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German Pages 388 Year 2014
Burcu Dogramaci (Hg.) Migration und künstlerische Produktion
IMAGE | Band 52
BURCU DOGRAMACI (HG.) MIGRATION UND KÜNSTLERISCHE PRODUKTION AKTUELLE PERSPEKTIVEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Center for Advanced Studies der LMU München, des Freundeskreises des Instituts für Kunstgeschichte der Universität München e.V. und des Ulmer Vereins. Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld, und die Autoren Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Erweiterte Publikation zur internationalen Tagung „Migration und künstlerische Produktion“ des Instituts für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, Center for Advanced Studies, 29.–30. Juni 2012 Redaktion: Burcu Dogramaci Lektorat: Sophie Reinhardt Register: Amelie Kleiner Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Heinz Hiltbrunner, München Umschlagabbildung: Nezaket Ekici, Oomph, Performance Installation, seit 2007, gezeigt „5th International Festival of Contemporary Dance Body & Eros: The Erotic Body –Teatro alle Tese (Theatre & Dance), 52nd Venice Biennale“, 15.–17.6.2007, Fotografie: Juergen Bernhard Kuck © VG Bild-Kunst, Bonn 2013: Nevin Aladağ, Dörthe Bäumer, Christoph Faulhaber, Hans-Peter Feldmann, Sven Johne, Mischa Kuball, Wifredo Lam, Fernand Léger, Agnes Martin, André Masson, Peggy Meinfelder, Lisl Ponger, Superflex © Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2013 © Estate of George Grosz, Princeton, N. J./VG Bild-Kunst, Bonn 2013 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2365-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT
Burcu Dogramaci | Fremde überall – Migration und künstlerische Produktion. Zur Einleitung KÜNSTLERISCHE PRAKTIKEN, THEORIEN UND MIGRATION Sabine Eckmann | Exil und Modernismus: Theoretische und methodische Überlegungen zum künstlerischen Exil der 1930er- und 1940er-Jahre
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Christian Kravagna | Reinheit der Kunst in Zeiten der Transkulturalität: Modernistische Kunsttheorie und die Kultur der Migration
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Mona Schieren | Zur Transmission asianistischer Denkfiguren. Transkulturelle Ästhetisierungen im Werk von Agnes Martin
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Burcu Dogramaci | Gespräch mit der Berliner Performancekünstlerin Nezaket Ekici über ihr Medley in der Pinakothek der Moderne in München anlässlich der Tagung „Migration und künstlerische Produktion“
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(BILD-)MACHT, DISKURSIVITÄT UND MIGRATION Sabine Hess | Hegemoniale Diskurs-Bilder brechen – eine kulturwissenschaftliche Kritik der dominanten Wissensproduktion zu Migration
107
Birgit Haehnel | Zeitgeist-Ikonen der Illegalität – massenmediales Phänomen und künstlerische Gegenstrategien
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Alexandra Karentzos | Nicht-Sichtbarkeit. Bildermacht und Migration
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GRENZEN UND ENTGRENZUNGEN Hanni Geiger | Raum und Zeit überwinden. Hussein Chalayans Design für postmoderne Nomaden
161
Elke Frietsch | Raster des Films. Inszenierungen von Körper- und Landesgrenzen in „The Bubble“ von Eytan Fox (ISR 2006)
179
MIGRATION AUSSTELLEN UND ERFORSCHEN Katrin Nahidi | „Im historischen Vakuum“ – Ausstellung und Rezeption zeitgenössischer Kunst aus dem Iran
199
Moritz Neumüller | Migration kuratieren
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Burcu Dogramaci | Migration als Forschungsfeld der Kunstgeschichte
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TRANSKULTURELLE RÄUME Erol Yıldız | Migration als urbane Ressource. Vom öffentlichen Diskurs zur Alltagspraxis
251
Marta Koscielniak | Polnische Künstler in der internationalen Kunstszene Münchens im ausgehenden 19. Jahrhundert: Theorien der Migration in historischer Perspektive
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Zuzana Biľová | Gemälde im Raum. Der Einfluss der migratorischen Erfahrung auf die Arbeit des tschechischen Künstlers Jan Kotík in Berlin während des Kalten Krieges
287
(MIGRANTISCHE) AKTEURE UND AKTIVISMUS Ortrud Gutjahr | „Theater ist mein Leben“. Inszenierungen wiederholter Migration in Emine Sevgi Özdamars „Die Brücke vom Goldenen Horn“
307
Burcu Dogramaci | Gespräch mit dem Konzeptkünstler Mischa Kuball über sein Projekt „New Pott – Neue Heimat im Revier“
325
Nanna Heidenreich | Die Kunst des Aktivismus. Kanak Attak revisited
347
Tunay Önder | Was sind Migrant/-innen anderes als babylonische Botschafter des Paradieses? Migrantenstadl 2.0
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Autorinnen und Autoren Abbildungsnachweise Personenregister
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Burcu Dogramaci
FREMDE ÜBERALL – MIGRATION UND KÜNSTLERISCHE PRODUKTION. ZUR EINLEITUNG
Inklusion und Exklusion Das Künstlerkollektiv Claire Fontaine setzt die Arbeit „Foreigners Everywhere“1 (Abb. 1) international in verschiedene Sprachen als Neonschrift um und problematisiert den Begriff des Fremden: Das Fremde und Andere wird nur durch „Kategorien des Selbst“2 erfahren, ein Ich und das Vertraute sind Voraussetzungen, um das Fremde fassen zu können, so wie auch das Fremde zur Definition des Eigenen dient. So sind „Heimat und [die] Fremde […] Kategorien der Orientierung“3 und der Ordnung. Wenn, wie bei den Diskursen um „das Fremde“, postuliert wird, dass das Fremde eigentlich nur aus einem Wissen um das Eigene erklärt werden könne und damit Fremdheit als „Ausdruck für eine Relation“4 gelten kann, so setzen Claire Fontaine die Behauptung dagegen, dass das Fremde überall sei, sie lösen den Begriff vom Subjekt, generalisieren den oder das Fremde als Grundfigur und öffnen damit auch die Zuschreibungsmöglichkeiten: Fremdsein wird zum Grundzustand in einer Gesellschaft und Welt. Dazu das Kollektiv in einem Statement aus dem Jahr 2005: „Since a few years they ask us several times a day to be scared and sometimes to feel terrorized, and now they dare talk to us about security. But security was never a matter of militias. Real security has to do with the possibility to be protected when one is in need; it’s the potential friendship hidden in all human beings. And since that has been destroyed, everything is haunted by risk. Foreigners are everywhere, it’s true, but we ourselves are foreigners in the streets and subway corridors, patrolled by men in uniforms.“5 Interessant ist in der Arbeit der Umgang mit Sprache und Neonschrift, die einerseits als Hinweis auf Künstler wie Maurizio Nannucci oder Bruce Nauman gedeutet werden kann. Andererseits wird die Sprache in den internationalen Diskussionen um Einwanderung als Indikator einer sogenannten „erfolgreichen Integration“ gemessen.
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Abb. 1: Claire Fontaine, Foreigners Everywhere (Arabic), 2005
So hieß es 2006 in einem Bericht der Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI): „Sprache hat im Prozess der individuellen wie der gesellschaftlichen Integration eine herausgehobene Bedeutung, da sie mehrere Funktionen erfüllt. Sie ist sowohl Medium der alltäglichen Kommunikation als auch eine Ressource, insbesondere bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Zudem können Sprachen und Sprachakzente als Symbole von Zusammengehörigkeit oder auch Fremdheit wirken und zu Abgrenzungen oder Diskriminierungen führen.“6 Claire Fontaine schreiben dabei in verschiedenen Sprachen – ausgenommen auf Englisch – und bringen den Schriftzug, abhängig davon, an welchen Orten und Ländern er platziert ist, in andere Bedeutungszusammenhänge.7 „Foreigners Everywhere“, vom Namen einer Turiner Anarchistengruppe inspiriert,8 erscheint auf Griechisch, Rumänisch, Albanisch oder Türkisch, wie hier auf der Istanbul Biennale 2011. Rezipienten können also im besten Fall lesen und sich dabei gleich fragen, warum sie als Sprachkundige mit dem Terminus des Fremdseins angesprochen werden. Dabei beinhaltet „Foreigners Everywhere“ mehrfache Lesarten: Wir können uns als Fremde fühlen, wo immer wir sind, oder es lassen sich Fremde an jedem Ort finden. Fremd-
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sein ist in diesem Zusammenhang kein marginales Phänomen, sondern eine conditio humana – eine Bedingung des Menschseins. Der Soziologe Richard Sennett hat in seinem Buch über die Konfiguration der Öffentlichkeit in den Industriegesellschaften auf das Fremdsein als Stadt konstituierendes Moment verwiesen: „Die Stadt bildet ein Milieu, das die Begegnung einander fremder Menschen wahrscheinlich macht. […] Die Stadt als eine Ansammlung von Fremden der ersten Art läßt sich am besten am Typus der ethnischen Stadt veranschaulichen – man denke an das heutige New York außerhalb Manhattans oder an Kapstadt, wo Rasse und Sprache unmittelbare Unterscheidungsmerkmale sind. Eine Stadt der zweiten Art, in der die Fremden unbekannte Größen sind, entsteht, wenn sich eine neue, noch amorphe gesellschaftliche Klasse herausbildet und sich die Stadt um diese gesellschaftliche Gruppe neu organisiert. Das galt im 18. Jahrhundert für Paris und London.“9 Anhand des exorbitanten Bevölkerungszuzugs nach London im 19. Jahrhundert – von 850.000 auf 5 Millionen – lässt sich feststellen, dass die meisten der neuen Bewohner aus Orten kamen, die mehr als zwei Tagesreisen entfernt waren.10 London konnte nur wachsen, weil Fremde kamen: Migration konstituiert Großstädte. War die Binnenmigration vom Land in die Stadt die zentrale Voraussetzung für das Entstehen der Großstädte des 19. Jahrhunderts, so veränderte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Arbeitsmigration besonders intensiv das Gesicht der Metropolen. Doug Saunders beschreibt in seinem Buch „Arrival City“ die Schaffung von sehr ähnlichen Räumen durch Migranten an ihren großstädtischen Ankunftsorten.11 Für den Stadtforscher Erol Yıldız ist Migration ein zentrales Element der Stadtentwicklung – „Stadt ist Migration“12 (siehe den Beitrag von Yıldız in diesem Buch). Claire Fontaines Schriftzug „Foreigners Everywhere“ erscheint indes auch auf Deutsch, hier entweder als „Fremde überall“13 oder als „Ausländer überall“ (Abb. 2). Dieser Begriff, der eng mit dem Begriff der Migration verwoben ist, ist ebenso wie „der Fremde“ nicht ohne seinen Gegenbegriff zu verstehen: Die Bedeutung des Wortes „Ausländer“ lässt sich nur als Abgrenzung von „Inländern“ erschließen, artikuliert folglich die Perspektive eines Inlandes und legitimiert sich über Prinzipien von Ex- und Inklusion. So heißt es in § 2, Abs. 1 des deutschen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG): „Ausländer ist jeder, der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116, Abs.1 des Grundgesetzes ist.“14 Dort steht geschrieben: „Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist vorbehaltlich gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte
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Abb. 2: Ausstellungsansichten „Untitled“ (12th Istanbul Biennial), 2011, Claire Fontaine, Her Yerde Yabancı, Ausländer überall, Te Huajit Gjitheandej
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Abb. 3: Superflex, Foreigners, please don’t leave us alone with the danes!, 2002
oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“15 Ausländer/Fremde und Deutsche erscheinen in den gesetzlichen Bestimmungen als Antagonisten – wer das eine ist, kann das andere nicht sein. Staatsangehörigkeiten oder das ius sanguinis, das Recht des Blutes, entscheiden über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Gemeinschaft. Die dänische Künstlergruppe Superflex reflektiert und ironisiert in ihrer Arbeit „Foreigners, please don’t leave us alone with the danes!“ von 2002 (Abb. 3) Praktiken der Ausgrenzung.16 Superflex reagierten damit auf ein zunehmend xenophobes Klima in Dänemark und auf die heftigen Diskussionen, die in Medien und Politik um Einwanderung geführt wurden. Der appellative Charakter der Schrift paraphrasiert und parodiert rassistische politische Plakate, die mit Überfremdungsszenarien arbeiten, wie sie in den vergangenen Jahren beispielsweise in den Kampagnen um den sogenannten Schweizer Minarettstreit begegneten. Auf Plakaten wurde im Jahr 2009 gegen den Bau von Minaretten polemisiert, indem diese bildlich mit Raketen gleichgesetzt wurden. Mit Zuschreibungen, Fremd- und Eigenwahrnehmungen, Einschluss- und Abgrenzungsmechanismen befasst sich eine Arbeit von Özlem Günyol und Mustafa Kunt. In
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ihrer Installation „Avrupa-lı-laş-tı-r-abil-di-k-leri-m-i-z-de-n-mi-sin-iz?“ (Abb. 4) fragen sie, frei übersetzt: „Gehören Sie zu jenen, die wir zu Europäern haben machen können?“ Günyol und Kunt rekurrieren auf die Suffixbildung der altaischen Turksprachen, bei der an die Stammsilben nach einem agglutinierenden Prinzip Suffixe angehängt werden.17 Die Künstler thematisieren damit Diskurse, die sowohl für die Türkinnen und Türken in der Türkei als auch für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland nicht unwichtig sind: Gehört die Türkei zu Europa und zur Europäischen Union? Sind wir Europäer oder Asiaten, oder wie werden wir wahrgenommen? Das zugeschriebene Selbstverständnis als Europäer (Günyol und Kunt wählen die Passivform) steht in unmittelbarem Zusammenhang mit weiteren unscharfen Begriffen wie Kultur und Heimat: Kann es eine gemeinsame europäische oder asiatische Identität geben, die sich wie ein Überbau über die Menschen legt, ihnen von außen zugewiesen wird? Im Ausstellungskontext dechiffrieren die Künstler das Wortungetüm (Abb. 5) und verweisen auf die feinen Bedeutungsunterschiede, die sich von Silbe zu Silbe ergeben: Von „Avrupa“ (Europa) zu „Avrupa-lı“ (europäisch) zu „Avrupa-lı-laş-tı“ (zum Europäer geworden) und so weiter. Das Selbstverständnis als Deutscher oder Türke, als Europäer oder Asiate ist nach Günyol und Kunt weniger eine Form einer tatsächlichen inneren Verbundenheit als eine Zuschreibung, ein Etikett, das über Inklusion oder Exklusion entscheidet. Sprache als Trennung oder als Bindeglied reflektiert Meriç Algün Ringborg in ihrer Arbeit „Ö (The Mutual Letter)“ (2011), für die sie all jene Worte sammelte, die im Schwedischen und Türkischen identisch sind. Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: einer Sound-Installation und einem Büchlein, das vom Besucher mitgenommen werden kann. In der Form der Printversion (Abb. 6 und 7) bezieht sich Ringborg deutlich auf Félix González-Torres’ Arbeiten, darunter auch eine für den Themenbereich Migration interessante wie „Untitled (Passport II)“ von 1993 (Abb. 8), die um Definition von Identität über offizielle Papiere kreist.18 Ringborg fand 1.270 identische Begriffe im Schwedischen und Türkischen wie „amatör“ (für Amateur), „likör“ oder „normal“. Die Sensibilisierung für sprachliche Kohärenzen ergab sich bei Ringborg ganz offensichtlich durch die Verlegung ihres Wohnsitzes 2007 von Istanbul nach Stockholm. In dem akustischen Part der Installation, bei dem Schwedisch und Türkisch alternierend vorgelesen werden, übernimmt ihr schwedischer Partner das Schwedische, sie selbst spricht die türkischen Wörter – die jeweils ununterscheidbar sind. Für Ringborg konstituierten sich aus ihrer Migration, ihrem Erleben als
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Abb. 4: Özlem Günyol & Mustafa Kunt, Avrupa-lı-laş-tı-r-abil-di-k-leri-m-i-z-de-n-mi-sin-iz?, 2007, Aluminium, Styropor, Lack, Klebebuchstaben, 81 x 2600 cm, Installation in Frankfurt am Main
Abb. 5: Özlem Günyol & Mustafa Kunt, Avrupa-lı-laş-tı-r-abil-di-k-leri-m-i-z-de-n-mi-sin-iz?, 2007, Klebebuchstaben, 190 x 200 cm, Ansicht in der Ausstellung „be-come“, Basis, Frankfurt am Main Burcu Dogramaci | EINLEITUNG
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Abb. 6: Meriç Algün Ringborg, Ö (The Mutual Letter), 2011, Soundinstallation, ca. 2 Std., Loop und Offsetdruck auf blauem Papier, gebunden in Booklets
Abb. 7: Meriç Algün Ringborg, Ö (The Mutual Letter), Ausstellungsansicht „Untitled“ (12th Istanbul Biennial), 2011
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Abb. 8: Félix González-Torres, Untitled (Passport II), 1993, Offsetdruck auf Papier, gebunden in Booklets (12 Seiten), Sammlung Goetz, München
Zugereiste Themen eigener künstlerischer Arbeiten. So schreibt sie über ihren Umzug nach Stockholm: „It is enough to say that, as a consequence, I was in a new home instead of my old home. This made cultural identity, language, belonging, and bureaucracy of moving across borders increasingly compelling subjects to me, as I had to apply, wait, be evaluated, and deemed fit to fit into this new society. By appropriating the methodology of collecting, systematizing, and list making, I began working with and against these themes.“19 Ein- oder Auswanderung verändert den Blick für das Umfeld, ebenso wie das Umfeld, der Mikro- oder Makrokosmos, durch Einwanderung verändert wird. Migration – das lateinische migratio meint „(Aus-)Wanderung, Umzug“ – ist „die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunkts von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen. Unterscheiden lassen sich verschiedene Erscheinungsformen räumlicher Bevölkerungsbewegungen: Dazu zählen vor allem Arbeits- und Siedlungswanderungen, Bildungs-, Ausbildungs- und Kulturwanderungen, Heirats- und Wohlstandswanderungen sowie Zwangswanderungen.“20 Dabei ist sicherlich für die Disposition des Migranten ausschlaggebend, unter welchen Umständen das Heimat-
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land verlassen wurde. Wirtschaftliche Not, politische Verfolgung werden andere Einflüsse auf Verhaltens- und Lebensweisen haben als beispielsweise das globale Agieren von Künstlern im Kontext ihrer Arbeit oder Ausstellungstätigkeit.21 Migration ist nicht nur stadt- und gesellschaftsbildend,22 sondern kann zu anderen künstlerischen Themen, zu Verfahrensweisen und Reflexionen führen. Dies meint nicht nur das motivische Reflektieren von Migration oder Migranten, sondern auch künstlerische Verfahren wie Praktiken des Sampelns oder das Überschreiten von Gattungsgrenzen, einen soziologischen oder politischen künstlerischen Ansatz, ein besonderes Interesse für Sprache, Handlungs- und Ausdrucksweisen. Zu diesem Band: Hintergründe und Ausblicke Migration und künstlerische Produktion bilden die Rahmenbegriffe dieser Publikation, die auf Beiträgen einer internationalen Tagung am Center for Advanced Studies (CAS) der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2012 basiert. Diese Tagung war zugleich der Abschluss eines einjährigen Forschungsvorhabens, das von der Herausgeberin und einer Gruppe von Doktorandinnen – Zuzana Bil’ová, Hanni Geiger, Katrin Nahidi, Marta Koscielniak – am CAS durchgeführt wurde und die historische Situation des Exils mit der zeitgenössischen Arbeitsmigration zusammenführte, um deren Auswirkung auf künstlerische Arbeitsweisen, Denkfiguren und Themen zu untersuchen. Exil, Migration und Kulturtransfers wurden aus kunstgeschichtlicher Perspektive fokussiert. Aus Sicht der Exilforschung ist die Stoßrichtung dieses Unterfangens nicht selbstverständlich, da in den internationalen Gesellschaften für Exilforschung das Exil von Personen infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 stets als ein Sonderfall von Auswanderung betrachtet wurde und erst seit Kurzem eine Erweiterung dieser Perspektive sichtbar ist.23 Die Beteiligten der Arbeitsgruppe widmeten sich unterschiedlichen Facetten des künstlerischen Austauschs, der kulturellen Übertragung, der Wechselbeziehungen, der Migration als Lebens- und künstlerisches Modell – so beispielsweise den deutsch-tschechoslowakischen Künstler- und Kunstbeziehungen in der Zeit des sogenannten Kalten Krieges, dem zypriotischen Modeschöpfer Hussein Chalayan, der sich in seinen Entwürfen mit Mobilität, Migration und Identitäten beschäftigt, polnischen Künstlerinnen in München um 1900, der iranischen Moderne im Kontext von lokaler und globaler Kunstgeschichte und der fotografischen Forschung deutscher Emigranten in der Türkei nach 1933. Der größte Unterschied zwischen Exil und Migration ist neben
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dem Movens für die Auswanderung – Verfolgungsgründe auf der einen Seite oder wirtschaftliche Not, bei den Künstlern der Wunsch auf Veränderung oder Weiterentwicklung auf der anderen Seite – wohl darin zu sehen, dass im Exil eine Rückkehr in die Heimat zunächst nicht möglich ist, da dort Verfolgung, Leid, vielleicht sogar der Tod drohen. Auch der Zeitpunkt für eine mögliche Remigration ist in der Regel nicht absehbar. Arbeitsmigration ist meist geprägt durch regelmäßige Besuche im Herkunftsland, durch Partizipation an der Gesellschaft der alten Heimat. Neben den zeitlichen, sozialen, politischen wie historischen Differenzen zwischen der Situation des Exils und der Arbeitsmigration können aber in einer theoretischen Abstraktion Modelle der Übertragung, der Aneignung und Ablehnung, der Reflexion kultureller Differenzen, der Möglichkeiten künstlerischer Produktivität durch Wanderung, des Fremdheitsgefühls und der Entstehung neuer Identitäten, der sprachlichen wie kulturellen Assimilation, der theoretischen wie literarischen Diskurse über Auswanderung festgehalten und diskutiert werden. Die Tagung und der daraus resultierende Sammelband nehmen diese Gedanken in einer interdisziplinären Konstellation auf und ermöglichen so Perspektivierungen aus verschiedenen Fachkulturen auf die Verkettung von Migration und Kunstproduktion. Ziel ist es, einen transdisziplinären Denkraum zu schaffen und die Auseinandersetzung anderer Fächer mit dem Phänomen der Wanderung kennenzulernen, um sie für eine kunsthistorische Auseinandersetzung fruchtbar zu machen. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade konstatierte, dass Migration alle Lebensbereiche durchdringe und Migrationsforschung deshalb grundsätzlich inter- und transdisziplinäre Forschungsansätze brauche.24 In Aneignung dieses Gedankens ließe sich postulieren, dass ein Schwerpunkt Migrationsforschung in der Kunstgeschichte die methodischen Zugänge und Forschungsergebnisse anderer Disziplinen benötigt, Fächer, die teilweise schon viel länger über Ein- und Auswanderung und ihre Folgen gearbeitet haben. Mit dieser Publikation soll für den deutschen Sprachraum ein neues kunsthistorisches Forschungsfeld initiiert werden, und es ist zu hoffen, dass analog zur wichtigen Forschungsausrichtung „Global Arts“ (verkörpert beispielsweise durch den Lehrstuhl „Global Art History“ an der Universität Heidelberg oder das Forschungsprojekt „Global Art and the Museum“ am ZKM Karlsruhe) auch das Thema der Migration seinen Ort in unserem Fach Kunstgeschichte erhalten wird. Dieses Buch versammelt soziologische, kulturanthropologische, medien-, filmund literaturwissenschaftliche sowie kunsthistorische Reflexionen und Perspektiven
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aus der künstlerischen wie kuratorischen Praxis. In den Beiträgen des vorliegenden Buches wird diskutiert, ob und in welchem Maße Aus- und Einwanderung einen Innovationsschub für die künstlerische Produktion bedeuten kann: Welchen Einfluss hat Migration auf Kunstproduzenten und künstlerische Praktiken? In welchem Verhältnis stehen (Stadt-)Raum und Migration? Kann Migration ein Movens für Künstler sein, sie thematisch oder konzeptuell in ihren Arbeiten beeinflussen? Wie lassen sich Übertragungsprozesse untersuchen? Welches andere Verständnis von (Kunst-) Geschichte kann die Akzeptanz horizontaler Verflechtungen zwischen Ländern und Kulturen schaffen? Wie wird in verschiedenen Fachkulturen über Migration und Kunst/Kultur reflektiert? Lassen sich gemeinsame Ansätze herausarbeiten? Wie kann Migration kuratorisch inszeniert und reflektiert werden? Die Beiträge dieses Bandes weisen bei aller Pluralität der Gegenstände und der fachspezifischen Fokussierungen Überschneidungen auf, die sich wie folgt fassen lassen: (Bild-)Macht, Diskursivität und Migration (Haehnel, Hess, Karentzos), (Migrantische) Akteure und Aktivismus (Gutjahr, Heidenreich, Kuball, Önder), Künstlerische Praktiken, Theorien und Migration (Eckmann, Ekici, Kravagna, Schieren), Migration ausstellen und erforschen (Dogramaci, Nahidi, Neumüller), Transkulturelle Räume (Bil’ová, Koscielniak, Yıldız), Grenzen und Entgrenzungen (Frietsch, Geiger). Neben den verschriftlichten Vorträgen zur Tagung und einiger zusätzlicher Beiträge wurden auch zwei Gespräche in das Buch aufgenommen: Der Düsseldorfer Medienkünstler Mischa Kuball, der auf der Tagung sein Projekt „New Pott“ vorstellte, entschied sich, die Genese seines Interviewprojekts zur neuen Kartografie des Ruhrgebietes als Gespräch mit der Herausgeberin zu artikulieren. Die Künstlerin Nezaket Ekici wiederum, die anlässlich der Tagung ein Medley ihrer Performances aus einem Dezennium künstlerischer Produktion in der Pinakothek der Moderne gezeigt hatte, positionierte sich in einem Interview zum Thema dieses Bandes: Migration, Ortsveränderung und Reise können als Metafiguren vieler ihrer Arbeiten identifiziert werden. In Kuballs und Ekicis Arbeiten äußert sich recht deutlich, wie präsent Migration als Movens für eine künstlerische Produktion und Kreativität ist und wie vielfältig die Auseinandersetzung mit Aus- und Einwanderung sein kann. Ermöglicht wurde die Tagung „Migration und künstlerische Produktion“ sowie die gleichnamige Publikation durch Mittel des Senior Research Fellowship am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität (Senior Research Fellowship), wofür vor allem Dr. Sonja Asal gedankt sein soll. Großzügig unterstützt wurde
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das Vorhaben zudem durch den Ulmer Verein sowie den Freundeskreis des Instituts für Kunstgeschichte der LMU. Ein großer Dank gilt meiner Lektorin Dr. Sophie Reinhardt für die erneut umsichtige, geduldige und professionelle Betreuung des Projekts sowie Heinz Hiltbrunner für die wunderbare Gestaltung des Buches. Dem transcript-Verlag sei für die Publikation dieser Beiträge in seiner Reihe IMAGE gedankt; damit kann dieses Buch in einem anregenden Umfeld erscheinen. Besonders verbunden bin ich den Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Buches, die in ihren Essays inspirierende und wichtige Gedanken formulierten sowie methodische Ansätze artikulierten, die neue Perspektiven auf das Thema „Migration und künstlerische Produktion“ eröffnen. 1 | Dem „Foreigners Everywhere“ von Claire Fontaine setzte René Block mit seiner Ausstellung im Berliner Kunstraum Tanas 2012 ein „At Home, wherever“ entgegen und versammelte Positionen von Künstlern, die ihr Leben lang außerhalb ihrer Heimat lebten und leben. 2 | Bekim Agai: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was? Erzählen. Der Reisebericht als kulturübergreifende inszenierte Grenzerfahrung – Ein Vergleich der Reiseberichte des Ägypters T.aht.āwī, des Osmanen Muh. ibb Efendi und des Preußen von Moltke, in: ders. und Zita Ágota Pataki (Hg.): Orientalische Reisende in Europa – Europäische Reisende im Nahen Osten: Bilder vom Selbst und Imaginationen des Anderen, Berlin 2010 (Bonner Islamstudien, Bd. 19), S. 13–38, hier S. 13. 3 | Wolfgang Müller-Funk: Einleitung, in: ders. (Hg.): Neue Heimaten, neue Fremden. Beiträge zur kontinentalen Spannungslage, Wien 1992, S. 9–18, hier S. 9. 4 | Bernhard Waldenfels: Erfahrungen des Fremden in Husserls Phänomenologie, in: Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Profile der Phänomenologie. Zum 50. Todestag von Edmund Husserl, Phänomenologische Forschungen, 1989, H. 22, S. 39–62, hier S. 44. 5 | Claire Fontaine: Foreigners Everywhere, 2005, http://www.contemporaryartdaily.com/2010/12/clairefontaine-at-helena-papadopoulos/ [Abruf 16.1.2013]. 6 | Hartmut Esser/Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI), Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB): Migration, Sprache und Integration, AKI-Forschungsbilanz 4, Berlin 2006, S. 1. 7 | Zur Relation zwischen Sprache und Kontext bei „Foreigners Everywhere“ vgl. Letizia Ragaglia: M – A – C – C – H – I – N – A – Z – O – N – I, in: Claire Fontaine. Foreigners Everywhere, Ausst.-Kat. Museion Bozen 2012, S. 8–20, hier S. 19. 8 | Vgl. Fremde überall. Werke zeitgenössischer Kunst aus der POMERANZ COLLECTION, Ausst.-Kat. Jüdisches Museum Wien 2012, S. 44. 9 | Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main 1983, S. 66 f. 10 | Ebd., S. 69. 11 | Doug Saunders: Arrival City. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte, von ihnen hängt unsere Zukunft ab, München 2011, S. 9. 12 | Erol Yıldız: Migration bewegt die Stadt, in: Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, hg. v. Natalie Bayer u. a., Ausst.-Kat. Rathausgalerie München 2009, S. 20; vgl. auch Erol Yıldız: Migration in der metropolitanen Gesellschaft, Münster 2004. 13 | Abb. in Ausst.-Kat. Wien 2012 (wie Anm. 8), S. 46 f. 14 | Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz [AufenthG]), § 2, Abs. 1, www.aufenthalstitel.de/aufenthaltsg.html [Abruf 30.1.2013].
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15 | Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 116, Abs. 1: www.gesetze-im-internet.de/gg/ art_116.html [Abruf 30.1.2013]. 16 | Vgl. Superflex/Tools, hg. v. Barbara Steiner, Köln 2003, S. 290. 17 | Vgl. Alev Tekinay: Günaydin. Einführung in die moderne türkische Sprache, Teil 1, Wiesbaden 2002, S. XXXIV–XXXV. 18 | So war Ringborgs Arbeit auf der Istanbul Biennale 2011 auch in der Torres gewidmeten Sektion „Untitled (Passport)“ zu sehen. Zu Torres’ „Untitled (Passport)“ vgl. Félix González-Torres, Roni Horn, Ausst.-Kat. Sammlung Goetz, München 1995, S. 10, 38; Hans-Ulrich Obrist im Gespräch mit Félix González-Torres, in: Der Standard, 10.1.1996, S. 8. 19 | İsimsiz (12. İstanbul Bienali), 2011. El Kitabı, Ausst.-Kat. 12. Istanbul Biennale 2011, S. 254. 20 | Klaus J. Bade und Jochen Oltmer: Migration in der Geschichte – Bedingungen, Formen und Folgen, in: Henning Brüning, Elke Mittmann u.a. (Hg.): Die anderen Städte. IBA Stadtumbau 2010, Berlin 2010, S. 88–98, hier S. 88. 21 | „Indeed, directly attaching the cosmopolitan, freely traveling, contemporary artist or businessman to the underprivileged migrant worker is not only superficial, but also an act of unproductive cynism.“ Niels van Tomme, in: Where Do We Migrate to?, Ausst.-Kat. Center for Art Design and Visual Culture, University of Maryland Baltimore County, Baltimore, New York 2011, S. 11–18, hier S. 13. 22 | Vgl. Jens S. Dangschat: Ohne Migration keine Stadt!? Die Segregation oder die Integration der Stadtgesellschaft, in: Metropole: Kosmopolis, Hamburg 2011, S. 60–67. 23 | Siehe z.B. die Tagung der Gesellschaft für Exilforschung e.V. „Quo vadis, Exilforschung? Stand und Perspektiven. Die Herausforderung der „Globalisierung“, 23.–25.3.2012 in Amsterdam. 24 | Bade/Oltmer 2010 (wie Anm. 19), S. 88.
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KÜNSTLERISCHE PRAKTIKEN, THEORIEN UND MIGRATION
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Sabine Eckmann
EXIL UND MODERNISMUS: THEORETISCHE UND METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM KÜNSTLERISCHEN EXIL DER 1930ER- UND 1940ER-JAHRE
Das künstlerische Exil der 1930er- und 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts wurde erst in den späten 1960er-Jahren zusammen mit dem „Dritten Reich“ und dem Holocaust als Forschungsgegenstand für die Humanwissenschaften, die Kunstgeschichte eingeschlossen, entdeckt. Abgesehen von Debatten über die Signifikanz politischer beziehungsweise unpolitischer Exilkunstwerke und deren Rolle im Hinblick auf eine positive deutsche nationale Identität während des „Dritten Reiches“, sind viele bisherige Interpretationsansätze hauptsächlich von biografischen Darstellungen bestimmt. Dabei ist anzumerken, dass Künstler wegen ihres persönlichen Schicksals als Juden oder politisch Verfolgte in die Kunstgeschichte (oder den sogenannten Kanon) eingeschrieben wurden. Konsequenterweise wird das Kunstwerk oftmals als direktes Dokument der jeweiligen individuellen Biografie abgehandelt. Tatsächlich spielen in vielen Kunstwerken der 1930er- und 40er-Jahre Subjektivität und Identität eine große Rolle. Max Ernst beispielsweise repräsentiert sich im Exil weiterhin als Loplop (ab 1929–1932), eine anthropomorphe Vogelgestalt, in der er sich wiedererkennt und die zugleich in seinen autobiografischen Schriften auftaucht. Die Kontinuität seiner Identität vor und während des Exils wird auch in der ersten ausführlicheren autobiografischen Schrift „Some Data on the Youth of Max Ernst, as told by himself “ von 1942, also im amerikanischen Exil geschrieben, betont. Darin fungiert der Vogel im Sinne einer Individualmythologie als Alter Ego Max Ernsts, die jetzt allerdings dazu beiträgt, das Exil bewohnbar (oder heimelig) zu machen. In seinem Gemälde „Der Surrealismus und die Malerei“ aus dem Jahre 1942 stellt er sich selbst als mütterliche vogelähnliche Figur dar, die kleinere Vogelfiguren umklammert und schützt.1 Ungeachtet der Thematisierung eines Rückzugs in den privaten Bereich, der das geopolitische Displacement sozusagen kompensiert, ist dieses Bild auch
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als eines der ersten Zeugnisse der sogenannten Drip-Technik bekannt geworden.2 Andere, wie George Grosz beispielsweise, haben im Exil zu ambivalenten Selbstdarstellungen gefunden, die als ästhetische Umsetzungen individueller und künstlerischer Selbstzweifel bewertet werden können. Die damit verbundene Infragestellung einer homogenen und souveränen Selbstidentifizierung wird in der Zeichnung „Selbstbildnis“ (1937) deutlich, in der Leinwände und möglicherweise ein Spiegel komplex miteinander verschränkt sind, sodass sie nicht voneinander zu unterscheiden sind.3 Trotz Grosz’ konventioneller Selbstdarstellung – sein Blick ist dem Betrachter zugewandt oder im Spiegel reflektiert – wird das künstlerische Ich durch komplizierte räumliche Brechungen als fragmentiert dargestellt. Zweifellos ist diesen Werken eine biografische Qualität zu eigen. Da sie jedoch in vielschichtiger Art und Weise subjektive Identitäten mediatisieren (oder durch Kunst filtern), sollten sie nicht nur, wie oft in der Vergangenheit geschehen, als direktes und unvermitteltes Zeugnis biografischer Erfahrungen bewertet werden. Nach der Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten im Jahr 1990 rief Ernst Loewy zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der Exilstudien auf.4 Er setzte sich für eine Historisierung der Geschichte des Exils ein, um sie von einer erneuten Verwicklung in die Konstruktion einer nun vereinigten deutschen Identität zu befreien. Stattdessen bevorzugte er Ansätze, die die Vermischung verschiedener Kulturen untersuchen sollten, wodurch er nahelegte, dass Prozesse der Akkulturation sowie hybride Identitätsbildungen methodisch neue Erkenntnisse liefern könnten. Tatsächlich hat in der letzten Dekade die sogenannte Sozialgeschichte der Kunst, die besonders in den USA praktiziert wird, Studien hervorgebracht, die anhand sozialer, kultureller und politischer Kontextualisierungen neue historische Einsichten gewähren.5 Dabei steht oft eine Auseinandersetzung mit den institutionellen Bedingungen der Exilkunst sowie dem größeren Netzwerk der Kunstwelt, also auch der interkulturelle Austausch, im Vordergrund. Gewöhnlich spielt auch die Frage nach der Politisierung der Exilkunstwelt eine Rolle, also der Bereitschaft von Künstlern, Sammlern, Galeristen, Kunsthistoriker/-innen und ausländischen Kunstinstitutionen, politische, antifaschistische Positionen öffentlich zu vertreten. Es besteht natürlich kein Zweifel, dass solch historische Studien nicht nur den Kenntnisstand über das künstlerische Exil ganz wesentlich veränderten und bereicherten, sondern auch zu vielen nuancierten Einsichten führten, die ein genaueres Bild dieses historischen Moments und seiner
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künstlerischen Produktion ermöglichten. Dennoch gibt es bisher kaum Studien, die über das Biografische und Ikonografische hinaus zu einem Verständnis einer spezifischen, vielleicht eklektischen Exilästhetik beitragen und analysieren, wie sich diese Exilkunstwerke in die Geschichte des Modernismus einschreiben lassen könnten.6 Daher soll in meinen folgenden Überlegungen zum künstlerischen Exil der 1930erund 1940er-Jahre einerseits die Anbindung an den künstlerischen Modernismus als Leitfaden dienen, andererseits existenzielle Bedingungen des Exils, wie sie in Theorien des Exils formuliert wurden, als theoretisches Bezugssystem fungieren. Ohne Zweifel haben Modernismus und Exil viele Gemeinsamkeiten, jedoch auch offensichtliche Gegensätze, die zu einer Komplizierung oder sogar Revidierung dessen beitragen, was wir unter Modernismus verstehen. Prinzipiell wird die moderne Kunst häufig als Reflexion einer Krisenerfahrung aufgefasst, und zwar mit Blick auf die fortschreitend technologische Modernität und deren gewaltsame Auswirkungen, womit der ästhetische Modernismus eine seiner wichtigsten Dispositionen mit der Exilkunst teilt. Ebenso kann eine Verbindung zwischen der Erfahrung von Mobilität, der rapiden Veränderung alles bisher Erfahrenen im Exil sowie Bewegung und Schnelligkeit als Symptome des modernen Lebens konstruiert werden. Stehen auf der einen Seite als zentrale Ausdrucksweisen komplizierte Bilder, Fotografien, Skulpturen und Filme, die das stabile und statische Newton’sche Koordinatensystem des dreidimensionalen Raumes beispielsweise durch eine Ästhetik der Simultaneität (Futurismus) oder der Relativität (Kubismus) aufheben, so ist es andererseits die moderne Kunst selbst, die auch aufgrund ihres Hermetismus ihren festen und unveränderlichen Ort in der Gesellschaft verloren hat. Mit Blick auf das Exil schrieb der Philosoph Vilém Flusser 1984, dass „im Exil [...] alles in Veränderungen begriffen wahrgenommen [wird], [es] ist für den Vertriebenen überhaupt alles eine Herausforderung, verändert zu werden. Im Exil, worin die Decke der Gewohnheit abgezogen ist, wird man zum Revolutionär, und sei es nur, um dort wohnen zu können.“7 Entscheidend ist, dass Flusser zufolge die Erfahrung der Mobilität und ständigen Veränderung an Inauthentizität gebunden ist. Auch Boris Groys hat auf die fehlende Authentizität des Migranten aufmerksam gemacht, allerdings mit Blick auf die Situation im Deutschland der 1990er-Jahre, wenn er schreibt: „Aber ein Asylant ist ausgesprochen unromantisch. Er ist kein authentischer Türke, oder kein authentischer Chinese mehr, weil er durch seinen Aufenthalt in Deutschland sich von seinem eigenen Land kulturell entfernt hat. [...]
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Danach kann der Asylant als eine dialektische Synthese zwischen [...] Norm und Abweichung von der Norm, zwischen Eigenem und Fremden gedeutet werden.“8 Die Zuschreibung einer entfremdenden, also inauthentischen Erfahrung von Existenz und Subjektivität ist eine der zentralen Themen des ästhetischen Modernismus, und zwar lange, bevor er sich tatsächlich und unfreiwillig geopolitisch vertrieben wiederfand. Im Zusammenhang mit der von Flusser konstatierten Exilerfahrung, die an ständige Veränderung und Mobilität gebunden sei, ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich für manche Exilanten, insbesondere die aus Frankreich emigrierten Künstler, wie Fernand Léger und André Masson, von Anfang an um einen temporären Aufenthalt handelte. Daher qualifiziert sich das historische Exil beziehungsweise die Emigration der 1930er-und der 1940er-Jahre oft auch durch einen Wartestatus. Ist die Moderne mobil und zukunftsorientiert, so zeichnet sich das Exil oft durch ein Anhalten der Zeit aus. In diesem Zusammenhang mag man der Frage nachgehen, ob und in welcher Weise diese Konditionen ästhetisch umgesetzt wurden. Kann man behaupten, dass in Kunstwerken der Pariser Exilkünstler, trotz der Erfahrung des forcierten Ortswechsels, die sogenannte Progressivität, die konstante Veränderung der künstlerischen Moderne zum Stillstand kam? Im Folgenden soll dies am Beispiel der ästhetischen Rezeption der Kunst der indianischen Völker durch die Surrealisten diskutiert werden. Wohl ist bekannt, dass die Surrealisten unter den Pariser Exilanten, André Masson, André Breton, Max Ernst und auch der chilenische Künstler Roberto Matta Echaurren, ein großes Interesse für die indianischen Ureinwohner Amerikas entwickelten. Unter anderem besuchten sie 1941 die Ausstellung des Museum of Modern Art (MoMA) „Indian Art in the United States“, gingen regelmäßig in das American Museum of Natural History und reisten auf den Spuren der indianischen Völker, wie Max Ernst beispielsweise, nach Arizona, New Mexico und Kalifornien. Nicht zuletzt waren sie selbst auch begeisterte Sammler indianischer Werke. 1946 organisierten unter anderem Max Ernst und Barnett Newman die Eröffnungsausstellung von Betty Parsons New Yorker Galerie mit der Ausstellung „North-West Coast Indian Painting“, die zum Teil die Sammlungen der Künstler selbst einschlossen.9 Es ist außerdem weitläufig bekannt, dass die oft gewaltsamen Mythen, sogenannten primitiven Rituale
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und Urstoffe, die in diesen Werken der Ureinwohner Amerikas zur Darstellung gelangen, besonders die amerikanischen Künstler der New York School, etwa Jackson Pollock, Clifford Still und Barnett Newman, die„myth-makers“, faszinierte. In den indianischen Bildern wurde ein Kontext registriert, der zur Entwicklung einer neuen, genuin US-amerikanischen künstlerischen Formensprache führen sollte, die, ähnlich der sogenannten Stunde Null, einen endgültigen Bruch mit der historischen Kultur des Westens und im Besonderen der gescheiterten Kultur der europäischen Aufklärung herbeiführen würde.10 Dagegen wurde die europäisch-modernistische Suche nach dem exotisch Anderen, die eine Trennung von Geschichte und Traditionen zusicherte, im amerikanischen Exil durch eine romantische Imagination Amerikas ergänzt. Anders als den amerikanischen Künstlern ging es dem französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss im New Yorker Exil allein um moderne ästhetische Sensibilitäten. Er verglich die Kunstwerke der amerikanischen Indianer mit den innovativsten künstlerischen Qualitäten der europäischen Moderne, wie er sie beispielsweise in den Werken Pablo Picassos vorzufinden glaubte.11 Surrealistische Interessen, die der kreativen Inspiration, dem Irrationalen, Exotischen und „Primitiven“ galten, überschatteten Auseinandersetzungen, die zu interkulturellen, historischen oder anthropologischen Erkenntnissen geführt hätten.12 Visuell am eindeutigsten artikuliert ist dieses Verhältnis zur Kultur amerikanischer Ureinwohner in einigen Gemälden von André Masson. Dazu zählen besonders die Bilder „The Seeded Earth“ (Abb. 1) und „Meditation on an Oak Leaf “ (Abb. 2), die beide im Jahr 1942 entstanden sind. Diese abstrahierenden und mythologisierenden Landschaften, sind ästhetische Umsetzungen der Natur, wie sie von Masson in seinem neuen vorübergehenden Wohnsitz in New Preston, Connecticut, erfahren wurde. Da dort ursprünglich die Irokesen angesiedelt waren, wurde Massons Umgebung zu einer fruchtbaren Quelle für seine Einbildungskraft. Masson, der kein Englisch sprach, schaffte sich einen eigenen amerikanischen Mythos, der archaisch und ursprünglich war. Kurz vor seiner Rückreise nach Frankreich im Jahr 1945 stellte er denn auch resümierend fest: „my idea of America [...] Nature: the might of nature – the savagery of nature. [...] There is a rich American mythology awaiting exploitation [...] Perhaps I am temperamentally better fitted to understand the life of the pioneers, their struggle with the elements.“13 Beide Gemälde zeichnen sich durch eine für Masson untypisch intensive Farbigkeit aus. Er selbst führte seinen künstlerischen
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Abb. 1: André Masson, The Seeded Earth, 1942, Öl auf Leinwand, 76,2 x 101,6 cm, Detroit Institute of Arts, Schenkung Mr. W. Hawkins Ferry
Prozess auf den surrealistischen Automatismus zurück, der jedoch eher unwahrscheinlich ist.14 Denn die resultierenden Bilder ähneln sowohl abstrahierten Ideogrammen (besonders „The Seeded Earth“) als auch bio- und zoomorphen, im Entstehen begriffenen Gestaltungen, die gleichzeitig unzivilisierte und gewaltsame Naturkräfte aufrufen. Auffallend ist ein sehr dunkler, beinahe schwarzer Untergrund, auf den leuchtende Farben mit plastischen Qualitäten aufgetragen sind. Dabei nehmen Massons Linien oft die Form einer Membran an, die wie in „Meditation on an Oak Leaf “, an eine Nabelschnur erinnert. In diesen sogenannten tellurischen, an die Erde gebundenen Bildern lassen sich ovale, oft ineinander verschlungene und sich verändernde Formen beobachten, die an Keimung und Wachstum erinnern, wodurch ein Schöpfungsmythos nahegelegt wird, der allerdings durch fratzenhafte Gesichter und die unheimliche Wirkung der Farbgebung auch Allusionen zu Gewalt und Tod hervorruft. Im Gegensatz zu gleichzeitig entstandenen Gemälden, in denen sich Masson mit tradierten westlichen Mythen, etwa Pasiphaë oder Theseus, auseinandersetzt, und die Gewalt als extreme und elementare menschliche Erfahrung the-
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Abb. 2: André Masson, Meditation on an Oak Leaf, 1942, Tempera, Pastell und Sand auf Leinwand, 101,6 x 83,8 cm, The Museum of Modern Art, New York
matisieren, geht es in diesen Bildern, die der amerikanischen Natur und der indianischen Kultur verpflichtet sind, um Entstehung, Wachstum und archaische Schöpfungsmythen. Diese Bilder verweisen natürlich auch auf Massons Wartezustand, als es in ihnen nicht wirklich um Amerika und dessen Vorgeschichte geht, sondern um Visualisierungen eines aus Europa importierten Amerika-Bildes. Zusammengesehen
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suggerieren diese Bilder Analogien zu einer noch nicht zivilisierten Natur, die kennzeichnend für die französische Imagination Amerikas seit Chateaubriand ist.15 Um Neuanfänge darzustellen, benutzt der Künstler abstrahierte Bewegung als formales Charakteristikum. Insofern knüpft Masson seinen Zustand des Abwartens an einen Dialog, der vordringlich mit Wachstum, Veränderung und Entstehung zu tun hat, Kennzeichen also, die sowohl die Erfahrung des Exils als auch die Moderne selbst bestimmen. In sehr unterschiedlicher Art und Weise lassen sich auch in Bildern von Fernand Léger die Mediatisierung der Bedingungen seiner Exilerfahrung ablesen, die gleichwohl an Bewegung und Veränderung gebunden ist. Mit Masson teilt er nicht nur die Absicht, so schnell wie möglich nach Frankreich zurückzukehren, sondern auch eine Faszination für das Gastland, die durch europäische Vorstellungen geprägt ist. So erklärte Léger: „In this country there is definitely a romantic atmosphere in the good sense of the word – an increased sense of movement and violence. This is a melodramatic country, for all it’s clear skys.“16 Im Gegensatz zu Masson waren es jedoch Populärkultur, Jugendlichkeit und die ausgeprägte Modernität Amerikas, die ihn begeisterten. In seinen Gemälden der Radfahrerinnen kommt dies zum Ausdruck. Er versuchte, in ihnen die „leuchtende, elektrisierende Intensität“ der amerikanischen Großstadt und insbesondere New Yorks zu verarbeiten. In der kunstgeschichtlichen Literatur werden daher geometrische Farbbänder, wie sie beispielsweise in „Les Belles Cyclistes“ (1944, Abb. 3) zu sehen sind, oft mit den Neonlichtern des Broadway verglichen.17 Léger selbst erklärte 1952: „In 1942, when I was in New York I was struck by the advertising projectors on Broadway which played upon the street […]. You’re talking to someone and all of a sudden he becomes blue. As soon as that color passes another comes and he becomes red or yellow. That kind of color, the color of the projector, is free, free in space.“18 Darüber hinaus führte Léger die Intensivierung seiner Farbpalette grundsätzlich auf den Einfluss Amerikas zurück.19 Durch den Einsatz der geometrischen Bänder betont und fragmentiert Léger die Körper der Radfahrerinnen zugleich. Darüber hinausgehend verkompliziert er die räumliche Beziehung zwischen den einzelnen Sportlerinnen. Durch die gegenseitige Durchdringung von Farbbändern und Körpern wird die Raumdarstellung komplexer, wobei Bildvordergrund und -hintergrund in ein ambivalentes, oszillierendes Verhält-
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Abb. 3: Fernand Léger, Les Belles Cyclistes, 1944, Öl auf Leinwand, 73,6 x 91,4 cm, Mildred Lane Kemper Art Museum, Schenkung Charles H. Yalem
nis zueinander treten. Auf diese Art und Weise setzt Léger Bewegung als abstraktes bildnerisches Mittel um, wobei der Raum selbst als unspezifisch wiedergegeben ist, da nicht ersichtlich wird, ob es sich hier um eine Landschaft oder eine Stadtszene handelt. Die Isolierung von Figur und Umgebung wie auch einzelner Körperteile und deren fragmentarische räumliche Einbindung spiegeln sich in einer ästhetischen Form, die auch Farbe und Figur streng voneinander trennt. Wäre es eigentlich zu erwarten gewesen, dass Léger dem Betrachter eine amerikanische Großstadtszene vorführt, die seine Faszination mit dem Gastland belegt, so setzt er seine Exilerfahrung der Veränderung, der räumlichen Mobilität sowie auch seine Wartehaltung und gleichbleibende Anbindung an seine Heimat Frankreich durch abstrakte, komplizierte und modernistisch-hermetische bildnerische Mittel um. Wir sehen keine als Amerikanerinnen zu entziffernde Figuren, sondern im Gegenteil emotionslose und typisierte Frauen, die uns oder denen wir frontal ausgesetzt sind. Ihre Körper sind stilisiert, wobei einzelne Körperteile sogar voneinander isoliert wiedergegeben sind.
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Dennoch berühren sie sich vornehmlich durch Arme und Hände. Diese Darstellung zusammengesehen mit den entindividualisierten Gesichtern legt Légers Hoffnung auf eine kollektive Gesellschaft nahe, die nach dem Ende des Krieges den materiellen, sozialen und politischen Wiederaufbau Frankreichs in Angriff nehmen sollte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass freiwillige Migranten wie der Schweizer Robert Frank sich wesentlich realistischer mit der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Wahlheimat auseinandersetzten. In seiner berühmten und historisch umstrittenen Fotoserie „The Americans“, die auf einer Reise durch Amerika 1955/56 entstand, vermengen sich Fotografien, aus denen die europäische Imagination Amerikas ablesbar ist, mit Bildern, die sich sehr kritisch mit der existierenden sozialpolitischen Wirklichkeit beschäftigen.20 Während einige Fotos durch die Wiedergabe von Diners, Drive-in-Kinos und einheimischer Automobile die klassischen Ikonen der amerikanischen Konsumkultur zelebrieren, zeigen andere die Schattenseiten Amerikas, etwa Rassismus und Armut. Im Gegensatz zu den Übergangsemigranten aus Frankreich, deren Amerikabild unverändert blieb, illuminiert Frank realistischen Konventionen folgend ein Amerika, indem, trotz des US-amerikanischen Nachkriegsstatus als politische und kulturelle demokratische Weltmacht, soziale Benachteiligungen zum Alltag gehören. Es bleibt festzuhalten, dass Léger und Masson trotz sehr unterschiedlicher ästhetischer Konzepte und künstlerischer Strategien in ihren Bildern den Blick eines Außenseiters thematisieren, der durch seine Heimatkultur bestimmt ist, wenngleich beide Künstler die Erfahrung von Mobilität und Veränderung durch komplexe modernistische Gestaltungen, und zwar abstrakte Formen räumlicher Bewegtheit, umsetzen. Im Zusammenhang mit Theorien und realen Effekten der Globalisierung, die weltweit Vernetzung und Homogenisierung mit sich bringt, wird heute auch in der Exilforschung oft der Frage nachgegangen, inwiefern Migration und Exil auch als Motor für künstlerische Produktion verstanden werden können, ob also eine konstruktive Verbindung zwischen Exil/Migration und Assimilation, Hybridität und Kreativität hergestellt werden kann.21 In der Vergangenheit haben dies Exilanten wie Theoretiker immer wieder bezweifelt. Auf Georg Lukács’ Konzept der transzendentalen Heimatlosigkeit als Charakteristikum des modernen Romans hinweisend, hat der postkoloniale Kritiker und Theoretiker Edward Said 1984 in seinem zentralen Essay
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„Reflections on Exile“ dem Exilanten das Recht eingestanden, Zugehörigkeit zu verweigern.22 So schreibt er: „[Exile] is the unhealable rift forced between a human being and a native place, between the self and its true home: it’s essential sadness can never be surmounted.“23 Darüber hinaus hat Said das Exil als Kernerfahrung der Moderne und Postmoderne beschrieben, da im Laufe des ganzen letzten Jahrhunderts totalitäre und autoritäre Regime Millionen von inzwischen über die ganze Welt verstreut lebenden Menschen ins Exil zwangen. Said, der in einer Flüchtlingsfamilie in Palästina nach 1948 aufwuchs, beschreibt Exil als ein „impact event“, wie es kürzlich von Anne Fuchs theoretisch erörtert wurde. Sie schreibt: „[…] in the simplest terms, impact events can be defined as historical occurences that are perceived to spectacularly shatter the material and symbolic worlds we inhabit.“24 Fuchs zufolge sind solch historische Umbruchperioden, die die Welt auf den Kopf stellen, an Gewalt, jedoch auch an Neuanfänge gebunden. Zugleich manifestiert sich ein „impact event“ durch sein andauerndes Nachleben in materiellen Repräsentationen und mnenemonischen Zeugnissen von Exzess und Übersteigerung, die eine Verstärkung des Realen demonstrieren. Ähnlich hat Said „wilfulness, exaggeration and overstatement“25 als Kennzeichen von Exilkunstwerken hervorgehoben. Und ganz im Sinne von Fuchs argumentiert auch er: „[…] exile cannot be made to serve notions of humanism. On the twentieth century scale, exile is neither aesthetically nor humanistically comprehensible.“26 Im Hinblick auf eine Kunst des Exils bedeutet dies, dass ästhetische Erzeugnisse dem eigentlichen Ereignis nie gerecht werden können und sich durch radikale Übersteigerungen auszeichnen. Schon in den 1940er-Jahren hat sich der jüdische Exilant und Philosoph der Frankfurter Schule Theodor Adorno mit dem Exil als einer trostlosen, beschädigenden und entfremdenden Erfahrung auseinandergesetzt. In seinem Buch „Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ machte er geltend, dass „das Haus [...] vergangen ist“, und „es [...] gehört [heute] zur Moral, nicht bei sich selber zuhause zu sein. [...] Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“27 Trotz Adornos und Saids extrem negativer Beurteilung der individuellen Exilerfahrung, die durch einen fundamentalen Verlust und Bruch geprägt sei, heiße das jedoch nicht, dass der Exilant unter solchen Bedingungen nicht kreativ und produktiv sein könne. Im Vergleich zu Adorno nahm Said einen stärker durch Ambiguität geprägten Standpunkt ein. Denn in „Reflections on Exile“ fragt er auch: „[…] if true exile is a condition of terminal loss, why has it
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Abb. 4: Fotografie von Marcel Duchamps „Sixteen Miles of String“ für die Ausstellung „First Papers of Surrealism“, 1942, in der Whitelaw Reid Mansion, New York, Philadelphia Museum of Art
been transformed so easily into a potent, even enriching, motif of modern culture?“28 Und an anderer Stelle heißt es: „Seeing ‚the entire world as foreign land‘ makes possible originality of vision. Most people are principally aware of one culture, one setting, one home; exiles are aware of at least two, and this plurality of vision gives rise to an awareness of simultaneous dimensions, an awareness that – to borrow a phrase from music – is contrapuntal.“29 Innerhalb des modernen und postmodernen Exil-Diskurses spielen die entgegengesetzten Standpunkte, einerseits Isolation, Desorientierung und Verlust und andererseits Assimilation, transkultureller Austausch und Kreativität, zentrale Rollen. Es existieren jedoch auch Stimmen, die diese Dichotomie auf den Kopf stellen. Die Kulturwissenschaftlerin Caren Kaplan beispielsweise dreht die konträren Relationen im Sinne Saids um, wenn sie Isolation im Exil für die Zunahme von kreativer Produktivität verantwortlich macht, während sie Assimilation als eine zur Reduktion künstlerischer Kreativität führende Erfahrung betrachtet.30 Dieses theoretische Modell vergleicht
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die Erfahrung des Exils mit der bestehenden Vorstellung des modernen Künstlers als einem am Rand der Gesellschaft Lebenden, eine Position, die nicht nur zu künstlerischer Kreativität befähigt, sondern auch einer kritischen Haltung gegenüber der Gesellschaft Vorschub leistet. Diese Vorstellungen von Exil und Modernismus verbinden progressive Kreativität sowie künstlerische Reflexivität, die mit einem gewissen Außenseitertum oder besser einem Nicht-zu-Hause-Sein einhergeht, miteinander. Das vielleicht radikalste Beispiel einer heimatlosen Ästhetik aus den 1940er-Jahren schaffte Marcel Duchamp mit seinem Design für die Ausstellung „First Papers of Surrealism“ (Abb. 4), das er 1942 in New Yorks Whitelaw Reid Mansion (Madison Avenue/50th Street) realisierte. Der ambivalente Titel der Ausstellung, die von André Breton organisiert wurde, kann sowohl als Referenz auf die Immigrationspapiere der Surrealisten gelesen werden – damit deren Status als Heimatlose unterstreichend –, als auch Hinweis auf den ersten und entscheidenden kollektiven Auftritt der Surrealisten in der Neuen Welt sein. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass Breton europäische Exilkünstler, in Europa verbliebene Künstler sowie junge amerikanische Kunstschaffende in die Ausstellung einbezog. Was zuerst als zugleich virtueller und realer kultureller Austausch und transatlantische Kooperation erscheint, kehrt sich schnell ins Gegenteil um, wenn man die Ausstellungsarchitektur in Betracht zieht. Duchamp benutzte von seiner berühmten 16 Meilen langen Schnur etwa 1 Meile, um durch die Ausstellung ein Labyrinth zu spannen. Diese exzessive Raumintervention hatte zur Folge, dass weder die Kunstwerke der Amerikaner noch die der Europäer ästhetisch erfahren werden konnten. Duchamps Eingriff lässt sich damit als eine kritische wie auch ausgesprochen politische Thematisierung der heimatlosen, fragmentierten und desorientierenden Beschaffenheit des Lebens im Exil verstehen, wie es beispielsweise T. J. Demos getan hat.31 Er schreibt: „Duchamp’s installation in fact forced artists to experience their displaced status firsthand in the disorganized and disorganizing space of his installation and in the disorientation of their objects in that space.“32 Die labyrinthartig verspannte Schnur verweist metaphorisch auf eine Vielzahl von Grenzen und Behinderungen, zugleich erinnert sie an visuelle Rahmungen, die allerdings die Möglichkeit des Sehens, der Wahrnehmung und des Seins verhindern. Wie Demos anmerkt, hat sich die europäische Faszination der Surrealisten für das Unheimliche, im Exil in die Erfahrung realer Heimatlosigkeit umgewandelt. Insofern kann Duchamps Installation als eine Ästhetik der Heimatlosigkeit und im Sinne von
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Adornos „Beschädigung“ aufgefasst werden, die das Konzept eines kontextlosen und konsequenterweise mobilen Modernismus, wie es von Rosalind Krauss in Hinblick auf das Readymade artikuliert wurde, nachdrücklich visualisiert.33 Es gilt zu betonen, dass es sich hier nicht nur um einen symbolischen oder metaphorischen Akt handelt, sondern dass die Besucher der Ausstellung tatsächlich gewaltsam davon abgehalten wurden, die Kunstwerke zu sehen. Genau in dieser Form eines neuen Realismus äußert sich Duchamps Radikalität. Dessen gewaltsames Design ist jedoch, wie viele andere seiner Arbeiten, nicht eindeutig greifbar und löst assoziativ über eine Interpretation der Heimatlosigkeit hinausgehend eine ganze Serie von anderen möglichen Deutungen aus. Geht es Duchamp darum, ästhetische Wahrnehmung und kreative Erfahrung im Angesicht des Exils zu widerrufen? Deutet er an, dass ein produktiver Austausch zwischen europäischen und amerikanischen Künstlern nicht zustandekommt? Oder suggeriert er, dass avantgardistische Kunst, wie die des Surrealismus, in Amerika auf einen Boden gefallen ist, der noch nicht reif ist, die Moderne erfolgreich zu rezipieren? Ungeachtet all dieser unterschiedlichen Interpretationsfäden (die an dieser Stelle nur angedeutet sind) soll betont werden, dass die Installation „First Papers of Surrealism“ einen wichtigen Beitrag zu einer Exilästhetik leistet, die die Erfahrung von Verlust und Desorientierung radikal und partizipatorisch umsetzt. Eine wesentlich positivere Einschätzung des Exils und dessen Auswirkung auf künstlerische Produktivität hat der 1991 verstorbene Philosoph Vilém Flusser vorgeschlagen. Er floh 1939 aus dem von den Nationalsozialisten besetzten Prag ins französische Exil. Viel später, im Jahr 1984, konzipierte er Exil/Emigration/Migration ohne Differenzierung sowohl als kreatives Bestreben wie auch als Leiden, ohne jedoch den Ausdruck Isolation zu gebrauchen.34 So stellte er fest, dass „der Vertriebene kreativ sein [muss], will er nicht verkommen.“35 Flusser (ohne wahrscheinlich Said wirklich gelesen zu haben) nahm dessen positive Bewertung des Exils auf, also den Aspekt der Originalität und führte ihn weiter. Während Saids Essay gleichzeitig durch dessen negative Einschätzung des Exils von der Erfahrung des Nicht-dazuGehörens und Verlusts dominiert ist, sah Flusser gerade darin positive Qualitäten. Demzufolge schreibt er, dass „wir Migranten [...] die Fenster [sind], durch die die Einheimischen die Welt sehen können“.36 Er stellt die These auf, dass das im Exil Geschaffene durch einen dialogischen Prozess entstehe, der zur Schaffung einer neuen oder andersartigen Kultur führen könne. In Flussers Worten „entsteht, bei [der] [...]
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Ankunft im Exil ein Aufknacken des ‚Selbst‘, und ein Öffnen hin zum anderen. Ein Mitsein“.37 Dieses Mitsein wird jedoch nicht unbedingt als konstruktive Erfahrung beschrieben. Denn „diese dialogische Stimmung, die das Exil kennzeichnet, ist nicht notwendigerweise ein gegenseitiges Anerkennen, sondern sie ist meist polemisch (um nicht zu sagen mörderisch). Denn der Vertriebene bedroht die ‚Eigenart‘ des Ureinwohners. Er stellt sie durch seine Fremdheit in Frage. [...] Das Exil, wie immer es auch geartet sein möge, ist die Brutstätte für schöpferische Taten, für das Neue.“38 Die These Flussers aufnehmend, ist danach zu fragen, ob und wie Kunstwerke – ganz im Gegensatz zu Duchamps „First Papers of Surrealism“ – Exil als Assimilation und Kulturaustausch thematisieren können. Dialogische Vorgehensweisen sowie hybride ästhetische Formen sind zuerst einmal inkompatibel mit herkömmlichen Konzepten der künstlerischen Moderne. Besonders der einflussreiche amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg hat seit Ende der 1930er-Jahre auf einer Entwicklung der Kunst insistiert, die medienimmanent und daher puristisch ist und sich beispielsweise in den inhaltlich hermetischen Gemälden eines Jackson Pollock manifestiere. In solchen Leinwänden ist besonders durch die Eliminierung des Unterschieds zwischen Figur und Grund und die physikalische und aktionistische Thematisierung des Malvorganges selbst Malerei mit sich selbst identisch.39 Im Unterschied zu dieser „reinen“ Malerei (die allerdings historisch erst Mitte der 1940er-Jahre einsetzte) haben eine Reihe von europäischen Künstlern im amerikanischen Exil figurative oder semifigurative Ausdrucksformen bevorzugt. So demonstrierte George Grosz, der in der kunsthistorischen Literatur immer wieder als Paradebeispiel eines nicht assimilierten Künstlers angeführt wird und dessen figurative Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen während der 1930er- und 1940erJahre wiederholt Krieg und Gewalt in Form von explodierenden und brennenden Landschaften visualisieren, in seinen amerikanischen Kunstwerken seit 1932 jedoch auch unverkennbar einen Dialog mit der Kultur und Kunstszene seines Gastlandes. Viele seiner Briefe und Texte, etwa „Amerikanische Umgangsformen“ aus den ersten Jahren des Exils, belegen seine intensive Auseinandersetzung mit dem Gastland, für das sich Grosz schon im Berlin der Weimarer Republik sehr begeisterte.40 Allein zwischen 1932 und 1934 schuf Grosz mehrere Hundert Skizzen, Zeichnungen und Aquarelle, die seine neue Umgebung zeigen.
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Abb. 5: George Grosz, New York, 1934, Aquarell, 59,7 x 42,5 cm, Detroit Institute of Arts, Schenkung Mrs. Lillian Henkel Haas
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Abb. 6: George Grosz, A Piece of my World II, 1938, Öl auf Leinwand, 100 x 140,3 cm, Nachlass George Grosz
Sozialkritische Themen, wie Arbeitslosigkeit und die Darstellung schwarzer Amerikaner, existieren neben New Yorker Straßenbildern, abgeschiedenen Landschaften und dramatischen Gemälden, die apokalyptisch Krieg und Zerstörung beschwören. Basieren einige Bilder auf einer genauen Beobachtungsgabe der neuen Umgebung, beispielsweise „Waiting for the Job“ (1934), sind andere eher expressiv und stimmungsvoll angelegt, etwa „New York“ (1934, Abb. 5) sowie „Dunes of Cape Cod“ (1938), deren düstere, vorahnungsvolle und dramatische Stimmung eher auf die Ereignisse in Deutschland als auf die US-amerikanische Gegenwart verweist. Wieder andere Bilder sind metaphorisch und narrativ konzipiert, so „A Piece of my World II“ (1938, Abb. 6), eine albtraumartige Kriegsszene, in der sich kinematografischer Aktionismus mit kunstgeschichtlichen Vorbildern eines Albrecht Altdorfer zu vermischen scheinen. Nicht zuletzt existieren auch Beispiele, die Grosz’ Interesse am modernistischen Experimentieren zeigen, wie es das Aquarell „Manhattan“ demonstriert.41 Diese formale und thematische Heterogenität reflektiert eine Hybridität, in der einerseits amerikanische, oft gegensätzliche, künstlerische Praktiken mit europäischen Einflüssen zusammenfließen, sich andererseits die Topologie und soziopoliti-
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sche Realitäten des Gastlandes mit dem politischen Zeitgeschehen in Deutschland vermischen. Zusammenhänge können sowohl zu den konservativ ausgerichteten amerikanischen Regionalisten, beispielsweise Thomas Hart Benton und John Steuart Curry, als auch zu der sogenannten „Fourteenth Street School“, den Nachfolgern der Ashcan School, hergestellt werden. Letztere, beispielsweise Reginald Marsh, stellten in ihren Bildern das dichte und lebendige amerikanische Stadtleben dar. In New York wurde Grosz von der eher populistisch ausgerichteten Galerie Associated American Artists ausgestellt, die beispielsweise auch die Regionalisten in ihrem Programm vertrat. Ganz im Gegenteil zu den Surrealisten und den im Entstehen begriffenen Abstrakten Expressionisten ging es in dem Kreis um Grosz nicht um modernistische Auseinandersetzungen, die formale Mittel der Kunst reflexiv einsetzten, sondern vielmehr um eine narrativ ausgerichtete oder hybride Moderne, die zugänglicher ist. Entscheidend war darüber hinaus, dass Grosz sich nicht auf eine Richtung oder einen bestimmten Stil festlegen ließ. Von Bild zu Bild und von Thema zu Thema werden verschiedene Kulturen und ästhetische Vorgehensweisen miteinander vermengt. Die These Flussers, dass der kulturelle Dialog zwischen Heimatland und Gastland zu etwas Neuem und notwendigerweise Hybriden führe, ist anhand des Werkes von Grosz nicht von der Hand zu weisen, dennoch sind die Resultate prekär, da sie keinen neuen künstlerischen Diskurs mobilisieren, sondern eher eine Ausnahmeerscheinung bleiben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich erstens das Exil als Krisenerfahrung, unter anderem hervorgerufen durch Heimatlosigkeit und eine geografische und psychologische Desorientierung, in radikal übersteigerten ästhetischen Formen manifestiert. Dies gilt besonders für Duchamp und dessen „Ästhetik der Heimatlosigkeit“, die auch als eine Nicht-Darstellbarkeit der Exilerfahrung im Sinne von Adorno und Said charakterisiert werden kann. Modernismus, der avantgardistische Schock und Exil verbinden sich hier zu einer neuen Form der Installationskunst, die aus der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken ist. Zweitens hat die gleichzeitige und antagonistische Exilerfahrung der Mobilität und des Wartezustands zu ästhetischen Lösungen geführt, die Bewegung abstrakt und richtungslos artikulieren. In diesen Werken sowie in zeitgenössischen Interviews von Masson und Léger ließen sich kaum wirkliche Assimilationsversuche ablesen, sondern vielmehr importierte Vorstellungen des Gastlandes, wodurch der Wartezustand beider untermauert
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ist. Und drittens haben sich Assimilationsversuche in einem narrativen Modernismus niedergeschlagen, der wie im Falle von Grosz komplexe Fragen aufwirft. Ist hier das Ende der ästhetischen Moderne thematisiert, oder müssen wir unser Konzept des Modernismus, der an Innovation, neue künstlerische Formen und einen gewissen Hermetismus gebunden ist, revidieren? Da in den 1930er- und 1940er-Jahren transnationale künstlerische Übertragungsprozesse zwischen Europa und Amerika sehr heterogen ausfielen, kam es zu unterschiedlichen ästhetischen Verarbeitungen der Exilerfahrung, wodurch sich auch ein differenziertes Bild des Modernismus manifestiert. Obwohl viele, wenn nicht alle, Exilanten in der einen oder anderen Form eine hybride Identität annahmen, gibt es doch kaum Beispiele einer wirklich hybriden Ästhetik. Daher bestätigt sich Kaplans Theorie, in der die isolierende Erfahrung des Exils mit Kreativität verbunden wird, die in entscheidenden Exilkunstwerken zu einer neuen Ästhetik führt, während Flussers These der dialogischen Kreativität viel seltener zum Ausdruck kommt. 1 | Abgebildet in: Max Ernst, hg. v. Werner Spies, Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris 1992, S. 247. 2 | Retrospektiv hat Ernst die Autorenschaft für sich in Anspruch genommen und damit seinen zentralen Einfluss auf die Entstehung des amerikanischen Abstrakten Expressionismus reklamiert – mit dem, folgt man Serge Guilbaut, sich die USA als kulturelle Weltmacht profilierte – reklamiert. Max Ernst: Autobiographie (1975), in: Max Ernst. Retrospektive 1979, hg. v. Werner Spies, Ausst.-Kat. Haus der Kunst München, Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, München 1979, S. 121–202, hier S. 171. Serge Guilbaut: How New York stole the idea of modern art. Abstract Expressionism, freedom, and the Cold War, Chicago/ London 1983, S. 101–163. 3 | Abgebildet in: Exil. Flucht und Emigration europäischer Künstler 1933–1945, hg. v. Stephanie Barron und Sabine Eckmann, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1998, S. 291. 4 | Ernst Loewy: Zum Paradigmenwechsel in der Exilliteraturforschung (1991), in: ders.: Zwischen den Stühlen. Essays und Autobiographisches aus 50 Jahren, Hamburg 1995, S. 261–274. 5 | Keith Holz: Modern German Art for Thirties Paris, Prague, and London: Resistance and Acquiescence in a Democratic Public Sphere, Ann Arbor 2004; Shulamith Behr und Marian Malet (Hg.): Arts in Exile in Britain 1933–1945. Politics and Cultural Identity, Amsterdam 2005; Burcu Dogramaci und Karin Wimmer (Hg.): Netzwerke des Exils. Künstlerische Verflechtungen, Austausch und Patronage nach 1933, Berlin 2011. 6 | Eine Ausnahme bildet folgende Studie von T. J. Demos: The Exiles of Marcel Duchamp, Cambridge 2007. 7 | Vilém Flusser, „Exil und Kreativität“, in: ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994, S. 103–109, hier S. 105. 8 | Zur Diskussion der Nicht-Authentizität als Charakteristikum des Immigranten s. Boris Groys: Der Asylant in ästhetischer Hinsicht, in: Deutschsein? Eine Ausstellung zu Fremdenhass und Gewalt, Ausst.-Kat. Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1993, S. 92–97, hier S. 93. 9 | James Clifford: On Collecting Art and Culture, in: ders.: The Predicament of Culture: Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge (Mass.) 1988, S. 215–151, hier S. 238, 239. Siehe auch: Martica Sawin: Surrealism in Exile and the Beginning of the New York School, Cambridge 1995, S. 169, 170, 173, 185, 186. 10 | W. Jackson Rushing: The Impact of Nietzsche and Northwest Coast Indian Art on Barnett Newman’s Idea of Redemption in the Abstract Sublime, in: Art Journal, Bd. 47, 1988, H. 3, S. 187–195.
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11 | Clifford 1988 (wie Anm. 9), S. 242. 12 | „Few of those around Breton (with the possible exception of Max Ernst) had any systematic interest in ethnological science“, ebd., S. 239. 13 | James Johnson Sweeney: Eleven Europeans in America, The Museum of Modern Art Bulletin, Bd. 13, 1946, H. 4–5, S. 3. 14 | André Masson: Le Plaisir de peindre, Nizza 1950, S. 138. 15 | André Masson in: Sweeney 1946 (wie Anm. 13), S. 3. 16 | Sweeney 1946 (wie Anm. 13), S. 15. 17 | Matthew Affron: Fernand Léger, in: Barron/Eckmann 1998 (wie Anm. 3), S. 184–189, hier S. 187. 18 | Dora Vallier: La Vie fait l’oeuvre de Fernand Léger: propos de l’artiste receuillis par Dora Vallier, in: Cahiers d’Art, Bd. 29, 1954, H. 2, S. 133–175, hier S. 156. 19 | Sweeney 1946 (wie Anm. 13), S. 13–14. 20 | Sarah Greenough: Introduction in: Looking In. Robert Frank’s The Americans, hg. v. Sarah Greenough, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington, D.C., Washington, D.C. 2009, S. XIX–XXI. 21 | Einer der wichtigsten und einflussreichsten Texte ist Homi Bhabha: The Location of Culture, New York 1994. Siehe auch: Flusser 1994 (wie Anm. 7). Darüber hinaus Marwan M. Kraidy: Hybridity or the Cultural Logic of Globalization, Philadelphia 2005; Helmut Anheier und Yudhishthir Raj Isar (Hg.): Cultural Expression, Creativity and Innovation, London 2010. 22 | Edward Said: Reflections on Exile, in: ders.: Reflections on Exile and other Essays, Cambridge 2002, S. 173–186, hier S. 181. 23 | Ebd., S. 174, 171. 24 | Anne Fuchs: The Bombing of Dresden and the Idea of Cultural Impact, in: Cultural Impact in the German Context. Studies on Transmission, Reception, and Influence, hg. v. Rebecca Braun und Lyn Marven, Rochester/ New York 2010, S. 36–57, hier S. 37–38. 25 | Said 2002 (wie Anm. 22), S. 182. 26 | Ebd., S. 174. 27 | Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 2001, S. 57–59. 28 | Said 2002 (wie Anm. 22), S. 173. 29 | Ebd., S. 186. 30 | Vgl. Caren Kaplans Analyse dieser modernistischen Interpretation des Exils: Caren Kaplan: Questions of Travel: Postmodern Discourses of Displacement, Durham/London 1996, S. 27–65. 31 | T. J. Demos: Duchamp’s Labyrinth: First Papers of Surrealism, 1942, in: October, Bd. 97, 2001, H. 137, S. 91–119. 32 | Ebd., S. 107. 33 | Ebd., S. 117. 34 | Flusser 1994 (wie Anm. 7), S. 105. 35 | Ebd., S. 17, 105. Obwohl Flusser teilweise materialistisch beeinflusst ist – er schreibt beispielsweise, dass „der Mensch [...] aus seiner natürlichen und seiner kulturellen Bedingung erklärlich [ist]“ –, so ist seine Theorie dennoch widersprüchlicherweise vom Existentialismus beeinflusst. „So stellt sich die Frage nach der Freiheit nicht als Frage, zu gehen und zu kommen, sondern fremd zu bleiben. Anders als die Anderen.“ Ebd., S. 108. 36 | Ebd., S. 8. 37 | Ebd., S. 109. 38 | Ebd. 39 | Clement Greenberg: Towards a Newer Laocoon (1940), in: Francis Frascina (Hg.): Pollock and After: The Critical Debate, London 2000, S. 60–68, hier S. 68. 40 | Birgit Möckel: „A Little Yes and a Big No“. George Grosz in Amerika, in: George Grosz. Berlin – New York, hg. v. Peter-Klaus Schuster, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1995, S. 283–297, hier S. 285 und Anm. 30. 41 | Abgebildet in: ebd., S. 442, Nr. 133.
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Christian Kravagna
REINHEIT DER KUNST IN ZEITEN DER TRANSKULTURALITÄT: MODERNISTISCHE KUNSTTHEORIE UND DIE KULTUR DER MIGRATION
Dieser Aufsatz handelt von einigen (unmöglichen) Begegnungen zwischen dem Denken der Transkulturalität als der Kultur der Migration und der modernistischen Kunsttheorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der regionale Kontext ist Amerika mit dem Schwerpunkt USA. Modernistische Kunsttheorie und Transcultural Studies stehen einander zu dieser Zeit als diametral entgegengesetzte Konzepte kultureller Produktion gegenüber und wurden bisher nur selten in eine Beziehung zueinander gebracht. Meine Frage nach den Kontakten zwischen einer bestimmten und zu ihrer Zeit mächtigen Theorie der modernen Kunst und einem kultur- und gesellschaftstheoretischen Ansatz, der erst Jahrzehnte später im Zusammenhang von Kulturtheorien der Migrationsgesellschaft und postkolonialer Modernekritik breite Anerkennung erfahren sollte, ist das Produkt eines Zusammentreffens äußerer Umstände, deshalb jedoch nicht zufällig. Wie dieser Aufsatz zu zeigen versucht, markieren diese beiden intellektuellen Strömungen einen Kampf um Kultur, der nicht nur als theoretischer, sondern auch als politischer Kampf um gesellschaftliche Privilegien beziehungsweise Rechte und Anerkennung zu verstehen ist. Die Frühgeschichte des (theoretischen) Denkens und bewussten (auch künstlerischen) Praktizierens von Transkulturalität war eines meiner Forschungsinteressen zum Zeitpunkt der von Burcu Dogramaci ausgesprochenen Vortragseinladung an die Ludwig-Maximilians-Universität München. Einige Wochen vor meinem eigenen Vortrag hatte Sabine Eckmann in derselben Reihe zum Zusammenhang von Exil und Modernismus in den USA gesprochen (siehe Eckmanns Beitrag in diesem Buch) und dabei die spannende Frage nach einer „modernistischen Exilästhetik“ aufgeworfen. Damit war bereits ein regionaler und historischer Raum der Debatte um Migration und künstlerische Produktion geöffnet, in den von einer anderen Seite einzutreten mir sinnvoll erschien. Als konkrete Route der Intervention in diesen Raum drängten
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Abb. 1: Maja Vukoje, Billboard, 2011, Acryl auf Leinwand, 200 x 250 cm, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
sich mir dabei einige Bilder einer zeitgenössischen Malerin aus Wien auf, mit denen ich mich kurz davor anlässlich eines Katalogbeitrags beschäftigt hatte.1 Diese Bilder der serbisch-österreichischen Künstlerin Maja Vukoje sind nicht nur in ihren bildnerischen Verfahren eminent hybrid im Sinne einer ausgeprägten Transmedialität, sondern auch durch eine motivische und symbolische Bildwelt gekennzeichnet, die sich immer wieder auf den Raum der transkulturellen Amerikas, vor allem der karibischen Inseln, bezieht, aber die dort aufgefundenen Motive der Verwandlung und der Maskerade auch in andere politisch-historische Räume, insbesondere den zersplitterten Raum des ehemaligen Jugoslawien, transponiert. In erster Linie interessierte mich an dieser Malerei die Frage, wie und aus welchen Gründen eine „migrantische“ Künstlerin Probleme von Identität und Verortung, Verlust und Identifikation gewissermaßen indirekt, also über geografische und kulturelle Umwege, ins Bild setzt. „Billboard“ (2011) geht in der Reflexion der Malerei als Medium einen Schritt weiter (Abb. 1). Hier nimmt die unbearbeitete rohe Leinwand den größten Teil der
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Bildfläche ein. Der materielle Träger steht buchstäblich im Zentrum des Bildes. Zugleich repräsentiert die unbearbeitete Leinwand die Fläche einer Plakatwand, die auf einer gegenständlichen Ebene leer erscheint, auf der Bildebene stellt sie eine Plakatwand dar. Darüber hinaus ist nicht viel zu sehen, nur ein Teil der Konstruktion der Wand und ein Stück nicht weiter differenzierter Landschaft, ebenso in Grautönen gehalten wie der Himmel, aus dem ein fahles Sonnenlicht von hinten auf die Plakatwand fällt. An einigen Stellen scheint das Licht durch Löcher in der Plakatwand hindurch. „Löcher“, die auf der Ebene der malerischen Wirklichkeit nicht durch Fehlstellen, sondern durch Auftragen weniger Farbflecken entstehen. „Billboard“ ist von besonderem Interesse, wenn man das Bild im Zusammenhang von Vukojes „hybriden“ Bildern zu Transkulturalität, Grenzüberschreitung und Identitätswechsel sieht. Wie „Billboard“ über die Materialität der Malerei in Beziehung zur ihren illusionistischen Qualitäten reflektiert, erinnert es an eine zentrale Debatte in der Kunst und Kunsttheorie Mitte des 20. Jahrhunderts. Die modernistische Kunsttheorie, vertreten vor allem durch Clement Greenberg, sah das „Wesen“ jeder künstlerischen Gattung in der Besinnung darauf, was „in jeder einzelnen Kunst einzigartig und irreduzibel ist“.2 Als zentrale Aufgabe der einzelnen Künste wurde ihre Selbstdefinition, also die Bestimmung des Eigenen und die möglichst vollständige Ausgrenzung alles Uneigentlichen, proklamiert. Für die Malerei als Leitmedium der modernistischen Kunsttheorie bedeutete dies die Reduktion auf ihre „essenziellen“ Eigenschaften, die Flächigkeit und die rein optische Erfahrung, und den Ausschluss des Figurativen, des Plastischen und des Narrativen. 1. Reinheit, Identität und Moderne Die Löcher in Vukojes „Billboard“ – ein illusionistisches Bild zum Problem der Malerei als Medium der Repräsentation und Auslöser von nicht gegenstandsgebundenen visuellen Sensationen – erinnern an das Paradigma der Flatness in der modernistischen Theorie und an Greenbergs berühmtes Diktum, dass die essenzielle Flächigkeit des Mediums nicht im Sinne einer perspektivischen Illusion von Raum „durchlöchert“ („hole through“) werden dürfe.3 Greenberg geht von intrinsischen Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Künste aus. Die Leistung der modernen Kunst bestünde zuerst und vor allem in dem Erkennen und Anerkennen der jeweiligen Wesenseigenschaften von Skulptur oder Malerei. Aus dem zunehmenden Bewusstsein und der Akzeptanz der „ursprüngliche[n] Flächigkeit der aufgespannten Leinwand“4
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und der reinen Visualität der Malerei resultiert die Notwendigkeit, alles Uneigentliche auszuschließen, alles dem Medium „Fremde“ zu verwerfen. „Die AvantgardeKunst“, schreibt Greenberg 1940 in seinem Text „Zu einem neueren Laokoon“, „hat in den letzten fünfzig Jahren [...] eine in der Geschichte unserer Kultur beispiellose Reinheit und radikale Begrenzung ihres Tätigkeitsbereichs erreicht. Die Künste befinden sich nun gesichert innerhalb ihrer jeweiligen ‚legitimen‘ Grenzen, und der freie Handel zwischen ihnen hat der Autarkie Platz gemacht.“5 Alles Nicht-Eigentliche, alles nicht dem innersten Wesen der Gattung Entsprechende, musste ausgeschlossen und unterworfen werden, um die vollständige Identität der Künste mit sich selbst zu erreichen. „Der Purismus“, schreibt Greenberg gleich zu Beginn des Laokoon-Aufsatzes, ist „die Übersetzung einer äußersten Beunruhigung über das Schicksal der Kunst, einer Sorge um ihre Identität“.6 Die Bedrohung der Kunst tritt in Gestalt der Vermischung mit anderen Künsten auf. Für die als „reine Form“ gedachte Musik und Malerei vor allem durch den verderblichen Einfluss der Literatur. Vermischung bedeutet in dieser Konzeption von Identität als absoluter Reinheit Verfall, Verfälschung und Entstellung. Für Greenberg verkörpert die ihr Territorium immer deutlicher abgrenzende Avantgarde den „Selbsterhaltungstrieb der Kunst“.7 Bei Michael Fried spitzt sich die Rhetorik der Abgrenzung in seinem kritischen Text zur Minimal Art aus dem Jahr 1967 martialisch zu. Angesichts der „theatralischen“ Qualitäten und des versteckten Anthropomorphismus, die er den minimalistischen Objekten zuschreibt, konstatiert Fried den „Überlebenskampf der Kunst“ in einem „Krieg zwischen dem Theater und der modernen Malerei, zwischen dem Theatralischen und dem Malerischen“.8 Wie Fried in der ersten seiner drei Thesen zur „theatricality“ hervorhebt, geht es in diesem Kampf um nichts weniger als das Überleben der Kunst („the survival of the arts“), während die zweite These gar ihre Entartung („art degenerates“) durch die Illusion, die Schranken zwischen den Künsten auflösen zu könnten, heraufbeschwört. Diese von Greenberg und Fried exemplarisch vertretene Interpretation der modernen Kunst ist seit den späten 1970er-Jahren vielfach kritisch betrachtet worden. Doch ist die modernistische Ästhetik der Reinheit, die auch eine der Exklusion und der Segregation ist, bisher nicht genügend mit den zeitgenössischen Diskursen der Race Politics in den USA in Verbindung gebracht worden. Offensichtlich befinden sich aber die Argumentationen der Kunsttheorie in struktureller Übereinstimmung mit
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den in den rassenpolitischen Diskursen ausgearbeiteten Denkmustern und Begriffen. Der Kult der Reinheit steht dem Horror der Vermischung gegenüber, Identität definiert sich aus einer scheinbar natürlichen Wesenhaftigkeit der Gattung, die es zu bewahren und vor Degeneration durch fremde Elemente zu schützen gelte. Dazu werden als natürlich oder wesenhaft verstandene Grenzen befestigt und Territorien verteidigt. Dieser Diskurs unterscheidet sich vom alten Paragone, dem an Hierarchie orientierten Wettstreit der Künste in Renaissance und Barock. Das Bestreben der genannten Autoren geht weniger dahin, die Überlegenheit der einen über die andere Gattung zu demonstrieren als die Überlegenheit der modernistischen Kunst aus ihrer radikalen Trennung der Künste und Akzeptanz ihrer Wesenseigenschaften zu begründen. Nicht Unterordnung, sondern Segregation ist der Kern des Projekts. Zumindest rhetorisch steht dieses Programm dem Konzept von „separate but equal“ nahe, das die Race Relations in den USA bis in die 1960er-Jahre hinein ideologisch organisiert. Man kann nun der Ansicht sein, dass es sich dabei um zufällige sprachliche Übereinstimmungen handelt, deren Verwendung in „kunstimmanenten“ beziehungsweise gesellschaftspolitischen Problemzusammenhängen nicht vergleichbar wäre. Diese Position scheint mir jedoch schwach begründet, auch wenn eine systematische vergleichende Betrachtung von Diskursen der Rassentrennung mit dem Diskurs der Trennung der Künste noch aussteht. Auch bevor man diese notwendige Analyse vornimmt, stellt die eminente Hybriditätsphobie dieser Theorie ein geradezu klassisches Beispiel für die von Bruno Latour beschriebene charakteristische „Reinigungsarbeit“ der westlichen Moderne dar. Die kategoriale Trennung von Natur und Gesellschaft, von der Welt der Dinge und der Welt der Menschen, von „modern sein“ als einer Kultur der Trennung dieser Sphären und „vormodernen“ Anschauungen als einer Vermengung dieser Welten. „Wer am meisten über Hybriden nachdenkt, verbietet sie soweit wie möglich“, schreibt Latour.9 Man muss davon ausgehen, dass der Diskurs der Reinheit, gepaart mit der existenziellen Angst vor Verunreinigung, Kontamination und Vermischung, seine historischen Grundlagen in den kolonialen Praktiken der politischen und moralischen Grenzziehungen zwischen weißen und nichtweißen Identitätskonstruktionen hat. Die normative Beschwörung der Reinheit und die diskursive Bekräftigung ihrer Vorherrschaft über das Unreine kann ohne diese Geschichte nicht gedacht werden.
