieselbe These lässt sich auch umgekehrt darstellen: Nämlich dann, wenn es darum geht, dass der Horizont eines Menschen klein ist, respektive klein gehalten wird. Das WAS der Teilhabe erhält dann ein doppeltes Mandat. Nämlich a. Menschen dabei zu unterstützen, ihren Horizont zu erweitern und b. Strukturen zu verhindern, die den Horizont klein machen.38
Ergänzen Sie Ihr entwickeltes Konzept um diesen Aspekt. Beachten Sie dabei die Fußnote zum letzten Satz … Gleichen Sie in der Folge Ihre Ergebnisse mit unseren Thesen ab und ergänzen diese um Ihre Ergebnisse.
38 Um es einmal drastisch mit Johan Galtung zu sagen: »Alles, was einen Menschen daran hindert, sein Potential zu entfalten, ist Gewalt«. (Mit Kant ist dabei nicht ausgeschlossen, dass es z. B. angemessen ist, jemanden mit dem Potenzial zum Menschen Töten von der Ausübung seines Potenzials abzuhalten. Gewalt bleibt aber auch diese Unterdrückung.)
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Epilog
Unsere Thesen: Wenn wir hier im Kontext Migrationshilfen ein Lehrbuch vorlegen, um damit auch das Überleben einzelner darin enthaltener Einrichtungen und Organisationen zu sichern, uns dann mit Partizipation beschäftigen, ohne zu reflektieren, dass wir im Machtkontext das WAS bestimmen, dann sind wir sicherlich auf dem Holzweg. Mit anderen Worten: Partizipation bedeutet die Weitung des eigenen und des Horizontes meines Gegenübers. Nicht wir sind es, die aufgrund einer bestimmten Position entscheiden, an welcher Rahmenbedingung (WAS) jemand teilhaben kann, darf und soll, sondern es ist unsere Aufgabe – im sozialberuflichen Kontext insgesamt – anzubieten, gemeinsam die Rahmenbedingungen (WAS) zu finden, an denen jemand teilhaben will (die Perspektive des subjektiv Ganzen), um dann, wenn nötig, zu unterstützen, dass die Teilhabe dann auch gelingt.39 Wenn wir diese Idee der Öffnung des Handelns nicht ernst nehmen, respektive mit ihr nicht ernst machen, sind wir nicht auf dem Weg zur Partizipation, sondern betreiben Kastration. Das ist sicherlich ein moralisches Diktum, aber genau das beschreibt die Macht, die Sozialunternehmen gegeben ist. Deshalb, moralische Argumentation hin oder her: Wir müssen über die Rahmen nachdenken, von denen aus wir womöglich eingeschränkt denken und handeln. Erst wenn wir diese Einschränkungen überwinden – und zwar so, dass wir das System Migrationshilfe nicht zerstören, ggf. aber ziemlich ändern, dürfen wir behaupten, partizipativ zu sein und zu handeln. Wenn Sie diese Argumentation jetzt noch einmal Revue passieren lassen, wird Ihnen eine Tendenz hinsichtlich der BewohnerInnen, NutzerInnen, AdressatInnen, und wie immer Sie die Menschen nennen, die den Kern Ihrer Aufträge darstellen, klar. Und das war auch so gemeint. Aber es ist ebenfalls klar, dass das, was wir hier als Ziel mit Partizipation benannt haben, nur gelingen kann, wenn Sie Ihren professionellen Auftrag dahingehend verstehen, diesen herausfordernden Weg mitzugehen. Und wenn wir hier »mitgehen« schreiben, so impliziert der Wortteil »mit« umgehend wieder Partizipation. WER
Wir haben jetzt also ein doppeltes »WER«, bezogen auf den Ausgangsfragenkomplex. Das WER der AdressatInnen haben wir bearbeitet und durchdacht. Kommen wir also zum »WER« der Mitarbeitenden, also zu Ihnen. In einem historischen Abriss ist der Personenkreis der Mitarbeitenden in Bezug auf Partizipation hinsichtlich seiner diesbezüglichen Ansprüche sehr 39 All das gilt immer im rechtstaatlichen Rahmen. EXKURS III Teilhabe und Partizipation
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interessant. Denn auch wenn wir Partizipation als einen modernen Begriff der Unternehmensführung verstehen (auch Sie wollen beteiligt sein), so dürfen wir nicht vergessen, dass eine Sehnsucht zur Teilhabe auch bei Mitarbeitenden kein Phänomen jüngeren Datums ist. Wohl aber ist es anders intendiert. Wenn Sie z. B. über den alten Friedhof in Bethel40 gehen, so finden Sie dort Gräber jung verstorbener Diakonissen. Die Zahl dieser Gräber zeigt die Bereitschaft an, dass Menschen für das, was sie beruflich (als Berufung!) taten, zu sterben bereit waren. Denn es gab sozusagen Vorbilder im Tod. Dass das so war, hat etwas mit der Sehnsucht und womöglich der Erfüllung von Teilhabe zu tun. So z. B. Teilhabe an Gemeinschaft (Schwesternorden), aber auch Teil des Werkes Gottes. Heutige Mitarbeitende mögen in Teilen auch noch solche Motive verfolgen.