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Weiße Identität konstituiert sich im kolonialen Diskurs und seit der Aufklärung im Diskurs der „Rasse“ ganz wesentlich über das Motiv der Reinheit. Die gesellschaftliche Ordnung in den USA ist während der Entstehungszeit der zitierten kunstkritischen Texte durch eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen und gesetzlichen Regelungen zur Segregation und Vermeidung von Mischehen zwischen den „Rassen“ („miscegenation“) organisiert. Die nach der Abschaffung der Sklaverei eingeführten Jim Crow Laws waren bis 1965 in Kraft. Bis 1952 galt in den USA das „white only“Prinzip bei Einbürgerungsverfahren. „By 1940, thirty-one states had laws against interracial marriage, but only six had laws prohibiting interracial sex. But both laws and social sanctions against interracial sex and marriage were racist social constructions, formulated largely by white men to protect the ‚purity‘ of the white race and prevent racial mixture.“10 1958 sprachen sich in einer Gallup-Umfrage 96 % der weißen Amerikaner/-innen gegen Mischehen aus.11 Um eindeutige Unterscheidungen zwischen Weiß und Schwarz in rechtlichen Fragen vornehmen zu können, wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert die „one-drop rule“ eingeführt, wonach als Weiß nur jemand gelten konnte, dessen Abstammung auf keinen Tropfen Schwarzen Blutes schließen ließ. Erst 1967 wurden in einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Gesetze zum Verbot von Mischehen als verfassungswidrig erklärt.12 Was die urbane Segregation betrifft, stellen Douglas S. Massey und Nancy A. Denton in dem Kapitel „The Construction of the Ghetto“ ihres Buches „American Apartheid. Segregation and the Making of the Underclass“ eine dramatische Zunahme der Segregation weißer und Schwarzer Bevölkerungsgruppen in den Städten des Nordens zwischen 1910 und 1940 dar. „At the block level [Wohnblocks], the degree of blackwhite segregation in northern cities reached an average value of 89 by 1940.“ Auf der Ebene von Stadtteilen hätten im Jahr 1940 mindestens 70 % der Schwarzen Stadtbewohner im Norden übersiedeln müssen, um ein ausgewogenes Verhältnis herzustellen. In Chicago stieg der Isolationsindex zwischen 1900 und 1940 von 10 % auf 70 %, in New York von 5 % auf 42 %.13 Dies sind nur wenige Hinweise auf die politische und soziale Reinigungsarbeit der rassistisch verfassten amerikanischen Gesellschaft um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie müssen an dieser Stelle genügen, um mit den Worten der US-amerikanischen Philosophin Dana Berthold klarzumachen, „to invoke purity ideals in the US is to mobilize this genealogy of racialized associations“.14 Berthold macht in ihrem Auf-
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satz zur Genealogie von „Rasse“, Reinheit und Hygiene sehr deutlich, wie physische Reinheit mit moralischer Reinheit und beide mit weißer Identität in zunächst expliziter, später impliziter Abgrenzung zur „Unreinheit“ nichtweißer Gruppen verknüpft sind und der Ausschluss des „Unreinen“ immer auch mit dem Ausschluss von „‚impure‘ others“ beziehungsweise ihrer Unterwerfung unter die Gewalt der sich als rein (und weiß) imaginierenden Gruppe einhergehen. 2. „Ungerechtfertigte Hybride“ So untrennbar der Reinheitsdiskurs in westlichen Gesellschaften historisch mit kolonialer Machtausübung und Vernichtung sowie dem Rassismus als ihrer Legitimationstrategie verbunden ist, muss dennoch gefragt werden, auf welche Weise sich die kunsttheoretische Grenzpolitik und das modernistische Reinheitsgebot in diesem politischen und diskursiven Kontext verorten lassen. Es kann nicht darum gehen, etwa Greenbergs Kunsttheorie als rassistisch zu diffamieren, auch wenn einige ihrer zentralen Beschreibungskategorien offensichtlich aus einer Tradition rassistischer Diskurse entlehnt sind. Man kann sich allerdings auch nicht mit der Feststellung eines bloßen rhetorischen Effekts dieser politischen Diskurse auf das vergleichsweise harmlose Feld der Kunstkritik begnügen, sondern muss vor dem Hintergrund des institutionalisierten Rassismus der amerikanischen Gesellschaft dieser Zeit die (durchaus politische) Funktion dieser normativen Kritik auf Mechanismen des Ein- und Ausschlusses im Feld der Kunst im Auge behalten. Denn Segregation ist auch im institutionalisierten Kunstbetrieb von großer Bedeutung, worauf ich weiter unten zurückkomme. Wie verhält sich also der kunstkritische Kampf der 1940er- bis 1960er-Jahre gegen Praktiken der Vermischung (unter anderem manifest in seiner Abwertung des Surrealismus) zu der rassistisch organisierten amerikanischen Gesellschaft, zu den Prozessen der Dekolonisation, der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und den transkulturellen Praktiken und Theorien dieser Zeit, die am Abbau von über jahrhundertelang gewaltsam etablierten politischen und sozialen Grenzen entlang der Kategorie von „Rasse“ und den darauf gegründeten ethnisch-national definierten Kulturbegriffen arbeiten? In Greenbergs „Avantgarde und Kitsch“15 (1939) hat der Gegner der Kunst noch einen Namen: die kapitalistische Kulturindustrie, der Kitsch als Erfahrung aus zweiter Hand und die faschistische Tendenz dieser Form von Massenkultur. Mit Green-
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bergs zunehmend formalistischer Einstellung, die die Avantgarde weitgehend entpolitisiert, wird auch der Gegner abstrakter.16 Einen Namen für diese Bedrohung durch Mischung hatte Irving Babbitt, dessen Buch „The New Laokoon: An Essay on the Confusion of the Arts“ einen der zentralen Einflüsse auf Greenbergs Kunsttheorie darstellt, bereits 1910 gefunden: die Konfusion der Künste in Gestalt „ungerechtfertigter Hybride“.17 Bereits in der Zwischenkriegszeit kommen im Raum des „Black Atlantic“18 neue Beschreibungsmodelle von Kultur, kulturellen Kontakten und wechselseitigen Transformationen auf, die den komplexen Zusammensetzungen von auf Kolonialismus, Sklaverei und Migration gegründeten Gesellschaften gerecht zu werden versuchen. Konzepte von Synkretismus, Hybridisierung und Kreolisierung treten an die Stelle der Vorstellung von reinen und in sich geschlossenen Kulturen. 1940, im selben Jahr, in dem Greenbergs „For a Newer Laokoon“ erscheint, veröffentlicht Fernando Ortiz in Kuba das Buch „Cuban Counterpoint. Tobacco and Sugar“, das 1947 auf Englisch in den USA erscheint. Anhand des Wechselspiels der in allen Belangen konträren Produkte Tabak und Zucker, die zu allegorischen Figuren werden, erzählt Ortiz die „wahre Geschichte Kubas“ als die Geschichte seiner miteinander verwobenen Transkulturationen. Ortiz führt als Erster den Begriff der „Transkulturation“ ein, als Ersatz für den Begriff der „Akkulturation“, dessen Verwendung sich in der Anthropologie gerade verbreitete: „Acculturation is used to describe the process of transition from one culture to another, and its manifold social repercussions. But transculturation is a more fitting term. I have chosen the word transculturation to express the highly varied phenomena that have come about in Cuba as a result of the extremely complex transmutations of culture that have taken place here, and without a knowledge of which it is impossible to understand the evolution of the Cuban folk, either in the economic or in the institutional, legal, ethical, religious, artistic, linguistic, psychological, sexual, or other aspects of its life.“19 In den USA waren es vor allem die Forschungen des Anthropologen Melville J. Herskovits seit den späten 1920er-Jahren, die die transkontinentalen Wanderungen kultureller Elemente im Raum des „Black Atlantic“ nachzeichnen und Prozesse der
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Aneignung, Übersetzung und Re-Interpretation von kulturellen Ausdrucksformen unter den spezifischen Bedingungen und Machtverhältnissen von Sklaverei und weißem Suprematismus untersuchen. Die in seinem 1941 erschienenen Buch „The Myth of the Negro Past“ zusammengefassten Forschungen wurden in den USA breit und kontrovers diskutiert, auch weil sie in einer auf Segregation bedachten rassistischen Gesellschaft den Zusammenhang von „Rasse“ und Kultur zurückweisen und die synkretistischen Verbindungen von euro-amerikanischen und afro-amerikanischen kulturellen Elementen herausstreichen.20 Diese Arbeiten sind genau an jenen Grenzüberschreitungen, kulturellen „Unreinheiten“ und wechselseitigen Transformationen in den Kontaktzonen von Sprachen, Religionen und künstlerischen Ausdrucksformen interessiert, die von der modernistischen Kunsttheorie als Bedrohung für das Überleben der (weißen) Kultur dingfest gemacht werden. In der Auseinandersetzung um zeitgenössische Definitionen von Kultur und Moderne bilden diese transkulturellen Forschungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Gegenpol zu Reinheitsfundamentalismus und Hybriditätsphobie in der modernistischen Kunsttheorie. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die beiden Diskursfelder zu weit voneinander entfernt sind, um überhaupt als Stimmen in einer Auseinandersetzung betrachtet zu werden. Diesem Einwand stehen zumindest zwei Argumente entgegen. Zum einen lassen sich einige personelle Verbindungen zwischen diesen differenten Feldern und ihren Akteuren benennen, wie ich weiter unten zeigen werde. Zum anderen beziehen die Positionen von Kritikern wie Clement Greenberg und Harold Rosenberg im Rahmen von Debatten zu Nationalismus, Partikularismus und Universalismus von Kunst und Kultur unter den historischen Bedingungen politisch-ideologischer Fronten zwischen Faschismus, Stalinismus und liberalem Kapitalismus während und nach dem Zweiten Weltkrieg Stellung. Auf Grundlage einer zunächst antinationalistischen Einstellung kommen diese Kritiker schließlich zu der bemerkenswerten Lösung eines amerikanischen Universalismus der von ihnen unterstützten Künstler des Abstrakten Expressionismus. Wie Lisa Bloom gezeigt hat, wird dabei ein kulturelles Vakuum vorausgesetzt, in dem diese Künstler isoliert und entfremdet arbeiteten.21 So schreibt Greenberg 1948: „Isolation is, so to speak, the natural condition of high art in America.“ Er sieht in der Isolation „the condition under which the true reality of our age is experienced“.22 Zur gleichen Zeit identifiziert auch Rosenberg die Erfahrung der Einsamkeit und Entfremdung der in New York arbeitenden Künstler dieser Gruppe, die aus
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allen möglichen Ecken in diese Stadt gekommen waren, als entscheidend für die Herausbildung eines neuen Anti-Provinzialismus von globaler Geltung: „Attached neither to a community nor to one another, these painters experience a unique loneliness of a depth that is reached perhaps nowhere in the world.“23 Der neue Kosmopolitismus der amerikanischen Kunst gründet auf dieser als Vorteil begriffenen Isolation und Entfremdung. Die freiwillige und von der Kritik heroisierte Selbstisolation dieser Malergruppe erscheint im Kontrast zu den oben angeführten urbanen Ghettobildungen entlang des Faktors „Rasse“ in einem besonderen Licht. 3. Blackstream or Mainstream Die Frage nach der Situierung der Reinheits- und Grenzpolitik von Greenbergs Kunsttheorie im politisch-sozialen Kontext der von rassistischen Color Lines durchtrennten amerikanischen Gesellschaft sowie gegenüber den gleichzeitigen Transkulturalitätsforschungen muss differenziert werden: Stimmt der Essentialismus der Greenberg’schen Theorie mit der Praxis der künstlerischen Avantgarde überein oder geht diese Theorie an der Wirklichkeit der Kunst vorbei? Serge Guibault hat 1983 darauf verwiesen, dass der Abstrakte Expressionismus, mit dem Greenbergs Theorie in erster Linie verbunden ist, nicht allein mit der formalistischen, medienreflexiven Perspektive zu erfassen ist, sondern dass der von Greenberg unter anderem gefeierte freie Ausdruck des Individuums in dieser Malerei eine politisch-ideologische Bedeutung im Zusammenhang der US-amerikanischen Cold-War-Politik hatte.24 David Craven wiederum verwies in den 1990er-Jahren auf die dissidenten linken politischen Einstellungen vieler Abstrakter Expressionisten in der McCarthy-Ära und die Anfeindungen der abstrakten Kunst durch rechte Politiker.25 Craven und andere haben dargestellt, wie der zunächst linke Clement Greenberg Ende der 1940er-Jahre ins anti-kommunistische Lager wechselt, McCarthy als die geringere Gefahr für die Freiheit als die Sowjetunion betrachtet und den Abstrakten Expressionismus nun als apolitisch und wahrhaft amerikanisch deklariert. Für unseren Zusammenhang wesentlicher ist Cravens Analyse der Auseinandersetzung vieler Abstrakter Expressionisten mit der Kunst und Kultur der Native Americans. Die hohe Wertschätzung amerikanischer Northwest Coast Art durch Barnett Newman oder die Anregungen, die Jackson Pollocks Malprozesse von der rituellen Sandmalerei der Navajo erhielten, interpretiert Craven als Ausdruck eines Anti-Eurozentrismus dieser Künstler, ein Argument, das ich weiter unten relativieren möchte.
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Da der Abstrakte Expressionismus als eine weiße amerikanische künstlerische Bewegung in die Kunstgeschichte eingegangen ist, sind kunsthistorische Perspektiven bedeutsam, die auf die Präsenz von nichtweißen Künstlern/-innen im Milieu der formativen Phase des Abstrakten Expressionismus in den 1940er-Jahren, also vor dem großen Durchbruch dieser Bewegung um 1950, hingewiesen haben.26 Die drängende Frage, die sich angesichts dieses Sachverhalts ergibt, betrifft das Verhältnis von insbesondere afroamerikanischen Künstlern/-innen, die seit der Harlem Renaissance mit der Ausarbeitung von künstlerischen Sprachen beschäftigt sind, die den spezifischen Erfahrungen der diskriminierten Gruppe Ausdruck verleihen, zu dem universalistischen Anspruch des Abstrakten Expressionismus als „transzendentalem Weltstil“ (Harold Rosenberg)27 oder „Verkörperung des Universellen“ (Thomas Hess).28 Während die modernistische Kunsttheorie die reine abstrakte Kunst und die reine optische Erfahrung propagiert und sie zu universellen Werten erhebt, ist der größte Teil der afroamerikanischen Moderne, die seit der Harlem Renaissance in den 1920er-Jahren bedeutende Künstler wie Aaron Douglas, Jacob Lawrence oder Norman Lewis hervorgebracht hat, in mehrfacher Weise „unrein“. Weniger an Transzendenz und Zeitlosigkeit orientiert als an Geschichte, Community und sozialer Kritik, verfolgt die afroamerikanische Malerei auch stark synästhetische Ansätze in Bezug auf Literatur und Musik und steht darin in großer Nähe zur populären Kultur (Jazz) und den angewandten Künsten (Graphic Design). Die Position des Malers Norman Lewis ist in Bezug auf die Position Schwarzer Künstler/-innen gegenüber den „universellen Werten“ der weißen Moderne von besonderem Interesse. Lewis kommt aus Harlem und ist mit wichtigen Künstlern des New Negro Movement, wie Aaron Douglas und Jacob Lawrence, vertraut. Er gründet in den 1930er-Jahren Schwarze Künstlervereinigungen, bewegt sich jedoch zunehmend zwischen den Schwarzen und weißen Welten des institutionell segregierten Kunstbetriebs und ist sein Leben lang ein engagierter Bürgerrechtsaktivist (Abb. 2).29 In welcher Weise kann ein politisch engagierter Schwarzer Maler mit den gültigen Normen einer weißen Avantgarde operieren, deren universelle Geltung auf einer scheinbar logischen Entwicklung der europäischen Malerei seit Manet, Cézanne und dem Kubismus beruht? Ab Mitte der 1930er-Jahre trifft sich Lewis regelmäßig mit Malern wie Pollock, Rothko, Newman, Still und Gottlieb in Bars und in privatem Rahmen, aber eben auch
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Abb. 2: Norman Lewis bei den Artists’ Sessions im Studio 35, New York, Foto: Max Yavno, 1950
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Abb. 3: Norman Lewis, Metropolitan Crowd, 1946, Öl auf Leinwand, 45 x 101 cm, Delaware Art Museum
mit Schwarzen Künstlern wie Hale Woodruff oder Romare Bearden. Zugleich setzt Lewis sich anlässlich der Ausstellung „African Negro Art“ im MoMA intensiv mit afrikanischer Kunst auseinander, arbeitet bis Anfang der 1940er-Jahre in einem sozialrealistischen Stil, in dem er Probleme der Afroamerikaner/-innen adressiert, wird sich dann aber – auch durch die Bekanntschaft mit den erwähnten weißen Malern – der Beschränkungen des von Schwarzen Künstlern erwarteten „Negro Idiom“ bewusst. Wie andere nichtweiße Künstler/-innen dieser Jahre sieht sich Lewis vor der Alternative „Blackstream or Mainstream“ (Abb. 3). In der Überzeugung, dass es letztlich die Exzellenz der künstlerischen Arbeit wäre, durch die die Kunst die stärkste Wirksamkeit gegen rassistische Stereotype entfalten könnte, stellt Lewis die sozialen Themen seiner Bilder mehr und mehr hinter die formalen Probleme der Malerei zurück. Gerade weil Lewis sich offensichtlich für diese klare Trennung von politischem Aktivismus und künstlerischer Produktion entscheidet, ist es aufschlussreich, dass Lewis mit dem Durchbruch des Abstrakten Expressionismus aus dessen kanonischer Geschichte ausgeschlossen wird. Zum einen ist dafür die politische Banalität des kunstinstitutionellen Rassismus als Faktor zu nennen. Interessanter ist es allerdings, die Ausblendung eines Malers wie Lewis aus dem historischen Bild des Abstrakten Expressionismus kunstimmanent zu betrachten. Das Problem von Lewis’ Malerei liegt paradoxerweise in deren einzigartiger Leistung: Lewis arbeitet auf höchstem Niveau mit den malerischen Mitteln von All-over-Strukturen und kraftvoll gesetzten Farbbalken, wie sie uns durch
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Bilder von Pollock oder Franz Kline vertraut sind. Doch er trägt in diesen Bildern auch einen Konflikt aus, den man mit dem von W. E. B. Du Bois geprägten Begriff des „Double Consciousness“ verstehen kann. Als zugleich Schwarzer und Amerikaner empfinde der Afroamerikaner nach Du Bois eine ständige Spannung: „Stets fühlt man seine Zweiheit, als Amerikaner, als Neger. Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnte Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreißen bewahren.“30 So sehr die Bilder von Lewis den ästhetischen Prinzipien des Abstrakten Expressionismus entsprechen, so unübersehbar sind sie bei genauerem Hinsehen von kulturellen und politischen Referenzen auf die afroamerikanische Erfahrung „durchlöchert“. Auch einige andere Vertreter des Abstrakten Expressionismus verbanden mit ihren Bildern Kommentare zu politischen Ereignissen. Man denke an Robert Motherwells „Elegien zur spanischen Republik“. Diese „rein“ abstrakten Bilder konnten jedoch, unabhängig von ihrem Titel, als Kontrastierungen von hell und dunkel, sogar in metaphorischer Lesart von Leben und Tod, als malerische Reflexionen allgemeiner Probleme gelesen werden, ohne eben die Materialität von Farbe und Leinwand in irgendeiner Form von illusionistischer Referenz auf spezifische Situationen zu „durchlöchern“. In dieser Hinsicht hat Norman Lewis das Reinheitsgebot des Modernismus verletzt, indem er, trotz seiner immer wieder betonten Ausrichtung an künstlerischen Problemen, die konkrete Wirklichkeit der US-amerikanischen Race Relations in seinen Bildern präsent werden lies. Wenn der Abstrakte Expressionismus in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Ausdruck von (amerikanischer) Freiheit und Liberalität gefeiert wurde, dann produzierte Lewis mit Bildern wie „Alabama“ oder „American Totem“ einen Abstrakten Expressionismus, der die rassistischen Abgründe der amerikanischen Gesellschaft in diesen Bildern der Freiheit als eine Art Wiederkehr des Verdrängten an die Oberfläche treten lässt. Während Totem und Ritual auch für den frühen Barnett Newman Ausgangspunkte für Bildfindungen darstellen, so bleiben diese in seiner Malerei unspezifisch. Lewis dagegen bezieht sich, bei allem Wert, den er auf die abstrakte Bildkomposition legt, auf konkrete Praktiken wie die rassistischen Rituale des Ku-KluxKlan (Abb. 4). Von den großen Namen des Abstrakten Expressionismus war es Ad Reinhardt, mit dem Norman Lewis am engsten befreundet war. Reinhardt hatte radikale linke An-
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Abb. 4: Norman Lewis, American Totem, 1960, Öl auf Leinwand, 188 x114 cm, Sammlung Ouida B. Lewis
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Abb. 5: Ruth Benedict und Gene Weltfish, The Races of Mankind. Public Affairs Pamphlet No. 85, Public Affairs Committee, INC. New York 1946, Illustrationen von Ad Reinhardt
schauungen und wurde deshalb vom FBI überwacht. Wie Lewis, mit dem er sich über Fragen der (In-)Effektivität von engagierter politischer Kunst austauschte, optierte er für eine Trennung von künstlerischer Arbeit und politischen Aktivitäten. Reinhardt war neben seiner malerischen Arbeit ein begnadeter Zeichner von kritischen Karikaturen. Dies war ein Gebiet, auf dem er seine politischen, unter anderem antirassistischen und antiimperialistischen Einstellungen in die öffentliche Diskussion einbringen konnte. Eine bemerkenswerte Verbindung dieses prominenten Vertreters modernistischer Kunst zu den weiter oben angesprochenen anthropologischen Studien zur Transkulturalität stellt Ad Reinhardts zeichnerischer Beitrag für eine populäre Publikation dar, die unter der Leitung von Ruth Benedict, der ehemaligen Studienkollegin von Melville Herskovits bei Franz Boas an der Columbia University, 1943 herausgegeben wurde und ursprünglich auch für die US-Armee im Zweiten Weltkrieg bestimmt war (Abb. 5).31
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4. Unreinheit und Widerstand An einem bestimmten Punkt meiner Überlegungen zu Transkulturalität und modernistischem Kunstdiskurs in den USA drängte sich mir die Frage auf, ob denn, und wenn ja in welcher Weise, der Maler der Transkulturalität in der Mitte des 20. Jahrhunderts, nämlich der Kubaner Wifredo Lam, von einem Autor wie Greenberg wahrgenommen wurde. Lam, der afrikanischer und chinesischer Herkunft ist und im afro-kubanischen Milieu von Santería-Gesellschaften aufwächst, geht in den 1920erJahren nach Spanien zum Kunststudium, auch um sich in Europa von dieser Schwarzen spirituellen Sozialisation zu distanzieren. 1938 trifft er in Paris auf Matisse und Picasso und einige der Surrealisten. Auf der Flucht vor den Nazis kehrt er 1941 auf demselben Schiff wie André Breton und Claude Lévi-Strauss über Martinique, wo er mit Aimé Césaire, dem Mitbegründer der Négritude, zusammenarbeitet, nach Kuba zurück. „The whole colonial drama of my youth seemed to be reborn in me“,32 sagt er später über die desillusionierende Erfahrung der Rückkehr in das vorrevolutionäre Kuba. Seine Malerei dieser Jahre betreibt eine Vermittlung von Bildkonventionen der europäischen Moderne und Elementen der von Lam wiederentdeckten afro-kubanischen Kultur seiner Heimat. Hybride Figurationen aus menschlichen, tierischen und pflanzlichen Formen bevölkern dicht gedrängte Bildräume voll üppiger Vegetation. In erster Linie sind es Zucker und Tabak – jene Natur-/Kulturprodukte, die Fernando Ortiz zur gleichen Zeit in „Cuban Counterpoint“ als Symbole von Sklaverei und (Neo-)Kolonialismus beziehungsweise Freiheit und Selbstbestimmung analysiert hatte – von denen die Santería-Gottheiten in Lams Bildern umgeben sind. Bemerkenswert ist dabei eine synkretistische Verschmelzung von zum Beispiel männlichen Orishas und weiblichen Heiligen, sodass die Transkulturalität der Malerei von einem Transgendering ihrer Motive begleitet wird. Lam positioniert sich deutlich aufseiten der Schwarzen Kulturen Kubas und gegen den Neokolonialismus sowie den touristischen Blick auf das Land. Mitte der 1940er-Jahre wird Lam (abgesehen von Greenberg) in New York zunächst relativ stark beachtet und manchmal sogar als amerikanischer Maler bezeichnet, weil Kritiker die Nähe zu vergleichbaren Themen (Totem, Mythos) in den Bildern der frühen Abstrakten Expressionisten erkennen. Doch unterliegt Lam als Schwarzer auch einer primitivistischen Lesart. Er male „under a spell“ und seine Bilder seien voll von „dark mysteries of Voodoo“ (Abb. 6).33 In Greenbergs Schriften findet sich die kurze Kritik einer Ausstellung von Lam in der Galerie von Pierre Matisse im Jahr 1942. Diese Kritik verdient es, ausführlicher
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zitiert zu werden, da sie hinsichtlich einiger notwendiger Kommunikationsprobleme zwischen modernistischer und transkultureller Kunst sehr aussagekräftig ist: „With gouache this Cuban painter achieves the boldness of oil. He has an idiom all his own, when he manages to escape Picasso – an abstract treatment of floral and animal motifs against dun and light-gray backgrounds, derived apparently from Amerindian art. Lam draws with a great deal of flair. But all is ruined – in some pictures by a straining after bravura effects, by showy motions, in others by obsessive rhythms and the inability to be more than decorative. And in two instances the artist’s reliance upon Picasso for ideas is so great as to be parody. Yet something may come out of it. Lam has a gift but doesn’t seem to know what to do with it.“34 Während für Greenberg die „obsessiven Rhythmen“ zur Qualitätsminderung beitragen und die Verwandtschaft mit Picasso zur „Parodie“ gerinnt, besteht der Beitrag von Lams Malerei zu einer proto-postmodernen und proto-postkolonialen Kunst gerade in dieser Neuanreicherung des europäischen Primitivismus mit Elementen jener Kulturen, aus deren Rezeption und Formalisierung sich dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte. „Lam’s adaptations of European modernist styles already informed by African elements engage notions of originality and authenticity“, schreibt dazu Sims.35 Lams kultureller Partikularismus entspricht damit nicht dem Prinzip der Universalisierung des „Primitiven“. Die notwendige Voraussetzung für den „legitimen“ Primitivismus der weißen Moderne ist die kulturelle Distanz des Künstlers zu jener Kultur, die er sich fragmentarisch aneignet (Picasso zu Afrika; Newman zu den North-West-Coast-Indianern; Pollock zu den Navajo). Die jeweilige Kultur fungiert als Auslöser und Anreger, während die weitere künstlerische Entwicklung meist die Ablösung formaler Elemente von ihren Bedeutungsfunktionen mit sich bringt. Nur durch weitgehende Abstraktion der partikularen Quelle kann der westliche Künstler Anspruch auf universale Geltung einer Kunst erheben, in der „nur zeitlose und tragische Bildthemen Wert besitzen“36, wie Gottlieb, Rothko und Newman in einem berühmten Statement aus dem Jahr 1943 feststellten. Vergleichen wir die zitierte Kritik Greenbergs mit den Ausführungen von David Siqueiros zu Lams Kunst in seinem „Offenen Brief an die Maler und Bildhauer Kubas“ aus dem Jahr 1943:
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Abb. 6: Wifredo Lam, Oya, 1944, Öl auf Leinwand, 70 x 60 cm, Privatsammlung, Caracas, © Artists Rights Society (ARS), New York /ADAGP Paris
„Man hatte mir gesagt, er sei einfach ein Schüler Picassos und er sei mehr oder weniger talentiert. Ich stimme mit diesem Urteil nicht überein. Zweifellos hat Lam von Picasso gelernt, und daran hat er sehr gut getan. Aber seine heutigen Arbeiten zeigen Elemente der schwarzen Rasse, die in der kubanischen bildenden Kunst der Zukunft eine enorme Bedeutung erlangen sollten. [...] Ein solcher nicht griechisch-lateinischer Beitrag wird in Kuba dieselbe belebende Rolle spielen wie in Mexiko der indianische Einfluss.“37 Während Greenberg die motivischen Elemente als „indianisch“ verkennt, möglicherweise weil viele Abstrakte Expressionisten sich auf die Kunst der Native Americans bezogen, sieht der mexikanische Maler das afrikanische Element in Lams Bildern als Teil einer ästhetischen Revolution im Rahmen der dekolonialen Bewegung. Ich habe Siqueiros hier ins Spiel gebracht, weil er in den 1930er-Jahren in den USA sehr aktiv war und der frühe Jackson Pollock 1936 am Siqueiros Experimental Workshop in New York teilgenommen hat. Siqueiros ist Teil jener transkulturellen und transmedialen Bewegung, die dem modernistischen Reinheitskult diametral politisch und künstlerisch entgegensteht. „Meiner Meinung nach hatten alle die Leute unrecht, die in diesem Jahrhundert behauptet haben, dass sich die verschiedenen Ausdrucksformen der bildenden Künste mit der Wiedererlangung ihrer Autonomie definitiv befreit haben“,38 bringt Siqueiros 1948 das dezidierte Gegenargument zu Greenberg. In einem Vortrag von 1947 fordert er „eine systematische Kritik an der Tendenz der reinen Kunst“,39 anschließend an eine Äußerung von 1934: „Wir müssen eine polygraphische Kunst entwickeln, die Malerei, Plastik und Graphische Kunst kombiniert und die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern wird. Kunst darf nicht länger in isolierte Gattungen zerfallen, in reine Malerei oder reine Bildhauerei, sondern muss eine neue, kraftvollere, modernere Sprache finden, die ihr als künstlerische Ausdrucksform größere Wirkung und Geltung verschaffen wird.“40 Ab den späten 1940er-Jahren nahm die Reinigungsarbeit in der Kunst, parallel und in Verbindung mit den politischen Säuberungen der McCarthy-Politik ihren Lauf. Je stärker der Antikommunismus und die Fixierung auf eine originär amerikanische Kunst zunahmen, umso fester etablierte sich die Beschwörung des Individuums, dessen unmittelbarer Ausdruck in der Kunst mit dem Ausdruck des universell Mensch-
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lichen und seiner Beziehung zum Absoluten gleichgesetzt wurde. Die ideologiekritische Neubetrachtung des Abstrakten Expressionismus und der ihn begleitenden Kunsttheorie seit den späten 1970er-Jahren hat aber vielleicht zu sehr auf deren Rolle in der Cold-War-Politik der USA fokussiert. Dabei geriet eine andere Konfliktlinie aus dem Blickfeld: die anfängliche Nähe und späteren Frontbildungen zwischen weißer amerikanischer Moderne auf der einen Seite und dekolonialen künstlerischen und kulturtheoretischen Projekten im Kontext afroamerikanischer und Third-WorldPolitiken, deren Verbindung von Transkulturalität und Transmedialität einen heute aktuellen Diskurs vorbereiteten. (Anm. d. Red.: Die Adjektive „schwarz“ und „weiß“ werden hier teilweise groß geschrieben, wenn sie in rein politischem Sinne gemeint sind.) 1 | Christian Kravagna: Das Heilige und das Profane. Malerei als Maskerade, in: Hemma Schmutz und Maja Vukoje (Hg.): Maja Vukoje, Nürnberg 2012, S. 50–59. 2 | Clement Greenberg: Modernistische Malerei, in: ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Berlin 1997, S. 267. 3 | Clement Greenberg: Für einen neueren Laokoon, in: Greenberg 1997 (wie Anm. 2), S. 75. 4 | Ebd., S. 77. 5 | Ebd., S. 71. 6 | Ebd., S. 56. 7 | Ebd., S. 64. 8 | Michael Fried: Art and Objecthood, in: Gregory Battcock (Hg.): Minimal Art. A Critical Anthology, Berkeley/Los Angeles/London 1995, S. 116–147. 9 | Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008, S. 58. 10 | Black-White Intermarriage – THE EARLY HISTORY OF MISCEGENATION IN AMERICA, DEFINING RACIAL CATEGORIES, DEMONIZING ASIAN IMMIGRANTS. http://encyclopedia.jrank.org/articles/ pages/6011/Black-White-Intermarriage.html [Abruf: 25.2.2013]. 11 | David A. Hollinger: Amalgamation and Hypodescent. The Question of Ethnoracial Mixture in the History of the United States, in: The American Historical Review, Bd. 108, Dezember 2003, H. 5, S. 1363–1390, hier S. 1364. 12 | Ebd., S. 1365. 13 | Douglas S. Massey und Nancy A. Denton: American Apartheid. Segregation and the Making of the Underclass, Cambridge, Mass./London 1993, S. 17–32. 14 | Dana Berthold: Tidy Whiteness. A Genealogy of Race, Purity, and Hygiene, in: Ethics & the Environment, Bd. 15, 2010, H. 1, S. 1–26, hier S. 1. 15 | Clement Greenberg: Avantgarde und Kitsch, in: Greenberg 1997 (wie Anm. 2), S. 29–55. 16 | Diese Entwicklung korrespondiert mit dem politischen Wandel des Autors vom Marxisten zum Antikommunisten in der McCarthy-Ära. 17 | Vgl. Sheila Christofides: The Intransigent Critic. Reconsidering the reasons for Clement Greenberg’s formalist stance from the early 1930s to the early 1970s, PhD University of New South Wales 2004, S. 119. 18 | Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London 1993. 19 | Fernando Ortiz: Cuban Counterpoint. Tobacco and Sugar [1947], Durham/London 1995, S. 98. 20 | Melville J. Herskovits: The Myth of the Negro Past [1941], Boston 2005. 21 | Vgl. Lisa Bloom: Ghosts of Ethnicity. Rethinking Art Discourses of the 1940s and 1980s, in: dies. (Hg.): With Other Eyes. Looking at Race and Gender in Visual Culture, Minneapolis/London 1999, S. 23.
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22 | Clement Greenberg: The Situation at the Moment, in: Partisan Review, 5, Januar 1948. Zit. nach Bloom 1999 (wie Anm. 21), S. 22. 23 | Harold Rosenberg in einem Katalog der Galerie Maeght 1947. Zit. nach Bloom 1999 (wie Anm. 21), S. 23. 24 | Serge Guilbault: How New York Stole the Idea of Modern Art. Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, Chicago 1983. 25 | David Craven: Abstract Expressionism and Third World Art. A Postcolonial Approach to ‚American Art‘, in: Oxford Art Journal, Bd. 14, Nr. 1, 1991, S. 44–66. 26 | Ann Eden Gibson: Abstract Expressionism. Other Politics, New Haven/London 1997. David Craven: Abstract Expressionism as Cultural Critique. Dissent During the McCarthy Period, Cambridge 1999. 27 | Harold Rosenberg: Introduction to Six American Artists, in: Possibilities 1947–1948, S. 75. Zit. nach Gibson 1997 (wie Anm. 26), S. 44. 28 | Thomas Hess: Abstract Painting, New York 1951, S. 158, zit. nach Gibson 1997 (wie Anm. 26), S. 44. 29 | Norman Lewis. Black Paintings 1946–1977, Ausst.-Kat. The Studio Museum in Harlem, New York 1998. 30 | W. E. B. Du Bois: The Souls of Black Folk. Die Seelen der Schwarzen [1903], Freiburg 2003, S. 35. 31 | The Races of Mankind, by Ruth Benedict and Gene Weltfish, Public Affairs Pamphlet No. 85, New York 1943. 32 | Wifredo Lam im Gespräch mit Max-Pol Fouchet, zit. nach Lowery Stokes Sims: Wifredo Lam and the International Avant-Garde, 1923–1982, Austin, Texas 2002, S. 33. 33 | Sims 2002 (wie Anm. 32), S. 75. 34 | Clement Greenberg: Wilfredo [sic!] Lam. Gouaches. At Pierre Matisse, in: The Nation, 12. Dezember 1942. Zit. nach Clement Greenberg: The Collected Essays and Criticism, hg. v. John O’Brian, Bd. 1, 1986, S. 131. 35 | Sims 2002 (wie Anm. 32), S. 62. Die afroamerikanische Schriftstellerin Zora Neale Hurston hat in den frühen 1930er-Jahren eine der ersten und hellsichtigsten Kritiken der Konzepte von Originalität und Autorschaft in der weißen Moderne vorgebracht, in welcher sie das später in der postkolonialen Theorie bedeutende Konzept der „Mimikry“ ins Feld führt: „The Negro, the world over, is famous as a mimic. But this in no way damages his standing as an original. Mimicry is an art in itself.“ Zora Neale Hurston: Characteristics of Negro Expression, in: Nancy Cunard (Hg.): Negro. An Anthology [1934], New York/London 2002, S. 24–31. 36 | Adolph Gottlieb und Mark Rothko mit Barnett Newman: Statement, in: Edward Alden Jewell: Globalism Pops into View, in: The New York Times, 13.6.1943, S. X9. Zit. nach der deutschen Übersetzung in: Charles Harrison und Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Ostfildern 2003, S. 689. 37 | David Alfaro Siqueiros: Offener Brief an die modernen Maler und Bildhauer Kubas, in: ders.: Der neue mexikanische Realismus, Dresden 1975, S. 88–107, hier S. 101. 38 | David Alfaro Siqueiros: Für eine neue, integrale Kunst, in: Siqueiros 1975 (wie Anm. 37), S. 144–149, hier S. 146. 39 | David Alfaro Siqueiros: Synthese des historischen Entwicklungsprozesses der modernen mexikanischen Malerei, in: Siqueiros 1975 (wie Anm. 37), S. 131–143, hier S. 142. 40 | David Alfaro Siqueiros: Zu einer Veränderung der bildenden Künste [1934], in: Harrison/Wood 2003 (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 517.
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ZUR TRANSMISSION ASIANISTISCHER DENKFIGUREN. TRANSKULTURELLE ÄSTHETISIERUNGEN IM WERK VON AGNES MARTIN
Während Agnes Martins zentraler Schaffensperiode in New York entsteht zwischen 1959 und 1967 eine Vielzahl von Rasterbildern. In der Kritik werden die Gemälde erstmals 1965 als „empty“1 bezeichnet und fortan vielfach als „leer“ besprochen, wie die Arbeiten „The Beach“ (Abb. 1) oder „Untitled #8“ von 1977. Das Gemälde „Untitled #8“ (Abb. 2) ist erst nach Martins sechsjähriger Schaffenspause in New Mexico entstanden. Die Leinwand ist mit Gesso grundiert, das wiederum mit einer Lasierung gräulicher Chinatusche überzogen ist. Auf dem so entstehenden unebenen Grund von Leinwandstruktur und Kalkpartikeln sind mit Grafit dünne vertikale und horizontale Linien auf die Leinwand gezeichnet. Dabei bilden vier vertikale und fünf horizontale stärkere Linien eine Rasterstruktur. Dünner gezogene horizontale Linien bilden eine feine Struktur, die auf den ersten Blick an die Linierung eines Schreibblattes, Notationspapiere aus der Musik oder gewebte Textilien erinnert. Wie erreicht es Martin, dass zwar eine Vielzahl von Linien auf dem Bild zu sehen sind, das Bild selbst aber trotzdem Leere suggeriert? Bleibt man in der Leseweise von Notationspapieren, sind diese nicht vollgeschrieben, sondern bleiben leer. Auf materialer Ebene changiert die Oberfläche durch das Gesso zwischen kreideähnlich, körnig, offen und geschlossen, dicht. Sie ist also durch Absorption und Lichtreflexion bestimmt, was einen unbestimmten, diffus-leeren Eindruck von Tiefe entstehen lässt. Die Handzeichnung ist mithilfe eines kurzen Lineals gefertigt. Dadurch gibt es Linienüberschneidungen, die durch das erneute Ansetzen des Lineals entstehen. Zusätzlich lässt unterschiedlicher Druck auf den Grafitstift die Linie variieren; damit nimmt die Künstlerin bewusst eine Irregularität des Rasters in Kauf. Die Unebenheit des Untergrundes strukturiert die Rasterebene und verwebt sich mit ihr. Vorder- und Hintergrund stehen nicht gegeneinander, sondern beeinflussen sich. Die Linie wird förmlich durch die Unebenheit des Untergrundes (auf)gebrochen. Die Verbindung
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Abb. 1: Agnes Martin, The Beach, 1964, Acryl und Grafit auf Leinwand, 190,5 x 190,5 cm, Lannan Foundation, Long-term loan Dia Art Foundation, Beacon, © Agnes Martin, VG Bild-Kunst, Bonn 2013
der Rasterstruktur zu Aspekten der Zentralperspektive und die Selbstreflektionen der Malerei über die Leinwand als Bildträger spielen für die Deutung sicherlich eine wesentliche Rolle, in diesem Beitrag möchte ich aber nicht darauf eingehen; vielmehr greife ich aus den soeben beschriebenen Materialen Befunde heraus, um sie für die Denkfigur der Leere nutzbar zu machen.2 „Leere“ ist ein zentraler Topos in der Malerei der Moderne, vor allem der Abstraktion und der Konzeptkunst.3 Dabei scheint die US-Nachkriegs-Abstraktion intensiv aus den Rezeptionen „asiatischer“ Konzepte von Leere4 gespeist zu sein, die in den 1950er-Jahren eine große Popularität nicht zuletzt bei den künstlerischen Avantgar-
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Abb. 2: Agnes Martin, Untitled #8, 1977, Tusche, Grafit und Gesso auf Leinwand, 183 x183 cm, Art Gallery of Ontario, Toronto, © Agnes Martin, VG Bild-Kunst, Bonn 2013
den hatten. David J. Clake erläutert in seiner Studie von 1988 Bezugnahmen einiger Abstrakten Expressionisten wie Franz Kline, Mark Tobey, Ad Reinhardt oder Sam Francis auf asiatische Dimensionen von Leere.5 Diese Bezüge wurden jedoch durch Narrative amerikanischer Kunst als ausschließlich auf westlichen Quellen fußend, wie sie etwa der Kunstkritiker Clement Greenberg entwickelte und verfestigte, negiert. Greenberg beharrte auf einer amerikanischen Kunst, deren Alleinstellungsmerkmal er nicht durch „orientalische Einflüsse“ geschmälert wissen wollte. Der Kunstkritiker erhob Franz Kline, der eine Beeinflussung seiner Gemälde durch asiatische Kalligrafie ausschloss und dahingehend auch die Rezeption seiner Arbeit kontrollierte, in den
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obersten Rang der Abstrakten Expressionisten. Wohingegen er Mark Tobey, der seine kalligrafischen Bezugnahmen hervorhob, stark kritisierte: „Kline’s apparent allusions to Chinese or Japanese calligraphy encouraged the cant, already started by Tobey’s case, about a general oriental influence on ,abstract expressionism‘. This country’s possession of a Pacific coast offered a handy received idea with which to explain the otherwise puzzling fact that Americans were at last producing a kind of art important enough to be influencing the French, not to mention the Italians, the British and the Germans. Actually, not one of the original ,abstract expressionists‘ – least of all Kline – has felt more than a cursory interest in Oriental art. The sources of their art lie entirely in the West; resemblances to Oriental modes may be found in it are an effect of convergence at the most, and of accident at the least.“6 Ich widerspreche dem Diktum Greenbergs und möchte gerade die von ihm so bezeichneten „resemblances to Oriental modes“, die er einräumt, aber als zu vernachlässigende „convergence“ abtut oder gar als „accident“ degradiert, genauer in den Blick nehmen. Durch transkulturelle Leseweisen möchte ich auf Asianismen7 in der politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Umgebung von Agnes Martin – die sich selbst dem Abstrakten Expressionismus zuordnete – aufmerksam machen. Dies möchte ich am Beispiel der Denkfigur „Leere“ beleuchten und sie als eine „Migration“ eben jener Asianismen in Martins Werk vorstellen. Nun liegt Greenberg mit seiner Diagnose möglicherweise nicht falsch, die Quellen des Abstrakten Expressionismus gänzlich im Westen zu sehen, weil es sich natürlich immer um eine westlich vermittelte Rezeption von möglicherweise „Asiatischem“ handelt. Mir scheint sein Argument jedoch eher auf eine Marginalisierung asiatischer Impulse im Sinne einer Purifizierung amerikanischer Kunst abzuzielen, denn darauf, mögliche Rezeptions- und Aneignungsprozesse zu thematisieren. Im US-amerikanischen hegemonialen Kunstdiskurs wird in der Martin-Rezeption ab 1966 das Interesse der Künstlerin an „Zen“ zwar erwähnt, diese Information dient in den folgenden Jahren jedoch weniger dazu, mögliche „asiatische“ Bezugnahmen in den Bildern zu untersuchen.8 Vielmehr wird dadurch seit den 1970er-Jahren eine Künstlerfigur Martin konstruiert und diese zu einer Art „Guru“9 stilisiert. Den kulturellen Kontext der USA in den 1950er-Jahren widerspiegelnd, scheint es auch bei Agnes Martin Interesse an alternativen Erklärungsmodellen der Welt gege-
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ben zu haben. Im Amerika der 1950er-Jahre zirkulierende „asiatische“ Philosophien eigneten sich für sie offensichtlich neben anderen Strömungen und Einflusssphären als sinngebend. Es soll in diesem Beitrag um die „Migration“ dieser als „asiatische“ oder „buddhistische Philosophien“ bezeichneten Denkfiguren und deren möglichen Einfluss auf Martins künstlerisches Schaffen gehen. Da es sich um ein Konglomerat aus in und für den Westen übermittelten östlichen Lehren und Weltanschauungen handelt, wie etwa den Zen-Buddhismus, den Taoismus sowie vermeintlich chinesische und japanische Denkweisen, wird im Folgenden von „asiatischen“ Philosophien oder Asianismen gesprochen und im Einzelnen nachverfolgt, wie sich Streckenverläufe der Rezeption von den jeweiligen Quellen vollzogen haben könnten. Dabei sind diese Quellen und Theorien als übermittelt, als in kulturelle Praxen eingebettet und in Machtstrukturen involviert zu denken. Migration als Transmission Ich verstehe hier Migration als Transmission und möchte nun darstellen, wie transkulturelle Übermittlungsprozesse gefasst werden können, um sie dann in Bezug auf Agnes Martins Arbeiten weiterzudenken. Mieke Bal spricht von „Travelling Concepts“.10 Ähnliche Konzepte werden in der Mediologie, speziell der „transmission culturelle“, erläutert, die helfen kann, Übersetzungsprozesse und kulturelle Transfers zu beschreiben. Sie nimmt dabei das gesamte Übermittlungssystem in den Blick, von den übertragenen Ideen und Diskursen bis hin zu den Überträgern, als die „personale Agenten“11 sowie soziale Institutionen fungieren können. Dieser Ansatz scheint einen adäquaten Zugang zu bieten, um die verschiedenen Ebenen, auf denen sich Asianismen im Werk von Martin bemerkbar machen, und das Klima, in dem die unterschiedlichen Reproduktions- und Diffusionsapparate auftreten, beschreiben sowie die herrschenden Geistestechniken als Instrumente des Denkens analysieren zu können.12 Bezüglich der künstlerischen Produktion von Martin kann demnach gefragt werden: Wie sind solche Übersetzungen in unterschiedliche Medien (z.B. von Büchern – über Vorträge – in Gemälde) als Amalgamierungen mit anderen, dem Rezipienten schon bekannten kulturellen Praxen zu verstehen? Wie verändert eine Übersetzung und Aneignung das Vermittelte? Welche Institutionen geben welche Normierungen vor und vermitteln was und welche Machtstrukturen? Neben dem „Streckenverlauf “ über die Generationen hinweg, den der Mediologe Régis Debray im Sinne von Übermittlung durch die Zeit stark macht, hat Birgit Mersmann die
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Mediologie auch als Theorie für transkulturelle Übersetzungsprozesse zwischen kulturell verschieden kodifizierten Bildsystemen und -funktionen als Kulturübermittlungstheorie produktiv gemacht.13 Sie untersucht, wie die Übermittlung durch unterschiedliche Stationen und über Transitpunkte Zeit und Raum querend vonstattengeht und was jeweils wie von wem übermittelt wird. Mersmann konstatiert, „[…] dass es eben diese durch diachronische Bildübermittlungen einer longue durée ausgeformte ikonische Transkultur ist, welche in sich die Macht und die Gabe birgt, sich – interkulturell – weiter zu übermitteln und mit anderen ikonischen Transkulturen Bindungen einzugehen“.14 Die Mediologie bezieht sich allerdings eher auf die Analyse von Makrosystemen. Da die Asianismen im Werk von Agnes Martin jedoch nicht nur individuell, sondern auch im geistigen Klima der Zeit zu verorten sind, verspricht es einen Mehrwert, mit Aspekten der Mediologie zu arbeiten, um Asianismen als zeitliche und räumliche Transmissionsprozesse zu denken.15 „Leere“ erscheint, wie eingangs für „Untitled #8“ beschrieben, auf unterschiedlichen Ebenen: Zum einen wirkt der diffus lasierte Hintergrund des Bildes leer, zum anderen sind die gezeichneten Rasterquadrate nicht ausgefüllt, wie etwa in Arbeiten von Ad Reinhardt oder Ellsworth Kelly, sondern das Raster erscheint als Matrize leer. Auch Christian Spies fragt 2003 in seinem Aufsatz, wie die Künstlerin in ihren Arbeiten Leere „provoziert“,16 da es sich bei ihren Arbeiten keineswegs um leere Leinwände handele. Er findet den meines Erachtens treffenden Begriff der „visuell geformten Leere“.17 Der Kunsthistoriker bezeichnet die Bildwirkung als „konstruierte Leere“, im Gegensatz zu einer „emblematischen Leere“, wie etwa eine monochrome oder unbemalte Leinwand. Er stellt diese gegen den Begriff der Fülle, indem er fragt: „Bedeutet das unvollständig-reguläre und sich nicht in der Neutralität aufhebende Raster, dass es sich nicht um ,Leere‘ handelt, sondern das Bild in die entgegengesetzte Richtung einer ,Fülle‘ tendiert? Oder öffnet sich hier eine Leere, die nicht offensiv ein Vakuum propagiert, sondern als strukturierte – oder besser: konstruierte – Leere zu definieren wäre?“18 In der Darstellung von Martins Malweise scheint das eine nicht durch das andere ausgeschlossen zu sein, vielmehr wird mit dem einen das andere sichtbar. Spies benennt die Phänomene,19 vertritt aber eine Leseweise, die keine Verweise zu anderen kulturellen Bezugnahmen macht und die Bilder eher innerhalb des Modernismus-Diskurses bespricht. Ich teile die Analyse von Spies, meine aber, dass die gemachten Beobachtungen durch Einbeziehung asianistischer Diskurse in den USA der 1950er-Jahre weiterführend gestützt werden. Ich plädiere also für eine
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Reflektion, die transkulturelle Übermittlungsfragen miteinbezieht. Dabei ergibt sich ein differenziertes Feld von Interessen und Motivierungen von Bezugnahmen. Unterschiedliche Motivierungen „asiatischer“ Bezugnahmen Bert Winther-Tamaki beschreibt die unterschiedlichen Verbindungen asiatischer Bezüge als „patterns of interactivity“.20 Sie können sich als drei Varianten – Ausschluss, Einschluss oder Differenz – manifestieren und interagierender Dynamiken annehmen: Mit der Benennung dieser Konzepte als asiatisch, japanisch, chinesisch, fernöstlich oder orientalisch werden nationale und kulturgeografische Zuordnungen unterstrichen. Winther-Tamaki weist in seiner Studie erstens auf das Ideal einer Kunstgeschichtsschreibung hin, die nationale Authentizität als Basis für die Entwicklung einer individualistischen, originalen Künstlerposition konstruiere. Interkulturelle Einflüsse können in dieser Logik irritierend sein, und es kann einerseits eine „unquestioned and essentialistic national identity of the artist“21 konstruiert werden, die in einer Logik von Abgrenzung funktioniert, um das eigene zu stärken. Auf dieser Logik hat auch Franz Kline bestanden und die Rezeption seiner Arbeiten als nicht von „ostasiatischer“ Kalligrafie beeinflusst gesteuert. Mark Tobey hat hingegen kalligrafische Bezüge betont. „But the assimilation of aspects of foreign art into native artistic practice is also a strategy of strengthening the latter, a transaction often undertaken by erasing markers of foreign identity to naturalize the appropriation. […] Tobey attempted to incorporate aspects of East Asian calligraphy into American painting. […] the assimilation of foreign aesthetic properties can be conducted so as to suppress evidence of their foreignness or to subordinate them to a native voice.“22 Zweitens können damit positive Exotismen verbunden werden und sie so als Folie zur Sehnsuchtsproduktion von „authentischerem“, „besserem“ Leben herangezogen werden. Eine dritte Spielart von Positionen ist die Erzählung einer fundamentalen Differenz zwischen „Ost“ und „West“.23 Markierung der Perspektivnahme Es scheint mir lohnend, nicht nur die stereotype Rezeption von „asiatischen“ Konzepten zu kritisieren, sondern auch den produktiven Impuls für die Kunstproduktion in den Blick zu nehmen. Meine These ist, dass sich Martin der im Amerika der 1950er-Jahre zirkulierenden „asiatischen“ oder „taoistischen“ Konzepte bedient, um in ihren Werken eine Verrückung von dualistischen, auf Oppositionen angelegten
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Konzepten ins Bild zu setzen. Um diese Verrückung zu erzeugen, eignet sich die Künstlerin Übermittlungen unterschiedlicher kultureller Kontexte (z.B. Asien, Hopi, Navajo) an. Wie aber kann man diese Ideen als unterschiedlich, als „anders“ im Vergleich zu „westlichen“ Denkfolien markieren, die zeitgenössischen Stereotype benennen und auch in deren Logik überlegen, welche Bezugnahmen in den Bildern zu finden sind, ohne zugleich diese Stereotype weiterzuschreiben? Dieser Grat zwischen westlich-zentrierter Vereinnahmung und Verneinung nicht-westlicher Impulse in nationalen Rhetoriken einerseits und positiver Exotisierung andererseits soll hier versuchsweise beschritten werden. Aneignung „asiatischer“ Philosophien in den USA der Nachkriegszeit Die Auseinandersetzung mit östlichen Philosophien in den USA, die bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreicht, erhält nach dem Zweiten Weltkrieg eine besondere politische Komponente. Erstens scheinen die USA auf politischer Ebene als selbst ernannte Führer der „freien Welt“ Theorien zu benötigen, die die Einheit der Welt proklamieren, welche vor allem durch die beiden Weltkriege – zugunsten eines Erstarkens des Nationalen – zur Disposition gestellt worden war.24 Die Synthetisierung östlicher und westlicher Kultur schien dazu geeignet, unter Leitung der USA eine einheitliche Kultur und Weltordnung entstehen zu lassen.25 Zweitens gerieten durch Hiroshima und den Holocaust abendländische Glaubenssysteme in der Bevölkerung ins Wanken. Monotheistische Religionen wurden gerade von Intellektuellen und Künstlerkreisen in den Großstädten zunehmend verworfen zugunsten von Buddhismus, Existenzialismus oder Psychoanalyse, die als Gegenkonzepte zur Aufklärung und des Dialektischen aufgefasst wurden.26 Bernhard Faure bezeichnet das Versprechen der westlichen Orientalisten dieser Zeit, asiatische Spiritualität als Heilung gegen die Schwierigkeiten einer westlichen materialistisch geprägten Gesellschaft zu propagieren, als „secondary orientalism“.27 Zudem suchte die US-amerikanische Kunst(kritik) eine über ihre europäischen Wurzeln hinausgehende Inspirationsquelle, um damit den sogenannten Exzeptionalismus zu legitimieren.28 Agnes Martin hat sich laut Quellenlage mit buddhistischen und taoistischen Schriften auseinandergesetzt und Meditationspraktiken kennengelernt.29 Allerdings hat sie kein „Studium“ derselben absolviert und bis auf eine abgebrochene Indienreise in den 1960er-Jahren erst später weitere Reisen nach Asien unternommen. Sie hat demnach asiatische Philosophien durch die in die USA gelangten Multiplikatoren –
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Abb. 3: Arthur Wesley Dow, Composition: A Series of Exercises in Art. Structure for the Use of Students and Teachers (1899), New York 1928
die Mediologie bezeichnet sie als „Agenten der Übermittlung“30– rezipiert. Ihr Interesse an asiatischen Ideen ist nicht singulär. Es ist eingebettet in den Zeitgeist, wie auch das Interesse von John Cage, Ad Reinhardt oder andere durch die Galerie Betty Parsons vertretene Künstlerinnen und Künstler wie Barnett Newman oder Kenzo Okoda.31 Martin studierte und arbeitete ab 1942 im Wechsel in New York, Albuquerque und der Künstlerkolonie Taos in New Mexico. Zu dieser Zeit war das Handbuch von Arthur Wesley Dow mit dem Titel „Composition: A Series of Exercises in Art. Structure for the Use of Students and Teachers“32 eine verbreitete Unterrichtslektüre, in der Bildkomposition anhand von Beispielen chinesischer und japanischer Kunst vermittelt wurde (Abb. 3). In dem Verständnis, was typisch japanische Kunst sei, wurde Dow wiederum durch die Sammlungspolitik von Ernest Fenollosa maßgeblich geprägt, der mit der Zusammenstellung einer der ersten US-Sammlungen japanischer Kunst im Bostoner Museum of Fine Arts das gesamte Asienbild der USA drastisch nach seinen eigenen Präferenzen beeinflusste.33 Dow war seit 1904 Direktor des Teachers College, wo Martin studierte. Auch wenn Dow zu Martins Studienzeit schon verstorben war, wird sie mit dieser grundlegenden Lektüre sicherlich in Berührung gekommen sein. In den Jahren 1942, 1951 und 1954 studierte Martin an der Columbia University, wo sie auch die Vorträge des japanischen Mönchs und Natio-
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nalisten Daisetz T. Suzuki besuchte. In seinen Publikationen und Vorträgen konzentrierte dieser weitere zentrale Agent der Übermittlung die Diversität der komplexen buddhistischen Philosophien auf eine Essenz.34 Nationale Vereinnahmungen im Kulturkampf USA – Japan Suzuki wie auch andere Übersetzer und Multiplikatoren für westliche Kontexte konstruierten Zen nicht als eine traditionelle, institutionalisierte Religion, sondern vielmehr als „experience“, als Erfahrung eines privaten, wahren, obwohl häufig nur momentanen „state of consciousness“. Robert H. Scharf stellt fest, dass die westlichen Mentoren des Zen „sought to naturalize the category ,religion‘ – if religious traditions were predicated upon an ineffable, noetic, mystical state of consciousness, then they could not be rejected as mere superstition, infantile wish-fulfillment, or collective hysteria. At the same time, by constructing the core of religion in general, and Zen in particular, as a subjective experience, religion was rendered immune to rationalist, positivist or empiricist critiques. Apologists could then argue that modern scientific rationality was not a viable alternative to religious modes of understanding.“35 In der Universalisierung der „Zen experience“ wird Zen nicht als Schule oder Sekte des Buddhismus vorgestellt, sondern eher als universal und vereinigend, als Erfahrungsgrundlage für Religionen sowohl des Westens wie des Ostens. Dabei wird auf klassische Texte – „original sources“36 – rekurriert und dadurch eine direkte, unvermittelte, primär nicht verstandesmäßige Übermittlung ohne institutionelle Hierarchien dieser „Weisheiten“ suggeriert. Damit wird stereotypisch von Suzuki der „spiritual East“ als harmonisch, nicht-aggressiv, mit intuitiver Weisheit ausgestattet, monistisch, einem materialistischen, aggressiven, rationalistischen, dualistischen Westen gegenübergestellt.37 Damit trifft Zen à la Suzuki die Sehnsucht seiner westlichen Rezipienten nach spiritueller Lösung für Probleme der westlichen Moderne.38 Martins Bezüge zu „asiatischen“ Schriften Auch wenn Martin die Schriften Suzukis zu eindimensional fand und Übersetzungen klassischer Gelehrter und Poesie von Huang Po, Zhuangzi und Huineng bevorzugte,39 hat sie diese wahrscheinlich auch durch die oben beschriebene Perspektive der von Suzuki geförderten Zuschreibungspraxis zu Ost und West rezipiert. Martins bevorzugte Quelle war die Übertragung der dem Gelehrten Laotzi zugeschriebenen Schrift des „Tao Te King“ durch den Schriftsteller Witter Bynner.40 In seiner Version
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finden sich auch Ausführungen zu Aspekten von „Leere“. Diese möchte ich im Folgenden erläutern und sie in Beziehung zu Martins Rasterarbeiten setzen. In vielen Übersetzungen von taoistischen Schriften werden zur Verdeutlichung der Kategorie Leere häufig folgende Bilder herangezogen: die Leere zwischen Nabe und Speiche, die es dem Rad ermöglicht, sich zu drehen, oder auch Fenster und Türen, die ein Zimmer bewohnbar machen und das Atmen und Sehen gestatten. In Vers elf des „Tao Te King“ heißt es: „Thirty spokes are made one by holes in a hub By vacancies joining them for a wheel’s use; The use of clay in moulding pitchers Comes from the hollow of its absence; Doors, windows, in a house, Are used for their emptiness: Thus we are helped by what is not, to use what is.“41 In dem Vers wird also erstens auf die sich gegenseitig bedingenden Aspekte von Fülle und Leere aufmerksam gemacht. Zweitens wird auf den Nutzen der Zwischenräume hingewiesen, ohne den die Speiche oder der Türrahmen keine Funktion besäßen. Insofern ist demnach die Leere nicht nichts, kein Vakuum, sondern sie ist angefüllt mit Nutzen oder Brauchbarkeit. Diese Denkfigur der Beziehung von Leere und Fülle könnte die von Christian Spies gemachte Konstatierung – hier noch mal zitiert –, „dass es sich nicht um Leere handelt, sondern das Bild in die entgegengesetzte Richtung einer ,Fülle‘ tendiert“, um eine weitere mögliche (transkulturelle) Lesart erweitern. Die Denkfigur von Fülle und Leere, die, wie in Vers elf deutlich wird, auf komplementärer Formgebung und Funktionswirkung beruht, hat Agnes Martin – so meine These – noch expliziter in einigen ihrer Rasterarbeiten zur Anschauung gebracht: In den Arbeiten „Night Sea“ (Abb. 4) oder „Grey Stone II“ (Abb. 5) kann man etwa von einem inversen Raster sprechen. Dem Zwischenraum, der Leere kommt hier, so möchte ich behaupten, eine formierende Bedeutung zu. In dem Gemälde „Grey Stone II“ ist auf grobe Leinwand lila-bläuliche Ölfarbe in die Kästchen eines mit Grafit gezogenen Gittersystems gefüllt (Abb. 6). Zwar sind in der Nahsicht schwache Raster-Grafitlinien auszumachen, sie haben aber eher den
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Abb. 4: Agnes Martin, Night Sea, 1963, Öl und Blattgold auf Leinwand, 183 x 183 cm, Privatsammlung San Francisco, © Agnes Martin, VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Status einer markierenden Vorzeichnung, da sie bereits bei der Betrachtung des Bildes ab 50 cm Abstand nicht mehr zu sehen sind. Die vertikalen und horizontalen Linien der Rasterstruktur werden durch die um die ausgemalten Kästchen liegenden Leerbereiche formiert und somit von der unbearbeiteten Leinwand(-farbe) erzeugt. Neben der Tatsache, dass hiermit die Leinwand als Bildträger thematisiert ist, geht es mir in meiner Argumentation an dieser Stelle aber vor allem darum, auf die Verquickung und gegenseitige Formierung von Rasterkästchen und Rasterlinie hinzuweisen. In dem Bild ist eine Verkehrung des üblichen Rasters ins Bild gebracht. Die sonst leeren Rasterkästchen, die in anderen Bildern als leerer Zwischenraum erscheinen,
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Abb. 5: Agnes Martin, Grey Stone II, 1961, Öl, Grafit und Blattgold auf Leinwand, 183 x 183 cm, Sammlung Emily Fisher Landau, New York, © Agnes Martin, VG Bild-Kunst, Bonn 2013
übernehmen durch ihr Ausgemalt-Sein, ihre Fülle, die Funktion, die sonst ihrem Pendant – der Linie – zukommen würde, sie formieren das Andere; im Falle des Rasters formieren sie die Linie. Das, „was nicht ist“, scheint in diesem Bild von elementarer Bedeutung für das, „was ist“, wie auch in Bynners Übertragung von Laotse zu lesen ist. Damit werden Fülle und Leere nicht als sich ausschließende Gegensätze verstanden, sondern das eine führt zum anderen. Beides bedingt und formiert sich im Wechselspiel und steht in einem balancierten Spannungsverhältnis. Es gibt weitere zeitgenössische Referenzen zu Laotses Beispiel. Den Gebrauch von Leere durch die Radnabe in Vers elf veranschaulicht die Skulptur „Rad“ (um 1964) von Richard
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Tuttle, der seit 1963 mit Martin befreundet war und sich ebenfalls für asiatische Philosophien interessiert. John Cage hat für die Musik das akustische Pendant „Stille“ unter anderem in seiner Komposition „4:33“ von 1952 ausgearbeitet, bei der es nicht um die tonlose Stille geht, sondern um die mit (Umgebungs-)Geräuschen angefüllte Zeit.42 Damit scheint eine Verrückung argumentierbar zu sein, die das, was nicht ist, nämlich „Leere“, nicht als Nichts darstellt, sondern diese gerade auf die Fülle und die Funktion von Leere verweist. Die sich gegenseitig bedingende Notwendigkeit von Fülle und Leere, das heißt die gleichsam gefüllte Leere scheint hier im Bild zur Anschauung gebracht. Damit scheint eine Verrückung in Bezug auf eine eher im westlich-abendländischen Kontext der Antike zu findende Vorstellung von Leere in dem Bild zu sehen zu sein. Dies wird deutlich, wenn sich der Betrachter die scheinbar sich ergebende Logik der unterschiedlichen Kategorien des Denkens bezüglich der Vorstellungen von Leere vergegenwärtigt. Es ist sicherlich auch ein durch Vereinfachungen geprägter Blick, doch lässt er gerade durch die Verkürzungen Unterschiede in der Vorstellung von Leere zwischen einem eher westlich-abendländischen und einem östlichen Verständnis aufleuchten. Und vielleicht kann man hier auch mit der „transmission culturelle“43 argumentieren, wenn man östliches Denken als Alternative zu abendländisch-antikisch geprägtem Denken entwirft, dass also Übermittlung häufig gerade in verkürzten Oppositionsbildungen und Stereotypisierungen vonstattengeht, wie beispielsweise bei Suzuki. Vielleicht ist es daher legitim, gerade an dieser Stelle auch verkürzt und aus westlichem Blick nicht alle möglichen Strömungen und Gegenströmungen der philosophischen Konzepte der unterschiedlichen kulturellen Sphären des „Abendlandes“ und „Fernasiens“ in den Blick zu nehmen, sondern auch in Stereotypen von Ost und West holzschnittartig Unterschiede zu markieren und damit die dualistischen Konstruktionen, wie sie in den 1950er-Jahren gewirkt haben mögen, zu skizzieren. Unterschiedliche Konzepte von Leere Vergleicht man die oben ausgeführte Vorstellung von Leere beispielsweise mit Konzepten von Platon und Aristoteles, so wird die bei Martin ins Bild gebrachte Verrückung in Bezug auf die in der westlichen Philosophie gängigen Denk-Kategorien deutlich. Laut Byung-Chul Hans Schrift „Philosophie des Zen-Buddhismus“, die sich an ein westliches Publikum wendet, ist „die Substanz […] gewiss der Grundbegriff
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Abb. 6: Agnes Martin, Grey Stone II (Ausschnitt), 1961, Öl, Grafit und Blattgold auf Leinwand, 183 x 183 cm, Sammlung Emily Fisher Landau, New York, © Agnes Martin, VG Bild-Kunst, Bonn 2013
des abendländischen Denkens“.44 Han arbeitet Unterschiede heraus, indem er schreibt, Aristoteles zufolge bezeichne die Substanz „das Dauerhafte in aller Veränderung. Sie ist konstitutiv für die Einheit und Selbigkeit des Seienden“.45 In der Lektüre dieser Konvention beruht die Substanz auf Trennung und Unterscheidung. Das eine sei vom
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anderen abgegrenzt, indem es in seiner Selbigkeit gegen das andere gesetzt wird. Somit sei Substanz auf Geschlossenheit und Abgrenzbarkeit angelegt und nicht auf Offenheit.46 Fülle und Leere werden also im westlichen Kontext als Gegensätze aufgefasst. Im Gegensatz dazu wird in dem von Bynner übersetzten elften Vers die Existenz von Leere nicht infrage gestellt, sondern auf die Verquickung derselben mit ihrem ergänzenden Komplement hingewiesen. Auch der buddhistische Begriff „sûnyatâ“ („Leerheit“) stelle, so Han, in mehrfacher Hinsicht eine ganz andere Denkrichtung im Vergleich zum Begriff Substanz dar.47 „Die Substanz ist gleichsam voll. Sie ist angefüllt mit sich, mit dem Eigenen. Sûnyatâ bezeichnet dagegen eine Bewegung der Ent-Eignung. […] Im Feld der Leere verdichtet sich nichts zu einer massiven Präsenz. Nichts beruht allein auf sich. Ihre ent-grenzende, ent-eignende Bewegung hebt das monadische Für-sich in eine wechselseitige Beziehung auf “48 – wie das Beispiel der Tonwand des Kruges und sein Innenraum zur Anschauung bringen. Die Leere stellt dabei „kein Entstehungsprinzip, keine erste ,Ursache‘ dar, aus der alles Seiende, alles Formhafte ,entstünde‘“.49 Es besteht vielmehr eine verflochtene Konnektivität zwischen Form und Leere. Die Quelle bildet hier die „Herzsutra“, die, von Eduard Conze ins Englische übersetzt, 1959 erscheint: „[…] form is emptiness, and the very emptiness is form; emptiness does not differ from form, form does not differ from emptiness; whatever is form, that is emptiness, whatever is emptiness, that is form.“50 Kein „ontologischer“ Bruch erhebt die Leere also in eine höhere Seinsordnung. Sie markiert keine Transzendenz, die der erscheinenden Form vorgelagert wäre. So sind Form und Leere auf derselben Seinsebene angesiedelt.51 Damit macht Han auch deutlich, dass Transzendenz oder das „ganz andere“ kein fernöstliches Seinsmodell darstellt. Der Begriff des Geistigen werde im östlichen Sinne ohne Spiritualismus, der dem Geistigen in der westlichen Tradition anhaftet, gedacht. Es ist also ein auf Immanenz angelegtes Konzept. Auch im Existenzialismus, insbesondere der Philosophie Sartres, spielt Leere als das Nichts („le néant“) eine bedeutende Rolle, ist aber anders als das oben erläuterte Verständnis von „sûnyatâ“ zu fassen.52 So sei Martins Version von Leere, nach Mark Stevens ein „Ausleeren“, anders geartet als „dasjenige, an dem viele ihrer Generation unter dem Einfluss des Existenzialismus als Nachwirkung des II. Weltkriegs sich beteiligten“53, nämlich in besonderer Weise gekennzeichnet durch Fülle. Durch das in „Grey Stone II“ ins Bild gebrachte Raster und die hier hergestellte Beziehung von Fülle und Leere scheint gerade die Immanenz dessen, was als Leere
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in diesem Konzept aufgefasst wird, ins Bild gebracht. Je nach Abstand zum Bild changieren die Rasterlinien in den Bildern „Night Sea“ (Abb. 4) und „Grey Stone II“ (Abb. 5) ähnlich einem Vexierbild. Sie scheinen für das jeweils andere formierend zu sein bzw. Hintergrund oder auch selbst das zentrale Motiv zu sein. Damit wird meines Erachtens auch im Bild auf den Aspekt, dass es kein Seinsgefälle (und damit keine Hierarchien) zwischen den beiden Qualitäten Leere und Fülle gibt, verwiesen. Rosalind Krauss spricht in ihrem Aufsatz „Raster“ von der Doppelfunktion des Rasters, von „Materialismus“ und „Spiritualität“.54 Sie denkt die Qualitäten jedoch weiterhin dualistisch. In Martins Arbeiten findet sich dagegen meines Erachtens keine auf Transzendenz angelegte Spiritualität, sondern ein ästhetisches Konzept von Immanenz. Daraus ergibt sich, dass „Leere“ auch die Vorstellung von nichtdualistischer Unterscheidung und damit der Objektivierung von Welt oder der Unterscheidung von Subjekt und Objekt nicht kennt. Dieser Aspekt trifft sich mit Vorstellungen der Zeit von Abstraktion als ungegenständlicher Kunst. Martin sagt 1996 in einem Interview: „In my nonobjective work I gave up forms.“55 Auch durch das „all over“ des „gleichmachenden“ Rasters kommt es in Martins Bildern auf der Bildfläche zu keiner Konzentration in einem bestimmten Bereich. Zudem sind Figur und Grund nicht unterscheidbar, sondern vielmehr verwoben. Damit erhält die Bezeichnung abstrakter Malerei als „non-objective painting“56 eine transkulturelle Dimension. Als solche Kippfigurationen funktionieren auch viele Muster („patterns“), die in Teppichen und Flechtarbeiten der First Americans des Südwestens von Taos Pueblo zu finden sind, wo Martin lebte und arbeitete. Und auch Dow macht in seinem Kompositionsbuch darauf aufmerksam und bildet solche Ornamentbeispiele ab (Abb. 3). Changieren Meine Analyse der Arbeiten Martins und der dort angelegten Transmissionsprozesse sollte dazu auffordern, sich nicht nur auf die Migration von Künstlersubjekten zu fokussieren, sondern auch Impulse für die kulturellen Kontexte, in die immigriert wird, in den Blick zu nehmen. Gerade durch temporäre Immigrationen von zum Beispiel japanischen Künstlern wie Kenzo Okoda oder Hasgawa Saburo in die USA, militärische Okkupationsaufenthalte wie diejenigen von Mark Tobey in Japan, Arbeitsmigration aus Japan und China besonders an der Pazifikküste der USA und den akademischen Austausch vor allem in New York werden Austausch- und Aneignungsprozesse in Gang gesetzt, die Impulse und Bezugnahmen für eine immer noch
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als westliche Moderne gedachte Kunst darstellen. Durch Greenbergs Vorstellung einer reinen Kunst ohne Einflüsse, weder aus der so bezeichneten „Volkskunst“ oder Handarbeit noch aus anderen Kulturen wie der asiatischen und amerikanisch-indigenen, wird in der Rhetorik der Reinheit57 eine rein westliche Kunst konstruiert und der Blick auf eine legitime Interpretation verengt. 1 | William Berksen: Agnes Martin, in: Arts Magazine, Bd. 39, Mai–Juni 1965, S. 66. 2 | Vgl. Mona Schieren: Linienrisse. Befragungen des Textilen und Repräsentationskritik bei Agnes Martin, in: Mateusz Kapustka (Hg.): Bild-Riss. Textile Studies, H. 7, Berlin/Emsdetten 2013 (im Erscheinen). 3 | Voids. A Retrospective, Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris, Zürich 2009. 4 | Bezeichnungen, die aus unterschiedlichen religiös-philosophischen Texten stammen wie „sûnyatâ“ (Zen), „ku“ oder „kong“ (Buddhismus), und „xu“ (Taoismus), werden in der englischen Übertragung mit „void“ oder „emptiness“ bezeichnet. 5 | David Clarke: The influence of Oriental thought on Postwar American Painting and Sculpture, New York 1988. 6 | Clement Greenberg: ,American-Type‘ Painting (1955, überarb. 1958), in: Clement Greenberg: Art and Culture: Critical Essays, Boston 1961, S. 208–229, hier S. 220. 7 | In diesem Beitrag wird „Asianismus“ nicht im Sinne eines panasiatischen Diskurses verwendet, sondern als Konzept, das die vermittelte und stereotype Rezeption von vermeintlich Asiatischem bezeichnet. Vgl. Nicola Spakowski und Marc Frey: Asianismen seit dem 19. Jahrhundert. „Asien“ als Gegenstand nationaler und transnationaler Diskurse und Praktiken, in: Comparativ. Zeitschrift für Globaldgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, Bd. 18, 2008, H. 6, S. 7–15. 8 | Wenige unterschiedlich differenzierte Versuche werden in jüngerer Zeit unternommen, u.a. von Thomas McEvilley: „Grey Geese Descending“: The Art of Agnes Martin, in: Artforum International, 25, Sommer 1987, S. 94–99; Mark Stevens: Eine ausgeglichene, reine und gelassene Kunst, in: Agnes Martin: Paintings and Drawings, 1974–1990, Ausst.-Kat. Stedelijk Museum, Amsterdam, Amsterdam 1991, S. 117–121; Barbara Haskell: Agnes Martin: The Awareness of Perfection, in: Agnes Martin, hg. v. Barbara Haskell, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, New York 1992, S. 93–117, hier S. 95; Anna C. Chave: Agnes Martin: „Humility, the Beautiful Daughter … All of Her Ways Are Empty“, in: Haskell 1992, S. 131–154; Jacqueline Baas: The Smile of the Buddha. Eastern Philosophy in Western Art, Berkeley u.a. 2006, S. 209, 212–219. 9 | Vgl. hierzu kritisch Haskell 1992 (wie Anm. 8), S. 114; Jill Johnston: Agnes Martin: Surrender and Solitude, in: The Village Voice, 12.9.1973, S. 30–33; dies: Agnes Martin (2): Of Deserts and Shores, in: The Village Voice, 20.9.1973, S. 31–33; Douglas Davis: A Quiet Heroine, in: Newsweek, 14.12.1973; Monica Petzal: Agens Martin, in: Art Monthly, Nr. 6, April 1977, S. 15; John McEwen: Just folks, in: Spectator, 12.3.1977; William Feaver: Art: In Contrast, in: The Observer, 6.3.1977, S. 26; Hope Aldrich: Wise Words and True, in: Santa Fe Reporter, 19.–25.4.1989. 10 | Mieke Bal: Travelling Concepts. In the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002. 11 | Régis Debray: Einführung in die Mediologie, Bern 2003, S. 12. 12 | Régis Debray: Die Geschichte der vier „M“, in: Birgit Mersmann und Thomas Weber (Hg.): Mediologie als Methode, Berlin 2008, S. 36, 37. 13 | Birgit Mersmann: (Fern-)Verkehr der Bilder. Mediologie als methodischer Brückenschlag zwischen Bildund Übersetzungswissenschaft, in: Mersmann/Weber 2008 (wie Anm. 11), S. 149–168, besonders S. 155. 14 | Ebd., S. 160. Diese Ausführung bezieht sich speziell auf Bildkultur. 15 | Zu betonen ist auch, dass diese nicht Martins einzige kulturelle Bezugnahmen sind: Wie sie sich mit anderen von Martin rezipierten Konzepten zum Beispiel des amerikanischen Transzendentalismus, der Antike, des Protestantismus oder der First Americans überlappen oder sich gegenseitig verstärken, werde ich jedoch nur an einigen Punkten anklingen lassen.
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16 | Christian Spies: Leere und Leerstelle. Über ein Bild von Agnes Martin, in: Navigationen. Siegener Beiträge zur Medien- und Kulturwissenschaft, Bd. 3, 2003, H. 6, S. 77–88, hier S. 77. 17 | Ebd., S. 77. 18 | Ebd., S. 86. 19 | Spies vergleicht eine solche Leere als „nummerische Vorstellung der Null als einer Leerstelle“. 20 | Bert Winther-Tamaki: Art in the Encounter of Nations: Japanese and American Artists in the Early Postwar Years, Honolulu 2001, S. 173. 21 | Ebd., S. 2. 22 | Ebd., S. 174. 23 | Ebd., S. 5. 24 | Harry Harootumian: Postwar America and the Aura of Asia, in: Alexandra Munroe: The Third Mind. American Artists Contemplate Asia 1860–1989, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum, New York 2009, S. 45–55, hier S. 45. 25 | Ebd., S. 46–47. 26 | Vgl. Richard King: Orientalism, South Asia, and the Discourse of world Religions, in: Munroe 2009 (wie Anm. 24), S. 37–43. 27 | Bernhard Faure: Chan Insights and Oversights: An Epistemological Critique of the Chan Tradition, Princeton 1993, S. 5–9. 28 | Winfried Fluck: Geschichte der amerikanischen Malerei. US-amerikanischer Sonderweg in der Kunst und der Einfluss Hegels, in: fundiert. Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, 2007, H. 2, S. 58–59. 29 | In ihren veröffentlichten Schriften – den „writings“ – und in Interviews nennt sie dahingehend einige Lektüren, die sie konsultiert hat, beispielsweise Huang Po übersetzt von John Blofeld, in: Agnes Martin: Writings/Schriften (1992), hg. v. Dieter Schwarz, Ostfildern 2005, S. 22. 30 | Debray 2003 (wie Anm. 11), S. 145. 31 | Die Galerie Betty Parsons war eine wichtige Institution, die der Zirkulation dieser Vorstellungen diente. 32 | Arthur Wesley Dow: Composition: A Series of Exercises in Art. Structure for the Use of Students and Teachers (1899), New York 1928. 33 | Munroe 2009 (wie Anm. 24), S. 404. Dow und Fenollosa würden die Mediologie als „Zirkulationsagenten des Geschmacks“ bezeichnen, vgl. Debray 2003 (wie Anm. 11), S. 153. 34 | Dieser weitere zentrale Agent der Übermittlung hielt Vorlesungen dort über Zen-Buddhismus zwischen 1950 und 1957. Kritiker haben den Kultstatus von Suzuki der Tatsache zugeschrieben, dass er den Buddhismus auf Basis des euro-amerikanischen Denkens adaptiert, indem er es in eine sozioreligiöse Tradition, die dem Westen vertraut ist, assimiliert. Vgl. King 2009 (wie Anm. 26), S. 49–50. 35 | Robert H. Scharf: Whose Zen? Zen Nationalism Revisited, in: Rude Awakenings: Zen, the Kyoto School, and the Question of Nationalism, hg. v. James W. Heisig und John Maraldo, Honolulu 1995 (Nanzan Studies in Religion and Culture), S. 40–51. Die Formierung dieser Oppositionen ist mit Suzukis nationalistischem Interesse zu erklären, im Kulturkampf Japan, forciert durch seine Kriegsniederlage und die darauffolgende siebenjährige US-Okkupation, als traditionelleres und besseres Alternativkonzept zu den USA zu propagieren. 36 | Klappentext zu Daisetz Teitaro Suzuki: Manual of Zen Buddhism, London 1960. 37 | Scharf 1995 (wie Anm. 35), S. 47–48. 38 | Scharf 1995 (wie Anm. 35), S. 49. 39 | Gespräch mit Richard Tuttle, Taos, am 12.3.2012. 40 | Witter Bynner: The Way of Life according to Lao Tzu: an American Version (1944), New York 1972. Von 1922 bis 1968 lebte Bynner in Santa Fe und es ist anzunehmen, dass er auch Austausch mit der Szene der Nachbarstädte Albuquerque und Taos hatte und damit auch mit Martin, die dort von 1946 bis 1949 und 1954 bis 1957 lebte. Ich danke David J. Clarke, der 1983 einen Brief von Martin erhielt, für die Bestätigung, dass sie Bynners Übersetzung bevorzugte. Briefauszüge in: Appendix 3, S. 231, http://hub.hku.hk/handle/ 10722/48376 [Abruf 17.11.2012]. 41 | Bynner 1972 (wie Anm. 40), S. 39. 42 | Uraufführung 1952 in Woodstock (Staat New York).
Mona Schieren | TRANSMISSION ASIANISTISCHER DENKFIGUREN
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43 | Birgit Mersmann und Thomas Weber: Vorwort, in: Mersmann/Weber 2008 (wie Anm. 11), S. 7. 44 | Byung-Chul Han: Philosophie des Zen-Buddhismus, Stuttgart 2002, S. 43. 45 | Ebd., S. 43. 46 | Ebd., S. 44. 47 | Vgl. auch Françoise Bonarel: The Path of Emptiness, in: Ausst.-Kat. Paris 2009 (wie Anm. 3), S. 175–186, hier S. 180. 48 | Han 2002 (wie Anm. 44), S. 44. 49 | Ebd., S. 44. 50 | Eduard Conze: The Heart Sutra, Harmondsworth 1959, S. 162–163. 51 | Han 2002 (wie Anm. 44), S. 44. 52 | David J. Clarke: The Influence of Oriental Thought on Postwar American Painting and Sculpture, New York/London 1988, S. 147–148. 53 | Stevens 1991 (wie Anm. 8), S. 120. 54 | Rosalind Krauss: Raster (1978), in: dies.: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. v. Herta Wolf, Dresden 2003, S. 51–66, hier S. 55. 55 | Joan Simon: Perfection is in the Mind: An Interview with Agnes Martin, in: Art in America, Mai 1996, S. 82–89, 124, hier S. 86. 56 | Das so bezeichnete Guggenheim Museum of Non-Objective Painting wurde 1939 eröffnet. 57 | Mark A. Cheetham: The Rhetoric of Purity. Essentialist Theory and the Advent of Abstract Painting, Cambridge 1991, S. 116–117.
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Burcu Dogramaci
GESPRÄCH MIT DER BERLINER PERFORMANCEKÜNSTLERIN NEZAKET EKICI ÜBER IHR MEDLEY IN DER PINAKOTHEK DER MODERNE IN MÜNCHEN ANLÄSSLICH DER TAGUNG „MIGRATION UND KÜNSTLERISCHE PRODUKTION“ Burcu Dogramaci: Im Kontext unserer Tagung „Migration und künstlerische Produktion“ hast du Ende Juni 2012 in der Pinakothek der Moderne in München erstmals ein Performance-Medley1 (Abb. 1) gezeigt, das eine Rückschau auf deine künstlerische Arbeiten der vergangenen zehn Jahre war. Wie entstand die Idee? Hat dich das Thema der Tagung inspiriert oder leitete dich eher die räumliche Disposition? Schließlich fand die Performance auf der großen Freitreppe in der Eingangshalle des Museums statt. Nezaket Ekici: Die Architektur hat mich im Vorfeld sehr fasziniert und war eine große Herausforderung. Auf einer Treppe zu performen ist nicht einfach, da es einen Auf- und einen Abgang gibt. Außerdem ist die Treppe überproportional groß. Auch Migration als Thema der Tagung war ein Anlass zurückzublicken – schließlich habe ich mich in einigen meiner Arbeiten damit auseinandergesetzt. Also habe ich eine Form gesucht, durch die ich mich gleichermaßen zum Thema und zur Architektur positionieren kann. Du hast für dein Medley eine Auswahl aus deinen Arbeiten getroffen – nach welchen Kriterien bist du vorgegangen? Es fiel mir recht schwer, eine Auswahl zu treffen, denn im Prinzip könnte ich das Medley immer wieder variieren und durch andere Arbeiten ergänzen. Einige Performances funktionieren auf der Treppe, andere nicht. Zudem mussten es Performances sein, die auch in verkürzter Form wirken. Normalerweise dauert eine einzelne Arbeit zwischen 30 Minuten und bis zu 10 Stunden, in Einzelfällen sogar Tage. Ich blickte von heute aus rückwärts durch die Jahre, meine Webseite war als Archiv eine große Hilfe. Dort bin ich auf die Jahrgänge gegangen und habe nachgesehen, was ich beispielsweise 2002 gemacht habe. Das war eben „Hullabelly“… „Hullabelly“2 (Abb. 2) ist eine deiner frühesten Performances, die du schon häufig aufgeführt hast: Premiere hatte die Arbeit noch während deines Studiums als Meister-
Burcu Dogramaci | GESPRÄCH MIT NEZAKET EKICI
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Abb. 1: Nezaket Ekici, Medley, Performance Installation, 2012, gezeigt im Rahmen der Tagung „Migration 87 und künstlerische Produktion“, präsentiert in der Pinakothek der Moderne, München, 29.6.2012
Abb. 3: Nezaket Ekici, Hullabelly for Turkish Women, Video-Installation 2003
schülerin bei Marina Abramović an der HfbK Braunschweig. Sie bildete auch den Anfang deines Medleys in der Pinakothek. Du trittst auf und legst zunächst Kleidung an, einen Rollkragenpullover, eine Hose, einen Rock – und ein Kopftuch. Dann beginnst du, einen Hula-Hoop-Reifen zu einer türkischen Bauchtanzmusik um deinen Hals kreisen zu lassen. Warum die Aufmachung, diese Kleidung – welche Bedeutung hat sie in der Performance? Also, ich bin damals, als ich „Hullabelly“ konzipierte, sehr naiv an das Thema herangegangen. In traditionellen türkischen Familien, wie meiner eigenen, war zu jener Zeit das Sportbewusstsein nicht sehr ausgeprägt. Ich habe mich gefragt, warum so wenig Sport getrieben wird. Auch wenn die Frauen ein Kopftuch tragen, können sie doch Sport machen … Ich wollte mit starken Gegensätzen arbeiten. Hula-Hoop ist eine im westlichen Kontext entstandene Sportart, zudem wollte ich mich – auch durch die orientalische Musik zur Performance – auf den türkischen Bauchtanz beziehen, der in der Türkei noch immer als verrucht gilt. Ich wollte beides zusammenbringen und schauen, was passiert.
Abb. 2: Nezaket Ekici, Medley, Performance Installation, Pinakothek der Moderne, 2012
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Es existiert auch eine eigene türkische Variante der Performance, die du 2003 in Antalya uraufgeführt hast: „Hullabelly for Turkish Women“ (Abb. 3). Mehrere Frauen mit Kopftuch schwingen den Reifen um Hals, Hüften und Knie. Dazu ertönt Bauchtanzmusik. So entstand eine Videoarbeit, die in der Wohnung deiner Mutter aufgenommen wurde. Es ist eine Performance mit türkischen Frauen, die gar nicht Hula-Hoop tanzen konnten. Aber darum geht es ja auch nicht, sondern die Teilnehmerinnen sollten motiviert werden, sich mit sich, ihrer Kleidung, ihrem Körper zu beschäftigen. Sich mit solch einem Sportgerät zu bewegen. Ob gut oder schlecht, das ist nicht wichtig, sondern Spaß dabei zu haben, es immer wieder zu versuchen, zu erfahren, dass man es kann. Das Motiv des orientalischen Bauchtanzes greifst du auch in deiner Performance „Oomph“3 (Abb. 4) auf – für die du recht martialisch mit aggressiv anmutendem Schwertergürtel auftrittst und mit Hüftschwüngen Papierwände aufschlitzt. Dein Körper ist in deinen Performances grundsätzlich sehr zentral im Mittelpunkt des Geschehens, das ließ sich auch in deinem Medley nachvollziehen. Gehst du bei der Konzeption stets vom Körper als Material aus? Wie beginnst du? Im Vorfeld ist die Vision da, das Bild ist sehr stark. Von dem gehe ich aus. Es ist nicht so, dass ich heute Trauben essen möchte und deswegen die Performance „180 Wishes“4 plane. Ich werde auf meinen vielen Performance-Reisen vielmehr durch äußere Eindrücke inspiriert, durch Kulturen, Menschen oder Objekte, und dann kommt das Bild, der Inhalt. Ich benutze meinen Körper als Werkzeug, um eine Sprache zu finden, die Idee in Emotion umzusetzen. Bei deinem Medley in der Pinakothek, das eine Auswahl von acht Performances aneinanderfügte, wurde deutlich, wie sehr du körperlich an deine Grenzen gelangst. Ja, ich bin an meine Grenzen gegangen. Solch ein Medley habe ich bislang noch nie gezeigt, aber ich wollte es unbedingt schaffen. Ich habe versucht, diese Grenzerfahrung auch an das Publikum weiterzugeben. Das Publikum veränderte sich im Verlauf deiner Performance deutlich. Zu Beginn war vor allem Neugier zu spüren, auch eine Reserviertheit, doch später forderten deine Performances die Betrachter sichtlich heraus. Gerade als du in deiner Performance „Crema“5 (Abb. 5) über viele Minuten Sahne mit dem bloßen Arm zu Butter schlugst, hatte ich den Eindruck, dass das Angegriffensein des Publikums deutlich zu spüren war. Es nahm Anteil an deinem Schmerz. Deine Atemzüge, die Laute der Erschöpfung wurden verstärkt über Mikrophon, sodass die Zuschauer sich kaum entziehen konnten. Wie wichtig ist das Publikum für deine Arbeit? Abb. 4: Nezaket Ekici, Oomph, Performance Installation, seit 2007, gezeigt „5th International Festival of Contemporary Dance Body & Eros: The Erotic Body – Teatro alle Tese (Theatre & Dance), 52nd Venice 91 Biennale“, 15.–17.6.2007
Abb. 5: Nezaket Ekici, Medley, Performance Installation, Pinakothek der Moderne, 2012
Abb. 6: Nezaket Ekici, Medley, Performance Installation, Pinakothek der Moderne, 2012
Das ist schon sehr wichtig. Es gibt in meiner Arbeit durchaus Momente, beispielsweise bei Living-Installation-Arbeiten, wo das Publikum kommt und geht, manchmal kein Besucher da ist. Dann ist es schwer, sich zu motivieren. Wenn der Betrachter gebannt oder fasziniert ist, teilnimmt an meiner Performance und damit am Entstehen des Werks, gibt mir das die Motivation, weiterzumachen. Wenn die Atmosphäre gut ist, dann ist das stark. Manchmal funktioniert es auch nicht, dann ist die Performance leider nicht richtig geglückt. Aber wenn dieser Moment erreicht ist, ist es fantastisch. Nun bot die Architektur in der Pinakothek der Moderne (Abb. 6) eine gewisse Dramatik. Da sind die Treppen, du bewegtest dich aufwärts von unten nach oben. Ich hätte auch den anderen Weg wählen können … Genau. Was hat dich zu der Entscheidung bewogen? Das hat mit den Inhalten zu tun. Das Medley sollte ein Werdegang meiner Arbeiten sein, von den frühen bis zu den späten. Der Fortlauf der Zeit drückt sich in dem Weg nach oben aus, für mich war das ganz klar.
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Abb. 7: Nezaket Ekici, Medley, Performance Installation, Pinakothek der Moderne, 2012
Abb. 8: Nezaket Ekici, Medley, Performance Installation, Pinakothek der Moderne, 2012
Abb. 9: Nezaket Ekici, Work in Progress – Personal Map, Performance Installation, seit 2008, gezeigt „10th Asiatopia International Performance Festival“, Bangkok, Thailand, 1.–30.11.2008
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Da du das Medley als eine Art Werdegang definierst, kann ich gleich zum Thema Migration überleiten. Dem Begriff der Migration ist die Wanderung von Menschen implizit. Ich habe das Medley als Migrieren durch dein Werk verstanden, eine Reise durch deine Arbeit. Ich sehe das Medley auch definitiv als Reise. Zudem sind die Arbeiten, die ich hier fragmentarisch versammelte, nicht alle an einem Ort entstanden, sondern an verschiedenen Orten der Welt. Die Trauben-Arbeit „180 Wishes“ (Abb. 7) entstand in Spanien, „Screaming Feathers“6 (Abb. 8) habe ich 2006 erstmals in Schweden performt, „Tube“ erstmals in Kanada. Das Medley ist ein Bewegen durch meine Arbeiten, ein Reflektieren, und dabei sehe ich eine Entwicklung. Es sind Erinnerungsstücke. Ich denke darüber nach, wo es hinging, was einmal war und wo es hingeht, und was ich für Wünsche habe und was ich noch erreichen möchte. Das Medley ist auch eine Wanderung durch mein persönliches Leben. Das Reisen ist wie die Rückschau auf dein Leben sehr präsent in deiner Arbeit „Personal Map“7 (Abb. 9), die du 2008 uraufgeführt hast. Zentrales Thema war deine Arbeit auf verschiedenen Kontinenten, in verschiedenen Ländern. Du hast dich selbst als global Reisende reflektiert. Es hat lange gebraucht, bis ich „Personal Map“ konzipieren konnte. Ich habe mir an einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, dass ich diese Reisen in eine künstlerische Sprache bringen sollte. Ich habe über meine individuelle Reisekarte nachgedacht, wie könnte sie aussehen? Ich finde es für jeden Künstler ab einem gewissen Zeitpunkt wichtig zu reflektieren, was man bis jetzt erreicht hat. Wo einen die Kunst hinführte. Und das war die Motivation für die Performance. Die Arbeit habe ich erstmals 2008 in Bangkok über viele Stunden aufgeführt. Das Publikum konnte dabei immer wieder kommen und gehen. Auf meinen Körper habe ich wie auf einen Spickzettel all meine Ausstellungen mit Titel, Ort und Jahr geschrieben. Ich erzählte dann, was ich auf meinen Reisen erlebte, welche Performances ich machte. Ich beteiligte das Publikum an der Rekonstruktion der Arbeiten. Zum Beispiel „Hullabelly“ – wie schwingt man den Reifen. Oder „Crema“ – steht mit auf, wie streckt man den Körper und welche Haltung nimmt man ein, wenn die Sahne geschlagen wird. Ich schlage einen Nagel nach dem anderen in meine Weltkarte, über all dort, wo ich gewesen bin. Ich involviere das Publikum: Meine Map ist ja zunächst leer, die ist weiß. Ich frage: „Wo ist Afrika? Wo ist Europa? Wo ist Amerika?“ Ich frage: „Wie weit ist Berlin von Istanbul entfernt? Wo könnte dieser Nagel dann hinkommen?“
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„Personal Map“ löst in eindrucksvoller Weise Assoziationen bei deinem Publikum aus: Du kartografierst dein bewegtes Leben als weltreisende Künstlerin, aber zugleich werden sich die Zuschauer fragen, wie ihr eigenes Bewegungsdiagramm ihres Lebens aussehen könnte. Wie und wohin bewege ich mich, wie oft bin ich im Ausland, was sind meine Routen? Damit werden zugleich Kategorien wie Heimat und Fremde infrage gestellt. Du meinst, es wird ein anderes Bewusstsein für diese Begriffe entwickelt? Zumindest könnte es dafür sensibilisieren, die öffentlichen Kommentare zu Migranten und Migration zu hinterfragen, die oft mit dem Ausschlussprinzip, dem Exkludieren, arbeiten. Wer gehört zur Heimatgesellschaft und wer nicht, oder wer kann sich nicht integrieren? „Personal Map“ führt uns zur Frage, wo Heimat überhaupt ist und was sie in unserer Zeit des Reisens und der Mobilität eigentlich noch bedeutet. Wenn ich in eine andere Generation geboren wäre, also in den 1950er- oder 1960er-Jahren, hätte ich gar nicht die Möglichkeit des extensiven Reisens gehabt. Ich lebe in einer globalen Zeit, in der es sehr einfach ist, von A nach B zu kommen. Und davon profitiere ich. Kannst du dennoch sagen, dass es für dich als „Global Player“ so etwas wie Heimat gibt? Ich weiß gar nicht, was Heimat überhaupt ist. Ich glaube, dass sie irgendwie in mir ist. Ich wohne in Berlin und Stuttgart, bin aber dauernd auf Reisen. Ich will auch permanent weg. Aber wo ist denn dann das Heimatgefühl? Wahrscheinlich kann jeder Punkt, an dem ich gerade bin, Heimat sein. Wie ist es mit Sprache als Heimat? Czesłav Miłosz, der die meiste Zeit seines Lebens außerhalb seines Geburtslandes Polen verbrachte und in Berkeley Literaturgeschichte lehrte, schreibt über die polnische Sprache: „Die Sprache ist meine Mutter, im eigentlichen und im übertragenen Sinn. Sie ist auch mein Haus, in dem ich durch die Welt ziehe.“8 Ist Sprache für dich wichtig? Wäre das etwas, was Heimat für dich ausmachen könnte? Sprache ist sehr wichtig, um überhaupt zu kommunizieren. Klar, kann ich mit Händen und Füßen kommunizieren, das ist auch eine Sprache. Doch ist es sehr wichtig, viele Sprachen zu können, wenn man schon sehr viel in die Welt geht. Ich kann leider nur vier Sprachen, aber das hilft mir schon zu kommunizieren. Und es hilft, eine Nähe zu finden. Wenn ich die Menschen nicht verstehe, fühle ich mich auch nicht in ihren Heimaten wohl. Dann bin ich selbst ein Fremdling. Wenn es aber schon eine Basis der Kommunikation mit Gestik und Aussprache gibt, habe ich einen ganz anderen Bezug. Dann kann ich mich eher in diese Heimat hineinfühlen.
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Abb. 10: Nezaket Ekici, Balık Baştan Kokar, Performance Installation, 2011, gezeigt in „Fiktion Okzident. Der künstlerische Austausch zwischen TürkInnen und Deutschen in der Moderne“, Tophane-i Amire Istanbul, 30.10.–30.11.2011
Heimat ist ein Begriff, der vermutlich auch für deine Performance „Balık Baştan Kokar“ (Abb. 10) von 2011 wichtig war. Diese Arbeit hast du anlässlich einer Ausstellung9 zum 50. Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei in Istanbul Tophane-i Amire aufgeführt. Sie war deinem Vater gewidmet. „Balık Baştan Kokar“ ist der Titel eines Buches mit Gedichten meines Vaters, die meine Schwester Elmas Ekici Polat und meine Mutter Dudu Ekici nach seinem Tod veröffentlicht hat. „Balık Baştan Kokar“ ist aber auch ein türkisches Sprichwort. „Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken“, heißt es übersetzt. Muss aber im übertragenen Sinne verstanden werden: Handelt in einer Gesellschaft die politische Führung nicht vorbildlich, so wird ihr das Volk in seinem (schlechten) Tun folgen. Das sagte mein Vater in den 1970er-Jahren häufig zu meiner Mutter. War deine Familie da bereits nach Deutschland emigriert? Mein Vater kam 1970 nach Duisburg, wir sind 1973 nachgezogen. Mein Vater kommt ursprünglich aus Kırşehir, meine Mutter aus Uşak. Ich selbst bin auch noch in
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der Türkei geboren. Mein Vater war eigentlich Lehrer, hat in Deutschland aber zunächst in einer Düsseldorfer Waffenfabrik gearbeitet, und erst ab 1973 wieder in seinem ursprünglichen Beruf als Lehrer. Damals in Nordrhein-Westfalen war das aber so: Es gab deutsche Schulen mit türkischen Klassen, und die hat er unterrichtet. Ich war in der Grundschule auch in einer türkischen Klasse, nur die Klassenlehrerin war Deutsche – wie sollte ich auf diese Weise die deutsche Sprache lernen? Außer mit der Lehrerin gab es kaum eine Möglichkeit, deutsch zu sprechen. In unserer Wohngegend waren auch sehr viele Türken. Es ist damals ziemlich schief gelaufen mit der Integration. Wann sind die Gedichte deines Vaters entstanden? Die frühen bereits in den 1950er-Jahren, da war er noch ganz jung, kurz nach der Schule. Die letzten hat mein Vater 1995 geschrieben, kurze Zeit später ist er gestorben. Der Ort, an dem deine Performance „Balık Baştan Kokar“ uraufgeführt wurde, Istanbul Tophane, steht mit der Lebensgeschichte deines Vaters in Zusammenhang. In Tophane-i Amire fanden damals die Gesundheitsuntersuchungen für die „Gastarbeiter“ statt. Auch mein Vater hat in den 1970er-Jahren diese ärztliche Untersuchungen machen lassen müssen, und nach 40 Jahren kommt seine Tochter an diesen Ort und erzählt über den Vater. Das war sehr berührend. Die Arbeit selbst ist eine Multimedia-Installation aus Sofas und Teppichen, eine Art Insel oder Leseraum, in dem die Leute dann Platz nahmen. Zuvor hatte ich die Komponistin Zeynep Gedizlioğlu, die ebenfalls deutsch-türkischer Herkunft ist, gebeten, die Gedichte meines Vaters zu vertonen. Eine Musikgruppe hat dann in diesem historischen Raum gespielt. Der Schauspieler Tayfun Bademsoy las die Gedichte auf Türkisch – er sollte die Stimme meines Vaters imitieren –, das wurde aufgezeichnet und aus dem Off eingespielt. Ich selbst habe die Gedichte dann auf Deutsch gelesen, ich habe sie nicht wirklich Wort für Wort übersetzt, sondern habe sie so interpretiert, wie ich sie verstehe. Ich trug die Gedichte dem Publikum vor, aus dem Off kam die türkische Originalversion von Bademsoy, zwischendurch die Musik. In den 45 Minuten, die die Aufführung dauerte, habe ich sechs Gedichte vortragen können, in denen es vor allem um Isolation, Heimat und Ferne ging. Und vermutlich auch um Sehnsucht. Vor allem Sehnsucht. Aber auch um seine Mutter, die in seinen Gedichten prägnant ist, und um die Natur. Ich habe mich sehr intensiv mit seinen Gedichten beschäftigt, versucht, sie von Grund auf zu verstehen. Ich musste schließlich eine Auswahl treffen. Und obwohl es darin um verschiedenste Themen und Gefühle – wie
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beispielsweise Liebe – geht, hat das Nach-Deutschland-Gehen, die damit verbundene Isolation und die Sehnsucht nach Rückkehr eine große Bedeutung in seinen Gedichten. Das geht tatsächlich unter die Haut, man spürt bei jedem Wort, wie einsam er war. Er konnte schließlich nicht gut kommunizieren und nur gebrochen deutsch sprechen, ebenso wie meine Mutter. Sprache ist wirklich ein sehr wichtiges Element, um in einem Land zu kommunizieren. Er konnte nicht richtig über seine Probleme sprechen. War er auf die Hilfe seiner – sicher viel besser deutsch sprechenden – Kinder angewiesen? Wir Kinder sind mit ihm zum Arzt gegangen, aber er musste als Lehrer ja auch Berichte schreiben. Wir haben ihm zum Teil dabei geholfen. Ich denke, dass er mit seiner Situation als Einwanderer viel besser hätte umgehen können, wenn er nur die Sprache richtig gelernt hätte. Aber er wollte es ja auch anscheinend nicht, weil er immer zurückwollte. Die Gefühle und die Situation, die du beschreibst, erscheinen mir recht charakteristisch für die Probleme vieler (türkischer) Migranten der ersten Generation in Deutschland überhaupt. Ich meine damit auch den Rückkehrwunsch, der auch die 30 oder 40 Jahre überdauert, die viele ehemalige „Gastarbeiter“ dann doch in Deutschland blieben – und plötzlich ist das Bewusstsein da, dass dieses Land doch unweigerlich zur Heimat geworden ist. Mein großer Wunsch wäre es, meine Performance über meinen Vater, die ich in der Türkei vor türkischem und deutschem Publikum uraufführte, vor allem in Deutschland zu zeigen. Es ist doch solch ein wichtiges Dokument, das mein Vater hinterlassen hat, das muss zum Publikum. Wenn ich irgendwann die Gelegenheit und das Budget habe, würde ich „Balık Baştan Kokar“ gern noch einmal in Deutschland performen. Inwieweit hat dich deine eigene migrantisch geprägte Herkunft in deiner Arbeit geprägt? Ich erkenne in deinen Performances eine starke Auseinandersetzung mit Themen wie Aberglauben, mit Ritualen, es geht bisweilen um Religion, religionsbestimmte Dogmen oder Gebote – wie kein Schweinefleisch zu essen. Bei deiner Performance „Lifting a secret“10 (Abb. 11) von 2007 reflektierst du das Ritual der Brautschau, wie du es selbst als junge Frau erlebt hast. Ich will nicht als migrantische Künstlerin abgestempelt werden. Das grenzt aus, man wird für bestimmte Ausstellungen (über Deutschtürken oder Migranten) einge-
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Abb. 11: Nezaket Ekici, Lifting a Secret, Performance Installation, seit 2007, gezeigt „HANDLUNG und RELIKT. Intervention, Performance / Relikt“, Galerie Luciano Fasciati, Chur, Schweiz, 3.11.–1.12.2007
laden. Es gibt Künstler, die sehr stark in diese Richtung arbeiten. Aber ich bin eher offen und die Arbeit soll im Vordergrund stehen, nicht, dass ich Migrantin bin. Ich selbst sehe mich ganz allgemein und zuallererst als Künstlerin. Du hast recht, es gibt diese Themen in meiner Arbeit, aber nicht nur. Ich setze mich mit Kunstgeschichte und mit Architektur auseinander ... … und es existieren Arbeiten, die sich mit Geschlechtlichkeit, vor allem mit dem weiblichen Geschlecht beschäftigen. Ja, aber ich bin auch keine feministische Künstlerin, keine Gender-Künstlerin. Das sind bestimmte Begriffe, die immer wieder für mich genannt werden. Ich bin ein freier Mensch und für mich ist es wichtig, viele verschiedene Sachen künstlerisch umsetzen zu können, mich mit verschiedensten Themen auseinanderzusetzen. Ich kann selbstverständlich mein Leben als Tochter von Migranten nicht abschalten oder abspalten. Das geht nicht. Das ist in mir drin, und es ist auch eine Art von Verarbeitung. Du könntest diese Herkunft auch als etwas Produktives oder Inspirierendes sehen, du bist andere Wege gegangen, deine Familie hat andere Erfahrungen machen können. Dennoch empfinde ich es als angenehmer, nicht als migrantisch, sondern als in-
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ternational bezeichnet zu werden. Je mehr Kulturen, umso besser. Deshalb ist es mir auch wichtig, in die Welt zu gehen. Ich möchte viele Menschen und Kulturen kennenlernen, offen sein, Vorurteile abbauen und an andere weitergeben, was ich erfahren habe. So bin ich eigentlich ein Transmitter oder Vermittler. Obgleich du dich verständlicherweise gegen eine Benennung als Migrantin oder eine Bindestrichidentität wie „deutsch-türkisch“ wehrst, denke ich dennoch, dass die Erfahrung von Ein- oder Auswanderung oder Migration eine künstlerische Arbeit beeinflussen kann. Nimm das Beispiel von Meriç Algün Ringborg. Sie ist aus familiären Gründen vor wenigen Jahren nach Schweden ausgewandert – weil sie einen Schweden geheiratet hat. In einer ihrer Arbeiten beschäftigt sie sich mit Sprache und sammelte Wörter, die man im Schwedischen und im Türkischen findet. Diese Arbeit konnte nur entstehen, weil Ringborg in einen neuen kulturellen und sprachlichen Kontext gekommen ist. Das heißt, wäre sie in Istanbul geblieben, hätte sie vermutlich niemals über schwedische und türkische Wörter gearbeitet. Das ist eng mit ihrem spezifischen Erfahrungshorizont verbunden, was ich sehr interessant finde. Weil Ringborgs Erfahrungen sich unterscheiden von jenen Anderer, die immer in Stockholm gelebt haben und dort aufgewachsen sind. Natürlich. Wenn ich in Deutschland lebe, sehe ich auch viele Sachen in der Türkei anders. Ich sehe sie von außen und kann dann auch eher Arbeiten schaffen wie „Nazar“11 (Abb. 12), in der die Abwehr des bösen Blicks durch ein Glücksamulett – das „Blaue Auge“ – eine zentrale Rolle spielt. Wenn ich immer in der Türkei gelebt hätte, würde ich solch eine Arbeit nicht formulieren können. Jede Veränderung des Lebensortes bewirkt, dass sich ein anderer Blick auf die Umgebung einstellt. Und auch der Blick zurück auf den Ausgangsort verändert sich. Mobilität, Beweglichkeit lässt neue Narrative und Erzählformen entstehen, kann künstlerische Produktivität beflügeln – selbstverständlich auch zum Abbruch von Kreativität führen. Da fällt mir etwas dazu ein: Ich war in Bulgarien, wo die Ankaraner Organisation „Uçan Sürpürge“ (Fliegender Besen) eine Ausstellung organisierte. Die kämpfen für die Rechte der Frauen, organisieren auch ein Filmfestival. In dieser Ausstellung „Who Left What Behind“12 ging es um Zentralisierung – weil es oft so ist, dass Künstler von der Peripherie wegziehen und in die großen Städte gehen. Die Ausstellung fragte nach den Ursachen, es ging um die Kräfte des Marktes. Auch ich könnte in Stuttgart bei meinem Mann leben, wohne aber in Berlin. Auch da ist eine Bewegung, und Mobilität ist für Künstler sehr wichtig. Dass man sich nicht auf einen Ort fokussiert, weil das auch viel wegnimmt von dir. Ich plädiere unbedingt dafür, diese Möglichkeiten
Burcu Dogramaci | GESPRÄCH MIT NEZAKET EKICI
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der Mobilität zu nutzen. Die Ausstellung geht jetzt nach Ankara – auch das ist ein Statement. Die haben Ankara und nicht Istanbul als Ausstellungsort gewählt. In Bulgarien war es Plewen und nicht die Hauptstadt Sofia. Was hältst du vom Begriff des „Postmigrantischen“, wie er beispielsweise vom Berliner Ballhaus Naunynstraße für sich beansprucht wird – einem Theater, an dem viele Migranten mitwirken und das ein eigenes, selbstbewusstes Narrativ über Migration entwickelt. Aber auch mit dieser Selbstbeschreibung als „postmigrantisch“ grenzt man sich wieder ab: „Schaut her, wir sind so.“ Andererseits macht das Ballhaus ein tolles Programm, und es kommen sehr viele Zuschauer aus aller Welt. Ich habe dort selbst auch einen sehr schönen Auftritt gehabt. Ich finde die Begründerin und ehemalige Intendantin Shermin Langhoff beeindruckend, die kämpft mit großem Engagement. Ich habe den Eindruck, dass gerade die zweite Generation der Deutschtürken – zu der zähle ich mich – sehr kämpferisch ist. Da sind in den Bereichen Film, Kunst, Medien ganz stark gute Leute hervorgegangen. Was sind wir eigentlich? Wir sind einfach ein Gemisch. Und das akzeptieren wir auch. Dennoch heißt meine neue Kultur eher „international“. Ich habe drei Kulturen. Drei? Ja. Deutsch, türkisch und international. Dabei wirst du nicht nur in Deutschland kategorisiert, sondern auch in der Türkei vereinnahmt. Deine Arbeit „Emotion in Motion“13 ist als Video in der ständigen Sammlung des Museums Istanbul Modern in der Übersichtsschau zur türkischen Kunst der Moderne und Gegenwart zu sehen. Ist es nicht merkwürdig, als in Deutschland aufgewachsene und sozialisierte Künstlerin plötzlich mit dem Etikett „türkisch“ versehen zu werden? Mal bin ich eine deutsche Künstlerin, dann eine türkische oder deutsch-türkische Künstlerin. Eigentlich sind mir diese Labels mittlerweile egal. Ich finde das nicht so schlimm. Widersprichst du dir da nicht? Berechtigterweise möchtest du dich von Kategorisierungen wie „migrantisch“ distanzieren. Funktioniert dann eine nationale Vereinnahmung in die türkische Kunstgeschichte in deinen Augen? Das stimmt, jetzt widerspreche ich mir vielleicht. Aber ich habe kein Problem, wenn ich in der Türkei im Istanbul Modern als türkische Künstlerin eingeordnet werde. Denn das ist ja auch nicht zu leugnen, obwohl ich einen deutschen Pass habe.
Abb. 12: Nezaket Ekici, Nazar Istanbul, Nazar Berlin, 2005/2007, Performance zur Einzelausstellung „Nezaket Ekici: Gözü Kara/Fearless“, Karsi Sanat Çalışmaları, Istanbul, 15.12.2005–1.7.2006
Geboren wurde ich aber in der Türkei, ich habe türkische Familie, bin mit türkischen Traditionen aufgewachsen. Letztlich ist egal, ob da türkisch oder deutsch steht. Wichtig ist, dass ich als Künstlerin akzeptiert werde. Hättest du ein Problem damit, in einem großen deutschen Museum in einer Präsentation zeitgenössischer deutscher Kunst ausgestellt zu werden? Das würde ich sehr begrüßen. Das ist genau das, was ich noch vermisse – ein selbstverständlicher Umgang mit deutschen Künstlern, die nicht in diesem Land geboren wurden, aber hier leben und arbeiten. Auch wenn ich bereits meine erste große Museumsretrospektive im MARTa Herford in Deutschland Ende 2011/2012 hatte. Nezaket, ich danke dir für das Gespräch. 1 | Nezaket Ekici zeigte in ihrem Medley vom 29.6.2012 in der Pinakothek der Moderne die Performances „Hullabelly“ (2002), „180 Wishes“ (2002), „Crema“ (2005), „Screaming Feathers“ (2006/2012), „Apeiron II“ (2007), „National Anthems“ (2005/2012), „Tube“ (2008/2012) und „Form it able“ (2010). 2 | „Hullabelly“ erlebte die Uraufführung noch zu Ekicis Studienzeiten in Braunschweig 2002 (Artmax, HfbK Braunschweig), wurde 2003 in Venedig (50. Biennale di Venezia) in Zusammenarbeit mit der Klasse von Marina Abramović gezeigt und weltweit an vielen weiteren Stationen aufgeführt. 3 | „Oomph“ wurde 2007 in Venedig (5th International Festival of Contemporary Dance Body & Eros: The Erotic Body – Teatro alle Tese, 52. Biennale di Venezia) und in Freiburg (E-Werk) gezeigt. 4 | „180 Wishes“, eine Performance, die sich auf einen spanischen Ritus bezieht und bei der Ekici in drei Minuten acht Kilogramm Trauben isst, wurde 2002 im Museo Centro Galego de Arte Contemporáneo Santiago di Compostela, Spanien, uraufgeführt. 5 | „Crema“ erlebte 2001 in Braunschweig die Uraufführung, es folgten weitere Auftritte: 2001 Cork, 2002 Berlin, 2004 Bremen, Amsterdam, Münster, 2005 Istanbul, 2006 Sevilla, 2006 Los Angeles. 6 | Erstmals performt 2006 in Malmö (Dansstationen), im selben Jahr in München (Galerie der Künstler, BBK) und Istanbul (Sabancı University Kasa Gallery). 7 | „Work in Progress – Personal Map“ wurde erstmals 2008 in Bangkok (10th Asiatopia International Performance Festival) gezeigt, 2009 in Stuttgart (Gedok), Sabadell (eBent 09. Tensions). Curitiba (5th Biennial Vento Sul), 2010 ZKM Karlsruhe „The Global Contemporary. Kunstwelten nach 1989“ . 8 | Czesław Miłosz: Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie, München 2001, S. 131. 9 | „Fiktion Okzident. Künstlerische Produktionen zwischen Deutschland und der Türkei“, 30.10.–30.11.2011, Istanbul Tophane-i Amire. 10 | Ekici schrieb hier ihre Erfahrungen mit einer Brautschau innerhalb einer Kaffeezeremonie mit Vaseline auf eine Wand und schüttete später Kaffee dagegen – die Schrift wurde lesbar. „Lifting a Secret“ wurde 2007 in Chur (Gallery Luciano Fasciati) uraufgeführt, 2008 in Köln (Art Cologne), 2009 in New York in der Claire Oliver Gallery, 2011 im MARTa Herford erneut gezeigt. 11 | In „Nazar“ ging Ekici 2005, bekleidet mit einem Kleid, das mit 600 der „Blauen Augen“ bestickt war durch die İstiklal Caddesi in Istanbul-Beyoğlu. Die Performance wurde 2007 in Berlin-Kreuzberg (Abwehr Festival) wiederholt. 12 | „Who Left What Behind“ fand vom 31.8. bis zum 14.9.2012 in Plewen/Bulgarien (Art Gallery Iliya Beshkov) statt. Ekici zeigte ihre Performance „On the way – Safety and Luck“. Weitere Stationen: 2011 3rd Thessaloniki Biennale of Contemorary Art, 2011 Künstlerinnenverband Bremen / GEDOK im Rahmen des 7. Bremer Kunstfrühlings. 13 | „Emotion in Motion“ wurde aufgeführt 2000 München, 2000 Basel, 2001 Dublin, 2002 Mailand (dieses Video ist im Istanbul Modern), 2003 Aleppo, 2005 Bern, 2006 Düsseldorf.
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(BILD-)MACHT, DISKURSIVITÄT UND MIGRATION
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Sabine Hess
HEGEMONIALE DISKURS-BILDER BRECHEN. EINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE KRITIK DER DOMINANTEN WISSENSPRODUKTION ZU MIGRATION
„Wer lernt hier auf wessen Kosten?“, fragte ein Flugblatt, mit dem Aktvisten/-innen von „bühnenwatch“ gegen das Ausstellungsprojekt von Brett Bailey „Exhibit B“ während des Performance- und Theaterfestivals „ForeignAffairs“ im Oktober 2012 in Berlin demonstrierten.1 Brett Baileys Kunstprojekt, das schwarze Körper als „lebende Exponate“, wie der Künstler betonte, in Kolonialismus-kritischer Absicht in einer dreiviertelstündigen Performance zur Schau stellte,2 ist nur eines von unzähligen Projekten in den letzten Jahren auf dem internationalen Kunst- und Kultursektor, welches starke Kontroversen um die Angemessenheit und die Effekte der Bilderproduktionen auslöste. Dabei machte Baileys Performance, die in mehreren Bildern mit schwarzen Darstellern/-innen aus Namibia und Berlin Episoden deutscher Kolonialverbrechen und aktueller Abschiebungen nachstellte,3 wieder einmal deutlich, dass der historische und gegenwärtige geopolitische Kontext von Kolonialismus und Rassismus immer mitspricht und Künstler/-innen, Performer/-innen und Zuschauer/ -innen spezifisch positioniert. So kritisiert dann auch die schwarze deutsche Historikerin Manuela Bauche in einem Zeitungsartikel Baileys Kunstprojekt vor allem mit dem Verweis auf die rassifizierend sozialisierende Wirkung der historischen „Völkerschauen“, die als ein populäres Genre und Medium um 1900 massiv zur Konstruktion eines „weißen Subjekts“ beigetragen haben: „Baileys Performance reproduziert die rassistische Zurschaustellung von schwarzen Menschen, wie sie im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts üblich war. Ein Bruch findet nicht statt.“4 Über die Genese und die Machtwirkungen des kolonialen Bild- und Blickregimes, und wie es nordeuropäische bürgerliche Kulturinstitutionen wie das Museum oder das Theater in ihren ganz grundlegenden Anordnungsweisen geprägt hat – also wer zum Objekt wurde und wer bis heute unmarkiert immer noch die Macht des Schauens und des damit einhergehenden Bewertens inne hat5 –, ist schon einiges geschrieben worden.6 Während
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die kritische Beschäftigung mit „Völkerkundemuseen“ und Ausstellungs- und Kunstprojekten, die Traditionen des Kolonialismus mehr oder weniger ungebrochen intentional oder auch nicht intentional reproduzieren, mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum eine post- beziehungsweise dekoloniale Museologie hervorgebracht hat, sind kritische Beiträge über die laufende Bilderproduktion zur und der Geschichte und Gegenwart der Migration bislang nur spärlich zu finden.7 Dabei ist das Thema der Migration ebenfalls seit einigen Jahren auf dem Kunst- und Kultursektor breit angekommen,8 und auch weniger experimentell agierende deutsche Kulturinstitutionen wie historische und Stadtmuseen wenden sich seit ein paar Jahren dem Themengebiet vor allem in temporären, meist sozialhistorisch angelegten Ausstellungsprojekten zu, wie sie in der letzten Zeit insbesondere zu den diversen Jubiläen der verschiedenen nationalen Anwerbeabkommen produziert worden sind.9 Während noch vor ein paar Jahren das Verschweigen der Einwanderungsrealität in den deutschen Kunst- und Kulturinstitutionen kritisch beklagt werden konnte, wäre jetzt manchmal zu fragen, ob nicht weniger Bilder mehr wären, denn auch hier lässt sich ein ungebrochener Umgang mit zentralen problematischen Narrativen und Ikonografien erkennen, die Migration und Einwanderung im Sinne eines kulturdifferenzialistischen Schemas als Problem, als das Andere zur nationalen, als sesshaft imaginierten Gesellschaft verhandeln und hierbei ebenfalls auf binäre rassifizierende Bedeutungskonstruktionen rekurrieren.10 Im Folgenden werde ich mich jedoch weniger mit konkreten Ausstellungsprojekten und ihren narrativen und objektzentrierten Darstellungsstrategien befassen, da dies andere Autoren/-innen in diesem Band detailreich analysieren.11 Vielmehr werde ich die Frage nach den dominanten Bilderregimen und Narrativen über Migration genereller als Frage nach den zugrundeliegenden Parametern und Konzepten der Wissensproduktion nachgehen, um das diskursive Tableau, die gesellschaftliche Matrix zu skizzieren, die die Hintergrundfolie unseres Tuns in den Kultur- und Kunstwissenschaften sowie auch in der angewandten Kunst- und Kulturpraxis darstellt. Ich werde versuchen, die gegenwärtig zentralen Diskursstrategien und hegemonialen Konzeptualisierungen darzustellen, wobei auf dem Gebiet der Migration eine auffallende Kongruenz der Konzeptualisierungs- und Thematisierungsweisen sowohl in den Wissenschaften als auch in der Politik und Öffentlichkeit festzustellen ist. In diesem Sinne haben Elçin Kürşat-Ahlers und Hans-Peter Waldhoff die deutsche Migrationsforschung allgemein als ein „an Pragmatik und Alltagsproblemen
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gefesseltes, vielfach politisch dominiertes Feld“ beurteilt.12 Dabei geht es mir auch um eine im Foucault’schen Sinne genealogische Perspektive, die nicht nur sensibel ist für historische Konjunkturen und Brüche von Diskursen, sondern die auch danach fragt, wann was durch welche Akteure problematisiert, das heißt zum Problem gemacht wird.13 Dies verstehe ich auch als selbstkritische, reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Epistemen und Ontologien der – weit gefasst – Kulturwissenschaften, die, ganz entgegen ihrem Selbstbild als marginalisierte Wissenschaft, den Horizont, oder im Foucault’schen Sinne das Wahrheitsregime und das Sagbare massiv in den letzten 30 Jahren mitgeprägt haben, wie hierzulande Migration gedacht, besprochen und bebildert wird. Im zweiten Abschnitt werde ich dann einen möglichen alternativen Ansatz vorstellen, den ich mit einigen anderen Wissenschaftlern/-innen und Künstlern/-innen in den letzten Jahren unter dem Begriff der „Perspektive der Migration“ in Forschungs- und Ausstellungsprojekten entwickelt habe.14 Dreieinhalb Diskurspositionen: zwischen Kulturalismus und Problemdarstellung Lässt man die Wissensproduktion zu Migration der neueren deutschen Einwanderungsgeschichte seit den 1950er-Jahren Revue passieren, lassen sich – abgesehen von offen rassistischdarwinistischen Diskurspositionen à la Thilo Sarrazin15 – dreieinhalb zentrale Perspektiven ausmachen, die ich hier kurz nennen werde, bevor ich sie in den nächsten Abschnitten detaillierter ausführe. Dabei lässt sich für alle generell konstatieren, dass sie überraschend kontinuierlich das Thema Migration und Einwanderung seit den frühen 1960er-Jahren konturiert haben, auch wenn sie konjunkturell in unterschiedlichen Gewichtungen und mit verschiedenen Konnotationen versehen auftraten: Als zentrale dominante Diskursposition wäre erstens die Perspektive zu nennen, die Migration als grundsätzlich erklärungsbedürftig und als Problem konzipiert. Diese diskursive Operation findet ihre Plausibilität vor dem Hintergrund eines methodologischen Nationalismus16, der für einen Naturalisierungsvorgang par excellence sorgt, sodass die „Nation“ nicht als gewaltvoll hergestelltes Konstrukt, sondern als homogener Kultur-Container vorgestellt wird. Zweitens geht es um Ansätze, die Migration vor allem als kulturelle Differenz-Erfahrung deuten und damit zu einer weitgehenden Kulturalisierung der Migration respektive zu einer „Desozialisierung des Sozialen“17 beitragen. Dies ist hierzulande an eine dominante ethnisierende Betrachtungsweise gekoppelt, die die Kulturwissenschaften lange Zeit selbst
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vehement betrieben haben. Wenn ich im Folgenden die weitgehende Kulturalisierung des Migrationsthemas kritisiere, dann tue ich dies nicht nur aus der Überzeugung, dass Migration ein zu komplexes soziales, politisches, ökonomisches und kulturelles Phänomen darstellt, als dass es mit dem Kulturbegriff hinreichend zu erörtern wäre. Vielmehr beziehe ich mich hierbei auch auf rassismustheoretische Arbeiten aus den 1980er- und 1990er-Jahren, die jedoch in den Migrationswissenschaften nur noch marginal rezipiert zu werden scheinen. Diese konstatierten einen Gestaltwandel des Rassismus als Reaktion auf die neue postkoloniale Weltordnung, die unter anderem durch die Massenmigrationsprozesse in die ehemaligen kolonialen Zentren charakterisiert ist. Dabei artikulierte sich der Rassismus gerade neu um die problematisierenden Diskurse um Migration und Einwanderung.18 „Rasse“ geriet hierbei als zentrale klassifizierende und hierarchisierende Zuschreibungskategorie in den Hintergrund und wurde ersetzt durch „Kultur“ als zentrale Abgrenzungsfolie, sodass auch von einem „kulturalistischen“ oder „differentialistischen Rassismus“ gesprochen wurde.19 Insofern ist die Dominanz des essentialisierenden Kulturbegriffs in der Migrationsdebatte, der Kultur nicht als historisch bedingt und veränderbar fasst, auch äußerst problematisch, da er ähnlich funktioniert wie ehedem „Rasse“ im kolonialen Rassismus, indem er Kultur naturalisiert, als „zweite Haut“, als „Schicksal“ betrachtet. Die gegenwärtigen Problematisierungen des Islams und die „Nichtintegrationsfähigkeit“ bzw. „-willigkeit“ insbesondere muslimischer Migranten20 stellen nicht nur eine Religiösisierung der Einwanderungsthematik dar, sondern forcieren die Koppelung zwischen Rassismus und Migrationsfragen in einem neuerlichen antimuslimischen Rassismus. Jene zwei bisher genannten Thematisierungsweisen und Konzeptualisierungen von Migration kulminieren drittens im „Integrationsparadigma“, welches einerseits in seiner sozialtechnologischen Ausrichtung – um die Ebene der Rechte und Partizipation gekappt – Migration und Anderssein fast ausschließlich als kulturelles und ökonomisches Problemfeld definiert und in einer restriktiven, sanktionierenden Politik des „Förderns und Forderns“ aufgeht.21 Dabei kann Karen Schönwälder in ihrer Rekonstruktion der deutschen Einwanderungsgeschichte nicht nur herausarbeiten, dass der Integrationsdiskurs bereits auf die frühen 1970er-Jahre zurückdatiert werden kann, wie wir es auch im Rahmen des forschenden Ausstellungsprojekts „Crossing Munich“22 zeigen konnten. Vielmehr demonstriert Schönwälder, dass bereits in den 1970er-Jahren der Integrationsdiskurs sich höchst ethnisiert artikulierte und Integration zu einem „Türkenproblem“ stilisiert wurde.23
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Abb. 1: Moritz van Gunsteren, Bilder-rauschen. 50 Jahre öffentlich-rechtliche Bilderproduktion, Video-Loop (2009) zu den dominanten Bildern und Sujets der Filmproduktion des Bayerischen Rundfunks zur Geschichte der Arbeitsmigration
Daneben gibt es jedoch eine weitere dreieinhalbte Perspektive, die kulturelle Differenz nicht länger als Defizit konzipiert, sondern als kreative, kulturell und sozial auszuschöpfende und ökonomisch auszunutzende Ressource. Diese positive Fassung, die vor allem in Großstädten zu finden ist, knüpft an die Politiken des Multikulturalismus der 1990er-Jahre an und radikalisiert sie in einem neoliberalen Sinne einerseits hinsichtlich eines Rückzugs der (Sozial-)Politik und andererseits hinsichtlich einer ökonomistischen Verwertungslogik ethnischer Ökonomien und „Enklaven“.24 Sie geht einher mit neuen Stadtmarketingkonzepten und kommunalen Standortpolitiken, die die urbane „Vielfalt“ und Hybridität inszenieren.25 Migration als Problem So lässt sich bei einem unsystematischen Rückblick auf die letzten 50 bis 60 Jahre neuerer Migrationsforschung und -debatten feststellen, dass die Forschung zunächst als „Gastarbeiter“ und dann mit der zunehmenden Faktizität des Aufenthalts der Arbeitsmigranten/-innen als „Ausländer-Problemforschung“ bezeichnet werden kann. Ein erster Forschungsüberblick aus dem Jahre 1987 übertitelt mit „Gastarbeiter-
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Abb. 2: Frau kickt Fußball im Park, München 1969, wahrscheinlich im Rahmen eines griechischen Osterfestes; eines von vier Werbeplakatmotiven des Ausstellungsprojekts Crossing Munich (2009), das sich dezidiert eine nicht-kulturalistische Bildästhetik gegeben hat
problematik und Migrationsforschung“ des Autorenduos Helga und Horst Reimann beschrieb den Gegenstand wie folgt: „Wanderungsbewegungen größten Ausmaßes, ausgelöst durch militärische Konflikte, durch politische Krisen, durch ökonomisches Gefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, sind weltweit eine Erscheinung, die die davon betroffenen Menschen, Völker, Kulturen in außerordentliche Bedrängnis bringen [...]. Die Problematik ist also allgegenwärtig [...].“26 Während anfangs noch zahlreiche Studien eine sozioökonomische Perspektive einnahmen und Unterschichtungsprozesse analysierten,27 fokussierten immer mehr Studien mit sich verstetigenden Aufenthalten soziokulturelle Problemlagen. Bereits Mitte der 1980erJahre sehen Reimanns dann „Fragen der Akkulturation, der kulturellen Identität und des Kulturpluralismus“ im „Mittelpunkt“ des Forschungsinteresses stehen. 28 Somit hegemonialisierte sich schon früh ein Defizitansatz und ein kulturalistischer Integrationsbegriff,29 dem zum einen bei der anfänglichen deutschen Rotationspolitik und späteren Zero-Einwanderungspolitik ein kontrollpolitischer Aspekt der „Immobilisierung“ und der „Begrenzung“ tief eingeschrieben war und der zum anderen sehr schnell um den Aspekt der rechtlichen Gleichstellung gekappt wurde.30 Stephan Lanz
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folgend lässt sich sagen, dass die Ausländer-Problem-Forschung dann auch früh daranging, den Bereich zu „pädagogisieren“ sowie „die Ausländer nach ihrer Bereitschaft und Fähigkeit zur Integration“ zu selektieren und sie zu „ausgeforschten Objekten“ zu verdinglichen.31 Integration auf ihre sozio-pädagogische und kulturalistische Seite reduziert, wurde dann auch mehrheitlich als individuell zu erbringende Leistung ausgelegt. Dabei variierten die dominanten Objektkonstruktionen des Problemdiskurses erheblich, wobei die Dominanz eines spezifischen ikonografischen Bildes nichts mit der immer vorhandenen Bandbreite unterschiedlichster Migrationsmotive, -wege und genutzter Einwanderungsformate zu tun hat: Während in den 1960er- und 1970er-Jahren der „ungezügelte Zuzug“ der „Gastarbeiter“ mit „weit reichenden Problemen“ massenmedial verkoppelt wurde und die „Belastungsgrenzen und die Grenzen der Integrationsfähigkeit“ ausgerufen wurden, waren die 1980er- und frühen 1990er-Jahre das Jahrzehnt des „Asyls“. Auch hier proklamierte der öffentliche Diskurs sehr bald, „das Boot“ sei „voll“, und beschwor in wilder Kriegsrhetorik und Wassermetaphorik einen „Ansturm“, eine „Überflutung“. Seit Mitte der 1990er-Jahre steht unter dem ordnungspolitischen Begriff des „Illegalen“ die neue Arbeitsmigration aus dem Osten und Süden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei wurden in den letzten zehn Jahren insbesondere die neuen Boatpeople aus Afrika ins Rampenlicht gezogen. Auch wenn mittlerweile ein Filmgenre entstanden ist, das im dokumentarischen Stil die Subsahara-Transit-Migration bebildert, bleibt das Leben der neuen Migranten/-innen an den Rändern Europas jedoch weitgehend dem öffentlichen Blickfeld entzogen oder flackert immer nur dann kurz auf, wenn Medien und humanistische Nichtregierungsorganisationen wieder Dutzende Ertrunkene beklagen. Seit Anfang des neuen Jahrtausends konzentriert sich die deutsche Debatte jedoch vor allem auf Migranten/-innen der zweiten und dritten Generation sowie auf den großstädtischen Raum. Hierzu beigetragen haben Ereignisse wie die brennenden Vorstädte Frankreichs, öffentlich gewordene Vorfälle an deutschen Schulen und natürlich der 11. September. Interessanterweise sind dabei beide Stränge der gegenwärtigen Migrationsdebatte – der außen- wie der innenpolitische – ähnlich diskursiv gerahmt, nämlich von einer zunehmenden „Versicherheitlichung“. Mit diesem Terminus wird in der internationalen Migrationspolitikforschung darauf hingewiesen, dass Migration zunehmend unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten verhandelt und in den Handlungsbereich von Sicherheitspolitike(r)n positioniert wird.
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Migrationswissenschaftlicher Kulturalismus Die kulturalistische Wende des Migrationsdiskurses datiert Frank-Olaf Ratdke32 bereits auf die 1970er-Jahre. Er meint einen Wechsel in der Semantik von der „staatsrechtlichen Kategorie des ‚Ausländers‘ auf den ethnologischen Blick des Fremden“ just in dem Moment zu erkennen, als die massenhafte Niederlassung der sogenannten „Gastarbeiter“ nicht mehr zu übersehen war und aus den Arbeitsmigrant/-innen Wohnbevölkerung wurde, mit dem Anspruch auf Bürgerrechte. Es sieht fast so aus, als wären sie zu nah gekommen, als hätten sie sich durch ihre Praktiken der Selbsteingliederung zu „De-facto-Citizens“ gemacht, sodass sie aufs Neue auf Abstand – und zwar auf einen essenziellen – gebracht werden mussten. In seiner historischen Aufarbeitung der Migrationswissenschaft spricht auch Stephan Lanz von einer Ablösung des „Defizitansatzes“ spätestens in den 1980er-Jahren durch den „Differenzansatz“, der von seinen Protagonisten zunächst durchaus als progressiver Gegenentwurf gegen die stark problemorientierte und pädagogisierende Forschungsrichtung des Defizitansatzes gedacht war.33 Im Folgenden gewann die Kategorie „Kultur“ – allerdings im Sinne eines ethnisierenden und statischen Kulturbegriffs – zunehmend an Oberhand in den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen um Migration.34 Die Popularisierung des differenzialistischen Ansatzes stand auch in enger Verbindung mit dem stärker werdenden Multikulturalismusdiskurs ab Mitte der 1980er-Jahre. Der aus Kanada oder Australien übernommene multikulturalistische Ansatz stellte dabei das erste Mal in der jüngeren deutschen Einwanderungsgeschichte eine Abkehr von der Homogenitätsmaxime staatlicher Politik dar, in dem er die „kulturelle Vielfalt“ positiv bewertete.35 Über die Pferdefüße des (deutschen) Multikulturalismus ist viel geschrieben worden. So hat er es nie geschafft, offizielle Regierungsdoktrin zu werden, wie in Kanada, und verblieb so weitgehend auf der Ebene eines kulturalistischen Anerkennungsdiskurses ohne rechtliche Gleichstellungsperspektive.36 Vor allem hat sich die allen Konzepten gemeinsame Vorrangstellung der ethnisch-kulturellen Betrachtungsweise von Migration als verhängnisvolle Zwangsjacke für Migranten/-innen erwiesen.37 Und dies lag insbesondere an dem im Multikulturalismus eingeschriebenen „hoch problematischen Verständnis von Kultur“, wie es Werner Schiffauer rückblickend selbstkritisch beschreibt.38 Das neuere praxeologische, kulturwissenschaftliche Kulturverständnis, welches Kultur als Praxis denkt und durch diese Perspektive nahezu ersetzt, scheint dabei zu sperrig zu sein, als dass es mit der
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gleichen Schnelligkeit in der öffentlichen Debatte aufgenommen wird wie ehemals der substanzialistische, statische Kulturbegriff, der dem Kulturbegriff des differenzialistischen Neorassismus so nahe ist. So wird die differenzkulturalistische Logik heute insbesondere durch die kontinuierlich dominante Verwendung des Ethnizitätskonzepts im Zusammenhang mit Migrationsthemen fortgeführt, wie es auch der Ethnologe Martin Sökefeld in seiner begriffstheoretischen und genealogischen Erörterung der zwei Konzepte – Kultur und Ethnizität – herausarbeitet.39 Sökefeld stellt nicht nur im Foucault’schen Sinne heraus, dass Begriffe konstitutiv für bestimmte Weltsichten wie auch für das Wissen schlechthin sind – nämlich dafür, was überhaupt gewusst werden kann. Zum anderen macht dieser Beitrag noch einmal deutlich, dass Begriffe als Teil von Diskursen als „epistemische Gewalt“ zu verstehen sind, wie es uns vor allem auch die postkoloniale Theorie gelehrt hat, da sie umreißen, was denkbar, sagbar, legitim ist und was nicht. In diesem Sinne sind sie alles andere als unschuldig oder zufällig, sondern sind als Machtpraxis zu verstehen. Dabei weist Sökefeld darauf hin, dass bei sozial- und kulturwissenschaftlichen Begriffen insbesondere durch ihre Alltagsnähe von einer „doppelten Hermeneutik“ (Anthony Giddens) zu sprechen ist, da Begriffe benutzt werden, um zu interpretieren, und sie gleichermaßen selbst Resultat von gesellschaftlichen Interpretationen sind.40 So zeichnet er noch einmal nach, wie die Konstruktion „der Anderen“ als „kulturell Andere“ das vorherrschende Verständnis von Deutschland als homogener Kulturnation widerspiegelt und wie das Narrativ der „Ethnizität“ das Narrativ der „Rasse“ hierzulande abgelöst hat.41 In diesem Sinne führt der derzeit viel kritisierte methodologische Nationalismus einen methodologischen Kulturalismus im Schlepptau, der nicht nur eine Zwangsjacke für Migranten/-innen darstellt, sondern die Komplexität des Themas „Migration“ ideologisch eng führt. So teile ich Kien Nghi Has Einschätzung, der in seinen kritischen Reflektionen der bundesdeutschen Migrationsforschung zu dem Schluss kommt: „Obwohl ein ausdifferenziertes Kulturverständnis unerlässlich ist, reicht das allein nicht aus, um die Kulturalisierung des Migrationsthemas zu überwinden. Solange Migrationsprozesse ausschließlich und hauptsächlich durch die Kulturbrille analysiert werden und soziale wie politische Fragestellungen vernachlässigt werden, solange geraten die Probleme gesellschaftlicher Ausgrenzung und sozioökonomischer Ausschließung nicht oder nur kulturalistisch in den Blick.“42 Trotz aller Kritik und Weiterentwicklungen von Kultur- und Identitätskonzepten sind der differenzialistische Kulturbegriff und die multikulturelle Aufwertung der
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Abb. 3: Ausstellungsansicht Crossing Munich (2009). Beide Arbeiten – „Kämpfe der Migration“ von Peter Spillmann und Simone Göke sowie „Munich-Central Station“ von Dörthe Bäumer und Simone Egger – haben aus der Perspektive der Migration Arbeits- und Wohnungsfragen aufgegriffen
Herkunftskulturen insbesondere in den Großstädten mittlerweile politikbestimmend. „Kulturindustrie“ und Kunstsektor haben die goutierbaren Häppchen eines bunten multikulturellen Stadtlebens längst für sich entdeckt. Selbst Stadtplaner und Politiker wissen 50 Jahre nach dem ersten Anwerbevertrag „Multikulti“ für ihr Stadtmarketing in Szene zu setzen.43 Migration als „kulturelle Vielfalt“, als „kulturelles Ambiente“ konzeptualisiert, gehört heute aufs Engste zu Vorstellungen von weltstädtischer Urbanität. Die neudeutsche Fassung der Diversitäts-Politiken führen diese Vorstellung und die Zentralstellung von Kultur- und Identitätsfragen genauso weiter, wie sie in Spaghetti-Metaphern weiter am Werk ist, mit der die gängige Transnationalismus-Forschung arbeitet. Auch viele der neueren Ausstellungen zu Migration – die meist Narrativierungen der „Gastarbeitsgeschichte“ darstellen – entsprechen den hier herausgearbeiteten Perspektivierungen: dem Problemdiskurs, der kulturalistischen Ethnisierung oder Nationalisierung und dem Integrationsparadigma. Die Explosion von Bildern, die mit der Musealisierung der Migration einhergeht, ist somit mit neuer Skepsis zu begegnen. Vor allem sind weiterhin die zentralen, aus der postkolonialen Beschäftigung erwachsenen Fragen immer wieder aufzuwerfen: Wer spricht hier wie über wen beziehungsweise über was? Aus der Perspektive der Migration Vor diesen Hintergründen plädiere ich für einen Abschied vom migrationswissenschaftlichen Kulturalismus und einer Hinwendung zu postpositivistischen, postethnisierenden, wissensreflexiven Ansätzen, die sich einer Perspektive der Migration verschreiben: Eine (Forschungs-)Haltung, die mit den gängigen dargestellten Diskursen und Bebilderungen der Migration bricht – also jenseits ethnischer, nationaler Zuschreibungen sowie jenseits des Herkunftstalks – und die stattdessen Migration als conditio humana, als eine totale soziale Tatsache und als gesellschaftsverändernde Kraft epistemologisch und methodologisch aufgreift. Dies habe ich zusammen mit Kollegen/-innen wie etwa Regina Römhild und Studierenden im Kontext von europäischen wie auch lokalen Forschungs- und Ausstellungsprojekten wie „TRANSIT MIGRATION“, „Crossing Munich“ oder „München Migrantisch“ unter dem Stichwort der „Perspektive der Migration“ zu skizzieren versucht. Die „Perspektive der Migration“ basiert dabei zentral auf der ethnografischen Einsicht von Netzwerk- und Transnationalismus-Forschungen, aber auch historisch-strukturell argumentierenden Arbeiten, dass sich Migration entgegen aller gängigen strukturalistischen Ansätze nicht auf- und abdrehen lässt wie Wasser am Wasserhahn. Vielmehr stellt sie eine 118
beharrliche Praxis und transformative Kraft dar, die sich in Netzwerken organisiert und hieraus ihre „kumulative Verursachungsdynamik“44 oder ihre „dynamischen Verstärkungseffekte“ erfährt, wie ich es auch bei den slowakischen Au-Pair-Migranten/ -innen aufzeigen konnte.45 Zum anderen beweist die Bewegung der Migration gegenüber allen Versuchen, sie zu stoppen, zu steuern oder von ihr zu profitieren, eine „gewisse Autonomie“. Migration im Sinne der These von der „Autonomie der Migration“46 zu fassen, bedeutet zunächst allen funktionalistischen oder strukturalistischen Erklärungsmodellen wie dem immer noch dominanten Push-and-Pull-Modell eine Absage zu erteilen und vielmehr die subjektiven und subjektivierenden Anteile und „Überschüsse“ herauszuarbeiten, ihre Motivationen, Ressourcen wie auch Behinderungen. Die These von der Autonomie der Migration plädiert jedoch in der Tradition des post-operaistischen Geschichtsverständnisses noch für einen weiterreichenden epistemologischen Blickwechsel: Sie fordert dazu auf, ausgehend von der „Kraft der Migration“ den geschichtlichen Verlauf (neu) zu denken. Sie verlässt damit radikal Top-Down-Konzepte, paternalistische und viktimisierende Diskurse und Bilder und versucht einmal – und wenn auch nur als Gedankenspiel – die Migration als wesentlichen Beweger der Geschichte einzusetzen. Dies bedeutet radikal, die bisherige Blickrichtung vom Kopf auf die Füße zu stellen.47 So fragt die „Autonomie der Migration“ etwa nicht, welche Migrationen durch die wirtschaftliche Nachfrage ausgelöst werden. Vielmehr geht es diesem Ansatz um die Perspektive der Taktiken und Schlichen der Mobilität, wie sie etwa in der frühen Landflucht als eine viel genutzte Exitstrategie aufscheint mit ihren Effekten auf die Prozesse der Verstädterung, der Proletarisierung, der kapitalistischen Industrialisierung und der Demokratisierung, denn schon damals ging es auch um die Frage: Wem gehört die Stadt?! Die Geschichte der Migration aus der Perspektive der Migration zu narrativieren und auszustellen bricht nicht nur mit den hegemonialem Bildregimen, sondern eröffnet den Blick auf eine noch nicht erzählte Geschichte von kleinen und größeren Versuchen der „Selbsteingliederung“, von organisierten und unorganisierten, spektakulären und unspektakulären alltäglichen Kämpfen und Niederlagen; sie wirft einen Blick auf Leiden und Freuden, auf Schliche, Taktiken und Strategien, sich in Almanya ein Leben zu organisieren.48 Dabei versucht die Perspektive der Migration einerseits den Standpunkt der Migration selbst einzunehmen und sie als eine zentrale, die gesamte Gesellschaft prägende und verändernde Dynamik darzustellen. Andererseits weiß die Perspektive der Migration aber auch darum, dass es ohne die diversen Politiken und Versuche, sie zu steuern, zu verwalten, zu vermessen, zu Sabine Hess | HEGEMONIALE DISKURS-BILDER BRECHEN
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bebildern und zu deuten, keine Migration gibt. Migration ist immer ein sozial hergestelltes und vermitteltes Verhältnis. Daher wurde für uns auch zunehmend wichtig, die Politiken und Wissensproduktionen selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und beide Seiten – die Politiken als auch die Bewegungen der Migration – als ein sich gegenseitig bedingendes Kräfteverhältnis zu lesen.49 Bei diesem Versuch muss das Rad nicht von Neuem erfunden werden, man kann vor allem auf postkoloniale, feministische, rassismustheoretische, aber auch neuere poststrukturalistisch inspirierte Ansätze zurückgreifen. Eine kritische Wissensproduktion zu Migration – sei sie akademisch institutionalisiert oder Kunst orientiert – geht jedoch über eine reine dekonstruktivistische Haltung hinaus; sie bricht nicht nur mit den dominanten Bildern, sondern versucht selbst, die unsichtbarsten Politiken des Alltags, des Widerstands wie des Entziehens und des Fliehens in eine neue Erzählung zu bringen und derartige Subjektpositionen, einen derartigen Protagonismus der Migration in multipositional situierte Sprecher/-innenpositionen zu bringen, denn so drückte es eine „Gastarbeiterin“ der ersten Stunde in einem Interviewgespräch aus: „Wir sind unter euch!“50 1 | http://buehnenwatch.com/tag/berliner-festpiele/ [Abruf 14.12.2012] 2 | http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1878258/ [Abruf 15.1.2013] 3 | Vgl. Isabell Pfaff: Weiße Blicke, in: analyse & kritik, Nr. 567, 19.10.2012, S. 21. 4 | Ebd. 5 | Vgl. u.a. Tony Bennett: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London 1995. 6 | Vgl. z.B. die Schriftenreihe „ausstellungstheorie & praxis“ der Gruppe „Schnittpunkt“ [online: http://www. schnitt.org/]. 7 | Vgl. Natalie Bayer: Über die Notwendigkeit selbst-bestimmter Bilderproduktionen der Migration, in: DOMiD (Hg.): Stand der Dinge – Sammlungen und Darstellungen der Migrationsgeschichte (Dokumentation des gleichnamigen Symposiums, 25.4.2012, Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln), Köln 2012, S. 53–56. 8 | Vgl. den Beitrag von Nana Heidenreich in diesem Band. 9 | http://www.museumsbund.de/de/fachgruppen_arbeitskreise/migration_ak/ [Abruf 15.1.2013]; s. kritisch dazu Natalie Bayer: Unter den Vitrinen, in: Hinterland, 2012, H. 21, S. 47–52 [online: http://www.hinterlandmagazin.de/pdf/21–47.pdf], oder Kerstin Pöhls: Zum Stand der Dinge. Migration im Museum, in: Natalie Bayer, Andrea Engl und Sabine Hess (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, Ausst.-Kat. Rathausgalerie der Landeshauptstadt München, München 2009, S. 94–98. 10 | Vgl. z.B. Margarete Jäger: Rassismus und Normalität im Alltagsdiskurs. Anmerkungen zu einem paradoxen Verhältnis, in: Anne Broden und Paul Mecheril (Hg.): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld 2010. 11 | Vgl. den Beitrag von Katrin Nahidi in diesem Band. 12 | Elçin Kürşat-Ahlers und Hans-Peter Waldhoff: Die langsame Wanderung. Wie Migrationstheoretiker der Vielfalt gelebter Migration nachwandern, in: Frank Gesemann (Hg.): Migration und Integration in Berlin, Opladen 2001, S. 31–62, hier S. 44; zit. nach Stephan Lanz: Berlin aufgemischt: abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt, Bielefeld 2007, S. 86. 13 | Reiner Keller: Michel Foucault, Konstanz 2008. 14 | Wie z.B. Projekt Migration, 2005 in Köln, initiiert durch die Kulturstiftung des Bundes, oder Crossing Munich, 2009 in München, initiiert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München, oder Movements
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of Migration, 2013 in Göttingen, in Kooperation mit dem Kunstverein Göttingen. Vgl. Sabine Hess und Andrea Engl: Aus der Perspektive der Migration ausstellen, in: Ausst.-Kat. München 2009 (wie Anm. 9), S. 10–16. 15 | Vgl. Sebastian Friedrich: Rassismus in der Leistungsgesellschaft: Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, Münster 2011. 16 | Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller: Methodological nationalism and beyond: nation-state building, migration and the social sciences [online: http://www.sscnet.ucla.edu/soc/faculty/wimmer/B52.pdf.]. 17 | Vgl. Eckhard J. Dietrich und Frank-Olaf Radtke: Der Beitrag der Wissenschaften zur Konstruktion ethnischer Minderheiten, in: Eckhard J. Dietrich und Frank-Olaf Radtke (Hg.): Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten, Opladen 1990, S. 11–40. 18 | Etwa Stuart Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument, Nr. 178, 31. Jg., 1992, S. 913–921; Etienne Balibar: Gibt es einen „neuen Rassismus“? in: Das Argument, Nr. 175, 31. Jg., 1989, S. 369–380; Jost Müller: Rassismus und die Fallstricke des gewöhnlichen Antirassismus, in: Redaktion diskus (Hg.): Die freundliche Zivilgesellschaft, Berlin/Amsterdam 1992, S. 25–44, oder auch John Solomos: Making Sense of Racism. Aktuelle Debatten und politische Realitäten, in: Alex Demirović und Manuela Bojadžijev (Hg.): Konjunkturen des Rassismus, Münster 2002, S. 157–162. Insbesondere Solomos stellt diesen Wandel in den Kontext von veränderten Konflikten und analysiert den Neorassismus als Antwort v.a. auf die Kämpfe der Migration. 19 | Nach Étienne Balibar spreche der Neorassismus vielmehr von der „Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen“ statt von einer naturgegebenen Hierarchie, die sich an „biologische[r] Vererbung“ festmache, vgl. Balibar 1989 (wie Anm. 18), S. 373. 20 | Dies zeigte beispielsweise die Debatte um die sogenannte „Muslimstudie“, die offiziell den Titel trägt „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland – ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland“ (2002) [online verfügbar unter: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2012/junge_muslime. pdf?blob=publicationFile (Abruf 14.12.2012)]. Googelt man die Studie, bekommt man Überschriften angeboten wie: „So radikal sind junge Muslime in Deutschland laut neuer Studie“ (Bild, 29.2.2012), oder: „Sind junge Muslime nicht integrationswillig“ (Focus, 1.3.2012), bzw.: „Es ist ein Ergebnis mit enormer Sprengkraft: Fast jeder zweite Muslim im Land, der keinen deutschen Pass besitzt, soll integrationsunwillig sein“ (Focus, 1.3.2012). 21 | Vgl. Sabine Hess, Jana Binder und Johannes Moser (Hg.): Nointegration. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009. 22 | Eva Bahl u.a.: Tulbeck 12. Das Münchner Migrationsregime: eine unendliche Geschichte von Autonomie und Kontrolle, in: Ausst.-Kat. München 2009 (wie Anm. 9), S. 60–66. 23 | Vgl. Karen Schönwälder: Migration und Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Öffentliche Debatten und politische Entscheidungen, in: Rosemarie Beier-de Haan (Hg.): Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005, Berlin/Wolfratshausen 2005, S. 106–119, hier S. 113. 24 | Heinz Fassmann: Zuwanderung und Segregation, in: Heinz Fassmann, Josef Kohlbacher und Ursula Reeger (Hg.): Zuwanderung und Segregation. Europäische Metropolen im Vergleich, Klagenfurt 2002, S. 20. 25 | Vgl. Mathias Rodatz: Produktive „Parallelgesellschaften“. Migration und Ordnung in der (neoliberalen) „Stadt der Vielfalt“, in: behemoth, Bd. 5, 2012, H. 1 [online:: http://www.behemoth-journal.de/current-issue/ mathias-rodatz/ (Abruf 15.12.2012)]. 26 | Helga Reimann und Horst Reimann: Gastarbeiterproblematik und Migrationsforschung, in: dies. (Hg.): Gastarbeiter, Opladen 1987, S. 1–21, hier S. 1. 27 | Z.B. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Gastarbeiterwanderung und soziale Spannungen, in: Reimann/ Reimann 1987 (wie Anm. 26), S. 46–66. 28 | Reimann/Reimann 1987 (wie Anm. 26), S. 8 f. 29 | Zu dieser defizitorientierten, kulturalistischen Perspektive hat die besondere Konzeptualisierung der Frauen in der Migration als „doppeltes Opfer“ – nämlich als Opfer patriarchaler Herkunftskulturen wie auch als Opfer des Migrationsprozesses – stark beigetragen, vgl. Helma Lutz: La femme perdue. Geschlecht im Migrationsprozess, in: Ausst.-Kat. München 2009 (wie Anm. 9), S. 156–161. 30 | Vgl. Sabine Hess und Johannes Moser: Jenseits der Integration. Kulturwissenschaftliche Betrachtungen einer Debatte, in: Hess/Binder/Moser 2009 (wie Anm. 21), S. 11–26, hier S. 14 ff. 31 | Vgl. Lanz 2007 (wie Anm. 12), S. 88.
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32 | Vgl. ebd., S. 87. 33 | Ebd. 34 | Vgl. u.a. Gisela Welz: Die soziale Organisation kultureller Unterschiede, in: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität, Frankfurt am Main 1994, S. 66–81. 35 | Vgl. Gisela Welz: Inszenierungen der Multikulturalität: Paraden und Festivals als Forschungsgegenstände, in: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder, Berlin 2007, S. 221–234. 36 | Ebd. 37 | Vgl. u.a. Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005. 38 | Werner Schiffauer: Migration und kulturelle Differenz. Studien für das Büro der Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin, Berlin 2003. 39 | Martin Sökefeld: Problematische Begriffe: „Ethnizität“, „Rasse“, „Kultur“, „Minderheit“, in: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Migration und Ethnizität, Berlin 2007, S. 31–50. 40 | Ebd., S. 37 f. 41 | Ebd., S. 47. 42 | Kien Nghi Ha: The White German’s Burden – Multikulturalismus und Migrationspolitik aus postkolonialer Perspektive, in: Hess/Binder/Moser 2009 (wie Anm. 21), S. 51–72, S. 56 f. 43 | Vgl. Lanz 2007 (wie Anm. 12), S. 223 ff., oder Regina Römhild und Sven Bergman (Hg.): Global Heimat, Frankfurt am Main 2003. 44 | Douglas Massey u.a.: Return to Aztlan. The Social Processes of international migration from Western Mexico, Berkeley/Los Angeles 1987. 45 | Vgl. Sabine Hess: Globalisierte Hausarbeit, Wiesbaden 2005. 46 | Vgl. Sandro Mezzadra: Lo sguardo dell’autonomia/Der Blick der Autonomie, in: Kölnischer Kunstverein u.a. (Hg.): Projekt Migration, Köln 2005, S. 26–29, 794–795; vgl. Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektive auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007. 47 | Vgl. Sabine Hess: Aus der Perspektive der Migration forschen, in: Sabine Hess und Maria Schwertl (Hg.): München migrantisch – migrantisches München, München 2010, S. 9–26. 48 | Vgl. Ausst.-Kat. München 2009 (wie Anm. 9). 49 | Vgl. Konzept der ethnografischen Grenzregimeanalyse der Forschungsgruppe Transit Migration, Transit Migration Forschungsgruppe 2007 (wie Anm. 45). 50 | Interview im Rahmen des gerade laufenden Ausstellungsprojekts „Movements of Migration. Zum Aufbau eines Wissensarchivs der Migration in Göttingen“, Ausstellungseröffnung März 2013, Kunstverein Göttingen.
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ZEITGEIST-IKONEN DER ILLEGALITÄT – MASSENMEDIALES PHÄNOMEN UND KÜNSTLERISCHE GEGENSTRATEGIEN
Die Thematisierung von Migration in der Kunst macht es zwingend, den dominanten Bilddiskurs der heutigen Medienwelt mit zu reflektieren. Unweigerlich tauchen die zahlreichen Pressefotografien von den übervollen Booten oder auch die mahnenden Grafiken europäischer Medien von der „Festung Europa“ im visuellen Gedächtnis auf. Ursache hierfür ist die permanente Wiederkehr ähnlicher Pressemotive von Menschenströmen, die wie eine Flut über Europa hereinbrechen. Spezifisches wird zum Allgemeingültigen verwässert und erzeugt so eine universelle Lesbarkeit dieser Bilder. In diesem Zusammenhang dringen andere Perspektiven nur schwer oder gar nicht ins Bewusstsein. Konkrete Beweggründe, wie etwa machtpolitische oder ökonomische Interessen, werden gezielt ausgeblendet. In der Folge gelten die Bilder als wahr, sedimentieren im Bewusstsein und begleiten die Auseinandersetzung der Kunst mit Migration.1 Sind Bilder im Allgemeinen auf eine sehr komplexe Weise lesbar, so wird dieses Potenzial ganz bewusst durch Worte und Texte, etwa Presseberichte, Bildunterschriften und auch Schlagzeilen, auf eine spezifische Sinnebene hin fokussiert. Diese Strategie generiert das so kalkulierte Wissen mit spezifischen Effekten.2 Hier stellt sich nun unmittelbar die Frage, ob nicht durch eine veränderte Kontextualisierung Bilder einer neuen Bedeutung zugeführt werden können. Im Folgenden werden einzelne Beispiele aus der Kunst diskutiert, die sich dem herrschenden Bilddiskurs entgegenstellen wollen. Ist der Verzicht auf Körperbilder von Migrantinnen und Migranten eine Alternative, und welche Möglichkeiten ergeben sich durch andere Medien der visuellen Repräsentation? So bieten etwa textile Materialien in ihrer Eigenschaft als Substitut des menschlichen Körpers andere Repräsentationskonzepte an.
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Die Herstellung illegaler Migration Migration von Menschen hat es im Laufe der Geschichte aus ähnlichen Gründen immer wieder gegeben: Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung, ja um das eigene Leben zu retten, verließen viele, nicht zuletzt auch Deutsche während des Zweiten Weltkriegs und danach, ihre Heimatländer. Sie als eine gesonderte Gruppe in Erscheinung treten zu lassen, ist das Resultat von Bildern. Werden diese Ereignisse aus europäischer Perspektive als bittere Schicksale erinnert und in eine je nach Staat gemeinsame nationale Erfahrung integriert,3 zielen Pressemitteilungen etwa seit den 1970er-Jahren darauf, unerwünschte Einwanderer als illegal abzuwehren. Die Text-Bild-Collagen von der anonymen Horde oder von einzelnen aufgegriffenen Flüchtlingen, die bald hier und bald dort an den Grenzen einfallen, vermitteln Botschaften der Bedrohung, wodurch sie diffuse Ängste vor Überbevölkerung, Völkervermischung und darauffolgender Auslöschung nationaler Identitäten schüren. So werden die Immigrantinnen und Immigranten zwar hochgradig sichtbar, jedoch bleiben ihre Persönlichkeiten samt den Wünschen, Träumen und Beweggründen unbekannt.4 Der US-amerikanische Kunsthistoriker W. J. T. Mitchell erkennt die enorme Bedeutung des Visuellen in der Herstellung von Illegalität gerade im Kontext von Immigration. Zur Steuerung von Wanderungsbewegungen und gezielter Verfolgung wirtschaftlicher sowie politischer Interessen wird diesem noch abstrakten Phänomen durch eine gezielte Bildauswahl ein tendenziöses Image verliehen. Die hierdurch ausgelösten Emotionen inszenieren es zu einem Politikum, in dessen Folge öffentliche Diskussionen um eine vermeintliche Gefährdung ausgelöst werden, um dann wiederum durch den Beschluss von Gesetzen zu beruhigen. Der Status der Illegalität ist keinesfalls natürlich gegeben, sondern durch Gesetze und Diskurse in Bild und Wort geschaffen. Die stete Performanz dieser Bildbotschaften schält nach und nach aus dem allgemeinen Gesellschaftsbild die Gruppe der unerwünschten Migrantinnen und Migranten heraus und erzeugt so in der Öffentlichkeit den illegalen Flüchtling. Was sich gemeinhin als Dokumentation von Tatsachen gut verkauft, ist im Grunde nichts anderes als die Produktion einer spezifischen Ikonografie illegaler Einwanderung. Schließlich verankern sich Vorstellungen von der den Wohlstand gefährdenden, ja kriminellen Masse an Flüchtlingen im öffentlichen Bewusstsein und verfestigen sich so zu Ikonen der Illegalität.5 Sie schaffen eine öffentliche Akzeptanz, unerwünschte Einwanderer jederzeit auch wieder abschieben zu können. Die so erzeugten Zeitgeist-
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Ikonen generieren im Grunde erst die „imagined communities“6, da sie zeigen, wo die Staatengrenzen verlaufen und somit Menschen als Gast, Nicht-Bürger oder auch Außerstaatliche ausweisen.7 1999 machte die Bonner Ausstellung „Bilder, die lügen“ im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf diese Strategien aufmerksam. Am Beispiel eines Fotos über Asylsuchende vor einer Antragstelle in Berlin-Tiergarten zeigte sie die gezielt vorgenommene Manipulation von Bildinhalten durch Einfügen zweier Soldaten, die Veränderung des Hintergrundes sowie das Wegretuschieren von Autos. Das Foto einer auf ein Tor hin drängenden Menschenschlange – nichts Ungewöhnliches in der „Eventgesellschaft“ – transformiert unter Beigabe der Titelschlagzeile „Asyl. Die Politiker versagen“ zum Ansturm einer aus den Wäldern einfallenden bedrohlichen Menschenmenge, die den Einsatz von Sicherheitskräften notwendig erscheinen lässt. Durch die Bildmanipulation wird die Antragsstelle für Asylsuchende mitten in Berlin zu einer Außengrenze – einem Ort, an dem entschieden wird, wer Bürger und damit Rechtssubjekt sein darf und wer nicht. Der „Fake“ erweist sich also als geschickte Inszenierung, um die angebliche Bedrohung durch den Einfall chaotischer, um Asyl bittender Massen plausibel zu machen.8 Wie stark diese Ikonografie im öffentlichen Bewusstsein verankert ist, zeigt die jüngst in dritter Auflage erschienene Enzyklopädie zur Geschichte der Migration in Europa (Abb. 1).9 Auf dem Titelbild steuern zahllose Männer, Frauen und Kinder, gerade mit dem nötigsten bepackt, direkt auf die Betrachtenden zu und drohen sie zu überrennen. Es handelt sich um albanische Flüchtlinge aus Prizren (Kosovo), die 1999 den albanischen Grenzübergang in Morina erreichen. Gleich einem visuellen Kurzschluss wird das Thema Migration unhinterfragt mit der heutigen Ikonografie zusammengebracht, als spiegele sie das Phänomen ganz selbstverständlich und wahrheitsgetreu wieder. Die staubige, bunt gemischte und an Secondhand-Ware erinnernde Kleidung überzeugt sofort, mittellose Auswanderer vor sich zu haben, und zwar aufgrund der ihnen vorgängigen Pressebilder von illegalen Flüchtlingen.10 Beachtenswert ist aber auch, dass diese Bilder unausgesprochen ihr Gegenteil mitproduzieren. So erzeugen die Ikonen der Illegalität latent Vorstellungen von einer legalen Person. Allein die Idee von einem Rechtssubjekt samt seinen Verantwortlichkeiten und Handlungsspielräumen ist zu abstrakt – es braucht Bilder, um Visionen entstehen zu lassen. Wird das Fremde kriminalisiert, entsteht in der binären symbolischen Ordnung europäischer Gesellschaften sofort auch eine Vision von dem, was
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Abb. 1: Titelbild aus: Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer u.a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. München 2010
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unter Legalität zu verstehen ist.11 Bezogen auf die Zeitgeist-Ikonen des Illegalen werden unterschwellig die Bilder der Haute Couture der Wohlstandsgesellschaft aufgerufen: gestylter Individualismus mit weißer Weste. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob das Coverbild der Enzyklopädie nicht erneut Reinheitsfantasien eines europäischen Bürgertums bedient, das Ruhe und Ordnung durch die Abwehr von allem lärmenden und unregelmäßigen Bunten herstellt.12 Gegenbilder Eine naheliegende Konsequenz den Re-Inszenierungen diskriminierender Stereotypisierungen zu entgehen wäre, Körperbilder in den Repräsentationen stark zu reduzieren beziehungsweise ganz auf sie zu verzichten. Diese Strategie verfolgte die Künstlerin und Kuratorin Ursula Biemann, die sich in ihren Arbeiten immer wieder mit Prozessen der Migration und ihren Akteurinnen und Akteuren befasst. Ihre Videos und Ausstellungskonzepte demontieren die Folgen des globalisierten Kapitalismus und wollen so auch kritisch in die dominante Bildpolitik eingreifen. In ihrem über zwei Jahre angelegten Kunst- und Forschungsprojekt „The Maghreb-Connection“ von 2006 stellte Biemann ihrem umfangreichen und ausführlich analysierenden Text über Migrationsräume in Nordafrika viele Luftaufnahmen von Überwachungskameras der marokkanischen Polizei zur Kontrolle von Migrationsbewegungen und unerlaubten Grenzübertritten zur Seite. In der Nahaufnahme lässt die Künstlerin die menschlichen Silhouetten in der Bewegung oft verschwimmen, so als wolle sie nichts zu erkennen geben. Aus der Vogelperspektive sind Landschaftsbilder des Wüstengebietes im Fadenkreuz zu sehen. Unter dem kontrollierenden Satellitenblick wird der Mensch verschwindend klein und geht wieder in der anonymen, flüchtenden Masse auf – jener Metapher von den übervollen Booten nicht unähnlich. Aufnahmen des Verdunkelns, der fliehenden Schatten erzeugen im Visuellen eine Aura des Kriminellen und reproduzieren so die Gruppe der Illegalen erneut.13 Textile Spuren der Migration Im Folgenden soll nun der Blick auf künstlerische Arbeiten gelenkt werden, die mit dem eher randständigen Medium des Textilen arbeiten. Sowohl das Material selbst als auch seine Repräsentation im Bild lenken den Blick vom Körper weg auf seine Umhüllungen oder nehmen eine verweisende Position ein. Als Projektionsflächen und Erinnerungsträger vermögen Tücher metaphorische Bilder bei den Rezipierenden
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und auch multiperspektivische Ansichten von den abwesenden Menschen hervorrufen. Die Verantwortung, wie etwas zu sehen ist, fällt auf das Publikum zurück. Durch das Fehlen eines verbindlichen Köperbildes kann die Wahrnehmung auf eine Person oder Personengruppe flexibel bleiben, muss deswegen jedoch nicht unspezifisch werden. Die Montage mit anderen Objekten gibt dem Reflexionsraum einen Rahmen, über konventionelle Körperbilder und ihre Modifikationen nachzudenken. Die Materialität der Stoffe, ihre Form, Musterung und Farben vermitteln andere Inhalte der Mentalitäten, Gefühle und Erinnerungen als populistische Pressefotografien und Überwachungskameras.14 Einfühlsame Beispiele gibt die niederländische Künstlerin Judith Quax mit ihrer für die Dak’art. Biennale Dakar 2008 gefertigten Fotoserie „Heimliche Immigration“, die 2009 auch in den ifa-Galerien in Berlin und Stuttgart zu sehen war (Abb. 2). Sie „gewährt Einblicke in das Leben von Menschen, deren Gesichter wir zwar nicht zu sehen bekommen, deren Spuren jedoch deutlich zu uns sprechen. Die Leere der Räume ist greifbar und wird zum Sinnbild schmerzlicher Abwesenheit“.15 Den jungen Männern, denen diese Fotografien gewidmet sind, leben zum Teil nicht mehr. Einige erreichten Europa, andere starben in einem der zahlreichen kleinen Ruderboote. Sensibel kehrt die Künstlerin die Perspektive um und reiste in den Senegal, wo sie Familienangehörige der Flüchtlinge in ihren Wohnungen aufsuchte. Während sie die ehemaligen Zimmer der jungen Männer fotografierte, ließ sie sich deren persönliche Geschichten erzählen und gab diese später in Textform den Ausstellungsbildern bei. Der Blick verfängt sich im weißen, nebulös vor dem lichterfüllten Fenster im Wind wehenden Vorhang in Ibous Zimmer. Die Betrachtenden finden sich unversehens in seiner Position wieder, wie er möglicherweise am Fenster stand und von einer besseren Zukunft träumte oder vielleicht mit gemischten Gefühlen hinaus auf die ihm vertrauten Straßenecken und Menschen blickte, die er für lange Zeit verlassen oder auch nie wieder sehen würde. Der raumgreifende, geisterhaft flatternde Gardinenstoff bietet genügend Platz für Illusionen, Träumereien und Visionen. Ibou Thiam war arbeitslos geworden. Er verließ Frau und Kinder, die er in die Obhut seiner Verwandtschaft gab, um in Europa Geld zu verdienen. Doch bis heute sei keine Nachricht von ihm eingetroffen, so der Vater.16 Die weißen Vorhänge schieben sich als transparenter Schleier vor das blendende Licht – Metapher für eine ungewisse Zukunft, die nicht nur in die weiße Welt Europas, sondern auch in den Tod führen kann. Nicht der überwachende Blick auf die Fliehenden steht zur Diskussion, sondern ein
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Abb. 2: Judith Quax, Ibous Zimmer, 2007, Farbfotografie aus der Fotoserie „Heimliche Immigration“, 125 x 125 cm
einfühlsamer, an das Vorstellungsvermögen appellierender Perspektivwechsel, indem der Standpunkt eines einzelnen Migranten einzunehmen ist. So kann die mögliche Bandbreite eines Lebens vorstellbar werden, ohne durch fixierende Körperstereotypen in ein anderes, interessengeleitetes Fahrwasser zu gleiten. In der Arbeit „Ibous Zimmer“ weitet die Abwesenheit des männlichen Körperbildes auf der ästhetischen Ebene den Rahmen über die Bildergrenzen hinaus, sich ein Bild zu machen. Der unbewohnte Raum birgt noch leise Spuren als Anhaltspunkte zum Nachdenken. In der weißen Gardine spitzt sich metaphorisch der Blickwechsel zu, bietet sie doch eine ästhetische Projektionsfläche, vergleichbar mit dem weißen Papier für geschriebene
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Lebensgeschichten einer Reise mit ungewissem Ausgang. In Berlin antwortet diese Bild-Text-Collage auf die dokumentarische Ästhetik der Flüchtlingsbilder in der europäischen Presse, indem sie der künstlich produzierten Bedrohung und Abwehr mit Anteilnahme begegnet. Die spärliche Einrichtung und jede leere Ecke konfrontieren die übervollen und teuer gestylten Räume in Europa. Neben alternativen Textinformationen, wie sie ja auch Biemann vorschlug, vermögen darüber hinaus die feinsinnig konzipierten, Empathie erzeugenden Fotografien von Judith Quax auch auf visueller Ebene dem Phantom der Illegalität ein großes Fragezeichen anhängen. Sublime Effekte als Katalysator zur Erzeugung von Betroffenheit und Anteilnahme nutzte Judith Quax auch in einer weiteren Fotoserie. „Clothing“ von 2008 zeigt „das Drama eines Kontinents, dem seine Jugend davonschwimmt, getrieben von einer ,falschen Sehnsucht‘.“17 Statt der Körper finden sich nur die Kleider am Küstenufer. Schwer drückt der nasse Sand die Stoffe nieder, begräbt sie unter sich, sodass sie langsam Ruhe finden im ständigen Auf und Ab der Wellen, die einst auch das Flüchtlingsboot schaukelten. Diese Fotos vermeiden den spektakulären direkten Blick auf verletzte oder gar getötete Körper. Stellvertretend mahnen die angespülten Kleidungsstücke an das geschehene Unglück, an die Gefahren heutiger Immigration. Auch hier verkehrt Judith Quax die Perspektive: Bedroht sind nur die fliehenden Menschen, sei es durch ihre Herkunftsländer oder den Zielen ihrer Destination – Staaten, die ihnen die Einreise verweigern und sie dadurch auf gefährliche Reisen mit ungewissem Ausgang schicken.18 „Emotionale Speicher“19 Wird die sublime Leerstelle in Textilien nicht im Foto, sondern durch das Medium selbst inszeniert, tritt das haptische Moment der Spur stärker hervor. Abgelegte Kleidung oder Decken rahmen auch hier das Bild vom Menschen und modellieren gleichzeitig seine Abwesenheit, um einen Imaginationsraum für Kreativität entstehen zu lassen. Aus dem textilen Medium heraus erwächst ein Gegenüber, das die Betrachtenden näher auf Tuchfühlung gehen lässt, als es Fotografien von Kleidungen vermögen. In den textilen Spuren können Personenbilder nicht nur in der Betrachtung, sondern auch in der Interaktion reifen. Irene Below spricht von einem „emotionalen Speicher“, der durch das Zusammenwirken von Erfühlen, haptischem Begreifen, Erinnern und Reflektieren aktiviert wird. So legen getragene Kleider als Erinnerungsspeicher die Spur zurück in die Vergangenheit, um von dort aus inspirierend auf die kreative Imaginationsarbeit der Rezipierenden zu wirken.20
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Abb. 3: Gülsün Karamustafa, Mystic Transport, 1992, Eisenkörbe und Decken, Installation auf der Istanbul Biennale, 1992
Zwanzig fahrbare Gitterkörbe mit farbigen Steppdecken, jeweils eine pro Korb, stellte Gülsün Karamustafa in ihrer Installation „Mystic Transport“ auf der Istanbul Biennale 1992 in den Raum (Abb. 3). Die Besucherinnen und Besucher waren nun aufgefordert die Behälter herumzuschieben und dafür eng an sie heranzutreten. Auf recht spielerische Weise konnten sich so Assoziationen mit Strukturen aktueller Migrationsprozesse einstellen, die damals insbesondere von dem noch nicht lange zurückliegenden Zusammenbruch der Sowjetunion und den darauffolgenden Wanderbewegungen aus den osteuropäischen Ländern geprägt waren, aber generell auch von wirtschaftlichen Transaktionen und Binnenmigrationen, die in der Türkei auch schon vordem stattfanden. Die willkürlich verschiebbaren Bettdecken sprechen metaphorisch von notwendigen oder auch aufgezwungenen Ortswechseln. Sie geben vorübergehend Schutz, ein Versteck zum Verkriechen, der Privatheit, Intimität und Wärme. Nun, in den Körben zurückgelassen, erinnern sie an mögliche Situationen des Unterwegsseins, die in der Interaktion mit dem Kunstpublikum an Gefühle von Heimweh, Trauer, aber auch an Aufbruchstimmung, erwartungsvoll dem Ungewissen
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entgegengehen, zu rühren vermögen. Das Wort ‚mystisch‘ im Titel verrätselt diese Vorgänge, will nicht einen konkreten Vorgang hervorheben, sondern umfassend verschiedene Formen der Wanderungsbewegungen bündeln. Diese relativ unspezifische Ästhetik gibt der Arbeit Gültigkeit bis heute. Unter Verzicht diskriminierender Stereotypisierungen, wie sie die öffentlichen Medien propagieren, erinnert sie doch ganz allgemein an die Entfremdung im nomadischen Getriebensein der Arbeitswelt, an das Unbehaustsein von Flüchtlingen, deren Einschränkungen und Gefühle des Ausgeliefertseins. All diese Phänomene finden sich auch in der Zirkulation von Webwaren und Menschen im Kreislauf von Textilproduktion, Handel, Konsum und Entsorgung der Kleidung in Dritte-Welt-Länder. Die Installation bietet ästhetisch mögliche Anknüpfungspunkte für Fragestellungen, die letztlich jeder für sich selbst beantworten muss. Es erfolgt keine Manipulation, weder durch konkrete noch verschwommene Personenbilder. Stattdessen werden direkt die mentalen, durchaus auch schon vorbelasteten Bilder in Anspruch genommen und in der sich daraus ergebenden Vielstimmigkeit von Möglichkeiten gleich zur Disposition gestellt.21 Die in Uganda geborene und derzeit in Wien arbeitende Künstlerin Agnes Achola figuriert aus den textilen Spuren der Migration erneut eine „menschliche Form“22 und gibt so auf berührende Weise eine etwas andere Vorstellung dieser Prozesse zu sehen (Abb. 4). Die Puppe ist aus bunten Fetzen von Secondhand-Kleidern gefertigt. Aus dem auffällig dunkel gehaltenen, aus schwarzen Stoffen zusammengeflickten Kopf glühen rot die Augen hervor – drei übereinandergelegte Chilischoten, die Energie versprühen. In mehreren Lagen bedecken die Lumpenteile ein Geflecht aus Eisendraht. Darunter ist die Figur hohl: „Der innere Raum hat keine Form. Er ist intensiv lebendig. Man kann ihn auch Stille nennen. Dieser ‚hohle Raum‘ ist das Leben in seiner Fülle, die unoffenbarte Quelle, aus dem alle Offenbarung fließt.“23 Mit der sublimen Rhetorik nimmt Agnes Achola die Spur zu den Effekten der Migrationsprozesse auf, die aus der lebensgroßen Figur sprechen. Das textile Flechtwerk mahnt an westliche Wohltätigkeit gegenüber Ländern, die durch eben diesen Westen erst hilfsbedürftig gemacht wurden und noch hilfsbedürftig gemacht werden. So dürfte es auch in Europa inzwischen allgemein bekannt sein, dass der Import von Secondhand-Kleidung in die Länder Afrikas die heimische Textilproduktion massiv schädigt und zu großer Arbeitslosigkeit führt.24 In Uganda befindet sich der größte Secondhand-Markt in Kampala, dem Geburtsort der Künstlerin. Die verbrauchten zurückgelassenen Kleidungsstücke erinnern Achola an jenen Ort, an ihr Leben und das a Abb. 4: Agnes Achola, Leftover, 2010, Maschendraht und Textilien, Höhe: 150 cm, Ausstellung „Fluchtlinien. Kunst und Trauma“ in der Alten Schieberkammer Wien im Rahmen des Festivals SOHO IN OTTAKRING 2012
Abb. 5: Gülsün Karamustafa, Courier, synthetische Baumwolle und verschiedene Objekte, 1991, Istanbul Biennale 1992
anderer Afrikanerinnen und Afrikaner auch in Österreich oder Deutschland. „Leftovers“ – aus diesen Spuren entsteht ein neues Menschenbild der Migration. In seinem Werkstoff ist die Herrschaftsgeschichte der ökonomischen Austauschprozesse eingespeichert und erfüllt die Figur mit Leben. Das textile Material korrespondiert mit dem hohlen Inneren über die Imaginationsräume, in denen unterschiedliche Analogieschlüsse zu einem rhizomatischen Gedankengeflecht gebündelt werden können. In der koboldhaften Puppe manifestieren sich diffuse Ängste angesichts des Fremden, aber auch seine Stärke, dem Gewohnten zu trotzen. Schließlich weicht die Bedrohung aus dem weich gefiederten Körper, wenn die Figur als Gegenüber mit geöffneten Armen auf Umarmung wartet, um in Zukunft Beziehungen einzugehen – ein Appell für Anerkennung und Legitimation. Gänzlich verschwunden sind die Bedrohungsfantasien aus einer weiteren, von Gülsün Karamustafa auf der Istanbul Biennale gezeigten Arbeit (Abb. 5). Aus synthetischer Baumwolle gefertigte weiße Kinderwesten schweben an unsichtbaren Fäden aufgehängt über den Fußboden der Galerie. In den Stoff eingenäht und so für andere nicht sichtbar sind persönliche Wertgegenstände, die den Stoff einer Steppjacke gleich aufblähen. Die intimen Habseligkeiten erzeugen Wärme, Schutz vor Entfrem-
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dung und Verunsicherung, indem sie an daheim, an vergangene Zeiten erinnern. Während der Migration bilden sie ein Stück Behausung. Für Karamustafa sind die auf zerbrechliche Kinderkörper verweisenden Westen eine geeignete Metapher ihrer eigenen Familiengeschichte der unterschiedlichen Wanderungen über die Generationen hinweg. „Eine dieser Emigrationserzählungen berührte mich besonders. Um die Grenze passieren zu können, versteckten die Migranten ihre wertvollste Habe in den Westen der Kinder.“25 Der beleuchtete weiße Baumwollstoff strahlt klar, fast schon ein wenig ätherisch im Ausstellungsraum, bereinigt vom Schmutz, der dem Bilddiskurs heutzutage anhaftet, wenn Migrantinnen und Migranten als Illegale de-klassifiziert werden. Die Vergangenheit ist in den über den Galerieboden schwebenden weißen Westen eingeschlossen und beschützt – Innenfutter der Seele. In dieser Arbeit wird die Funktion von textilem Material als emotionaler Speicher besonders deutlich. Er erzählt weniger von dem, was war, sondern konstituiert migrantische Subjekte durch die Anerkennung ihrer eigenen Geschichten, die in den Presselandschaften eingestampft werden. Nicht zuletzt leiten die weißen Kinderwesten europäisch-christliche Vorstellungen von Unschuld und Verletzbarkeit. So wecken sie beim Publikum eher das Bedürfnis, Schutz zu geben und damit ein grundlegend anderes Gefühl statt der im Kontext von Migration üblicherweise erzeugten Bedrohung. Die haptische Qualität appelliert an ein emphatisches Sehen, neue Formen der Sensibilität in Migrationsdarstellungen zu integrieren. Als Letztes soll nun am Beispiel weißer Hochzeitskleider und ihrer Re-Inszenierung im Foto aufgezeigt werden, wie deren symbolisch hochgradig aufgeladene Semantik der Geschlechterdifferenz und religiösen Normierung in eine etwas andere Bedeutung verschoben werden kann. Weiße Hochzeitskleider vermitteln im christlichen Europa ein Bild der positiven Eingliederung, von Normalität und Ordnung, die auch heute noch an patriarchale, christlich geprägte Weiblichkeitsvorstellungen gebunden sind, auch wenn inzwischen viele Paare eine andere Wirklichkeit leben. Immer noch erfreut sich das weiße Festkleid bei Eheschließungen großer Beliebtheit und ist der Höhepunkt jeder Modenschau, weil es den festlichen Rahmen adelt. Und so darf dann auch nicht das obligatorische Hochzeitsfoto fehlen, das idealtypisch die Braut in Weiß immer etwas kleiner als den Ehemann an ihrer Seite zeigt. Diese Pose reproduziert, was auch die Semantik weißer Brautkleidung benennt: die Unterwerfung der Frau unter den Willen (früher: das Gesetz) des Mannes.26 Das fleckenlose
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weiße Textil mahnt noch heute an Reinheit, Unberührtheit und im übertragenen Sinn an Jungfräulichkeit, auch wenn inzwischen in weiten Teilen Europas die Sitten längst gelockert worden sind. Es lässt sich feststellen, dass seine Beliebtheit über kulturelle und lebensanschauliche Grenzen hinweg zugenommen hat: „Das weiße europäische Brautkleid hat offenbar wie der Weihnachtsmann und der Tannenbaum seinen Siegeszug durch die globale Welt angetreten“, so Irene Below.27 Diffundieren mit ihm auch europäische Werte zur Definition und Beschränkung von Weiblichkeit, die aber durch das markante europäische Kleidungsstück an Vorstellungen von Fortschrittlichkeit gebunden sind und deswegen so attraktiv für andere Kulturen erscheinen, weil sie so am begehrten westlichen Lebensstil partizipieren? Die in Bielefeld lebende Künstlerin Maria Otte bricht diesen Kanon durch eine geschickte Re-Inszenierung des Kleidungsstücks in ihrer Fotoserie „Wege der Liebe – der Liebe wegen“ auf. Sie bat aus unterschiedlichen Herkunftsländern nach Deutschland eingewanderte Frauen darum, ein Stück ihrer Lebensgeschichte zu erinnern. Dies sollte eben nicht über das Anschauen eines Fotoalbums, sondern auf Tuchfühlung mit ihren jeweiligen Brautkleidern geschehen. Viele Frauen ließen hier ihre persönliche Auswanderungsgeschichte einfließen. Die erneute Berührung nach langer Zeit aktivierte den emotionalen Speicher, und es tauchten in der Erinnerung nicht nur Bilder, sondern auch vergangene Empfindungen und spezifische Verhaltensweisen auf. Aus dieser Situation heraus konzipierte Maria Otte ein neues Foto mit Brautkleid, dem die erinnerten Lebensgeschichten als Text beigegeben wurden.28 Eine der Teilnehmerinnen war Pinar Polat, die sich in ihrem Brautkleid mit ihrer kleinen Tochter fotografieren ließ (Abb. 6). Die Tochter trägt ebenfalls ein langes weißes Kleid. Selbstbewusst steht das Mädchen auf dem Sofa, wodurch sie die sitzende Mutter überragt. Mit ernster Miene weitet sie den weißen Tüll des angenähten Rocks, unter dem ihre Beine mit Jogginghose und Hausschuhen sichtbar werden. Diese Geste lenkt die Aufmerksamkeit auf das Gewand und lässt vermuten, dass auch die Tochter einfach nur den mit dem weißen Festkleid verbundenen Traum, „einmal eine Prinzessin zu sein“, genießt, wie einst ihre Mutter, was uns der Text verrät. Persönliche Gefühle und Gedanken verdrängen die ursprüngliche Bedeutung des weißen Brautkleids. Die selbstsicheren Posen korrespondieren mit der weiblichen Generationsfolge von selbstständigen, berufstätigen und daher finanziell unabhängigen Frauen – von der Oma bis zur Enkelin. So erzählt Pinar Polat von ihrem Medizinstudium in der Türkei, ihrem Berufsleben in der Pharmaindustrie und ihrer Ent-
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scheidung, aus Liebe zu ihrem Mann nach Deutschland zu ziehen. Wie ihre beiden Großmütter blieb auch sie weiterhin berufstätig. Entgegen gängiger Klischees über Türkinnen in Deutschland konnte Pinar Polat in ihrem Geburtsland ganz sie selbst sein, während sie in ihrer neuen Heimat als „Teil“ ihres Ehemanns wahrgenommen wurde – „,Das ist die Frau von Dr. Polat‘, sagten die Leute.“29 In der fotografischen Neuinszenierung gerät das Hochzeitskleid zum persönlichen Zeichen seiner Trägerin und ihrer Migrationsgeschichte in der weiblichen Generationenfolge: Ein selbst gewählter Lebensweg, der an die Heirat aus Liebe gebunden war, ohne die eigene Selbstständigkeit aufzugeben. Das so entworfene Bild mit Brautkleid erzählt von Frauen getroffenen Entscheidungen hinsichtlich Familiengründung, Mobilität und von Erwerbstätigkeit über die Generationen hinweg. Die hier vorgestellten künstlerischen Arbeiten sind Versuche, einem durch die Medien gesteuerten, verallgemeinernden und diskriminierenden Blickregime im Kontext von Migration alternative und auch persönliche Sichtweisen entgegenzuhalten. Fotografien von Textilien oder auch textile Kunstinstallationen, die nicht den Menschen zeigen, sondern lediglich auf eine Verbindung hinweisen, verzichten auf die eingeschliffenen Zeitgeist-Ikonen der Illegalität. Sie schaffen Raum für komplexe Analogiebildungen auf mehreren Ebenen, die durch Texte gezielt einem gegenüber Diskriminierungen sensiblen Blickregime zugeführt werden. Schließlich ist die Wahrnehmung des Publikums gefragt, das die textilen Stoffe weniger als Objekte konsumiert, sondern vielmehr als Spuren zu lesen und zu interpretieren weiß. Im Zusammenspiel von Imaginieren, Erinnern und Reflektieren kann ein Gegenüber als Subjekt fantasiert und erfahrbar werden. 1 | Vgl. Silke Wenk und Rebecca Krebs: Bildlektüren und Migration, in: Visuelle Migrationen. FrauenKunstWissenschaft. Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur, Juni 2011, H. 51, S. 12–22. 2 | Vgl. Roland Barthes: Rhétorique de l’image, in: Communications, 1964, H. 4, S. 40–51. 3 | Vgl. beispielsweise: Deutsches Auswandererhaus. German Emigration Center. Das Buch zum Deutschen Auswandererhaus / The Book to the German Emigration Center, Ausst.-Kat. Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven, Bremerhaven 2006. 4 | Vgl. Jan-Hendrik Friedrichs: Milieus of Illegality. Representations of Guest Workers, Refugees, and Spaces of Migration in Der Spiegel, 1973–1980, in: Christine Bischoff, Francesca Falk und Sylvia Kafehsy (Hg.): Images of Illegalized Immigration. Towards a Critical Iconology of Politics, Bielefeld 2010, S. 31–45. 5 | Vgl. Francesca Falk: Invasion, Infection, Invisibility: An Iconology of Illegalized Immigration, in: Bischoff/ Falk/Kafehsy 2010 (wie Anm. 4), S. 83–99. Im Gegenzug werden Bilder vom erwünschten Migranten aufgebaut, wie etwa im Haus der Geschichte in Bonn, vgl. Wenk/Krebs 2011 (wie Anm. 1). 6 | Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.