Klären Sie Ihre Motivation, Ihren Beruf auszuüben oder die Entscheidung für eine Ausbildung/ein Studium im Sozialbereich.
Aber mehr geht es wohl um die Teilhabe an Organisationsentwicklungen etc. Wir dürfen nicht vergessen, dass die heutigen Mitarbeitenden eben nicht die nicht zu verheiratenden Töchter sind, die in den Dienst am Nächsten geschickt werden, sondern faktisch zu wenige qualifizierte Leute, die für Arbeitgeber ein Teil der Kundschaft geworden sind. Somit wieder Luhmann (1987): Wenn es gilt, das eigene System, in diesem Fall: Einrichtung oder Organisation, zu erhalten, ist es wichtig, diesen Konkurrenzaspekt zu beachten und in Handlung umzusetzen. Damit Sie gute Mitarbeitende sein können, ist Partizipation keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Denn sie führt in diesem Sinne zurück zur ökonomischen Idee der Partizipation als TeilhaberInnen eines Unternehmens, die sich mit diesem identifizieren, weil Sie Ansprüche haben, die Ihnen nicht großzügig gewährt werden, sondern die Sie schlicht besitzen. Um es ganz deutlich zu machen: Partizipation nicht in diesem Sinn zu verstehen, ist unternehmenskritisch! Teilhabe in diesem Sinn verstanden, untergräbt im Übrigen nicht die Hierarchie, was gemeinhin eine große Sorge von Führungskräften ist. Im Gegenteil wird sie, respektive werden die Personen in diesen Positionen, 40 Von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel (www.bethel.de).
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Epilog
dadurch gestärkt. Denn wer sich nicht nur als Teil eines Ganzen fühlt, sondern weiß, aktiver, mitbestimmender Teil eines Ganzen zu sein, weiß auch, um welchen Teil es sich handelt. Das macht die Arbeit letztlich sogar leichter. Aus dem bisher Geschriebenen abgeleitet, besteht die Gefahr, mit den herausfordernden Themen unserer Zeit aktionistisch (was wir hier durchaus negativ meinen) umzugehen. Soll heißen: Sie haben thematisch so viele Baustellen, dass Sie womöglich gar nicht wissen, wo Sie anfangen sollen; was dann nicht selten dazu führt, Hauptsache überhaupt etwas zu machen – Aktionismus eben, der sich übrigens auch in Form von Handlungslosigkeit zeigen kann. Deshalb hier am Rande der Hinweis, dass alle Themen in diesem Buch, die ja das Spektrum der aktuellen Herausforderungen im Umgang mit Migration und Teilhabe abzubilden versuchen, miteinander synergetisch verbunden sind. Wenn es Ihnen gelingt, diese Synergien zu identifizieren und zu verknüpfen, ist die Umsetzung machbar, zumindest machbarer.