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Abb. 6: Maria Otte, „Hier schreibt Robinson aus Bramsche“. Porträt von Dr. Pinar Polat mit Tochter, 2007, Farbfotografie mit Textbeilage, Besitz der Künstlerin Birgit Haehnel | ZEITGEIST-IKONEN DER ILLEGALITÄT
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7 | Vgl. W. J. T. Mitchell: Migration, Law, and the Image: Beyond the Veil of Ignorance, in: Bischoff/Falk/ Kafehsy 2010 (wie Anm. 4), S. 13–30. 8 | Vgl. Titelblatt vom 6.4.1992 in „Der Spiegel“, in: Bilder, die lügen, Ausst.-Kat. Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bonn, Bonn 1999, S. 77. 9 | Vgl. Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer u. a. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. München 2010. 10 | Ein Spiegel-Online-Artikel zeigt das unbeschnittene Bild. Im Vergleich mit dem Titelcover wird deutlich, dass die Senkung des Horizonts die Dramatik steigert. Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ staedtepartner-freundschaft-in-zeiten-des-krieges-a-20060.html [Abruf 28.1.2013]. Ich danke Hanna Büdenbender für diesen Hinweis. 11 | Vgl. Mitchell 2010 (wie Anm. 7), S. 14. 12 | Vgl. Barbara Schrödl: Strahlendweiße Wäsche, weibliche Unschuld, das Wirtschaftswunder und der Tod. Weibliches Sterben in einem deutschsprachigen Spielfilm der 1950er-Jahre, in: Karen Ellwanger, Heidi Helmhold u.a. (Hg.): Das „letzte Hemd“. Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur, Bielefeld 2010, S. 193–214, 211. 13 | Vgl. Ursula Biemann: The Maghreb Connection. Monuments of Life Across North Africa, Barcelona 2006. 14 | Über Textilien als Spuren des abwesenden Körpers und Projektionsfläche menschlicher Beziehungen vgl. Birgit Haehnel: Regelwerk und Umgestaltung. Nomadistische Denkweisen in der Kunstwahrnehmung nach 1945, Berlin 2007, S. 202–209, 232. 15 | Judith Quax, in: Spot on … Dak’art. Die 8. Biennale zeitgenössischer afrikanischer Kunst, hg. v. Akinbode Akinbiyi und Barbara Barsch, Ausst.-Kat. ifa Institut für Auslandsbeziehungen e.V. Berlin und Stuttgart, Berlin 2009, S. 72. Siehe auch http://www.ifa.de/ausstellungen/dt/rueckblick/2009/dakar/judith-quax/ [Abruf 28.1.2012]. 16 | Ebd., S. 74. 17 | So der Berliner Künstler und Kurator Akinbode Akinbiyi (zit. nach Der Tagesspiegel, 8.4.2009, Artikel: Migration: Leben ist Wandern, von Kolja Reichert, http://www.tagesspiegel.de/kultur/ausstellungen-alt/ migration-leben-ist-wandern/1491796.html [Abruf 28.1.2013 ]. 18 | Vgl. http://www.judithquax.com/clothing.html [Abruf 28.1.2013]. 19 | Irene Below: Hochzeitskleider und die Wege der Liebe: Re-Inszenierungen, in: Wege der Liebe – Der Liebe wegen. Hochzeitskleider und kulturelle Identität, hg. v. Maria Otte, Ausst.-Kat. Kulturzentrum Wilde Rose e.V., Bramsche 2009, o. S. 20 | Ebd. 21 | Vgl. Peter Weibel (Hg.): Inklusion/Exklusion. Versuch einer neuen Kartographie der Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration, Ausst.-Kat. steirischer herbst Graz, Köln 1996, S. 237–239; Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie: Gülsün Karamustafa, Ausst.-Kat. Museum Fridericianum, hg. v. René Block, Kassel 1998, S. 6; Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, Bd. 1 und 2, Marburg 2010, S. 231–232, Abb. 262. 22 | Agnes Achola: Leftovers. Reste: Secondhandkleidung in Uganda, in: dies., Carla Bobadilla u.a. (Hg.): Migrationsskizzen. Postkoloniale Verstrickungen, antirassistische Baustellen, Wien 2010, S. 34–39, hier S. 38. 23 | Ebd. 24 | Vgl. Christopher B. Steiner: Another Image of Africa: Toward an Ethnohistory of European Cloth Marketed in West Africa, 1873–1960, in: Ethnohistory, Bd. 32, Frühj. 1985, H. 2, S. 91–110. Siehe auch http:// www.guardian.co.uk/world/2012/may/07/europes-secondhand-clothes-africa [Abruf 28.1.2013]. 25 | Gülsün Karamustafa, in: Ausst.-Kat. Kassel 1998 (wie Anm. 21), S. 239. Die Arbeit „Courier“ wurde 1991 erstmalig und in den folgenden Jahren in verschiedenen Variationen ausgestellt. Siehe auch Ausst.-Kat. Kassel 1998 (wie Anm. 21), S. 6. 26 | Vgl. Die Braut. Geliebt – verkauft – getauscht – geraubt. Zur Rolle der Frau im Kulturaustausch, hg. v. Gisela Völger und Karin von Welck, Ausst.-Kat. Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln 1985. 27 | Below 2009 (wie Anm. 19). 28 | Vgl. Wege der Liebe – Der Liebe wegen. Hochzeitskleider und kulturelle Identität, hg. v. Maria Otte, Ausst.-Kat. Kulturzentrum Wilde Rose e.V., Bramsche 2009. 29 | Pinar Polat: Hier schreibt Robinson aus Bramsche, in: Ausst.-Kat. Bramsche 2009 (wie Anm. 19), o. S.
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NICHT-SICHTBARKEIT. BILDERMACHT UND MIGRATION
„It would be nice to do something important“, so ein gelangweilt blickendes Model auf einem riesigen Plakat hinter Glas. Ein anderes Model, gegenüber platziert, antwortet: „Something political?“ (Abb. 1). Dabei schauen sie aus dem Bild auf die Betrachterinnen und Betrachter. Die kontemplative Rezeption des Bildes wird allerdings durch einen jungen ‚schwarzen‘ Mann irritiert, der die großen Fensterscheiben putzt. Bei dieser Szene auf der Biennale in Venedig 2007 handelt es sich um eine Performance, die möglicherweise erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar ist – zu verbreitet ist die Vorstellung, dass Putzstellen typischerweise von Migrant/-innen eingenommen werden, und zu hartnäckig hält sich die Zuordnung von Ethnien zu Kontinenten, nach der ein ‚Schwarzer‘ in Europa ein Migrant sein müsste. Kommt man jedoch auf der Biennale nach zwei Stunden wieder zum skandinavischen Pavillon, an dessen Fassade die Billboards angebracht sind, und sieht man den Mann immer noch beim Putzen der Scheiben, wird spätestens klar, dass es sich um eine Performance handelt. Auf diese Weise regt die Performance zum Nachdenken über Einordnungsschemata an. Die Arbeit nutzt dabei die Ikonografie und Inhalte kommerziellen Kommunikationsdesigns.1 Die glänzende Oberfläche der Fotografien, die perfekte Beleuchtung, der unbeteiligte Blick, die schlichte Typografie, alle diese Merkmale deuten auf typische Modefotografie hin.2 Die Art, wie die Models vor weißem Grund fotografiert sind, erinnert stark an Kampagnen des schwedischen Textilunternehmens H&M.3 Indessen fällt auf, dass gar kein Logo, keine Marke beworben wird. Es ist eine Arbeit des norwegischen Künstlerinnenduos Toril Goksøyr und Camilla Martens, die selbst auf dem Bild erscheinen. Das Werk führt vor, wie problematisch Referenzen von der Welt des ‚schönen Scheins‘ auf die außerkünstlerische Realität sind. Die beiden Hochglanz-Frauen, die entspannt-gelangweilt posieren und mit Politischem kokettieren, repräsentieren die
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Eigenwelt des ‚schönen Scheins‘, die Autonomie der Kunst beziehungsweise des Modedesigns, von der aus die Politik nur im Modus des Als-ob beansprucht und ‚wichtige Taten‘ nur als ästhetische Gesten vollzogen werden können. Durch die Scheibe sind die Models im Schaufenster von der Außenwelt getrennt, ähnlich wie Kunst durch Scheiben, Bilderrahmen, Bühnen und andere Grenzmarkierungen gewöhnlich von der Alltagswirklichkeit abgehoben ist. Wie klar die Eigenwelt der Models von der Außenwelt getrennt ist und wie weit das Politische damit zur rein ästhetischen Geste depraviert, zeigt sich insbesondere an dem ‚schwarzen‘ Fensterputzer, der als Vertreter der ‚Außenstehenden‘ mit seiner wenig angesehenen Arbeit den Glanz der Kunst und der Mode buchstäblich erst ermöglicht. Reflektiert werden in dieser Arbeit somit die Bedingtheit und die spezifische Sonderpragmatik von Kunst und Modedesign, das sich politisch geben will. Darüberhinaus wird die Bedeutung ethnischer Differenz für die Kunstbetrachtung bewusst gemacht, indem das Publikum dazu verleitet wird, den ‚schwarzen‘ Fensterputzer nicht sofort als Performer zu erkennen. Dann aber, wenn diese Erkenntnis einsetzt, kann das Publikum das eigene Vorwissen, die eigenen stereotypen Beobachtungsschemata und die Erwartungshaltungen kritisch hinterfragen, indem es bemerkt, dass es den ‚Schwarzen‘ anhand einer ethnischen Unterscheidung nicht zum Kunstgeschehen hinzugezählt hatte. Goksøyr und Martens scheinen eine Strategie gefunden zu haben, den Kunstrahmen zu durchbrechen, wird doch durch die ethnische Differenz der ‚weißen‘ Models innerhalb des Schaufensters und des außerhalb arbeitenden ‚schwarzen‘ Fensterputzers die Bedeutung von rassischen Unterscheidungen für Inklusion und Exklusion, für Frontstage- und Backstage-Positionen vorgeführt. Sichtbar wird so die Nicht-Sichtbarkeit der ‚Anderen‘ in der Kunst. Beschreibt man eine solche Performance, die mit der Unterscheidung von zur Kunst gehörigen ‚Weißen‘ einerseits und buchstäblich außenstehenden ‚Schwarzen‘ andererseits operiert, so hat man es mit einer stereotypisierten Gegenüberstellung zu tun. Regt die Arbeit dazu an, dichotomisch und in stereotypen Gegensatzpaaren zu beobachten? Werden die Stereotype auf solche Weise verfestigt? Oder verhält es sich so, dass die stereotype Gegensatzbildung nicht Grundlage, sondern Gegenstand der Reflexionen ist, zu denen die Performance den Anstoß gibt? Im letzteren Fall könnte die künstlerische Arbeit gleichsam zu einer Beobachtung zweiter Ordnung anregen, in der die genannten alltagsgängigen Unterscheidungen relativiert und hinterfragt würden.
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Abb. 1: Toril Goksøyr und Camilla Martens, It would be nice to do something political, 2007, Installationsansicht Nordischer Pavillon, Biennale di Venezia
Abb. 2: Fred Wilson, Speak of Me As I Am, 2003, Ansicht Pavillon der USA, Biennale di Venezia
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Die Rolle des Außen, die ‚der Schwarze‘ hier repräsentiert, wird bereits 2003 auf der Biennale in Venedig in Fred Wilsons performativer Installation „Speak of Me As I Am“ thematisiert (Abb. 2). So saß dort vor dem US-amerikanischen Pavillon ein ‚Schwarzer‘, der scheinbar gefälschte Designer-Taschen an Touristen verkaufte. Die Polizei verstand nicht, dass es sich dabei um eine Performance handelte, und sah in ihm nur einen illegalen Verkäufer aus dem Senegal oder einem anderen westafrikanischen Land, wie man ihn in Venedig vor den Designershops vermutet, in denen die Originaltaschen für einen deutlich höheren Preis verkauft werden. Die Polizei griff ein. Es stellte sich heraus, dass der vermeintliche illegale Einwanderer ein Tourist aus dem Senegal war, der von Fred Wilson engagiert worden war. Die scheinbaren FakeTaschen entpuppten sich zudem als Entwürfe des Künstlers, die in Handarbeit hergestellt worden waren mit den Stoffen, die im US-Pavillon Teil der Installation waren. Fred Wilson kommentierte die Situation folgendermaßen: „When the carabinieri came running over to drag him away, it made you stop and think about your initial reaction. It’s something you think you understand, but then you realize that there are other layers. He took it all in very good spirits; it took the police a little while to understand that it was art.“4 Und sicherlich betrachteten neben den Polizisten auch andere den fliegenden Händler nicht als Teil der Kunst. Somit kam bereits bei dieser Performance rassische Differenz, die Unterscheidung von Hautfarben zum Tragen, sodass der ‚schwarze‘ Akteur quasi auf den ersten Blick aus dem Kunstsystem exkludiert worden ist. Wenn dieser aber als Teil der Kunst wahrgenommen ist, muss er auch betrachtet werden: „Instead of just walking by this African in the street, you were forced not to ignore him. That was the whole point of the piece“,5 so Robin Cembalest. Darüberhinaus beschreibt er, dass viele Biennale-Besucher/-innen problematisierten, dass ein Flüchtling ausgestellt und ausgebeutet würde. Mithin ist streitbar, ob es sich hierbei um eine Affirmation von Stereotypen handelt oder um eine Hyperaffirmation6, die das Stereotyp vorführt und wiederum infrage stellt. Die Aktion auf der Biennale nimmt Fred Wilson zum Ausgangspunkt für seine ortsspezifische Ausstellung im US-Pavillon, in der er der Geschichte der ‚Schwarzen‘ in der Kunst und Kultur Venedigs seit der Renaissance nachgeht. In einer Art Schaufenster an der Außenfassade des Pavillons fächert Wilson die verschiedenen Rollen der ‚Schwarzen‘ auf: von Darstellungen des ‚schwarzen‘ Parts der Heiligen Drei Könige, des Gondoliere, des Mohrenpagen etc. Vor diesem Schaufester ist auch der vermeintliche Taschenverkäufer platziert.
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Wie sich aus dem Bisherigen ergibt, rücken die ‚Schwarzen‘ in den beiden Performances als migrantisch in den Blick – die künstlerischen Arbeiten spielen mit gängigen Zuschreibungen, Vorurteilen und Erwartungshaltungen des Publikums und irritieren diese, indem zum einen Unterscheidungen und Exklusionen über Hautfarben aufgerufen werden, zum anderen aber auch durch die Tätigkeiten der Akteure: Das Fensterputzen gilt als ‚niederer‘, unqualifizierter Job, mit ihm befindet man sich sozusagen an der Außenmauer der Gesellschaft; ganz besonders aber das Verkaufen von Taschen, die große Labels imitieren, ist kein anerkannter Bestandteil der offiziellen Ordnung und wird mit Migration assoziiert. Solche Verkäufer gelten als aufdringlich, als eine Art Plage für Touristinnen und Touristen – damit kommt bereits eine Differenz von Migrantinnen und Migranten einerseits und Touristinnen und Touristen andererseits zum Tragen. Diese Unterscheidung von Migration und Tourismus soll im Folgenden genauer untersucht werden. Im Mittelpunkt steht dabei für mich die Frage nach der Sichtbarkeit beziehungsweise Unsichtbarkeit, nach den Blickregimen sowie nach Inklusion und Exklusion. Neuere Arbeiten aus dem Bereich der Soziologie und Kulturwissenschaften legen es nahe, Tourismus und Migration im Zusammenhang zu betrachten und nach den Verschränkungen und der Korrelation beider Mobilitätsformen zu fragen (wobei mit der Rede von zwei Mobilitätsformen nicht vorausgesetzt werden soll, Tourismus und Migration wären jeweils einheitliche, in sich gleichartige Bewegungen; Ziel kann es nicht sein, den Pluralitäten der unterschiedlichen Erfahrungen mit diesen Begriffen gerecht zu werden). Michael C. Hall und Allan Williams etwa sprechen von einem „Tourismus-Migrations-Nexus“, bei dem es die wechselseitigen Verbindungen zu untersuchen gilt.7 Wie Ramona Lenz aufzeigt, ist ein solcher Ansatz sowohl für die Tourismus- wie auch für die Migrationsforschung von Bedeutung, denn er versucht die bloße Gegenüberstellung von Migration und Tourismus infrage zu stellen, die von der Prämisse „sesshafter“ Identitäten und „territorial fixierter“ Kulturen ausgeht.8 Vielmehr ist es nach Lenz sinnvoll, touristische und migrantische Praktiken als Phänomene heutiger, von Mobilität gekennzeichneter Gesellschaften zu fassen und in Relation zueinander zu setzen. Mobilität bedeutet gegenwärtig nicht nur Freizügigkeit,9 sondern schafft auch neue Differenzen: Auf der einen Seite scheint die ganze Welt – Menschen, Waren, Ideen – dank neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, verbesserter Reise- und Transportmöglichkeiten, globalisierter
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Abb. 3: Cover des Katalogs Migropolis. Venice /Atlas of a Global Situation, 2009 (Foto: Jörg Koopmann)
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Handelspolitiken und Arbeitsmärkte in Bewegung geraten zu sein. Auf der anderen Seite gibt es neue Versuche der Grenzziehung und Grenzüberwachung. Beides – die Forcierung wie Beschränkung von Mobilität – lässt sich am Beispiel von Tourismus und Migration besonders anschaulich darstellen. Während Geschäftsleute, Touristen und andere Global Players sich nach Belieben bewegen dürfen, zählen Migranten zumeist zu den Personengruppen, deren Bewegungsfreiheit durch Grenzschutz und Ausländerbehörden permanenten Kontrollen unterliegt.10 Auch Tom Holert und Mark Terkessidis verweisen in ihrem Buch „Fliehkraft“ auf die Verflechtungen von Tourismus und Migration und beginnen es mit dem Beispiel der strandenden Flüchtlinge auf den Kanaren. Die beiden Autoren gehen der Frage nach, „wie sich Migration und Tourismus materiell, im physischen Raum artikulieren“.11 In dem Buch entwerfen sie zudem eine kritische Revision der Begrifflichkeiten. Sie schlagen vor, „die Bezeichnungen ‚Migrant‘ und ‚Tourist‘ nicht nur auf reale Personen“ zu beziehen, „sondern auch auf soziale Positionen in einer Gesellschaft in Bewegung [...]. Als ‚Typen‘, als Konzept-Figuren können sie helfen, die Gesellschaft in Bewegung zu beschreiben und zu analysieren.“12 Dieses Konzept eignet sich besonders dafür, die künstlerischen Beispiele zu beschreiben, auf die ich hier eingegangen bin. Die Akteure beider beschriebenen Performances etwa dienten auch als „Typen“, sie repräsentieren wirkungsmächtige soziale Konstruktionen von Migration. In dem von Wolfgang Scheppe geleiteten Projekt „Migropolis“ wird der Sehnsuchtsort Venedig als Kreuzungspunkt dreier Korridore der Migration in den Blick genommen: Venedig erscheint dabei „as a front-line European city and an exemplary prototype of the increasingly globalized city in which a decimated inner-city population meets armies of tourists and a parallel economy supported by illegal immigrants.“13 Neben der Rolle der Tourist/-innen wird nach derjenigen der Migrant/-innen gefragt und dabei auch die Arbeits- und Wohnsituation der Letzteren sichtbar gemacht. Scheppe betont, dass jedes Bild kritisch in seiner Funktion der Wissensgenerierung befragt und reflektiert werden muss. Dabei diskutiert er auch den scheinbaren Beweischarakter der dokumentarischen Fotografie, die wirkungsmächtige Repräsentationen hervorbringen kann. Gerade Venedig als gleichsam zum Bild gewordene Stadt bietet sich für eine solche Herangehensweise an. Das Titelbild des Bandes setzt an dieser Stelle an (Abb. 3): Zu sehen ist eine scheinbar typische venezianische Ansicht, wie sie durch die Veduten Canalettos geprägt wurde, mit der imposanten Barockkirche Santa Maria della Salute – das Gebäude im Vordergrund
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Abb. 4: Sven Johne, Sunset, Lampedusa Island, Mediterranean Sea, 125 kilometers from Africa, 220 to Europe, August 21st, 2009, 8:10 PM, 2010
Abb. 5: Sven Johne, Badende, Lampedusa, Cala Madonna, 22. August 2009
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wird gerade restauriert (auch ein üblicher Anblick) –, auf einer Gondel allerdings erscheinen statt der erwartbaren Touristen die fliegenden Händler mit ihren in blaue Säcke eingepackten Waren. Dieses Bild bringt die Verschränkungen von Tourismus und Migration auf den Punkt und zeigt die Brüche der Repräsentation auf, der Erwartungen, Zuschreibungen. Im Anschluss daran wäre vom Standpunkt der Visual Culture Studies zu untersuchen, welchen Einschränkungen der Sichtbarkeit beziehungsweise der Sichtbarmachung Migration und Tourismus unterliegen: Welche Bilder prägen die mediale Darstellung von Migration, welche die von Tourismus? Inwiefern erscheinen Bilder, die Migrant/-innen von ihrer Mobilitätsform machen, überhaupt in den Massenmedien? Erscheinen Migrant/-innen überhaupt als Akteure von Bildern oder nur als amorphe Massen und Flüchtlingsströme? Wie nimmt sich hingegen die Bildproduktion des Tourismus in den Massenmedien aus? Im Folgenden möchte ich einen Ausschnitt aus diesem umfangreichen Forschungsfeld anhand der Hypothese skizzieren, dass für Migration eine besondere Form von Nicht-Sichtbarkeit kennzeichnend ist. Gerade bei Migration besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der verbreiteten medialen Darstellung einerseits und der eventuellen eigenen Bildproduktion der Reisenden. Während der Tourismus eine Amateur-Bildproduktion nach offiziellen, allgemein verbreiteten Mustern anregt – jede/r kann und soll den Sonnenuntergang an einem touristischen Ort so fotografieren, wie er auf Postkarten zu sehen ist, Schilder weisen gar darauf hin –, gibt es für Migrantinnen und Migranten keine Vorlagen für eigene Bildproduktion, sondern nur Fremddarstellungen, die üblicherweise das Persönliche in der Menge des scheinbaren Flüchtlingsstroms unkenntlich machen. Nun liegt es nahe zu denken, dass zum Beispiel viele Flüchtlinge ohnehin nur wenige Dinge mit sich nehmen können, etwa keine große Fotoausrüstung, und auch nicht die Muße auf ihrer Reise haben, schöne Erinnerungsbilder zu machen.14 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Migration sich zum einen nicht auf Flucht und Armut reduzieren lässt, eine Verallgemeinerung erscheint problematisch, zum anderen enthebt das Argument nicht von der Beantwortung der Frage, welchen Blickregimen die Selbst- oder Fremddarstellung von Migrant/-innen unterliegt. Viele zeitgenössische künstlerische Arbeiten setzen sich mit dem Spannungsverhältnis von Tourismus und Migration auseinander und reflektieren die Blickregime dieser Mobilitätsformen. Die folgenden Beispiele dienen dazu, einige Schlaglichter auf diesen Kontext zu werfen.
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Abb. 6: Sven Johne, Traumhotels, Insel Lampedusa, 2011
Der Konzeptkünstler Sven Johne greift die Sonnenuntergangsmotivik touristischer Bilder auf (Abb. 4). Wie der Bildtitel „Sunset Lampedusa Island, Mediterranean Sea, 125 kilometers from Africa, 220 to Europe, August 21st, 2009, 8:10 PM“ besagt, handelt es sich um die italienische Urlaubsinsel Lampedusa im Mittelmeer. Durch den Hinweis auf die Entfernung zu Afrika, 125 km, und zum europäischen Festland, 220 km, in der Bildunterschrift werden Medienberichte über Flüchtlinge vom afrikanischen Kontinent aufgerufen. Das Bild wird durch diese Assoziationen unheimlich. Die sengende Sonne scheint viel zu heiß und gleichsam das Fotopapier zu verbrennen, sie bekommt etwas Zerstörerisches. Man wird geradezu geblendet. In einer inhaltlichen Aufladung durch die Betrachter/-innen erinnern die Funkmasten an Beobachtungs- und Überwachungsstationen an der Außengrenze Europas. Sven Johne arbeitet in seinen Bildern immer wieder mit Medienbildern und deren Verhältnis zur Bildunterschrift. Dabei geht es um die Wirkungsmacht von Bildern. Auf dem Bild ist eigentlich nur ein Sonnenuntergang zu sehen, erst mit dem Vorwissen über Lampedusa kommt dem Bild eine über das scheinbar Idyllische hinausweisende Bedeutung zu. Ähnlich funktionieren auch die Bildserien der „Badenden“ (Abb. 5) und „Traumhotels, Insel Lampedusa“ (Abb. 6). So sieht man in der einen, elfteiligen Serie Fotos von Badenden im glasklaren Meer. Durch die im Paratext vorgenommene
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Verortung der Bilder auf Lampedusa kontrastiert der Badespaß sofort mit dem Wissen um die gestrandeten Flüchtlinge. Die Badenden erscheinen im Gegenlicht ganz schwarz, und wenn eine Frau im Wasser liegt, erinnert sie an die ertrunkenen Flüchtlinge. Es sind zwar keine Flüchtlingsboote oder Flüchtlinge zu sehen, aber die Bilder können sofort mit den Medienberichten über die untergegangenen, überfüllten kleinen Boote verknüpft werden. Gerade Medienbilder solcher Urlaubsorte an den Grenzen Europas inszenieren immer wieder, wie nah sich Tourismus und Migration kommen: Strandende Flüchtlingsboote aus Afrika an den Küsten der Urlaubsorte konfrontieren die Touristinnen und Touristen, aber auch die breitere Öffentlichkeit in Europa, mit jener anderen Form des Reisens. Vor allem die Mittelmeerinsel Lampedusa, die zwischen Sizilien und Tunesien liegt und eines der ersten Ziele der Flüchtlinge in der Europäischen Union ist, hat in den Medien traurige Berühmtheit erlangt. Während der Tourismus mit der Verheißung grenzenloser Mobilität verbunden ist, zeigt sich gerade an den Flüchtlingsbooten die Macht von Grenzziehungen und Schranken. Diese Migrantinnen und Migranten werden so zu illegalen Einwanderern gemacht, und Migration wird auf diese Weise kriminalisiert. Dort, wo sich sonst die Touristinnen und Touristen in der Sonne bräunen, kommen Flüchtlinge erschöpft an Land. In oft kleinen, überfüllten Booten setzen sie sich extremen Gefahren aus, um Europa zu erreichen, einen Kontinent, von dem sie sich ein besseres Leben versprechen. Solche Bilder gehören zum Standardrepertoire der Reportagen zu diesem Thema. Thematisiert wird bei Sven Johne die Frage, wie Bilder symbolische Macht generieren, so Jens Kastner.15 Johnes Bilder erzeugen eine Unsicherheit gegenüber dem Gesehenen. Sie rekurrieren auf die Effekte von Wissen. Jens Kastner verweist in diesem Zusammenhang auf Kaja Silvermans Begriff des „Vor-gesehenen“, „Darstellungsparameter, die sich fast unmittelbar aufdrängen“. Damit brächten sie die Routine des Sehens durch das Zitat dieser Muster zum Ausdruck und zugleich durcheinander.16 „Wie ein investigativer Reporter nähert er [Sven Johne, A.K.] sich Phänomenen, recherchiert Hintergründe von medialen Berichterstattungen und gefundenem Bildmaterial, sucht die dort erwähnten Orte auf und beginnt sie zu dokumentieren“,17 so Lilian Engelmann und Holger Kube Ventura in ihrem Geleitwort zum Katalog zu Johnes Ausstellung im Frankfurter Kunstverein 2010. Das Titelblatt des Kataloges, das im Stile der New York Times gestaltet ist, markiert bereits programmatisch die Auseinandersetzung mit den Massenmedien.
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Die Bilder, die Johne in den drei Lampedusa-Serien zeigt, verbinden dokumentarische und touristische Bildkonventionen. Die touristische Szene der Badenden wird durch den in Schreibmaschinenschrift daruntergesetzten Text mit genauer Datumsund Ortangabe konterkariert. Hito Steyerl hat in ihrem Buch „Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld“ die Wirkmächtigkeit der dokumentarischen Form aufgezeigt.18 Sie stellt heraus, dass das dokumentarische Bild, das eigentlich die Realität abbilden und damit beherrschbar machen soll, diese Wirklichkeit gleichzeitig auch genießbar macht. Durch die touristische Form von Johnes Bildern, die, wie gesagt, durch die Bildunterschrift dokumentarisch inszeniert sind, wird dieser Genuss geradezu angekurbelt, aber auch gebrochen. Und auch Johnes Serie „Traumhotels, Insel Lampedusa“ inszeniert einen touristischen Ort par excellence. Das Hotel ist ein Transitort, der durch Reise und Tourismus erst hervorgebracht worden ist. Johne fotografiert die Innenräume der Hotels mit Meerblick. Die Bilder vermitteln eine angenehme, sommerlich warme Urlaubsstimmung. Der Text, der die Bilder begleitet, erzählt einen Traum: „Im Hafen die Fischer auf ihren Booten, sie scherzten mit uns Touristen, und einer sprach voller Inbrunst: ,du schönes, blaues Weltenmeer, du bist ein Ort der Träume!‘ Die Fischer lachten, wir lachten, dann ging die Sonne unter. Wir sahen einen Helikopter aufsteigen, er flog weit hinaus auf die schwarze See. Alles verstummte. In dieser Nacht träumte ich, dass in der Brandung hunderte Körper lagen, dicht an dicht, reglos, eine Menschenkolonie. Frühmorgens lief ich zum Strand: da war nichts.“19 Das Traumhotel wird hier wörtlich verstanden. Die Relation von Realität und Fiktion beginnt zu flottieren. Die Bedeutungen der Schiffe, des Meeres und des Hotels verschieben sich, sie sind plötzlich anders aufgeladen und wecken zusammen mit dem Text neue Assoziationen. Ähnliche Assoziationen werden in Isaac Juliens Filminstallation „WESTERN UNION: Small Boats“ (2007) aufgerufen, wenn etwa Fischerboote eingeblendet werden, die zunächst an idyllische touristische Motive erinnern. Brüchig wird dieser Eindruck aber, wenn gestrandete, zerborstene Holzboote zu sehen sind. Auf der Tonebene sind schrille Töne mit Morse-Codes verbunden, und es sind Radiofetzen auf Englisch und Italienisch zu hören, in denen von Flüchtlingen die Rede ist. Die Medienberichterstattung findet sich damit auf der Tonebene, manifestiert sich aber
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Abb. 7: Isaac Julien, WESTERN UNION: Small Boats, 2007, Installationsansicht Kunstnernes Hus, Oslo, Fünf-Kanal-Installation, Super-16mm-Colour-Film, übertragen zu High Definition, 5.1 sound, 18’22”
Abb. 8: Isaac Julien, WESTERN UNION: Small Boats, 2007, Installationsansicht, Kiasma, ARS 11, Turku, Finnland, Drei-Kanal-Installation, Super-16mm-Colour-Film, übertragen zu High Definition, 5.1 sound, 18’ 22” Alexandra Karentzos | BILDERMACHT UND MIGRATION
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auch auf der Bildebene: Zitiert werden Bilder der kleinen Holzboote mit halb verdursteten ‚schwarzen‘ Männern, Bilder von mit Silberfolie bedeckten Leichen am Strand, an dem im Hintergrund die Touristen zu sehen sind etc. (Abb. 7 und 8). Die Ansichten sind kontrastiv gegeneinandermontiert und werden auf diese Weise emotional aufgeladen. Bereits die Eingangssequenz legt diesen Eindruck nahe, wenn der Blick aus einer Art Felshöhle durch einen vergitterten Torbogen auf das blaue Meer gelenkt wird. Eine ‚schwarze‘ Frau, die Schauspielerin Vanessa Myrie,20 die auch schon in anderen Arbeiten Juliens aufgetreten ist, schreitet aus dem Tor hinaus ins Helle. Begleitet wird die Szene vom intensiven Gesang Oumou Sangarés. Besonders beklemmend sind die Szenen im Film, in denen eine Person ertrinkt. Dabei werden die Bilder des Ertrinkens im Wasser mit Bildern eines sich auf dem Boden eines prunkvollen Palastes windenden ‚schwarzen‘ Mannes gegenmontiert, sodass auch hier der Eindruck des Ertrinkens weitergeführt wird. Das Meer und die Boote werden auf diese Weise zu Metaphern, die auf die „Middle Passage“ verweisen, die Zwangsverschiffung versklavter Afrikaner/-innen im transatlantischen Handelsverkehr vom 15. bis ins späte 19. Jahrhundert, die auch als „gewaltsame Migration“21 gefasst wird. Der Theoretiker Paul Gilroy zeichnet mit seinem Konzept des „Black Atlantic“ den Weg der „Middle Passage“ nach und kontextualisiert diese traumatische Dislozierung mit der erinnerten Geschichte der modernen afrikanischen Diaspora.22 Der „Schwarze Atlantik“ bildet auf diese Weise gleichsam den imaginierten kulturellen Raum, der auf die Sklaventransporte von Afrika in die Amerikas zurückgeht und so auf die Verbreitungsprozesse einer „black culture“ verweist. In der Ausgrenzung und dem Rassismus sind die kolonialen Strukturen des „Black Atlantic“ immer noch gegenwärtig. Das Prinzip des „Black Atlantic“ „macht auf die Komplexität der kolonialen Prozesse und eine seiner unvorhergesehenen und unbeabsichtigten Konsequenzen aufmerksam, e[s] geht unseren Vorstellungen von Kultur gegen den Strich. E[s] führt uns nicht zu dem Land, in dem wir diesen speziellen Boden finden, in dem, wie uns gesagt wird, ‚nationale Kulturen‘ keimen, sondern zum Meer und der Seefahrt, auf dem und über den Atlantischen Ozean, wodurch eher fließende als starre ‚hybride‘ Kulturen ins Leben gerufen werden“,23 so Gilroy. Dieses Konzept hat Gilroy in der Ausstellung „Black Atlantic“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (2004) auch visuell umgesetzt, indem er Künstler/-innen wie Isaac Julien einlud, sich mit dem Thema zu befassen.24 Juliens Arbeit „WESTERN
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UNION: Small Boats“ spielt in besonderer Weise auf Verortungen an. Durch die kontrastive Gegenüberstellung werden die verschiedenen Figuren zu „Typen“ in der Tradition von Erdteil-Allegorien: Die ‚schwarze Frau‘ oder die Männer in den Booten etwa repräsentieren dabei Afrika, während eine ‚weiße, blonde Frau‘ in einem prunkvollen Palast für Europa steht.25 Der Schauplatz ist der Ballsaal des Palazzo GangiValguarnera in Palermo, der bereits in Luchino Viscontis Film „Der Leopard“ (F/I 1963) mit einem Tanzball opulent in Szene gesetzt wurde. Mit diesem Part schreibt Julien die in Viscontis Film erzählte italienische Aristokratengeschichte des 19. Jahrhunderts fort, indem er ihr eine koloniale Dimension hinzufügt.26 Julien zeigt in Großaufnahmen der Ausstattung, etwa dem monumentalen Leoparden auf den Bodenfliesen, wie sehr auch die historischen Monumente mit der kolonialen Geschichte verwoben sind. Der Film verbindet auf diese Weise Vergangenheit und Gegenwart. Er arbeitet dabei deutlich mit ethnischen Differenzsetzungen der Hautfarben. Diese historisch wirksamen Antinomien werden im Verlauf des Films immer mehr aufgelöst: „The race politics of the work become increasingly complicated“,27 so Jennifer Gonzáles; die ‚schwarze‘ Frau zum Beispiel bewegt sich scheinbar als außenstehende Beobachterin zwischen den Welten, und die Tänzer repräsentieren in der zweiten Hälfte des Films als ethnisch gemischte Gruppe ein modernes multiethnisches Italien. Ganz am Ende des Films wird der Bogen wieder zurück zu einer Strandszene gespannt, statt der Fischer erscheinen nun Touristengruppen, die im Meer baden. Dabei werden ihnen kontrastiv die mit Silberfolie zugedeckten Leichen der Flüchtlinge gegenübergestellt, womit wieder Medienbilder zitiert werden. Dokumentarischer Realismus und poetische Bilder werden im Film verknüpft, sodass sich beide Ebenen verschränken und deren Konstruktionscharakter deutlich wird. Auch die Künstlerin Lisl Ponger hat die Bedeutung von Bildern im Kontext von Tourismus und Migration mehrfach infrage gestellt. Sie setzt sich etwa in den beiden Filmen „Passagen“ (1996) und „Déjà vu“ (1999) mit der Frage der Übersetzbarkeit von Bild- und Textebene auseinander: So laufen auf der Bildebene gefundene Super8-Filme von touristischen Reisen, auf der Tonebene aber werden Geschichten der Flucht und der Migration erzählt. In diesen beiden Filmen wird das Problem der Visualisierung der Migrationsbewegung verhandelt.28 Bild und Text stehen aber nicht beziehungslos zueinander, vielmehr können beide Ebenen immer wieder neu und
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Abb. 9: Lisl Ponger, Filmstill aus „Phantom Fremdes Wien“, 2004
anders zueinander in Beziehung gesetzt werden. Durch die Überlagerung von Bild und Text verschränken sich sehr differente Mobilitätsformen miteinander. Ponger reflektiert in ihren Werken die Fragen von Blickregimen des Tourismus und der Migration sehr intensiv und auf sehr unterschiedliche Weise. Zu dem Film „Phantom Fremdes Wien“ von 2004 schreibt sie: „Motiviert wurde es [das Projekt „Phantom Fremdes Wien“ (2004), A.K.] von der öffentlichen Nichtsichtbarkeit der ImmigrantInnengemeinden in Wien. Es stimmt, sie waren in den Medien präsent, aber immer als ein Thema, von der österreichischen Mehrheitsbevölkerung als ‚Problem‘ definiert und diskutiert, und beinahe immer in negativem Licht. Das heißt ganz einfach, dass die ImmigrantInnengemeinden sehr selten, wenn überhaupt, für sich selbst sprechen konnten. Man sprach über sie.“29 Ponger benennt hier eine grundlegende Schwierigkeit der Repräsentation und Selbstrepräsentation von Migration an und stellt die Frage, welche Bilder von Migration produziert werden und von wem. In dem Film selbst kommentiert sie das Filmmaterial, das sie bereits 1991/92 in Wien gedreht hat. Sie hat dort verschiedene migrantische Gemeinschaften besucht. Sie problematisiert ihren früheren Ansatz, der das
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Fremde, Exotische im Eigenen sucht, und führt die verschiedenen Ordnungskriterien vor, nach denen sie das Material zur Narration des Filmes geordnet und zusammengesetzt hat: nach Chronologie, nach Themen, nach Geografie oder nach der Musik. Ponger ordnet das Material immer wieder neu. Sie thematisiert auch die Tonspur und die Art, wie durch diese eine kohärente Erzählung erzeugt wird. Ponger dekonstruiert auf diese Weise die scheinbar dokumentarischen Bilder, die an touristische Reisebilder erinnern und die Migrant/-innen ethnisieren und kulturalisieren (Abb. 9). Der Ton zieht die Aufmerksamkeit auf die blinden Flecken der jeweiligen Perspektive, den einschränkenden Blick. In einer Sequenz fragt die Künstlerin nach dem, was sie sieht, und liefert verschiedene konträre Antworten. Der Schluss des Films bleibt offen: Wie soll ein Film über Migrant/ -innen enden: mit Darstellungen von Arbeit, von Exotik und Erotik? Mit der Frage, die Ponger angesichts ihrer eigenen Bildproduktion stellt, möchte ich schließen: „Benutzt Kunst, wie viele andere soziale Institutionen Migration, MigrantInnen und AsylwerberInnen nur als Rohmaterial für ästhetische Spekulationen innerhalb des Systems?“30 1 | Vgl. Max Bruinsma: The Applied Art of Art, in: http://maxbruinsma.nl/items/index.html?items_5_07_ EN.htm [Abruf 15.6.2012]. 2 | Vgl. ebd. 3 | Vgl. Toril Goksøyr and Camilla Martens in dialogue with Trude Iversen, in: http://www.g-m.as/ [Abruf 16.6.2012]. 4 | Zit. nach Phoebe Hoban: The Shock of the Familiar, in: New York Magazine, 28.7.2003, http://nymag. com/nymetro/arts/features/n_9014/ [Abruf 15.6.2012]. 5 | Ebd. 6 | Eine theatralisch in Szene gesetzte „übertriebene Angepasstheit“ könne, so Judith Butler, „den übertriebenen Status der Norm selbst offenbaren“. Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht, Frankfurt am Main 1993, S. 325. 7 | Vgl. Michael C. Hall und Allan M. Williams (Hg.): Tourism and Migration. New Relationships between production and consumption, Dordrecht u.a. 2002. 8 | Ramona Lenz: Migration und Tourismus als Gegenstand wissenschaftlicher und künstlerischer Projekte, in: Alexandra Karentzos, Alma-Elisa Kittner und Julia Reuter (Hg.): Topologien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration / Topologies of Travel. Tourism – Imagination – Migration, Trier 2010, http://ubt. opus.hbz-nrw.de/volltexte/2010/565/pdf/Topologien_des_Reisens.pdf , S. 41–53, hier v.a. S. 42 ff. Vgl. dazu auch Julia Reuter: Tourismus und Migration, in: ebd., S. 13–18 [Abruf 5.6.2012]. 9 | Vgl. dazu Alexandra Karentzos und Alma-Elisa Kittner: Touristische Räume: Mobilität und Imagination, in: Stephan Günzel (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 280–293. 10 | Vgl. Julia Reuter: Tourismus und Migration, in: Karentzos u.a. 2010 (wie Anm. 8), S. 14. 11 | Tom Holert und Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen. Köln 2006, S. 14. 12 | Ebd., S. 13. 13 | So die paratextuelle Beschreibung des Projektes auf dem Katalog: Wolfgang Scheppe & IUAV Class on Politics of Representation (Hg.): Migropolis. Venice / Atlas of a Global Situation, Ostfildern 2009.
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14 | Marie-Hélène Gutberlet hat filmische Formen der Sichtbarmachung der transsaharischen und transmediterranen Reise untersucht. Vgl. Marie-Hélène Gutberlet: Ortswechsel. Transsaharische und transmediterrane Reisen in zeitgenössischen Filmen, in: dies. und Sissy Helff: Die Kunst der Migration. Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs. Material – Gestaltung – Kritik, Bielefeld 2011, S. 39–58. 15 | Jens Kastner: Irritationen des Bildregimes. Kapitalismus und Scheitern in den Arbeiten Sven Johnes, in: Sven Johne. Berichte zwischen Morgen und Grauen, Ausst.-Kat. Frankfurter Kunstverein, Berlin 2010, S. 118–128, hier S. 124. 16 | Ebd. 17 | Lilian Engelmann und Holger Kube Ventura: Geleitwort, in: Ausst.-Kat. Frankfurt 2010 (wie Anm. 15), S. 101. 18 | Vgl. Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008. 19 | Der Text ist Bestandteil des Kunstwerks. 20 | Vgl. die ausführliche Beschreibung der Arbeit von Jennifer Gonzáles: Sea Dreams: Isaac Julien’s WESTERN UNION: Small Boats, in: Saloni Mathur (Hg.): The Migrant’s Time: Rethinking Art History and Diaspora, New Haven/London 2011, S. 116–129. 21 | Hans-Georg Knopp und Peter C. Seel: Vorwort, in: Der Black Atlantic, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, hg. v. Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit Tina Campt und Paul Gilroy, Berlin 2004, S. 6–9, hier S. 7. 22 | Vgl. Paul Gilroy: Der Black Atlantic, in: Ausst.-Kat. Berlin 2004 (wie Anm. 21), S. 12–32. Vgl. dazu auch Sérgio Costa: Vom Nordatlantik zum ‚Black Atlantic‘. Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik, Bielefeld 2007, v.a. S. 127 ff. 23 | Gilroy 2004 (wie Anm. 22), S. 13. 24 | Julien war in der Ausstellung mit dem Film „True North“ (2004) vertreten, der eine Serie von filmischen Untersuchungen zum Thema der Meerwege und transnationalen Grenzüberschreitungen eröffnet, dessen dritter Teil „WESTERN UNION: Small Boats“ neben „Fantôme Afrique“ (2005) und „10.000 Waves“ (2010) ist. 25 | Vgl. dazu das noch nicht publizierte Dissertationsprojekt von Katrin Hunsicker (Oldenburg): Weibliche Allegorien in kolonialen und postkolonialen Europa-Bildern. 26 | Vgl. Gonzáles 2011 (wie Anm. 20), S. 125. 27 | Ebd., S. 122 und 125. 28 | Vgl. dazu ausführlich Alexandra Karentzos: Die Unmöglichkeit der Übersetzung. Lisl Pongers Filme Passagen und Déjà vu im Spannungsfeld von Tourismus und Migration, in: Bettina Dennerlein und Elke Frietsch (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration im Film, Bielefeld 2011, S. 95–121. 29 | Lisl Ponger und Tim Sharp: ImagiNative, in: http://lislponger.com/imaginative/htm/028/page-d.htm [Abruf 15.6.2012]. 30 | Ebd., http://lislponger.com/imaginative/htm/029/page-d.htm [Abruf 15.6.2012].
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GRENZEN UND ENTGRENZUNG
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Hanni Geiger
RAUM UND ZEIT ÜBERWINDEN. HUSSEIN CHALAYANS DESIGN FÜR POSTMODERNE NOMADEN
Eine der Möglichkeiten, künstlerische Produktion unter dem Aspekt von Migration zu betrachten, ist, diese als räumlich-zeitliches Phänomen zu begreifen. So bedeutet Migration zunächst eine zeitlich bedingte Bewegung mit impliziertem Ort- oder Raumwechsel. Doch wie können Räume angesichts der fortschreitenden Globalisierung und/oder politisch bedingter Wanderungen aufgefasst werden? Das 20. Jahrhundert verabschiedet sich schließlich mit der Auflösung territorialer Absperrungen. Spätestens seit dem Austausch von Waren, Menschen, Ideen und dem Konsum von Medien kann nicht mehr von homogenen, statischen oder territorial fixierten Kulturen gesprochen werden.1 Deren Merkmale sind vielmehr ihre Prozesshaftigkeit sowie ihre räumliche Ausdehnung2, deren Verhältnis zueinander sich im Zuge der zunehmenden Beschleunigung ändert. Geht man also der Frage nach, wie das Denken und Schaffen exilierter Künstler von Migrationsbewegungen beeinflusst werden kann, muss sowohl der Verlust von vertrauter Umgebung als auch die Ankunft in einer unbekannten Welt berücksichtigt werden. Unabhängig davon, ob eine Wanderung erzwungen oder freiwillig ist, bedeutet diese neue Lebenslage meist eine intensive Auseinandersetzung der Betroffenen mit den eigenen Zugehörigkeiten und den (Un-)Möglichkeiten ihrer Verortung. So können prinzipiell Dichotomien, wie sie unter anderem Heimat und Fremde als das auf der einen Seite positiv besetzte Vertraute sowie das negativ konnotierte „Unheimliche“3 verbildlichen, meist nicht mehr aufrechterhalten werden. Welche Identitäts- und Raumkonzepte Migranten für sich herausbilden, steht in Abhängigkeit davon, ob sie selbst die Erfahrung des Exils, jenseits des Verlustes, auch als eine Chance oder gar kreativen Impuls begreifen sowie inwiefern ihnen diese positive Umdeutung von außen ermöglicht wird.
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Abb. 1: Hussein Chalayan, Geotropics, Frühling/Sommer 1999, Polyester und Ramie, Fotografie (Ausschnitt/ Showfotografie), Fotografen: Marcus Tomlinson/Chris Moore
Was dabei trotz aller Entgrenzungsprozesse und der Vielzahl an Ort- und Raumdefinitionen immer konstant bleibt, ist die Bedeutung des Raumes; seine Existenz schwindet nicht. Wie Clifford Geertz bemerkt, „lebt niemand im Allgemeinen“.4 Ein Ortsbewusstsein, ein Orientierungssinn, die Produktion von Orten, also die „senses of place“5 gehören grundlegend zur conditio humana.6 Was sich im Zuge der globalen Migrationen geändert hat, ist das Konzept von Raum und Zeit, aber auch das Verständnis vom Menschen selbst. Eine neue Umgebung verlangt nach Anpassung und Transformation, weshalb sich in diesen „neuen“ Raum- und Zeitverhältnissen als logische Konsequenz auch die Suche nach einem „neuen“ Menschen anbietet. Eine künstlerisch formulierte Lösung für ein Leben jenseits örtlicher Fixierungen bietet der in London ansässige türkisch-zypriotische Designer Hussein Chalayan. Seine Arbeit ist von kulturellen und räumlichen Verschiebungen gekennzeichnet, die eine Adaption des Menschen an seine Umgebung in einer neuen, miteinander amalgamierten Form zur Folge hat. Anhand ausgewählter Werke, die Disziplinen entgrenzen, soll im Rahmen dieser Untersuchung Chalayans formal und narrativ formulierter Vorschlag für eine kulturelle und territoriale Allgegenwärtigkeit näher beleuchtet werden.
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Verwobene Geografien Welche Bedeutung kommt natürlichen und künstlich geschaffenen Grenzen zu? Von dieser für sein Schaffen prägenden Frage ausgehend, kreiert Chalayan eine Kollektion, deren Präsentation mit einer Animation und einem „monumentalen“, nichttragbaren Stück endet.7 Mit dem Titel „Geotropics“ (Frühling/Sommer 1999) versehen, zeigt sich auf dem hier gezeigten Ausschnitt eine aufrecht stehende junge Frau, die in der Folge zunehmend mit Schichten weißen Stoffs bedeckt wird (Abb. 1). Die übereinandergelegten Schnittkonstruktionen des feinen, an sich transparenten Materials verhüllen stellenweise mehr oder weniger den nackten Leib. Je mehr Lagen sich übereinanderstapeln, desto schwieriger ist die erste Schicht – die menschliche Haut – erkennbar. Lagen verbinden sich hier zu einer Über- oder Be-Lagerung, die bereits etymologisch mit politischen Akten der Machtauferlegung verbunden werden kann. Chalayan selbst beschreibt das Werk mit der Intention, eine „Mikrogeografie“ des Körpers zu erschaffen, in der sich verschiedene nationale Kostüme aus unterschiedlichen Zeiten und Orten der 2000-jährigen Seidenstraße von China bis hin zum Westen vermengen.8 Die auf diese Weise in einer Form verschmolzenen Kleidungsstücke können damit symbolisch als alle jemals besuchten Geografien, Orte und Räume perzipiert werden. Jede der einzelnen Schichten unterschiedlichster kultureller Prägung formt den einst nackten, „reinen“ Körper, der auf diese Weise immer wieder neu beschrieben und gekennzeichnet wird. Dies ist längst keine Einzelgeschichte, sondern Merkmal der gesamten Menschheit. In jeder Biografie sind Lagen kultureller Einschreibung vorhanden. Je dicker die Schicht, desto schwieriger ist es, den vermeintlichen Ausgangspunkt der Reise auszumachen. Das Ergebnis ist eine Infragestellung der eigenen Identitätsdefinitionen und des immerwährenden Versuchs, Menschen geografisch und territorial zu verorten. Möbelkleider für mobile Identitäten Nimmt Chalayan in der Vorstellung der statischen Frauenreihe eine gedankliche grenzüberschreitende Reise vor, schickt er in einem weiteren Objekt der Kollektion „Geotropics“ den Körper des Menschen auf eine offenbar physisch erfahrbare Wanderschaft. Zunächst suggeriert jedoch das korsettartige Gebilde in Form eines den Körper umgreifenden Gerüsts alles andere als Bewegung (Abb. 2). In seiner Ähnlichkeit mit orthopädischen Hilfsmitteln verweist es in erster Linie auf eine eingeschränkte Mobilität. Bei eingehenderer Betrachtung werden jedoch eine Kopfstütze
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und zwei Armlehnen sowie eine heruntergeklappte Sitzfläche sichtbar. Eine Stuhlkonstruktion in etwa, die ihrer üblichen Funktion beraubt wurde, denn dieser „Stuhl“ dient keineswegs dem an einem Ort verharrenden Sitzen. Seine Form folgt dem aufrechten und damit in stetiger Bewegung begriffenen menschlichen Körper. Der mit dem Sinnbild der Sesshaftigkeit beladene Stuhl bricht mit der Vorstellung eines verankerten Zuhauses und so mit der Bindung an einen einzigen Ort. Im Sinne einer Metaphysik der (post)modern begriffenen Mobilität werden mit „Geotropics“ territoriale Konzepte von Nation und Kultur9 verworfen. Anstelle einer Dämonisierung der Mobilität als „Dysfunktion“, wie sie konservativ orientierte Studien der Geografie und Kulturwissenschaften geprägt haben,10 tritt eine Eigendefinition von Verortung. Mit einem aufklappbaren Stuhl am Körper versehen, kann der potenziell ewig Wandernde gelegentlich seinen Stuhl aufstellen und damit jeden beliebigen Ort, jedes Land zu einem neuen Zuhause erklären – bis eine erneute Wanderschaft ansteht. Der mitgetragene, mit dem Körper verwachsene Stuhl dreht den Status des Mobilen sogar zum Vorteil um. Der Wahrnehmung von Migranten als Verlierern äußerer Umstände, wie sie Edward W. Said mit seiner berühmten „essential sadness“-Theorie11 aufgestellt hat, tritt die Kritik an fixierten Kategorien entgegen: „[…] Das Festhalten […] kann sich sogar definitiv als schädlich erweisen, wenn sich neue Möglichkeiten an anderen Orten auftun.“12 Womöglich umwandert Chalayan im Sinne einer Vermeidung fixierter örtlicher Zuordnungen auch die verschiedenen Gattungen und Disziplinen, derer er sich für die Verbildlichung seiner Vorstellungen von kultureller Verschiebung bedient. Diese entgrenzende Perspektive auf Mode, Design, Architektur oder Kunst verfolgt Chalayan auch in weiteren Arbeiten. Mit der als installative Performance konzipierten Show „Afterwords“ (Herbst/ Winter 2000) (Abb. 3) erreicht Chalayans auf Industriedesign formal rekurrierende Schaffensphase ihren Höhepunkt.13 Bereits die Präsentationsfläche für die Kollektion stellt die Bedeutung des Raumes und seinen Bezug zum Menschen ins Zentrum der Show. Chalayan verzichtet auf den klassischen Laufsteg und schickt seine Mannequins auf eine Bühne, die durch ihre Gradlinigkeit und eine puristische weiße Leere besticht. Zu sehen ist nur eine 50er-Jahre-Möbelgruppe, bestehend aus Stühlen und einem runden Kaffeetisch.14 Begleitet von Klängen eines bulgarischen Frauenchors,15 der sich hinter einer halb durchsichtigen Wandnische zeigt sowie auf einem Fernsehmonitor übertragen wird, betreten die Frauen den Raum mit Wohnzimmercharakter.
Abb. 2: Hussein Chalayan, Geotropics, Chrom und Gussplastik, Frühling/Sommer 1999, Ausstellungsfoto165 grafie Istanbul Modern, 2010
Zunächst entfernen sie die textilen Stuhlbezüge, um sie im nächsten Moment über die eigenen Körper zu stülpen. Der mit der Verwandlung von Bezügen zu raffinierten, vielschichtigen Kleidern angedeutete Transformationsgedanke setzt sich fort und kulminiert in der Umkehr von Stühlen zu zusammenklappbaren Koffern. So wird auch der runde Kaffeetisch zu einem abstrakten Reifrock aus gestuften Holzschichten, den das letzte Model an seiner Hüfte befestigt. Mit dem finalen Chorgesang endet die Show, und die Models verlassen mit den Koffern und den „Möbelkleidern“ den Raum. Verglichen mit „Geotropics“ wird der Stuhl nicht nur in seiner ursprünglichen Funktion als immobiles, zum Verweilen einladendes Möbelstück hinterfragt. Chalayan geht einen Schritt weiter und transformiert Stühle zu Koffern – Gegenstände, die mehr als plakativ für den Gedanken der Reise und Mobilität stehen. Entgegen der veralteten Vorstellung von Kultur als einem abgeschlossenen Container16 kann dieser Koffer als vor allem translozierbare, sich durch beständige Mobilität neu kreierende Heimat verstanden werden. Der Sesshaftigkeit symbolisierende Stuhl mutiert zu einem mit Gegenständen, aber auch Bedeutungen gefüllten Behältnis. Denn die Formung von Landschaften und Räumen durch Bewegung jenseits von Grenzen, wie sie Arjun Appadurai vorschlägt, meint nicht nur physische Aktivität17: Der mit Ideen, Erinnerungen und Fantasien beladene Koffer impliziert vor allem die Wanderschaft geistigen Guts. Das möblierte Wohnzimmer als Sinnbild für Familie kann im Koffer mitgetragen werden; durch den Aufbau von Möbeln an einem oder mehreren neuen Orten lebt das Zuhause in einer mit der neuen Realität fusionierten Form also wieder auf. Mit dem transformierten, mobilen Heim erinnert Chalayan an das Schicksal und die Bedürfnisse zahlreicher Flüchtlinge in Kriegszeiten, die, vertrieben und exiliert, häufig ihr Hab und Gut von Ort zu Ort transportieren.18 Es mag daher nicht verwundern, dass die Show zeitgleich mit den erschreckenden Berichten und Bildern über den Kosovokrieg präsentiert wird19 oder gar der Kollektionstitel als verschlüsselte Botschaft gelesen werden kann. „Afterwords“ steht für alles, was „nach den Worten“ und nach zumeist erfolglos geführten politischen Verhandlungen folgt: Flucht, Vertreibung, Exil. Auch Chalayans Familie erlebte Krieg und eine von Migration geprägte Realität.20 Mit dem Beginn der türkisch-griechischen Auseinandersetzungen in den 1970er-Jahren verließ Chalayan als 12-jähriger Junge das politisch erschütterte Zypern und folgte seinem bereits in London lebenden Vater.21 Die Jahre in einer neuen Kultur scheinen Chalayans Sensibilität für das Thema Exil geformt zu haben, das er schließlich zur narrativen Basis seiner Arbeit machte.
Abb. 3: Hussein Chalayan, Afterwords, Herbst/Winter 2000, Showfotografien (Ausschnitte), Fotograf: Chris Moore
Trotz dieses Hintergrundes ist in „Afterwords“ die Thematisierung einer Kriegssituation in Verbindung mit bulgarischem Gesang und einer fast leeren Bühne mit beliebigem Wohnzimmerinterieur – ohne spezifische kulturelle Verweise – offen formuliert. Ohne konkrete Raum- oder Zeitreferenzen ist die ästhetisch dargebotene Situation der Wanderschaft mit Migration im Allgemeinen zu verknüpfen. Ausgehend vom Gedanken einer gewinnbringenden Erfahrung oder gar eines schöpferischen Impulses durch die Neuausrichtung von Biografien im Exil bleibt die Szenerie weitestgehend frei von Verweisen auf Angst oder Unsicherheiten. Mit Inszenierungen dieser Art kann Schrecken in Schönheit verwandelt werden und eine Fluchtszene zu etwas gar Sinnlichem und Poetischem mutieren. Dennoch: Angesichts der zerstörerischen Wirkung von Kriegen kann die gar makellose, perfekte Szenerie auch irritieren. Es stellt sich die Frage, ob eine ästhetisierende Herangehensweise an das Thema der Vertreibung nicht auch Abgründe negiert, die sich in den Biografien der Betroffenen zwangsläufig auftun. Zunächst wäre es jedoch falsch, bei steril, minimalistisch und abstrakt gestalteten Verlusterzählungen von einem gänzlichen Ausschluss negativer Erfahrungen auszugehen. Chalayan wählt einen auf den ersten Blick weniger eindeutigen Weg der Übermittlung von komplexem Inhalt, indem Schrecken nicht einfach formal zitiert wird, sondern in erster Instanz unter die Oberfläche des vermeintlich unseriösen, „schönen“ Faches Mode wandert. Scheinbar Unvereinbares oder Entgegengesetztes geht eine Beziehung miteinander ein: Flucht, Verlust und Ängste präsentieren sich als ansehnliche Rock- oder Stuhlformen. Ein starker Kontrast, der gerade aufgrund der nahezu absurden Verschmelzung beiden Polaritäten eine ebenso starke Stimme zu verleihen vermag. Mit der beunruhigenden, störenden Überformung von Schmerz zu einer eleganten Hülle wird die narrative Last nicht nur sichtbar gemacht, sondern gar überzeichnet. Der in Kleidern und Installationen vergegenständlichte, nun greifbare Inhalt wird körperlich spürbar, wodurch eine sowohl geistige als auch physische Auseinandersetzung mit dem Thema der Migration erfolgen kann. Anders jedoch als eine pure Wiedergabe von Verlustsituationen in Form makabrer, aggressiver oder blutgetränkter Bilder erlaubt die Ästhetisierung von Migrationsszenen neben einer Anerkennung von Zerstörung ebenso eine Aussicht auf Regenerierungsmöglichkeiten.
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Kleidsame Häuser Werden die Grenzen traditioneller Kleiderfunktion durch anpassungsfähige, transformierbare Möbel überschritten, kommt unweigerlich der Gedanke einer von der Umwelt geforderten Flexibilität auf. Bereits mit der studentischen Abschlusskollektion „The Tangent Flows“ von 1993 (Abb. 4) erarbeitete Chalayan Werke, die in transdisziplinärer Manier Fragen kultureller Verschiebungen thematisieren. Wie aus einem Entwurf der Kollektion zu entnehmen ist, fallen neben dem Einsatz ungewöhnlicher Stoffe, wie hier einer flexiblen Papierart für das Oberteil, ungewöhnliche, von der Mathematik und Geometrie beeinflusste Schnittformen auf. So trägt eines der Mannequins ein dreieckiges, scharfkantiges, rockähnliches Objekt. Aus der gewählten Profilansicht dieser „fließenden Tangente“ werden Ideen der Geometrie in der klaren, gradlinigen Form des bodenlangen Objekts besonders evident. Eine Tangente ist in der Geometrie eine Gerade, die eine gegebene Kurve an einem bestimmten Punkt berührt, der gleichzeitig die beste lineare Annäherung für die Kurve darstellt. Womöglich versteht sich hierbei der stellenweise organisch runde, weibliche Mannequinkörper – die Hüfte etwa –, in geometrischer Sprache gesprochen als Kurve in Opposition zur Tangente als der längsten Gerade des Rockobjekts. Überdies wird die tektonische Wirkung des Entwurfs mithilfe eines in den Stoff eingenähten gradlinigen Stabs verstärkt. Wie ein zeltartiges Dreieck steht der Rock dank des an der Hüfte befestigten Stabs vom Körper ab und erinnert damit vielmehr an ein gestütztes Bauelement als an ein modisches Kleidungsstück. Während sich in „Geotropics“ oder „Afterwords“ noch Möbel in tragbare Kleider-Objekte verwandeln, wird an dieser Stelle das gesamte „Haus“ an den menschlichen Körper appliziert und somit mitgetragen. Geht man davon aus, dass Kleidung schließlich auch eine Behausung für den Körper darstellt und damit eine Architektur in intimerem Verhältnis zum Körper bildet, erscheint diese mobile Kleid-Konstruktion als passende Lösung für ein Leben in stetiger Bewegung. Mit Schnittexperimenten dieser Art vernetzt Chalayan nicht nur rein formal Mode mit Architektur. So beschwört allein der Titel Gedanken eines Flusses als Inbegriff ewiger Bewegung und Rastlosigkeit herauf. Angesichts neuer Lebensbedingungen in einer sich kontinuierlich wandelnden Realität erweist sich das Konzept einer flexiblen, anpassungsfähigen nomadischen Identität als einzig richtig. Wie Vilém Flusser treffend konstatiert, meint „Nomade“ einen „[…] weder in Raum noch in Zeit definierbaren Menschen, und dies im Gegensatz zum räumlich und zeitlich definierten
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Abb. 4: Hussein Chalayan, The Tangent Flows, 1993, Fotografie der Diplomarbeit
Abb. 5: Hussein Chalayan, Echoform, Herbst/Winter 1999, Glasfaser und Kunstharz, Showfotografie, Fotograf: Chris Moore
Abb. 6: Hussein Chalayan, Place to Passage, 2003, Kurzfilm (Filmstills), Drehbuch und Regie: Hussein Chalayan
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sesshaften Dasein. ‚Definieren‘ bedeutet selbstredend ‚Grenzen ziehen‘, zum Beispiel Mauern.“22 Wie das Verb „flow“ im Titel andeutet, ist der durch Mobilität erschaffene Raum des Menschen in steter Entstehung, sich immerzu ausdehnend und nie abgeschlossen. Demgemäß spielt auch die Zeitlichkeit eine Rolle. Wie es die oft benutzte Kulturmetapher des „flow“ als unaufhörlichem Strom oder Fluss suggeriert, geht eine Ausdehnung von Kultur im Raum immer mit einer Prozesshaftigkeit einher.23 So fordern Gilles Deleuze und Félix Guattari eine „Nomadologie“ als Gegensatz einer Geschichtsschreibung, welche ausschließlich aus der Perspektive der Sesshaften erfolgt.24 Könnten sich deren Forderungen in Form von Kunstobjekten verbildlichen, wären es womöglich gerade Chalayans kleidsame Architekturen oder gar die tragbaren Stuhlmutationen, die sich als Lösung für ein nomadisches, zeit- und raumunabhängiges translokales Zuhause anbieten würden. Beschleunigte Umgebung – Getunte Körper Chalayans Material- und Schnittexperimente unter dem konzeptuellen Aspekt einer Enträumlichung finden sich in weiterentwickelter Form in der Herbst/WinterKollektion „Echoform“ (Abb. 5) von 1999 wieder. Auf dem Foto der Show ist eine frontal stehende junge Frau zu sehen. Ihr Körper ist in eine weiße, glänzende, harte Kunststoffhülle gefasst, welche, die Rundungen der Frau leicht nachformend, als Kleid agiert. Per Fernsteuerung bewegen und öffnen sich verschiedene Elemente des Kleids am Hals, dem rechten Kleidsaum und ein von der mittleren „Naht“ links abgetrennter, vertikal nach unten fahrender Ausschnitt. Körperpartien, wie Teile des Bauches um den Nabel und die linke Hüfte, treten dadurch zum Vorschein. Die in „The Tangent Flows“ angedeutete Vorliebe für klare, geometrische Formen sowie transdisziplinäres Arbeiten steigert sich in „Echoform“ zu einem Purismus mit architektonisch-technologischen Tendenzen. Eine herkömmliche Form – das klassisch weich und organisch fließende Kleid – wird in eine neue, visuell abstrakte, technisch gesteuerte und inhaltlich komplexere Form verwandelt. Wird die Idee tragbarer Architekturen auch in „Echoform“ angewandt, kann das Kunstharzkleid als eine konstruierte Fassade des menschlichen Körpers, der Schutz seiner Haut verstanden werden. Ein augenscheinlicher Aspekt ist dabei der Einsatz technischer Eigenschaften der sich bewegenden Klappen, wodurch die zunächst wahrgenommene „Architektur“ eine neue Bedeutung erhält. Mit dem mechanisch manipulierten Kleid setzt Chalayan dem menschlichen Körper gewissermaßen die
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Karosserie eines Fahrzeuges auf. Die weiße Farbe sowie die rechteckigen, langen, elegant wirkenden und bewegten Ausschnitte erinnern in der Folge zwangsläufig an Flugzeuge.25 Die Öffnungen fungieren dabei als Türen und Fenster, dennoch scheint ein Ausstieg unmöglich. Während das Außenleben eines Automobils oder Flugzeugs dem menschlichen Körper während einer Reise mehr Raum gewährt und diesen nur temporär einschließt, bindet die am Körper eng anliegende Kunststoffhülle den Menschen gänzlich an sich. Die Frau kann sich unmöglich aus dem „Gefährt“ befreien, es gibt sie nur in Symbiose mit dem anziehbaren Flugobjekt. Zwar ist der fleischliche Körper darunter unbeweglich; in Verbindung jedoch mit dem technisch aufgewerteten Kleid benötigt er keine Eigendynamik mehr und kann dadurch viel größere Entfernungen in kürzester Zeit zurücklegen. In dieser Konstellation scheint eine Verortung fraglich. Alleine schon das Flugzeug als „Ort, der nur dem Ortwechsel dient“26 weist auf seine einzige Funktion eines durchreisenden Bindeglieds zwischen Abflug- und Ankunftsort hin. Die vom Menschen eigens verursachte Beschleunigung der Umgebung verlangt nun auch von ihm selbst, sich anzupassen. Transformiert und mit dem Flugzeug verwachsen, gibt es zwar noch die Möglichkeit eines kurzweiligen Bodenkontakts, das Dazwischen wird jedoch zum herrschenden Zustand. Obgleich der unbewegliche, eingeschlossene Körper auch mit unangenehmen, klaustrophobischen Assoziationen in Verbindung gebracht werden könnte, ergeht es „Echoform“ wie den bisher aufgezeigten Entwürfen im Hinblick auf ihre ästhetische Lösung. Der weiße, glänzende sowie elegante und gar weibliche Kunststoffkörper ist alles andere als eine Vision des Grauens oder Verlustes. Der mit dem Flugzeug verbundene Mensch hat keineswegs seine Zugehörigkeiten verloren. Wie es die vielschichtigen Schnitte als Kulturenmetapher in „Geotropics“ vorweggenommen haben, ist die dicke und resistente Kunststoffhülle, die die Haut des Menschen bedeckende, in ihn eingeschriebene oder mit ihm verschmolzene mehrlagige Kultur selbst. Ohne diese wäre er kulturell nackt oder unbeschrieben – eine Tabula rasa, die ein Mensch, außer bei seiner Geburt, nie sein kann. In „Echoform“ erlangt er mit seiner kulturellen (Ver-)Formung überdies eine Bewegungsfreiheit, wie er sie in der rein fleischlichen Form nicht leben könnte. So ist das Dasein des reisenden, mit der Maschine verschmolzenen Menschen in der Mobilität selbst angesiedelt – jenseits von Raum und Zeit.
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In der (Im-)Mobilität zu Hause Eine weitere Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Räumen in kürzesten Zeitabschnitten im Dienste einer Reise zwischen den Kulturen und fachlichen Zugehörigkeiten zu bewegen, stellt Chalayan in seinem vierminütigen Kurzfilm „Place to Passage“ (Abb. 6) aus dem Jahr 2003 vor. Darin schickt er eine Frau in schlicht geschnittener, weißer Kleidung und androgyner Erscheinung auf eine virtuelle Reise von London nach Istanbul. Die dem vorderen Teil eines Flugzeugs ähnelnde minimalistische Kapsel bewegt sich dabei mit höchster Geschwindigkeit durch urbane Stadtszenen sowie traumhafte Seelandschaften, passiert moderne Gebäude und traditionelle Moscheen bis hin zur Ankunft am Bosporus, von wo aus die Reise in einem Loop erneut startet. Der Fluss Bosporus agiert dabei in seiner ursprünglichen Funktion als sowohl natürliche als auch politisch gewachsene Grenze zwischen den Kontinenten Asien und Europa. Abgesehen von der Brücke als einem Bindeglied beider Kontinente kommen sich mit der im Film fingierten, geografischen Reise im Dauerzustand auch die räumlich und kulturell entferntesten Orte näher. So wird mithilfe der beiden Metropolen Istanbul und London eine virtuelle, sich beständig wiederholende Wanderschaft jenseits von geografischen oder nationalen Grenzen suggeriert. Chalayan selbst erlebt London als Stadt, in der Zugehörigkeiten aus der Perspektive vielfacher kultureller Prägungen neu definiert werden. Als „displaced person“27, wie er sich selbst bezeichnet, ist er in globalen Städten dieser Größe kontinuierlichen gesellschaftlichen Bewegungen ausgesetzt. Zypern, die Insel seiner Kindheit, nimmt Chalayan als in seiner Geschichtsschreibung, kulturellen Prägung und Mischung abgeschlossen wahr.28 Veränderungen machen sich dort nur in einem sehr langen Zeitraum bemerkbar.29 Städte wie London oder Istanbul hingegen erleben noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt Umbrüche, Umschreibungen oder Umformungen. Kulturelle Überlagerungen oder eine „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten“ im Sinne einer Schichtung mehrerer historischer Einschreibungen können in der Stadt in seiner aktivsten Form wahrgenommen werden.30 Diese Kulturlagen, die unter anderem am Beispiel des geschichteten Kleids in „Geotropics“ aufgezeigt wurden, finden sich in der Metropole am deutlichsten inkorporiert. Wie Erol Yıldız bemerkt, stehen Großstädte per se für Migration,31 die wiederum Heterogenität und Diversität erzeugt. Der in Metropolen lebende Mensch ist folglich allzeit mit Anpassungsprozessen beschäftigt und damit einem immerwährenden Wandel verhaftet, der gleichzeitig dauernde Bewegung impliziert. So unterstreichen die sich ständig wiederholenden
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und somit permanent mobilen Filmsequenzen im Loop den Gedanken von Großstädten als Orten ewiger Bewegung oder gar Durchreise. Wie Chalayans tragbare Zelt-, Möbel- und Flugzeugobjekte formuliert also auch „Place to Passage“ eine Absage an die Sesshaftigkeit mit gleichzeitiger Proklamation postmodern-nomadischer Lebensweisen. Während jedoch das mechanisierte Flugzeugkleid von „Echoform“ den Menschen noch selbst zum Teil seiner physisch angedeuteten Aktion werden lässt, bleibt die in der Kapsel reisende Dame eher passiv. Im Film sitzt, isst, schläft und lebt zwar die Frau in diesem wohnlichen Flugobjekt, doch ist ihre eigene Bewegung nicht von der Kapsel abhängig. Anders als in „Echoform“ ist sie nicht mit der Kapsel verwachsen und vollzieht nicht – wie die Paarung von Flugzeug und Trägerin – den Flug selbst. Ein Ein- oder Ausstieg wäre demnach möglich, gäbe es nicht die Loop-Schleife im Film und die damit angedeutete nie endende Reise. Der Begriff der Passage aus dem Titel verweist dabei auf eine Mobilität in Negation zum Sesshaften32, wie sie überdies auch mit Migration gleichgesetzt wird.33 Andererseits kann der Titel auch als „Ort zur Durchreise“ gelesen werden, wodurch vielmehr eine Passivität der Passagierin vorausgesetzt wird, da zur Fortbewegung der „Maschine“ nicht ihre eigene Aktivität vonnöten ist. Erhält sich die mechanisch-organische Konstruktion in „Echoform“ noch gelegentlich die Möglichkeit eines physischen An- und Abflugs vor und damit eine Bewegung des Passagiers selbst, bleibt die Reisende in ihrer dauerhaft mobilen Kapsel eher immobil. Betrachtet man die Kapsel unter dem Aspekt einer Metapher des postmodernen Informationszeitalters, wird gerade in Verbindung mit den im Film gezeigten Großstädten die Inaktivität der Passagierin verständlicher. Mit der Flexibilisierung und Fragmentierung der Produktion am Ende des 20. Jahrhunderts sowie einer beschleunigten Zirkulation von Objekten und Subjekten setzt ein Wandel von Raum- und Zeitverständnis ein.34 Nicht nur ein Mehrfaches der früheren räumlichen Entfernungen kann nun in der gleichen Zeit zurückgelegt werden, sondern gar eine Simultaneität beider Dimensionen stattfinden. Nun geschehen Aktion und Reaktion gleichzeitig, die Welt wird komprimierter, fällt in eins.35 Diese insbesondere für Großstädte kennzeichnenden maschinellen Beschleunigungsprozesse können schließlich nur mit einer Zunahme von körperlicher Immobilität oder gar in letzter Instanz mit einem Stillstand einhergehen.36 Die Mobilität der für uns „zur Durchreise“ entwickelten Transportmittel muss demnach im Verhältnis zu den begrenzten Fähigkeiten des or-
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ganischen Passagiers betrachtet werden. Mit seinem eigenen körperlichen Stillstand fallen konsequenterweise auch der physisch vollzogene Austausch sowie die Interaktion weg. Wie in „Afterwords“ bereits angedeutet, kann Verortung auch in der Imagination stattfinden, so wie es der Film mit einer virtuellen Reise vorschlägt. Der Wandernde kann sich nun ohne jegliche körperliche Anstrengung zu jeder Zeit an jedem Ort gleichzeitig aufhalten. Mit der technischen Anpassung an eine Neukonzeptualisierung von Raum und Zeit scheint sich in „Place to Passage“ auch eine neue Identität des zwischen den Kulturen Reisenden geformt zu haben. Mit der zur gleichen Zeit gelebten Translokalität und -kulturalität wird Mehrfachzuordnung selbstverständlich. Weniger als äußere Last, wie es ein Stuhl, Zelt oder gar Flugzeug anzudeuten vermögen, sondern vielmehr als Teil des Selbst oder gar als seine eigene Verlängerung. Wenn Marshall McLuhan von Kleidung als Verlängerung des menschlichen Körpers, seiner Haut spricht,37 bietet es sich an, die Verbildlichung dieser Gedanken in den Kulturschichten von „Geotropics“ oder den mit den Trägern verwachsenen Stuhl- und Flugzeugkleidern zu suchen. In „Place to Passage“ wandelt sich überdies der einstige Stuhl zu einem Ganzkörpersessel, den Frauenkörper in fast organischer, uterusähnlicher, beschützender Art sanft umschließend. Wiederum in ästhetischer Perfektion und stillem, poetischem Wohlklang verbildlicht, ist die Kapsel Stellvertreterin einer pluralen, bewegten, aber auch in Sicherheit und Schutz verhafteten Identität. Sie wird zum Ort der Abreise, der Ankunft und der erneuten Reiseaufnahme, mit der das Erreichen aller außenstehenden Räume nur noch rein virtuell gelebt wird. Ein Aussteigen erübrigt sich. Ziel: Transit Bereits im frühen 20. Jahrhundert reagieren einige Künstlerbewegungen, insbesondere die Futuristen, progressiv auf die Veränderungen der Zeit. Der Motor und die damit einhergehende schnelle Fortbewegung wurden glorifiziert und besungen, die industrialisierte, dynamische und rastlose Großstadt romantisch verklärt. Die der Technik verpflichtete Umgebung sollte eine vollkommen neue Gestalt hervorbringen: eine Mensch-Maschine als hervorragendste aller Erfindungen. Etwas Romantisches mag auch Chalayans Vorschlag für den neuen, in stetige Bewegung versetzten Menschentypus anhaften. Dieser jedoch muss sich im Vergleich zum futuristischen Menschen längst nicht mehr nur einer im Stand der Industrialisierung verhafteten
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Großstadt anpassen. Mit seiner Kleidung, die sich aus einem Stück Stoff oder gar einem Möbelstück heraus entwickelt und damit den Menschen selbst verlängert und transformiert, ist der kulturelle Grenzgänger für ein Leben zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten des postmodernen, im Fluss verhafteten Informationszeitalters ausgestattet. Utopisch mögen Chalayans Entwürfe für eine Simultaneität von Raum und Zeit nur dann erscheinen, betrachtet man sie ausschließlich als technische Errungenschaften angesichts unserer heutigen, weitgehend begrenzten Möglichkeiten. Interessanter als die technische Realisierbarkeit dieser künstlerisch formulierten Simulationen erscheint allerdings die gewählte Formensprache. Anhand sauberer, makelloser, ästhetisch perfektionierter Designoberflächen, die auf den ersten Blick eine Mythologisierung und Idealisierung des Nomaden unterstreichen würden, wird ein neuer Nomade verbildlicht, der längst die Steppen abgelegener Landschaften verlassen hat und wichtiger Träger des postmodernen Alltags geworden ist. Den Transformationen des Selbst in neuer Umgebung entsprechend, werden alle Objekte einer Multidisziplinarität unterzogen. Der ästhetisch vollendete Wandel in einer Verbindung von Mode, Industriedesign, Architektur, Film, Performance und Installation drückt das Potenzial einer Mehrfachzuordnung aus und folgt der geistigen Metamorphose des Migranten, Exilanten oder Wanderers. In harmonischer Verbindung mit seinem tragbaren Heim in Form von Möbeln und Raum und Zeit überwindenden Maschinen kann er seine Durchreise zwischen Kulturen und Orten antreten. Verluste sind ausgeschlossen, wenn das Zuhause translozierbar wird und damit an jedem Ort und zu jeder Zeit physisch oder in letztlich technischer Entwicklung geistig erfahrbar. Die gefühlte oder gedachte Mobilität wird zum eigentlichen Reiseziel: im Transit Zuhause. 1 | Vgl. u.a. Helmuth Berking: „Global flows and Local Cultures“. Über die Rekonfiguration sozialer Räume im Globalisierungsprozeß, in: Berliner Journal für Soziologie, Bd. 8, 1998, H. 3, S. 381–392, hier S. 383. 2 | Vgl. Ramona Lenz: Mobilitäten in Europa: Migration und Tourismus auf Kreta und Zypern im Kontext des europäischen Grenzregimes, Phil. Diss. Frankfurt am Main 1994, Wiesbaden 2010, S. 53. Lenz bezieht sich auf Ulf Hannerz’ „flow“-Metapher für die Umschreibung der Organisation von Kultur im stetigen Fluss. 3 | Sigmund Freud führt den Ursprung des Wortes „Unheimlich“ auf einen Gegensatz zur positiv konnotierten Bedeutung von „Heimlich“ zurück, u.a. als „[…] zum Hause gehörig, nicht fremd, vertraut, zahm etc. […]“. Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche (1919), in: Alexander Mitscherlich u.a. (Hg.): Psychologische Schriften. Studienausgabe, 4 Bde., 4. korr. Aufl. Frankfurt am Main 1978, Bd. 4, S. 241–274, hier S. 245. 4 | Vgl. Clifford Geertz: Afterword, in: Steven Feld und Keith Basso (Hg.): Senses of Place, 5. Aufl. Santa Fe 2005, S. 259–262, hier S. 262.
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5 | Vgl. Geertz 2005 (wie Anm. 4), S. 259, 261. 6 | Vgl. Berking 1998 (wie Anm. 1), S. 390. 7 | Vgl. Hussein Chalayan 1994–2010, hg. v. Esin Eşkinat, Ausst.-Kat. Istanbul Modern Sanat Müzesi, Istanbul 2010, S. 54. 8 | Vgl. Hussein Chalayan, in: Eşkinat 2010 (wie Anm. 7), S. 54. 9 | Vgl. Lenz 2010 (wie Anm. 2), S. 36. Lenz stellt verschiedene Metaphern der Sesshaftigkeit aus der Botanik vor, die eine „natürliche“ Bindung des Menschen an einen Ort suggerieren sollen. 10 | Vgl. Lenz 2010 (wie Anm. 2), S. 37. Über Mobilität als Dysfunktions. Tim Cresswell: On the Move. Mobility in the Modern Western World, New York/London 2006, S. 32. 11 | Vgl. Edward W. Said: Reflections on Exile and other essays, 2. Aufl. Cambridge (Mass.) 2001, S. 173–186, hier S. 173. 12 | Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne [engl. Originalausg.: Liquid Modernity, Cambridge u.a. 2000], Frankfurt am Main 2003, S. 21. 13 | Vgl. Greg Hilty: Place and Passage, in: Modern Painters, Bd. 17, 2004, H. 2, S. 35–37, hier S. 37. 14 | Vgl. Sue-an van der Zijpp: Introduction to the Collections, in: Caroline Evans (Hg.): Hussein Chalayan, Ausst.-Kat. Groninger Museum, Groningen, Rotterdam 2005, S. 16–45, 52–105, 112–153, 158–191, hier S. 80. 15 | Vgl. Van der Zijpp 2005 (wie Anm. 14), S. 80. 16 | Den Begriff der Kultur als in sich abgeschlossenen „container“ prägte Albert Einstein 1960. Für einen tiefergehenden Einblick in absolutistische und relativistische Raumvorstellungen vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 24–35. Zum Container-Begriff vgl. S. 24. 17 | Vgl. Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, in: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 11–40 und passim. 18 | Vgl. Pamela Golbin: Afterwords, in: Robert Violette (Hg.): Hussein Chalayan, New York u.a. 2011, S. 240. 19 | Ebd. 20 | Ebd. 21 | Vgl. Susannah Frankel: Border Crossing, in: Violette 2011 (wie Anm. 18), S. 16–28, hier S. 20. 22 | Vgl. Vilém Flusser: Nomaden, in: Horst Gerhard Haberl, Werner Krause und Peter Strasser (Hg.): auf, und, davon. Eine Nomadologie der Neunziger, Graz 1990, S. 13–38, hier S. 21. 23 | Vgl. Ulf Hannerz: Flows, Boundaries and Hybrids: Keywords in Transnational Anthropology, Working Paper Series (2000), in: http://www.transcomm.ox.ac.uk/working%20papers/hannerz.pdf [Abruf 10.5.2012], S. 4 ff. 24 | Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, hg. v. Günther Rösch [frz. Originalausg.: Mille Plateaux, Paris 1980], Berlin 1992, S. 39. 25 | Der Titel „Echoform“ leitet sich maßgeblich von den als Echo zu vernehmenden Formen des Flugzeugs ab. Vgl. Van der Zijp 2005 (wie Anm. 14), S. 62. 26 | Hans Magnus Enzensberger: Die große Wanderung: Dreiunddreißig Markierungen. Mit einer Fußnote ‚Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd‘, 7. Aufl. Frankfurt am Main 1993, S. 13. 27 | Vgl. Amy de la Haye: Studio: Hussein Chalayan, in: Tate, Bd. 4, 2003, S. 54–59, hier S. 56. 28 | Vgl. Marcus Fairs: Super Contemporary Interviews: Hussein Chalayan (11.06.2009), in: dezeen magazine, http://www.dezeen.com/2009/06/11/super-contemporary-interviews-hussein-chalayan/ [Abruf 10.3.11]. 29 | Vgl. Fairs 2009 (wie Anm. 28). 30 | Vgl. Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt, in: Moritz Csáky und Christoph Leitgeb (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“, Bielefeld 2009, S. 13–27, hier S. 18 ff. Assmann begreift Stadt als Palimpsest mit einer in den unterschiedlichen Schichten urbaner Bausubstanz eingeschriebenen Geschichte. 31 | Vgl. Erol Yıldız: Migration bewegt die Stadt: EinwanderInnen als ExpertInnen ihrer selbstorganisierten Integration, in: Natalie Bayer u. a. (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, Ausst.-Kat. Rathausgalerie der Landeshauptstadt München, München 2009, S. 20–23, hier S. 21.
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32 | Vgl. Enzensberger 1993 (wie Anm. 26), S. 13. 33 | Vgl. Manuela Bojadzijev: Geschichte der Migration neu schreiben. Erkundungen und Entdeckungen jenseits der Grenzen nationaler Geschichtsschreibung, in: Bayer u.a. 2009 (wie Anm. 31), S. 102–105, hier S. 104. 34 | Vgl. Lenz 2010 (wie Anm. 2), S. 50 f. 35 | Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle [engl. Originalausg.: Understanding Media. The extensions of man, New York 1964], Düsseldorf/Wien 1968, S. 9 f. 36 | Vgl. Lenz 2010 (wie Anm. 2), S. 56 f. 37 | McLuhan 1968 (wie Anm. 35), S. 9.
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Elke Frietsch
RASTER DES FILMS. INSZENIERUNGEN VON KÖRPER- UND LANDESGRENZEN IN „THE BUBBLE“ VON EYTAN FOX (ISR 2006)
Wenn Migration in der Tagespresse verhandelt wird, ist der Islam ein zunehmend wichtiges Thema. Debattiert wird oft über eine vermeintlich mangelnde Integrationsfähigkeit islamisch geprägter Migranten und über eine „Rückschrittlichkeit“ muslimischer Kulturen. Solche Vorbehalte werden nicht nur innerhalb der Mainstreamkultur geäußert, sondern auch innerhalb von Minderheiten selbst, etwa schwul-lesbischer Gruppierungen. Oft wird dabei das Bild des frauenfeindlichen und homophoben Muslim gezeichnet, der noch nicht in der Moderne angekommen sei. Die Aufsehen erregende Ablehnung des Zivilcouragepreises des Berliner CSD im Juni 2010 durch die Philosophin Judith Butler zeugt von dieser Problematik.1 Judith Butler hatte die Annahme des Preises der queeren Institution verweigert, weil es im Umfeld der Vereinigung zu rassistischen Äußerungen gekommen war. Darüber hinaus hat sich die Autorin in mehreren Veröffentlichungen kritisch mit der aktuellen Wahrnehmung des Islam und des Nahostkonflikts beschäftigt.2 Wie auch die Theoretikerin Jasbir Puar geht sie davon aus, dass der Begriff „Emanzipation“ im Kampf gegen muslimische Minderheiten instrumentalisiert wird.3 So werden in den USA und Westeuropa die Akzeptanz von Homosexualität, Frauenrechten und sexueller Freiheit oft als Ausdruck der Liberalität und Fortschrittlichkeit westlicher Kulturen betrachtet, während der Islam, insbesondere aufgrund seiner Vorbehalte gegenüber Homosexualität, als rückschrittlich und nicht mit der Moderne vereinbar erscheint.4 Butler kritisiert, dass damit ein falsches Bild vom Westen gezeichnet wird, in dem Rechte und Freiheit garantiert seien. Genauso werde aber auch ein falsches Bild von muslimischen Kulturen geprägt, indem diese als homogener dargestellt würden, als sie es eigentlich seien. Solche Interventionen aus der Theorie werden durch politische Aktionen gestützt und ergänzt. In Israel etwa haben sich queere Gruppen wie „Black Laundry“ herausgebildet, die mit dem Slogan „There is no pride in occupation“ gegen die israelische
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Besatzungspolitik protestieren.5 Pauschalisierenden Bildern des Islam und muslimischer Migranten wird nicht nur innerhalb der Theorie und politischer Aktionen begegnet, sondern auch im Spielfilm. Im vorliegenden Aufsatz beschäftige ich mich mit „The Bubble“ von Eytan Fox.6 „The Bubble“ porträtiert eine queere Subkultur in Israel, die der verbreiteten binären Vorstellung eines homophoben Islam und freiheitlichen Westens widerspricht. Der Film kreiert vielschichtige Bilder über die Zustände in Nahost, die dem Stereotyp des islamischen Gewalttäters ebenso entgegenstehen wie Imaginationen eines rückständigen Islam, der noch nicht in der Moderne angekommen sei. Gleichzeitig wird der Unwissenheit über die Lage der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland mit Bildern begegnet, die die westlichen Betrachter über die dort herrschenden Verhältnisse aufklären können. Darüber hinaus werden homophobe Tendenzen in islamisch geprägten Kulturen nicht etwa ignoriert oder verschwiegen, sondern durchaus zum Thema gemacht. Nahostkonflikt und Migration Ob sie es wollen oder nicht – in der aktuellen Situation in Nahost werden die Palästinenser zu Migranten. Die Palästinenser, die in den von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland und im Gazastreifen leben, sind ständig mit Grenzen und Grenzkontrollen im eigenen Land konfrontiert. Zwischen den palästinensischen Städten und Dörfern sind Checkpoints eingerichtet. Ob die Einwohner diese überqueren können, um ihren Zielort zu erreichen, hängt von der Einschätzung der jeweiligen Militärposten ab. Militärisch sind die Palästinenser den Israelis deutlich unterlegen.7 Bilder über die Situation an den Grenzposten in den von Israel besetzten Gebieten gelangen kaum in die internationalen Medien. Daher kommt dem Medium Film besondere Bedeutung bei der Sichtbarmachung der Konflikte zu. Dokumentar- und Spielfilme greifen die Thematik in unterschiedlicher Weise auf, um sich in das Feld der Deutungen einzumischen. Viel besprochen wurden in den letzten Jahren Filme wie „Paradise Now“ (Hany Abu-Assad, ISR/NL/D/F 2005) oder „Alles für meinen Vater“ (Dror Zahavi, ISR 2009).8 Weniger bekannt ist Eytan Fox’ Spielfilm „The Bubble“ aus dem Jahr 2006. Er zeigt mögliche Zugangsweisen zum Nahostkonflikt auf, die von theoretischen Konzepten aus den Gender und Postcolonial Studies inspiriert scheinen, in denen Kulturalisierungen wie auch Konstruktionsprozesse von Identitäten performativ vorgeführt werden.
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Checkpoints „The Bubble“ beginnt mit einer quälend langen Szene über eine Totgeburt am Checkpoint in Nablus. Für den israelischen Reservesoldaten Noam ist es sein letzter Arbeitstag. Den ganzen Monat über hatte er mit anderen Soldaten die Wegsperren zu überwachen und die Palästinenser, die die Grenze passierten, zu kontrollieren. Nablus ist die größte Stadt Palästinas. Die israelischen Streitkräfte riegeln Nablus aus Angst davor, dass Selbstmordattentäter von dort nach Israel gelangen könnten, regelrecht ab. Die Einwohner kommen nur durch Wegsperren hinaus und hinein. Rund 60 % der Anschläge gegen Israel wurden in Nablus organisiert.9 Der Film zeigt die Konflikte an der Grenze mit extremem Realismus, der an die Aufnahmen in dem Dokumentarfilm „Checkpoint“ (Yoav Shamir, ISR 2003, Abb. 1) erinnert. Die Vorfälle am Checkpoint, die Noam heute erlebt, sind ihm zur Genüge bekannt. Die Männer müssen ihre Hemden hochziehen, um zu beweisen, dass sie keine Bombe darunter verbergen. Auch vor einer schwangeren Frau macht die Kontrolle nicht halt. Doch dann gerät die Situation außer Kontrolle: Die Wehen setzen ein und die Frau hat eine Totgeburt (Abb. 2). Ein Fernsehteam filmt das Schreien der Frau, die Wut der Palästinenser, die überzeugt sind, die israelischen Soldaten seien Schuld am Tod des Kindes. Dass Noam die Situation bedauert, sieht man an seinem verzweifelten Gesichtsausdruck, als er versucht, der schwangeren Frau zu helfen. Nach der Totgeburt hat er neben seinem Schweiß auch Blut des toten Kindes im Gesicht. Auf der Fahrt im Auto von Nablus nach Tel Aviv versucht er, die Erlebnisse hinter sich zu lassen, während er im Rhythmus des Refrains „This is the first day of my life“ vor sich hin summt. Indem uns die ersten Filmbilder durch die Videokamera des Fernsehteams gezeigt werden und gleichzeitig verdeutlicht wird, dass es sich um „verbotene Aufnahmen“ handelt, da das Filmen am Checkpoint illegal ist (Abb. 3), wird die mediale Konstruiertheit unserer Auffassungen über politische Themen verdeutlicht. Die Bedeutung der Medien bei der Auswahl dessen, was sichtbar und damit bewusst werden darf und was nicht, rückt in den Blick. Das Aufnahmeraster der Kamera, welche die Vorfälle filmt, entspricht im Sinne Judith Butlers einem „Raster des Krieges“: Demnach nehmen wir andere Menschen über eine Rahmung wahr. Je nachdem, in welchem sozialen Kontext sie erscheinen, werden sie als kulturell intelligibel aufgefasst oder nicht. So werden beispielsweise Flüchtlinge oft aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, was sie leichter in Todesgefahr bringt.10 Da sie keinen
Abb. 1: Kontrollen an der Grenzsperre in Nablus, Screenshot aus „Checkpoint“ (Yoav Shamir, ISR 2003)181 b
Abb. 2: Eine Palästinenserin erleidet am Checkpoint in Nablus eine Totgeburt, Screenshot aus „The Bubble“, Eytan Fox, ISR 2006)
Subjektstatus haben, wird ihr Leben von der Öffentlichkeit kaum als solches wahrgenommen und dementsprechend auch kaum betrauert. Butler vertritt die These, dass: „[…] spezifische Leben nur dann als beschädigt oder zerstört wahrgenommen werden, wenn sie zuvor überhaupt als lebendig wahrgenommen worden sind. Wenn bestimmte Leben gar nicht als Leben gelten oder von Anfang an aus gewissen epistemologischen Rastern (frames) herausfallen, dann werden diese Leben im vollen Wortsinn niemals gelebt und auch niemals ausgelöscht. […] Die Rahmen oder Raster (frames), mittels welcher wir das Leben anderer als zerstört oder beschädigt (und überhaupt als des Verlustes oder der Beschädigung fähig) wahrnehmen oder eben nicht wahrnehmen, sind politisch mitbestimmt. Sie sind ihrerseits schon das Ergebnis zielgerichteter Verfahren der Macht.“11 Die Rahmung ist nie abgeschlossen, sondern einem unablässigen performativen Prozess unterzogen, der zur Verschiebung, Neuordnung oder auch zur wiederholten Rahmung bereits bestehender Rahmen führen kann.12 Ähnliches verdeutlicht Eytan Fox durch seine Darstellung der Totgeburt am Checkpoint: Indem die Szene der Totgeburt durch die Kamera aufgenommen wird, schafft sie eine Rahmung der Betrau-
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Abb. 3: Ein Kamerateam filmt illegal am Grenzposten, aus „The Bubble“
erbarkeit eines Lebens, das vorher kaum als solches registriert wurde. Denn an den Checkpoints gelten die Palästinenser oft nicht als Menschen. „Wir sind Menschen, sie sind Tiere. Sie sind keine Menschen – wir schon“, erklärt ein israelischer Soldat in dem Dokumentarfilm „Checkpoint“ aus dem Jahr 2003 – eine Meinung, die auch der eine oder andere israelische Soldat, der in der Szene am Checkpoint in dem Film „The Bubble“ die Totgeburt beobachtet, zu vertreten scheint. Betroffenheit sieht man aber ebenfalls in den Gesichtern. Die Raster der Kamera des Fernsehteams dokumentieren die Vorgänge und schaffen so ein neues Wahrnehmungsraster möglicher Trauer. Dabei gibt diese Szene nicht einfach eine theoretische Position, etwa diejenige Butlers zur Rahmung wieder, sondern geht deutlich darüber hinaus. Denn sie zeigt, welche Bedeutung die Medien bei der Konstruktion von Rahmen haben. Sie können sichtbar oder unsichtbar machen und Interpretationen durch Rückgriffe in das Repertoire des Bildgedächtnisses leiten – ein Aspekt, den Judith Butler in ihrer theoretischen Analyse nur wenig beachtet13 und den der Film ins Bewusstsein rückt.14 Zurück in Tel Aviv, versuchen Noam und seine Freunde Lulu und Yali, in ihrer Wohngemeinschaft ein Stück Normalität zu leben. „Und wie waren die Jungs in der Armee? Kein einziger sexy Selbstmordattentäter heute?“, wird Noam von seinem
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Abb. 4: Ashraf macht einen parodistischen Strip, aus „The Bubble“
homosexuellen Mitbewohner Yali gefragt. Noam kann über die ironische Frage nicht lachen, da er immer noch an die Vorfälle am Checkpoint denkt. Die Erinnerung holt ihn gänzlich ein, als plötzlich der Palästinenser Ashraf vor der Tür steht. Ashraf war einer der Männer, die am Checkpoint ihr Hemd hochziehen mussten, um zu beweisen, dass sie keine Bombe darunter verbergen. Ashraf drückt Noam dessen ID-Card in die Hand und erklärt, dass er diese wohl während der Turbulenzen am Checkpoint verloren habe. Begann der Film mit dokumentarisch anmutenden Aufnahmen am Checkpoint, so folgt nun eine Liebesgeschichte mit utopischen Elementen und dekonstruktivistischem Potenzial. Bereits in der Szene am Checkpoint wurde dies angedeutet, als Ashraf dem Befehl eines Soldaten, sein Hemd hochzuziehen, betont langsam folgte und damit aus der demütigenden Anweisung eine Art parodistischen Strip machte (Abb. 4). Noam, dessen Abwehr gegen die Situation am Checkpoint und die Demütigungen der Palästinenser unter anderem in seinen Kommentaren seinem Vorgesetzten gegenüber deutlich wurde, begann zum ersten Mal Interesse zu zeigen. Er nahm den Kopfhörer seines MP3-Players ab und begann, anstatt der Musik zuzuhören, Ashrafs wohlproportionierten Körper zu betrachten. Wie schon in „Yossi & Yagger“ (ISR 2002) inszeniert Regisseur Eytan Fox auch in „The Bubble“ die Kombination politischer Konflikte mit einer Liebesgeschichte und der Darstellung von Homo-
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sexualität. Stehen in „Yossi & Yagger“ Liebesszenen und die Thematisierung von Problemen eines homosexuellen Coming-out im israelischen Militär im Zentrum, so geht es in „The Bubble“ um ein kompliziertes Geflecht von Konstruktionen „des Eigenen“ und „des Anderen“. Weisen die Dialoge zwischen Ashraf und Noam eine metaphorische Ebene auf, welche die Differenz zwischen beiden kenntlich macht, so schaffen die Gespräche zwischen Noam und seinem israelischen Mitbewohner Yali eine zusätzliche Ebene, in der ein gewisses ironisches Misstrauen enthalten ist, das sich im Laufe der Filmhandlung zusehends in Eifersucht gegenüber dem Palästinenser Ashraf steigert und eine sich anbahnende Eskalation anzeigt. So steigert Yali seinen Wortwitz zum Thema Selbstmordattentat, den er schon in einer der ersten Szenen des Films mit der Frage eingeleitet hatte, ob es am Checkpoint „sexy Selbstmordattentäter“ gegeben habe, indem er nun Noam fragt: „Was erwartet einen schwulen Märtyrer im Paradies? 70 Jünglinge oder 70 Muskelpakete? Glaubst du, er kann wählen?“ Der Witz hat einen gewissen Sarkasmus, er spielt auf das Versprechen an, das Selbstmordattentätern von Islamisten gegeben wird, sie würden im Paradies für ihre Tat mit schönen Jungfrauen belohnt.15 Yali charakterisiert den Islam insgesamt als homophob und suggeriert, dass sich ein schwuler Mann von dieser Religion kaum angezogen fühlen könne. Damit thematisiert der Film kritisch Islamfeindlichkeit unter Homosexuellen, die Jasbir Puar in ihrem Buch „Terrorist Assemblages“ in den Begriff „Homonationalismus“ gefasst hat.16 Puar verdeutlicht, dass Homosexuelle historisch gesehen oft nicht als Teil von Gemeinschaften, sondern als schädlich für diese angesehen wurden. Im „Krieg gegen den Terror“ hingegen wurde Homosexualität teilweise rehabilitiert. Gleichzeitig kam es jedoch zu Stereotypisierungen des „Orients“, wobei muslimische Minderheiten pauschalisierend mit Gefahr assoziiert wurden.17 Neben solchen Ausgrenzungen verdeutlicht die Filmszene, dass die Stilisierung aller Palästinenser zu Selbstmordattentätern auch eine identitätskonstruierende Ebene enthält. Die Gleichsetzung von Palästinensern mit Selbstmordattentätern könne sie, so ließe sich in Auseinandersetzung mit Butlers Methode der Diskursanalyse sagen,18 in der Realität tatsächlich zu solchen machen. Ashrafs Wandlung von einem „normalen jungen Mann“ zu einem Selbstmordattentäter zeichnet sich hier bereits ab. Der Film macht deutlich, dass diese Wandlung nicht in Ashrafs „palästinensischer Natur“ liegt, sondern von performativen Zuschreibungen geprägt ist.
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Nicht die offizielle Politik und das Militär erscheinen als gewalttätig und diskriminierend, sondern es wird gezeigt, dass scheinbar abstrakte Größen wie Militär und Staatsgewalt generell aus einzelnen Personen bestehen, die der offiziellen Politik kritisch gegenüber stehen können, auch wenn sie diese partiell mittragen. In Bezug auf Noam etwa wird dies deutlich, als im Film erwähnt wird, dass er den Militärdienst nicht verweigert hat. Dennoch ist er in queeren Gruppierungen aktiv, die sich gegen staatliche Gewalt aussprechen. Er verliebt sich in einen Palästinenser und hat keine diskriminierenden Vorannahmen, trägt diese zum Teil aber mit. Selbst als die Freunde Ashraf helfen, wird deutlich, dass der Kollegialität eine koloniale Geste mit eingeschrieben ist. „Ich habe ihn als Kellner eingestellt“, erklärt Yali, „wir brauchen einen neuen Namen, einen neuen Lebenslauf.“ Ashraf muss eine jüdische Identität annehmen, um nicht als Palästinenser aufzufallen. Niemand darf seine palästinensische Herkunft bemerken, da er sich illegal in Tel Aviv aufhält. Schließlich bekommt er den Namen Shimi. „Das kommt von Shimon“, weiß Lulu, worauf Yali zu witzeln beginnt, dann sei Ashraf alias „Shimi“ wohl der erste Selbstmordattentäter. „Ich will sterben mit den Philistern!“, ruft er lachend aus und spielt damit auf das Ende der biblischen Figur Simson an. Zur Zeit Simsons wurde das Volk Israel von den Philistern unterdrückt. Als Simson von diesen gefangen genommen wurde, beschloss er, sich an den Philistern, von denen sich 3000 in einer großen Halle versammelt hatten, zu rächen. So heißt es im Alten Testament: „Simson aber rief den Herrn an und sprach: ‚Herr, Herr, denke an mich und gib mir Kraft!‘ […] Und er umfasste die zwei Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit seiner rechten und die andere mit seiner linken Hand, und stemmte sich gegen sie und sprach: ‚Ich will sterben mit den Philistern!‘ […] Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war […].“19 Ungewollt hat Yalis Ausruf „Ich will sterben mit den Philistern!“ also eine doppelbödige Aussage. Sie konstruiert nicht nur die Identität eines palästinensischen Selbstmordattentäters, sie verweist auch darauf, dass Selbstmordattentate nichts spezifisch Palästinensisches an sich haben, sondern auch in anderen Religionen als den islamischen vorkommen.20 An dieser Stelle im Film ist dies besonders prägnant, da Ashraf gezwungen ist, eine neue Identität anzunehmen und diese quasi perfekt adaptiert. Er ist als Palästinenser nicht zu erkennen.
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Ashraf bekommt Kleidung, wie sie unter jungen israelischen Männern als modern gilt, und die neuen Freunde zeigen ihm, wie er sich als Kellner verhalten muss, um in einer angesagten Bar in Tel Aviv anzukommen. Da Ashraf nicht nur gut aussieht, sondern auch akzentfrei Hebräisch spricht, vollzieht er die Wandlung perfekt. Erklärungsbedürftig erscheint auch das allerdings: „Warum hast du keinen Akzent?“, möchte Lulu wissen, worauf Ashraf kontert: „Akzent sofort zurückkommen. Wie heißen Du?“ Ashraf erklärt, dass er in Jerusalem aufgewachsen sei. Sein Onkel habe ein Souvenirgeschäft, und sie hätten viele jüdische Kunden, darum spreche er akzentfrei Hebräisch. Mit der Inszenierung von Ashrafs Identitätswandel wird filmisch umgesetzt, was postkoloniale Theoretiker, etwa Homi Bhabha, analysiert haben: Vorstellungen des kolonialen Anderen werden von Kolonialmächten konstruiert, um ihre eigene Überlegenheit und Identität abzusichern.21 Die Andersheit ist also sozial hergestellt. Das bedeutet, dass die Kolonisierten prinzipiell auch den Platz der Kolonisatoren einnehmen können – wovor die Kolonisatoren sich fürchten.22 Im Sinne Bhabhas lässt sich Ashrafs Angleichung an die jüdische Identität als eine Art Mimikry beschreiben, als Möglichkeit der Angleichung an die Identität der Kolonisatoren beziehungsweise hier der Besatzer. Dabei wird die Ambivalenz der Mimikry kenntlich: Einerseits erscheint sie als Zwang, eine fremde Identität anzunehmen, andererseits auch als Möglichkeit der Subversion und offensiven Strategie.23 Identität erscheint im Sinne Bhabhas als „gespalten“ und „hybrid“.24 Ashraf passt sich perfekt an seine Umgebung an. Doch er wird von einem Israeli erkannt, der ihn bei früherer Gelegenheit als Palästinenser kennengelernt hatte. Dieser nutzt die Situation, um sich wegen einer zurückliegenden Streitigkeit zu rächen und Ashraf im Café als Palästinenser zu denunzieren, der sich illegal in Tel Aviv aufhält. Ashraf bleibt nur die Flucht zurück nach Nablus, ohne sich von Noam zu verabschieden. Denn homosexuelle Palästinenser, die an ihrem Herkunftsort oft erheblichen Restriktionen ausgesetzt sind, genießen in Israel kein Recht auf Schutz und Aufenthalt.25 Als sich in Tel Aviv ein Selbstmordattentäter aus Nablus in die Luft sprengt, spitzt sich die Lage zu. Yali wird bei dem Attentat verletzt und liegt im Krankenhaus. Für Noam ist das Grund, sich emotional etwas von seinem palästinensischen Freund zu distanzieren. Dabei weiß er das Schlimmste noch gar nicht: Ashrafs Familie ist in das Attentat verstrickt. Jihad, der Ehemann seiner Schwester Rana – sie haben am Tag zuvor geheiratet –, ist Hamas-Führer und hat das Attentat mitorganisiert.
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Plötzlich eskaliert in Nablus die Gewalt. Man sieht, wie israelische Soldaten auf Ashrafs Elternhaus zustürmen in der Absicht, Jihad festzunehmen. Ziellos wird in die Luft geschossen. Zufällig gerät Rana in die Schusslinie und stirbt. Ashraf ist über den Tod seiner Schwester verzweifelt. Kurz zuvor hatten sie sich entzweit. Ashraf hatte sich ihr als homosexuell geoutet, doch statt des erhofften Verständnisses traf er bei Rana auf Entsetzen. Ihre Hochzeit konnte sie kaum mehr genießen; wenn sie Ashraf ins Gesicht sah, kamen ihr die Tränen. Nun soll Ashraf zur Vernunft beziehungsweise zur Heterosexualität gebracht werden. Er soll Samira, eine Cousine von Jihad heiraten. Jihad, der ebenfalls von Ashrafs Homosexualität erfahren hat, setzt diesen massiv unter Druck. Samira ist der palästinensischen Politik gegenüber sehr kritisch eingestellt. Sie hat gerade die Aufnahmeprüfung für das Architekturstudium bestanden und beschlossen, nach London auszuwandern. Sie bittet Ashraf ihr dorthin zu folgen. Offensichtlich ist sie verliebt in Ashraf. Doch dieser kann mit dem Angebot nichts anfangen, obwohl Samira intelligent, gutaussehend und gebildet ist und – wie Ashraf – keinen Hehl daraus macht, dass sie aus Nablus wegmöchte und ihr Jihad und seine Freunde aus der Hamas-Bewegung zuwider sind. Die Enttäuschung, als sie von Ashraf einen Korb bekommt, ist ihr deutlich anzusehen. Samira erscheint als hybride Figur, welche die komplexe Situation in der Kultur, in der sie lebt und die sie gern verlassen möchte, erfahrbar macht. Ähnliches lässt sich über Rana sagen. Sie ist mit einem HamasFührer und islamistischen Terroristen verheiratet. Frauen im Umfeld des islamistischen Terrorismus werden in westlichen Medien zumeist als vollständig unterdrückte Wesen gezeigt, die in Passivität hineingezwungen seien und keinen eigenen Willen verfolgen dürften.26 Demgegenüber erscheint Rana durchaus als selbstbewusst. Nach der Hochzeit ist nicht ein Kind ihr erstes Ziel, sondern der Abschluss ihres Studiums und der Einstieg in den Beruf. Dass sie in vielen Dingen fortschrittlich denkt, wird auch deutlich, als sie Ashraf verständnisvoll begegnet, als dieser ihr vormacht, er habe eine Freundin, die Christin und geschieden sei. Als er sich ihr als homosexuell outet, ist sie hingegen verzweifelt und begreift dies als „große Verfehlung“. An der Figur der Rana wird deutlich, dass Kulturen und die Menschen, die in ihnen leben, nie eindeutig sind – wie dies etwa der Einsatz spezifischer Weiblichkeitsbilder in der visuellen Kultur oft suggeriert –, auch nicht in konfliktreichen politischen Situationen. Als Rana tot ist, reagiert Ashraf verzweifelt. Er weiß, dass Jihad für die HamasBewegung tätig ist, und platzt mitten in die Videoaufnahme hinein, als Jihad mit
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Abb. 5: Jihad kündet vor laufender Kamera sein Selbstmordattentat an, aus „The Bubble“
Maschinengewehr aufgenommen wird (Abb. 5). Indem die Aufnahmesituation gezeigt wird, gerät – als eine Art Film im Film – der Konstruktionsprozess von Jihads gewaltgeprägter Identität ins Blickfeld. Jihad ist dabei, seine Botschaft zu übermitteln, mit einem Selbstmordattentat seine Frau Rana, die nun in Nablus als Märtyrerin gilt, zu rächen. Kurz und knapp teilt Ashraf ihm mit, dass er seinen Platz übernehmen wolle – Schnitt. In der darauffolgenden Szene sieht man Ashraf desorientiert durch die Straßen Tel Avivs irren. Als Noam ihn zufällig durch das Fenster des Cafés, in dem er gerade sitzt, vorbeigehen sieht, rennt er auf die Straße. Eines der letzten Bilder zeigt eine Szene der Verwüstung und zwei zugedeckte Leichen – dann folgt wieder ein Schnitt. Man sieht Noam und Ashraf als Kinder miteinander spielen, wobei nahe liegt, dass es sich um die Gedanken des Sterbenden Ashraf handelt. Ashraf konnte sich mit seinem Freund nicht mehr über die Zustände in Nablus und seine inneren Konflikte austauschen. Vom Tod seiner Schwester und den darauffolgenden Protesten der Palästinenser gegen die israelischen Streitkräfte erfuhr Noam aus dem Fernsehen, wodurch einmal mehr die Bedeutung der Medien bei der Übermittlung politischer aber auch privater Ereignisse verdeutlicht wird (Abb. 6). Ashrafs Selbstmordattentat ist kein Attentat aus Überzeugung, sondern ein Suizid aus Verzweiflung. In Bezug auf die propagandistische Inszenierung von Selbstmordattentaten in islamistischen Medien ist dies besonders prägnant, da im Islam Suizid
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Abb. 6: Das israelische Fernsehen zeigt die Proteste in Nablus, aus „The Bubble“
ausdrücklich verboten ist.27 Radikale Islamisten unternehmen große Anstrengungen, um Selbstmordattentate – beispielsweise mithilfe von Prädestinationsvorstellungen – nicht als Suizid, sondern als „gottbestimmten Todeszeitpunkt“ auszulegen. Nur die Wahl im Sinne des Märtyrertodes sei selbst gewählt.28 Diese propagandistische Auslegung wird, ähnlich wie Klischees reproduzierende Interpretationen von Selbstmordattentaten in westlichen Medien, in „The Bubble“ dekonstruiert. Auch hier schafft der Film eine Parallele zu philosophischen und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Gewalt in Nahost. In Anlehnung an Talal Asad fragt Judith Butler in „Raster des Krieges“ danach, warum Selbstmordattentate von Palästinensern in Nahost im Westen einen Aufschrei des Entsetzens auslösen, militärische Gewaltakte von Staaten jedoch oft nicht als gewalttätig wahrgenommen werden. Was lässt die Gewalt der einen Seite als illegitim, was die der anderen Seite als legitim erscheinen? „Welches sind die gesellschaftlichen Bedingungen und die dauerhaften Deutungsrahmen, die Entsetzen angesichts ganz bestimmter Gewaltformen ermöglichen, und in welchen Fällen kommt Entsetzen als affektive Reaktion auf andere Gewaltformen gar nicht infrage?“29 Aufgrund solcher Äußerungen wurde der Autorin vorgeworfen, sie rechtfertige die Gewalt der Hamas-Bewegung
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und sei zudem antisemitisch eingestellt. Butler hat diesen Vorwürfen entgegnet, dass sie jedwede Formen der Gewalt ablehne. Vielmehr gehe es ihr darum, sich „gegen Ungerechtigkeiten auszusprechen und alle Formen von Rassismus zu bekämpfen“.30 Eytan Fox greift eine ähnliche Thematik in seinen Spielfilmen auf, wobei als Projektionsfläche die queere Subkultur in Israel dient. So wird verdeutlicht, dass auch in Israel noch keineswegs gleiche Rechte für Homosexuelle erlangt wurden.31 In „Mary Lou“ (ISR 2009) wird sowohl physische als auch psychische Gewalt gegenüber dem schwulen jugendlichen Protagonisten gezeigt. Und letztlich ist es wohl kein Zufall, dass er, als es ihm endlich gelingt, seine queere Identität zu leben und gesellschaftlich auf Akzeptanz zu treffen, mit der Schizophrenie seiner heterosexuellen Mutter konfrontiert wird, von der er gehofft hatte, sie lebe als berühmte Musikerin im Ausland. Anstatt im Showbusiness, bewegt sie sich jedoch in den engen Mauern einer psychiatrischen Anstalt – Identitäten, so die mögliche Aussage, sind eben nie unversehrt oder endgültig zu haben. In „Yossi & Yagger“ (ISR 2002) getraut sich der Protagonist Yossi nicht, sich im Militär zu outen. Zu groß scheint die Gefahr der sozialen Ächtung. Erst im zehn Jahre später gedrehten zweiten Teil des Films („Yossi“, ISR 2012) spricht er aus, was er zuvor nicht zu sagen wagte. Er lernt einen jungen israelischen Soldaten kennen, für den alles einfach scheint und der sich „über die dunklen Zeiten“ amüsiert, über die „Yossi“ ihm berichtet. Doch als Yossi nachfragt, ob er denn auch seinen Eltern von seiner sexuellen Orientierung erzählt habe, winkt er resigniert ab. In „Walk on Water“ (ISR 2004) steht Eyal, ein Agent des Mossad, im Zentrum der Darstellung eines Wandlungsprozesses. Eyal kommt aus einer Familie, deren Mitglieder während des Holocaust verfolgt und ermordet wurden. Heute spürt er Gewalttäter auf, die Israel gefährlich werden könnten und tötet sie in staatlichem Auftrag. Darüber hinaus sind die Nachfahren nationalsozialistischer Deutscher seine Feindbilder. Doch als er Pia und Axel, die Enkel eines alten brutalen Nazis, kennenlernt, muss er seine Meinung revidieren. Denn beide vertreten gänzlich andere Vorstellungen als ihr Großvater. Axel ist schwul, und Pia lebt im Kibbuz. Beide kämpfen gegen den Antisemitismus in ihrer Familie, kritisieren aber zugleich die Besatzung Palästinas durch Israel. Der Wandel von Eyals binären Vorstellungen über kulturelle Identitäten zeichnet sich durch eine zunehmende Akzeptanz gegenüber einer homosexuellen Lebensweise wie auch kritischen Stimmen gegen die israelische Besatzung ab. Als er die Enkelin des Nazis heiratet und im trauten Familienglück dargestellt wird,
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gleitet das Anliegen, Binaritäten aufzulösen jedoch in oberflächliche Emotionalität ab. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern der – verständliche – Wunsch, Rahmungen filmisch gänzlich aufzulösen beziehungsweise stillzustellen, anstatt sie zu verschieben, zu neuen Fixierungen und damit auch Stereotypisierungen führen kann. Resümee Es ist zu erwarten, dass Spielfilmen, die den Nahostkonflikt thematisieren, auch in den nächsten Jahren ein wichtiges Potenzial bei der Sichtbarmachung von Konflikten zukommt. Dass in diesem Zusammenhang die Darstellung des Körpers mit seinen spezifischen Codierungen eine Rolle spielt, scheint nicht nur inhaltlich begründet, sondern auch an der Verbindung des Mediums Film mit dem Körper selbst zu liegen: „Die Dispositive des Films“, so Anette Geiger, „sind schon an sich körperlich relevant: Der Kamerablick simuliert ein körperliches Sehen, das die Rezipierenden identifizierend wahrnehmen können – als seien sie selbst im Raum, als erlebten sie es von außen, als seien sie Voyeure und beobachteten die Beobachtung.“32 Umgekehrt kann Film mit seinen spezifischen Möglichkeiten, wie etwa Montage oder Schuss/Gegenschuss den Konstruktionscharakter von Körperlichkeit, (nationaler) Identität und Geschlecht aufzeigen und bestimmte Erwartungshaltungen durch ungewohnte Ansichten und Interpretationen durchbrechen. „The Bubble“ greift auf beide filmischen Möglichkeiten zurück – war die Eingangssequenz in extremer Weise auf Identifikation ausgerichtet, indem wir mit dem dokumentarischen Kameraauge sehen, so arbeiten die folgenden Filmsequenzen mit einer Dekonstruktion von traditionellen Vorstellungen über feststehende Identitäten und Grenzen. Die Wahrnehmung von Grenzen ist nicht nur medial vermittelt, sondern steht darüber hinaus auch in einer spezifischen Beziehung zu Körperlichkeit, wie beispielsweise Judith Butler gezeigt hat: „Die Ontologie des Körpers kann als Ausgangspunkt für eine Neukonzeption der Verantwortung dienen, eben weil der Körper sowohl an seiner Oberfläche als auch in seiner Tiefe ein soziales Phänomen ist: Er ist anderen ausgesetzt, er ist per definitionem verletzlich. Sein Bestand hängt von sozialen Bedingungen und Institutionen ab; um sein oder bestehen zu können, muss sich der Körper auf das verlassen, was sich außerhalb seiner selbst findet. Wie lässt sich Verantwortung auf der Grundlage dieser sozial ekstatischen Struktur des Körpers denken?“33 Ein Körper hat, wie Butler betont, keine Grenzen: „Er ist außer sich, in der Welt der anderen, in einem Raum und in einer Zeit, die er nicht beherrscht, und er existiert
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nicht nur im Vektor dieser Beziehungen, sondern ist selbst dieser Vektor. In diesem Sinne gehört der Körper nicht (zu) sich selbst.“34 Eine produktive Neukonzeption von Verantwortung liege, so Butler, in der Anerkennung der Verletzlichkeit des Körpers. Butler zeigt auf, dass Grenzen künstlich gezogen werden, indem, etwa in der Propaganda zu Kriegszeiten, manche Körper als unverletzlich und autonom gesetzt würden, während andere als verletzbar gelten. Butler zufolge liegt das Potenzial einer Neukonzeption von Verantwortung – in Bezug auf den Nahostkonflikt – darin, zu fragen, wie Körper in ihrer Beziehung zu anderen konzipiert und Grenzen künstlich gezogen, aber auch wieder aufgelöst werden können. Da Film eng mit Körperlichkeit verwoben ist, scheint der Körper besonders geeignet, Grenzziehungen zu medialisieren, deren Problematik verständlich zu machen und deren vermeintliche Natürlichkeit zu hinterfragen. 1 | http://www.youtube.com/watch?v=BV9dd6r361k [Abruf 16.1.2013] 2 | Judith Butler: Gefährdetes Leben: Politische Essays, Frankfurt am Main 2005; dies.: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt am Main/New York 2010. 3 | Jasbir Puar: Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times, Durham 2007. 4 | Hierzu ausführlich die Beiträge in: Pinkwashing Israel? Lesben- und Schwulenrechte in Israel, Palästina und im Nahostkonflikt, in: israel & palästina. Zeitschrift für Dialog 2012, H. 2. 5 | Susanne Schwartze: Die Radikale Parade – Queer-Aktivismus gegen den Mainstream der LGBT-Szene, in: Pinkwashing Israel? 2012 (wie Anm. 4), S. 7–18. 6 | Ich greife hier einige Gedanken zu „The Bubble“ noch einmal in einem etwas anderen Kontext auf als in meiner ersten Publikation zu diesem Spielfilm. Vgl. Elke Frietsch: Grenzen überschreiten. Die Figur des Selbstmordattentäters in Spielfilmen zum Nahostkonflikt, in: Bettina Dennerlein und Elke Frietsch (Hg): Identitäten in Bewegung. Migration im Film, Bielefeld 2011, S. 57–93, hier S. 73–87. 7 | Gilles Kepel: Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München/Zürich 2002, S. 197–205, 382–391. Zum Nahostkonflikt bis zur Gründung des Staates Israel im Jahr 1948: Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München 2002. 8 | Heike Kühn: Parabel wider den heiligen Ernst. Hany Abu-Assads Paradise Now, in: Margrit Frölich (Hg.): Projektionen des Fundamentalismus. Reflexionen und Gegenbilder im Film, Marburg 2008, S. 131–146. Achim Rohde: Sympathiewerbung für Selbstmordattentäter? Hany Abu Assads preisgekrönter Film ‚Paradise Now‘, in: ak – analyse und kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 500, vom 18.11.2005. Interview mit Dror Zahavi auf: http://www.tagesspiegel.de/kultur/erschoepfung-als-chance/1423888.html [Abruf 29.4.2011]. 9 | Vgl. http://www.zeit.de/2007/47/Nablus [Abruf 22.1.2011]. 10 | Das Interessante an Butlers Kriegsbegriff liegt darin, dass sie Macht und Gewalt, die in der Tradition Hannah Arendts als Gegensätze betrachtet wurden, als Einheit auffasst. Hierzu Katrin Meyer: Analytik des Krieges zwischen Macht und Gewalt: Judith Butlers Frames of War. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript der Retraite der Doktoratprogramme Gender Studies Basel und Zürich, 10.–12.1.2013. Ich danke Katrin Meyer herzlich dafür, dass sie mir ihr Manuskript zugänglich machte. 11 | Judith Butler: Einleitung: Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben, in: Butler 2010 (wie Anm. 2), S. 9–38, hier S. 9. 12 | Ebd., insb. S. 10.
Elke Frietsch | KÖRPER- UND LANDESGRENZEN IN EYTAN FOX’ „THE BUBBLE“
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13 | So verwendet Butler häufig die Begriffe Bild oder Wahrnehmung oder spricht von der Bedeutung der neuen Medien für die Konstruktion von Rahmen, ohne genauer zu theoretisieren, worin die Spezifik von Bildern liegt. Butler 2010 (wie Anm. 2), S. 17–18. Am ehesten wird die mediale Bedeutung von Bildern in Butlers Auseinandersetzung mit Susan Sontag berücksichtigt. Judith Butler: Folter und die Ethik der Fotografie – Denken mit Susan Sontag, in: ebd., S. 65–97. 14 | Zum Konstruktionscharakter von Kriegsbildern vgl. „James Nachtwey. War Photographer“, Regie: Christian Frei (CH 2001). 15 | Entgegen islamistischen Auslegungen gibt es im Koran keinen Beleg dafür, dass diese Jungfrauen als Belohnung für religiöse Märtyrer vorgesehen seien. Jane L. Smith: Representations: Afterlife Stories, in: Suad Joseph (Ed.): Encyclopedia of Women & Islamic Cultures, Bd. 5, Leiden/Boston 2007, S. 400–402, hier S. 401. 16 | Puar 2007 (wie Anm. 3). 17 | Zu Puar und der (israelischen) Kritik an ihrem Begriff des Homonationalismus vgl. Micha Brumlik: Von der Schwierigkeit richtiger Parteinahme – Jasbir K. Puars Kritik am Homonationalismus Israels, in: Pinkwashing Israel? 2012 (wie Anm. 4), S. 26–28. 18 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. 19 | Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, hg. v. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1985, Ri, 16, 28–30, S. 272–273. 20 | Auch vonseiten der Islamwissenschaft wird auf die Bibelstelle hingewiesen, um kenntlich zu machen, dass Selbstmordattentate nicht ausschliesslich in muslimischen Kulturen vorkommen, sondern beispielsweise auch in der christlichen und jüdischen Überlieferung zu finden sind. Vgl. hier Thorsten Gerald Schneiders: Wie viel Islam steckt in einem islamistischen Selbstmordattentat? Einige Überlegungen zur Positionierung gegenüber Gewaltakten, in: ders. (Hg.): Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden 2010, S. 329–340, hier S. 329. 21 | Damit wird m E. auch an Emanzipationsstrategien angeknüpft, wie sie sich in neueren arabischen Filmen aus dem Umfeld von Befreiungsbewegungen erkennen lassen. Zu solchen Emanzipationsstrategien: Viola Shafik: Der arabische Film. Geschichte und kulturelle Identität, Bielefeld 1996. 22 | Homi K. Bhabha: Die Frage der Identität. Frantz Fanon und das postkoloniale Privileg, in: ders.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2007, S. 59–96, hier S. 65–66. 23 | Homi K. Bhabha: Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des postkolonialen Diskurses, in: Bhabha 2007 (wie Anm. 22), S. 125–136. 24 | Vgl. zu diesen Begrifflichkeiten Elisabeth Bronfen: Vorwort, in: Bhabha 2007 (wie Anm. 22), S. IX–XIV. 25 | Ayeal Gross: Israelische LGBT-Politik zwischen Queerness und Homonationalismus, in: Pinkwashing Israel? 2012 (wie Anm. 4), S. 19–25, hier S. 20. 26 | Claudia Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung, Wiesbaden 2011, S. 252–278. 27 | Schneiders 2010 (wie Anm. 20), S. 329. 28 | Ebd., S. 334. 29 | Judith Butler: Denkverweigerung im Namen des Normativen, in: Butler 2010 (wie Anm. 2), S. 129–151, hier S. 148. 30 | Judith Butler: Diese Antisemitismus-Vorwürfe sind verleumderisch und haltlos, 30.8.2012, Zeit Online Literatur, S. 4. http://www.zeit.de/kultur/literatur/2012-08/judith-butler-kritik-israel-antwort [Abruf 17.1.2013]. 31 | Zur rechtlichen Stellung von Homosexuellen in Israel siehe Susanne Schwartze: Die junge Geschichte der Gay-Rights Bewegung in Israel und Palästina, in: Pinkwashing Israel? 2012 (wie Anm. 4), S. 41–52. 32 | Einleitung, in: Annette Geiger u.a. (Hg.): Wie der Film den Körper schuf. Ein Reader zu Gender und Medien, Weimar 2006, S. 9–20, hier S. 9. 33 | Butler 2010 (wie Anm. 2), S. 39. 34 | Ebd., S. 57.
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MIGRATION AUSSTELLEN UND ERFORSCHEN
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Katrin Nahidi
„IM HISTORISCHEN VAKUUM“ – AUSSTELLUNG UND REZEPTION ZEITGENÖSSISCHER KUNST AUS DEM IRAN
Die Popularisierung postkolonialistischer Theorien führte dazu, dass verschiedene Ausstellungsinitiativen ab den 1990er-Jahren, wie beispielsweise die Ausstellung „Inklusion : Exklusion“, die 1996 im Rahmen des Steirischen Herbsts von Peter Weibel kuratiert wurde, und die Documenta 11 mit ihrem künstlerischen Leiter Okwui Enwezor nicht-westliche Kunst präsentierten. Dadurch wurden Künstlerinnen und Künstler sichtbar, die aufgrund ihrer Herkunft bis dato kaum oder wenig Anteil am euro-amerikanischen Kunstbetrieb hatten. Auch der Einzelerfolg von Künstlerinnen wie Mona Hatoum und Shirin Neshat, die in ihren Arbeiten häufig den spezifischen Umstand der Migration oder ihre ursprüngliche Heimat thematisieren, führte dazu, dass Künstler mit Migrationshintergrund bei Biennalen und internationalen Großausstellungen nun häufiger vertreten waren. Shirin Neshat erlangte ihre Bekanntheit vor allem durch ihre fotografische Serie „Women of Allah“, die in den 1990er-Jahren entstanden ist. Weshalb sich das Thema ihrer iranischen Herkunft wie ein roter Faden durch Neshats künstlerische Produktionen zieht, begründet sie folgendermaßen: „I think the question of ‚home‘ or ‚origin‘, is not a subject that escapes you until death. It’s very true that I have spent far more years in the USA than in my own place of birth, but it is also true that my relationship to my home continues to be unresolved.“1 Diese Bindung an das ursprüngliche Heimatland resultiert aus Neshats Exilstatus. Seit 1996 kann sie nicht mehr in den Iran zurückkehren. Lediglich eine metaphorische Rückkehr mithilfe ihrer künstlerischen Arbeit ist ihr möglich. Neshats Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und werden in großen Institutionen international ausgestellt. Die erhöhte Präsenz von Migrationskünstlerinnen und -künstlern wie auch die politischen Ereignisse im Nahen Osten führten dazu, dass der euro-amerikanische
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Kunstbetrieb ein Interesse an zeitgenössischer Kunst aus dieser Region entwickelte. In diesem Artikel möchte ich versuchen, anhand des Iran exemplarisch den Diskurs über Gegenwartskunst aus dem Nahen Osten darzustellen. In welchem Ausstellungskontext werden die künstlerischen Arbeiten präsentiert? Welche Methoden und Ansätze werden bei der Rezeption gewählt? Und welche spezifische Möglichkeit bietet die Disziplin Kunstgeschichte, diese Werke zu verorten? Die Ausstellung „Light from the Middle East“ Im November des Jahres 2012 wurde die Ausstellung „Light from the Middle East“ im Victoria and Albert Museum in London eröffnet. Ziel der Ausstellung war es, einen möglichst umfassenden Überblick über die zeitgenössische Fotografie von Künstlerinnen und Künstlern aus der Region des „Mittleren Ostens“ zu geben. Die ausgestellten Objekte waren keine Leihgaben, sondern gehörten zu den Sammlungen des British Museum und des Victoria and Albert Museum. Beworben wurde die Ausstellung mit einer Arbeit der iranischen Künstlerin Shadi Ghadirian, die sich in ihrer Bildsprache an die kadscharische Fotografie des 19. Jahrhunderts anlehnt und ihre weiblichen Protagonisten mit westlichen Konsumgütern, beispielsweise einer PepsiCola-Dose, posieren lässt. Shadi Ghadirian konnte mit diesen Arbeiten der Selbstethnisierung auf dem westlichen Kunstmarkt reüssieren, indem sie Klischees von der Zerrissenheit zwischen Modernität und Tradition inszenierte (Abb. 1). Lediglich im Katalog – aber nicht in der Ausstellung – gab es einen Verweis auf die original kadscharische Fotografie, die bereits in den 1840er-Jahren im Iran in Form erster Daguerreotypien angefertigt worden war.2 Naser ad-Din Schah beschäftigte an seinem Hof in Teheran nicht nur Fotografen aus Frankreich und Italien, sondern fotografierte auch selbst und konnte im Laufe der Jahre eine beträchtliche Sammlung an Aufnahmen zusammentragen. So verzeichnet das Fotografie-Museum im Golestanpalast in Teheran circa 20.000 Originalabzüge aus dieser Epoche. Seine eigenen Fotografien bestechen durch eine äußerst moderne Ästhetik, da er zur Wiedererkennung der Personen die Bilder beschriftete und somit ein interessantes Wechselspiel zwischen Text und Bild erzeugte. Auch Aufnahmen seines Harems sind besonders beachtenswert, da hier orientalisierende Fantasien, wie sie beispielsweise in Bildern Jean-Auguste-Dominique Ingres’ zu finden sind, negiert werden. Betrachtet man die Antlitze der Ehefrauen Naser ad-Din Schahs, so werden Erwartungen an westliche oder östliche Schönheitsideale kaum erfüllt (Abb. 2).
Abb. 1: Shadi Ghadirian, From the series Qajar, 1998, Silbergelatineabzug, 30 x 24 cm, Victoria and Albert Museum, Inv. E.351
Abb. 2: Naser ad-Din Schah, Harem, Fotograf unbekannt, Beschriftung von Naser ad-Din Schah, Golestanpalast, Teheran, ca. 1880
Auch die Arbeit „Image of Imagination“ von Bahman Jalali basiert auf einer kadscharischen Fotografie, welche er mit Schrift und Bildmotiven überlagerte (Abb. 3). Jalalis Arbeiten wurden posthum 2011 im Sprengel Museum Hannover im Rahmen der Auszeichnung „Spectrum“ einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.3 Im Victoria and Albert Museum wird Bahman Jalali als zeitgenössischer Künstler präsentiert, obwohl er bereits in den 1970er-Jahren maßgeblich an der Entwicklung der Fotografie als künstlerischem Medium im Iran beteiligt war. Durch seine fast dreißigjährige Lehrtätigkeit an iranischen Kunstschulen und Akademien kann
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Abb. 3: Bahman Jalali, Image of Imagination, 2003, C-Print, 70 x 70 cm, British Museum, Inv. BM: 2009, 6036.1
er auf eine lange Schaffensphase zurückblicken. Obgleich Jalali als Professor an der Kunstakademie auch Shadi Ghadirians Lehrer war und somit in der Ausstellung künstlerische Vorgänger und Nachfolger zusammengebracht werden, wird auf eine zeitliche Differenzierung vollkommen verzichtet. Zeitgenössische Kunst im „historischen Vakuum“ In der Ausstellung „Light from the Middle East“ materialisiert sich ein Desiderat der Disziplin Kunstgeschichte, das Finbarr Barry Flood in einem kritischen Überblick
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zur Historiografie der Islamischen Kunstgeschichte darlegte: Weder in seiner universitären noch seiner musealen Ausprägung beschäftigt sich das Fach mit der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts in Ländern des Vorderen Orients oder des Nahen Ostens. Stattdessen wird ein Kanon erschaffen, der die Kunstproduktion von der Gründung des Islam bis etwa 1800 umfasst. Flood erkennt dabei auch Verquickungen mit politischen Implikationen, denn oftmals dienen Artefakte dazu, die antike Hochkultur des Islam zu betonen. Durch die Exklusion moderner Tendenzen kann die These, dass die Muslime den Anschluss zur Moderne verpasst hätten, unterstrichen werden.4 Gleichzeitig hat die Präsenz von Künstlern, die unter dem „Label“ Kunst aus dem „Mittleren Osten“ ausgestellt werden, dazu geführt, dass die Kategorie „islamische Kunst“ von Gegenwartskünstlern neu belebt wurde. Dies hat allerdings zur Folge, dass der Zeitraum zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert ausgeklammert wird: „The scarcity of scholarship on the period between the eighteenth and the end of the twentieth century and the absence of a sustained interrogation of the emergent modernities of the Islamic world – something compatible, for example, with the foundational role of nineteenth century in the making of European modernity – leave the study of contemporary art from and of the Islamic lands and their diasporas in a historical vacuum.“5 In der Rezeption dieser Künstler werden oftmals Methoden und Konzepte aus den Cultural Studies bemüht, eine Verortung in einer regionalen Kunstgeschichte hingegen erfolgt jedoch kaum. Denn Gegenwartskunst aus dem sogenannten „Mittleren Osten“ wird lediglich als ein Phänomen der Globalisierung angesehen, die sich aus einem scheinbaren „historischen Vakuum“ entwickelte. Diese These lässt sich auch im Begriff der „Global Art“, der von dem Kunsthistoriker Hans Belting für die zeitgenössische nicht-westliche, international präsente Kunst nach 1989 entwickelt wurde, wiederfinden. Mit dem Konzept der „Global Art“ wird das Erforschen und die Kontextualisierung einer regionalen modernen Kunstgeschichte obsolet, denn laut Belting entstand die globale Kunst folgendermaßen: „[…] like a phoenix from the ashes of modern art at the end of the twentieth century, and opposed modernity’s cherished ideals of progress and hegemony […] Global art is no longer synonymous with modern art.“6 Auch das British Museum und das Victoria and Albert Museum versuchen nicht, die hier skizzierte historische Lücke zu schließen, und berücksichtigen trotz ihrer beträchtlichen Sammlung islamischer Kunst die Epoche der modernen Kunst nicht.
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In einem nationalen Rahmen haben einige wenige Ausstellungsprojekte zur zeitgenössischen iranischen Kunst auf künstlerische Vorbilder hingewiesen; seltene Ausnahme ist der Ausstellungskatalog „Iranian Contemporary Art“, der 2001 von Rose Issa herausgegeben wurde.7 Erhellend ist auch die Publikation von Hossein Amirsadeghi „Different Sames. New Perspectives in Contemporary Iranian Art“, in der die Entwicklung der modernen Kunst im Iran ab den 1920er-Jahren bis in die Gegenwart nachgezeichnet wird.8 Allerdings handelt es sich bei den genannten Überblicken um sehr knappe Texte und Beschreibungen. Dabei wird die Kunstströmung „Saqqa-khaneh“ als eine der wegweisenden Initiativen für die Etablierung moderner Kunst vorgestellt, der Fokus liegt aber meist auf der zeitgenössischen iranischen Kunst, die auch Exil-Iraner und Migranten einschließt. In der gängigen Deutung wird Moderne oftmals als ein genuin europäisches Phänomen verstanden, welche aus der Epoche der Aufklärung hervorgegangen ist: „La modernité s’impose comme une, homogène, irradiant mondialement à partir de l’Occident.“9 Entgegen der Auffassung, dass außereuropäische Modernen lediglich Derivate einer exportierten westlichen Moderne sind, vertritt der britische Kunsthistoriker Kobena Mercer die Ansicht, dass für die Kunstproduktion im 20. Jahrhundert überhaupt ganz grundsätzlich Prozesse des Transfers und eine kosmopolitische Diversität maßgeblich waren.10 Mittlerweile hat sich durchaus ein Forschungsinteresse an nicht-westlicher moderner Kunst etabliert. Zu nennen ist hierbei beispielsweise das interdisziplinäre Projekt „Other Modernities: Patrimony and Practices of Visual Expression Outside the West“, das unter Leitung von Silvia Naef, Irene Maffi und Wendy Shaw an den Universitäten Genf, Lausanne und Bern durchgeführt wird. Moderne Kunst wird hierbei als interkulturelles Phänomen einer globalen soziopolitischen Modernisierung verstanden. Moderne Kunst im Iran in den 1960er- und 1970er-Jahren Die Kunstbewegung „Saqqa-khaneh“ ist in den 1960er-Jahren in Teheran entstanden. Zu den Begründern zählten der Bildhauer Parviz Tanavoli und der Maler Hossein Zenderoudi. Den „Saqqa-khaneh“-Künstlern dienten religiöse und folkloristische Elemente der populären Volkskunst als Inspiration, die sie mit Ausdrucksmitteln moderner Kunst kombinierten, um eine eigene, moderne, persische künstlerische Sprache zu etablieren. Es handelt sich hierbei nicht um eine klar umrissene Gruppe
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von Künstlern, die ihre Ziele in einem Manifest niederlegen, sondern „Saqqakhaneh“ bezeichnet eine Form des ästhetischen Ausdrucks, der sich auf Motive der schiitischen Ikonografie stützt. Der Name wurde den Künstlern vom Kritiker Karim Emami verliehen und bezeichnet öffentliche Trinkwasserbrunnen, die in ihrem begehbaren Inneren mit Motiven der schiitischen Volkskunst geschmückt sind und als Orte volkstümlicher Pietät fungierten.11 Einige der Maler, wie beispielsweise Hossein Zenderoudi oder Faramaz Pialaram, stützten sich zunächst auf das Medium der Kalligrafie, um mithilfe formaler Experimente zu einer abstrakt-expressiven oder geometrisch-abstrakten künstlerischen Sprache zu gelangen. Unter der Protektion der Kaiserin Farah Diba entwickelte sich diese Kunstrichtung in den 1970er-Jahren zu einer Art offiziellem Stil. Die Förderung durch den Hof führte zur Etablierung von Galerien, Festivals, der Biennale und dem Museum für zeitgenössische Kunst. Dies machte Teheran zu einer pulsierenden Kunstmetropole, die auch eine große Faszination auf amerikanische und europäische Künstler ausübte.12 Ziel der „Saqqa-khaneh“-Künstler war es, einen spezifisch modernen iranischen Ausdruck zu finden. Die „Iranisierung“ der modernen Kunst wurde dadurch zu einem Schlüsselfaktor in der Konstruktion einer nationalen visuellen Identität. Die staatliche Protektion und Distribution ließ diese Kunst als wenig avantgardistisch erscheinen, da die Vorstellung von Moderne als zwingender Gegenbewegung zur herrschenden Ordnung und Tradition fest verankert ist: „C’est un mode de civilisation caractéristique, qui s’oppose au mode de la tradition, c’est-à-dire à toutes les autres cultures antérieures ou traditionnelles […].“13 Besonders bemerkenswert ist hierbei allerdings, dass während der Revolution 1979 voneinander abweichende politische, ideologische und religiöse Ansichten verschiedener Menschen aus allen sozialen Schichten vereinigt wurden und ebenfalls versucht wurde, eine genuin iranisch-islamische nationale Identität des Landes zu etablieren. Ein wesentlicher Faktor der Revolutionspropaganda war die visuelle Verführung durch Poster, Wandmalereien und weitere Ephemera, wie beispielsweise auch Kaugummipapiere, die teilweise von Schülern der „Saqqa-khaneh“-Künstler gestaltet wurden.14 Auch wenn „Saqqa-khaneh“ eine ambivalente Position zwischen künstlerischer Avantgarde und Staatskunst unter der Pahlavi-Monarchie einnahm, wird die innovative künstlerische Ausrichtung der Bewegung deutlich, die das Konzept der modernen Kunst zwar formal nutzte, aber unter Verwendung von Strategien der
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Aneignung, Abgrenzung und Übersetzung eigene Rekonfigurationen erschuf, die ihre deutlichste Ausprägung in den Revolutionspostern fanden. Da die „Saqqakhaneh“-Künstler ihre nationale Identität nicht in der eigenen Gegenwart, sondern in der Vergangenheit des alten Persien suchten, ließ sich diese Kunst als Projektionsfläche verschiedener nationaler Interessen vereinnahmen. Die Etablierung der modernen Kunst im Iran wird meist mit der Gründung einer Kunstakademie nach westlichem Vorbild unter Leitung des französischen Malers und Architekten André Godard auf 1940 datiert. Viele iranische Künstler absolvierten ihr Studium im Ausland. Parviz Tanavoli studierte einige Zeit bei Marino Marini in Italien, Hossein Zenderoudi lebt seit Beginn der 1960er-Jahre in Paris, doch kam er immer wieder zu Aufenthalten in den Iran und war deshalb zugleich aktiv in die Teheraner Kunstszene eingebunden. Die amerikanische Kunstmäzenin Abbie Weed Grey trug während ihrer Iranreisen in den 1960er-Jahren eine beträchtliche Anzahl an Werken der „Saqqa-khaneh“-Künstler zusammen, die heute in der Sammlung der New York University verwahrt werden. Viele Ausstellungen präsentierten internationale Künstler. Die wohl spektakulärste Veranstaltung war das „Shiraz Arts Festival“, das von 1967 bis 1977 jährlich in der antiken Kulisse von Persepolis stattfand und an dem auch internationale prominente Gäste wie Merce Cunningham und John Cage teilnahmen. Dies sind nur einige wenige Beispiele, die den Austausch, die Transkulturalität und den kulturellen Transfer zwischen moderner iranischer und westlicher Kunst deutlich werden lassen. Allerdings ist der Forschungsstand zur Künstlergruppe „Saqqa-khaneh“ eher niedrig, er setzt sich vor allem aus Artikeln in Zeitschriften und Ausstellungskatalogen zusammen.15 Bisher existiert auch noch keine einschlägige wissenschaftliche Publikation.16 Durch die Nähe zur Pahlavi-Monarchie wurden die Künstler und deren Werke in den Jahren nach der Islamischen Revolution im Iran kaum wertgeschätzt. Da sich einige dieser Arbeiten in Privatbesitz in den Palästen des kaiserlichen Paares befanden, wurden Werke zerstört oder konfisziert.17 Einige der Künstler waren auch gezwungen, den Iran zu verlassen und ins Exil zu gehen. Erst seit den 2000er-Jahren erfuhren die „Saqqqa-khaneh“-Künstler eine Renaissance. Das Tehran Museum of Contemporary Art organisierte Gruppen- und Einzelausstellungen iranischer Künstler im Rahmen des Programms „Pioneers of Iranian Modern Art“.18 Grundlegende Beiträge, die die Künstlergruppe näher
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definieren, wurden vor allem von damals aktiven Kunstkritikern verfasst. Der Kritiker Kamran Diba nutzte den Begriff „Saqqa-khaneh“ als Synonym für moderne Kunst im Iran und plädierte dafür, die Bewegung in „spiritual pop art“ umzubenennen, weil auch diese Künstler, ähnlich ihren amerikanischen Kollegen, Massenprodukte motivisch aufgriffen.19 Auch erwähnenswert ist hier der Namensgeber Karim Emami, der 1977 eine Ausstellung zu „Saqqa-khaneh“ kuratierte und Künstler wie Hossein Zenderoudi, Faramarz Pilaram, Massoud Arabshahi, Mansur Qandriz, Naser Oveisi, Sadeq Tabrizi und Zhazeh Tabatabai ausstellte.20 Die Entwicklung der modernen Kunst zeichnet Emami in der „Encyclopedia Iranica“ unter dem Stichwort „post qajar“ nach, hier wird nochmals das Forschungsdefizit deutlich, da in einem einzigen Artikel circa 100 Jahre Kunstentwicklung subsumiert werden und die moderne Kunst nicht einmal als eigenständige Kategorie aufgefasst wird.21 Seit 2009 jedoch findet sich in der „Encyclopedia Iranica“ ein eigener Artikel zu „Saqqa-khaneh“ von Hamid Keshmirshekan.22 2002 wurden in New York Werke aus der Sammlung der Kunstmäzenin Abbie Weed Grey ausgestellt, ein sehr gut recherchierter Ausstellungskatalog mit wertvollen Beiträgen von Shiva Balaghi, Fereshteh Daftari und Peter Chelkowski begleitete die Präsentation.23 Die Asia Society in New York plant für Herbst 2013 die große Ausstellung „Modern Iran“. Anders als die Wissenschaft haben Auktionshäuser bereits seit einiger Zeit die modernen iranischen Künstler entdeckt und verkaufen Arbeiten von Zenderoudi und Tanavoli.24 Letzterer ist auch der einzige „Saqqa-khaneh“-Künstler, dessen künstlerisches Œuvre bereits monografisch erfasst worden ist.25 Ausstellungen zeitgenössischer Kunst aus „Middle East“ Mit der Ausstellung „Light from the Middle East“ präsentiert das Victoria and Albert Museum erstmals knapp 90 fotografische Arbeiten aus den eigenen Sammlungsbeständen. Insgesamt sind 30 Künstlerinnen und Künstler vertreten, die aus 13 verschiedenen Ländern stammen. In der Ausstellung soll untersucht werden, wie die Künstlerinnen und Künstler das Medium der Fotografie in ihren Arbeiten verwenden: „Some use the camera to record or bear witness, while others subvert that process to reveal how surprisingly unreliable a photograph can be. The works range from documentary photographs and highly staged tableaux to images manipulated beyond
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Abb. 4: Abbas, Rioters burn a portrait of the Shah as a sign of protest against his regime. Tehran, December 1978, aus der Serie: „IranDiary“, 1978–1979, Silbergelatineabzug, 27,6 x 18,5 cm, British Museum, Inv. BM: 2010, 6034.4
recognition. The variety of approaches is appropriate to the complexities of a vast and diverse region.“26 Liest man diese Zeilen, erscheint das Konzept der Ausstellung fast simpel und nahezu beliebig. Durch diesen Pressetext wird suggeriert, dass der Mangel an thematischer Eingrenzung aus kuratorischem Kalkül erfolgte, um die politische Komplexität dieser Region darzustellen. Künstler und Fotografen aus Europa würden in einer führenden Institution wohl kaum unter den Gesichtspunkten Fotografie und Herkunft ausgestellt werden. Um ein wenig Ordnung in das weite Feld der Ausstellung zu bringen, erfolgt eine Untergliederung in drei Themenbereiche: „Recording, Reframing, Resisting“. Die erste Kategorie präsentiert dokumentarische Arbeiten und nimmt ihren Auftakt mit einer Fotografie des iranischen Magnum-Fotografen Abbas, der seine Bekanntheit vor allem als Chronist der Iranischen Revolution, wie beispielsweise mit der zwischen 1978 und 1979 entstandenen Serie „IranDiary“, erlangte. Zu sehen ist die ikonoklastische Handlung wütender Männer, die ein Porträt von Schah Mohammad Reza Pahlavi den Flammen übergeben (Abb. 4). Pressebilder von der Iranischen
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Revolution sind nicht nur rein historische Dokumentationen, sondern werden auch als visuelle Repräsentationen des politisierten Islam gelesen. Da die Ausstellung „Light from the Middle East“ mit eben diesem Bild eröffnet wurde, wird eine bestimmte politische und islamkritische Erwartungshaltung auf die Künstler und deren Werke provoziert. So verwundert es nicht, dass viele vertretene Werke Inszenierungen von Männlichkeit, Religion und das Thema Verschleierung behandeln. Diese Ausstellung steht in der Folge von einigen Projekten, mit denen manche Kuratoren und Institutionen versuchten, zeitgenössische Kunst aus dem sogenannten „Mittleren Osten“ zu erforschen und auszustellen. Dieses Interesse wurde vermutlich unter anderem durch die Terroranschläge des 11. September und die kriegstreiberische Rhetorik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush befördert und zielte darauf ab, ein Gegenbild zum oftmals als terroristisch und unzivilisiert dargestellten „Orient“ zu zeichnen.27 Manche dieser Ausstellungen haben mit einer problematischen Politik der Repräsentation zu kämpfen, da unter dem Oberbegriff „Middle East“ Reduzierung und Festlegung auf bestimmte wesenhafte Eigenschaften erfolgen und die Ausstellungen zu verschiedenen Zwecken instrumentalisiert werden (können). Denn ähnlich wie der Begriff „Orient“ bezeichnet auch „Middle East“ keine geografisch eindeutig definierte Region, sondern stellt vielmehr eine westliche Konstruktion dar, wie sich aus lexikalischen Definitionen ablesen lässt: „Nicht eindeutig festgelegter Begriff für den östlichen Teil der islamischen Welt. Im Unterschied zu Nahem (ehemaliges Osmanisches Reich) und Fernem Osten (festländisches Südostasien, China, Japan) versteht man unter Mittlerem Osten auch Iran, Afghanistan und den indischen Subkontinent. Die englische Bezeichnung Middle East und die französische Bezeichnung Moyen-Orient gelten hingegen für Ägypten, die Staaten des arabischen Westasien und Iran, entsprechen im Deutschen also etwa den Bezeichnungen Naher Osten oder Vorderer Orient.“28 Auch der Kunstmarkt reagierte begeistert auf die neuen Werke, und die großen Auktionshäuser können erfolgreich Kunst der Kategorie „Middle Eastern“ gewinnbringend veräußern. Dieser Tendenz schloss sich auch der britische Galerist und Sammler Charles Saatchi, der den „Young British Artists“ zu großem Erfolg verholfen hatte, an und richtete 2009 die Ausstellung „Unveiled: New Art from the Middle East“ aus.29 Im E-Mail-Newsletter der Galerie wurde die Ausstellung folgendermaßen beworben:
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„Unveiled: New Art from the Middle East, will open, presenting the work of over 20 of the region’s most exciting artists. Dedicated to the flourishing contemporary Arabic art scene, the exhibition will offer a cutting edge survey of recent painting, sculpture and installation.“30 Es stellt sich die Frage, wie die Saatchi Gallery hier die sogenannte zeitgenössische arabische Kunstszene definierte, denn beim Blick auf die Künstlerliste zeigt sich, dass von den 21 ausgestellten Künstlern 11 aus dem Iran kommen. Aus diesem Grund erscheint es auch fraglich, weshalb der Katalog zweisprachig, Englisch-Arabisch, konzipiert wurde. Die Anthropologin Jessica Winegar beobachtete für die Jahre nach dem 11. September 2001 einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem amerikanischen Diskurs über Kunst aus dem „Mittleren Osten“ und dem Krieg gegen den Terror.31 Kunst sollte hier vermutlich einen anderen Blick auf die Region ermöglichen und eine Brücke des Verständnisses zwischen den Kulturen bauen, dabei Errungenschaften sowie die Modernität von Muslimen beweisen. Ihre Kritik an der Auswahl und Präsentation formuliert Winegar vor allem an der Ausstellung „Without Boundary. 17 Ways of Looking“, die 2006 im Museum of Modern Art in New York präsentiert wurde. Intention der Ausstellung war es, die Kategorie der islamischen Kunst kritisch zu befragen. Dies sollte mithilfe verschiedener Künstler geschehen, die aber alle im Ausland leben. Wichtige Themen dieser Ausstellung waren Sexualität und Gender. Vor allem die teilnehmenden Künstlerinnen thematisierten die Ungleichheit der Geschlechter und die Unterdrückung der Frau. Kunst diente somit als ein potenzielles Mittel des Widerstands gegen den Islam. Ausgespart wurde in dieser Ausstellung allerdings jeglicher Kommentar zur amerikanischen Intervention in Afghanistan und im Irak. Dieses Fehlen der Diskussion und die gleichzeitige Kritik am Islam führen auf einer subtilen Ebene dazu, dass der US-amerikanische Angriff rationalisiert oder zumindest substanzielle Kritik daran vermieden wird.32 Obwohl diese Ausstellung sich gegen negative Stereotype und das Narrativ eines Zusammenpralls der Kulturen wehrte, unterlag die Auswahl der Künstler einem deutlich politischen Aspekt. Der „gute Muslim“ lässt sich, so Winegar, scheinbar am besten mit einer Kunst inszenieren, die die vergangenen islamischen Errungenschaften betont, gleichzeitig aber den heutigen Islam kritisiert.33 Diese Kritik an der politischen Instrumentalisierung und den kuratorischen Darstellungsstrategien von Kunst aus dem Nahen Osten ist sehr überzeugend und wurde bereits von
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verschiedenen Forschern formuliert, wie auch von dem Kurator und Kunsthistoriker Salah M. Hassan.34 Diese großen Ausstellungen produzieren auf gewisse Art ethnografische Texte, dadurch tragen sie zu einer Konstruktion und Manifestation eines vermeintlich einheitlichen „Mittleren Ostens“ bei. Deswegen ist es unumgänglich, nach der Legitimität, der Authentizität und der Objektivität dieser Ausstellungkonzepte zu fragen. Auch Künstler aus der Region selbst diskutieren die Art und Weise der Repräsentation bei diesen großen institutionellen Ausstellungen; so weist der Künstler Barbad Golshiri in einem e-flux-Artikel nicht nur auf die eurozentrisch und kolonialistisch geprägte Konstruktion des geografisch nicht definierbaren „Mittleren Ostens“ hin, sondern er kritisiert auch die Strategie der Ästhetisierung von Stereotypen, wie beispielsweise die häufige Motivwahl des Tschadors.35 „Ethnic Marketing“ Eine Initiative, die Repräsentationen nicht-westlicher Kunst im internationalen Kunstbetrieb kritisch reflektierte, war das Ausstellungsprojekt „Ethnic Marketing“ von 2004 im Genfer Centre d’Art Contemporain. Organisator und Initiator der Ausstellung war der international arbeitende Kurator und Kritiker Tirdad Zolghadr. Gemeinsam mit Catherine David kuratierte er 2009 den Pavillon der Vereinigten Arabischen Emirate in Venedig, 2010 war er für die Biennale in Taipeh verantwortlich. Zolghadr schreibt für verschiedene Kunstmagazine, wie „Frieze Magazine“, „Parkett“ und „Bidoun“. Das Konzept des „Ethnic Marketing“ hat Zolghadr aus der Wirtschaft oder der Werbung entlehnt, es ist eine Strategie, die darauf abzielt, den Geschmack und die Kaufkraft der migrantischen Minderheit eines Landes einzuschätzen. Marketingstrategen haben Migrantinnen und Migranten als eine eigene Zielgruppe auserkoren, die sich durch spezifisch abgestimmte Werbung zu bestimmten Käufen animieren lässt. Hierfür gibt es mittlerweile spezielle Agenturen, die sich auf „EthnoMarketing“ spezialisiert haben und Firmen ihr Wissen zur Verfügung stellen. „Ethnic Marketing“ funktioniert nur durch eine starke Reduktion und Stereotypisierung von Kultur. Hierbei geht es darum, die jeweiligen kulturellen Unterschiede, die sterotyp angewandt werden, noch zu betonen. Kulturelle Vielfalt dient der Verkaufssteigerung. Anders als beim echten „Ethnic Marketing“ hingegen sollte in Zolghadrs Ausstellung nicht die Kaufkraft der Migrantinnen und Migranten untersucht, sondern Marketingstrategien auf den westlichen Kunstbetrachter angewandt werden, damit
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Abb. 5: Shirin Aliabadi und Farhad Moshiri, Chador Package (as seen on TV), limitierte Auflage, 2003
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die nicht-westlichen Künstler dessen Bedürfnisse und Wünsche erkennen, sie bedienen und somit daraus Profit schlagen können. Eingeladen wurden 28 Künstler, darunter Ursula Biemann, Hito Steyerl, „The Atlas Group“ und Gülsün Karamustafa. Es sollten keine Plattformen des Kulturaustauschs konstruiert werden, vielmehr wurde die Frage gestellt, was reizvoll sei am „Brückenbauen“ und was es mit der europäisch-amerikanischen Fremdenfreundlichkeit in der Kunst auf sich habe.36 Denn der globalisierte Kunstmarkt ist keineswegs nur ein Beobachter der weltweiten Kunstproduktion, sondern auch ein Kunde, der durch Nachfrage das Angebot bestimmt. Dieser Marktmechanismus führt zu einer Inklusion von Künstlern, die die euro-amerikanischen Erwartungen bedienen und in ihren Arbeiten Selbstethnisierung als Strategie einsetzen, gleichzeitig auch zu einer Exklusion von Arbeiten, die sich dieser Hegemonie widersetzen.37 Prozesse der Globalisierung, die einen internationalen Kunstmarkt erschaffen, können nicht als simpler Multikulturalismus aufgefasst werden, sondern sind vielmehr bestimmten Machtbeziehungen unterworfen. Zolghadrs Ausstellung ist eine institutionskritische Antwort auf die bereits beschriebenen Ausstellungen. Um westliche Erwartungen ironisch zu konterkarieren, stellten Shirin Aliabadi und Farhad Moshiri die Arbeit „Chador Package“ aus (Abb. 5). In der Tradition des Duchamp’schen Readymades bietet das Künstlerduo einen Tschador, die iranische Variante des Ganzkörperschleiers, in einer Plastikverpackung an. Das gelbe Etikett bewirbt das Produkt mit den Adjektiven „Exotic, Mysterious and Shocking“, neben der Schrift ist eine verhüllte mandeläugige Schönheit zu sehen und auch das Wort Tschador ist auf Persisch noch einmal aufgedruckt. Mit der Bemerkung „As seen on TV“ wird nicht nur auf das amerikanische Teleshopping angespielt, sondern auch auf die Darstellung des Landes Iran in den Medien: Verschleierte Frauen dienen hier als Inbegriff islamischer Rückständigkeit und als Zeichen der Unterdrückung der Frau. Die englische Beschriftung macht deutlich, dass das Produkt nicht die potenziellen Trägerinnen anspricht, sondern den europäisch-amerikanischen Ausstellungsbesucher. Zudem befindet sich auf dem Plastikbeutel eine bebilderte Anleitung, wie der Tschador korrekt anzulegen ist. Eine weitere Spitze ist der Satz unter der Anleitung, der diese Verhüllung als „The first and the best art product of Iran“ lobt. Dies ist eine Anspielung auf die sogennante „Chador Art“, ein von den beiden Künstlern kritisierter Trend in der zeitgenössischen iranischen Kunst, den Schleier als visuellen Aufhänger zu benutzen, beispielhaft in den Arbeiten von Shirin Neshat und Shadi Ghadirian.
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Die Last der Repräsentation Die Ästhetisierung des Tschadors in ihren künstlerischen Arbeiten brachte Shirin Neshat sowohl große Beachtung als auch Kritik ein. Die Rezeption von Neshats Arbeiten gleicht einem Kreislauf: Die Darstellung von Frauen im Tschador und Neshats iranische Herkunft führten dazu, dass ihre Arbeiten als repräsentativ für den Iran gelten. Daraus speist sich dann auch die Kritik, die nach Authentizität in ihren Arbeiten sucht. Heftige Kritikerin ist die Kuratorin Catherine David, die als künstlerische Leiterin für die documenta X verantwortlich war. Catherine David gilt als Kennerin zeitgenössischer Kunst aus dem Nahen Osten und dem Iran: „Die meisten Künstler sind ganz anders als etwa Shirin Neshat, die für mich das typische Exempel für einen Schwindel darstellt. Ihre Kunst steht in der Tradition westlicher Klischees, was ich sehr problematisch finde […]. Für mich ist das einfach schlechte Arbeit: Zuerst einmal ist das wirklich keine iranische Kunst, eher eine Ansammlung von Klischees, mit geradezu armseligen Bildern und Videoarbeiten – reduziert auf Schwarz–Weiß, Mann–Frau – und unglaublicherweise wird sie nicht nur vom Westen gefördert, sondern auch von einigen Vertretern des Regimes, die sich als liberal und modern präsentieren wollen. In Teheran werden jetzt KünstlerInnen gepusht, die Shirin Neshat kopieren, während andere – mit komplexeren Ideen, irritierenderen Bildern, die nicht das allgemeine Image des Iran bedienen – unter den Tisch fallen.“38 Catherine David scheint eine essentialistische Vorstellung davon zu haben, was iranische Kunst ist und wie sie auszusehen hat. Iranische Kunst muss zugleich repräsentativ und authentisch sein und muss westlichen Vorstellungen trotzen. Iftikhar Dadi hingegen bezeichnet Neshats Serie „Women of Allah“ aus den 1990er-Jahren als postkoloniale Allegorie. Der Autor legt dar, dass der weibliche verschleierte Körper eine Quelle der Angst für den westlichen Betrachter sei und dass es eine visuelle Korrelation zwischen dem Schleier und dem Terrorismus gebe, die erstmals auf Pressefotos von der Islamischen Revolution im Iran deutlich wurde. In seinem Essay zeigt er, dass sich Shirin Neshat direkt auf die medialen Bilder der revolutionären Iranerinnen bezieht, diese ihr aber lediglich als Ausgangspunkt für eine komplexe Bedeutungsreichweite dienen. Mithilfe der Kalligrafie werden diese Arbeiten zu einer globalen Kunst, die eine Kritik an der medialen Darstellung der muslimischen Frau formulieren.39
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Bisher gab es nur vereinzelt Versuche, Neshats Werk an eine iranische Kunstgeschichte anzubinden, obwohl sie erst 1974 den Iran verlassen hat, zu einer Zeit, als die „Saqqa-khaneh“-Künstler sehr präsent waren. Es ist zu vermuten, dass sie als angehende Kunststudentin mit deren Arbeiten vertraut war. So hat Sussan Babaie in einem Artikel dargelegt, dass Shirin Neshat ähnlich wie Hossein Zenderoudi auf schiitische Ikonografie, die in der iranischen Gesellschaft visuell tief verwurzelt ist, zurückgreift. Auch die Verwendung von Kalligrafie, wie eben in der Fotoserie „Women of Allah“, die überlebensgroße Porträts von Frauen im Tschador zeigt, deren Gesichter, Hände und Füße mit Gedichten iranischer Lyrikerinnen beschrieben sind, lässt sich als autonomes Bildmittel in den Arbeiten der „Saqqa-khaneh“-Künstler wiederfinden.40 Dies hat zur Folge, dass wir in diesem Kontext vor folgende Problematik gestellt werden: „Thus, we are dealing here with a postmodernism without its relevant modernism, which is moreover, informed by a curious disregard for a critical and historiographic knowledge of the Middle Eastern modernisms to which such an artistic trend would be ,post‘.“41 Mit Blick auf verschiedene Ausstellungen und Diskussionen der 2000er-Jahre, westliche Zuschreibungen an Kunst und Künstler aus dem sogenannten „Nahen Osten“, lässt sich, um auf den Anfang dieser Abhandlung zurückzukommen, feststellen, dass sich westliche Institutionen wie Victoria and Albert Museum oder British Museum durch das Sammeln und Ausstellen nicht-westlicher zeitgenössische Kunst durchaus verdient machen. Die Kritik an der Repräsentation nicht-westlicher Kunst kann als Impuls verstanden werden, neue Methoden und Zugänge der Rezeption zu suchen. Es scheint, auch um der Gefahr von „Ethnic Marketing“ zu entrinnen, unumgänglich, eine ausführliche moderne Kunstgeschichte des „Mittleren Ostens“ zu schreiben, die eine adäquate Kontextualisierung ermöglicht. Vielleicht lässt sich schlussfolgern, dass, angestoßen durch den Migrationsprozess einzelner Künstlerinnen und Künstler, wie beispielsweise Shirin Neshat, neue Kunstgeschichten in die Historiografie dieses Fachs einwandern und dazu beitragen könnten, eine globale Kunstgeschichte zu etablieren.
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1 | Shirin Neshat: Interview mit Mona Jensen, in: Women Without Men, Ausst.-Kat. Aros Aarhus Kunstmuseum, Aarhus 2008, S. 82. 2 | Marta Weiss: Light from the Middle East: Recording, Reframing, Resisisting, in: Light from the Middle East. New Photography, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London, Göttingen 2012, S. 7–30. 3 | „Spectrum. Internationaler Preis für Fotografie der Stiftung Niedersachsen: Bahman Jalali“, 29.5.2011– 25.9.2011, Sprengel Museum Hannover. 4 | Finbarr Barry Flood: From the Prophet to Postmodernism? New World Orders and the End of Islamic Art, in: Elizabeth Mansfield (Hg.): Making Art History. A Changing Discipline and its Institutions, London/ New York 2007, S. 31–53. 5 | Sussan Babaie: Voices of Authority. Locating the „Modern“ in „Islamic“ Arts, in: Getty Research Journal, Nr. 3, 2011, S. 133–149, hier S. 140. 6 | Hans Belting: Contemporary Art as Global Art. A Critical Estimate, in: ders. und Andrea Buddensieg (Hg.): The Global Art World. Audiences, Markets, and Museums, Ostfildern 2009, S. 38–73, hier S. 41. 7 | Rose Issa (Hg.): Iranian Contemporary Art, Ausst.-Kat. Barbican Art Galleries, London 2001. 8 | Hossein Amirsadeghi u.a. (Hg.): Different Sames. New Perspectives in Contemporary Iranian Art, London 2009. 9 | Jean Baudrillard: Modernité, in: Encyclopaedia Universalis, Paris 1989, Bd. 15, S. 552. 10 | Kobena Mercer: Annotating Art’s Histories: Cross-Cultural Perspectives in the Visual Arts, London 2005. 11 | Karim Emami: Saqqakhaneh School revisited, in: Saqqakhaneh, Ausst.-Kat. Tehran Museum of Contemporary Art, Teheran 1977. 12 | Fereshteh Daftari: Another Modernism. An Iranian Perspective, in: Shiva Balaghi und Lynn Gumpert (Hg.): Picturing Iran. Art, Society and Revolution, London/New York 2002, S. 40–87, hier S. 72. 13 | Baudrillard 1989 (wie Anm. 9), S. 552. 14 | Peter Chelkowski und Hamid Debashi: Staging a Revolution. The Art of Persuasion in the Islamic Republic of Iran, New York 1999. 15 | Zu nennen sind hier beispielsweise: Ausst.-Kat. Teheran 1977 (wie Anm. 11), oder auch der Beitrag von Ruyin Pakbaz: Der lokal-universale Dialog, in: iran.com. Iranische Kunst heute, Ausst.-Kat. Museum für Neue Kunst Freiburg, Freiburg 2006, S. 82–89. 16 | Die Verfasserin arbeitet an der Universität Bern an der Dissertation „Saqqa-khaneh – Zwischen Tradition und Avantgarde“. 17 | Von Konfiszierungen und Zerstörungen ihrer Arbeiten spricht vor allem die Künstlerin Monir Shahroudy Farmanfarmaian, auch wenn sie nicht offiziell zu „Saqqa-khaneh“ gezählt wird, war sie im Iran der 1960erund 1970er-Jahre im Kunstbetrieb eine wichtige Persönlichkeit. Vgl. Monir Shahroudy Farmanfarmaian und Zara Houshmand: A Mirror Garden. A Memoir, New York 2007. 18 | Javad Mojabi: Pioneers of Contemporary Persian Painting, Teheran 1998. 19 | Kamran Diba: Iran, in: Widjan Ali (Hg.): Contemoprary Art from the Islamic World, London 1989, S. 153. 20 | Karim Emami: Saqqakhaneh School Revisited, in: Ausst.-Kat. Teheran 1977 (wie Anm. 11), n. pag. 21 | Karim Emami: XI. Post Qajar (Painting), in: Ehsan Yarshater (Hg.): Encyclopaedia Iranica, Bd. II, London, 1986, S. 640–646. 22 | http://www.iranicaonline.org/articles/saqqa-kana-ii-school-of-art [Abruf 13.8.2012] 23 | Shiva Balaghi und Lynn Gumpert (Hg.): Picturing Iran. Art, Society and Revolution, London 2002. 24 | Beispielsweise verkaufte das Auktionshaus Christie’s bei der Auktion in Dubai am 27.10.2009 das Gemälde „Kharejee Spirit“ von Hossein Zenderoudi aus dem Jahr 1979 (195 x 132 cm). 2010 konnte das Auktionshaus die Skulptur „Poet and Cage“ von Parviz Tanavoli für über 1 Million Dollar veräußern. 25 | Charles Pocock (Hg.): Parviz Tanavoli, Dubai 2010; Gisela Fock: Die iranische Moderne in der bildenden Kunst der Bildhauer und Maler Parviz Tanavoli. Werk und Bedeutung, Wien 2011. 26 | http://www.vam.ac.uk/content/exhibitions/exhibition-light-from-the-middle-east-new-photography/ about-the-exhibition/ [Abruf 20.12.12] 27 | Hier seien als wenige Beispiele genannt: „Word into Art. Artists of the Modern Middle East“, British
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Museum, London, 18.5.–3.9.2006, oder „Without Boundary: Seventeen Ways of Looking“, The Museum of Modern Art, New York, 26.2.–22.5.2006. 28 | www.brockhaus-enzyklopaedie.de/be21_article.php?document_id=b24_14068909 [Abruf 10.12.2012] 29 | „Unveiled. New Art from the Middle East“, 30.1.–9.5.2009, Saatchi Gallery, London. 30 | http://www.e-flux.com/journal/for-they-know-what-they-do-know/ [Abruf 8.11.2012] 31 | Jessica Winegar: The Humanity Game: Art, Islam, and the War on Terror, in: Anthropological Quarterly, Bd. 81, Nr. 3, Sommer 2008, S. 651–681. 32 | Ebd., S. 668. 33 | Ebd., S. 671–675. 34 | Salah M. Hassan: Zeitgenössische „islamische“ Kunst: Kuratorische Darstellungsstrategien im Westen in der Zeit nach dem 11. September, in: The Future of Tradition – The Tradition of Future, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München 2011, S. 34–41. 35 | http://www.e-flux.com/journal/for-they-know-what-they-do-know/ [Abruf 8.11.2012] 36 | Tirdad Zolghadr: Ethnic Marketing, in: Ethnic Marketing, Ausst.-Kat. Centre d’Art Contemporain Genève, Zürich 2006, S. 11–15. 37 | Ebd. 38 | http://www.freitag.de/2006/22/06221101.php [Abruf 12.11.2012] 39 | Iftikhar Dadi: Shirin Neshat’s Photographs as Postcolonial Allegories, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, Bd. 34, Nr. 1, Herbst 2008, S. 125–150. 40 | Babaie 2011 (wie Anm. 5), S. 137. 41 | Ebd., S. 136.