7.3 Teilhaben praktizieren Wir haben Sie in diesem Buch mehrfach mit dem 11-Felder-Modell konfrontiert und anhand dessen versucht, Ihnen Teilhabezusammenhänge verständlich zu machen. Das ist sozusagen die theoretische Essenz, die mit diesem Modell möglich ist. Es ist aber genauso möglich, das Modell zu nutzen, um in der Praxis Teilhabe zu gestalten. Im letzten Unterpunkt hatten wir Sie gebeten, die Abbildung über sich selbst, über FreundInnen etc. »zu legen« und zu schauen, welche Erkenntnisse Sie daraus ableiten können. Diese Erkenntnisse von Ihnen wollen wir jetzt nutzen, um Sie in Ihrer Praxis zu unterstützen. Werfen Sie noch einmal einen genauen Blick auf Abb. 6 (→ Kap. 6.1) und folgen dann dem nachstehenden Gedankenspiel: Bitte wenden Sie jetzt den Blick auf den oberen rechten Teil. Dort finden Sie in gestrichelten Linien und der Ökonomie zugeordnet, das Feld Gesundheit. (Anmerkung: Wir sind dabei, dieses Feld hinsichtlich Sozialer Berufe insgesamt anzupassen. Da sind wir noch im Denkprozess, den Sie bitte bereits einbinden. Vorschläge können Sie uns gerne mailen.) Plakativ haben wir hier als passive Rolle PatientIn und als aktive Ärztin und Pflegefachkraft gesetzt. Die Grauzonen ignorierend, stimmen Sie dieser Zuordnung vielleicht zu. Plausibel wäre auch die gegenteilige Zuordnung, da ja nur der Patient/die Patientin selber gesund werden kann, im besten Fall mit Unterstützung durch Medizin und Pflege, sodass die SelbstheilungsTeilhaben praktizieren
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kräfte in Gang kommen bzw. unterstützt werden und Schädliches wie auch immer entfernt wird. Manchmal werden Menschen aber von alleine gesund oder sterben trotz ärztlicher Kunst. Doch diese Überlegungen sind im System Gesundheit nicht vorgesehen. Übertragen auf Sozialberufe kann ein analoges Bild gezeichnet werden. Und mit diesem, auch gegen innere Widerstände bei professionellen AkteurInnen, müssen wir festhalten, dass diese Zuordnung gegeben ist und wird. Nun haben wir uns ja erarbeitet, dass alle Felder auf alle Personen gleichermaßen anzuwenden sind, auch wenn sie jeweils anders (dann auch mit Graustufen) wirken, respektive sich Felder angeeignet werden, wie es im Fachjargon der Sozialraumdebatte genannt werden würde. Deshalb ist es in der professionellen sozialen Arbeit immer notwendig, gleichzeitig alle Felder in den Blick zu nehmen. Denn dann kommt heraus, dass ein Mensch zwar in einem Feld passiv sein mag, in einem anderen aber aktiv (+ Grauzonen) ist und umgekehrt (z. B. im Vollsinn BürgerIn ist und bleibt oder Bruder und Schwester im Diakonischen Rahmen). Deshalb ist es auch eine Frage der Redlichkeit, einen Menschen in dieser Ganzheit zu sehen. Und genau das geschieht eben nicht, wenn die Komplexität ignoriert und ein Mensch auf ein Feld reduziert ist und wird.41 Dass diese Reduktionen geschehen, hat strukturelle Gründe. Wir haben das Feld Gesundheit (soziale Professionen und »deren« AdressatInnen) der Ökonomie zugeordnet, weil auch gesundheits- und sozialpolitisch gewollt, diese Professionen und »deren« AdressatInnen darin verortet sind. Damit wird übrigens sozialräumlich die Beziehung Politik/Ökonomie deutlich, denn ins Krankenhaus kommt, wer krank ist. Dort wird medizinisch unterstützt, was Kosten für Personal und Medikamente etc. zur Folge hat und weshalb die Erkrankten (oder stellvertretend der Staat oder bei Kindern die Eltern) zuvor Geld in Krankenkassen bezahlt haben usw. Auf Basis dieser Grundlogik geschieht Reduktion von Menschen in diesem Kontext z. B. »auf sich behandeln lassen (passiv)« und »behandeln (aktiv)«. Und das dann unabhängig davon, dass jemand in der Freizeit aktiv Fußball spielt und/oder über einen höheren Bildungsabschluss verfügt oder nicht. Aber eben nicht unabhängig davon, ob jemand einen geklärten Aufenthaltsstatus hat. 41 Wenn Sie das Feld Politik anschauen, dann sehen Sie, dass wir dort unter passive Rolle auch Flüchtling aufgeführt haben. Allein, dass wir hier jetzt auf das Feld Gesundheit verweisen, zeigt bereits die Überschreitung einzelner Bereiche. Das ist wichtig und ist zugleich eine zentrale Herausforderung, die Ihre Profession betrifft. Es geht darum, dafür einzustehen, dass jeder Mensch, mit dem Sie arbeiten, mehr ist als ein passiver Rollennehmer im Kontext von Politik.
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Epilog
… als Akteure der Zivilgesellschaft/ Nahraum Logik: Engagement, Freizeit, Fest und Nachbarschaft
… als Erziehungs-/Bildungseinrichtungen: Logik: Entfaltung von Gaben in Räumen für Selbstbildg., Förderg., (schulische & berufl.) Ausbildung; Selektion für weiterführende Bildung
als poly hybride multirationale Organisationen
haben Teil an allen diesen Lebensdimensionen
GESUNDH. GESCHÄFTE, FIRMEN
Diakonischcaritative Wohlfahrts einrichtungen
WOHNHS./HINTERHOF
Logik: Macht, geregelte Verteilung von Transferleistungszahlungen für sich wandelnde politische Zielsetzungen (Aufsicht/ Kontrolle)
Infrastruktur/Medien – extra Teilsystem?
Logik: Einsatz für Machtlose
KIRCHEN, GEMEINDEHS.
SCHULEN, KITAS …
… als Anwälte der Armen
… als Dienstleister/ Agenturen des Sozialstaats
MARKT, SPORTPLATZ
RATHAUS & ÄMTER
RECHT
Anders als im Krankenhaus ist in Sozialorganisationen deutlicher bekannt, dass weitere Felder berücksichtigt werden müssen. Neben z. B. Wohnangeboten gibt es je nach Größe des Trägers deshalb Beschäftigungsmöglichkeiten, wie Integrationsbetriebe (Bildung/Arbeit), Freizeitangebote, religiöse Teilhabe etc. Das Vorhalten solcher Angebote kann deshalb als multirationale Reaktion auf die Felder gedeutet werden. Das sieht dann so aus: … als Krankenhäuser Logik: Gesundheit
…als Wirtschaftsunternehmen Logik des auskömmlichen Wirtschaftens (Medium: Arbeit/Dienst/ Geld) Effektivität, »Haushalten«
… als Familien/ Häuser Logik privaten Lebens: Leben und Arbeiten im Raum von Intimität und Privatsphäre
…als kirchliche(und kulturelle) Einrichtungen: Logik: Handeln aus Glauben bzw. in Liebe, gepflegt durch Gottesdienst und religiöse Bildung Logik der Kultur: Pflege der Weltanschauung (visions of life)
Abb. 8: Unterschiedliche Funktionen der Teilhabeförderung durch Wohlfahrtseinrichtungen (vgl. Zippert u. a. 2016, S. 111, überarbeitet; → Abb. 6) Teilhaben praktizieren
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Was hier von Thomas Zippert am Beispiel diakonisch-caritativer Wohlfahrtseinrichtung exemplarisch dargestellt wird, ist der Versuch von Sozialunternehmen, die Felder als Lebenswelten von Menschen (Thiersch 2014) so zu berücksichtigen, dass sie zudem Wirtschaftlichkeit ermöglichen.42 Dagegen ist u. E. nichts einzuwenden, denn es ist ja ein ewiger Hohn, dass sich im Grunde dafür entschuldigt wird, für eine der zentralsten und gesellschaftsrelevantesten Dienstleistungen Geld zu nehmen. Trotzdem muss auf der Arbeitsebene der direkten Dienstleistung, also nicht der Unternehmenssteuerung, diese Folie um den Hinweis ergänzt werden, dass sie nur dann mit ihren Inhalten zur Anwendung gebracht werden kann, wenn sie mit den 11 Feldern (→ Abb. 6) in Beziehung gebracht wird. Somit geht es zwangsläufig um Gleichzeitigkeit. Gleichzeitigkeit dahingehend, dass Sozialunternehmen wirtschaftlich agieren können (müssen), um damit die Arbeit zu ermöglichen, die dann zu multirelationalen Netzwerken führen sollen, die als Willensbekundung von AdressatInnen ausgehen und professionell von außen haltgebend so begleitet werden, dass die Potenziale und Ressourcen beider »Parteien« möglichst optimal zum gemeinsamen Ziel der Willensumsetzung führen. Daraus folgt eine ganze Reihe von Konflikten. Auf der Ebene der professionellen AkteurInnen dadurch, dass diese Herangehensweise womöglich zu Loyalitätskonflikten mit dem Arbeitgeber führt (relational vs. rational). Organisational geht Planungssicherheit verloren (rational vs. relational). AdressatInnen verlieren eine womöglich sogar liebgewonnene Unselbständigkeit (relational vs. rational) und Kostenträger wissen nicht genau, wie sie die notwendigen Geldleistungen abbilden können (rational vs. relational).