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MIGRATION KURATIEREN
PhotoIreland 2012, die dritte Ausgabe des irischen Festivals für Fotografie und Bildkultur, fand im Juli des Jahres unter dem Titel „Migration. Diaspora and Cultural Identity“ statt. Das Festival bestand aus sieben Themenausstellungen, einem Symposium, Projektionen im öffentlichen Raum und zahlreichen anderen Veranstaltungen im Raum Dublin. Außerdem fanden im Rahmen des einmonatigen Festivals über fünfzig weitere Ausstellungen, ein Portfolio Review sowie eine Buchmesse statt. Der vorliegende Text ist in Form eines Erlebnisberichtes des Kurators verfasst. Gefärbt von persönlichen Auffassungen und einer subjektiven Interpretation der Begebenheiten, versucht er den kuratorischen Prozess innerhalb der eng gesteckten Rahmenbedingungen eines Festivals mit sehr beschränkten finanziellen Mitteln zu schildern. In diesem Sinne prägen nicht wissenschaftliche Methodik und Literaturverweise das Textbild, sondern vielmehr die in Ich-Form angelegte Darstellung eines Werdegangs, unterlegt mit Anekdotischem und unkontrastierten Auffassungen des Autors. Diese Vorgangsweise steht durchaus im Einklang mit einer Festivaldynamik, die mit pragmatischen Entscheidungen, kurzfristigen Änderungen, personellem Multitasking und budgetbedingten Einschränkungen einhergeht. Man könnte diesen Beitrag demnach als Primärquelle bezeichnen, deren Wert darin besteht, dass sie dem Leser einen Blick hinter die Kulissen eines internationalen Kultur-Events erlaubt und kuratorische Entscheidungsprozesse persönlich nachvollziehbar darlegt. PhotoIreland International Festival wurde im Jahr 2010 von dem Spanier Angel Luis Gonzalez, der seit mehr als zehn Jahren in Irland ansässig ist, gegründet und findet seither jeden Juli in Dublin und Umgebung statt. Ich selbst wurde erst einige Monate vor dem Startschuss der ersten Ausgabe für das Festival tätig, zunächst als Kurator
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einer Ausstellung sowie des Projektionsprogramms. Außerdem brachte ich mich im Organisationsbereich und der konzeptuellen Ausrichtung ein, etwa mit dem Vorschlag, PhotoIreland als „Internationales Festival für Fotografie und Bildkultur“ (International Festival of Photography & Image Culture) zu definieren. Diesen Untertitel wählten wir, um anschaulich zu machen, dass das fotografische Bild heutzutage nicht aus dem Kontext des zeitgenössischen, medienübergreifenden Kulturschaffens herauszulösen ist. Durch den Erfolg der Erstausgabe beflügelt, bestellte mich der Direktor von PhotoIreland zum Kurator des Festivals, welches von nun an unter einem jährlich wechselnden Motto stehen sollte. Für die Ausgabe von 2011 wählte ich das Thema „Collaborative Change“, womit nicht nur der Vormarsch kollaborativer Organisationsformen im Bereich Kunst und Fotografie, sondern auch die geänderten Verhältnisse unserer technologischen, dezentralisierten Arbeitswelt gemeint waren. Das Thema wurde in einer international besetzten Konferenz diskutiert, an der unter anderen auch Peer-to-Peer-Experte Michel Bauwens teilnahm. Wir unterteilten das Ausstellungsprogramm in drei Segmente: Das offizielle Programm, also von mir kuratierte oder ausgewählte Ausstellungen zum Thema, die Sektion „Featured Exhibitions“, das heißt nicht themenbezogene Ausstellungen, die von etablierten Institutionen im Rahmen des Festivals gezeigt wurden, und das „Open Program“, das vor allem in Off-Spaces stattfand. Diese letzte Kategorie schien uns besonders wichtig, um auch Künstlern außerhalb der etablierten Szene die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeiten in Eigenregie zu präsentieren. Desweiteren gab es ein Schwerpunktprogramm über das Fotobuch, welches aus einer vom britischen Fotografen Martin Parr kuratierten Ausstellung (samt Publikation), einer Buchmesse sowie Workshops für Fotografen und Verleger bestand. Diese Struktur wurde auch im Folgejahr beibehalten und um ein Rahmenprogramm (Projektionen im öffentlichen Raum, eine Filmwoche, ein Portfolio Review etc.) erweitert. Als Thema wählten wir diesmal „Migration. Diaspora and Cultural Identity“. Unser Anspruch war von Anfang an, das Thema Migration von beiden Seiten zu betrachten, also sowohl Ein- als auch Auswanderung, und neben der irischen Perspektive auch eine internationale Sicht auf das Phänomen zu zeigen. Denn während das Thema der Diaspora allgegenwärtig ist, nimmt die Einwanderungs- und Integrationspolitik in der öffentlichen Diskussion Irlands keine besondere Rolle ein. In den
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Jahren des „Celtic Tiger“ wurden zeitlich beschränkte Arbeitsgenehmigungen für Nicht-EU-Länder, besonders im Gesundheitswesen, der Informationstechnologie sowie in der Baubranche, recht freizügig ausgestellt. Auch aus der EU gab es eine beträchtliche Zuwanderung in das boomende Land, zum Beispiel aus Polen und Litauen, aber auch aus Spanien und natürlich aus dem benachbarten Großbritannien. Viele dieser Zuwanderer sind seit der Wirtschaftskrise in ihre Ursprungsländer zurückgekehrt, andere haben sich an ihre Identität als „New Irish“ gewöhnt und bleiben. Doch die Rezession hat vor allem unter den Iren selbst eine neue „Diaspora“ ausgelöst, zunächst in die klassischen Zielländer USA, Australien und Großbritannien, aber auch nach Kontinentaleuropa und Lateinamerika. Die Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Migration im Rahmen des Festivals schien auch deshalb angebracht, weil das Festivalteam zum großen Teil aus „neuen Iren“ sowie aus nicht in Irland ansässigen Mitarbeitern bestand – so auch der Kurator selbst. Ausgangspunkt der Faktenforschung zum Thema Migration waren Atlanten und Fachstudien.1 Von diesen „harten Fakten“ ausgehend, wurde die Literaturrecherche in Richtung Begriffsforschung (insbesondere zur „Irish Diaspora“) ausgeweitet, und durch Fachgespräche und elektronischer Korrespondenz mit Experten bereichert. Besondere Aufmerksamkeit wurde auch dem Stellenwert des Migrationsthemas in der historischen Fotografie zuteil. Im Falle Irlands fand dieses Thema gegen Ende des Jahrhunderts Eingang in die fotografische Produktion und wurde mit Beginn des 20. Jahrhunderts zum ihrem festen Bestandteil.2 Auch wenn von Anfang an geplant war, das Festival zum Großteil aus internationalen zeitgenössischen Positionen bestehen zu lassen, war die historische Aufarbeitung des Themas im lokalen Kontext von großer Bedeutung, um die Grundpfeiler des kuratorischen Gerüsts zu definieren. Diese durch Schlagworte markierten Konzepte wurden in einem Mind-Map dargestellt und innerhalb des Teams sowie in Fachgesprächen mit Kuratoren und Künstlern diskutiert. Danach wurden den jeweiligen Themenbereichen Projekte zeitgenössischer Künstler zugeordnet, woraus sich die erste Shortlist für das Ausstellungsprogramm ergab. Etwa ein halbes Jahr vor Festivalbeginn war der Zeitpunkt gekommen, das theoretische Gerüst und die Künstlerliste in der Festivalstruktur zu verankern. Die Hauptausstellung „On Migration“ sollte Positionen junger Künstler gewidmet sein, und im
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selben Gebäude wie die „Book and Magazine Fair“ stattfinden. Wir wählten dafür die Räumlichkeiten der Moxie Studios, eines kollektiv geführten Kunstraums, der in einer ehemaligen Fabrik untergebracht ist. Das historische Fotoarchiv der Stadt Dublin im belebten Templebar-Bezirk und die Copper House Gallery stellten sich ebenfalls in den Dienst des Festivalthemas. Auch die Ausstellungsräume des spanischen sowie des französischen Kulturinstituts standen uns zur Bespielung offen, das Goethe-Institut hingegen schlug vor, eine eigene Künstlerauswahl im Rahmen des Festivalthemas zu treffen. Obwohl die Vorbereitungen zu den Ausstellungen parallel verliefen und sich gegenseitig beeinflussten, werden sie im Folgenden einzeln geschildert, um eine bessere Nachvollziehbarkeit der kuratorischen Prozesse zu gewährleisten. Die Ausstellung „On Migration“ wurde bewusst in den Mittelpunkt des Festivals gesetzt und bestand aus dreizehn internationalen Künstlerpositionen im Bereich Fotografie und Videokunst, darunter drei unveröffentlichte Buchprojekte, die als „Work in Progress“ gezeigt wurden. Das erste dieser noch im Arbeitsprozess befindlichen Projekte wurde von der argentinischen Künstlerin Francisca López präsentiert. Es schildert ihre Beziehung zu dem ungarischstämmigen Fotografen Bandi Binder, der in den 1930er-Jahren von Transsilvanien (heute Rumänien) nach Buenos Aires auswanderte. López lernte ihn in den neunziger Jahren kennen, als er sein Studio auflöste und sie ihm Teile seiner Ausrüstung abkaufte. Aus der zunächst flüchtigen Beziehung entwickelte sich eine Freundschaft, daraus dann eine akribische Aufarbeitung von Binders Lebenswerk aus dem Blickwinkel der Künstlerin. Das vorhandene Bildmaterial wurde in Mappen gebunden und im Ausstellungsraum aufgelegt. Außerdem gab es eine Installation ausgewählter Arbeiten in Formaten zwischen 13 x 18 und 40 x 50 Zentimetern. Im selben Bereich der Ausstellung platzierten wir zwei weitere Buchprojekte, Carlos Albalás „Nasz Dom“ („Unser Heim“) und „The Collective Man“ des Kollektivs Tehnica Schweiz. Ersteres beschreibt die Spurensuche des spanischen Fotografen und Verlegers Albalá im russisch-polnischen Grenzgebiet. Diese Landstriche gingen nach dem Zweiten Weltkrieg von den deutschen Besetzern an die russische „Befreiungsmacht“, die sie systematisch ihrer Industrieanlagen und natürlichen Ressourcen beraubte. Abalá zeigt das Schicksal einer doppelt betrogenen Bevölkerung anhand von historischen Bilddokumenten, aber auch seiner eigenen Landschafts- und Architek-
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turfotografien sowie einer Reihe geradezu klinisch abfotografierter Alltagsgegenstände. In Absprache mit dem Künstler entschieden wir uns, Manuskriptfahnen (also Doppelseiten aus dem noch unveröffentlichten Buch) ungerahmt an die Wand zu hängen, um den Work-in-progress-Charakter zu unterstreichen. Direkt daneben installierten wir einen Sockel, auf dem das Buchmuster „The Collective Man“ zum Durchblättern auflag. Dieses von László Gergely konzipierte und von seinem Budapester Kollektiv Tehnica Schweiz ausgeführte Projekt befasst sich mit dem Schicksal des Yad Hanna Kibbutz in Israel. Das Buch besteht aus einer geschichtlichen Annäherung an die von ungarischen Holocaust-Überlebenden gegründete Kommune (unter ihnen auch Verwandte des Künstlers), der Dokumentation des Status quo im aufgelassenen Kibbutz und einem Theaterstück, das entscheidende Momente seiner Geschichte nachstellt. László Gergely hatte das Projekt im Rahmen der PhotoIrelandKonferenz 2011 erstmals präsentiert, sodass die Ausstellung des Book-Dummies auch einen Anschlusspunkt zum Vorjahresthema über die kollektive Künstlerarbeit bot. Die etwas genauere Beschreibung dieser drei Arbeiten erlaubt einige erste Schlussfolgerungen in Bezug auf den kuratorischen Schaffensprozess im Rahmen eines Festivals: Geringe Mittel im Präsentationsbereich, Anschlüsse an vorherige Festivalausgaben, unterschiedliche Grade der Zusammenarbeit mit den Kunstschaffenden und ein breites Verständnis des Themas bestimmten den Arbeitsprozess und das Ergebnis. Das gilt natürlich auch für die weiteren Arbeiten der Ausstellung „On Migration“, die hier nur namentlich aufgezählt werden können, um den Rahmen nicht zu sprengen. Dies sind Andrea Robbins’ und Max Bechers Serie „770“ (Abb. 1), die außerhalb des Gebäudes an der Fassade der Moxie Studios installiert wurden, das Projekt „Tumulus“ von Roger Eberhard und James Nizam, Mark Currans „Ausschnitte aus Eden“, die in einer Installation mit Video- und Diaprojektoren gezeigt wurden, Anthony Luveras „Assistierte Selbstporträts“, Dinu Lis „The Mother of all Journeys“ sowie Ieva Baltaduonytes Projekt „Migracijos“. Zusätzlich wurden zwei Teilnehmer des diesjährigen Portfolio Review ausgewählt, um mit ihren Serien an der Hauptausstellung teilzunehmen, und zwar Tina Remiz’ „The Place Where I am Not“ und Darek Fortas’ „Coal Story“. Darüber hinaus gab es ein Videoprogramm, das in einer Blackbox lief und aus Heidrun Holzfeinds „The Romanians (Live like a King)“, Kateřina Držkovás „Borders“, Lilibeth Cuenca Rasmussens „Absolute Exotic“ und Debbie Castros „Focused identity, Unfocused spaces“ bestand.
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Abb. 1: Andrea Robbins und Max Becher, Serie „770“, Installation an der Außenfassade der Moxie Studios im Rahmen von PhotoIreland 2012
Abb. 2: Ausstellung „Books on Migration“, kuratiert von Irene Attinger für PhotoIreland 2012
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Ebenfalls in den Moxie Studios fanden zwei weitere Schauen statt, die dem Anschluss zur Buchmesse dienten. Für Erstere, die sich dem Medium Fotobuch widmete, luden wir Irene Attinger, die Bibliotheksleiterin der Pariser Maison Européenne de la Photographie, als Gastkuratorin ein. Sie wählte zwanzig Publikationen aus, die teilweise aus den Beständen ihrer Bibliothek stammten, darunter Augustus Schermans „Ellis Island“, Dorothea Langes „American Exodus“ und Thomas Mailaenders „Cathedral Cars“. Diese Ausstellung (Abb. 2) schloss an Martin Parrs vorjährige Buchschau an, jedoch mit dem Unterschied, dass es sich diesmal um spezifisch zum Festivalthema ausgewählte Fotobücher handelte. Wie schon im Vorjahr entschlossen wir uns für eine Kompromisslösung zwischen konservatorischen Vorgaben und einer mediengerechten Präsentationsform: Alle Bücher, die für weniger als 100 Euro verfügbar waren, wurden aus dem Festivalbudget angeschafft und auf einem Regal aufgestellt, sodass sie von den Besuchern in die Hand genommen und durchgeblättert werden konnten. Dadurch wurde eine buchgerechte Lektüre ermöglicht, die neben dem Gebrauch des visuellen auch den des Tast- und des Geruchsinns erforderte. Von jenen Büchern, die aus konservatorischen Gründen in Vitrinen gezeigt werden mussten, wurden maßstabsgetreue Faksimiles einiger ausgewählter Seiten angefertigt und oberhalb der jeweiligen Publikation an die Wand geheftet. Der zweite Anknüpfungspunkt zwischen der Hauptausstellung und der „Book and Magazine Fair“ ergab sich aus einem Gespräch mit dem Fotografen und Zeitschriftenverleger Andreas Müller-Pohle im Vorfeld des Festivals. Die grundlegende Idee war, die Rolle der Zeitschriftenherausgeber zu thematisieren und ihnen im Rahmen einer gemeinsam kuratierten Ausstellung die Möglichkeit zu geben, die gedruckte Seite auf die Wand zu übertragen. Hierzu erstellten wir eine Shortlist von Zeitschriften, die soziale und politische Themen zum Inhalt haben. Interessanterweise befand sich darunter eine ganze Reihe von Publikationen aus Mittel- und Osteuropa, weshalb wir uns entschlossen, die Endauswahl auf fünf Zeitschriften aus diesem geografischen Raum einzuengen. Diese Einschränkung erlaubte uns überdies, die Herausgeber auf Festivalkosten einzuladen, damit sie ihre Zeitschriften in einer Podiumsdiskussion vorstellen konnten. Der kuratorische Prozess für „Magazines on Migration“ begann als offener Dialog zwischen den Herausgebern von Camera Austria (Österreich), Fotografija (Slowenien), European Photography (Deutschland), Kwartalnik Fotografia (Polen) und Fotograf (Tschechische Republik). Ich selbst brachte mich erst
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in der Endphase ein, um eine ausgewogene Auswahl der Positionen zu gewährleisten. Als Präsentationsform wurden großformatige Plakate gewählt, deren Erscheinungsbild sich an der gedruckten Zeitschriftenseite orientierte. Die Themenausstellungen außerhalb der Moxie Studios waren „El otro lado del alma“ („Die andere Seite der Seele“) im Instituto Cervantes, die Schau „Living – Leaving“ im Irischen Fotoarchiv und zwei Einzelschauen in der Copper House Gallery. Erstere wurde schon vor einigen Jahren in Zusammenarbeit mit der Fototeca de Cuba in Havanna produziert und für das irische Fotofestival adaptiert.3 Es handelte sich um die erste umfassende Schau über den kulturellen Einfluss der afrikanischen Diaspora auf die zeitgenössische kubanische Fotografie und Videokunst. Die Adaptierung für das spanische Kulturinstitut und das Festivalthema bezog sich auf die Hängung, die Wandtexte und die Neugestaltung des Dokumentarfilms, der in die Ausstellung einführt. „Living – Leaving“ zeigte zwei junge irische Fotografen, die sich seit Jahren mit dem Thema Auswanderung beschäftigen. Maurice Gunnings Serie „Encuentro-A Gathering“ befasst sich mit dem Schicksal jener Landsleute, die Mitte des 19. Jahrhunderts im fernen Argentinien ihr Glück suchten – und natürlich mit deren Nachfahren, die sich im Sinne einer „Transnational Community“4 weiterhin mit der alten Heimat verbunden fühlen. Neben den Fotografien Gunnings wurden auch Originaldokumente und -fotografien aus den 1860er-Jahren aus dem Bestand des Nationalen Fotoarchivs gezeigt, wodurch der Ausstellungsort selbst zum Teil des Themas wurde. David Monahan präsentierte großformatige Arbeiten aus seiner aktuellen Porträtserie „Leaving Dublin“, für die er irische Auswanderer kurz vor ihrer Abreise in die ungewisse Zukunft abgelichtet hatte. Diese Ausstellung war schon aufgrund ihrer guten Lage im Stadtzentrum, vor allem aber wegen des Themas beim Publikum sehr beliebt. In der Fachpresse fand hingegen die Einzelausstellung von Isabelle Pateer besonderen Anklang. In ihrer Serie „Unsettled“ zeigt sie Beziehungen zwischen „Fortschritt und Verlust im Zeitalter der Globalisierung“ am Beispiel des belgischen Dorfes Doel, das einem Erweiterungsprojekt des Antwerpener Hafens zum Opfer gefallen ist. Jean Reveillard war mit der Serie „Sarah on the Bridge“ vertreten, die die Reise einer jungen Ghanaerin nach Europa dokumentiert, wo sie auf eine bessere Zukunft als Schneiderin hofft, jedoch bald in den Strudel der modernen Migrationssklaverei gerät. Diese Arbeit war – neben Monahans Auswandererporträts – vielleicht die „journalistischste“ Arbeit im Rahmen des von mir kuratierten Festivalsegments.
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Wie schon zu Beginn erwähnt, fanden im Rahmen der „Featured Exhibitions“ und des „Open Program“ weitere Schauen in Dublin statt, von denen einige das Festivalthema reflektierten, andere hingegen die freie Themenwahl vorzogen. Außerdem organisierten wir in Zusammenarbeit mit der renommierten Grad Cam School ein eintägiges Symposium zum Festivalthema. Unter den Teilnehmern befanden sich die Soziologin Alice Feldman, die Migrationsexpertin Elena Moreo, die Kunsttheoretikerin Rania Gaafar, der Fotograf Anthony Haughey und die Filmemacherin Trish Ziff. Der Katalog wurde von einem Essay des französischen Historikers Michel Bruneau eingeleitet, der sich mit der Validität des Diaspora-Begriffs beschäftigt. Die Kataloggestaltung übernahm ein junges Designerteam aus Dublin, das den von uns erwünschten Spagat zwischen Lese- und Handbuch meisterhaft zustande brachte. Das Ergebnis ist eine fast zweihundertseitige Publikation im Format A5, die neben Texten und Bildern auch eine Auflistung des Festivalprogramms „Day by Day“ und einen Plan der Stadt Dublin enthält. Die Webseite folgte grundsätzlich der gleichen Struktur und Aufmachung, aber natürlich mit dem Vorteil der Verlinkung zwischen den Elementen und der Integration der Social Media. Neben den schon obligatorischen Interaktionsmöglichkeiten via Facebook und Twitter schufen wir auch einen Blog, der rund sechzig Internetbeiträge rund um das Thema Migration bündelte. Direkte Kommunikationsmittel – wie Newsletter und Massenemails – wurden hingegen sehr sparsam verwendet. Resümierend kann man PhotoIreland 2012 durchaus als erfolgreiches Festival bezeichnen, das durch ein konkretes und aktuelles Thema das öffentliche Interesse wecken konnte und jungen Künstlern die Möglichkeit gab, ihre Positionen im Rahmen eines internationalen Kunstevents darzustellen. Obwohl die Zeitspanne von weniger als einem Jahr nicht allzu viel kuratorische Vorarbeit ermöglichte, konnte eine internationale Plattform für den künstlerischen Dialog und eine themenspezifische Diskussion geschaffen werden, die sowohl Fachleute, als auch das breite Publikum ansprechen sollte. Rezensionen kamen vor allem aus Dublin selbst, aber auch aus Kontinentaleuropa, den USA und sogar aus Neuseeland. Oftmals konzentrierte sich das Interesse dabei auf die irische Diaspora, nicht so sehr auf das globale Problem. Das versuchte ich immerhin nachträglich in Presse-Interviews und Kuratorengesprächen zurechtzurücken.5 Natürlich war es aber jedem Journalisten (und Besucher)
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selbst überlassen, aus der Fülle des Ausstellungsprogramms zu wählen und eigene Schlüsse zu ziehen. Die Rezeption des Festivalthemas war dementsprechend breit gefächert und reichte von Kommentaren zu einzelnen Künstlerpositionen auf der Festival-Webseite über persönliches Feedback bezüglich Hängung und Organisation bis hin zu Fachgesprächen mit Betroffenen. Vor allem im Rahmen des Symposiums fanden rege Diskussionen statt, die sich teilweise an wichtige Fragen in Sachen Integrationspolitik, Städtebau und Menschenrechte heranwagten. Insofern wurde das Festival – richtigerweise – als Katalysator für eine tiefergreifende Diskussion verstanden, die sich nicht auf den Festivalmonat und die Fotografie beschränken sollte. 1 | Solide Analysen historischer und zeitgenössischer Migrationsströme sind u.a. Claire Blandin (Hg.): Atlas de las migraciones. Fundación Le Monde Diplomatique und UNED, Madrid 2012; Antje Bauer und Barbara Bauer (Hg.): Immer der Arbeit nach: Migration im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2008. Zur spezifischen Situation in Irland vgl. Alan Barrett, Adele Bergin und David Duffy: The Labour Market Characteristics and Labour Market Impacts of Immigrants in Ireland, in: The Economic and Social Review, Bd. 37, 2006, H. 1, Frühjahr 2006, S. 1–26; vgl. auch Colleen McFadyen (Hg.): From Migration to Integration. Chinese, Indian, Lithuanian, and Nigerian Migrants’ Experiences in Ireland, hg. v. Immigrant Council of Ireland, Dublin 2008. 2 | „Indeed emigration continued to be a feature of Irish cultural life throughout the 20th century, which had a considerable influence on both the types of photographic imagery produced of Ireland and the Irish at home and abroad, and the cultures and communities in which such photographic imagery circulated.“ Justin Carville: The History of Irish Photography, in: Vaclav Macek (Hg.): The History of European Photography, Bd. 1: 1900–1938, Bratislava 2010, S. 236. 3 | Natalia Bolivar u.a.: El otro lado del alma. Synkrestismen in der zeitgenössischen kubanischen Fotografie, Zürich 2005. 4 | Dieser Begriff wurde von Riva Kastoriano eingeführt und ist laut Michel Bruneau besser zur Beschreibung der im Ausland lebenden Iren geeignet als jener der Diaspora. Michel Bruneau: Diasporas, transnational spaces and communities, in: Rainer Bauböck und Thomas Faist (Hg.): Diaspora and Transnationalism: concepts, theories and methods, Amsterdam 2010, S. 35–49. 5 | Irish Central, 4.7.2012: http://www.irishcentral.com/news/PhotoIrelands-2012-Festival-explores-powerful-subject-of-migration-and-Diaspora---PHOTOS-161222445.html.
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Burcu Dogramaci
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Im Jahr 2012 trat die Tate Britain mit einer Ausstellung in die Öffentlichkeit, die das tradierte Selbstverständnis des Hauses hinterfragte und die eigene Sammlungsgeschichte in ein neues Licht stellte. Denn Ausstellung und Katalog schlugen eine neue Definition von nationaler Kunstgeschichte vor: Britische Kunst war demnach keine feste Zuschreibung mehr an Kunst in festen territorialen oder nationalen Grenzen, sondern ein Dachbegriff, der Durchlässigkeit zuließ, ja sogar forderte, war doch britische Kunst seit jeher, wie es im Katalog heißt, geformt durch Migration. Dazu die Direktorin der Tate Britain, Penelope Curtis: „On arriving as the new Director at Tate Britain I proposed looking at the collection in relation to its troubling name. The national collection of British art is frequently not actually British and yet is happily, even unthinkingly, accommodated within our galleries. This fact is especially striking for the earlier part of the collection, where most of our paintings are by artists who came from overseas. The simple premise, then, of this alternative view of the collection is that the national collection of British art is often called British simply by custom or convention. Some of these artists made their homes here, while others left, and yet their work is ,British‘, as it were, by adoption. Making art British, or making British art, are divergent avenues which often intersect.“1 Curtis stellt in ihrer Einleitung zur Ausstellung herkömmliche Kategorien nationaler Kunstgeschichte infrage, indem sie Austausch, Einfluss, Wanderung und das Überqueren von Grenzen zu den Grundfiguren britischer Kunst erhebt – auch in einer historischen Perspektive. Wenn britische Kunst folglich eine Kunst der Migration ist, was bedeutet dies für ihre Themen und Motive, für Methoden und Theoriebildungen? Diese zentralen Fragen können zweifelsohne auch auf andere Konstellationen und Länder übertragen werden und stellen die bisher etablierten Narrative von Kunstgeschichte als „national“ auf den Prüfstand.
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Über lange Zeit und bis in die Gegenwart hinein prägten eben diese nationalen Perspektiven die Kunstgeschichtsschreibung. Dies zeigt sich beispielsweise in der Ordnung von musealen Sammlungen, ganz gleich, ob man sich in der Münchner Pinakothek, der Gemäldesammlung in Berlin oder im Königlichen Museum für Schöne Künste in Antwerpen befindet: Kategorien wie niederländische, flämische oder italienische Kunst prägen die Strukturen musealer Sammlungen und ihrer Dramaturgien. Das gilt selbst für Museen und Abteilungen, die der Gegenwartskunst gewidmet sind, in denen Werke Gerhard Richters häufig in Nachbarschaft zu jenen Sigmar Polkes hängen, Arbeiten von Andy Warhol und Roy Lichtenstein in unmittelbare Nähe zueinander positioniert sind. Dies verdeutlicht die Dominanz national geprägter Kunstgeschichten und Narrative selbst in den Dekaden der globalen Vernetzung durch den Kunstbetrieb. Doch gerade das 20. Jahrhundert verdeutlicht, dass Migrationsbewegungen zu den wichtigsten Beschleunigern der Kunsthistorie gehören: Mobilität, Emigration und Immigration sowie Transfers haben gleichermaßen Einfluss auf Heimat- wie Zielländer, womit die Bedeutung von Grenzen, kollektiven Traditionen und Vergangenheiten für das Selbstverständnis von Nationen hinterfragt werden sollten. Wenn Menschen (Länder-)Grenzen passieren, wenn jede Gesellschaft eine Gesellschaft der Zugereisten ist, wie können sich Nationen, also kollektive Verbünde von Menschen, auf eine gemeinsame Identität berufen, die auf kulturellen Merkmalen wie Sprache, Tradition, Sitten, Gebräuchen oder Abstammung beruht?2 Auf welche gemeinsame Erinnerung, kulturelle Identität oder Geschichte(n) können sich beispielsweise Künstler beziehen, die als Deutsche mit heterogenen Abstammungen Kunst produzieren? Die Akzeptanz von Einwanderung als grundlegendem Movens für identitäts-, nationen- und kulturbildende Prozesse führt zu weiteren Annahmen und Fragen, die auch ins Herz einer zeitgenössischen Perspektivierung von Kunstgeschichte zielen. Welche anderen Themen und Motive, welche theoretischen Zugänge oder künstlerischen Verfahrensweisen könnten durch gesellschaftliche, sichtbare Migration motiviert sein? Dieser Beitrag wird Migration3, das heißt die Wanderung von Personen und einen damit verbundenen dauerhaften Wohnortwechsel, als Thema künstlerischer Produktion und kunstwissenschaftlicher Untersuchungen behandeln. Ausgehend von neueren kunstwissenschaftlichen Zugängen, die Migration nicht nur als Transgressionen territorialer Grenzen sehen, sondern darüber hinaus das Potenzial von Migranten als
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Agenten von Veränderung und Wechsel erkennen,4 werden im Folgenden einige Gedanken zur Migration als Forschungsfeld von Kunstgeschichte entwickelt. Dabei sollen die negativen Auswirkungen von Migration für das (aus)wandernde Subjekt nicht relativiert werden. Slavoj Žižek hat darauf hingewiesen, dass das Entwurzeltsein aus dem Umfeld und der traditionellen Lebensweise die Existenz von Migranten destabilisieren kann, und davor gewarnt, diesen Zustand zu verharmlosen.5 Aus dieser Destabilisierung schöpfte jedoch der Medienphilosoph Vilém Flusser kreatives Potenzial und deutete seine Emigration und die damit einhergehende Vielsprachigkeit und Heimatlosigkeit als Movens für sein mehrsprachiges Schreiben und die literarischen Methoden seiner Reformulierungen und Rückübersetzungen.6 Für eine Untersuchung der Auswirkungen von Migration und Emigration auf künstlerische Praxis, Produktivität und Produktion, auf Themen, Motive, Methoden und Theorien lässt sich mit einem Apparat an Begriffen und Fragestellungen arbeiten: Soziologische und literaturwissenschaftliche Forschung verweist im Kontext von Migration und Exil häufig auf Begriffe wie „displacement“, einer durch Migration entstandenen Dislokation oder Entortung.7 Diese bewertenden Kategorien, die implizieren, dass Auswanderung zumeist mit einer Entwurzelung oder einer fehlenden Verwurzelung einhergeht, sollen durch erweiterte Rahmenbegriffe wie Ort und Zeit, Projektion und Konstruktion, Erinnerung und Perspektiven, alte und neue Heimat, Mobilität und Sprachen sowie Medialisierungen ersetzt werden, die weniger determiniert erscheinen. Kollektive und individuelle Erinnerung Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, dass Erinnerung stets retrospektiv und konstruierend erfolgt; von der Gegenwart aus wird zurückgeblickt, die Rückschau erfolgt über Erinnerungsinseln, wobei sich unweigerlich Verschiebungen und Neuerfindungen ergeben.8 Diese Konstruktion von Erinnerung, das damit verbundene Produzieren von Bildern und Texten, ist für Künstlerinnen wie Anny und Sibel Öztürk eine zentrale Verfahrensweise: In einigen ihrer Werke rekurrieren Öztürks auf eine nicht-deutsche Herkunft und Sozialisation. In ihren Papierarbeiten, die auf Familienfotografien basieren, imaginieren die in Deutschland aufgewachsenen Schwestern die eigenen Reisen ihrer Kindheit mit dem Auto von Deutschland in die Türkei. In diesen kolorierten Zeichnungen (Abb. 1) rufen Öztürks Szenen auf, wobei sie Personen und Gegenstände stark vereinfachen. Handgeschrie-
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Abb. 2: Anny und Sibel Öztürk, Behind the wheel, 2004, Installationsansicht Städtische Galerie Nordhorn 2007
bene Texte erläutern die Bilder, breiten aber auch ein Narrativ aus, das scheinbar auf erlebter Erinnerung basiert. Sie spielen mit visuellen Auslassungen und Straffungen, aber auch mit tagebuchartigen Kommentaren, die bestimmte Gefühle, Momente, Erinnerungen aufrufen. Da die Bilder jedoch stets formelhaft und reduziert wirken, das Personal mehr als Typen denn als Individuen ins Bild tritt, bleibt Platz für eigene Projektionen. Die starke Reduktion und Vereinfachung bei der zeichnerischen Umsetzung abstrahiert die subjektive Erinnerung. Auf diese Weise entsteht jenseits des subjektiven Zugangs ein ganz allgemeines Moment einer kollektiven Erinnerung: Ein Mercedes (Abb. 2) oder Ford, eine Raststätte, ein kurzes Kleid, klebrige Bonbons, Langeweile und Staus prägen sicherlich viele Erinnerungen an eine Kindheit im Deutschland der 1970er-Jahre. Öztürks Installationen bestehen aus Zeichnungen, Texten und Gegenständen. Dieses Collagieren und Expandieren künstlerischer Ausdrucksformen lässt sich als Referenz an das Erinnern und Kollektivieren von Erinnerungsstücken lesen, kann aber auch als Anspielung auf die Bewegung und Uneindeutigkeit, die auch Migration, Reisen und Wandern inhärent sind, gedeutet werden.
Abb. 1: Anny und Sibel Öztürk, Behind the wheel, 2004
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Abb. 3: Peggy Meinfelder, Meine ersten 100 Westmark, 2003–2006, Ausstellungsansicht: „Monument to Transformation“, City Galerie, Prag 2009
Abb. 4: Peggy Meinfelder, Meine ersten 100 Westmark, 2003–2006, Walkman von Jens S.
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Die Erinnerung oder eine Stimmung ist bei Öztürks dabei eng an Gegenstände gebunden: Lampions ihrer Installation „Lido“ rufen das Bild südlicher Ferienorte der 1950er-/60er-Jahre bei Nacht auf, der Mercedes ist als migrantisch konnotiertes Automobil lesbar. Das Ding oder Objekt gehört zu den meist bemühten, aufgeladenen Exponaten in Ausstellungen und Museen, die sich Aus- oder Einwanderung widmen. Die Kulturanthropologin Natalie Bayer verweist darauf, dass Migrationsausstellungen häufig den Koffer oder Ausweis als Attribut der Einwanderer inszenieren, so als kondensiere sich das Leben und Wirken von Migranten im Bild der ewig Wandernden.9 „That suitcase is a migrant“, schreibt auch Amitaya Kumar in seinem Essay „Who is a Migrant“10 und wählt das Bild eines in gelbes Nylon gewickelten großen Koffers auf dem Gepäckband eines Flughafens als ikonisches Zeichen für Migration. Doch auch jenseits ihrer Instrumentalisierung in offiziellen (musealen) Repräsentationen haben Gegenstände für die künstlerischen Reflexionen über Migration Bedeutung. Im Verständnis der aus Thüringen stammenden und in München lebenden Künstlerin Peggy Meinfelder war die Wiedervereinigung 1990 mit einem Bruch in ihrer Biografie verbunden. Die Auflösung ihres Heimat- und Herkunftslandes DDR und die Zusprechung einer neuen Staatsangehörigkeit ließen Fragen nach Identität, Heimat, aber auch nach der Bedeutung von Erinnerung aufkommen – Fragen, die Meinfelders Arbeit in den Kontext von Migration rücken.11 In ihren Werken begegnet immer wieder die Suche nach Erlebnissen der Vergangenheit, die kollektive Erinnerungen in Deutschland infrage stellen. Für ihre Arbeit „Meine ersten 100 Westmark“ (Abb. 3) sammelte die Künstlerin Objekte, die DDR-Bürger nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze von ihrem Begrüßungsgeld erwarben. Diesen Gegenständen, die Meinfelder ordnete, archivierte und mit Kommentaren der Käufer versah, sind Konsumverhalten ebenso wie Sehnsüchte und Enttäuschungen ihrer Besitzer einverleibt. Meinfelder selbst sieht in den vielen technischen Geräten (Abb. 4), in der Lederjacke oder den Schallplatten Gegenstände „aus einer Zeit des Übergangs, die durch den Wunsch nach dem Besitz eines Produkts noch die alte Zeit repräsentiert, aber mit dem erworbenen Gegenstand schon das Neue kennzeichnet“.12 Dabei sind nicht nur die Objekte, sondern auch die Erinnerung an ihren Erwerb, enttäuschte und erfüllte Erwartungen exponiert. Persönliche Erinnerungen13 verschränken sich mit einer zeithistorischen Perspektive.
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Orte und Räume14 Anny und Sibel Öztürks künstlerische Reflexion der sommerlichen Reise zwischen Herkunfts- und Zielland der Einwanderer führt zur These, dass Migration weit auseinanderliegende Orte verbindet. Arjun Appadurais Begriff der „Ethnoscapes“,15 jener transnationalen Räume, die kulturelle Identitäten modellieren, und zwar von der Heimat bis zum Zielland reichen, scheint hier brauchbar zu sein. In ihren Reflexionen zu Migration gehen Arjun Appadurai ebenso wie der Soziologe Stuart Hall16 davon aus, dass Ein- und Auswanderung nicht zwischen geschlossenen ContainerRäumen stattfindet, sondern dass die Räume offen und durchlässig sind. Sie betonen den Fluss, das Prozessuale, die ständige Veränderung, verweisen darauf, dass Identitäten sich durch Eigenwahrnehmung und Fremdprojektion konstituieren und Räume existieren, in denen sich Gegenwart, Erinnerungen wie Zukunftsentwürfe verschränken. Bislang wurde kaum beachtet, dass Einwanderung seit den 1970er-Jahren, also in direkter Reaktion auf die großen Immigrationswellen, zum Thema in der deutschen zeitgenössischen Kunst wurde. Noch in der Serie „Deutsche“, die Stefan Moses in den 1960er-Jahren im Auftrag des „Stern“ fotografierte, um „ein Gesellschaftsbild der Deutschen“17 zu entwerfen und darin verschiedene Berufsgruppen versammelte – Kaminkehrer, Fischarbeiterinnen oder Polizisten –, findet sich in der Zusammenschau all dieser Personen eine Fehl- oder Leerstelle. Einwanderung hat in den Bildern von Moses noch keinen Widerhall. Erst viel später wird sich in einem weiteren Projekt von Moses, das den Ostdeutschen18 gewidmet ist, dieses Thema in einer Fotografie (und dies ist die einzige) motivisch Eingang finden: Es sind hier die Textilarbeiterinnen (Abb. 5), die vermutlich einst aus kommunistischen Bündnisländern in die ehemalige DDR eingewandert waren und nun, frontal vor dem Auge des Betrachters aufgereiht, für eine „farbige“ Gesellschaft stehen. Moses’ Fotografien, die in der Tradition von Wander-Fotografen entstanden und Bezüge zu den Ständeporträts von August Sander aufweisen, verdeutlichen, dass durch Fotografien auf die jeweilige Zeit und auf den Autor geblickt werden kann.19 Bereits seit den frühen 1970er-Jahren setzte sich Candida Höfer mit einer durch Migration deutlich veränderten Stadtwelt auseinander. Nach zweijähriger Abwesenheit aus ihrer Heimatstadt Köln registrierte die Fotografin bei ihrer Rückkehr, dass die Gesellschaft vermehrt durch Eingewanderte geprägt war.20 Motiviert durch diese Beobachtung, widmete sich Höfer in den Jahren 1972 bis 1978 den Innenräumen der
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Abb. 5: Stefan Moses, Facharbeiterinnen für Textiltechnik, Leipzig, 1989/90
Einwanderer, suchte Geschäfte und Wohnungen auf, die die Handschrift ihrer Bewohner trugen. In einer Doppelprojektion synthetisierte sie später die „Türken in Deutschland“ mit den „Türken in der Türkei“ und bemerkte Ähnlichkeiten in der Inneneinrichtung.21 Höfer thematisiert den Begriff der „Heimat“, indem sie diesen mit dem „Heim“ überblendete. Ganz ähnlich hat der Medienphilosoph und Emigrant
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Vilém Flusser die Wohnung als eigentliche Heimat des Vertriebenen bezeichnet: „Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen. […] Ich baute mir […] ein Haus, um dort zu wohnen. Im Kern dieses Hauses steht mein gewohnter Schreibtisch mit der gewohnten, scheinbaren Unordnung meiner Bücher und Papiere. […] Ich bin in Gewohntes eingebettet, um Ungewöhnliches hereinzuholen und um Ungewöhnliches machen zu können. […] Wohnen ist die Weise, in der ich mich überhaupt erst in der Welt befinde; es ist das Primäre.“22 In der soziologischen Stadtforschung wie auch in der Urbanistik ist wiederholt auf die Bedeutung von „Orten“, den öffentlichen und privaten Räumen, für die Auseinandersetzung mit Migration verwiesen worden. So thematisierte Pierre Bourdieu in seinen Forschungen gesellschaftliche Differenzierungsprinzipien durch Raumaneignungen23 und beobachtete Tendenzen der räumlichen Segregation – „die im sozialen Raum nahen Personen also willentlich oder gezwungenermaßen sich tendenziell auch geographisch nahe stehen“24. So sind manche städtische Viertel weitaus stärker durch Migration geprägt als andere – in neueren Publikationen ist hier von Ankunftsorten die Rede, die Einwanderern einen bezahlbaren Wohnraum und ein „Netzwerk der eigenen Ethnizität“25 bieten. Die Sichtbarkeit von Migration erfährt in künstlerischen Projekten wie Ayşe Erkmens bekannter Installation „Am Haus“ von 1994 an einem Mehrfamilienhaus in Berlin-Kreuzberg (Oranienstraße 18) eine doppelte Unterstreichung, in der sie die nationale Herkunft der Bewohner im türkisch geprägten Kreuzberg durch türkische Wortendungen auf der Außenhaut ihrer Behausungen sichtbar werden ließ.26 Andere Arbeiten wie Nevin Aladağs „Freeze“ (2003, Abb. 6) arbeiten mit der körperlichen Aneignung öffentlicher Stadträume: Die Breakdancer beenden ihre Bewegungen in erstarrten Posen, den sogenannten „Freezes“. Der Tanz wird fotografisch in einer eingefrorenen Bewegung skulptural gefasst, während Fahrzeuge und Passanten ephemer und unscharf erscheinen. Gegen diese Unschärfen setzt sich die scharf umrissene Körperlichkeit des Tänzers als widerständiger, kraftvoller Akt ab. Aladağ bringt den körperlich formulierten Raum mit dem Stadtraum zusammen. Wiederholt setzte sich die Künstlerin in den 1990erund 2000er-Jahren mit Hip Hop und Breakdance als Formen der interkulturellen, nonverbalen Kommunikation auseinander.27 Ihre künstlerischen „Forschungen“, die in Videoarbeiten, Fotografien und Installationen Ausdruck finden, brachten tänze-
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Abb. 6: Nevin Aladağ, Freeze, 2003, C-Print, 60 x 80 cm
risch artikulierte Codes einer migrantisch geprägten deutschen Jugendkultur zum Vorschein – aus der Terminologie der soziologischen Jugendforschung der frühen 2000er lässt sich für das Beobachtete von „adoleszenz- und migrationsspezifischen“28 Verhaltensweisen sprechen. In Aladağs Arbeit geht es um die körperliche Expression im Zeichen kultureller Codes, um soziale Verhandlungs- und Repräsentationsräume29 und das Ausbrechen aus Begrenzungen. Ihr Werk, die Themen und ihr Vorgehen führen zu der Frage, ob Migration auch ein Movens für andere künstlerische Methoden sein kann, die soziologische wie kulturanthropologische Forschungen tangieren.30 Auch in Mischa Kuballs Projekt „New Pott“, seit 2009 realisiert und in diesem Sammelband vorgestellt, sind soziologische Fragen erkennbar – Fragen nach Formen des Lebens und Wohnens im Zeichen der Migration. So schreibt Kuball im Vorwort zu seinem Buch „New Pott“: „Wenn ich an das Ruhrgebiet denke, sehe ich deutlich vor Augen, wie sich meine Bilder davon gewandelt haben: Aus den rauchenden Schornsteinen und dem nächtlichen Feuer beim Abstich ist längst eine neue Zeit angebrochen, eine Zeit, die auch eine neue Heimat herausbildet für Menschen aus über 180 Nationen – das ist eine Tatsache; aber wie fühlt sich das an? Wie leben denn diese vielen Menschen und Familien in der neuen Fremde, die ihr Zuhause geworden ist, und: Wie haben sich diese Lebensräume verändert? Dies wollte ich untersuchen – im Rahmen einer sehr persönlichen Forschungsreise in den Pott.“31 Kuball fokussierte in „New Pott“ (Abbildungen siehe Interview mit Mischa Kuball in diesem Buch), ähnlich wie einst Candida Höfer, das Innenleben migrantischen Wohnens und traf Einwanderer aus 100 Nationen im Ruhrgebiet. Beide Arbeiten sind von einem deutlich konzeptuellen Ansatz geprägt. Höfers und Kuballs Serien zeigen auf unterschiedliche Weise, wie Migranten in Deutschland leben, welches Bild sie von sich, ihrem Heim und ihrer Heimat haben und wie die Fotografen sie sahen. In diesen Arbeiten, die sich auf den engsten Kosmos von Einwanderern – auf ihr Heim – konzentrieren, verdichten sich Vorstellungen des Eigenen und des Fremden ebenso wie sich Erinnerung an die Herkunftskultur mit der Gegenwart der neuen Heimat und den Wünschen und Hoffnungen für die Zukunft begegnen. Routen und Reisen In seinem Buch „Routes“ reflektiert James Clifford über den Zusammenhang zwischen Moderne und Mobilität, indem er das Kräfteverhältnis zwischen lokaler, also
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örtlich gebundener Kultur und diese durchquerenden mobilen Menschen, Gedanken und Objekten beschreibt: „In the twentieth century, cultures and identitites reckon with both local and transnational powers to an unprecedented degree.“32 Die Dynamiken migrantischen Lebens manifestieren sich im Bild der beladenen Fahrzeuge, die Migrantinnen aus ihrer neuen Heimat in die alte und wieder zurück bringen. Der Kölner Schriftsteller Selim Özdogan beschreibt in seinem Roman „Heimstraße 52“, wie seine Protagonisten, der türkische Gastarbeiter Fuat und seine Frau Gül, in den 1970er-Jahren ihre erste Sommerreise mit dem Auto in die Türkei unternehmen. Fuat ist entsetzt, als er den von Gül beladenen Wagen sieht: „,Kaum fassbar, was hast du alles eingekauft, wir fahren doch nicht in ein Notstandsgebiet. Als würde es nicht reichen, dass du so dick bist, jetzt soll ich den Wagen auch noch mit allem beladen, was die deutsche Warenwelt so hergibt.‘ ,Jedes Jahr dasselbe‘, sagt er [Fuat], ,was ist da drin?‘ […] ,Geschenke‘, sagt Gül. ,Für deine Eltern, für meine Eltern, für unsere Nichten und Neffen, für deine Brüder, für meine Schwestern, für alle.‘“33 Dieser Dialog trägt in sich das Bild, das bereits Anny und Sibel Öztürk in ihrer Installation aufriefen: Das Zirkulieren von Migranten zwischen Heimat und Heimat geht einher mit einem Transport von Objekten, in denen sich Hoffnungen und Wünsche, Erinnerungen und Wohlstand materialisieren. Diese Objekte sind exponiert, indem sie nicht mehr nur in den Kofferräumen situiert sind, sondern sich auf den Transportmitteln türmen, sie scheinbar überwuchern, wie in Thomas Mailaenders „Cathedral Cars“34. Die Aufnahmen des französischen Medienkünstlers Mailaender zeigen die skulpturale Schönheit voll beladener Autos. Marseiller Hafenarbeiter bezeichnen als „Cathedral Cars“ jene Fahrzeuge von Migranten, die entweder in ihre nordafrikanischen Heimatländer zurückwandern oder diese besuchen, um ihre Freunde und Verwandten mit westlichen Konsumgütern zu versorgen. Das Schiff bringt ihre beladenen Wagen, auf die sich die Last türmt, von Frankreich über das Mittelmeer nach Afrika. Nur notdürftig sind Teppiche, Koffer, Spülbecken oder Fernseher (Abb. 7) auf dem Dach festgezurrt, dabei ist häufig die karierte, günstige, strapazierfähige Tasche aus gewebtem Kunststoff sichtbar, die hier stereotyp als Attribut reisender Migranten eingesetzt ist. Mailaender bearbeitet seine Aufnahmen und dekontextualisiert sie, indem er die Autos – ohne Insassen – vor neutralen grauen Hintergrund setzt. In der Serialität und Vergleichbarkeit muten die Arbeiten an wie die „Anonymen Skulpturen“ der Düsseldorfer Fotografen Bernd und Hilla Becher, in denen diese Industriebauten in Serie fotografierten und als Tableaux ausstellen.35 Mit seiner Ästhetisierung
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eines sozialen wie politisch auch in Frankreich stark diskutierten Themas wirft Mailaender ein anderes Licht auf die Koinzidenz von Massenwanderungen und touristischem Pendeln, das für Migranten selbstverständlich ist – zumal viele Arbeitsmigranten von ihrem im Migrationsland erworbenen Geld ein Eigenheim in ihrer alten Heimat bauen, indem sie aber nur den Sommer verbringen.36 Zugleich, und hier in Referenz auf Clifford, scheinen die französischen Wagen – Mailaenders „Cathedral Cars“ zeigen ausschließlich PKWs der Marken Peugeot und Renault – sowie die transportierten französischen Alltagsobjekte auch als Materialisierungen von Migration schlechthin lesbar: die Dinge im Bild sind Ergebnis einer Transformation von migrantischer Arbeit in Güter. Diese Bedeutungszuschreibung wird noch dadurch gestützt, dass in Mailaenders Fotografien der Migrant selbst gar nicht mehr sichtbar ist. Das französische Geld, der am Ort erworbene Status werden in den Herkunftsort bewegt, verändern in diesem Prozess Bedeutung, werden dekontextualisiert und mit einer anderen Aura versehen. Arbeitsmigration bedeutet Rückfluss von Kapital in Form von Bargeld und Gütern von den Zielländern der Migranten in ihre alten Heimatländer.37 Mailaenders Fotoserie lässt sich aus verschiedenen Perspektiven lesen: Zum einen ließe sich die Arbeit als Grenzüberschreitung zwischen Fotografie und Skulptur deuten, zum anderen artikulieren sich in den Bildern Themen wie Aus- und Einwanderung sowie die wirtschaftlichen Effekte von Migration. (Medien-)Reaktionen auf Migration In einer Diskussion mit befreundeten Künstlern und Philosophen stellte die Wiener Künstlerin Lisl Ponger eine Frage, die auch für diesen Beitrag interessant ist: „Wie ist es für eine Künstlerin möglich, im Kontext von Migration zu arbeiten?“38 Implizit ist Pongers Frage dabei, wie politisch eine Kunst ist, sein kann oder sein muss, die Migration verhandelt. Projekte wie Lisl Pongers „Fremdes Wien“39 (1991) und auch die Wiederauflage als „Phantom Fremdes Wien“ (2004) reagierten auf eine medial befeuerte Angst vor dem Fremden und den Aufstieg der populistischen Partei FPÖ unter Jörg Haider. Pongers Reise durch ihre Heimatstadt folgte der kulturellen Präsenz von Menschen nichtösterreichischer Herkunft mittels Fotografien und Tagebucheinträgen. Pongers Arbeit artikuliert die selbstverständliche, alltägliche Präsenz vieler Nationalitäten als Gegenentwurf zum xenophoben Szenario einer „Beherrschung durch Ausländer“, das die FPÖ über Jahre entwarf. Ausstellungen wie „Xenopolis“ (München 2005), „Projekt Migration“ (Köln 2006) oder „Crossing Munich“ (München
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Abb. 7: Thomas Mailaender, Cathedral Cars, 2012
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Abb. 8: Christoph Faulhaber, Eine Tonne gemischter, unsortierter Metallschrott aus der Brandruine am Danziger Platz, Ludwigshafen, 2010
Abb. 9: Metallcontainer mit Bauschutt vor dem Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen, 2010, Foto: Marlis Jonas
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2009) präsentierten künstlerische Positionen, die Reaktionen auf Migration verhandeln, die Phobien, Rassismen, Diskriminierungen und Unterdrückung, Zuschreibungen und Vorurteile thematisieren.40 In diesen Kontext soll abschließend eine nicht realisierte Arbeit von Christoph Faulhaber unter dem Gesichtspunkt der Medialisierung von Migration vorgestellt werden. Beim Brand eines Mehrfamilienhauses in Ludwigshafen im Februar 2008 starben neun Menschen, die Opfer waren ausschließlich türkischstämmig. Dem Brand folgte ein zweites (Medien)Feuer41, das sowohl in der Türkei als auch in Deutschland von voreiligen Schlüssen, Vorwürfen und schrillen Anfeindungen in beide Richtungen gekennzeichnet war. Die Ursache für das Feuer ist bis heute ungeklärt, Hinweise auf Brandstiftung wurden trotz divergierender Zeugenaussagen nicht gefunden und ein rechtsradikaler Hintergrund nicht bestätigt. Doch trat die Katastrophe eine hysterische Debatte über Xenophobie und Ausländerfeindlichkeit los. Mit dem Abriss des Unglückshauses (Abb. 8) wurden, um im Bild zu bleiben, auch die Diskussionen abgebrochen und vergraben. Der Künstler Christoph Faulhaber, der 2009 vom Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum für eine Ausstellung eingeladen worden war, reizte dieser Fall. In seiner Auseinandersetzung mit dem Ludwigshafener Brand betätigte sich Faulhaber als unbequemer Spurenforscher oder Archäologe, wie bei einem Palimpsest42 trug er die unsichtbar gewordenen Erinnerungsschichten unserer Gesellschaft wieder ab, bohrte nach dem Verschütteten und Verdrängten. Von der Abrissfirma erwarb Faulhaber eine Tonne Metallschrott aus den Brandruinen (Abb. 9) und plante, diese mit Kopien der „Bild“-Zeitung und der ebenso populistischen türkischen Tageszeitung „Hürriyet“ auszustellen und damit auf die massive Berichterstattung zu verweisen. Nach der Ausstellung in der Rudolf-Scharpf-Galerie, dem Projektraum für aktuelle Kunst des Ludwigshafener Wilhem-Hack-Museums, sollte der Schrott in die Metallverwertung weiterverkauft werden. Mit der Übertragung des Abfalls in den Kunstraum hätte eine Auratisierung des Profanen stattgefunden, wobei bereits durch den Brand aus dem Haus ein Zeichen für eine vermeintliche Fremdenfeindlichkeit geworden war. In seinem Konzept zur Ludwigshafener Ausstellung schreibt Christoph Faulhaber: „Das Objekt hat eine reale und mediale Sinnzuschreibung durchlaufen und steht damit an der Schwelle, ein Zeichen, Symbol oder Ikon zu werden oder für diese gehalten oder gelesen zu werden.“43 Fotografien wie die eines Säuglings, der im Angesicht der Flammen aus dem dritten Stock des Hauses geworfen wurde und überlebte,44 wurden zum Symbol für
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Verfolgung, Hass, Verzweiflung. Der Abriss des Hauses löschte zwar den Gegenstand aus der Öffentlichkeit, kann jedoch nie auch die Bilder des Tatorts und die darauf erfolgten Diskurse eliminieren. Auch Faulhabers Arbeit hätte erneut auf die Diskrepanz zwischen Objekt und Bedeutung hingewiesen. Doch die Stadt Ludwigshafen wollte keine Arbeit, die vergessen Geglaubtes wieder in den Blickpunkt gerückt hätte. Stadt und Museum sprachen sich gegen eine Präsentation aus – offiziell aus Pietät vor den Opfern.45 Der Künstler durfte den Metallschutt in seiner Ausstellung „Das Leben der Bilder“ (2010) nicht zeigen. Christoph Faulhaber ließ den Raum leer, um auf das Ereignis und den öffentlichen Umgang mit ihm, die Verdrängung, zu verweisen. 1 | Penelope Curtis: Foreword, in: Migration. Journeys into British Art, Ausst.-Kat. Tate Britain, London 2012, S. 8–9, hier S. 8. 2 | In Auseinandersetzung mit Homi Bhabhas Konzept der Hybridisierung von Kultur und Deleuzes/Guattaris Theorie des Rhizoms entwickelte der Philosoph Byung-Chul Han den Begriff der „hyperkulturellen Identität“. Vgl. Byung-Chul Han: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005, S. 54 f. 3 | Zu den verschiedenen historischen und aktuellen Migrationsphänomenen vgl. jüngst Sylvia Hahn: Historische Migrationsforschung, Frankfurt am Main 2012. 4 | Vgl. Symmes Gardner: Director’s Note, in: Where Do We Migrate to?, Ausst.-Kat. Center for Art Design and Visual Culture, University of Maryland Baltimore County, Baltimore, New York 2011, S. 7–8, hier S. 7. 5 | Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, S. 306. 6 | Vilém Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, in: ders.: Von der Freiheit des Migranten, Berlin 2007, S. 15–30, hier S. 15. 7 | Vgl. Patrice Djoufack: Entortung, hybride Sprache und Identitätsbildung: Zur Erfindung von Sprache und Identität bei Franz Kafka, Elias Canetti und Paul Celan, Göttingen 2010, S. 88 f. Begriff des „displacement“ als „De-plazieren“ auch bei Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2011, S. 2. 8 | Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 4. Aufl. München 2009, S. 29. 9 | Bayer spricht von exponierten „Migrationsobjekten“ und postuliert, dass Migrationsausstellungen häufig „mit einer Fülle an Objekten und ‚lebendigen‘, szenografischen Raumarchitekturen“ arbeiteten, die jedoch „typische[n] Darstellungsweisen mit einer entsprechenden Bebilderung“ blieben: „[…] der Koffer, der zu einem Zeichen des Schwebezustandes und Nichtankommens wird; Menschenmassen am Bahnhof oder im Zug, denen das Motiv des Unbestimmten und ewigen Unterwegsseins unterstellt wird“. Natalie Bayer: Unter den Vitrinen, in: Hinterland, Thema: Unterhaltung, 2012, H. 21, S. 47–52. Online: http://www.hinterlandmagazin.de/pdf/21-47.pdf [Abruf 16.12.2012]. 10 | Amitava Kumar: Who is a Migrant?, in: Ausst.-Kat. Baltimore 2011 (wie Anm. 4), S. 19–24, hier S. 19. 11 | In seinem Essay „Heimat als Utopie“ verweist Bernhard Schlink auf die Verkettung von der Auflösung der DDR als Staatsform und dem Verlust von Heimat für ihre Bürger. In diesem Kontext fällt auch der Begriff des Exils: „Immer wieder treffe ich Deutsche aus den neuen Ländern, die mir sagen, sie fühlten sich im Exil, obwohl sie leben, wo sie immer schon lebten, wohnen, wo sie immer schon wohnten …“ Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, Frankfurt am Main 2000, S. 7. 12 | Peggy Meinfelder, zit. nach Reinhild Schneider: Zu dieser Ausstellung, in: Peggy Meinfelder. Meine ersten 100 Westmark. Ein Sammlungsprojekt, Ausst.-Kat. Städtische Galerie Sonneberg, Sonneberg 2006, S. 9–12, hier S. 11. 13 | In den Interviews, die der Künstler Mischa Kuball für sein Projekt „New Pott“ mit Migranten im Ruhrgebiet führte, spielten die Erinnerung der Personen an ihre Einreise und Episoden des Alltags eine ganz
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wesentliche Rolle. Kuball erkannte sowohl kollektive als auch individuelle Erinnerungsinseln: „Die persönlichen Erinnerungen und Geschichten überschneiden und unterscheiden sich gleichzeitig.“ Mischa Kuball: New Pott. Neue Heimat im Revier, in: ders. und Harald Welzer: New Pott, Zürich 2011, S. 10–21, hier S. 20. 14 | Dieter Läpple verweist in seinem Essay „Gesellschaftszentriertes Raumkonzept“ auf die Differenzen zwischen dem konkreten Ort der Raumerfahrung und dem abstrakten Raumbegriff, der sehr wohl anthropozentrisch gefasst ist: „‚Raum‘ ist also nicht etwas unmittelbar Gegebenes und Wahrnehmbares, sondern ergibt sich erst als Resultat menschlicher Syntheseleistungen, als eine Art Synopsis der einzelnen ‚Orte‘, durch die das örtlich Getrennte in einen simultanen Zusammenhang, in ein räumliches Bezugssystem gebracht wird.“ Dieter Läpple: Gesellschaftszentriertes Raumkonzept. Zur Überwindung von physikalisch-mathematischen Raumauffassungen in der Gesellschaftsanalyse, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 35–47, hier S. 37. 15 | Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume, in: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 11–40. 16 | Vgl. u.a. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, in: ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 2008, S. 26–43. 17 | Hans Georg Puttnies: Das magische Tuch, in: Stefan Moses. Deutsche. Porträts der sechziger Jahre, München 1980, S. 5–17, hier S. 12. 18 | Stefan Moses: Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989–1990, Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum, Berlin, Ostfildern 1991. 19 | Erst 1984 innerhalb der Aktion „24 Stunden Ruhrgebiet“ wurde Migration zum Thema von Moses: Für das Projekt stellte Moses neben deutschen auch türkischstämmige Bewohner des Ruhrgebiets vor das mitgebrachte Tuch. Vgl. 24 Stunden Ruhrgebiet, hg. v. Kommunalverband Ruhrgebiet, Essen, Berlin u.a. 1985. 20 | Vgl. Anne Ganteführer-Trier. Zum photographischen Œuvre von Candida Höfer, in: Candida Höfer. Orte, Jahre. Photographien 1968–1999, Ausst.-Kat. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, München 1999, S. 9–15, hier S. 10. 21 | Im Jahr 1979 präsentierte Höfer diese Doppelprojektion, eine Zusammenstellung von 80 farbigen Kleinbilddiapositiven, in der von Klaus Honnef kuratierten Ausstellung „In Deutschland“ im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Im Katalog sind Schwarz-Weiß-Abzüge der Serie „Türken in Deutschland“ reproduziert. Vgl. In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarphotographie, Ausst.-Kat. Rheinisches Landesmuseum Bonn, Köln 1979, S. 208–221. 22 | Flusser 2007 (wie Anm. 6), S. 27. 23 | „In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und nicht die Hierarchien und sozialen Distanzen zum Ausdruck bringt, (mehr oder minder) entstellt und verschleiert durch den Naturalisierungseffekt, den die dauerhafte Einschreibung der sozialen Realitäten in die physische Welt hervorruft [...].“ Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 25–34, hier S. 26. 24 | Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht, in: ders.: Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992, S. 135–154, hier S. 139. 25 | Jens S. Dangschat: Ohne Migration keine Stadt!? Die Segregation oder die Integration der Stadtgesellschaft, in: Metropole: Kosmopolis, hg. v. IBA Hamburg, Berlin 2011, S. 60–67, hier S. 62. Vgl. auch Doug Saunders: Arrival City. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte, von ihnen hängt unsere Zukunft ab, München 2011. 26 | Zu Erkmens Arbeit „Am Haus“ vgl. Britta Schmitz und Bettina Schaschke (Hg.): Ayşe Erkmen. Weggefährten, Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin, Köln 2008, S. 44–46 und S. 191–196. 27 | Vgl. Dirk Snauwaert: Die Verräumlichung kultureller Identitäten, in: Nevin Aladağ Heft No. 01, Ausst.Kat. Rathausgalerie München, München 2002, o. S. 28 | Ralf Bohnsack und Arnd-Michael Nohl: Allochthone Jugendcliquen. Die adoleszenz- und migrationsspezifische Suche nach habitueller Übereinstimmung, in: Wolf-Dietrich Bukow u.a. (Hg.): Auf dem Weg zur Stadtgesellschaft. Die multikulturelle Stadt zwischen globaler Neuorientierung und Restauration, Opladen 2001, S. 73–93. 29 | Vgl. Anke Hoffmann: I dance at parties, but only with my eyes closed. Fragen nach Subjekt und Gemein-
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schaft in den Arbeiten von Nevin Aladağ, in: Nevin Aladağ, Ausst.-Kat. Tanas Berlin, München 2011, S. 106–110, hier S. 108. 30 | Siehe das Forschungsprojekt „Fremdes Erbe – Orte der Zugehörigkeit und Orte der Erinnerung von Migrantinnen und Migranten in Berlin“, das auf Interviews mit Kreuzberger Migranten zu ihren Erinnerungsorten im Viertel basierte. Vgl. Gülsah Stapel: Die Kraft des Ortes bei der Erforschung von Erinnerungskulturen. Geschichts- und Erbekonstruktionen von Migrantengruppen, in: Elisabeth Boesen und Fabienne Lentz (Hg.): Migration und Erinnerung. Konzepte und Methoden der Forschung, Berlin 2010, S. 283–306. 31 | Kuball 2011 (wie Anm. 13), S. 10. 32 | James Clifford: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Harvard 1997, S. 7. 33 | Selim Özdogan: Heimstraße 52, Berlin 2011, S. 122 f. 34 | Thomas Mailaender: Cathedral Cars, Paris 2012. 35 | Vgl. u.a. Anonyme Skulpturen. Formvergleiche industrieller Bauten. Fotos von Bernhard und Hilla Becher, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1969. 36 | Vgl. Mark Terkessidis: Para Polis – oder die interkulturelle Stadt, in: Metropolis: Kosmopolis 2011 (wie Anm. 25), S. 80–87, hier S. 82. 37 | Vgl. dazu Ulf Brunnbauer, Karolina Novinšćak und Christian Voß: Vorwort, in: dies. (Hg.): Gesellschaften in Bewegung. Emigrationen aus und Immigration nach Südosteuropa, München/Berlin 2011 (Südosteuropa-Jahrbuch, Bd. 38), S. 7–10, hier besonders S. 7 f. 38 | Lisl Ponger im Gespräch mit Ljubomir Bratic, Anna Kowalska und Tim Sharp, in: Phantom Fremdes Wien, Klagenfurt 2004, S. 7–30, hier S. 27. 39 | Der Film „Phantom Fremdes Wien“ datiert in 1991, die Publikation „Fremdes Wien“ erschien in Klagenfurt 1993. 40 | Erfahrungen von Differenz sind der Migration eingeschrieben, finden sich in den Erzählungen der Migranten wie auch in denen von Einheimischen. Über den Ruhrpott als multiethnischem Melting Pot schreibt Harald Welzer: „Auch der New Pott ist keine Weltgegend, die Fremde freudig willkommen heißt und sich immer schon freut, wenn Neue dazukommen: Zwar sind offener Rassismus und Hass nur Randerscheinungen, aber trotzdem sprechen die Newpottler immer auch über ihr Anderssein, gespiegelt in der Differenz, die ihnen die Blicke der Alteingesessenen, der Pottdeutschen zeigen.“ Harald Welzer: Newpottler aus glücklichem Zufall, in: Kuball/Welzer 2011 (wie Anm. 13), S. 23–27, hier S. 24. 41 | Vgl. u.a. Artikel in: SpiegelOnline, 4.2.2008; Der Spiegel, 6.4.2008. Im Jahr 2011 wurde nach Aufdeckung der Morde der rechtsextremen Terrorgruppe NSU auch der Brand in Ludwigshafen mit den Mördern in Verbindung gebracht. Vgl. Frankfurter Rundschau online, 17.12.2011. [Für alle aufgeführten Online-Ausgaben: Abruf 16.12.2012] 42 | Zum Palimpsest, einer mittelalterlichen Pergament-Handschrift mit abgekratztem, ausgelöschtem Text vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 4. Aufl. München 2009, S. 151–157. 43 | Christoph Faulhaber. Unbild Projektkunst, Ausst.-Kat. Rudolf-Scharpf-Galerie, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen, Bielefeld 2010, S. 19. 44 | Fotografie reproduziert auf: http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/ludwigshafen-brand-inmehrfamilienhaus-1.567737 [Abruf 16.12.2012]. 45 | Christoph Faulhaber im Gespräch mit Oliver Zybock, in: Kunstforum International, Bd. 205, 2010, S. 162.
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TRANSKULTURELLE RÄUME
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MIGRATION ALS URBANE RESSOURCE. VOM ÖFFENTLICHEN DISKURS ZUR ALLTAGSPRAXIS
Ein Blick in die Zeitdiagnosen der Stadt lässt erkennen, dass es diverse Standpunkte gibt. Je nach Blickwinkel leben wir in einer globalen Stadt, Medienstadt, multikulturellen Stadt oder weltoffenen Stadt. Und je nach Beobachterfokus werden bestimmte Aspekte als relevant für das urbane Leben betrachtet und andere treten als belanglos in den Hintergrund. Auch wenn sich die Stadtsoziologie von der Monoperspektive verabschiedet hat, wird die Stadtforschung jedoch seit nunmehr Jahrzehnten von einer pessimistischen Perspektive dominiert.1 Es ist Mode geworden, von der Krise der Stadt zu reden und die Polarisierung, Dualisierung oder Fragmentierung der Städte zu konstatieren. Dieses pauschale Bild einer zerfallenden europäischen Stadt scheint ein Mythos und das Ergebnis „ideologiegeleiteter Recherche“ zu sein, wie Thomas Krämer-Badoni zu Recht feststellte.2 Ein weiterer Aspekt ist, dass dieses Katastrophenszenario oft im Kontext von Migration diskutiert wird. Wenn die Einwanderungssituation in den Städten beschrieben wird, taucht die Ghettometaphorik immer wieder auf. „Ghetto im Kopf “, so wurde ein Bericht im August 2003 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ betitelt, in dem die Integrationsthematik im Mittelpunkt stand.3 In diesem vorliegenden Text werde ich solche urbane Mythen radikal infrage stellen. Im Gegensatz zu einem nationalen Ordnungsdenken, das auf Eindeutigkeit und Homogenität beharrt, wird hier eine andere Perspektive eingenommen. „Stadt ist Migration“ ist die Grundidee, die in diesem Beitrag entfaltet wird. Migration und Stadt: das Perspektivische Auf welche Weise der Zusammenhang zwischen Stadt und Migration diskutiert und beschrieben wird, hängt von der Art und Weise ab, wie das Phänomen beobachtet
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und von welchen Prämissen ausgegangen wird. Oft sind die weiteren Erzählungen davon abhängig, wie und welche Fragen gestellt werden. Die Art der Fragestellung spielt also für unsere Beobachtungen und Analysen stets eine wesentliche Rolle. Mit ihr legen wir fest, was wir sehen – und was wir übersehen. Würde man beispielsweise die als bedrohlich erscheinenden Favelas, die sich besonders in Randlagen der Großstädte Brasiliens gebildet haben oder die Banlieues in Frankreich, die immer wieder durch jugendliche Rebellion mediale Aufmerksamkeit erlangen, aus einem anderen Blickwinkel betrachten, käme vielleicht auch ihr Beitrag zur Metropolisierung und Urbanisierung ins Bild. Zum Beispiel durch den großen Sektor informeller Ökonomie, durch den sie mit der Stadt verbunden sind, und durch kreative Überlebensstrategien ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, die eben nicht auf den ersten Blick wahrgenommen werden. Denn Sehen und Wahrnehmen ist keine passive, sondern eine aktive Handlung. Man kann Migration aus der Perspektive der Sesshaftigkeit als eine problematische Randerscheinung kommunizieren oder im Gegensatz dazu als einen integralen Bestandteil urbaner Entwicklungen, womit Stadtgeschichten als Migrationsgeschichten in den Mittelpunkt rücken. Der öffentliche Migrationsdiskurs in der Gegenwart zeigt, dass hier noch immer ein national zentrierter Blick als Wegweiser der Wahrnehmung fungiert. Wenn Migration explizit oder implizit entlang ethnisch-nationaler Herkunft diskutiert wird, verweist dies einerseits auf die Definitionsmacht dieser Perspektive und andererseits auf deren Veralltäglichung und Normalisierung im urbanen Alltag. Zwar wird Mobilität allseits als Erfordernis unserer globalisierten Welt beschworen, transnationaler Migration beziehungsweise Zuwanderung aber weiterhin mit Argwohn und Ablehnung begegnet. Nahezu unreflektiert erstreckt sich dieser Blick auch auf Stadtviertel oder Straßenzüge, die sichtbar von Migration geprägt sind, wo inzwischen die Nachkommen von Zuwanderern bereits in der dritten Generation leben und arbeiten. Schnell werden solche Quartiere als Problemviertel abgetan, geraten langfristig in Verruf. Das führt schließlich dazu, dass die Bedeutung von Migration für Städte und Urbanisierung aus dem Blick gerät und die Potenziale, die solche Stadtviertel für urbanes Leben bieten, übersehen werden. Öffentlicher Diskurs: das Dramatische Wer heute die Zeitung aufschlägt, braucht nicht lange zu suchen, bis er den ersten
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Bericht über Integrationsprobleme mit Migranten findet. Migrationsgeprägte Viertel – manchmal sind es nur einzelne Straßenzüge – geraten pauschal ins Gerede. Sie werden vielfach als „Parallelgesellschaften“ abgewertet und zum Symbol einer verfehlten Migration und Integration stilisiert. So gelten vor allem muslimische (Post-)Migranten im öffentlichen Diskurs per se als Abweichler von der „einheimischen“ Norm. Durch Repräsentationen solcher Art wird die gesellschaftliche Wirklichkeit ideologisiert. Gerade in der kommunalen Integrationspolitik scheint die Furcht vor einer „Ghettoisierung“ weit verbreitet, wie das folgende Zitat einer Studie, die im Auftrag des GdW Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen 1998 erstellt wurde, zeigt: „Es lässt sich nicht genau bestimmen, wann in einer Siedlung eine Überforderung der Bewohner durch zu große Vielfalt der Lebensstile, der Alltagsgewohnheiten und der Sprachen eintritt. Eine kritische Schwelle ist in jedem Fall dann überschritten, wenn die einheimischen Deutschen im Erscheinungsbild der Siedlung, in den Schulen, auf den Spielplätzen und vor den Einkaufszentren zur Minderheit werden (‚Fremde im eigenen Land‘).“4 Stigmatisierende und ethnisierende Metaphern kursieren bis heute im öffentlichen Migrationsdiskurs. „Für immer fremd“, so lautete der Titel eines Presseberichts, in dem beklagt wird, dass Migranten unter sich bleiben, sich in ihre ethnische Nische zurückziehen und ihre Herkunftskultur reproduzieren würden, was dann als Integrationshemmnis interpretiert wird.5 Eine solche Haltung hat bisher den Blick auf die gesellschaftsverändernde Kraft von Migrationsbewegungen und deren innovatives Potenzial versperrt. Sie stellt praktisch ein epistemologisches Hindernis dar. Strukturelle Barrieren und Diskriminierungserfahrungen, mit denen (post-)migrantische Gruppen konfrontiert sind und die nicht ohne Einfluss auf ihren gesellschaftlichen Status und biografische Entwürfe geblieben sind, werden damit in den Hintergrund gerückt. Mein Plädoyer besteht darin, einen etwas gelasseneren Blick auf das urbane Leben und die soziale Praxis von (Post-)Migranten zu werfen, der eine schlicht unverkrampfte, entdramatisierende Sicht der Dinge ermöglicht. Es wird sich dann zeigen, dass die städtische Alltagspraxis von (Post-)Migranten einer unspektakulären Pragmatik folgt – anders als es die simplen Zuschreibungen von Kultur und Tradition oder der permanente Bekenntniszwang, der auf diese Bevölkerungsteile ausgeübt wird, suggerieren.6
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Es fällt jedenfalls auf, dass der konstitutive Beitrag von Migrationsbewegungen im öffentlichen Gedächtnis kaum existiert. Führt man sich die publizistischen und politischen Debatten vor Augen, wird Migration entweder ignoriert oder skandalisiert. In einem Bericht des „Spiegel“ mit dem Titel „Politik der Vermeidung“, in dem auf Thilo Sarrazins rassistische Berliner Rede Bezug genommen wird, kommt dieselbe Geisteshaltung zum Ausdruck: „Erstarrt in den Traditionen ihrer anatolischen Herkunft bestehen archaisch organisierte Familienverbände auf der Einhaltung von Sitten und Gebräuchen, die nicht nur in der ehrgeizig aufstrebenden Weltstadt Berlin anachronistisch sind.“7 Migrationsgeprägte Stadtviertel erfahren regelmäßig eine territoriale Stigmatisierung. Das Leben in diesen Quartieren gilt als Entgleisung, wird durch negative Abweichung von der Mehrheitsgesellschaft bzw. von der Mittelschicht charakterisiert. Die Begriffe „Mehrheitsgesellschaft“ oder „Mittelschicht“ bezeichnen dabei eine nicht weiter definierte, implizite Norm. Aus dieser Sicht erscheinen migrationsgeprägte Stadtviertel „als Horte versammelter Regellosigkeit, Abweichung und Anomie“, wie Loïc Wacquant in Bezug auf die öffentliche Repräsentation amerikanischer Ghettos festgestellt hat.8 Dieses auf einer fixen Vorstellung von bedrohlicher „Andersartigkeit“ basierende Ghetto-Konzept reduziert die (migrationsbedingten) Differenzen und „bewegte Zugehörigkeiten“9 auf ein simples Modell der Abschottung und ignoriert weltweite Wandlungsprozesse und die damit einhergehenden transnationalen Räume und Lebensentwürfe. Mit einer solchen Raumideologie können alltägliche Praktiken und Lebensentwürfe, die im weltweiten Kommunikationszusammenhang stehen, kaum analysiert werden, weil das Kulturelle und Soziale als räumlich fixiert gedacht werden. Bei der Fahndung nach Desorientierungs- und Desintegrationselementen in urbanen Räumen wird man natürlich immer fündig, weil Urbanität bzw. städtische Lebenswirklichkeiten per se in einer komplexen, vielschichtigen und widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Differenzierung und Entdifferenzierung, von Inklusion und Exklusion bestehen. Eine Perspektive, die nur nach Orientierungslosigkeit oder desintegrativen Momenten sucht, läuft allerdings Gefahr, die produktiven Dimensionen des urbanen Lebens auszuklammern beziehungsweise in einer nostalgischen Vergangenheitsbeschwörung zu verharren.10
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Tatsächlich aber zeugt das Schreckbild zerfallender Städte und kulturell desorientierter und gewaltbereiter jugendlicher Migranten von einem Hang zu einseitiger Betrachtung und pessimistischer Deutung. Solche „Dystopien“ unterschätzen die faktische Komplexität und Diversität in den Städten von heute und die vielfältigen Lebenswirklichkeiten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, kurz gesagt: die faktische Vitalität des urbanen Lebens. Solange der Blick nur auf Krisen und Defizite gerichtet ist, geraten die komplexen Alltagswirklichkeiten aus dem Blick. Die pädagogischen, politischen oder stadtplanerischen Folgerungen, die aus solchen reduktionistischen Analysen gezogen werden, gehen dann an der Alltagspraxis der Menschen vorbei, und die Interventionskonzepte, die sich an solchen Analysen orientieren, wirken sich oft genug kontraproduktiv aus. Dieser Umgang produziert und reproduziert ein gesellschaftliches Rezeptwissen, das als Wegweiser der Wahrnehmung fungiert und auf dem weitere Beobachtungen basieren. In einer vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung durchgeführten Studie mit dem Titel „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“,11 in der schon wieder die vermeintlich integrationsresistenten Migranten – gemeint sind Türken – im Mittelpunkt stehen, kommt diese Geisteshaltung deutlich zum Ausdruck. Obwohl der Titel „Ungenutzte Potentiale“ zunächst positive Assoziationen weckt, sieht man sich bei einer genaueren Lektüre mit den allzu bekannten Klischees über Migranten konfrontiert, wie folgende, die Ergebnisse der Studie zusammenfassende Passage demonstriert: „Zwar sind die meisten schon lange im Land, aber ihre Herkunft, oft aus wenig entwickelten Gebieten im Osten der Türkei, wirkt sich bis heute aus: Als einstige Gastarbeiter kamen sie häufig ohne Schul- und Berufsabschluss, und auch die jüngere Generation lässt wenig Bildungsmotivation erkennen [...]“12 Genauer betrachtet, zeigt sich im öffentlich inszenierten Migrationsdiskurs eine wie selbstverständlich praktizierte Doppelmoral: Bei der einheimischen Bevölkerung werden Phänomene von Mobilität, Individualisierung und Pluralisierung als Zeichen globaler Orientierung gelobt, bei (post-)migrantischen Gruppen aber, die ja zu den mobilen Bevölkerungsgruppen gehören, eher als nachteilig gewertet. Mehrfachzugehörigkeit und flexible Lebensentwürfe im Zeichen weltweiter Öffnungsprozesse
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werden bei Einheimischen zur Selbstverständlichkeit, zur Normalität oder zumindest zum Erfordernis unserer Zeit erklärt, bei „Mehrheimischen“ jedoch zum Problem. Migration wird nicht als eine Form der Mobilität und damit als Neuorientierung verstanden, sondern als ein „Anpassungsproblem“. Nicht zufällig wurde die sogenannte Ausländerpädagogik als eine kompensatorische Erziehung konzipiert, mit dem Ziel, den Migranten und deren Nachkommen bei der Eingliederung zu helfen. Unter dieser Prämisse wurde ihnen auch von wissenschaftlicher Seite eine „falsche Sozialisation“ unterstellt, ihre faktische familiäre und die erforderliche schulische Sozialisation wurden automatisch als unvereinbar betrachtet. Später wurden zwar interkulturelle oder transkulturelle Konzepte entwickelt, die weitere Perspektiven eröffneten. Gemeinsam bleibt ihnen jedoch bis heute die Fokussierung auf den kulturellen Faktor als das eigentliche Problem (Kulturdifferenzhypothese). Obwohl diese Ansätze seit einigen Jahren entweder wegen ihrer „Sonderpädagogisierung“ und/oder ihrer kulturellen und ethnischen Überbetonung kritisiert wurden,13 hält sich diese defizitorientierte Deutung bis heute. Was vielleicht aus guter Absicht und in konventionell pädagogischer Manier unternommen wird, macht (post-)migrantische Gruppen automatisch zum Objekt kulturalistischer und ethnischer Stereotypisierung, konstruiert eine eigene Wirklichkeit und stellt in einer Art sich selbst erfüllender Prophezeiung die Grundlage für weitere Interventionen dar. So entfaltet die Objektivierung des Anderen eine normalisierende Wirkung, die tief in die Praxis hineinreicht. Dieses auf ethnischen Kategorien basierende Integrations-Dispositiv verweist neben den organisatorischen auch auf kognitive Strukturen, in denen ethnisch codiertes Wissen reproduziert wird, wie also Menschen die soziale Welt deuten, Wissen produziert, angeeignet, gespeichert, tradiert, je nach Situation aktiviert und auf neue Bereiche übertragen wird. Es werden damit nicht nur bestimmte Gruppen auf spezifische Weise repräsentiert, sondern alltägliche Erfahrungen interpretiert, Schlussfolgerungen gezogen, Erwartungen definiert und das Handeln organisiert, eine Art „mentales Erkenntnisinstrument, das mit minimalen Daten eine komplexe Interpretation leistet“14. Die oben genannte Berliner Studie ist ein Paradebeispiel. Solche Kategorien schaffen eine eigene Normalität. Dieser „normalistische Blick“ (Stephan Lanz) oder, mit anderen Worten, diese „Politik der Erkenntnis“ (Edward Said) verfestigt kulturelle Hegemonie, sie ist Ausdruck eines nationalen Ordnungszwangs.
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Der bekannte Schweizer Künstler Ursus Wehrli will mit der ironischen Frage „Was würde passieren, wenn man in der Kunst anfängt, aufzuräumen?“ dieses Ordnungsdenken ad absurdum führen. Alle Elemente eines Bildes werden fein säuberlich voneinander getrennt, nach Größe, Form und Farbe nebeneinander aufgereiht. Wenn Werke bekannter Maler „aufgeräumt“ werden, entstehen plötzlich sonderbare Anordnungen. Das politische Ordnungsdenken scheint bei genauerer Betrachtung ebenso sonderbar, bedeutet es doch, dass historische Entwicklung, Vielschichtigkeit und weltweite Einbettung von Migranten systematisch ausgeblendet und ihre individuellen Strategien und Verortungspraktiken außer Acht gelassen werden. Eine andere Art des Sehens: das Pragmatische Zur Charakterisierung gegenwärtiger Städte benutze ich die Metapher „Die Öffnung der Orte zur Welt“ und meine damit, dass wir in unserem Alltag ständig mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Elementen zu tun haben, die in einem weltweiten Kommunikationszusammenhang stehen. Die Begriffe „methodologischer Kosmopolitismus“ (Ulrich Beck), „transnationale Räume“ (Ludger Pries), „Transkulturalität als Praxis“ (Robert Pütz) oder „banaler Kosmopolitismus“ (Ulrich Beck) bringen diesen Wandel zum Ausdruck. Weltweite Bezüge gehören zur Alltagsnormalität. Globalität erscheint als eine täglich gelebte Erfahrung und kann als eine Transformation der Kontexte verstanden werden, in denen sich unser Leben abspielt. Es ist jedenfalls nicht mehr möglich, die durch die Öffnung der Orte zur Welt entstandene Diversität und Vielschichtigkeit zu einem einheitlichen Gebilde zusammenzufügen.15 Diese durch Diversität geprägten Lebenswirklichkeiten gleichen dem, was Edward Said „atonales Ensemble“16 nannte: Die alltägliche Realität kann am besten charakterisiert werden durch radikale Vielfalt, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz und Widersprüche. Die urbanen Kontexte, in denen sich die Einzelnen bewegen, handeln und leben, eröffnen in ihren Kombinationsmöglichkeiten überhaupt erst so etwas wie die Einzigartigkeit des Individuums. So bildet sich ein „Beobachtungshorizont“,17 der neue Inkorporations- und Verortungsstrategien zulässt, die über das Lokale, Regionale und Nationale hinausgehen und den Alltag vor Ort mit der Welt verbinden. Gerade (post-) migrantische Lebensentwürfe sind Beispiele dafür, wie sich solche Transtopien18 formieren, wie weltweite Bezüge hergestellt werden, wie Mehrfachzugehörigkeiten zustande kommen und welche Rolle sie für die Betroffenen in ihrem Alltag spielen.
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Menschen sind in der globalisierten Welt grundsätzlich mobil, Bewegung wird aus unterschiedlichsten Motiven zum Lebensentwurf, ob für eine gewisse Zeit oder dauerhaft. Mit Begriffen wie „mobile Sesshaftigkeit“ oder „sesshafte Mobilität“ kann dieses Phänomen beschrieben werden. Die japanisch-amerikanische Künstlerin Morgan O’Hara hat ein sogenanntes „Bewegungsprotokoll“ entwickelt. Grundlage ihrer Arbeit sind Stadtplan, Land- und Weltkarte, die sie übereinanderlegt und auf denen sie geografische Punkte von Ortsveränderungen markiert. Daraus entwickelt sie ein individuelles Bewegungsprotokoll. Im Gegensatz zu ihrem Leben verlief beispielsweise das von Immanuel Kant, der wichtige Texte zum Thema „Kosmopolitismus“ geschrieben hat und weltweit bekannt ist, an ein und demselben Ort, also in Königsberg, weshalb sein Bewegungsprotokoll lediglich ein schwarzer Punkt auf einem weißen Blatt Papier ist. Wenn hier die kognitiven Bewegungsprotokolle hinzugefügt würden, entstünden noch viel komplexere Karten. Die heutigen Großstädte können daher als Knotenpunkte im „global space of flows“ (Manuel Castells)19 definiert werden, an denen sich die unterschiedlichsten Bewegungen von Menschen, Waren, Bildern, Informationen, Ideen und Kulturen überlagern und durchkreuzen – urbane Orte, an denen diverse und widersprüchliche Perspektiven und Differenzen aufeinandertreffen, sich neue lokale Logiken entfalten und auf diese Weise eigensinnige urbane Geografien erzeugt werden.20 Migration gehört zur urbanen Realität Historisch gesehen haben gerade grenzüberschreitende Migrationsbewegungen, die die Großstädte im Zuge der Industrialisierung von Anbeginn prägten, wesentlich zu Stadtentwicklung und Urbanität und damit zur Kosmopolitisierung unseres Alltags beigetragen. Im Grunde sind Stadtentwicklung und Urbanität ohne geografische Mobilität von Menschen kaum vorstellbar.21 1800 gab es europaweit 23 Großstädte, in denen insgesamt 5,5 Millionen Menschen lebten. Etwa hundert Jahre später waren es bereits 135 Großstädte mit circa 46 Millionen Einwohnern. Zuwanderung war für den Aufstieg der Städte ein konstitutives Element. Die rasant wachsenden Städte und industriellen Verdichtungsräume mit ihren vielfältigen Erwerbsmöglichkeiten bewirkten als Magneten unterschiedlicher Reichweite Arbeitsmigration und dauerhafte Zuwanderungen. Analog dazu gab es im 19. Jahrhundert auch europaweite Wanderungsbewegungen. Als Paradebeispiel gilt die polnische Zuwanderung nach Preußen und ins Ruhr-
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gebiet; aber auch die irische Einwanderung in die Industriezentren Englands und Schottlands oder die Migration von Belgiern, Italienern und Spaniern nach Frankreich sind hier zu nennen. Viele Städte des Ruhrgebiets sind erst durch Migration entstanden und auf diese Weise zu Industriestandorten von weltweiter Bedeutung aufgestiegen. Überall sind Großstädte lebendiger Ausdruck der globalisierten Realität. Ein prägnantes Beispiel ist Istanbul, eine durch historisch gewachsene Diversität und Heterogenität geprägte Metropole. Vor der Gründung des Nationalstaats gehörte das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen, Milieus, Religionen und Traditionen zur Normalität. Diese Vielfalt und Vielstimmigkeit haben das Image der Stadt wesentlich geprägt. An den Ufern des Marmarameeres formierten sich verschiedene Stadtviertel, die von unterschiedlichen Gruppen und Milieus bewohnt wurden, wie beispielsweise armenisch-gregorianische oder griechisch-orthodoxe. Auch die Architektur spiegelt diese Vielfalt wider und profitierte von neoklassizistischen, klassischen und orientalischen Stilen. Später erfreute sich auch der Jugendstil in den neuen Sommerresidenzen am Bosporus und auf der asiatischen Seite großer Beliebtheit.22 Gerade in Hafenstädten konzentrieren sich Einflüsse aus aller Welt. Das Gesicht der Stadt Marseille beispielsweise hat sich über lange Zeiträume hinweg durch Migration immer wieder gewandelt. Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien, Griechenland, Armenien oder der Türkei ließen sich hier nieder und errichteten eigene urbane Strukturen. Auch aus den ehemaligen französischen Kolonien in West- und Nordafrika gab es im 20. Jahrhundert zunehmende Einwanderung. Durch diese Diversität bildet sich eine spezifische lokale Identität und eine faszinierende Anziehungskraft der Mittelmeermetropole, die sie ihrer lebendigen Migrationsgeschichte verdankt.23 Auch aus der Geschichte deutscher Städte lassen sich ähnliche Einsichten gewinnen. Stephan Lanz ist zuzustimmen, wenn er den Begriff „Einwanderungsstadt“ für eine Tautologie hält, verdanken doch Metropolen wie Berlin ihre Existenz gerade der Zuwanderung.24 Hugenotten legten Ende des 17. Jahrhunderts den Grundstock für Berlin als Handels- und Handwerksmetropole, ein enormer Bevölkerungszuwachs prägte das Berlin zum Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts und hinterließ tiefe Spuren im Stadtbild,25 eine Erfolgsgeschichte der Migration von zehn Generationen.26 Aus historisch-ethnografischer Perspektive beschreibt Erwin Orywal die Kölner Migrationsgeschichte, die Sozialgefüge und Alltagskultur der Stadt ständig gewandelt
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Abb. 1: „Ankara Supermarket“ auf der Weidengasse im Eigelsteinviertel Köln (Aufnahme: September 2012)
und eine Diversität (Abb. 1) hervorgebracht hat, die durchaus als Ergebnis einer zweitausendjährigen Zuwanderung angesehen werden kann.27 Oder nehmen wir Wien: Die anlässlich der Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien veröffentlichten Beiträge belegen aus unterschiedlichen Perspektiven, welche Rolle Migrationsbewegungen für die Entwicklung, Urbanisierung und Diversifizierung von Wien gespielt haben. Große Entwicklungsschritte in der Stadtgeschichte gingen immer mit dem Zuzug von Menschen einher, die neue Ideen, Sichtweisen, Impulse und vielfältige Kompetenzen mitbrachten.28 Leon Deben und Jacques van de Ven beschreiben die Vergangenheit Amsterdams als eine Erfolgsgeschichte von unterschiedlichen Migrationsbewegungen und kommen zu dem Schluss, dass Immigration die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben habe und unlösbar mit dem Wohlstand und dem Wohlergehen dieser Stadt verbunden gewesen sei.29 Dass auch München seine heutige Gestalt Migrationbewegungen zu verdanken hat, machen eine Ausstellung und ein dazu erstellter Sammelband anschaulich.30
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Abb. 2: „Simitland“ auf der Venloer Straße in Köln-Ehrenfeld (Aufnahme: September 2012)
Ähnliches gilt für Frankfurt am Main, das für viele Menschen zu einer „‚globalen‘ Heimat“ geworden ist, wie die Beispiele in dem von Sven Bergmann und Regina Römhild herausgegeben Sammelband eindrucksvoll belegen.31 Und vergessen wir nicht das Ruhrgebiet, das inzwischen zu einer Metropolregion herangewachsen ist, deren Städte überhaupt erst durch Migration entstanden sind (siehe das Gespräch mit Mischa Kuball in diesem Buch) und das Ruhrgebiet zu einem Industriestandort von weltweiter Bedeutung machten. Diese und andere Beispiele legen nahe, dass Sesshaftigkeit über mehrere Generationen ein Mythos ist. Mobilitätserfahrungen und die damit verbundene Diversität haben das urbane Leben immer geprägt. Urbane Aufwertung durch Migration Gerade Köln ist ein gutes Beispiel dafür, wie Migration vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg die Städte geprägt und eine Vielfalt hervorgebracht hat, ohne die Köln heute kaum vorstellbar ist. Auch in den einzelnen Stadtteilen haben Migrationsbewegungen ihre Spuren hinterlassen (Abb. 2) und wesentlich zur Kosmopolitisierung und Pluralisierung und damit auch zur Lebensqualität beigetragen.
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Köln bezeichnet sich gern als die nördlichste Stadt Italiens. Tatsächlich finden in Stadtbild, Geschäftsstrukturen und Straßenleben zahlreiche Hinweise auf den mediterranen Einfluss. Viele Beispiele zeigen, wie erfolgreich die Einwanderer trotz restriktiver Bedingungen und struktureller Barrieren waren. Allein angesichts der Tatsache, dass unter den Migranten die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch und die allgemeine Qualifikation nur halb so hoch ist, stellen migrationsgeprägte Stadtteile oder Straßenzüge wie die Keupstraße in Köln, auf die ich unten eingehen möchte, eine Erfolgsgeschichte dar. Sie zeigen, dass Einwanderer auch unter extrem ungünstigen Bedingungen einen hohen Integrationswillen besitzen und neue Kompetenzen entwickeln. Die Keupstraße ist im Verlauf der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in der damals noch selbstständigen Stadt Mülheim am Rhein entstanden, welche zu einem bevorzugten Industriestandort mutierte. Industriebetriebe, Ausbau der Infrastruktur, Bevölkerungsströme und zunehmende Wohnsiedlungen veränderten den zuvor landwirtschaftlich geprägten Ort nachhaltig. Es entstanden typische Arbeiterviertel mit Häusern und Wohnungen für die finanzschwachen Bevölkerungsgruppen. Mitten in diesem Stadtteil befindet sich die Keupstraße, welche allen Bürgern der Stadt Köln sehr bekannt sein sollte, da sie immer wieder in den Medien aufgegriffen wird und oftmals der öffentlichen Kritik gegenübersteht. Schon in den 1950er- und 1960er-Jahren zogen die ersten Migranten in die Keupstraße. Die Kabelwerke der Felten & Guilleaume AG in der anliegenden Schanzenstraße beschäftigten in diesen Jahrzehnten bereits eine große Zahl von Migranten. So ist das Quartier in Köln-Mülheim durch die Zuwanderung von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Arbeitsmigration seit den 60er-Jahren zu einem eindeutig migrationsgeprägten Viertel beziehungsweise „Veedel“, wie es auf Kölsch heißt, geworden. Mit der Industrialisierung siedelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Migrantengruppen in der Keupstraße an. Anfangs handelte es sich besonders um Arbeiter aus Polen und Schlesien. Die letzte große Zuwanderungswelle fand zur Zeit der Gastarbeiteranwerbung Mitte der 1950er- und Anfang der 1960erJahre statt (vor allem aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und der Türkei). Während die ersten Zuwanderer die Straße vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Krisen nach und nach verließen, verblieb die letzte Einwanderergruppe im Quartier. Sie bestand überwiegend aus Migranten türkischer Herkunft. Mit der Entindustria-
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Abb. 3: Die Keupstraße in Köln-Mühlheim (Aufnahme: September 2012)
lisierung Mülheims ging die Zeit der Mobilität zunächst einmal zu Ende, und so brach in den 1970er-Jahren die industrielle Erwerbsstruktur weg. Die Schließung zahlreicher traditioneller Industriebetriebe sowie die Verlagerung von Großbetrieben führten zu einer hohen Arbeitslosigkeit. Da es nichts mehr zu verdienen gab, schlossen die letzten alteingesessenen Besitzer ihre Geschäfte und verließen die Keupstraße. Zurück blieb ein zerfallender und sanierungsbedürftiger Stadtteil. Die leer stehenden Wohnungen, Lokale und Läden wurden nach und nach vor allem von türkischen Migranten übernommen, weil der Schritt in die Selbstständigkeit für die meisten der einzige Weg aus der Arbeitslosigkeit war. Allmählich wurden die Geschäfte renoviert und wiedereröffnet. Dienstleister, kleine Läden und Restaurants reihen sich seitdem aneinander, bald wurden auch Fassaden und Wohnungen instand gesetzt. Auch von der Stadt Köln wurde schließlich eine Sanierung durchgeführt. Heute bietet die Straße in ihrer orientalischen Inszenierung ein attraktives Bild (Abb. 3). Gerade die quartierbezogenen Geschäfte und Dienstleistungsunternehmen besitzen sowohl ein wirtschaftliches als auch ein hohes integratives Potenzial, das eine urbane Ressource darstellt. Vor diesem Hintergrund ist die Diskrepanz zwischen Alltagsrealität und öffentlicher Wahrnehmung irritierend. Denn zeitgleich mit der beschriebenen Entwicklung
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Abb. 4: Orientalische Inszenierung auf der Keupstraße (Aufnahme: September 2012)
wird von kommunaler Seite ebenso wie in den Massenmedien vor der Ghettoisierung und Verslumung dieses Stadtteils gewarnt, wobei zum Teil genau auf dasjenige Vokabular zurückgegriffen wird, mit dem nachweislich bereits im 19. Jahrhundert die Straße stigmatisiert wurde. Der Name Keupstraße wird dabei regelrecht zu einer negativen Metapher. Das Bild der Straße verändert sich, sobald man sie nicht mehr von außen, sondern von innen ins Blickfeld rückt. Unsere Studien zeigen, dass die Keupstraße keine in sich geschlossene „Parallelgesellschaft“ darstellt, sondern dass sie ökonomisch, politisch, sozial und rechtlich mit dem urbanen Kontext verwoben und ein hoch differenziertes und flexibles Quartier ist.32 Das besondere Flair dieser Wohngegend, die orientalische Inszenierung ist faszinierend und lässt sich ähnlich in allen vergleichbaren Metropolen von Toronto über L.A. bis Sydney beobachten. Die Mischung der präsentierten Elemente, die nur scheinbar der Herkunftskultur der Migranten entstammt, erweist sich schlicht als eine praktische Geschäftsstrategie, als ein strategisches Zugeständnis an die lokalen, hier die deutschen Vorstellungen vom „Orient“. Hier wird deutscher „Orientalismus“ inszeniert, den Edward Said eine „imaginäre Geographie“33 nannte (Abb. 4).