7.4 Optionen Sie sind nun beinah am Ende der Lektüre angelangt. Wir hoffen, es ist uns gelungen, Sie in Ihrer eigenen Kreativität zu unterstützen. Im besten Sinne Immanuel Kants: »Sapere aude. Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant 1784, S. 481).
42 Was dabei geschieht, ist die Verallgemeinerung und damit Wegführung vom Individuum (Lebenswelt) zum Allgemeinen (Lebenslage). Liedke und Wagner würden dies im Anschluss an Luhmann als exkludierende Inklusion beschreiben, also das »künstliche« bilden eines Personenkreises (z. B. Menschen mit Migrationshintergrund), um sie »exklusiv« kenntlich zu machen, damit Teilhabe möglich wird (vgl. Liedke/Wagner u. a. 2016).
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Epilog
Was nun also tun, mit all dem, was Sie vor der Lektüre schon wussten und nun mit unseren Erklärungen, Vorschlägen und Aufgaben weiterentwickelt haben? Wir schlagen folgende abschließende Aufgabe vor:
Nehmen Sie alle Unterlagen, die Sie im Verlauf der Bearbeitung des Buches erarbeitet haben und gehen diese durch. Wenn möglich, tauschen Sie sich mit KommilitonInnen und/oder KollegInnen darüber aus. Klären Sie aus Ihrer Sicht Perspektiven von –– Gesellschaft, –– Zugezogenen, –– professionellen AkteurInnen (darin auch KommilitonInnen/KollegInnen, Dienstgeber und Kostenträger) auf das Thema Migration. Leiten Sie ab, was Sie meinen, welche Aufträge jeweils an Sie gestellt werden. Klären Sie, welche davon real sind und welche Sie (nur) anzunehmen zu haben. Unabhängig von diesen Perspektiven klären Sie, was Sie ganz persönlich für Perspektiven haben. Klären Sie, in was für einer Gesellschaft Sie leben wollen und was Sie im Kontext Ihrer Tätigkeit dazu beitragen können, dass diese Gesellschaftsidee Wirklichkeit wird. Nach diesen Klärungen vergleichen Sie nun beide miteinander. Wo gibt es Übereinstimmungen, wo Abweichungen. Jetzt ganz wichtig: Lassen Sie sich nicht davon beeindrucken, wenn es so sein sollte, dass z. B. gesellschaftliche Positionen sich nicht mit Ihren decken. Sie sind ExpertIn. Deshalb kann dies durchaus sein. Prüfen Sie, ob es Ihnen gelingt, das, was Sie (begründet!) für angemessen halten, etwas ist, wofür einzusetzen sich lohnt. Und dann tun Sie es. So gerüstet, gehen Sie nun ans Werk. Untersuchen Sie alle Methoden, die Sie kennen darauf, welche Bestandteile Ihnen helfen können. Und scheuen Sie sich nicht, sich weitere Methoden anzueignen. Entwickeln Sie daraus eigene Wege, die Sie am besten mit KommilitonInnen, KollegInnen und besonders AdressatInnen gemeinsam entwickeln. Wie das gelingen kann, zeigt das folgende Beispiel: Sollten Sie studieren, versuchen Sie doch ein Praktikum z. B. in einem AsylbewerberInnenheim zu machen. Wenn Sie bereits in einem solchen oder vergleichbaren Bereich tätig sind, können Sie direkt loslegen. Die hier vorgestellte Idee ist angelehnt an die Methode der subjektiven Zeit- und Landkarte (vgl. Deinet und Krisch 2009). Optionen
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Allein der Begriff der Landkarte ist in Bezug auf das Thema Migration eine starke Metapher. Begegnen Sie einem Menschen mit Migrationserfahrung mit einer Weltkarte, auf der die Person sowohl den Herkunftsort erkennen, als auch den jetzigen Aufenthaltsort bestimmen kann, so wird diese Person sofort verstehen, dass Sie Interesse an ihr haben. Die Tür ist auf und Sie können gemeinsam hindurchgehen. (Im Übrigen überwinden Sie so auch Sprachbarrieren, weil z. B. der Verlauf der Fluchtroute mit dem Finger gezeigt werden