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In vielen Gesprächen brachten die Bewohner der Straße zum Ausdruck, mit welchen Konflikten und Barrieren sie konfrontiert werden, und welche Handlungsstrategien sie dabei entwickeln, welche Rolle die Familie, die Freundschaften und informelle Netzwerke dabei spielen – kurz: wie sich die Menschen den Stadtteil oder die Stadt aneignen, durch ihre Nutzung die gebaute Umwelt mitgestalten und mitbestimmen und das Straßenbild prägen. Die Gespräche belegen darüber hinaus, wie Menschen unterschiedliche ökonomische, soziale und kulturelle Elemente in diesem Quartier nutzen, neu definieren und zu neuen Strukturen und Lebensentwürfen verbinden. Die meisten von ihnen fühlen sich im Quartier wohl, betonen seine Lebensqualität und identifizieren sich mit der Straße. Sie verstehen nicht, warum ihre Wohngegend durch dieses hartnäckige öffentliche Ghetto-Image abgewertet wird. Bei den Alteingesessenen klingt in den meisten Gesprächen eine wohlwollende Distanziertheit an. Man hat sich mit der Entwicklung der Straße arrangiert und betrachtet die Situation durchaus positiv und pragmatisch, wenn auch unter einem exotischen Blick. Wirft man heute einen genauen Blick auf die ökonomische Struktur der Keupstraße, dann kann man unterschiedliche Aspekte beobachten. Es gibt fast hundert unterschiedliche Läden, die sich vornehmlich in privater Hand befinden. Die vorhandenen Geschäfte decken eine breite Palette des alltäglichen Bedarfs ab. Neben Bäckereien und Konditoreien finden sich Bekleidungsgeschäfte, aber auch ein Elektrofachhandel und eine Buchhandlung. Vertreten sind mehrere Restaurants, Bistros und Imbissbuden ebenso wie Kneipen und die für Köln so typischen Kioske. So ist die Keupstraße heute über Köln hinaus bekannt als attraktive Einkaufsstraße mit orientalischem Flair. Die bestehende Infrastruktur an Dienstleistungen, Einzelhandelgeschäften und Gastronomiebetrieben mit ihrer Angebotsvielfalt wird von den Kunden sehr geschätzt, die von überallher kommen, wie die Kennzeichen der parkenden Autos und die Eindrücke zeigen. Auch die Qualität der Waren und Dienstleistungen werden von den Geschäftsleuten als Grund für dieses weite Einzugsgebiet genannt. Die Straße wird für den Einkauf gezielt angefahren, Durchreisende biegen zum Essen in die – nahe an der Autobahnausfahrt gelegene – Keupstraße ab, und selbst Touristen werden in Reiseführern oder auf diversen Homepages auf diesen Ort hingewiesen. Die Entstehung der ökonomischen Struktur der Keupstraße zeigt, wie Arbeitsmigranten und deren Nachkommen unter diskriminierenden Bedingungen eine Kultur der Selbstständigkeit entwickelten, die ohne die Nutzung informeller Ressourcen
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nicht denkbar wären. Fast in allen Fällen handelt es sich um Familienbetriebe und oft sind ganze Familien in den jeweiligen Betrieb eingebunden. Gerade Familienunternehmen gehen in schwierigen Zeiten und an desolaten Standorten Risiken ein, eröffnen Geschäfte und tragen so zu einer grundlegenden Verbesserung der Versorgungssituation im Quartier bei. Ökonomische Aktivitäten und soziale Netzwerke sind eng miteinander verschränkt. Da Migranten im formellen Arbeitsmarkt marginalisiert und oft ausgegrenzt werden, werden sie dazu gezwungen, andere Strategien und Beziehungskompetenzen zu entwickeln, als das bei der einheimischen Bevölkerung der Fall ist. Finanzielle Unterstützung wird oft informell innerhalb der Verwandtschaft organisiert. Da es sich in den meisten Fällen um Familienbetriebe handelt, ist familiäre Hilfe ein unverzichtbarer Bestandteil des ökonomischen Erfolgs. „In der Startphase hat die Familie zusammengehalten und Tag und Nacht gearbeitet, über mehrere Monate, ohne Lohn“, erzählt beispielsweise Frau M., die Besitzerin einer Bäckerei. Die ökonomische Entwicklung der Keupstraße zeigt deutlich, dass die Geschäftsleute auf Netzwerke und Ressourcen zurückgreifen können, die für sie überlebensnotwendig sind. „Sie akkumulieren soziales Kapital“, so Saskia Sassen.34 Letzthin hat der Diskurs über die Keupstraße in den letzten Jahren einen Wandel erfahren. Der skandalisierende Ton ist zurückhaltender geworden und weitgehend in den Hintergrund getreten. So bezeichnete der ehemalige Oberbürgermeister Kölns, Fritz Schramma, diese Straße mehrfach als Erfolgsmodell, das Vorbildcharakter für die restliche Kölner Bevölkerung habe. In der lokalen Presse ist die Skandalisierung jedoch nicht ganz verschwunden, so gilt die Keupstraße weiterhin als „eine Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln“ oder wird wie folgt beschrieben: „In die Keupstraße ist seit Jahrzehnten das Morgenland eingezogen. Hier herrschen türkische Sitten, die Gesetze einer in sich fast geschlossenen Gesellschaft“.35 Hier diente die Keupstraße weiterhin als Negativfolie. Neue Perspektiven: das Postmigrantische Die Kinder und Enkelkinder der Gastarbeitergeneration formulieren neue Perspektiven und beginnen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Darin setzen sie sich sowohl mit der Migrationsgeschichte ihrer Eltern und Großeltern als auch mit ihren eigenen Lebensbedingungen auseinander, entwickeln neue Lebensentwürfe und Strategien zur gesellschaftlichen Verortung. Darin werden unterschiedliche Elemente zu hybriden Lebensentwürfen zusammengefügt, ergeben kulturelle Überschneidungen,
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Irritationen, Grenz- und Zwischenräume und simultane Zugehörigkeiten. Sie sehen sich als Kölner, Berliner oder Wiener, entwickeln eine provokante „Kanakenkultur“ oder „Tschuschenkultur“ und schaffen auf diese Weise urbane Räume, die beschränkten Vorstellungen zu Migration und Integration entgegenstehen. Dieses neue Verständnis und die Strukturen, die daraus hervorgehen, könnte man als „postmigrantisch“ bezeichnen.36 Aus der Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte ihrer Eltern und mit der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, entstehen neue symbolische Welten. Diese Rekonstruktionsarbeit fungiert als eine Art „Erinnerungsarchäologie“, in der Geschichten, die bisher nicht erzählt, bagatellisiert oder abgewertet wurden, in das öffentliche Gedächtnis geholt werden. Auf diese Weise werden binäre Zuordnungen aufgebrochen und neue Perspektiven auf die Migrationsgesellschaft eröffnet. Eine postmigrantische Perspektive entwirft der in München aufgewachsene Autor und Schauspieler Emre Akal in seinem Theaterstück „Die Schafspelzratten“37, das auf zahlreichen Gesprächen mit Immigranten der ersten, zweiten und dritten Generation basiert. Aus diesen Gesprächen und seinen Erfahrungen als Kind türkischer Einwanderer entwickelte er die Figuren und Sprache des Theaterstückes. Hier werden widersprüchliche Geschichten zwischen Generationen sichtbar, die bewusst Authentizität und Eindeutigkeit infrage stellen und festgefahrene Wahrnehmungsmuster wie „Migranten“ und „Einheimische“ durcheinanderbringen. Interessant ist auch der Versuch, die Stigmatisierung von Migrantenvierteln als ökonomische Ressource nutzbar zu machen. Halil Özet, der im Duisburger Stadtteil Marxloh, genannt „Klein-Istanbul“, aufwuchs, nennt diesen Stadtteil eine „kreative Parallelgesellschaft“. Im negativen Image des Stadtviertels sieht Halil, der mit einem Kollegen eine Film- und Fernsehproduktionsfirma in Marxloh gegründet hat, viele schöpferische Potenziale. Ethnische Klischees und Stigmatisierung sollen als Chance und Geschäftsidee genutzt werden. Marxloh wird als Marke inszeniert. Halil Özet ist stolz darauf, ein Marxloher zu sein. Er sei eben „Made in Marxloh“, so wie es auf dem Logo steht, das er und seine Freunde als Button tragen – ein Zeichen ihrer symbolischen Identität. Kommen wir auf die „postmigrantischen Strategien“ der Jugendlichen und Heranwachsenden zurück: die kreative, ironische und subversive Nutzung zugeschriebener Merkmale. Der Name „Kanak Attack“, ein loses Bündnis postmigrantischer Jugendlicher und Heranwachsender in Deutschland, eine Art sozialer Bewegung,
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bezeichnet eine solche subversive Umwendung, die aus der hegemonialen Zuschreibung „Kanake“ mittels ironischer Umdeutung eine positive Selbstdefinition macht: Auf diese Weise werden Räume des Widerstands gegen eine hegemoniale Normalisierungspraxis und gegen die „Kanakisierung“ bestimmter Gruppen geschaffen (siehe den Beitrag von Nanna Heidenreich in diesem Buch). Dieser Widerstand besteht in einer kreativen Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Wissen der Dominanzgesellschaft, in der Absicht, dieses zu dekonstruieren. So wird in dem von Kanak-TV gedrehten Kurzfilm „Weißes Ghetto Köln-Lindenthal“38 die gewöhnliche Wahrnehmung umgekehrt und der als konservativ und „ausländerfrei“ bekannte teure Stadtteil als „Problemviertel“ dargestellt – eben als weißes Ghetto beziehungsweise Parallelgesellschaft, als Abweichung von der städtischen Normalität. Die Anwohnerinnen und Anwohner wurden befragt, wie es sich in so einem „einheimischen, weißen Ghetto“ lebe und welchen Problemen sie begegneten. Kaum einer verstand die Frage, sie löste Reaktionen von Erstauen bis Ärger und Abwehr aus. Was die Umkehrung negativer Zuschreibungen und deren ironische Umdeutung betrifft, spricht Stuart Hall von „Transkodierung“. Nach seiner Überzeugung können Bedeutungen niemals endgültig festgelegt und kontrolliert werden. Transkodierung meint die Aneignung und Re-Interpretation, kurz die Umdeutung bestehender Begriffe und Wissensinhalte.39 In den von mir aufgeführten Beispielen wurden Stereotypen ironisch inszeniert, binäre Gegensätze auf den Kopf gestellt, indem der marginalisierte Begriff privilegiert wird, um durch positive Identifikation negative Klischees auszuräumen. Durch solche Verortungspraktiken werden mehrdeutige, mehrheimische lokale Räume geschaffen, in denen unterschiedliche Traditionen, Kulturen, Erinnerungen und Erfahrungen kombiniert und kultiviert werden. Das „Leben zwischen unterschiedlichen Kulturen und Welten“ wird nicht als „Identitätsdefekt“ oder schizophrene Situation betrachtet, sondern positiv in Szene gesetzt. Gerade die Fähigkeit, zwischen oder in unterschiedlichen Welten denken und handeln zu können, macht die besondere Kompetenz in der weltoffenen Stadt, besser gesagt, ihrer Bewohnerinnen und Bewohner aus.
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Fazit Urbaner Wandel durch Migration bedeutet, sich vom „methodologischen Nationalismus“40 zu distanzieren, das hegemoniale Diktat der Sesshaftigkeit infrage zu stellen, an urbanen Welten anzusetzen und die (Post-)Migranten als Experten eigener Lebenspraxis zu betrachten. Die neuen Verortungspraktiken im urbanen Alltag können mit einem „methodologischen Kosmopolitismus“41 sichtbar gemacht und analysiert werden. Hier geht es um eine urbane Bewegung, die Regionen, Kulturen, Lebensformen und Lebensentwürfe, die räumlich wie zeitlich voneinander entfernt sind, auf lokaler Ebene zusammenbringt und miteinander verknüpft. Dabei entstehen Transtopien, die unterschiedlich gelagerte, weltweit gespannte gesellschaftliche Elemente in die lokale Alltagspraxis übersetzen. Aus dem kosmopolitischen Blick sind (post-)migrantische Wirklichkeiten ein konstitutiver Bestandteil urbanen Lebens und machen Globalisierungsprozesse zum urbanen Alltag. 1 | Vgl. Markus Schroer: Stadt als Prozess. Zur Diskussion städtischer Leitbilder, in: Helmut Berking und Martina Löw (Hg.): Die Wirklichkeit der Städte, Baden-Baden 2005 (Soziale Welt, Sonderband 16), S. 327–346. 2 | Thomas Krämer-Badoni: „Urbanität und gesellschaftliche Integration“, in: Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yıldız (Hg.): Der Umgang mit der Stadtgesellschaft. Ist die multikulturelle Stadt gescheitert oder wird sie zu einem Erfolgsmodell?, Opladen 2002, S. 47–62, hier S. 53. 3 | Vgl. Jochen Bittner: Ghetto im Kopf, in: Die Zeit, 2003, Nr. 36, S. 3. 4 | Manfred Neuhöfer: Überforderte Nachbarschaften. Eine Analyse von Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus und die Wohnsituation von Migranten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 49, 1998, H. 98, S. 35–45, hier S. 35. 5 | Der Spiegel, 2008, H. 5, S. 32. 6 | Vgl. Armin Nassehi: Die Leitkulturdebatte: Eine Herausforderung für interkulturelle Studien. Festvortrag auf der Veranstaltung „Fünf Jahre FiSt“ an der Universität Köln, 25.1.2001 (unveröffentlichtes Manuskript), S. 14. 7 | Der Spiegel, 2009, H. 42, S. 33. 8 | Loïc J. D. Wacquant: Drei irreführende Prämissen bei der Untersuchung der amerikanischen Ghettos, in: Wilhelm Heitmeyer, Rainer Dollase und Otto Backes (Hg.): Die Krise der Städte, Frankfurt am Main 1998, S. 194–210, hier S. 201. 9 | Sabine Strasser: Bewegte Zugehörigkeiten. Nationale Spannungen, transnationale Praktiken und transversale Politik, Wien 2009. 10 | Vgl. Krämer-Badoni 2002 (wie Anm. 2), S. 47–62. 11 | Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hg.): Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland, Berlin 2009. 12 | Ebd., S. 7. 13 | Wolf-Dietrich Bukow: Feindbild Minderheit: Zur Funktion von Ethnisierung, Opladen 1996; Erol Yıldız: Halbierte Gesellschaft der Postmoderne. Probleme des Minderheitendiskurses unter Berücksichtigung alternativer Ansätze in den Niederlanden, Opladen 1997. 14 | Roger Brubaker: Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007, S. 111. 15 | Vgl. Wolfgang Welsch: Gesellschaft ohne Meta-Erzählung?, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentags in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 174–184, hier S. 176 f.
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16 | Edward Said: Figures, Configurations, Transfigurations, in: Race & Class, 1990, H. 1, S. 16–22. 17 | Ulrich Beck: Was meint „eigenes Leben“?, in: Ulrich Beck, Ulf Erdmann und Timm Rautert (Hg.): Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1997, S. 9–30. 18 | Transtopien sind Räume, in denen unterschiedliche, widersprüchliche, mehrdeutige, lokale wie globale Elemente miteinander verknüpft werden und sich zu urbanen Welten verdichten. 19 | Manuel Castells: The Rise of the Network Society, Cambridge 1996. 20 | Vgl. Walter Prigge: Wie urban ist der digitale Urbanismus?, in: Christa Maar und Florian Rötzer (Hg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter der globalen Vernetzung, Basel u.a. 1997, S. 49–54, hier S. 53; Malte Bergmann und Bastian Lange (Hg.): Eigensinnige Geographien. Städtische Raumaneignungen als Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe, Wiesbaden 2011. 21 | Vgl. Walter Siebel: Die Stadt und die Zuwanderer, in: Hartmut Häußermann und Ingrid Oswald (Hg.): Zuwanderung und Stadtentwicklung, Opladen 1997 (Leviathan, Sonderheft 17), S. 30–41; Erol Yıldız und Birgit Mattausch (Hg.): Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource, Basel/Boston/Berlin 2009. 22 | Zeynep Aygen: Quo Vadis Istanbul? Ein Rückblick in die Zukunft, in: Helmuth Berking und Richard Faber (Hg.): Städte im Globalisierungsdiskurs, Würzburg 2002, S. 113–133, hier S. 124. 23 | Vgl. z.B. Michel Péraldi: Sozialer Aufstieg auf eigene Rechnung: Vorstadtjugendliche von Marseille im informellen Handel, in: Joachim Brech und Laura Vanhué (Hg.): Migration. Stadt im Wandel, Darmstadt 1997, S. 73–79. 24 | Stephan Lanz: Berlin aufgemischt. Abendländlich – multikulturell – kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsgesellschaft, Bielefeld 2007, S. 9. 25 | Vgl. Günter Piening: Stadtgeschichte als Migrationsgeschichte erkennbar machen, in: Der Beauftragte des Senats für Integration und Migration (Hg.): Stadt ist Migration. Die Berliner Route der Migration – Grundlagen, Kommentare, Skizzen, Berlin 2011, S. 6–7, hier S. 6. 26 | Vgl. Katja Weniger: Die Hugenotten – Die Erfolgsgeschichte der Einwanderung nach 10 Generationen, in: Der Beauftragte des Senats für Integration und Migration (Hg.): Stadt ist Migration. Die Berliner Route der Migration – Grundlagen, Kommentare, Skizzen, Berlin 2011, S. 51–53. 27 | Erwin Orywal: Kölner Stammbaum. Zeitreise durch 2000 Jahre Migrationsgeschichte, Köln 2007. 28 | Vgl. WIR. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien, Ausst.-Kat. Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 1996. 29 | Leon Deben und Jaques van de Ven: Fünfhundert Jahre Erfolg durch Immigration. Eine kurze Chronik Amsterdams, in: Yıldız/Mattausch 2009 (wie Anm. 21), S. 42–51. 30 | Vgl. Natalie Bayer u.a. (Hg.): Crossing Munich. Beiträge aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, München 2009. 31 | Sven Bergmann und Regina Römhild (Hg.): Global Heimat. Ethnographische Recherchen im transnationalen Frankfurt, Frankfurt am Main 2003. 32 | Vgl. Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yıldız: Der Wandel von Quartieren in der metropolitanen Gesellschaft am Beispiel Keupstraße in Köln. Oder: Eine verkannte Entwicklung?, in: Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yıldız (Hg.): Der Umgang mit der Stadtgesellschaft. Ist die multikulturelle Stadt gescheitert oder wird sie zu einem Erfolgsmodell?, Opladen 2002, S. 81–111; Yildiz/Mattausch 2009 (wie Anm. 21). 33 | Edward Said: Orientalismus, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981. 34 | Saskia Sassen: Dienstleistungsökonomien und die Beschäftigung von Migranten in Städten, in: Klaus M. Schmals (Hg.): Migration und Stadt. Entwicklungen – Defizite – Potentiale, Opladen 2000, S. 87–114, hier S. 103. 35 | Artikelserie im „Kölner Stadtanzeiger“ mit dem Motto „Unsere Kölnländer“. 36 | Vgl. Erol Yıldız: Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe, in: SWS-Rundschau, Bd. 50, 2010, H. 3, S. 318–339. 37 | Aufführung am 18.5.2011 im „Import-Export“ in der Goethestraße 30, München. 38 | www.kanak.tv.de/popub/weisses_ghetto.html 39 | Vgl. Stuart Hall: Das Spektakel des ‚Anderen‘, in: ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 1994, S. 108–166, hier S. 158. 40 | Ulrich Beck: Der kosmopolitische Blick. Oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt am Main 2004, S. 51. 41 | Ebd., S. 125.
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Marta Koscielniak
POLNISCHE KÜNSTLER IN DER INTERNATIONALEN KUNSTSZENE MÜNCHENS IM AUSGEHENDEN 19. JAHRHUNDERT: THEORIEN DER MIGRATION IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE
Wie können Fragen rund um Migration und Kunst in einem historischen Thema bearbeitet werden? Dieser allgemeinen Frage möchte ich im vorliegenden Beitrag am Beispiel polnischer Künstler nachgehen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreich im damaligen Kunstzentrum München vertreten waren. Mit Migrationsbewegungen jenseits der Gegenwart befasst sich die Historische Migrationsforschung seit den 1980er-Jahren.1 Dass Migration im 19. Jahrhundert eine wesentliche Rolle spielte und sich selbst Globalisierungstendenzen bereits in dessen zweiter Hälfte erkennbar machen, belegt Jürgen Osterhammel mit seinen welthistorisch orientierten Forschungen.2 Auch die Kunstgeschichte lässt sich zunehmend von solchen Zugängen inspirieren. Die diesjährige Ausstellung „Migrations – Journeys into British Art“ 2012 in der Tate Britain zeigte zum Beispiel jene Spuren auf, die das Phänomen Migration, das heute derart aktuell erscheint, im Laufe der vergangenen fünf Jahrhunderte in die Kunstgeschichte Großbritanniens hineinschrieb.3 In diesem Zusammenhang legt Emma Chambers am Beispiel von Großbritannien, Frankreich und Amerika dar, dass gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der internationale Austausch von Ideen und Künstlern besonders intensiv war. Sie führt dies einerseits auf die politischen Verhältnisse der damaligen Zeit zurück, andererseits auf die divergierenden Chancen, Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten in den unterschiedlichen Kunstzentren.4 München und seine polnischen Künstler in jener Zeit sind also nur ein Beispiel von vielen für die damals stark ausgeprägte Mobilität von Künstlern und nur ein Einzelfall aus der Kumulation verschiedener Nationalitäten in einer bekannten Kunststadt.5 Nahezu das ganze 19. Jahrhundert über lebten in München polnische Künstler. Halina Stępień, die Pionierin auf diesem Forschungsgebiet, zählt in den Matrikelbüchern der Akademie und in den Akten der Privatateliers rund 700 polnische Namen.
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Sie widmete diesen von ihr als „polnischen Münchnern“ zusammengefassten Protagonisten auf der Grundlage ihrer jahrelangen Forschungen drei umfangreiche Bände. Stępień ging darin den Spuren nach, die polnischstämmige Künstler in ihrem Kommen und Gehen zwischen 1828 und 1914 in der Hauptstadt Bayerns hinterlassen haben.6 Aus dieser beachtlichen Zeitspanne nehme ich im vorliegenden Aufsatz besonders zwei Jahrzehnte – von 1880 bis zur Jahrhundertwende – in den Blick. Diese Fokussierung hat mehrere Gründe: Es handelt sich um einen Zeitraum, in dem die gut erforschte Hauptwirkungszeit des erfolgreichen polnischen Akademieprofessors Józef Brandt in München ausklingt.7 Zum einen war die Gruppe polnischer Künstler, die sich vor der Wende zum 20. Jahrhundert in München aufhielt, besonders groß, was bei dem rapiden Wachstum der Stadt zwischen 1880 und 1900 – angesichts von Urbanisierung sowie einer zunehmenden Mobilität (allein schon innerhalb der deutschen Gesellschaft) – nicht verwunderlich ist.8 Polen waren indes aufgrund der historischen Situation eine besonders mobile Volksgruppe: Etwa zehn Millionen wanderten von den ehemals polnischen Gebieten zwischen 1860 und 1914 aus.9 Zum anderen handelt es sich im Hinblick auf die künstlerischen Entwicklungen, die sich damals international vollzogen und im Münchner Milieu ebenfalls deutlich abzeichneten, um eine besonders vielfältige und spannungsreiche Zeit. Neben der fortdauernden, jedoch schwächer werdenden akademischen Tradition setzten sich neuere Strömungen wie der Impressionismus, der Symbolismus und der Jugendstil durch. Auch fällt die Gründung der Münchner Secession (1892) in diesen Zeitraum. Angesichts der Vielfalt künstlerischer Tendenzen stellt sich die Frage, ob und wie sich die zugewanderten Künstler mit den verschiedenen Kunstrichtungen auseinandersetzten. In den folgenden Abschnitten sollen einige Annäherungsmöglichkeiten an das Thema durchgespielt oder – angesichts des knappen Rahmens – angerissen werden: eine (internationale) historische Sicht, eine soziologisch inspirierte sowie verschiedene kunsthistorische Perspektiven, darunter die klassische der Stilgeschichte und die neuere Methode des Kulturtransfers. München als (Zwischen-)Ziel – Der historische Rahmen Es macht Sinn, vor der Bestimmung des Zielorts zunächst die Verhältnisse des Ausgangspunkts für die (Aus-)Wanderung zu erfassen.10 Die einzige Stadt in den damals von Preußen, Russland und Österreich-Ungarn aufgeteilten polnischen Gebieten, in der man seit den 1870ern einen anerkannten Abschluss als Berufsmaler erwerben
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konnte, war Krakau. Dass es diese Möglichkeit überhaupt gab, ist auf den berühmten Historienmaler Jan Matejko zurückzuführen. Dieser hatte die Ausgliederung der Hochschule der schönen Künste aus der Jagiellonen-Universität, der damals weltweit einzigen polnischsprachigen Universität, vorangetrieben und war zu deren erstem Leiter ernannt worden.11 Als Matejko 1893 starb, bedeutete dies einen starken Einschnitt in die Kunstlandschaft Polens. Von da an dominierte weitgehend die Ästhetik des Symbolisten Jacek Malczewski und es begann die sezessionistische Ära der geistigen Bewegung „Młoda Polska“ („Junges Polen“). Aber erst nach 1900 sollte die unter dem aus München zurückgekehrten Julian Fałat reformierte Krakauer Kunstakademie Studenten aus allen polnischen Regionen anziehen.12 In dieser Hinsicht hatte Krakau zur Zeit der Autonomie Galiziens (1867–1914) als einzige Stadt das Potenzial, zu einem polnischen Kunstzentrum aufzusteigen. Aber trotz seiner historischen Bedeutung als „geistige Hauptstadt Polens“13, die durch die Liberalität der österreichungarischen Regierung gegenüber der polnischen Kultur und Sprache begünstigt wurde, war Krakau aus österreichisch-ungarischer Perspektive nicht mehr als eine Provinzstadt am Rande des Habsburgerreichs. Auch galt die Akademie unter Matejko in den letzten Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende als reaktionär. Fast die Hälfte aller Maler, die in den Jahren 1867 bis 1904 über einen längeren Zeitraum mit dieser Stadt eng verbunden waren, ergänzte ihre Ausbildung durch Studienerfahrungen in München, Wien oder Paris.14 Andrzej Szpakowski sieht die Beweggründe der jungen Künstler dafür im guten Ruf ausländischer Bildungsstätten und in der Möglichkeit, in den Sammlungen der Kunstzentren Alte Meister zu studieren.15 Nicht zuletzt jedoch zeichnete sich Krakau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch durch wirtschaftliche Schwäche aus.16 Daher sind sicherlich auch ökonomische Gründe, wie Eliza Ptaszyńska hervorhebt, für die Bevorzugung Münchens als Ausbildungs- und Wirkungsort durch viele polnische Künstler von Bedeutung.17 Denn entgegen der Situation der Städte im geteilten Polen nahm Münchens Wohlstand am Ende des 19. Jahrhunderts zu und sein Kunstmarkt florierte. Der polnische Maler Marian Trzebiński, der selbst in den 1890er-Jahren in München bei Stanisław Grocholski und Anton Ažbe studierte, erinnert sich Jahrzehnte später: „Es waren dies Zeiten der größten Entwicklungen in der polnischen Kunst, es hatte sich jedoch so ergeben, dass die Kunst nicht in Warschau blühte, das von den Moskauern gewürgt und niedergetrampelt wurde, und auch nicht im kleinen und
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verschlafenen Krakau, sondern hier, in der Fremde, in München, wo es günstige und bequeme Ateliers gab, die Umgebung freundlich und für Polen herzlich, die Verdienstmöglichkeiten größer als in der Heimat, und nicht zuletzt die polnische Kolonie groß und nahezu autark war.“18 Das München der Prinzregentenzeit übte eine große Anziehungskraft auf internationale Künstler aus. Die Ausstellungen im Glaspalast und der Secession, an denen regelmäßig Kunstschaffende aus ganz Europa und den Vereinigten Staaten mitwirkten, erfreuten sich internationaler Aufmerksamkeit. Quellen aus der Zeit zeugen von der ausgeprägten Internationalität innerhalb der Akademie sowie in den Privatateliers.19 Für polnische Künstler spielte bei ihrer Entscheidung für München auch ihre Vorstellung von den Bayern eine Rolle. Polen, die im preußischen Teilungsgebiet von einer starken Germanisierungspraxis betroffen waren, identifizierten sich mit der ausgesprochen preußenkritischen Einstellung der Bayern.20 In Preußen unterlagen überdies polnische Zuwanderer aufgrund der antipolnischen „Abwehrpolitik“ einer rigiden Kontrolle.21 Trzebiński verweist darauf, dass hingegen der bayerische Hof den Polen aus Erinnerung an Teresa Kunigunda, Tochter Jan III. Sobieskis und Ehefrau Max Emanuels, besonders wohlgesonnen gewesen sei. Auch erwähnt er die Toleranz der Bayern. Brandt als einer von drei Polen, deren Werke in der Neuen Pinakothek vertreten waren, habe seine Gemälde mit dem polnischen Zusatz „z Warszawy“ („aus Warschau“) signiert und sie mit der Ortsangabe „Monachium“ („München“) versehen. Dagegen habe man in Russland zeitgleich an die Namen ausgewanderter Polen stets das russische „-skij“ angehängt.22 Zu all dem kam noch die geografische Nähe Münchens zu Polen hinzu, die es gegenüber Paris klar im Vorteil erscheinen ließ. Die Popularisierung Münchens als Kunstzentrum im polnischsprachigen Raum führt Krzysztof Ruminski auf den polnischen Literaten Józef Ignacy Kraszewski zurück, der in den 1860er- und 1870er-Jahren die Münchner Akademie-Heroen Cornelius, Kaulbach und Piloty lobte.23 Als sich die drei bekanntesten polnischen Münchner Brandt, WieruszKowalski und Czachórski etabliert hatten, wurden sie zu wichtigen Anziehungspunkten. Viele Künstler der jüngeren Generation reisten mit Empfehlungsschreiben an. Jan Rosen hatte aus Warschau einen solchen Brief an Brandt dabei, Olga Boznańska aus Krakau einen an Wierusz-Kowalski.24 Ausschlaggebend für die Entscheidung, nach München zu gehen, waren häufig freundschaftliche Beziehungen. Nicht selten reiste man jemandem nach, der in Briefen die Vorzüge der Stadt gelobt hatte.25
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Eine Frage der Zuordnung – Wie können polnische Künstler in München als Gruppe definiert werden? Die hier besprochenen angehenden oder bereits fertig ausgebildeten Künstler kamen aus den großflächigen Gebieten des im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zerteilten Doppelstaates Polen-Litauen, welcher nach der dritten Teilung 1795 vollständig von der politischen Landkarte verschwunden war. Aufgrund dieser historischen Situation kann das Kriterium der Staatsangehörigkeit keine Rolle spielen, wenn es darum geht, eine Gruppenidentität der Zugewanderten festzustellen, so Bobrowska-Jakubowska. Da Polen-Litauen vor den Teilungen ein Vielvölkerstaat gewesen war, könne auch nicht von einer gemeinsamen ethnischen Zugehörigkeit ausgegangen werden. Die Forscherin steckt ihr Untersuchungsfeld in Frankreich ab, indem sie jene dort ansässigen Künstler einbezieht, die sich selbst als Polen bezeichneten, an entsprechenden Ausstellungen teilnahmen oder Mitgliedschaften in bestimmten, sich als polnisch ausgebenden Organisationen innehatten. Dieses „empirische Kriterium“26, wie sie es nennt, wird ebenfalls bereits von Halina Stępień und nachfolgenden Forschern übereinstimmend gebraucht, wenn auch selten thematisiert.27 Aus kunstsoziologischer Sicht werden Künstler des 19. Jahrhunderts zunehmend innerhalb ihrer lokalen und auch internationalen Netzwerke, bestehend aus Kollegen, Händlern und persönlichen Kontakten, untersucht.28 Bei einer solchen Perspektive drängt sich die Frage auf, wie polnische Künstler in München als Gruppe zu definieren sind. In der Forschungsliteratur treten verschiedene Begriffe auf, unter denen sie zusammengefasst werden: Die einen sprechen von einer „Kolonie“29, die anderen von einer „Enklave“30. Weder das eine noch das andere scheint mir zuzutreffen, obschon der Kolonie-Begriff auch unter den Zeitgenossen geläufig war.31 Die Vorstellung einer Künstlerkolonie als einer künstlerischen Gemeinschaft passt gewissermaßen nur auf den Kreis um Józef Brandt in den 1860er- und 1870er-Jahren. Doch auch schon in dieser Kernzeit strömten nicht nur solche polnischen Künstler nach München, die sich, was ihre künstlerischen Interessen betraf, seinem Kreis anschlossen. Die polnischen Künstler waren eine heterogene Gruppe.32 Der Begriff der „Enklave“ erscheint mir hingegen weitgehend unpassend. Zwar berichtet der polnische Maler Jan Rosen von seinem Kollegen Kurella, der es trotz seines 40-jährigen Aufenthalts in München nie gelernt hat, deutsch zu sprechen.33 Gegen die Vorstellung einer solchen sprachlichen und auch kulturellen Geschlossenheit, die der Begriff „Enklave“ impliziert, sprechen jedoch die Aktivitäten polnischer
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Künstler innerhalb der weit gefassten Münchner Kunstszene. Weder hatten die polnischen Akademieprofessoren Brandt, Wierusz-Kowalski und Czachórski nur polnische Studenten, noch studierten junge polnische Künstler allein bei polnischen Professoren. Die Zugezogenen engagierten sich auch außerhalb der polnischen Gruppe. So waren Jan Rosen und Wojciech Kossak zum Beispiel an der Organisation eines Fackelzugs bei den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum der Arbeit des Akademiedirektors Kaulbach im Winter 1873 beteiligt. Jan Rosen unternahm Reisen nach Paris im Rahmen einer Tätigkeit für die Münchner Künstlergenossenschaft. Er war 1893 damit beauftragt worden, die französische Abteilung für die Ausstellung im Glaspalast zu organisieren.34 Dagegen spricht auch zum Beispiel Otolia Gräfin Kraszewskas langjährige Zusammenarbeit mit der Zeitschrift „Jugend“, für die sie im Zeitraum von 1896 bis 1916 regelmäßig Illustrationen beisteuerte. Wie verhält es sich hingegen mit dem „Diaspora“-Begriff? Eine Befragung dieses Begriffs im Zusammenhang polnischer Künstler in München kann eine Annäherung an den Charakter dieser losen Gruppe erleichtern. In der Forschungsliteratur hat sich für die 1795 bis 1918 außerhalb ihres geteilten Staates lebenden Polen der Begriff der „polnischen Diaspora“ etabliert.35 Tatsächlich erfüllen Polen, die im 19. Jahrhundert fern von ihrer ursprünglichen Heimat lebten, im Großen und Ganzen die von William Safran konstatierten Merkmale einer Diaspora: zerstreut an mehrere Orte jenseits ihrer Herkunftsregion, kollektive Erinnerung an ihre Heimat erhaltend, eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Kultur des Gastlands zu wahren suchend, die Perspektive einer finalen Rückkehr weitgehend teilend, sich an die Idee einer Wiederherstellung ihres Heimatstaates hingebend und die Gruppenidentität und Solidarität untereinander auf dem persönlichen Bezug zur Heimat begründend.36 Doch waren sie, abgesehen von einigen an den Aufständen Beteiligten, keine Verbannten. Ihr Selbstverständnis aber war von patriotischem Zusammenhalt geprägt. Polen in München pflegten ihre Herkunftskultur. So gab es in München eine polnisch-tschechische Konditorei, polnische Handwerker, polnische Priester – allen voran den Prälaten Różycki –, polnische Friseursalons, einige Ärzte aus Posen und eine Primadonna der Oper aus Galizien: Irene Abendroth.37 Die Malerin Anna Bilińska, die sich 1882 auf der Durchreise nach Italien einige Tage in München aufhielt, berichtet von einem polnischen Restaurant und vom polnischen Café Union, zudem seien auf Künstlerbällen zu deutscher Musik polnische Tänze getanzt worden.38 Besonders bekannt für seinen Krakowiak war angeblich der Genremaler Franciszek
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Ejsmond, den Otolia Gräfin Kraszewska bei einem Fest im Hause des Kunsthistorikers Bołoz-Antoniewicz in der Schraudolphstraße mit für solche Volkstänze typisch ausgebreiteten Armen verewigte (Abb. 1). Kollektive Auftritte: Eine Palette in „Die Kunst für Alle“, die „Jednodniówka Monachijska“ sowie polnische Abteilungen auf internationalen Kunstausstellungen In gemeinsamen Projekten, die polnische Künstler in München realisierten, offenbaren sich Netzwerke. Es würde sich durchaus lohnen, der Intensität solcher beruflichen Beziehungen genauer nachzuspüren39 und zu untersuchen, ob die Künstler über einzelne gemeinsame Aktivitäten hinaus auch zusammenarbeiteten. Der Intention des vorliegenden Aufsatzes folgend soll hier lediglich eine kleine Auswahl kollektiver Auftritte als „Inseln“ in einem weiteren Untersuchungsfeld vorgestellt werden, ohne dabei zu sehr auf einzelne Teilnehmer einzugehen. 1888 erschien in der populären Zeitschrift „Die Kunst für Alle“ die Abbildung einer Farbpalette, auf der sich einige polnische Münchner mit kleinen malerischen Studien verewigt hatten (Abb. 2).40 Es ist verwunderlich, dass der Herausgeber Friedrich Pecht in seinem kurzen Begleittext von der „Harmonie des Ganzen“ schreibt.41 Zwar ist Pechts Beobachtung in der Tat stimmig in Hinblick auf die malerische Auffassung: So handelt es sich um nach altmeisterlicher Manier „naturgetreu“ dargestellte Motive. Jedoch fallen zwei Sujets aus der Reihe: Am unteren Rand der Palette ist mittig die Büste einer eleganten Dame gemalt. Diese hebt sich von den übrigen, offenbar den typischen Schlachten- und Jagdszenen des Brandt-Kreises entnommenen, wind- und sonnengegerbten Reitergestalten und Männergesichtern ab. Sie harmoniert mit ihrem prächtig gerahmten Dekolleté mit dem üppigen Blumengebinde, das die Mitte der Palette ziert. Möglicherweise stammen die Blumen und das Frauenbildnis von ein und derselben Hand. Und obwohl er unter den Namen der beteiligten Künstler in der Bildunterschrift nicht aufgeführt ist, drängt sich hier der Name Władysław Czachórskis auf.42 Die meisten der acht aufgezählten Maler – ausgenommen Julian Fałat mit einem viel breiteren Themenspektrum, Franciszek Ejsmond, der vorwiegend mit bäuerlichen Genrethemen betraut war, und Szymon Buchbinder, der Maler polnisch-jüdischen Lebens – verfolgten gemeinhin eine ähnliche inhaltliche Strategie wie Józef Brandt, indem sie Kosaken, rasende Pferdewagen und -schlitten, rastende Armee-Einheiten und Trosse, Jäger und Treiber
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Abb. 1: Otolia Kraszewska, „Karnawał u Antoniewiczów“, 1890, Aquarell, Tusche, Gouache und Bleistift auf Papier, 21,2 x 28,3 cm, Muzeum im. Jacka Malczewskiego w Radomiu
Abb. 2: J. A. Rosen, A. von Kowalski, S. Buchbinder, B. von Kleczyński, W. Szerner, F. Ejsmond, J. von Brandt, J. Fałat, „Die Polen in München“, aus: „Die Kunst für Alle“, 1888, H. 4, o. S.
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eindrucksvoll ins Bild setzten. Vornehme Damen und Blumenstillleben gehörten hingegen zu den Hauptsujets des Akademieprofessors Czachórski und der Gräfin Otolia Kraszewska. Unabhängig von Fragen der Zuschreibung aber zeigt sich an diesem Beispiel einer Zusammenarbeit verschiedener Künstler erneut, dass Brandt, der zu diesem Zeitpunkt ein hohes Ansehen hatte, durchaus nicht für alle polnischen Künstler eine Leitfigur war. Ein noch stärker differenziertes Bild von der polnischen Kunstszene in München vermittelt die rund zehn Jahre später erschienene „Jednodniówka Monachijska“ („Münchner Eintagszeitung“; Abb. 3). Daraus sei ein Blatt ausgewählt, das ähnlich wie die zuvor besprochene Palette mehrere Künstler auf einer Seite vereinigte. Versammelt sind hier Beiträge von Künstlern der jüngeren Generation, so zum Beispiel Alfred Wierusz-Kowalskis Sohn Karol mit einem Pferdeschlittenmotiv nach Art seines Vaters. Bildhauerei, polnische Folklore, Studium nach Alten Meistern, eine Reflexion der eigenen Arbeit vor der Leinwand, ein Hauch von Symbolismus in der Ballerina im Elfenkostüm, bäuerlicher Realismus, Porträtmalerei – gezeigt wurde ein bunter Querschnitt der Kunst polnischer Münchner kurz vor der Jahrhundertwende. In der Mitte prangt eine humoristische Verbildlichung des bekannten „Młoda Polska“Gedichts „Eviva l’arte!“ (1894)43 von Kazimierz Przerwa-Tetmajer über das brotlose Künstlerdasein und die alles überragende Bedeutung der Kunst von der Hand des „Jugend“-Illustrators Teofil Terlecki. Terleckis grafische Interpretation des Themas ist auf das Münchner Umfeld gemünzt, worauf der Bierkrug in der Hand der Hauptfigur hinweist. Der Wille zur nationalen Gruppenbildung verdeutlicht sich auch in den Versuchen polnischer Künstler, auf internationalen Kunstausstellungen eigene Landesabteilungen durchzusetzen. Ein erstes Mal war dies 1891 – allerdings in Berlin – gelungen. Georg Leo von Caprivi, Bismarck-Nachfolger seit 1890, pflegte ein versöhnliches Verhältnis zu den Polen, was einen solchen Auftritt begünstigte.44 Die Initiative war von Łucjan Wrotnowski, dem damaligen stellvertretenden Vorstand des Warschauer Kunstvereins „Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych“ ausgegangen. Die meisten der teilnehmenden Künstler stammten aus Warschau und aus München.45 Warum also hatte keine der Münchner Internationalen Kunstausstellungen den Vortritt? Eine für die Beantwortung dieser Frage ganz wesentliche Quelle ist ein 1876 erschienener Artikel in der Zeitschrift „Tygodnik Ilustrowany“. Darin empört sich der Autor Michał Wołowski über die Ignoranz polnischer Künstler in München, denen er das
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Abb. 3: W. Turquier, Marian Trzebiński, Emil Jasiński, F. Wygrzywalski, T. Terlecki, Leon Kaufman, Markowicz, Józef Wodziński, Karol Wierusz Kowalski, Ohne Titel („Eviva l’arte!“), aus: „Jednodniówka Monachijska“, 1897, S. 29
Projekt einer polnischen Abteilung vorgeschlagen hätte. Dieses wurde mit folgenden Gegenargumenten abgelehnt: 1., dass die Bilder umgeben von internationalen Werken besser wirkten; 2., dass man dem Gastland oder der Gaststadt verpflichtet sei, in ihrer Abteilung auszustellen; 3., dass man die Reaktion der jeweiligen Teilungsmacht fürchte, deren Staatsangehöriger man sei.46 Die von Wołowski diagnostizierte „Trägheit“ scheint sich Punkt 1 und 2 zufolge daraus zu erklären, dass sich die von ihm angesprochenen Polen in die internationale Kunstszene Münchens einzugliedern versuchten. Was für ein Gewicht Punkt 3 hatte, ist aus heutiger Sicht schwer einzuschätzen. 1892 und 1893 folgten erst nach der Berliner Premiere und ebenfalls auf Initiative des Warschauers Wrotnowski die ersten polnischen Abteilungen im Glaspalast. Da es keine Genehmigung dafür gab, den Saal mit der Überschrift „Polen“ zu versehen, wich man auf Begleitzettel aus, die die Teilnahme polnischer Künstler an der Ausstellung bezeugten.47 Bei der Eröffnung der ersten polnischen Abteilung im Glaspalast 1892 wurde die künftige polnische Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren ...“ gespielt, was zu Missstimmungen insbesondere bei der russischen Teilungsmacht führte. Wrotnowski indessen erhielt für seine Bemühungen einen Orden vom bayerischen König.48 Patriotische Kunst vs. „Einfließen“ in die modernen internationalen Strömungen Seit in den 1850er-Jahren die drei großen polnischen romantischen Dichter Słowacki, Mickiewicz und Krasiński gestorben waren, hatten sich die Maler der nationalen Kunst angenommen. Künstler wie Matejko und Grottger arbeiteten inspiriert von der patriotischen polnischen Literatur. Münchner Maler wie Brandt, Wierusz-Kowalski, Rosen und Kochanowski widmeten sich Szenen des 17. Jahrhunderts aus dem östlichen Grenzland des einstigen Polen-Litauen („kresy“) sowie Genreszenen und Landstrichen der polnischen Provinz. Anders als deutsche Historienmaler hatten die Polen dabei keine höfischen Auftraggeber. Vielmehr entwickelten sie selbst in ihren Bildern ein verklärtes Erinnerungsbild der von ihnen verlassenen Heimat. Hier lassen sich Übereinstimmungen zu den Erinnerungskulturen und -bildern von Diaspora schlechthin finden.49 Dieter Langewiesche identifizierte das „Territorium“ als entscheidendes gemeinsames Denkbild, auf das die staatenlosen Polen ihr Nationalbewusstsein projizieren konnten. Auf einer solchen Grundlage habe dieses auch außerstaatlich überdauern können.50 Eine solche Interpretation harmoniert auch mit dem Interesse der polnischen Maler des Brandt-Kreises an ihren kargen heimischen Land-
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schaften. Obwohl gerade die demonstrative Heimatdarstellung in den polnischen Genrebildern für ein deutsches Publikum anziehend war und zu guten Verkaufszahlen führte,51 wandten sich Maler dieser älteren Generation durchaus auch anderen Themen zu, was das Beispiel des Salonmalers Czachórski offenbart. In den letzten zwei Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende wandelte sich vor dem Hintergrund einer Zeit, in der sich für die bildenden Künste zunehmend der Schwerpunkt von inhaltlichen zu formalen Fragen verlagerte,52 auch die Kunst der polnischen Münchner. Aleksander Gierymski erhielt in München für seine auf malerische Qualitäten ausgerichtete nächtliche Darstellung vom Wittelsbacher Platz (1890) eine Goldmedaille. Maler der jüngeren Generation wie Władysław Wankie oder Olga Boznańska ließen sich von Leibls Realismus inspirieren oder gingen ganz in den Entwicklungen europäischer Sezessionen der damaligen Zeit auf, die sie auf den internationalen Ausstellungen im Glaspalast und später auch in der Münchner Secession studierten. Die jüngeren Künstler bildeten sich häufig in den Privatateliers von Ažbe, Grocholski-Szymanowski oder Simon Hollósy aus. Birgit Jooss fasst die Stimmung innerhalb der polnischen Gruppe, als das 19. Jahrhundert allmählich zur Neige ging, in treffende Worte: Spannungen zwischen „patriotischer“ und „kosmopolitischer“ Einstellung seien für jene bestimmend gewesen.53 Künstlerischer Austausch In der Slawistik stieß bereits in den 1950er-Jahren Eduard Winter unter dem Schlagwort der „deutsch-slawischen Wechselseitigkeit“ Forschungen über den Austausch zwischen diesen benachbarten Kulturen an.54 Mitte der 1980er ging aus dem Kontext der deutsch-französischen Beziehungen mit Einfluss auf andere Disziplinen die Perspektive der „transferts culturels“ hervor.55 Auch die aktuelle Kunstgeschichtsschreibung sucht auf ihrem Untersuchungsgebiet, in der Bildproduktion auf inhaltlicher und/oder formaler Ebene nach „Hybriditäten“.56 Die Forschung zur 1860 bis 1880 besonders stark ausgeprägten „patriotischen“ Ader der Malerei polnischer Münchner deutet diese als Synthese der Malweise der Nazarener und der realistischen Tendenzen der Münchner Akademie mit polnischen Themen.57 Dieses spezifische Genre strahlte auch in den weiteren Umkreis der Münchner Kunstszene aus. Brandt, der das „Nahbild“ aus der Tiermalerei von Anton Braith für die Schlachtenmalerei adaptiert hatte, führte dieses im Umfeld von Franz Adams Schule ein, deren Führung er in den 1860er-Jahren allmählich übernahm.58 Ein anderes Übertragungsphänomen lässt
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sich in der „Młoda Polska“-Bewegung im Krakau der 1890er-Jahre beobachten. Man hatte schon lange in polnischen Zeitschriften wie „Tygodnik Ilustrowany“, „Kłosy“ oder „Wędrowice“ die künstlerischen Aktivitäten der Landsleute im Ausland mitverfolgt. „Młoda Polska“ wollte nun einerseits die polnische Kunst stärker noch auf den nationalen Freiheitskampf ausrichten, andererseits ging es ihr aber auch um eine Umwälzung der polnischen Kulturlandschaft, und zwar frei nach dem Vorbild der Münchner und der Wiener Secession.59 Ausblick Auch wenn das vorurteilsbeladene Bild vom polnischen Maler, dessen Atelier mit einer Sammlung historischer Requisiten verstellt war, noch nach der Jahrhundertwende in München verbreitet war,60 so lassen sich seit den 1860er-Jahren Divergenzen innerhalb der Gruppe polnischer Münchner feststellen, die sich in den letzten zwei Dezennien des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss neu aufgekeimter Strömungen, wie Jugendstil, Symbolismus und Tonalismus, sichtlich verschärfen. Perspektiven, die sich den Verknüpfungen von künstlerischem Wirken und Migration widmen, erlauben es, wie Halina Stępień dies im Falle der polnischen Münchner demonstrierte, verschiedene schöpferische Individuen aufgrund einer ähnlichen biografischen Situation miteinander zu verbinden. Daraus gehen Erkenntnisse über deren Vernetzungen untereinander hervor, aber auch über ihr Verhältnis zum weitergefassten kulturellen Umfeld des Gastorts. Stępień betont dabei die „polnische“ Seite der Einflüsse und verwehrt sich dagegen, die polnischen Münchner als „Emigranten“ zu betrachten, auch diejenigen, die ihren Hauptwohnsitz bis an ihr Lebensende nicht mehr in ihre heimatlichen Gefilde verlagern sollten.61 Dennoch lohnt es sich durchaus, den Blick zu weiten und die ab den 1880ern zugezogenen Polen stärker noch vor dem Hintergrund der damals in München zunehmend populären internationalen Kunstrichtungen zu verstehen.62 1 | Jochen Oltmer: Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 62. 2 | Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; ders. und Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, 5. Aufl. München 2012, S. 15. 3 | Penelope Curtis: Foreword, in: Migrations, hg. v. Lizzie Carey-Thomas, Ausst.-Kat. Tate Britain, London, London 2012, S. 8–9, hier S. 8. 4 | Emma Chambers: Dialogues between Britain, France and America, in: Carey-Thomas 2012 (wie Anm. 3), S. 40–42. 5 | Vgl. 200 Jahre Akademie der Bildenden Künste München. Kein bestimmter Lehrplan, kein gleichförmi-
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ger Mechanismus, hg. v. Nikolaus Gerhart, Walter Grasskamp und Florian Matzner, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München, München 2008; Christian Fuhrmeister, Hubertus Kohle und Veerle Thielemans (Hg.): American Artists in Munich. Artistic Migration and Cultural Exchange Processes, München 2009. 6 | Halina Stępień: Artyści polscy w środowisku monachijskim w latach 1828–1855, Warschau 1990; dies. und Maria Liczbińska: Artyści polscy w środowisku monachijskim w latach 1828–1914. Materiały źródłowe, Warschau 1994; dies.: Artyści polscy w środowisku monachijskim w latach 1856–1914, Warschau 2003. 7 | Hans-Peter Bühler: Jäger, Kosaken und polnische Reiter. Josef von Brandt, Alfred von Wierusz-Kowalski, Franz Roubaud und der Münchner Polenkreis, Hildesheim u.a. 1993; Irena Olchowska-Schmidt: Józef Brandt, Krakau 1996; Andrzej Szpakowski: Józef Brandt a środowisko polskich artystów w Monachium, in: Rocznik Muzeum Swiętokrzyskiego, Bd. 2, 1964, S. 273–332. 8 | Vgl. Oltmer 2010 (wie Anm. 1), S. 78. 9 | Adam Walaszek, Polska diaspora, in: ders. und Danuta Bartkowiak (Hg.): Polska diaspora, Krakau 2001, S. 7–29, hier S. 9. 10 | Vgl. hierzu die drei Aufgaben der Historischen Migrationsforschung nach Klaus J. Bade: Historische Migrationsforschung, in: ders.: Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004, S.27–48, hier S. 35 f. 11 | Krzysztof Ruminski: Bildende Kunst, Politik und Geschichtsbewußtsein in Polen. Ein Beitrag zur Erforschung der nationalen Identität Polens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1998, S. 136. 12 | Irena Homola: „Kwiat społeczeństwa ...“ Struktura społeczna i zarys położenia inteligencji krakowskiej w latach 1860–1914, Krakau 1984, S. 327. 13 | Jacek Purchla: Wien – Krakau im 19. Jahrhundert. Zwei Studien über die österreichisch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1866–1914, Wien [1988], S. 14 ff. 14 | Jacek Purchla: Krakau. Mitten in Europa, Krakau 2003 [übersetzt von Stanisław Dzida], S. 330. 15 | Szpakowski 1964 (wie Anm. 7), S. 277. 16 | Purchla 2003 (wie Anm. 14), S. 154. 17 | Eliza Ptaszyńska: Do Monachium, in: Malarze polscy w Monachium, Ausst.-Kat. Muzeum Okręgowe w Suwałkach, Suwalken 2005, S. 7–12, hier S. 9. 18 | „[...] Były to czasy największego rozwoju sztuki polskiej, a tak się złożyło, że sztuka kwitła nie w Warszawie zduszonej i zdeptanej przez Moskali ani w małym i śpiącym Krakowie, lecz tu, na obczyźnie, w Monachium, gdzie były tanie i wygodne pracownie, otoczenie miłe a dla Polakow życzliwe, możność zarobkowania większa niż w kraju, wreszcie kolonia polska duża i prawie samowystarczalna. [...]“ Marian Trzebiński: Pamiętnik malarza, hg. v. Maciej Masłowski, Breslau 1958, S. 70 [die Übersetzungen von Originalzitaten stammen, sofern nicht anders vermerkt, von der Verfasserin des vorliegenden Beitrags]. 19 | Siehe hierzu Ekkehard Mai: Die deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert. Künstlerausbildung zwischen Tradition und Avantgarde, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 385. 20 | Marcin Samlicki: Olga Boznańska, in: Sztuki Piękne, Jg. II, 1925, H. 3; zit. nach einem maschinenschriftl. Manuskript in der Bibliothèque Polonaise, Paris, BPP 1745, S. 3. 21 | Oltmer 2010 (wie Anm. 1), S. 33. 22 | Trzebiński 1958 (wie Anm. 18), S. 77 und S. 58 f. 23 | Ruminski 1998 (wie Anm. 11), S. 48. 24 | Jan Rosen: Wspomnienia. 1860–1925, transkribiert [„spisała“] von Anna Leo, Warschau 1933, S. 28; Eliza Ptaszyńska: Alfred Wierusz-Kowalski 1849–1915, Warschau 2011, S. 118. 25 | Halina Stępień: Polscy artyści w Królewskiej Akademii Sztuk Pięknych i w pracowniach prywatnych w Monachium w latach 1828–1914 w świetle archiwaliów monachijskich, in: Mieczysław Morka und Piotr Paszkiewicz (Hg.): Między Polską a światem. Od średniowiecza po lata II wojny światowej, Warschau 1993, S. 200–216, hier S. 203; Ptaszyńska 2005 (wie Anm. 17), S. 10. 26 | Ewa Bobrowska-Jakubowska: Artyści polscy we Francji w latach 1890–1918. Wspólnoty i indywidualności, Warschau 2004, S. 13. 27 | Vgl. hierzu Piotr Paszkiewicz: Kilka słów wstępu, in: Morka/Paszkiewicz 1993 (wie Anm. 25), S. 7–9, hier S. 8. 28 | Deborah Cherry und Janice Helland: Local places/global spaces: new narratives of women’s art in the
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nineteenth century, in: dies. (Hg.): Local/Global: Women artists in the Nineteenth Century, Ashgate 2006, S. 1–14, hier S. 6. 29 | Jerzy Malinowski: Malarstwo polskie XIX wieku, Warschau 2003, S. 27; Ruminski 1998 (wie Anm. 11), S. 34. 30 | Stępień 1990 (wie Anm. 6), S. 33. 31 | Friedrich Pecht: Unsere Bilder, in: Die Kunst für Alle, 1888, H. 4, S. 62; Trzebiński 1958 (wie Anm. 18), S. 79. 32 | Stępień 1994 (wie Anm. 6), S. 106 f.; Stępień 2003 (wie Anm. 6), S. 66. 33 | Rosen 1933 (wie Anm. 24), S. 27. Auch Trzebiński bestätigt die Behauptung, dass es möglich gewesen sei, als Pole jahrelang ohne Deutschkenntnisse in München auszukommen. Vgl. Trzebiński 1958 (wie Anm. 21), S. 71. 34 | Rosen 1933 (wie Anm. 24), S. 35 und S. 162. 35 | Walaszek 2001 (wie Anm. 9), S. 8. 36 | Vgl. William Safran: Diasporas in Modern Societies: Myths of Homeland and Return. In: Diaspora: A Journal of Transnational Studies, Jg. 1, 1991, H. 1, S. 83–99, hier S. 83. 37 | Trzebiński 1958 (wie Anm. 18), S. 71. 38 | Antoni Bohdanowicz: Anna Bilińska. Kobieta, polka i artystka. W świetle jej dziennika i recenzyj wszechświatowej prasy, Warschau 1928, S. 151 f. 39 | Zur Notwendigkeit der Ausdifferenzierung von Netzwerken siehe Göran Therborn: Globalizations: Dimensions, Historical Waves, Regional Effects, Normative Governance, in: International Sociology, 2000, H. 15, S. 151–179, hier S. 154; Osterhammel/Petersson 2012 (wie Anm. 2), S. 48. 40 | Hans-Peter Bühler erwähnt außer der hier besprochenen Palette zwei Kunstfächer, entstanden um 1900, die von Münchner Künstlern verschiedener Nationalitäten gemeinsam bemalt wurden, vgl. Bühler 1993 (wie Anm. 7), S. 32. 41 | Pecht 1888 (wie Anm. 31), S. 62. 42 | Das Gesicht der hier Dargestellten ähnelt stark jenem von Czachórskis „Dame am Fenster“, einem auf ca. 1875 zu datierenden Gemälde, das sich im Nationalmuseum in Posen befindet. Leider lässt sich die Signatur rechts unterhalb des Damenporträts aufgrund der schlechten Reproduktion in der Zeitschrift nicht gut genug entziffern, um eine Zuschreibung dadurch bestätigen zu können. 43 | Kazimierz Tetmajer: Poezye. Serya II, Krakau 1894, S. 35 f. 44 | Trzebiński 1958 (wie Anm. 18), S. 216. 45 | Janina Wiercińska: Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych w Warszawie. Zarys działalności, Breslau/ Warschau/Krakau 1968, S. 35 f. 46 | Zit. nach Wiercińska 1968 (wie Anm. 45), S. 34 f. 47 | Trzebiński 1958 (wie Anm. 18), S. 216. 48 | Wiercińska 1968 (wie Anm. 45), S. 36. 49 | Zur Erinnerungskultur von Diaspora siehe Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität., Hamburg 1994 (Ausgewählte Schriften 2 [übersetzt von Ulrich Mehlem u. a.]), S. 26–43, hier S. 28. 50 | Dieter Langewiesche: ‚Nation‘, ‚Nationalismus‘, ‚Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: ders. und Georg Schmidt (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 9–30, hier S. 19. 51 | Helmut Heß: Der Kunstverlag Franz Hanfstaengl und die frühe fotografische Kunstreproduktion. Das Kunstwerk und sein Abbild, Phil. Diss. München 1999, S. 71. 52 | Siehe hierzu Frank Büttner: Aufstieg und Fall der Geschichtsmalerei. Gattungsgeschichte und Gattungstheorie in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, in: Wojciech Bałus und Barbara Ciciora (Hg.): Die Meister Matejkos, Grottgers, der Gebrüder Gierymski ... Münchner Geschichtsmalerei des 19. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Nationalmuseum in Krakau; Museen der Stadt Bamberg, Krakau 2007, S. 13–36, hier S. 34. 53 | Birgit Jooss: Akademia Sztuk Pięknych i Kunstverein w Monachium w XIX wieku, in: Zbigniew Fałtynowicz und Eliza Ptaszyńska (Hg.): Malarze polscy w Monachium. Studia i szkice, Suwalken 2007, S. 13–19, hier S. 16.
Marta Koscielniak | MIGRATION POLNISCHER KÜNSTLER IM 19. JAHRHUNDERT
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54 | Hans Holm Bielfeldt: Eduard Winter zu seinem 60. Geburtstag, in: ders. (Hg.), Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1956, o. S. 55 | Matthias Middel: Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontexten, in: Andrea Langer und Georg Michels (Hg.): Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien, Stuttgart 2001, S. 15–64, hier S. 15. 56 | Christian Fuhrmeister und Veerle Thielemans: Introduction, in: Fuhrmeister/Kohle/Thielemans 2009 (wie Anm. 5), S. 7–14, hier S. 7. 57 | Wolfgang Cortjaens: Allianzen und Begegnungen – Russland, Polen und das Baltikum, in: Bernhard Maaz und Nina Schleif (Hg.): Blicke auf Europa. Europa und die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Palais des Beaux-Arts, Brüssel, Ostfildern 2007, S. 169–191, hier S. 170; Jan Ostrowski: Die polnische Malerei vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn der Moderne, München 1989, S. 60. 58 | Bühler 1993 (wie Anm. 7), S. 28, 26. 59 | Ruminski 1998 (wie Anm. 11), S. 138. 60 | Franz Hessel: Der Kramladen des Glücks, Frankfurt am Main 1983, S. 153 f. 61 | Vgl. Stępień 2003 (wie Anm. 6), S. 11. 62 | Ein ähnliches Anliegen artikulierte sich kürzlich in der Ausstellung „Hammershøi und Europa“ in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München; Hammershøi und Europa. Ein dänischer Künstler um 1900, hg. v. Kasper Monrad, Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, München u.a. 2012.
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Zuzana Biľová
GEMÄLDE IM RAUM. DER EINFLUSS DER MIGRATORISCHEN ERFAHRUNG AUF DIE ARBEIT DES TSCHECHISCHEN KÜNSTLERS JAN KOTÍK IN BERLIN WÄHREND DES KALTEN KRIEGES
In welchem Zusammenhang könnten Migration und/oder Exil mit künstlerischer Produktion stehen? Kann Migration wirklich ein Movens für einen Künstler sein und ihn nicht nur thematisch und motivisch, sondern auch konzeptuell und theoretisch in seinen Arbeiten beeinflussen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Tagung „Migration und künstlerische Produktion“, die 2012 am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfand und deren Beiträge in diesem Sammelband aufgeführt sind. Diese Fragen bilden zugleich den Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags über den tschechischen Emigranten Jan Kotík (1916–2002), der ab 1969 in Berlin1 leben musste. Jan Kotík war ein äußerst produktiver Künstler, erhalten ist ein umfangreiches Œuvre. Es ist jedoch nicht Ziel dieses Beitrags, sein umfassendes Werk zu analysieren, vielmehr konzentriert sich folgende Abhandlung auf den Aspekt der Migration2 in seinen Arbeiten aus den 1970er-Jahren. Auf der Grundlage ausgewählter Beispiele untersuche ich die Auswirkung der migratorischen Erfahrung auf seine künstlerische Produktion. Um den Zusammenhang mit Kotíks Gesamtwerk besser herauszustellen, werde ich auch einige Arbeiten aus den 1960er-Jahren beschreiben. Im Leben von Jan Kotík gab es mehrere Ereignisse, die seine künstlerischen Arbeiten beeinflussten. Geboren 1916 als Sohn des etablierten Künstlers Pravoslav Kotík (1889–1970), machte er zwei Weltkriege durch. Kotík war auch von zwei Ausstellungsverboten von verschiedenen Regierungen betroffen, einmal durch das Regime der Nationalsozialisten und ein zweites Mal durch das der Kommunisten. Nach dem Tod Stalins (1953) wurde die Situation in der damaligen Tschechoslowakei langsam liberaler,3 was Kotík ermöglichte, sich wieder in der Kunstszene zu beteiligen. Doch bald folgte ein weiterer Rückschlag, die militärische Besetzung von Prag im Jahr 1968: „Er [Kotík] sah nach dem August 1968 keine Möglichkeit mehr, eine weitere Eiszeit
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durchzuhalten […].“4 In dieser fatalen Situation erreichte ihn die Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) zu einem einjährigen Künstler-Aufenthalt in West-Berlin. Nach Ablauf des Stipendiums entschied sich Kotík aufgrund der ungünstigen politischen Situation in seinem Heimatland dazu, zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Ruth zu emigrieren und blieb in Berlin.5 Mehrere Publikationen datieren seine Übersiedlung6 nach Berlin schon auf Ende 1969, obwohl er das Stipendium erst 1970 erhielt.7 Kotík selbst wollte sich nicht als Emigrant verstehen. In seiner Veröffentlichung „Konsum und Verbrauch“ von 1974 beschreibt er seine politisch motivierte Auswanderung immer noch als „Aufenthalt[s] in West-Berlin“8, obwohl er schon ein Jahr zuvor die tschechische Staatsbürgerschaft offiziell verloren hatte. Während es in Kotíks Leben zahlreiche ihn beeinflussende Ereignisse und Impulse gab, verursachte gerade die Emigration nach West-Berlin einen markanten Wandel in seiner künstlerischen Produktion. Insbesondere entfalteten sich seine Gemälde in den Raum hinein. Die Belastung der Emigration kann man bei der positiven Entwicklung in seinen Arbeiten nicht spüren. Obwohl bereits in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahr, wurde Kotík aus der ihm vertrauten Umgebung herausgerissen und gezwungen, seine Familie, Bekannten, guten Freunde, seine sozialen und kulturellen Netzwerke hinter sich zu lassen. Zudem hat die Emigration Kotíks weiteres Leben eher verkompliziert als vereinfacht.9 Kotíks Situation in der neuen Gastheimat beschreibt der Kunsthistoriker Arsén Pohribný in dem Katalog zu Kotíks Ausstellung „Arbeiten 1970–1978“ wie folgt: „Die ersten Exiljahre nach 1969 bedeuten für Kotík eine Zeit der Prüfungen, Verluste und Zweifel […].“10 Ursächlich für diesen Zustand waren nicht nur ökonomische Schwierigkeiten, sondern auch ein Mangel an sozialen Kontakten und der Verlust der Heimat. Überlegungen zur Bedeutung der Heimat bietet ein Beitrag von einem weiteren tschechischen Emigranten, Peter Spielmann, in dem 1986 erschienenen Ausstellungskatalog „Das andere Land“11: „Das Reisen, Wandern, Weggehen von zuhause und anderswo Erfahrungen sammeln gehörte von jeher zu den menschlichen Träumen. Das ausgestoßen werden, verbannt, vertrieben sein, Exil und Emigration gehören von jeher zum menschlichen Schicksal. Der Unterschied liegt darin, dass man beim Wandern aus eigener Entscheidung von Zuhause weggeht in ein Traumland oder eine Traumstadt, in der man die Möglichkeit sieht, etwas Eigenes zu realisieren. Man kann aber, wenn man enttäuscht ist, zurückkehren. […] [bei Emigranten ist] die Heimat, aus der sie verbannt wurden, […] dann der Gegenstand des Traumes, sie ist das verlorene Paradies.“12
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Dass die Heimat und die Vorstellung über die Heimat bei Migranten in einer Art Fantasiewelt existieren, vertritt auch Arjun Appadurai in seiner These über globale ethnische Räume.13 Neue reale Räume und unbekannte Räume bilden sich im Leben des Migranten, und dies scheint eine wichtige Erfahrung zu sein. In Kotíks Leben entfalteten sich zweierlei Räume, neue reale Räume, die sich ihm in West-Berlin eröffneten, und auch eine eigene, künstlerische Ebene des Raums. Beide sind miteinander verwoben. Heimat gehörte dagegen für ihn zu den idealen, ungreifbaren Räumen und wurde nicht thematisch in sein Werk eingeschlossen. Entstehung von Räumen „Raum und Zeit gehören zu den Dimensionen, die unser Leben, Denken und Handeln elementar bestimmen.“14 Die Formung von eigenständigen kulturellen, sozialen oder ästhetischen Räumen erregte das Interesse der Theoretiker im deutschsprachigen Raum erst seit Mitte der 1980er-Jahre.15 Die gedanklichen Fundamente dafür waren aber schon über ein Jahrzehnt zuvor gelegt worden. 1967 wurde Michel Foucaults Aufsatz „Andere Räume“16 veröffentlicht, in welchem er behauptet, dass wir in einer Epoche des Raums leben. Zuvor, 1963, hatte Otto Friedrich Bollnow über den Einfluss von Räumen auf das menschliche Leben und Verhalten geschrieben.17 Die Beschäftigung mit Räumen stieg auch in künstlerischen Kreisen. In der Kunst verwandeln sich Ausstellungsräume in Handlungs- und Erfahrungsräume (Happening, Performance, Installation, Konzeptkunst), weiterhin suchen Künstler neue Raumformen und Ortsbezüge18 (Land Art, Minimal Art). „Für die bildende Kunst sind Räume […] Plattformen, die auf mannigfache Darstellungsarten zu unterschiedlichen Wirkungen bzw. Aussagen gelangen und die auch in der Gegenwartkunst häufig einen kritischen Zeitbezug haben.“19 Was Raum für Kotík bedeutete? Er war ein „Intellektueller par excellence“, wie ihn der bedeutende tschechische Kunsthistoriker und Künstler Jiří Valoch nannte.20 Trotz seiner Isolation in der ČSSR war Kotík über die aktuellen Tendenzen in der westlichen Kunstwelt informiert. Ob ihm die zuvor genannte westliche Diskussion über Räume bewusst war, lässt sich nicht nachweisen. Andererseits beweisen Kotíks Prager Arbeiten, parallel zu dieser Raumwahrnehmungs-Diskussion der westlichen Kunstwelt, dass er sich mit dem Raum nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch auseinandersetzte. Seine Befragung des Raums geht aus dem Bild hervor. Am Anfang seiner Interessen für den Raum steht das Bild. Zuerst bearbeitet er den
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Abb. 1: Jan Kotík, Flächen und Formen im Raum, 1964, Öl, synthetische Farbe, Leinwand, Holz, Karton, 127 x 143,5 x 16 cm, Národní galerie v Praze, Prag, Inv. č. O12151
Abb. 2: In der Mitte des Ausstellungsraums „Výstavní síň Mánes“ in Prag ist im Rahmen der Ausstellung „Jan Kotík: 1939–1968“ das „Gemälde im Raum I.“ (1963) auf einem Sockel ausgestellt (heutiger Aufbewahrungsort des Gemäldes unbekannt)
Bildraum und versucht Dreidimensionalität zu erzeugen. Solche Experimente mit dem Bildraum waren in der ČSSR einzigartig und originell. Dabei widersprachen sie den Kriterien des sozialistischen Realismus. Dabei wurde alles, was nicht unter diese Doktrin passte, abgelehnt.21 In Prag entstand, neben einigen Collagen22, die schon Anfang der 1960er-Jahre die Fläche des Bildes in ein Relief erweiterten, die Arbeit „Flächen und Formen im Raum“ (1964, Abb. 1). In dieser Arbeit beugt sich die Fläche des Gemäldes im oberen Bereich nach vorne, und unten steht aus dem Rahmen eine Rolle hervor. Bestandteil dieses Gemäldes ist auch der Schatten, der in Kotíks späterem Werk noch eine wichtige Rolle spielen wird. Zugleich ist dies ein erster Versuch, das Gemälde vom rechteckigen Rahmen zu befreien und in den Raum zu entwickeln. Diesem ersten Versuch folgte eine ganze Serie von Arbeiten, die das Bild in den Raum hinein erweitern. In der Serie „Gemälde im Raum I.–IV.“23 (1963–1965) verweisen nur noch die Leinwände und Farbstriche im Stil des Abstrakten Expressionismus auf ein klassisches Gemälde. Die Form dieser Arbeiten erinnert eher an organische Zellen als an ein Bild. Aus dieser Serie war das „Gemälde im Raum I.“ (1963, Abb. 2) in der Ausstellung „Jan Kotík: 1939–1968“24 in Prag in der Mitte eines Raums wie eine Plastik auf einem Sockel ausgestellt. Die liberale Situation, die während des Prager Frühlings herrschte, ermöglichte es, eine solche Ausstellung mit experimentellen Werken in Prag zu realisieren. Kotík bewies bei dieser Ausstellung, dass man ein Gemälde in ein Objekt transformieren kann. Dabei versucht Kotík dem Gemälde selbst eine dritte Dimension hinzuzufügen. Nach der Emigration änderte sich dieses Ziel. Seine Gedanken über die dritte Dimension, den Raum und das Gemälde veröffentlichte Kotík noch in Prag. 1966 erschien ein Artikel in der Zeitung „Výtvarná Práce“,25 in dem sich Kotík wie folgt äußerte: „Wenn die Malerei eine Fläche von zwei Dimensionen plus Zeit ist, dann muss sie ebenso real die dritte Dimension beherrschen, wie sie die zwei Dimensionen der Fläche und ihre Artikulation gemeistert hat, indem sie das Format in die Summe der (bildnerischen) Ausdrucksmittel eingliederte: sie kann der Fläche eine reale dritte Dimension hinzufügen, indem es ihr möglich gemacht wird, sich in den (inneren und äußeren) Raum hinein zu entfalten.“26 Mit dem Thema Raum setzte sich Kotík nicht nur in seinen Arbeiten auseinander, sondern er beschäftigte sich damit auch auf theoretischer Ebene. Dass Kotík seine Arbeiten auf breiten theoretischen Grundlagen stützt, belegt auch seine weitere Arbeit „Anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaes Tulp“27 (1966), die mit ihren
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Formen an das „Gemälde im Raum I.“ erinnert. Dieses 56 cm breite, 180 cm hohe und 24 cm tiefe Objekt ist eine Referenz auf Rembrandts „Die Anatomie des Dr. Tulp“ aus dem Jahr 1632. Auf einer Ausstellung in Stockholm 196828 wurde das Werk auf einem Sockel liegend wie ein Leichnam auf einem Tisch ausgestellt. Im Falle beider genannter Beispiele – „Anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaes Tulp“ und „Gemälde im Raum“ – wurden die Arbeiten zwar vom klassischen Bildraum befreit, aber der Sockel, der die experimentellen Werke wiederum in traditioneller Präsentationsform als Plastiken identifiziert, blieb. Kotíks Bemühungen, ein Gemälde sich vollständig im Raum entfalten zu lassen, erzielten beim darauffolgenden Versuch weitere Vorschritte. Bei seiner Arbeit „Räumliche Gemälde“29 (1968) verzichtete er bereits auf den Sockel. Im Jahr seiner Emigration, 1969, bezeichnete er Arbeiten dieser Art schon als „Objekte“.30 West-Berlin Mit Kotíks in Prag entstandenen Arbeiten „Gemälde im Raum I.–IV.“ beginnt die Entfaltung seiner Werke in den dreidimensionalen Raum. Nicht nur solche Räume ergaben sich aber in Kotíks Leben, nach seiner Emigration bildeten sich noch weitere, neue. Wir leben nicht in einem Vakuum, alles um uns herum ist unser Umfeld31 – und West-Berlin wurde zum neuen Umfeld für Kotík. Obwohl Deutschland nicht zu Kotíks Wunschzielen gehörte, floh er nicht weiter, etwa in die Kunstmetropole Paris oder nach Italien. Warum mag er geblieben sein? Antwort bietet das erste Hilfsnetz, das ihn in der Fremde aufgefangen hatte: der DAAD. Mit dem Akademischen Austauschdienst kamen mehrere osteuropäische32 Künstler nach Berlin, die versuchten, sich gegenseitig zur Seite zu stehen. Wegen dieser sozialen Netzwerke und dem DAAD blieb Kotík wohl letztlich in Berlin.33 Darüber hinaus lag West-Berlin nahe am verlorenen Paradies – Prag. Die Hoffnung, dass sich die Situation dort bald verbessern würde und er zurückkehren könnte, blieb stark. Er fühlte sich in Berlin nie zuhause.34 Allgemein war die Situation für Ausländer in Deutschland zu Beginn der 1970erJahre schwierig. Die Menschen kamen nicht nur aus dem Ostblock aufgrund des politischen Drucks, sondern auch aus anderen Ländern als sogenannte „Gastarbeiter“ und trafen auf viele gesellschaftliche Vorbehalte und Restriktionen seitens der Politik.35 Nach seiner Übersiedlung nach West-Berlin befand sich Kotík in einer für ihn schwierigen persönlichen Lage, doch litt seine künstlerische Produktion
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nicht darunter. Dies beweisen mehrere Einzelausstellungen in seiner neuen Heimat. Nach einem Jahr präsentierte er seine Arbeiten im Rahmen des DAAD. Weitere Einzelausstellungen hatte er im Jahr 1971 in der „Modern Art Galerie“ und im „Haus am Lützowplatz“ (beide West-Berlin). Außerdem beteiligte er sich an der II. Biennale in Nürnberg.36 Kotíks ersten Berlin-Arbeiten war auch eine großzügige Ausstellung im Museum Bochum unter dem Titel „Jan Kotík. Arbeiten 1970–1978“37 gewidmet. Man könnte dies als einen ganz guten Einstieg in die neue Kunstszene bewerten und als Beweis seiner konstanten künstlerischen Produktion sehen. Dennoch beeinflusste sein langjähriger Aufenthalt in West-Berlin Kotíks künstlerische Produktion in einer anderen Art und Weise als seine Kurzaufenthalte im Ausland. Neue Ideen, Impulse und Einflüsse sammelte Kotík auch vorher, während mehrerer Reisen. Die einflussreichsten Reisen gingen nach Finnland (1946), Paris (1937, 1946), wo er Picassos Arbeiten im Original sehen konnte,38 und nach Albisole (1956). Dort knüpfte Kotík auf dem Kongress MIBI39 wertvolle Freundschaften und lernte den COBRA-Gründer Asger Jorn kennen, der ihn fortan beeinflussen sollte. Für seine Karriere war auch die Teilnahme an der Weltausstellung Expo 1958 in Brüssel wichtig.40 In den Jahren 1982 bis 1983 besuchte Kotík New York, wo die Relevanz seiner Strichstiländerung bestätigt wurde. Alle diese Reisen verursachten bestimmte Änderungen in Kotíks künstlerischem Stil, wohingegen seine Emigration nach West-Berlin eine voluminöse Ausprägung von Tendenzen verursachte, die früher „[...] in seinem Werk angesprochen oder nur angedeutet waren“.41 In der Forschung wurde bereits vielfach festgestellt, dass Kotík nach seiner Emigration vermehrt Arbeiten mit konzeptuellen Inhalten und raumgreifende Arbeiten fertigte.42 Unter konzeptuellen Tendenzen im Werk Kotíks versteht man seine Bemühungen, die Grenzen eines Bildes zu erweitern und seine Dematerialisation herbeizuführen.43 Des Weiteren produzierte Kotík Werke, bei denen der philosophische Hintergrund, die Idee gleichermaßen wichtig ist wie die Realisation des Werkes selbst. Diese Maxime ist laut dem minimalistischen Künstler Sol LeWitt für die Konzeptkunst grundlegend.44 Kotíks Realisationen aus den 1970er-Jahren waren eher als „Reize für die geistige Reflexion“45 gemeint. Daneben sind bestimmte Arbeiten nur als Fotos, Skizzen oder in Beschreibungen dokumentiert, was ein weiterer Hinweis auf konzeptuelle Gedanken im Werk Kotíks sein könnte.
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Bildraum – Bild im Raum In West-Berlin knüpfte Kotík an seine Prager Ideen an, das Gemälde in die dritte Dimension zu überführen. Dabei beeinflusste das neue Umfeld diesen Prozess der Erweiterung des Bildes in den Raum. Kotík reduzierte in seinen Berliner Arbeiten das Gemälde auf die elementaren bildnerischen Ausdrucksmittel wie Linie, Fläche, Farbe, Strich oder Perspektive und setzte sie in reale Räume ein. Im Gegensatz zu den Prager Arbeiten, die als dreidimensionale Objekte im Raum standen, sind die in Berlin entstandenen Werke mit dem Raum enger verbunden. Raum wird zu einem Teil der Arbeit. Während am Anfang der Raum eine eher passive Rolle spielte, als Hintergrund oder Fläche, wurde dieser Ende der 1970er-Jahre schon bei der Entstehung der Arbeit aktiv eingeschlossen. Beispielhaft für Kotíks erste Berliner Jahre ist eine Arbeit mit dem Titel „Transformationssystem“ (1972–1974, Abb. 3). Dieses Objekt besteht aus unterschiedlich großen Leinwänden, die Kotík mit verschiedenen Farben bemalt oder in Farbe getaucht hat. Die Leinwände sind an einer Seite miteinander verbunden, sodass man mithilfe von Holzstöcken, die an deren Rückseiten befestigt sind, in diesem Werk buchstäblich blättern kann. Das Gemälde hat keinen Rahmen, der Bildraum wurde zerstört und die Leinwand zu einer farbigen Fläche abstrahiert. Die Leinwände als farbige Flächen und gleichzeitig als dreidimensionale Objekte beherrschen den realen Raum. Zugleich ist der Raum Hintergrund, vor welchem sich diese Arbeit immer wieder wandeln kann. In Prag verfügten Kotíks Gemälde noch über eine innere Konstruktion, die auch als normale Rahmenkonstruktion das Bild formte. In Berlin befreiten sich Kotíks Arbeiten hingegen auch von dieser „inneren Ordnung“, wodurch sich die elementar abstrahierten Teile des Bildes separat und selbstständig in den Raum hinein entwickeln. In seinen weiteren Arbeiten versuchte Kotík hauptsächlich, die Linie im realen Raum so zu gestalten, als sei der Raum ein Bildraum. Das nächste Beispiel zeigt, dass Kotík sich noch länger damit beschäftigte, wie man Dreidimensionalität in einem Bild umsetzen kann. Alle Arbeiten aus der Serie „Geschichte des Dreiecks“ (197346, Abb. 4) sind durch eine Form des flachen Hintergrunds miteinander verbunden, entfalten sich aber auf verschiedene Weisen in den Raum hinein. Diese Arbeit war stark von theoretischen Texten beeinflusst. Kotíks Gedanken mit philosophischen Hintergründen spielten eine erhebliche Rolle bei der Entstehung dieser Arbeit. Dabei lässt sich sein nun unbegrenzter Zugang zu verschiedenen Publikationen nachvollziehen. Zu der Zeit, als er an dem Dreieck arbeitete, las Kotík Texte der Philoso-
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Abb. 3: Jan Kotík, Transformationssystem, 1972– 1974, farbige Leinwand, Holzstangen, 70 x 70 cm, Aufbewahrungsort unbekannt
Abb. 4: Jan Kotík, Geschichte des Dreiecks, 1973, 52 Arbeiten, Seil, Papier, 51 x 51 cm, Berlinische Galerie, Inv. č. BG-O. 8165/96
phen Descartes und Hobbes, die sich mit der Bedeutung des Dreiecks beschäftigten.47 Diese Theorien, auch jene zu den geometrischen Formen Quadrat und Kreis, beeinflussten Kotík. Während dieser Arbeit und einer späteren weiteren theoretischen Durchdringung dieses Themas kam Kotík zu dem Schluss, dass „der menschliche Geist Schaffens- bzw. Ordnungswille ist, der Dinge erfindet, und in ganz besonderem Maße das Kunstwerk“.48 Damit knüpfte er wiederum an die Definition von Konzeptkunst an. „Geschichte des Dreiecks“ zeigt eines der zweiundfünfzig Dreiecke (Abb. 4). Dieses besteht aus einem schwarzen Untergrund, an dem an drei Stellen, die die Spitzen eines Triangels bilden, drei gleich lange Schnüre befestigt sind. Diese sind wiederum in der Mitte mit einer weiteren Schnur zusammengebunden. Hebt man die mittlere Schnur in die Luft, entsteht eine dreidimensionale Pyramide. Zunächst lediglich als Darstellung eines Dreiecks wahrgenommen, lässt sich die Arbeit durch den Eingriff einer Person in ein dreidimensionales Objekt umwandeln. Die Linien formen sich zu einer Pyramide, die in den Raum hineinwächst. Bei Kotík durchdringt der Bildraum den realen Raum, wobei die Pyramide nicht realisiert werden muss. Dieser Umstand spürt dem dritten Punkt von Lawrence Weiners Aussage „3. The Piece need not be built“49 nach. Seine drei Punkte wurden als weiteres Kriterium für Konzeptkunst verstanden.