kann.) Wenn Sie nun zu einer Person über einen solchen Weg Kontakt aufgenommen haben, können Sie diese bitten, eine subjektive Zeit- und Landkarte aufzuzeichnen. Damit ist gemeint, selbst eine Karte zu erstellen, auf der eingezeichnet wird, an welchen Orten sich jemand in welchen Zeitfenstern aufhält. Damit entsteht ein Bild darüber, welche Orte wichtig sind. (Anmerkung: In der Anwendung dieser Methode hat sich oft gezeigt, dass z. B. ein Ort aufgezeichnet wurde, an dem man in Ruhe telefonieren kann. Solche Telefonate führen dann nicht selten in die Herkunftsländer. Achten Sie darauf, dass diese Karte das mit aufnimmt. Sie ist mehr als nur der Nahraum. Und ein Tipp: Zeichnen Sie doch auch eine Karte. »Gibst Du mir, geb ich Dir« war schon immer ein Garant für Vertrauen.) Mit der selbsterstellten Karte hält die Person ein wichtiges Dokument in der Hand. Es visualisiert, dass es gelungen ist, Orte zu finden, die vielleicht in Teilen sogar Privatsphäre sind und zeigt natürlich auch auf, was nicht eingezeichnet ist. Nehmen Sie nun (ggf. übersetzt in die entsprechende Sprache) die Abbildung der 11 Felder hinzu. Gehen Sie gemeinsam auf Entdeckungsreise, wie in welchen Feldern Teilhabe gelingt und nicht gelingt. Visualisieren Sie diesen Prozess ebenfalls, sodass Sie in der Folge zwar sicherlich viele Grenzen erkennen werden (z. B. der Status der Duldung bringt zwangsläufig Grenzen mit sich), aber eben auch noch unentdecktes und sich als Möglichkeit zeigendes Teilhabeland. Klären Sie nun den Willen dahingehend, welche Teilhabeoptionen realisiert werden sollen. Und dann: legen Sie gemeinsam los. Oder die Person braucht Sie gar nicht, was ja noch besser wäre. Dann lassen Sie los. Wiederholen Sie die Zeichnung und die Überprüfung mit dem 11-Felder-Modell regelmäßig. So können Sie gemeinsam erkennen, ob und wie sich Teilhabeoptionen entwickelt haben. Wenn Sie dieses Modell und vor allem Ihre kreativen Ideen zur Grundlage von Gesprächen mit Ihrer Praktikumsstelle, Ihrem Arbeitgeber, Kostenträgern und gerne auch Diskussionen mit BürgerInnen und Bürgern, besonders jedoch für den direkten Umgang mit migrierten Menschen (muss ja nicht 168
Epilog
immer die Dramatik der Flucht sein) machen, dann werden Sie feststellen, wie viele Handlungsoptionen entstehen. Und dann lassen Sie andere davon wissen! Wir, die wir dieses Büchlein geschrieben haben, wünschen Ihnen von Herzen viel Erfolg!
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Literatur
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Literatur
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Anhang
Anhang 1: Lösungen der Multiple-Choice-Fragen Kapitel 2.4 1. b, f. 2. a, d, f, h. 3. c. Kapitel 4.3 1. a. 2. b. 3. a, d. 4. c. 5. a. Anhang 2: Transkriptionsregeln
180
.
kurze Pause (ca. 1 Sekunde)
..
mittlere Pause (ca. 1–2 Sekunden)
…
längere Pause (ca. 2–3 Sekunden)
(Pause)
mehr als 3 Sekunden Pause
(Lachen) (seufzend)
Charakterisierung von nicht sprachlichen Vorgängen
(kommt es?)
nicht mehr genau verständlich, vermuteter Wortlaut
(?)
unverstandener Text
ehm
Pausenfüller, Rezeptionssignal
sicher
laut gesprochener Text
sicher
gedehnt gesprochener Text
sicher
auffällige Betonung
@ Ich kam dann hierher @
Markierung der Wörter, die lachend gesprochen wurden
»Ich kam dann hierher«
direkte Rede
[…]
Auslassung von Textstellen bei der Zitation von Interviewtexten
Sie [Kommilitonin] wollte die Arbeit nicht schreiben
Zusätzliche Informationen, die aus der jeweiligen zitierten Textsequenz kontextuell nicht erschlossen werden können