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Beim folgenden Beispiel dient wieder die Linie als Verbindungselement zwischen den Dimensionen. Das „Transformationssystem-Objekt“ (1974, Abb. 5) ist eine Installation, die aus einem farbigen Seil besteht, das aus der Wand hängt und unten auf dem Boden auf einer Holzplatte zu einem Kreis gewickelt ist. Quadrat und Kreis vereinen sich als eine freie Erweiterung von philosophischen Grundlagen aus der Serie „Geschichte des Dreiecks“ (1973). In weiteren Variationen des „TransformationssystemObjekts“ (1974)50 arbeitete Kotík nur noch mit dem farbigen Seil. Dabei wird deutlich, wie wichtig ihm Linie und Fläche, die klassischen Elemente des Gemäldes, sind. Und wie er experimentiert beides mit einem realen Außenraum. In Kotíks früheren Berlin-Arbeiten stellt das Seil ein wichtiges Ausdrucksmittel dar. Doch auch andere Künstler bedienten sich etwa zeitgleich dieses Gestaltungselements: 1967 schuf Hans Haacke eine „2 space rope sculpture“51, die nur aus einem am Boden liegenden Seil bestand. Diese Skulptur war auch 1969 bei einer der ersten Ausstellungen konzeptueller Kunst „When Attitudes Become Form“ in Bern52 ausgestellt. Obwohl sich beide Arbeiten formal sehr ähneln, ist ihre Wahrnehmung für beide Künstler völlig unterschiedlich. Kotík versteht das farbige Seil als leicht zu variierende Linie, die sich im Raum entfaltet, während für Haacke das Seil eine selbstständige Skulptur darstellt. Das ist bei Kotíks künstlerischer Produktion ein wichtiger Punkt: Er versucht die Malerei neu zu bestimmen und nicht primär konzeptuell zu arbeiten. Kotík untersucht die traditionell kodifizierten Grenzen des Bildes und benutzt dabei die „konzeptuelle Problematik“.53 Die oben genannten Beispiele veranschaulichen, wie sich Kotík immer mehr zutraut, Raum in seine Werke einzubeziehen. Man kann beobachten, wie sich in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahr seine künstlerische Produktion formal und konzeptuell wandelt, wobei seine malerische Handschrift erhalten bleibt. Die Arbeiten zeigen, wie Kotík das Bild dematerialisiert, seine Elemente abstrahiert und im Raum platziert. Einen Höhepunkt dieser Versuche stellen Arbeiten für das „Büro Berlin“54 dar. Mit dieser Künstlergruppe stellt Kotík erst Ende der 1970er-Jahre mehrmals aus.55 Gründer dieser Gruppe waren um eine Generation jüngere Künstler: Hermann Pitz, Raimund Kummer und Fritz Rahmann. Raumwahrnehmung Das „Büro Berlin“ erhielt von der Stadt West-Berlin eine alte, abrissreife Fabrik zur Nutzung für Kulturprogramme. In diesen Räumen, die schon eine eigene Geschichte
Abb. 5: Jan Kotík, Transformationssystem-Objekt, 1974, farbiges Seil, Sperrholz, Aufbewahrungsort unbekannt
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hinter sich hatten und die sich gänzlich vom White Cube des klassischen weißen Galerieraums unterschieden, bekamen mehrere Künstler die Möglichkeit, verschiedene Arbeiten zu realisieren. Auch Jan Kotík konnte diese halb zerstörten industriellen Räume mitgestalten. Die Künstler waren vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Sie mussten Kunstwerke schaffen, die mit dem Raum harmonieren und sich trotzdem als eigenständige Arbeiten präsentieren konnten. Diese konkreten Orte waren also an der Entstehung der Werke beteiligt. Der „Raum [ist] nicht nur eine neutrale Voraussetzung, sondern hat einen aktiven Anteil am Geschehen als Instrument und Ziel, Mittel und Zweck“.56 Die Aktivierung des Raums bei der Entstehung seiner Arbeiten bedeutete einen weiteren Schritt in Kotíks Raumwahrnehmung. Raum ist ein selbstständiger Teil seiner Werke geworden. Ohne diese Räume existiert auch das Kunstwerk nicht. Die realen Umgebungen verschmelzen mit seinen künstlerischen Räumen definitiv. In den ersten Arbeiten für die Ausstellung „RÄUME – Manifestation“ fertigte Kotík 1978 drei Quadrate57 an, die in einer Linie nebeneinanderstanden. Davon wurden zwei Quadrate an die Wand gezeichnet, eines in die Ecke des Raums und das andere auf eine leere Fläche. Das mittlere Quadrat wurde aus strahlend weißem Material hergestellt. Diese Arbeit zeigt, wie Kotík mit den Räumen als selbstständigem Material arbeitet. Kotík hatte die vorherige Geschichte des Raums in sein Werk eingeschlossen. Er reagierte absichtlich auf die Umgebung. Die quadratischen Flächen an der Wand erinnern an die Arbeit „Quadrat 36´´x 36´´“58 (1968) von Lawrence Weiner, der sich auch an der Ausstellung „When Attitudes Become Form“ in Bern beteiligte. Wieder erscheint die Form ähnlich, doch erneut sind die dahinterstehenden Ideen unterschiedlich: Weiner greift die Galeriewand und Galerie als Institution an, dagegen hebt Kotík die eigene Geschichte des Raums hervor. Solche Arbeiten zeigen, wie wichtig das Werkkonzept und die Persönlichkeit des Künstlers sind. Diese beiden Werke wurden von Menschen mit völlig unterschiedlichem Hintergrund geformt. Denn das, „[w]as wir sehen können, ist durch das geformt, was wir denken können“.59 Im Rahmen der „RÄUME – Manifestation“ stellt sich Kotík noch mit zwei weiteren Arbeiten vor. Mit einer Zeichnung am Boden in Form einer Stufe, die vor eine Wandnische platziert war, und einem Seil, das sich an der Wand krümmte.60 Das Seil funktioniert auch bei dieser Arbeit eher als eine Linie, die sich durch die Fläche der Wand wellt. Bei einem weiteren Projekt vom „Büro Berlin“, der sogenannten „Lützowstraße Situation“ (1979), durften insgesamt vierzehn Künstler für eine Woche denselben
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Raum nach eigenen Vorstellungen gestalten. Kotík, als erster Künstler des Projekts, schuf für „Situation 1“ – „Objekte, die einzelne Stellen des Raumes konkret einbezogen“ (Abb. 6).61 Ein erstes Objekt platzierte Kotík gleich beim Eingang. Gleichermaßen große Holzlatten lehnte er von beiden Seiten an den Türrahmen und bildete daraus ein Dach.62 Wenn man den Raum betreten wollte, musste man unter dem Lattendach hindurchkriechen. Die Innenseiten der Latten waren rot gestrichen, am Boden zog Kotík noch rote Linien, die die Enden der einzelnen Latten miteinander verbanden. So bildeten die roten Linien mehrere Dreiecke, die zum Teil zweidimensional und zum Teil dreidimensional waren. Dieses Objekt verwies mit seiner Form auf Kotíks frühere Arbeit, die „Geschichte des Dreiecks“. Linien und malerische Flächen bestimmten auch weitere Arbeiten in diesem Raum. In einer grün gestrichenen Ecke war in Zickzack-Form von einer Seite zur anderen ein schwarzes Seil gezogen.63 In der Mitte des Raums war das Herzstück der Ausstellung installiert. Dieses Objekt bestand aus mehreren aufgehängten Seilen sowie bemalten Flächen auf dem Boden und an der Wand. Das Seil bildete längliche Halbkreise und diese Form erinnerte an Kotíks gestische Striche aus früheren Gemälden.64 Blaue Flächen formten mit weiteren Oberflächen des Raums, die auch in das Werk eingeschlossen waren, das Gesamtkunstwerk. Diese Arbeit, mehr eine Installation als ein Objekt, eroberte den ganzen Raum. In dieser Installation konnte man beobachten, wie Kotík mit dem Seil nicht nur Linien, sondern auch Pinselstriche nachahmen konnte. Kotík arbeitete mit malerischen Flächen und dreidimensionalen Elementen des Raumes so, als ob er ein Bild gestalten würde. Dabei wich Kotík auch bei seinen Objekten oder Installationen nicht von den klassischen ästhetischen Prinzipien ab, die er bei seinen Gemälden befolgte.65 Dieser Zugang zu anderen Kunstgattungen, die Kotík als Erweiterung der Malerei verstand, gehört zu seinen Besonderheiten. In der ČSSR war Kotík ein radikaler Künstler mit neuen Zugängen zu Kunst und Malerei. Seine Werke waren in einem vom sozialistischen Realismus geprägten Land unerwünschte Einzelphänomene. Dank seiner Übersiedlung nach West-Berlin geriet er in eine Kunstszene, in der seine Arbeiten verstanden wurden und die ihn unterstützte. Derartige Installationen hätte Kotík zur selben Zeit in einer Galerie in der ČSSR vermutlich nicht ausstellen dürfen. Die Zusammenarbeit mit dem „Büro Berlin“ setzte sich fort. Noch in demselben Jahr, 1979, beteiligte sich Kotík an der Ausstellung „12 Räume / 12 Künstler“ in der Kurfürstenstraße 58. Kotík zeichnete in seinem Raum mit weißer Farbe unterschied-
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liche Zeichen, Linien, Pfeile und Kreise auf den schwarzen Boden und an die grauen Wände.66 Auf dem Boden war die Bewegung der Türen mit blauen Halbkreisen angedeutet. Diesmal dienten ihm die Oberflächen des Raums als Leinwand, und der gesamte Raum wurde zum Kunstwerk. Die Perspektive des Raums stellte zugleich auch die Perspektive des Bildraums dar. 1980 realisierte Kotík, ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem „Büro Berlin“, eine Einzelausstellung in der Böckhstraße 7 unter dem Titel „aus dem Raum / in den Raum“, in der er „Malerei / Objekte im Raum“67 präsentierte. Bei diesem Projekt durchdrangen Malerei und Raum einander noch offensichtlicher. Eine Säule war nur auf einer Seite im oberen Bereich schwarz und an den restlichen zwei Dritteln rot bemalt.68 An die farbige Seite der Säule knüpfte am Boden ein bemaltes Quadrat an, das die rote und die schwarze Farbe spiegelte. Hinter der Säule, bei der Wand und am Boden standen zwei kleinere quadratische Platten, die mit einer Seite die Wand berührten.69 So entstand zwischen Wand und Platten ein kleiner Zwischenraum, den Kotík mit dunklen Farben ausmalte und damit begrenzte. Die Außenseite der Platte blieb weiß. Dadurch schien die farbige Fläche zu verschwinden, wenn man sich durch den sonst weißen Raum bewegte und die Arbeit aus einem immer wieder anderen Blickwinkel betrachtete. In einem Moment existierte sie und im anderen nicht mehr. Da aber die Quadrate einander gegenüber platziert waren, konnte man immer einen der bemalten Zwischenräume sehen. Kotík schuf illusionistisch einen konzeptuellen Raum im Raum. Genauer gesagt: einen gemalten dreidimensionalen Raum im realen Raum. Bei der Zusammenarbeit mit dem „Büro Berlin“ erreichten Kotíks Versuche, Malerei im Raum zu entfalten, ihren Höhepunkt. Es scheint, als schöpfte Kotík dieses Thema aus. In späteren Arbeiten wich er von diesem Ziel ab und beschäftigte sich eher mit ungleichen und amorphen Formen des Bilduntergrunds. Dabei vernachlässigte er auch bei seinen späteren Werken nicht die dritte Dimension, wobei der Schatten zu einem wichtigen Element in Kotíks Arbeiten wurde. Zum Schluss In welchem Zusammenhang könnten Migration und/oder Exil mit künstlerischer Produktion stehen? Kotíks Emigration hängt eindeutig mit dem Einbezug des realen Raums in seinen Arbeiten zusammen. Diese markante Änderung in seiner künstlerischen Produktion wurde unterstützt durch das Aufkommen neuer Bedingungen, des neuen Ateliers, anderer Ausstellungsräume, der neuen Kunstszene – eines neuen
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Abb. 6: Jan Kotík, Installation im Rahmen der Situation 1, Lützowstraße 2, 1979, Seil, Malerei auf dem Boden und der Wand
Umfelds. Es änderte sich auch das Publikum, das andere ästhetische Ansprüche hatte als das Publikum in Kotíks sozialistischer Heimat. Dadurch konnten sich die Aspekte seiner Arbeit entfalten, die in der damaligen Tschechoslowakei nicht toleriert wurden und kein Verständnis fanden. Die zweite Frage zu Beginn dieses Beitrags war, ob Migration ein Movens für einen Künstler sein könnte, das ihn nicht nur thematisch und motivisch, sondern auch konzeptuell und theoretisch beeinflusst. Dies lässt sich im Fall Jan Kotíks bejahen. Der Verlust der Heimat und ein damit einhergehender unbegrenzter Zugang zu kulturellen Informationen, der Zugriff auf philosophische Texte und der internationale Austausch hatten Folgen für Kotíks künstlerische Produktion. Die Flucht aus jenen Ländern, in denen Zensur herrschte und die doktrinär über kulturelle Produktionen wachten, konnte neue Horizonte für die betroffenen Künstler eröffnen. Bei Kotík kam es zuerst zu Änderungen in der Farbgebung70 und die langsame Entfaltung der dritten Dimension in seinen Arbeiten. Dies äußerte sich in seinen Werken sehr unterschiedlich. Noch in Prag begann er seine Gemälde im
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Raum zu entwickeln, in West-Berlin multiplizierte sich dann die Vielfalt in der Bearbeitung und der Umgang mit der dritten Dimension ganz wesentlich. Von der Collage, den dreidimensionalen Bildern, den Objekten bis hin zu den Installationen entwickelte sich Kotíks Wahrnehmung des Raums. Seine Sozialisation als Maler ließ er jedoch nicht hinter sich, sondern brachte sie in seine neuen Arbeiten ein und führte beide Einflüsse zu einer Synthese. So entstanden komplexe räumliche Bilder. 1 | In diesem Beitrag wird unter Berlin immer West-Berlin verstanden. 2 | Die Begriffe Migration und Emigration werden in diesem Beitrag synonym behandelt. 3 | Erst Anfang der 1960er-Jahre konnte man die schwächere Kontrolle der Regierung und den schwindenden Einfluss der UdSSR spüren. Ab Mitte der 1960er-Jahre haben Künstler häufiger Kontakte mit dem Ausland geknüpft. Ende der 1960er-Jahre ereignete sich der Prager Frühling, der mit der Besetzung 1968 eskalierte. Siehe Rostislav Švácha und Marie Platovská (Hg.): Dějiny českého výtvarného umění VI. 1958–2000, Prag 2007; Jiří Ševčík, Pavlína Morganová und Dagmar Dušková (Hg.): České umění 1938–1989: Programy, kritické texty, dokumenty, Prag 2001; Zuzana Lizcová: Kulturní vztahy mezi ČSSR a SRN v 60. letech 20. století, Prag 2012. 4 | Roland H. Wiegenstein: Verlängerte Aufenthalte – und mehr, in: Balkon mit Fächer. 25 Jahre Berliner Künstlerprogram des DAAD, hg. v. Joachim Sartorius und René Block, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin, Berlin 1988, S. 107–117, hier S. 110. 5 | Vgl. Iva Mladičová: Jan Kotík 1916–2002, in: Iva Mladičová (Hg.): Jan Kotík 1916–2002, Národní galerie v Praze, Prag 2011, S. 11–207, hier S. 133. 6 | „Der Begriff ‚Emigration‘ als Ausdruck für legale Ausreise existierte nur in der ČSSR. In der DDR wurde vor 1961 der Begriff ‚Übersiedlung‘, danach ‚Ausreise‘ für die Abwanderung in die BRD verwendet.“ Annabelle Lutz: Dissidenten und Bürgerbewegungen. Ein Vergleich zwischen DDR und Tschechoslowakei, Frankfurt am Main 1999, S. 14. 7 | Vgl. Jan Kotík (Künstlermedaillon) in: Das andere Land. Ausländische Künstler in der Bundesrepublik, hg. v. Peter Spielmann, Ausst.-Kat. Deplana Kunsthalle, Berlin 1986, S. 188; vgl. auch Jan Kotíks Biografie in: Jan Kotík: Geschichte des Dreiecks. 52 Zeichnungen, Collagen, Malereien und Objekte, Berlin 2001, S. 79. Laut der Auflistung der Stipendiaten im Ausst.-Kat. Berlin 1988 (wie Anm. 4), S. 125, war Kotík schon 1969 Stipendiat. Vgl. auch Jan Kotík: Konsum und Verbrauch. Versuch über Gebrauchswert und Bedürfnisse, Hamburg 1974, Rückseite des Umschlags. 8 | Kotík 1974 (wie Anm. 7), S. 9. 9 | Über soziale und kulturelle Räume spricht Arjun Appadurai in seinem Essay: Globale ethische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, in: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 11–39. 10 | Arsén Pohribný: Vom Bild zum Gemälde als „Realfaktor“, in: Jan Kotík. Arbeiten 1970–1978, hg. v. Arsén Pohribný, Ausst.-Kat. Museum Bochum, Bochum 1978, o. S. 11 | An dieser Ausstellung beteiligte sich auch Jan Kotík. 12 | Peter Spielmann: Das andere Land. Ausländische Künstler in der Bundesrepublik, in: Ausst.-Kat. Berlin 1986 (wie Anm. 7), S. 13–16, hier S. 14. 13 | Appadurai 1998 (wie Anm. 9), S. 14. 14 | Herbert von Bose: Raumaufgabe. Untersuchungen zum Bedeutungsträger Raum in der Gegenwartskunst, in: Nicola Hill und Monika E. Müller (Hg.): Zeiten-Sprünge: Aspekte von Raum und Zeit in der Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2004, S. 299–320, hier S. 299. 15 | Sabine Autsch und Sara Hornäk: Räume in der Kunst: Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe, in: Sabine Autsch und Sara Hornäk (Hg.): Räume in der Kunst: Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe, Bielefeld 2010, S. 7–15, hier S. 7–8.
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16 | Michel Foucault: Andere Räume, in: Karlheinz Brack (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46. 17 | Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart 1963; 7. Auflage 1994. 18 | Autsch/Hornäk 2010 (wie Anm. 15), S. 9. 19 | Hill/Müller 2004 (wie Anm. 14), S. 301. 20 | Jiří Valoch: Konceptuálni aspekty v díla Jana Kotíka, in: Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 229–265, hier S. 229. 21 | Lizcová 2012 (wie Anm. 3), S. 55–58. 22 | Soupis výtvarného díla, in: Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 281–477, hier S. 344–347. 23 | Jan Kotík, Texty 1939–1991 Texte, hg. v. Marcela Pánková, Ausst.-Kat. Národní galerie v Praze, Staatliche Kunsthalle Berlin, Museum Bochum, Prag 1992, S. 74. 24 | Soupis výtvarného díla, in: Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 281–477, S. 352. 25 | Výtvarná Práce, Prag 1966, Nr. 2., S. 4, in: Ausst.-Kat. Bochum 1978 (wie Anm. 11), o. S. 26 | Ausst.-Kat. Bochum 1978 (wie Anm. 10), o. S. 27 | Eine Aufnahme aus der Ausstellung in Stockholm ist im Ausst.-Kat. Bochum 1978 (wie Anm. 11), o. S., abgebildet. 28 | Galerie Skandinavia, Stockholm 1968. 29 | Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 358. 30 | Jan Kotíka, Texty 1939–1991, Texte, hg. v. Marcela Pánková, Ausst.-Kat. Národní galerie v Praze, Staatliche Kunsthalle Berlin, Museum Bochum, Prag 1992, S. 74. 31 | Foucault 1992 (wie Anm. 16), S. 38. 32 | Dieser Begriff deutet die ehemaligen Staaten des Ostblocks im Kalten Krieg an. Damals gehörten zu den Ostblockstaaten auch Mitteleuropäische Staaten wie DDR, Polen, ČSSR und Ungarn. 33 | Ausst.-Kat. Berlin 1988 (wie Anm. 4), S. 111. 34 | Eberhard Roters: Jan Kotík, in: Ausst.-Kat. Prag 1992 (wie Anm. 23), S. 32–47, hier S. 37. 35 | Vgl. Mark Terkessidis: Interkultur, Berlin 2012; Helga Neubeck-Fischer: Gastarbeiter – eine neue gesellschaftliche Minderheit, München 1972; Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001. 36 | Ausst.-Kat. Berlin 1988 (wie Anm. 4), S. 111. 37 | Ausst.-Kat. Bochum 1978, (wie Anm. 10), o. S. 38 | Kotík kannte kubistische Werke schon aus der Sammlung von Dr. Vincenc Kramář. Vgl. Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 15. Mehr über der Sammler Vincenc Kramář s. Vincenc Kramář od starých mistrů k Picassovi, hg. v. Vojtěch Lahoda und Olga Uhrová, Ausst.-Kat. Národní galerie v Praze, Sbírka moderního a současného umění, Veletržní palác, Prag 2001. 39 | Le Mouvement International pour un Bauhaus Imaginiste, Albisole 1956. 40 | Kotík realisierte ein räumliches Glas-Mosaik (4 x 6 x 2 m) für den tschechoslowakischen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel und bekam dafür den zweiten Preis (Diplome d’honneur) auf der Expo 1958, in: Ausst.-Kat. Bochum 1978 (wie Anm. 10), o. S. 41 | Ebd. 42 | Ebd.; Valoch 2011 (wie Anm. 20), S. 229– 265 u.a. 43 | Valoch 2011 (wie Anm. 20), S. 265. 44 | Sol LeWitt: Paragraphs on Conceptual Art, in: Artforum, 1967/5, Nr. 10, S. 79–83. 45 | Valoch 2011 (wie Anm. 20), S. 265. 46 | Obwohl die Serie schon 1973 vollständig beendet war, wurde sie erst 1992 erstmals öffentlich gezeigt: in der Staatlichen Kunsthalle Berlin, 1993 in der Galerie Schüppenhauer in Köln und 1998 in der Berlinischen Galerie im Lapidarium, vgl. Kotík 2001(wie Anm. 7), S. 7–8. 47 | Ebd., S. 6. 48 | Ebd. 49 | When Attitudes Become Form, hg. v. Harald Szeemann, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bern, Bern 1969, o. S. 50 | Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 383.
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51 | Vgl. Anm. 24, S. 383. 52 | Ebd. 53 | Valoch 2011 (wie Anm. 20), S. 265. 54 | Raimund Kummer, Hermann Pitz und Fritz Rahmann (Hg.): Büro Berlin. Ein Produktionsbegriff, Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1986. 55 | 1978: „Räume – Manifestation“; 1979: „Lützowstraße Situation“; „12 Räume + 12 Künstler“; 1980: „Boeckhstraße 7. Ein Gegenstand der Farbe Rot“; „Aus dem Raum/in den Raum“; 1981: im Rahmen der Ausstellung „Art Allemagne d’aujourd’hui“; im Rahmen der Ausstellung „Situation Berlin Nizza“. 56 | Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt, in: Moritz Csáky und Christoph Leitgeb (Hg.): Kommunikation, Gedächtnis, Raum. Kulturwissenschaften nach dem Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 13–27, hier S. 14. 57 | Kummer/Pitz/Rahmann 1986 (wie Anm. 54), S. 48. 58 | Ausst.-Kat. Bern 1969 (wie Anm. 49), o. S. 59 | Wilhelm Vossenkuhl: Vorwort, in: Markus Jatsch: Entgrenzter Raum, Unbestimmtheit in der visuellen Raumwahrnehmung, Stuttgart/London 2004, S. 6. 60 | Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 408. 61 | Kummer/Pitz/Rahmann 1986 (wie Anm. 54), S. 145. 62 | Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 413. 63 | Soupis výtvarného díla, in: ebd., S. 413. 64 | Valoch 2011 (wie Anm. 20), S. 271. 65 | Ebd. 66 | Kummer/Pitz/Rahmann 1986 (wie Anm. 54), S. 68. 67 | Ebd., S. 151. 68 | Mladičová 2011 (wie Anm. 5), S. 417. 69 | Soupis výtvarného díla, in: ebd., S. 417. 70 | Valoch 2011 (wie Anm. 20), S. 268.
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(MIGRANTISCHE) AKTEURE UND AKTIVISMUS
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Ortrud Gutjahr
„THEATER IST MEIN LEBEN“. INSZENIERUNGEN WIEDERHOLTER MIGRATION IN EMINE SEVGI ÖZDAMARS „DIE BRÜCKE VOM GOLDENEN HORN“
Ein Migrationsroman, der auch ein Künstlerroman ist? Seitens der germanistischen Literaturwissenschaft rücken beim Thema „Migration und künstlerische Produktion“ Publikationen in den Fokus, die den Suchbewegungen der nach Deutschland Migrierten zwischen unterschiedlichen kulturellen Identifikationsangeboten eine literarische Form geben. Besonders Schriftsteller/-innen, die einen Teil ihrer Sozialisation in Ländern erfahren haben, mit denen Deutschland seit Ende der 1950er-Jahre Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte geschlossen hatte, machen oftmals migrationsbedingte Verlusterfahrungen und Konflikte, aber auch das Erlernen der deutschen Sprache, Integrationsversuche und die damit verbundene Möglichkeit eines Bildungsaufstiegs zu Sujets ihres Schreibens. Von daher kann die sogenannte Migrationsliteratur als Genre verstanden werden, das sein Entstehen sozioökonomischen Umbrüchen und kulturellem Wandel verdankt, wie auch als literarhistorisch innovative Textgruppe, in der über individualisierte Geschichten eben diese gesellschaftlichen Veränderungsprozesse Ausdruck finden. Dass hier nicht vornehmlich biografisch-faktische Erfahrung, sondern die Fähigkeit zur ästhetischen Formgebung den Authentizitätscharakter des Erzählten verbürgt, wird durch das künstlerische Werk der Schauspielerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar in besonderer Weise evident. Die im Jahr 1946 in der ostanatolischen Stadt Malatya geborene Özdamar spielte bereits während ihrer Schulzeit Theater, kam mit 19 Jahren als ‚Gastarbeiterin‘ nach Berlin, absolvierte danach eine Schauspielschule in Istanbul und übernahm Rollen in verschiedenen Theatern der Türkei. Das deutsche Publikum wurde zunächst durch ihr Engagement am Schauspielhaus Bochum (1979 bis 1984), Theaterauftritte in Berlin, Frankfurt und München sowie die Inszenierung ihres Theaterstücks „Karagöz in Alamania“ am Schauspielhaus Frankfurt unter eigener Regie (1986) auf sie auf-
Ortrud Gutjahr | MIGRATION IN ÖZDAMARS „DIE BRÜCKE VOM GOLDENEN HORN“
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merksam, überdies auch durch zahlreiche Filmrollen wie in Hark Bohms „Yasemin“ (1988), Doris Dörries „Happy Birthday, Türke!“ (1992) oder Matti Geschonnecks „Reise in die Nacht“ (1998). Einen Namen aber machte sich Özdamar vor allem mit ihrem schriftstellerischen Werk. Durch ihren Erzählband „Mutterzunge“ (1990) erstmals einer breiteren Leserschaft bekannt geworden, gelang ihr mit dem Roman „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“ (1992), für den sie bereits vor Erscheinen den Ingeborg BachmannPreis erhalten hatte, der endgültige Durchbruch. An die hier aus der Ich-Perspektive eines fantasiebegabten türkischen Mädchens erzählte Kindheits- und Jugendgeschichte schließt sich der Folgeroman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ (1998) mit den Erfahrungen der Erzählerin als ‚Gastarbeiterin‘ in Deutschland und dann am Theater in der Türkei an und wird schließlich noch um den tagebuchartigen Text „Seltsame Sterne starren zur Erde“ (2003) ergänzt, in dem als dritte Etappe der Lebensgeschichte die Rückkehr der Protagonistin ans Theater in Deutschland erzählt wird. Die Romane wurden unter dem Titel „Sonne auf halbem Weg“ (2006) auch als Trilogie publiziert, doch gilt insbesondere „Die Brücke vom Goldenen Horn“ ob seiner originellen Erzählweise über interkulturelle Erfahrungen als einer der wichtigsten Texte der deutsch-türkischen Migrationsliteratur. Es ist zugleich einer der bedeutendsten deutschsprachigen Theaterromane des späten 20. Jahrhunderts, in dem Migration als künstlerische Selbstfindung inszeniert wird. Im Zentrum des Romans steht eine theaterbegeisterte junge Türkin, die Mitte der 1960er-Jahre zu einem Arbeitsaufenthalt nach Berlin kommt, um sich das nötige Geld für die Ausbildung an einer Schauspielschule in Istanbul zu verdienen. Sie setzt diesen Plan auch um und lässt sich in ihrer Heimat zur Schauspielerin ausbilden, doch als das Theater, an dem sie engagiert ist, auf Druck der Regierung geschlossen wird, verlässt sie nach dem Militärputsch von 1971 erneut die Türkei mit dem Ziel, in Deutschland ihre künstlerische Laufbahn fortzusetzen. Erzählt wird diese Entwicklung zur Schauspielerin vor dem Hintergrund politischer Ereignisse aus der Retrospektive. Da sich Stationen und Ereignisse aus dem Lebensbericht der namenlosen Ich-Erzählerin teilweise mit den Lebensdaten der Autorin decken, wird „Die Brücke vom Goldenen Horn“ vielfach als autobiografischer Roman gelesen und die Protagonistin als eine Art Alter Ego Özdamars verstanden. Doch eine auf das Biografische verkürzende Lesart wird dem inszenatorischen Charakter des Textes nicht gerecht. Bereits die narrative Figuration mit einer Erzählerin, die ihr früheres Selbst
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gleich der ‚Protagonistin‘ ihres Lebensspiels in unterschiedlichen Rollen in Szene setzt, verdeutlicht schon auf den ersten Blick, dass hier von einer artifiziellen Inszenierung biografischen und zeitgeschichtlichen Materials zu sprechen ist. Dieser inszenatorische Ansatz lässt sich auch an der Migrationsbewegung innerhalb der erzählten Welt festmachen: die Handlung konzentriert sich neben Orten, die auf Reisen besucht werden, im Wesentlichen auf die Schauplätze Berlin und Istanbul. Dabei folgt die Entwicklung der Protagonistin von der Ankunft in Berlin über ihre Rückkehr in die Türkei und den erneuten Aufbruch in die geteilte Stadt am Ende des Romans der Struktur einer wiederholten Migration. Unternimmt die junge Türkin die erste Fahrt in die ihr unbekannte Stadt, um sich von familiären Vorgaben und traditionellen Wertvorstellungen zu befreien und sich als ,Gastarbeiterin‘ die finanzielle Basis für eine Schauspielausbildung zu verdienen, so tritt sie die zweite Reise nach Erreichen dieses Ziels nunmehr als Schauspielerin an, um sich aus politischen Zwängen lösen und am Theater weiterbilden zu können. Der unbedingte Wille zur Selbstentfaltung auf der Bühne ist es also, der diese wiederholte Migration gemäß dem Künstler-Narrativ im Roman erforderlich macht. Doch ist der erneute Aufbruch nicht allein als nochmaliger Orts- und Kulturwechsel zu verstehen, sondern vielmehr als Re-Inszenierung der mit dem Kulturwechsel einhergehenden Erfahrungen und psychosozialen Dramen auf anderen Schauplätzen. So ist das theatrale Rollenspiel für die Protagonistin in Özdamars Roman nicht nur angestrebtes Ziel des ‚migrantischen Werdegangs‘, sondern auch Medium der Selbstvergewisserung auf dem fortgesetzten Weg dorthin, wie dies in der apodiktischen Feststellung Ausdruck findet: „Theater ist mein Leben“ (12)1. Damit ist die Lebensmaxime der Erzählerin benannt und Migration mit der Hoffnung auf Entfaltung und Weiterentwicklung des eigenen Seins auf einer fremden Bühne verbunden, wie außerdem unweigerlich der literarische Topos Theater aufgerufen, der seit Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ mit einer expliziten Bildungsfunktion konnotiert ist. Schon in diesem klassischen Bildungsroman verbindet der Titelprotagonist in Abkehr von seinem vorgezeichneten Lebensweg seine ‚theatralische Sendung‘ mit der Erkenntnis: „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“2 Auch die junge Türkin in „Die Brücke vom Goldenen Horn“ ist von ihrer Begabung für das Theater überzeugt und will das in ihr angelegte schauspielerische Talent entwickeln, doch verfügt sie – anders als der junge Kaufmannssohn in Goethes Roman – weder über die finanziellen Mittel noch die
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sprachlichen Fertigkeiten, um auf dem deutschsprachigen Theater reüssieren zu können. Die künstlerische Produktivität der Protagonistin in Özdamars Roman entfaltet sich somit über eine narrative Inszenierung der Migrationserfahrung, in der die damit verbundene theatrale Spielsituation unmittelbar zum Thema wird. Krisenerfahrung und interkulturelle Passage Deutlich werden im Roman zwei kulturell unterschiedlich markierte Lebenswelten kontrastiert, wie dies durch die Zweiteilung des Romans angezeigt ist. Der in vier Kapitel gegliederte erste Teil mit der Überschrift „Der beleidigte Bahnhof “ erzählt, lediglich unterbrochen durch einen Aufenthalt in Paris, über die Erlebnisse und Erfahrungen der Protagonistin in Berlin. Der in fünf Kapitel untergliederte zweite Teil mit der Überschrift „Die Brücke vom Goldenen Horn“ handelt von der Theaterzeit in Istanbul und einer Fahrt in die Ost-Türkei. Mit der räumlichen Organisation des Erzählten wird nun aber keine kontrastive Topologie entworfen, die sich schlicht nach Heimat und Fremde unterteilen ließe. Vielmehr werden die Bezugsräume der Protagonistin erst durch den mit ihr verkörperten Konnex von Migrationserfahrung und künstlerischer Entwicklung mit Bedeutung aufgeladen. Entscheidend ist hierbei, dass der dreitägigen Zugfahrt nach Deutschland – einer im engeren Sinne topologischen Migration vom Herkunfts- zum Zielort – erst die eigentlichen ‚Szenen der Migration‘ folgen. Denn Migration als psychosoziale Krisenerfahrung und kulturelle Passage stellt vor die Herausforderung, Lernprozesse in allen Lebensbereichen so zu dynamisieren, dass selbst bisherige Formen des Lernens einer Überprüfung unterzogen werden. So setzt der Roman mit der Ankunft der 19-jährigen Türkin im Jahr 1966 in WestBerlin ein und erzählt über ihre Orientierungsversuche in der fremden Stadt. Ihr Lebensraum ist zunächst weitgehend auf ihre Arbeitsstelle in einer Radiolampenfabrik und das Frauenwohnheim beschränkt und sie pflegt vor allem Kontakte zu türkischen Arbeitsmigranten und Mitgliedern des türkischen Arbeiterverbandes. Nach den in der Türkei verbrachten Weihnachtsferien und einem Deutschkurs am Bodensee tritt die Protagonistin eine neue Stelle bei Siemens an und wird Dolmetscherin im dortigen Arbeiterwohnheim. Sie engagiert sich nun in einem Studentenverband und weitet ihren Erfahrungsradius auf die beiden Teile der Mauerstadt aus. Während eines kurzen Aufenthaltes in Paris erlebt sie die sexuelle Begegnung mit einem spanischen Studenten als große Befreiung und geht daraufhin auch im Berlin
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der beginnenden Studentenunruhen mit verschiedenen Männern Beziehungen ein. Als sie auf Wunsch des Vaters in die Türkei zurückkehrt, ist sie schwanger, ohne zu wissen von wem. Auch in der Türkei orientiert sich die Rückkehrerin neu, indem sie regelmäßig von der Wohnung der Eltern auf der asiatischen Seite Istanbuls mit dem Schiff über den Bosporus auf die europäische Seite fährt. Sie tritt in Kontakt mit einer Künstlergruppe, von der sie auch Unterstützung für eine Abtreibung erhält, beginnt ihr Schauspielstudium, nimmt eine intensive Liebesbeziehung zu einem Intellektuellen namens Kerim auf, zieht in eine Kommune, engagiert sich in der Arbeiterpartei und will nach Ende ihrer Ausbildung bis zur iranisch-irakischen Grenze fahren, um eine Reportage über die dortige Hungersnot zu schreiben. Aber noch vor Erreichen des Ziels wird die politisch aktive Schauspielerin durch die Geheimpolizei zurückgeschickt. Auch die Theater, an denen sie in unterschiedlichen Rollen engagiert ist, geraten mit dem Militärputsch unter Druck. Sie wird wegen linker Meinungsäußerungen verhört und für drei Wochen inhaftiert. Nach ihrer Entlassung und der Trennung von Kerim entschließt sie sich, nach Deutschland zurückzukehren, um dort ihre Laufbahn als Schauspielerin fortzusetzen. Mit der Migration ist für die Protagonistin ein familiärer wie kultureller Loslösungsprozess verbunden, denn gleich zu Beginn des Romans werden als Grund für das Verlassen von Familie und Herkunftskultur zwei adoleszente Konflikte benannt, die ihrer Begeisterung für die Bühne geschuldet sind. Zum einen verweigerte die Erzählerin als Heranwachsende die elterlicherseits erwartete Leistung, denn weil sie „sechs Jahre lang Jugend-Theater gespielt hatte“ (12), versagte sie in der Schule. Und zum anderen gerät sie in Konflikt mit der Mutter und setzt sich mit ihren Theaterideen deutlich von deren Verhaltensmuster ab: „Ich bekam Applaus am Theater, aber nicht zu Hause von meiner Mutter.“ (12) Adoleszenz und Migration sind im Roman also eng miteinander verbunden und kommentieren sich als lebensgeschichtlich einschneidende Umbruchserfahrung wechselseitig. Denn dieser Konnex erlaubt es, die Migration als kulturelle Passage wie auch im Sinne des Ethnologen Arnold van Gennep als lebensgeschichtlichen Übergangsritus zu verstehen: Zunächst findet in der Trennungsphase eine Loslösung vom früheren Zustand statt, die oft mit einer räumlichen Veränderung einhergeht. Darauf folgt die Schwellen- oder Umwandlungsphase, in welcher der frühere Zustand nicht mehr verfügbar, der zukünftige aber auch noch nicht erreicht ist. Und schließlich erfolgt in der Angliederungs- oder
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Inkorporationsphase die soziale Verankerung in einen neuen Status.3 Diese Übergangsriten können nach van Gennep als soziale Regularien wie auch Garanten für die Veränderungen selbst verstanden werden. In Özdamars Roman ist dieser Prozess der Veränderung im Sinne eines rite de passage durch die kulturelle Institution Theater begleitet und wird im Rollenspiel der Protagonistin zugleich performiert. Stationen theatraler Selbsterprobung säumen den Entwicklungsgang der Protagonistin gleich Wegmarken: Nachdem sie bereits mit 12 Jahren in der Türkei Theater gespielt hatte und mit 16 Jahren in Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ auftrat, lebt sie in Berlin in einem Wohnheim, das durch die Leuchtreklame des gegenüberliegenden Hebbel-Theaters erhellt wird und damit nur als Übergangsstation erscheint. Obwohl der deutschen Sprache anfangs noch nicht mächtig, geht sie ins Kino, sucht ihre Kenntnisse über europäische Literatur auszubauen, lernt Zeitungsüberschriften wie Rollentexte auswendig und testet deren Wirkung in Kommunikationssituationen aus. Sie geht in beiden Teilen der Stadt ins Theater, liest Dramentexte, nimmt ersten Schauspielunterricht und setzt diese Ausbildung in der Türkei fort. Hier beschäftigt sie sich mit der gesellschaftlichen Funktion und Ästhetik des Theaters, spielt an verschiedenen Bühnen und plant mit dem Entschluss zu erneuter Migration eine Fortsetzung ihrer Theaterarbeit. Der erzählerisch entfaltete Lebensentwurf folgt dem Curriculum von Loslösung, Übergang und Neukonstitution gemäß dem künstlerisch-emanzipatorischen Selbstanspruch: „Ich will poetisch leben. Ich will das passive Leben meiner Intelligenz aufwecken.“ (200) Für die Produktivität und Bewährung als Schauspielerin ist jedoch entscheidend, dass sowohl ein neues Selbstkonzept gelebt als auch ein veränderter Zugang zur Tradition gefunden werden muss. Re-Inszenierungen Obgleich als Grund für die Migration maßgeblich der Konflikt mit der Mutter angegeben wird, erweist sich gerade die Loslösung von ihr als schmerzlicher Prozess. Bereits auf der Zugfahrt nach Deutschland, mehr aber noch in der Anfangsphase in Berlin, wird das junge Mädchen von Heimweh geradezu geschüttelt: „Ich merkte, daß ich Frauen suchte, die meiner Mutter ähnlich waren.“ (15) Zugleich will sie sich aber unbedingt von einem tradierten weiblichen Rollenmuster emanzipieren, wie dies durch das hoch besetzte Thema der Jungfräulichkeit und den leitmotivisch eingesetzten Begriff des „Diamanten“ ausführlich abgehandelt wird. Gleich einem Chor im
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antiken Drama warnen die türkischen Mitbewohnerinnen im Heim vor dem Umgang mit Männern: „Ihr werdet noch eure Jungfernhaut verlieren, das ist euer Diamant, ihr werdet eure Diamanten verlieren.“ (54) Und just nachdem die Protagonistin mit der Forderung konfrontiert wird, ihre Virginität zu bewahren, erscheint ihr nachts im Traum die Mutter gleich einer Hüterin der überkommenen weiblichen Tradition. Die junge ,Gastarbeiterin‘ wird nun zu einer genauen Beobachterin ambivalenter Geschlechterverhältnisse und bemerkt, dass türkische Frauen danach beurteilt werden, ob sie sich mit Männern treffen oder nicht, hört, wie sich Frauen wechselseitig als „Huren“ bezeichnen, und erlebt, wie Arbeiterinnen, die von der Nachtschicht in der Fabrik nach Hause kommen, von Türken als „Nutten“ (42) beschimpft werden. Sie registriert die Annäherungsversuche zwischen Männern und Frauen, erlebt aus nächster Nähe eine lesbische Szene mit, wird Zeugin der Defloration einer Arbeitskollegin und bekommt von einem Mädchen einen abgetriebenen Embryo gezeigt. Vor allem fällt ihr auf, dass sich die türkischen Ehemänner ungefragt „mit der Ehre der alleinstehenden Frauen“ (115) beschäftigen. Gegenüber einem restriktiv an traditionellen Wertvorstellungen und Geschlechterrollen orientierten Umgang mit Sexualität gibt ein Freund des Heimleiters ihr die Losung mit auf den Weg: „[D]u mußt mit Männern schlafen, dich von deinem Diamanten befreien, wenn du eine gute Schauspielerin sein willst. Nur die Kunst ist wichtig, nicht der Diamant.“ (103) Erst durch diese Indienstnahme der Idee sexueller Befreiung für ein Selbstbild als Schauspielerin fasst sie den Entschluss, ihre künstlerische Laufbahn vorzubereiten: „Ich wollte Deutsch lernen und mich dann in Deutschland von meinem Diamanten befreien, um eine gute Schauspielerin zu werden.“ (108) Aber dieses Vorhaben erweist sich als schwieriges Unterfangen, wie dies in der ironischen Beschreibung skurriler Begegnungen mit Männern unterschiedlicher Herkunft verdeutlicht wird. Nachdem ein Grieche namens Yorgi sie bereits zurückgewiesen und ein türkischer Student sie in Paris unverrichteter Dinge im Bett zurückgelassen hat, erlebt sie mit dem spanischen Studenten Jordi ihre zuvor so programmatisch zum Ziel der Emanzipation erhobene Defloration. Die Erzählerin inszeniert diese Begegnung in ihrer Erinnerungserzählung als surreales Geschehen, bei dem sie sich in ein erlebendes Mädchen und ein beobachtendes Ich aufspaltet, das gleich einer aufmerksamen Regisseurin sacht korrigierend in eine Probe auf der Bühne eingreift: „Ich soufflierte dem Mädchen ‚wait‘. Sie sagte ‚wait‘, der Junge
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wartete, sie wartete.“ (133) Später entschwebt das solchermaßen ‚inszenierte frühere Selbst‘ gemeinsam mit dem Geliebten in die Luft, wo ihr die Mutter gleich einer dea ex machina überkommener Weiblichkeitsvorstellung erscheint, von der sie sich gerade durch den sexuellen Akt entfernt: „Ich flog in die Richtung meiner Mutter, aber der Junge hielt mich fest.“ (137) Die Lösung von der Tradition wird hier in einer poetisch überhöhten Szenerie über eine Ich-Spaltung als körperlich performativer Akt auf der Bühne des Selbst inszeniert. Im traumartigen Geschehen, das keine Verneinung kennt, kommt das Fremdwerden des Vertrauten bei gleichzeitiger Überschreitung kultureller Grenzen zur Darstellung. Bei ihrer Rückkehr nach Istanbul fasst die Protagonistin den Wandel ihrer selbst mit einem spiegelnden Blick: „Ich hatte meine Mutter nicht wiedererkannt.“ (175) Doch an der Schauspielschule gelingt es der Lernenden wieder, einen verstehenden Zugang zu ihrer Erziehung und bisherigen Entwicklung zu finden. Auf einer Probe stellt sie eine selbst gewählte Szene dar, in der eine Mutter mit ihrem Kind spazieren geht, wobei sie abwechselnd in beide Rollen schlüpft. Der alte Schauspiellehrer macht die anderen Schüler darauf aufmerksam, „wie zärtlich sie zu ihrem Kind“ (223) ist, und die Protagonistin erkennt dadurch: „In der Rolle der Mutter spielte ich meine Mutter nach und merkte dann, wie zärtlich meine Mutter zu mir war. So entdeckte ich am Theater meine Mutter.“ (223) Das Rollenspiel wird für die Schauspielschülerin zum zentralen Medium selbstreflexiver Verkörperung, denn die Re-Inszenierung der frühkindlichen Beziehung zur Mutter weckt auch die damit verbundene Emotionalität. Erst durch die Dialogisierung im eigenen Selbst wird ihr Körper zum Schauplatz empathischer Wieder- und Neubesetzung. Sie wird nun fähig, sich den Traditionen und Werten ihrer Familie und Herkunftskultur auf veränderte Weise anzunähern. Mit dieser Re-Inszenierung der frühen Mutter-Kind-Szene wird aber auch ein tiefgreifender Aspekt im Prozess wiederholter Migration verhandelt, nämlich die Veränderung von Wertorientierungen unter den Bedingungen des Kulturwechsels. In diesem Zusammenhang ist Kultur als gemeinschaftsstiftendes Bezugssystem zu verstehen, das von Sprachverhalten, Lebensformen und Handlungsweisen bis hin zu Fühlen, Wollen und Wünschen in die Welt- und Selbstdeutungen seiner Mitglieder hineinreicht. Formen der Wertgebung sind somit als kulturspezifisch erlernte Verhaltensausrichtungen zu verstehen, die für die Herausbildung personaler Identität prägend sind. Denn mit der Sozialisierung innerhalb einer Gemeinschaft, die sich in
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ihrer Lebensweise über ein symbolisches Bedeutungsgefüge verständigt, werden – nicht zuletzt zum Schutz grundlegender Werte – sozial verbindliche Normen vermittelt. Im alltäglichen Leben erwirbt der Heranwachsende überdies unmittelbar Erfahrungswissen darüber, wie Personen, Handlungen und Dinge als auch Gefühle, Ideen und Ideale zu bewerten sind. Dabei ist entscheidend, dass Wertmaßstäbe von primären Bezugspersonen übernommen werden, zu denen meist eine enge emotionale Bindung besteht. Kulturell verbindliche und durch die Bezugspersonen individuell interpretierte Werte sind mithin nicht nur erlernt, sondern zugleich auch emotional codiert. Wertebewusstsein entsteht ganz unmittelbar über die Belohnung erfüllter Verhaltenserwartungen, denn es ist die Erfahrung von Anerkennung, durch die Werte internalisiert und zur selbstverständlichen Handlungsorientierung werden können. Werte sind von daher in der Tiefensemantik von Kulturen verankert und bilden einen nicht unmittelbar zugänglichen Motivationsgrund individuellen Handelns. Der Generationenkonflikt, der mit Wertekontroversen einhergeht, ist als signifikanter Ausdruck der Veränderungsdynamik von Werten zu sehen. Denn nur wenn es in der Adoleszenz möglich wird, anerzogene Wertvorstellungen und bisher selbstverständliche Verhaltensorientierung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, ist ein Individualisierungsprozess im Sinne moderner Lebensgestaltung möglich. Das Vermögen, sich zum eigenen Gewordensein ins Verhältnis zu setzen und über die Auseinandersetzung mit kulturellem Wissen, Literatur und Künsten verschiedenen Lebensoptionen unterschiedlichen Wert beizumessen, ist von daher als Schlüsselkompetenz im Prozess gesellschaftlichen Wandels zu sehen. Vor allem neue Kontakte und Erfahrungen stellen vor die Herausforderung, gegenüber konträren Verhaltenserwartungen bestehen und divergierende Wertvorstellungen austarieren zu müssen. Durch Verkörperung verschiedener kultureller Codes und symbolischer Ordnungen werden emotional besetzte Wertorientierungen im Dienste kultureller Veränderung in ein bewegliches Spiel gebracht,4 wie dies durch die körperbezogene Inszenierung der in sich dialogisch angelegten Erzählerin in Özdamars Roman verdeutlicht wird. Soziale und theatrale Rolle Im Hinblick auf diese dialogische Ebene des Erzählens ist auffällig, dass im Werdegang der Protagonistin soziale und theatrale Rolle immer wieder gegeneinander ausgespielt werden. Insbesondere lässt sich dies an der im Roman thematisierten Gegen-
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überstellung von Jungfrau und Hure ersehen. Während die türkischen Männer die erst spätabends ins Wohnheim zurückkehrenden Frauen als Huren bezeichnen und diese immer wieder der Befürchtung Ausdruck geben, als solche gesehen zu werden, wird in den linken studentischen Gruppierungen, in denen die junge ,Gastarbeiterin‘ verkehrt, promiskuitives Verhalten als notwendiges Element der Emanzipation propagiert. Von diesen diskrepanten Wertvorstellungen über weibliches Rollenverhalten ausgehend, entwickelt die Erzählerin ein Erinnerungsnarrativ über den spielerischen Umgang mit dieser Art von Zuschreibungskonzepten. Die junge Türkin geht wechselnde Beziehungen ein, und nach Kündigung ihrer Stelle in der Fabrik arbeitet sie zeitweilig morgens als Zimmermädchen in einem Stundenhotel und nimmt nachmittags Unterricht an einer Schauspielschule. Zurückgekehrt in die Türkei muss sie jedoch „Ich bin keine Hure“ (217) spielen, wenn sie als einzige Frau mit Männern in einem Café sitzt. Sie überträgt nun den Emanzipationsanspruch, wie er in Berlin mit der sexuellen Befreiung verbunden wurde, ins politische Theater in Ankara und übernimmt die Hauptrolle in einem Stück des ehemaligen Wohnheimleiters Vasif „über ein Mädchen, das sich im Kapitalismus nur retten kann, indem sie eine Hure und Puffmutter wird“ (298). Um sich auf ihre Rolle vorzubereiten, spricht sie mit verschiedenen Frauen aus dem Milieu und kann sich durch dieses Insiderwissen in ihrer „Hurenrolle wie die echten Huren“ verhalten, wobei ihr Spiel auf unterschiedliche Zuschauerreaktionen stößt: „Die Männer im Saal lachten, die Frauen nicht.“ (299) Schließlich zieht sie sich während der politischen Unruhen in der Türkei gezielt auch für die Straße ein „Hurenkostüm“ (313) an, um in dieser Maskerade zwei Kurden unbehelligt in ein Versteck führen zu können. Theatrale und soziale Rolle werden eng miteinander verbunden und erweisen sich in ihrem performativen Charakter als Selbstschutz und geschlechterpolitisches Statement zugleich. So schlüpft die Protagonistin in einer Art kultureller Mimikry in unterschiedliche Rollen und bekommt in jeder Begegnung einen neuen Rollennamen zugesprochen: Der türkische Heimleiter Vasif nennt sie, wie auch die anderen Frauen des Wohnheims, „Zucker“, aber auch „Titania“ (102), da sie in Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ die Elfenkönigin gespielt hatte. Die Wohnheimleiterin Gutsio gibt ihr den Namen „Kassandra“ (123), der griechische Freund Yorgi bezeichnet sie als „Turcala Turcala“ (119), der spanische Student in Paris nennt sie „Sevgilim“ (140), der deutsche Freund Bodo „türkische Sultanin“ (151) und ein im Sozialistischen Studentenbund engagierter Kunststudent „Medea“ (194). Die Erzählerin lässt die
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Protagonistin ihrer Erinnerungen zu einer Schauspielerin ihrer selbst werden, die ungeniert Rollentexte in Alltagskommunikation integriert und sich biografistischen Festlegungen und identifizierenden Zuschreibungen entzieht, indem sie aus einem breiten Repertoire an sozialen und theatralen Rollen schöpft, um sich neue Lebensbereiche zu erschließen. Theater ist in Özdamars Roman also nicht als vom Alltagsleben abgegrenzte, gesellschaftliche Institution gedacht, sondern als Gestaltungsraum für Rollenspiele, in denen über Verkörperung des Anderen immer wieder Selbstfindungen in verwandelter Form möglich werden. Die innere Differenz als „uneinholbare Abständigkeit zu sich selbst“5 bei gleichzeitiger Verwiesenheit auf den Anderen ist Kennzeichen eines Rollenverständnisses, das explizit auch als Auseinandersetzung mit vorgefundenen Formen des kulturellen Erbes bestimmt ist.6 Schon Georg Simmel geht in seiner „Philosophie des Schauspielers“ davon aus, dass sich individuelle Entäußerung über präexistente Formen erfüllt. Demnach stellt der Einzelne im Lebensvollzug immer schon „ein vorgezeichnetes Anderes als seine zentral eigene sich selbst überlassene Entwicklung“7 dar. Der Mensch erfährt in dieser Verausgabung die Fülle der eigenen Möglichkeiten, indem er sie gerade „in jene vielfach geteilten Anderen leitet“, um so „das ganze innere Sein zur besonderen Gestaltung“8 aufzunehmen. Die Übernahme von Rollen eröffnet somit die Möglichkeit, sich über tradierte Rahmen mit dem symbolischen Gefüge einer Gesellschaft zu verbinden wie auch dessen Spielraum für individuelle Gestaltung und neue Formgebungen zu nutzen. In diesem Sinne hat auch Helmuth Plessner die Rolle als Angebot verstanden, Diskrepanzen zwischen unterschiedlichen Ordnungsgefügen wie die zwischen Privatem und Öffentlichkeit oder Vertrautem und Fremdem kreativ zu gestalten.9 Mit anderen Worten umreißt die Rolle einen Handlungsspielraum mit der Lizenz zur kreativen Überschreitung. Damit einher geht die Erkenntnis, dass die Möglichkeit zum Selbstentwurf aus der Übernahme vorgegebener Muster und Skripts erfolgt, wobei in Özdamars Roman die Transformation von Textvorgaben auf allen Ebenen des Erzählens besonderen Stellenwert gewinnt. Die Ich-Erzählerin enthält sich weitgehend der Kommentierung oder Beurteilung ihrer Lebensgeschichte und verzichtet auf die Explikation der eigenen Seelenlage. Die Erinnerungserzählung ist vielmehr als Reihung von Episoden angelegt, die nicht selten mit ironischem Gestus über den Entwicklungs- und Bewusstseinsstand der Protagonistin Auskunft geben. Diese szenischen Beschreibungen werden von wörtlicher Figurenrede unterbrochen und durch zahlreiche Zitate aus literarischen Werken und
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Zeitungen ergänzt. Besonderes Kennzeichen des Erzählstils sind immer wieder eingesetzte Stakkatosätze, Ellipsen, Aneinanderreihungen und Wiederholungen wie auch türkische Ausdrücke, Redewendungen, Witze und Sprichwörter, die teilweise direkt übersetzt und damit in verfremdeter Form ins Deutsche übertragen sind. Lakonische Beschreibungen wechseln in märchenhaftes oder surreal-fantastisches Erzählen, wenn tief greifende Emotionen wie Trauer und Lust zum Thema werden. Häufig wird die Protagonistin in tragikomischen Lebensepisoden dargestellt, in denen sie, der Sprache nicht mächtig, den Jargon ihrer jeweiligen Umgebung imitiert. Semantisch ‚inkorrekte‘ Übersetzungen lassen nicht nur das Erlernen der fremden Sprache als widerständigen und zugleich kreativen Prozess unmittelbar anschaulich werden, sondern erweitern auch das Bedeutungsfeld der Worte. Gleich Stolpersteinen im Gang des Erzählens nötigen die schöpferischen Neubildungen zum Verweilen bei der Bildlichkeit der Worte. Durch ‚falsche‘ Schreibweisen, wie beim immer wieder gebrauchten „Frauenwonaym“, wird die Ausdrucksweise der Arbeitsmigrantinnen, von denen die Protagonistin ihre ersten Sprechversuche ablauscht, lautmalerisch verdeutlicht. Dabei zeugt die Fähigkeit, die Sprache eines Anderen zu explizieren, von jener transkriptiven Kompetenz, die bereits den beginnenden Fremdspracherwerb zu einem kreativen Prozess werden lässt. Durchgängiges Thema in der künstlerischen Entwicklung der Protagonistin sind somit produktiv suchende wie ironisch gebrochene Ausdrucksweisen mit neuen Wortschöpfungen. Auf diese Weise gleicht das Erlernen der deutschen Sprache dem Erarbeiten eines Rollentextes, der in ein fantasievolles Sprachspiel verwandelt wird. Als Sprachspielkompetenz kann die Fähigkeit zu situationsadäquater und zugleich kreativer Kommunikation gefasst werden,10 wobei sich durch den Wechsel in unterschiedliche Sprachgenres die Performierung von Sprache als veränderliche kulturelle Praxis erweist.11 Bei diesen Sprachspielen finden metasprachliche Verfahren wie Paraphrase und Kommentierung besonderen Einsatz, da es immer auch Inszenierungen von Sprache sind, mit denen auf Sprache Bezug genommen wird. Diese sprachlichen Performanzen und deren mediale Veränderung auf dem Theater werden in Özdamars Roman als szenisches Geschehen vergegenwärtigt. Die Nachahmungen beobachteter Rede- und Verhaltensweisen sind hier wiederum Verkörperungen und Inszenierungen auf der Bühne eines Selbst. Durch die sprachliche Verfremdung des ihr Fremden bringt die Erzählerin eine schalkhaft-ironische wie auch analytischkritische Distanz zu ihrem eigenen künstlerischen Werdegang zum Ausdruck. Dem
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Jargon politischer Theoriedebatten, der vielfach in der erzählten Entwicklung der Protagonistin zitiert wird, ist somit eine poetische Sprache entgegengesetzt, die wiederum als kulturelle Übersetzung zu verstehen ist. So gibt die Protagonistin in Berlin die alte Familientradition auf, abends für die Toten zu beten: „So verlor ich langsam alle meine Toten in Berlin.“ (21) Aber sie transponiert diese Form des imaginären Gesprächs und holt sich nun „Hilfe bei den Toten“ (240 f.) durch die Auseinandersetzung mit Shakespeare, Baudelaire, Brecht, Gorki, Kafka, Lorca und Tschechow und schließt damit an eine europäische Literaturtradition an, die wiederum über Theatermodelle vermittelt ist. Geteilte Erinnerung In Özdamars Roman bestimmt das Theater als Institution und Erprobungsraum den künstlerischen Werdegang der jungen Türkin, wie auch die Wirkungsästhetik des narrativen Gefüges selbst. Vor allem das epische Theater Bertolt Brechts gewinnt als Modell für die eigene Schauspielkunst entscheidende Bedeutung. In ihrer Anfangszeit sieht die junge ,Gastarbeiterin‘ als erstes Brechts „Arturo Ui“ im Berliner Ensemble und ist von der Inszenierung begeistert, obgleich sie noch kein Deutsch versteht. Sie lernt Verse des Dichters auswendig und kommentiert damit beobachtete Zustände oder singt Lieder aus seinen Stücken, um sich über Enttäuschungen hinwegzutrösten. In der Türkei sieht sie Brechts Film „Kuhle Wampe“ und beschäftigt sich mit seiner Theorie des epischen Theaters. Jenseits der zahlreichen direkten Bezugnahmen auf den Dramatiker wird aber auch in Subtexten subtil auf ihn verwiesen. Bereits der erste Satz des Romans – „In der Stresemannstraße gab es damals, es war das Jahr 1966, einen Brotladen, eine alte Frau verkaufte dort Brot“ (11) – kann als intertextueller Bezug zu Brechts Fragment „Der Brotladen“ gelesen werden, in dem die wirtschaftliche Depression und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit im Berlin der späten 1920er-Jahre zum Thema wird. In den zwischen 1929 und 1930 entstandenen Teilen wendet sich ein Chor von Arbeitslosen direkt an die Zuschauer mit den Worten: „Ihr, die ihr eben / Vom Essen kommt / Erlaubt, daß wir euch vortragen unser / Unablässiges Bemühen um Essen, wie ihr habt / Auch bescheideneres genügte uns schon.“12 Mit dieser Brecht-Reminiszenz wird die Situation der Arbeitslosen in der Wirtschaftskrise zur Zeit der Weimarer Republik mit der Situation der ‚Gastarbeiter‘ im Deutschland der Wirtschaftswunderzeit literarisch vermittelt und überdies der Eintritt der Protagonistin in eine schon künstlerisch gedeutete Welt markiert.
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Auch an Brechts politisches Engagement und die Vergleichbarkeit politischer Situationen wird indirekt über literarische Vermittlung erinnert. Als sich die Protagonistin an der Schauspielschule in Istanbul mitten in den Proben zu Peter Weiss’ Stück über die Ermordung Marats13 befindet, kommt es zu Unruhen auf den Straßen: „Während die linken Studenten vor der Atatürk-Statue ihr echtes Blut ließen, probten wir in der Schauspielschule eine weitere Szene aus Marat/Sade mit künstlichem Theaterblut“ (262). Mit dieser Thematisierung der deutlichen Diskrepanz zwischen politischem Geschehen auf der Straße und den Ansprüchen an ein politisch motiviertes Schauspiel auf der Bühne erinnert Özdamar ebenfalls an das Jahr 1966 in Berlin, denn seinerzeit wurde am Schillertheater Günter Grass’ Schauspiel „Die Plebejer proben den Aufstand“ uraufgeführt. In diesem Stück wird Brechts Fehleinschätzung des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 in Ostberlin über die Figur eines Regisseurs verhandelt, der aus den Geschehnissen auf den Straßen keine politischen Konsequenzen, sondern lediglich Ideen für seine aktuelle Shakespeare-Inszenierung zieht. Selbst Brechts Theatertheorie wird einer kritischen Abwägung unterzogen. Die Schauspielschülerin ist sich zu Beginn ihrer Ausbildung sicher: „Ich möchte am Theater die Gefühle der Zuschauer wecken.“ (200) Doch über ihre Lehrer erhält sie gegensätzliche Anweisungen für ihre schauspielerische Selbstausbildung. Der im Actors Studio in Amerika ausgebildete Direktor der Schule rät, nahestehende Personen einfühlsam zu beobachten und sie nachzuahmen: „Ihr müßt alle Gefühle aus eurem Körper rausholen, bis ihr sie kennengelernt habt.“ (204) Demgegenüber fordert ein in Berlin ausgebildeter, sich am Theater Brechts orientierender Lehrer, die Umwelt mit soziologischem Blick zu betrachten und auf der Bühne „nicht mit den Gefühlen“, sondern „mit dem Kopf “ (204) zu spielen. Zwar wird nicht explizit formuliert, für welche Form der Darstellung sich die Protagonistin entscheidet, doch die Erzählerin persifliert die beiden als „Körperist“ und „Kopfist“ bezeichneten Schauspiellehrer: „Bei dem einen ließen wir unsere Körper vor der Klassenzimmertür und gingen nur mit unseren Köpfen in den Unterricht, bei dem anderen ließen wir die Köpfe vor der Klassenzimmertür und gingen als Körper in die Klasse.“ (205) Solche humoristisch gewendeten Szenen verdeutlichen, dass Özdamars Schreiben jenseits von ästhetischen Positionen und Schulenbildungen das gesamte Spektrum theatraler Ausdrucksformen umfasst. Die künstlerische Entwicklung der jugendlichen Protagonistin wird aus der Erinnerungsperspektive einer empathischen Ich-Erzählerin mit detailgenauen Beobachtungen des Sozialen so
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erzählt, dass die damit verbundene Migrationsgeschichte immer wieder in signifikanten Szenen Gestalt gewinnt. Dabei werden Inszenierungsformen wie auch das theatrale Setting als solches für die Rezeption des Textes relevant. In der Situation des Theaters geht es um ein Austauschverhältnis von Bühne und Zuschauerraum, um die Interdependenz von Darstellung und Wahrnehmung. Bei dieser Aufführungskunst steht jeder einzelne Zuschauer in szenischer Kommunikation mit dem Bühnengeschehen. Denn abgefordert wird die Bereitschaft, sich in das, was andere darstellen wollen und zu sagen haben, hineinzuversetzen und sich damit zugleich selbst aufs Spiel zu setzen. Das Bühnengeschehen wird zum Ereignis direkten Angesprochen-Seins, wenn dargestellte Szenen im Modus der Verfremdung, Verzerrung oder auch Ähnlichkeit Selbsterlebtes wachrufen und in unmittelbare Präsenz bringen. Erst durch diese inneren Re-Inszenierungen, durch erneutes und doch anderes Erleben von Erlebtem wird der Zuschauer Teil des theatralen Geschehens und beglaubigt die Wahrhaftigkeit des Zu-sehen-Gegebenen auf der Bühne. Ist also bei einer Theateraufführung die zeitliche und leibliche Kopräsenz von Bühnenakteuren und Zuschauern kennzeichnend, so im Lesevorgang eine Ungleichzeitigkeit und Vermitteltheit. Der Roman ist Produkt eines seitens des Schriftstellers abgeschlossenen künstlerischen Werkprozesses, den der Leser auf anderer Ebene zeitversetzt weiterführt. Der Ort, den der Leser in der Ordnung des Textes einnimmt, ist so zwar physisch außerhalb, aber imaginär auch zugleich innerhalb. Denn im Rezeptionsprozess wird der Text aktualisiert, wenn sich der Leser durch sein Vorstellungsvermögen in die erzählte Welt hineinbegibt und sich sowohl emotional berühren lässt als auch zugleich Beobachter bleibt.14 Erst durch dieses dialogische Mitgehen mit dem Erzählten kann der Leser auch eine Perspektive auf sich gewinnen und der Text zu einer Geschichte im eigentlichen Sinne entwickelt werden. Dies ist nun für die Vermittlung von Migrationserfahrungen für ein Lesepublikum, das diese spezifischen Erfahrungen größtenteils gar nicht teilt, insofern relevant, als historische Ereignisse und Bewegungen mit weitreichenden Veränderungen für die Lebensgestaltung Einzelner wie das soziale Miteinander von Gesellschaften erst über erzählte Geschichten zu geteilter Erinnerung werden können. Es bedarf der ästhetischen Formung und Reflexion in den Künsten, wie dies besonders Victor Turner in seinen zwischen Ethnografie und Performanztheorie angelegten Studien betont.15 Grundlegend ist für ihn, dass Geschehnisse als „soziale Dramen“ unbegriffen bleiben, solange sie nicht durch Akte „kreativer Rückbesinnung“ erfasst sind und ihnen durch
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Symbolisierung „‚Bedeutung‘ zugeschrieben wird“16. Turner geht davon aus, dass Erlebnisse nicht nur dargestellt, sondern „in ihrer ursprünglichen affektuellen Konturierung“17 wiederhergestellt werden müssen, um zu Erfahrungen werden zu können. Eine „angemessene ästhetische Form“18 sieht er erst dann gegeben, wenn das Erlebte so neu gegliedert und szenisch verdeutlicht wird, dass es möglich wird, „kulturelle Erfahrungen miteinander zu teilen“19. Lassen sich in diesem Sinne die in Özdamars Roman auf unterschiedlichen Ebenen entwickelten Szenarien der Migration als Akte „kreativer Rückbesinnung“ wie zugleich Re-Inszenierungen in ästhetischer Form verstehen, so sind diese in den Prozess von Geschichten eingebunden. Für die erzählte Geschichte gibt es immer eine Vorgeschichte, die auf den Anfang hinführt, und eine Nachgeschichte, welche das Ende modifiziert und weiterleben lässt, wie dies durch die Einbindung des Romans „Die Brücke vom Goldenen Horn“ als Mittelstück der Trilogie „Sonne auf halbem Weg“ besonders verdeutlicht wird. Mit ihrem Konzept der Theatralität geht die Autorin dem In-Geschichten-Sein im Übergang von der ‚Gastarbeiterin‘ zur Künstlerin nach, wobei individuelle Erfahrung als Geschichte wiederholter Migration inszeniert wird. Es ist eine Migration, die sich in unterschiedlichen kulturellen Bezugssystemen und Räumen auf allen Ebenen des Lebens in der Zeit fortschreibt. Özdamar verdeutlicht mit ihrer Regie führenden Ich-Erzählerin, dass dieser durcharbeitende Prozess auch für das Erzählen selbst notwendig ist. Denn diese Erzählerin ist in ihrer theatralen Dialogizität an den Leser gebunden, der sich mit seinem In-der-Geschichte-Sein selbst als Teil vieler Geschichten erfasst. Ist in Goethes Bildungsroman das Theater Medium des Übergangs zu einer neuen sozialen Rolle, so insistiert Özdamar in ihrem Roman auf die Fähigkeit zur Verwandlung und zum situationsbedingten Rollenwechsel als Chance für einen kulturell vielfältigen Lebensentwurf. Der künstlerische Werdegang entwickelt sich hier über ein ‚Gastarbeiterdasein‘, das mit theatralen Selbsterprobungen einhergeht, bis hin zur Übernahme von Rollen auf der Bühne, die eine Auseinandersetzung mit dem Theater als gesellschaftspolitische Institution mit einschließt. Diese Theatralität nötigt dazu, über den Effekt des Inszenierungscharakters von Migration nachzudenken. Nicht zuletzt dadurch erweist sich „Die Brücke vom Goldenen Horn“ als herausragendes Beispiel eines Künstlerromans, der sein narratives Verfahren über die ästhetische Inszenierung wiederholter Migration reflektiert.
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1 | Seitenzahlen in Klammern sind zitiert nach: Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn, 3. Aufl. Köln 1998. Da die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zu diesem Roman bereits in anderen Publikationen erfolgt ist, wird in diesen Ausführungen aus Platzgründen bewusst darauf verzichtet. 2 | Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders.: Goethes Werke, Bd. VII, Romane und Novellen. Zweiter Band, hg. v. Erich Trunz, Hamburg 1950, S. 290. 3 | Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt am Main u.a. 1986. Das Werk erschien bereits 1909 in Frankreich. 4 | Vgl. zu diesem Aspekt Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 5 | Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, in: ders.: Gesammelte Schriften. Ausdruck und menschliche Natur, Bd. 7, hg. v. Günther Dux u.a., Frankfurt am Main 1982, S. 399–418, hier S. 417. 6 | Vgl. hierzu: Erika Fischer-Lichte: Vom Theater als Paradigma der Moderne zu den Kulturen des Performativen. Ein Stück Wissenschaftsgeschichte, in: Christopher Balme u.a. (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen/Basel 2003, S. 15–32, hier S. 16. 7 | Georg Simmel: Zur Philosophie des Schauspielers, in: Logos 9, 1920/21, S. 339–362, hier S. 349. 8 | Ebd. 9 | Helmuth Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10, Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, hg. v. Günther Dux u.a., Frankfurt am Main 1985, S. 227–240, hier S. 235. 10 | Vgl. hierzu: Jan Georg Scheider: Sprachkompetenz als Sprachspielkompetenz, in: Mareike Buss u.a. (Hg.): Theatralität des sprachlichen Handelns. Eine Metaphorik zwischen Linguistik und Kulturwissenschaften, Paderborn/München 2009, S. 59–78. 11 | Stuart Hall: Representation. Cultural representations and signifying practices, London 1999. 12 | Bertolt Brecht: Der Brotladen, in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 7, Frankfurt am Main 1967, S. 2913–2944, hier S. 2913. 13 | Peter Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade, Schleswig-Holsteinisches Landestheater 1980. 14 | Vgl. hierzu auch: Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004, S. 72. 15 | Vgl. hierzu: Victor Turner: The Ritual Process, Structure and Anti-Structure, Chicago 1969, in: ders.: Dramas, Fields and Metaphors. Symbolic Action in Human Society, Ithaca/London 1974. Ebenso: Catherine Bell: Ritual Theory, Ritual Practice, New York/Oxford 1992. 16 | Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main 1989. 17 | Ebd., S. 27. 18 | Ebd., S. 25. 19 | Ebd., S. 26.
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Burcu Dogramaci
GESPRÄCH MIT DEM KONZEPTKÜNSTLER MISCHA KUBALL ÜBER SEIN PROJEKT „NEW POTT – NEUE HEIMAT IM REVIER“
Burcu Dogramaci: In deiner Arbeit „New Pott – Neue Heimat im Revier“ hast du gemeinsam mit einem kleinen Team zwischen 2009 und 2010 Gespräche mit 100 Einwanderern verschiedener Nationalitäten, die im Ruhrgebiet leben, geführt. Es entstand, wie du schreibst, „eine neue Landkarte des deutschen Westens, des ‚New Pott‘, der für Millionen von Menschen ein neues Zuhause geworden ist“. Entstanden ist die Idee jedoch ursprünglich in Brasilien. Kannst du über dieses erste große „Migrationsprojekt“ berichten? Mischa Kuball: Die 24. Biennale von São Paulo 1998 stand unter dem Thema „Antropófagia“, also Kannibalismus. Das bezog sich auf das anthropophagische Manifest des brasilianischen Philosophen Oswald de Andrade von 19281, der auf eine europäische Anschuldigung reagierte. Diese besagte, dass brasilianische Künstlerinnen und Künstler nach Europa kamen, wo sie sich inspirieren ließen, um dann später in Brasilien unter starkem europäischen Einfluss zu arbeiten. Andrade wandte sich gegen die europäische Kulturdominanz seiner Zeit und behauptete selbstbewusst: „Nein, wir Brasilianer werden nicht die europäische Kultur kopieren, sondern wir werden sie einverleiben, wir werden sie verdauen.“ Das war der Ausgangspunkt der Biennale. Und meine Idee dazu war, nicht als deutscher Künstler mit einer in Deutschland vorgefertigten Arbeit zu kommen, sondern tatsächlich eine Einladung zu einem Prozess anzunehmen. Ich wollte mich mit den interkulturellen Facetten der Stadt São Paulo mit ihren 20 Millionen Menschen und der unglaublichen religiösen, sprachlichen und kulturellen Akkumulation auseinandersetzen. In der Vorbereitung war für mich neben Andrades Manifest auch Vilém Flussers Autobiografie „Bodenlos“2 sehr wichtig, in der er einen Zugang zur brasilianischen Kultur vorschlägt. Flusser schreibt darin: „Es gibt nicht eine Geschichte, die für Brasilien steht, sondern Geschichten.“ Damit wird eine pluralistische Erzählform, eine vielfältige Narration,
Burcu Dogramaci | GESPRÄCH MIT MISCHA KUBALL
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Abb. 1: Mischa Kuball, Private Light/Public Light, 1998, Deutscher Beitrag auf der 24. Biennale São Paulo, 72 Standardleuchten, Foto: Nelson Koch, São Paulo
Abb. 2: Mischa Kuball, Private Light/Public Light, 1998, Deutscher Beitrag auf der 24. Biennale São Paulo, 72 Standardleuchten, Foto: Kelly Kellerhoff, Berlin
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Abb. 3: Mischa Kuball, New Pott, Familie Turmes, Luxemburg, Foto: Egbert Trogemann
vorausgesetzt. Für das Projekt habe ich eine Lampe vorbereitet und den Familien, die ich traf, mitgebracht. Dann wurden die Lampen getauscht, meine Lampe blieb vor Ort. Nur das Foto von der ursprünglich privaten Kontextualisierung und die Lampe der Familien gingen auf die Biennale (Abb. 1 und 2). Und so entstand ein bestimmter Raum, anhand dessen die Brasilianer eine geografische oder topografische Zuordnung vornehmen konnten. Denn die Besucher waren in der Lage, die unterschiedlichen Farben der Kabel den einzelnen Barrios und Stadtgebieten zuzuordnen. Das war eine große Überraschung für mich, damit hatte ich nicht gerechnet. Die Lampe ist ein wiederkehrender Gegenstand, der auch in „New Pott“ eine zentrale Bedeutung hat (Abb. 3). Gibt dir die Leuchte die Möglichkeit, ein bestehendes privates Setting zu verändern oder überhaupt eine neue Räumlichkeit und neue Situation zu schaffen für deine Gespräche? Mir kommen Begriffe wie Bühne oder Performativität in den Sinn. Das trifft genau den Kern des Umgangs mit dem Material, also mit dem Licht, und der Fassung des Lichts, also mit der Lampe. Licht hat in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Ausprägungen. Durch das Tauschen habe ich außerdem eine Standar-
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disierung in die jeweilige Situation bringen können, nicht nur durch die Form, sondern auch durch die Lichtintensität oder Lichtfarbe. Es war immer eine 60-Watt-Birne mit 5600 Kelvin, was wir als Tageslicht begreifen. Das kann man auch auf den Fotos sehen, die Menschen, die Gesichter, die räumliche Situation, das Setting. Der Begriff der Bühne lässt sich durchaus darauf anwenden. Was war für dich die wesentliche Motivation, das São-Paulo-Projekt, bei dem du Familien verschiedenster nationaler Herkunft aufgesucht hast, noch einmal neu aufzulegen? In São Paulo war ich so mit dem Prozess des Tausches und der Wahrnehmung dieser Situation beschäftigt, dass ich die Geschichten, die mir über mehrere Stunden erzählt wurden, während ich mit den Menschen dort zu tun hatte, nicht eingesammelt habe. Bei „New Pott“ gab es die Chance, das Vorhaben in der Gegend zwischen Duisburg und Dortmund, also in meiner persönlichen Lebensumgebung oder nahe dieser Umgebung, zu realisieren. Dabei wollte ich das Licht erneut in dieses Setting und die private Situation mitführen, um etwas in den Ort einzuschreiben. Diesmal wollte ich nicht die Lampe mitnehmen, sondern die Geschichte. Damit habe ich von vornherein den Fokus auf die Erzählung gelegt. Die mitgebrachte Lampe blieb demnach vor Ort bei deinen Gesprächspartnern? Ja, als Gastgeschenk. Ich habe stets gefragt, ob sie daran interessiert seien, und eigentlich alle haben zugestimmt – auch weil sie die eingravierte lateinische Inschrift „Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen liebten die Finsternis mehr denn das Licht“3 interessant fanden. Die Lampe war eine Metafigur für das Projekt. Manche haben bereits in den Vorgesprächen, als wir uns erstmals begegneten, oder beim Aufstellen der Lampe von ihrer Beziehung zum Licht, zur Metaphorik, Transzendenz oder zur Aufklärung erzählt. Das geschah von allein, ohne dass eine Frage kommen musste. Der Gegenstand war aus Glas, er hatte eine gewisse Haptik und Wertigkeit. In Brasilien haben wir aufgrund der damaligen ökonomischen Möglichkeiten eine Plastiklampe mitgebracht. Bei „New Pott“ ging es aber nicht so sehr darum, die Wertigkeit nach oben zu verschieben, sondern vielmehr darum, eine Ebene der Zerbrechlichkeit hineinzubringen. Es sollte ein Objekt sein, das eine Fragilität hat, und es ist auch durchaus bei den Gesprächspartnern eine Lampe zerbrochen. Da ruft dann jemand an und sagt: „Mir ist leider die Lampe umgefallen.“ Oder: „Ein Kind hat einen Ball dagegen geschossen.“ Wie hast du die Gespräche vorbereitet? Gab es einen festen Fragenkatalog?
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Abb. 4: Mischa Kuball, New Pott, Shabbir Siddiquie, Bangladesch, Foto: Egbert Trogemann
Nein, es gab kein Fragekonzept. Insofern wurde das Projekt vermutlich eher unwissenschaftlich oder unakademisch vorangetrieben. Aber gerade das Situative war mir wichtig. Das heißt, es bildet sich ein Szenario (Abb. 4), in dem bestimmte Fragen auftauchen und an den örtlichen und den persönlichen Verlauf des Gesprächs gebunden sind. Es war immer eher ein künstlerisches, persönliches Interesse, auf die Leute zuzugehen und das haben sie gemerkt. Sie haben mich auch gefragt: „Gibt es denn so etwas wie einen Fragenkatalog?“ Und dann habe ich gesagt: „Nein, aber es gibt ein grundsätzliches Interesse an ein paar grundsätzlichen Überlegungen.“ Wie zum Beispiel das Ankommen passiert ist oder das Verlassen des Ortes. Das ist bei jedem Einzelnen und bei jeder Familie sehr unterschiedlich gewesen. „New Pott“ war, obgleich von einem deiner früheren Projekte beeinflusst, ein autarkes Auftragsprojekt der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Ja. Es sollte aber eben keine Erzählung sein, die das Produkt eines Festivals darstellt oder kurzweilig in einer Feierlaune entsteht, sondern eine Begegnung. Die Interviews wurden über zweieinhalb Jahre in einer bestimmten Situation und mit einem ganz kleinen Team geführt. Das braucht Zeit. Wir wollten uns nicht von einem
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Aktionismus unter Druck setzen lassen, zu einem bestimmten Termin am 1.1.2010, wenn alle feiern, alle Ergebnisse vorliegen zu haben. Wir zogen uns ganz bewusst aus dem Zeitkontext heraus und führten eine eigene Zeit ein. Das hatte dann für mich auch privatwirtschaftlich negative Folgen, da das Projekt über den Förderzeitraum hinaus andauerte. Bezogen auf deine Frage: Es war keine Auftragsarbeit, sondern eine Doppelung. Es gab ein Interesse an dem Projekt in São Paulo und man hatte Kenntnis, dass ich das Vorhaben gern an anderer Stelle wiederholen würde. Ich hab mich also nie mit diesem Projekt beworben, sondern ich wurde angesprochen und eingeladen, São Paulo innerhalb von Kulturhauptstadt Ruhr 2010 erneut zu realisieren. Wie wichtig waren deine eigene Erfahrungen im Ruhrgebiet für „New Pott“? Zunächst war da meine eigene Wahrnehmung der Region zwischen Duisburg und Dortmund, wo ich recht viele Projekte realisiert habe und eigene Zuschreibungen an dieses Gebiet hatte: Für mich zeichnet sich die Region durch eine Vielzahl von verschiedenen Kulturen aus, dort leben Menschen mit unterschiedlichen Herkünften und nationalen oder kulturellen Erfahrungen. Es gibt Gruppen, die sich formieren. Mal ist die Klammer die Religion, mal eine sprachliche Ausprägung oder ein sportliches oder kulturelles Interesse. Fußball war beispielsweise das Bindeglied zwischen einer Familie aus dem Kongo mit einer Familie aus dem Senegal (Abb. 5 und 6), weil die in einem kleinen, selbst organisierten Africa-Cup gespielt haben. Das sind die Mikrostrukturen, von denen ich teilweise Kenntnis hatte. Warum hast du dich mit genau 100 Familien oder Interviewpartnern getroffen? Diese Zahl ergab sich aus einer gemeinsamen Überlegung mit der Ruhr-Universität Bochum. Ich habe dort nachgefragt, ob über das „International Student Office“ festgestellt werden könne, aus wie vielen Nationen die Studierenden kommen. Es waren wohl 108. Ich hatte deshalb die Idee, auf diese 108 Nationen zuzugehen. Aber am Ende sind es eben 100 geworden. Die Zahl 100 spielt in der Geschichte der Kunst und Fotografie eine zentrale Rolle, scheint eine magische Anziehungskraft zu haben. Ich denke dabei an die „Hundert Ansichten des Berges Fuji“4 von Hokusai, der auch andere Hunderter-Serien berühmter Brücken, von Magiern und Pferden plante. Oder an eine Reihe von Stadtbüchern aus den 1920er-Jahren, „Die Reihe der Hundert. La Série des Cents. The Hundred Series“, die jeweils 100 fotografische Aufnahmen eines Fotografen einer europäischen Großstadt versammeln sollte. Germaine Krull hat 1929 beispielsweise „100 x Paris“ veröffentlicht.5
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Abb. 5: Mischa Kuball, New Pott, Familie Madimba, Demokratische Republik Kongo, Foto: Egbert Trogemann
Abb. 6: Mischa Kuball, New Pott, Cheikh Diallo, Senegal, Foto: Egbert Trogemann
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Abb. 7: Hans-Peter Feldmann, 100 Jahre
Bei den erwähnten Listen geht es stets um eine Mehransichtigkeit, eine Pluralität der Impression, die auch für dein Projekt wichtig zu sein scheint. Ich bin ein großer Hokusai-Fan. Und tatsächlich ist die Zahl 100 in vielfältiger Weise wichtig. Es gibt dieses Projekt von Hans-Peter Feldmann, „100 Jahre“6 (Abb. 7), das im Grunde auch eine numerische Nähe zu „New Pott“ hat. Referenzpunkt ist für mich zum Beispiel auch August Sanders großes Projekt der Menschen des 20. Jahrhunderts.7 Dort nutzte er jedoch vorwiegend das Mittel der Fotografie, und wir erhalten nur in der Untertitelung, über die berufliche Qualifizierung und einer Verortung eine Minimalinformation. Ich wollte dagegen auf jeden Fall dafür sorgen, dass zu den Gesichtern und Namen, der Herkunfts- und aktuellen Lebenssituation das fehlende Kettenglied der Narration hinzukommt. Damit meine ich die Geschichte, die zwischen der ursprünglichen Heimat (beispielsweise Senegal) und dem Wohnort (beispielsweise Bochum) liegt. Diese Geschichte habe ich versucht zu ermitteln. Nach welchen Kriterien hast du deine Interviewpartner ausgewählt? Das funktionierte über verschiedene Cluster. Der erste Cluster war die RuhrUniversität Bochum, aber nicht um einen akademischen Filter davorzusetzen – das wäre meines Erachtens etwas, das man kritisieren könnte. Tatsächlich ist für mich die Bochumer Universität ein politischer Ort in dem Sinne, dass in einer Region, in der Kohle gefördert und Stahl produziert wird, mit der Gründung der Bundesrepu-
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blik Deutschland 1949 eben der Universitätsstandort Bochum als Voll-Universität ausgemacht wurde. Dies hielt ich für einen wichtigen Parameter zur Auswahl eines ersten Ausgangsortes für die Auswahl. Universität Bochum übrigens auch als erster Ort für die Repräsentation dieser multimedialen Erzählung. Es wurde also bei Studierenden angefragt, ob sie sich zur Kontaktaufnahme bereit erklären würden. Von etwa 200 Angeschriebenen haben 150 signalisiert, dass sie sich das vorstellen könnten. Davon haben wir dann einige angeschrieben und das Projekt skizziert. Diese schlugen dann Verwandte, Freunde oder Bekannte vor. Dadurch entstand ein sehr schönes Netz, das in dieser Form gewiss keiner wissenschaftlichen Parametrisierung standhält, sondern eher so etwas wie eine Zuruf-Struktur hatte. Und dennoch war es möglich, die 100 Nationen zu erreichen. Dazu kamen noch Kulturvereine, Sportvereine und andere Organisationen, die wir kontaktiert hatten. Wir haben uns auch mit einem Ausländeramt in Verbindung gesetzt. Mit deinem Projekt „New Pott“ bist du tief in die Lebensgeschichten anderer getaucht. Haben sich intensivere persönliche Kontakte ergeben, oder seid ihr bisweilen selbst in die Position von Unterstützern oder Helfern gerückt? Ein Teilnehmer unseres Projekts durfte sich nicht außerhalb der Stadt Herne bewegen, hatte aber ein Angebot als professioneller Fußballspieler (Abb. 8). Wir konnten für ihn erreichen, dass er jetzt nach acht Jahren ein Aufenthaltsrecht erhält und sich damit auch wirklich aktiv seinem Beruf widmen kann. Das ist ein Nebeneffekt unseres Projekts, da eine gewisse Öffentlichkeit mit solch einem Vorhaben verbunden ist. Und diese Öffentlichkeit konnte Mahamed Arouna aus Niger für sich nutzen, um seine Situation zu verbessern. Bei „New Pott“ fällt mir deutlich auf, dass dem Projekt Begriffe wie Heimat und Heim implizit sind, also der engste Wohnraum als Heim. Damit wären wir auch wieder bei Vilém Flusser, der geschrieben hat, dass für ihn als Emigrant seine Wohnung als Mikrokosmos die Konstante in seinem bewegten Leben bildete.8 Inwieweit ist dieser Gedanke für „New Pott“ wichtig? Das spielt eine wahnsinnig wichtige Rolle und ist natürlich nicht nur bei Flusser verankert, oder es ist eben bei Flusser besonders hervorgehoben, weil er das sehr genau beobachtete. Und das war bei den Teilnehmenden auch so: Sie waren besonders angetan davon, dass wir die Gespräche bei ihnen Zuhause führten. Das hat sie überzeugt, und damit war auch eine Art „Commitment“ verbunden, nämlich: Ich nehme teil, und das heißt, ich teile Teile meiner Privatheit, stelle sie in einen übergeordneten Kontext.
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Abb. 8: Mischa Kuball, New Pott, Mahamed Arouna, Niger, Foto: Egbert Trogemann
Das heißt, sie ließen auch bewusst einen Teil Privatheit öffentlich werden – „New Pott“ basiert konzeptionell schließlich auf dem Einsatz verschiedenster Medien und deren Verbreitung durch unterschiedliche Kanäle … Wir sprachen mit allen über das Material, das während unserer Gespräche entstehen sollte – die Fotografien und Videos. Die Interviewten wurden fotografiert und gefilmt; die Räume filmten und fotografierten wir auch als menschenleere Zimmer. Die Interviews wurden aufgezeichnet. Die Teilnehmer akzeptierten alle Veröffentlichungsebenen, bis hin zur Online-Präsenz. Das wurde alles im Vorfeld besprochen. Gleichzeitig wurde das Private durch den Einsatz der Lampe, durch das bühnenhafte „Setting“, wie du gesagt hast, wie durch einen Trichter in einen öffentlichen Raum überführt. Gab es dennoch nachher die Situation, dass sich die Interviewten gegen eine Veröffentlichung entschieden? Zwei Teilnehmer haben am Ende der Interviews aus nachvollziehbaren Gründen darauf bestanden, das Interview nicht zu veröffentlichen. Das war eine Teilnehmerin aus Israel. Sie thematisierte im Gespräch die Schwierigkeiten bei der Trennung von ihrem Mann, da die Rabbiner die Scheidung als einseitig – der Mann wollte sich nicht scheiden lassen – nicht akzeptierten. Bei unserem Gespräch thematisierte sie die Ungerechtigkeit ihrer Religionspraxis ebenso wie die genderspezifischen Probleme, die damit verbunden sind. Dann war da ein ungarischer Teilnehmer. Dieser sprach darüber, wie er einmal in seinem Leben Gebrauch von einer Waffe machen musste, um den russischen Soldaten abzuwehren, der ihn an der Flucht nach Österreich hindern wollte. Diese Tatsache war für ihn als Künstler eigentlich unerträglich. Das sind unvorhersehbare Situationen, die im Gespräch entstanden. Im Gesprächsfluss minimiert sich die Selbstkontrolle; dann wird über Dinge gesprochen, die man eigentlich nicht sagen und schon gar nicht öffentlich machen wollte. Die entstandenen Fotografien zeigen als visuelle Zeugnisse deines Projekts, dass sich in den Wohnräumen eine gewisse Hybridisierung äußert. Es ist dabei sehr interessant zu sehen, welche Einrichtungsgegenstände, Codes oder Attitüden mitgebracht wurden und ob Reminiszenzen an so etwas wie Ursprungsheimat zu finden sind. Es gibt aber auch häufig Zeichen eines, wie ich es sehr vereinfacht beschreiben würde, bürgerlichen deutschen Wohnzimmers. Diese Schichtung bringt für mich zum Ausdruck, was Einwanderung überhaupt sein kann: etwas Nicht-Statisches, Prozessuales und Bewegliches. Das kann ich nur bestätigen und würde das sogar in einer gewissen Weise verstärken, wie zum Beispiel bei der Familie Saeed aus dem Irak (Abb. 9), die nicht aufste-
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hen konnte, ohne die Kissen danach zurechtzurücken. Sie konnten die Spur, die die Familie gerade verursachte, nicht sichtbar halten. Sie sagten, dass es in ihrer Kultur absolut verpönt sei, aufzustehen und den Raum unaufgeräumt zu verlassen. Das sei undenkbar, und deswegen sieht man auf ihren Fotos keine Spuren im verlassenen Raum. Wenn man dagegen die Aufnahmen der Familie van Veen sieht, die aus den Niederlanden stammt (Abb. 10), lässt sich sofort nachvollziehen, wo die Kinder gespielt haben. Sie stehen einfach auf, und für die ist dann das Mini-Chaos, das entsteht, absolut in Ordnung. Das darf auch in die Öffentlichkeit. Und die Hybridisierung, die du angesprochen hast, hatte bei der ägyptischen Familie im Grunde einen gewissen Höhepunkt. Da kamen wir also rein und dann stand dann die Nofretete in dem Wohnzimmer neben einem sich wunderbar biegenden Tisch mit Leckereien. Die Gastfreundschaft war ihnen wichtig. Neben den traditionellen ägyptischen Backwaren waren da auch diese in Gold eingewickelten Schokoladen, Ferrero-Küsschen. Und die Nofretete in der Ecke wurde eben als das Original beschrieben, und die Kopie stünde in Berlin. Damit war natürlich sofort in der Diskussion ein Anknüpfungspunkt über die Frage, inwieweit da kulturelle Transgression stattfindet. Und inwieweit wir selbstverständlich die deutschen Archäologen oder Ägyptologen legitimieren, die nach Ägypten fuhren, um dort angeblich die ägyptische Kultur zu retten, indem sie komplette Tempel demontierten und die Objekte dann in deutschen Museen ausstellten. Diese Hybridisierung ist ja vielleicht auch Teil eines kulturellen Missverständnisses, das mit solch einem Projekt ebenfalls thematisiert wird. Mahamed Arouna, von dem ich bereits sprach, wollte ja auch nicht für den Niger, sondern für Borussia Dortmund spielen – bei vielen Gesprächspartnern gab es eine besondere Bereitschaft und Passion, mit diesem Thema umzugehen. Wer hat den Ort, an dem das Gespräch stattfand und an dem fotografiert wurde, vorgeschlagen? Es fällt auf, dass häufig das Wohnzimmer das Setting gibt, und dies ist, mit Blick auf Auswanderungs- oder Migrationsausstellungen, der Repräsentationsort für Migranten schlechthin. Viele dieser Ausstellungen basieren auf Oral History und zeigen die Protagonisten in ihren Wohnzimmern. Auf deiner Tagung „Migration und künstlerische Produktion“ wurde an diesem Schauplatz auch deutlich Kritik artikuliert und als Problem beschrieben, dass das Wohnzimmer ein stereotyper Ort der offiziellen Repräsentation von Migration sei. Andererseits bin ich überzeugt, dass wir stark geneigt sind, Dinge, die wir fragmentarisch sehen, rasch festzuschreiben, ohne dass möglicherweise eine Frage entstehen
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Abb. 9: Mischa Kuball, New Pott, Familie Saeed, Irak, Foto: Egbert Trogemann
Abb. 10: Mischa Kuball, New Pott, Familie van Veen, Niederlande, Foto: Egbert Trogemann
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kann. Ich betone dies, da manche Leute, die wir trafen, nur ein Zimmer hatten und dies dann eben Wohn-, Schlafzimmer und Küche in einem war. Grundsätzlich, glaube ich, ist die Kritik aber schon berechtigt, wobei ich sie an die Gesprächspartner weitergeben muss, die letztlich den Ort unseres Gesprächs bestimmten. Wir haben stets gefragt: „Wo wollen wir das Interview führen?“ Wenn man das São-Paulo-Projekt sieht, gibt es Personen, die die Küche wählten. Und eine Frau hat sich das Schlafzimmer als Ort ausgesucht – nicht, weil das mit ihrer Profession zu tun gehabt hätte, sondern weil das einfach der Raum ist, in dem sie Intimität, Privatheit überhaupt zulassen kann. Sicherlich hat die Wahl des Wohnzimmers mit Traditionen und Gepflogenheiten zu tun: Du hast über Öffentlichkeit und Privatheit gesprochen, und das Wohnzimmer ist vermutlich die größte Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Raum. Ein anderer Aspekt, der mich interessiert, ist die Perspektive: Deine Gesprächspartner fokussieren die Kamera, der Bildaufbau wirkt geordnet. Obwohl du und dein Team – der Fotograf Egbert Trogemann – nicht im Foto erscheinen, seid ihr dennoch durch die Gegenblicke der Fotografierten im Bild „anwesend“. Also, es gibt keine Willkür. Es gibt eine Setzung, die kommt von den Teilnehmenden in dem Projekt. Es gibt aber natürlich die Kamera, es gibt ein Objektiv und die Blickperspektive. Es gibt auch eine Gerichtetheit in Form des Sprechens, denn die Leute sprechen nicht irgendwohin, sondern es gibt ein Mikrofon und ein Aufnahmegerät, das die Gespräche und Geräusche aufnimmt. Die Geräusche wurden für die Buchform nicht übersetzt, sie werden nicht beschrieben wie in einem Theater- oder Filmskript. Es gibt also eine ganz starke Fokussierung auf die menschliche sprachliche Form. Das ist eine Eingrenzung und eine Art Tunnel, der entsteht, und womit nicht dem ganzen Ambiente und der gesamten sphärischen Situation Rechnung getragen wird. Also auch so eine Art von zweiter Brennschärfe, die sich auf diese Weise einstellt. Für die Fotografien und die Videoaufnahmen ließe sich über Blickregime und Repräsentationen sprechen, wie sie in der jüngeren kulturanthropologischen Forschung zur Migration diskutiert werden. In der Soziologie wird derzeit um neue Begriffsfindungen wie das „Postmigrantische“9 gerungen, um eine veränderte Erzählperspektive benennen zu können: Wer spricht? Wie erzählen Migranten ihre eigene Geschichte neu? Wie würdest du dich da einordnen mit „New Pott“? Auch du entwickelst ja letztlich eine Perspektive auf Migration. Welche ist das deiner Ansicht nach?
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„New Pott“ kann in meinen Augen nur eine Beschreibung einer transitorischen Situation sein. Ich glaube, dass sich alte Muster durchaus wiederfinden, sowohl in der Frage-Antwort-Struktur als auch in der Bildrepräsentanz. Ich möchte jetzt nicht einmal das Blickregime als anthropologische, visuelle Klammer dafür einsetzten. „New Pott“ funktioniert nach Länderkategorien. Es hat nationale Rückbezüge, spielt auf territoriale Regionen an und ignoriert vielleicht überkulturelle Klammern, die sich setzen lassen. Ich kann da keine Antworten liefern und auch nicht im Nachhinein das Projekt wieder korrigieren, indem es jetzt von mir eine Re- oder Neukontextualisierung bekommt. Ich finde, das Projekt soll in seiner Angreifbarkeit als solches existieren und ein Gegenstand der Diskussion sein. „New Pott“ benutzt verschiedene Kanäle von Öffentlichkeit; das 2011 publizierte Buch10 ist nur einer davon. Das aufgezeichnete Material ist in seiner gesamten Form zugänglich. Es ist ein Siebtel der insgesamt 400 Stunden Ton- und Bildmaterialien verwertet worden für die Videoclips, die manchmal zwar eine halbe Stunde dauern, aber dennoch eben nicht das drei- oder vierstündige Gespräch wiedergeben. Dieses ist aber im Buch transkribiert worden, immer auch mit dem lektorischen Korrektiv. Harald Welzer als Mitherausgeber und Christoph Keller als Verleger weigerten sich, ein unlektoriertes Sprechen zu veröffentlichen. Wir haben das sehr lang diskutiert: Wollen wir nicht einfach jede sprachliche Unebenheit, die wir als solche empfinden, einfach im Buch lassen, weil sie die sprachliche Authentizität des Sprechenden repräsentiert? Das grundsätzliche Problem ist aber, dass bereits jede Form der Transkription eine Abstraktion ist, weil sie nicht mehr den Klangraum repräsentiert, sondern den Schriftraum. Und deswegen bleibt das Verschriftlichte immer angreifbar. Das gehört auch zu dem Projekt, dass es an der Stelle Fragilität, eine Zerbrechlichkeit oder auch eine Perforation hat. In den verschiedenen Repräsentationsformen von „New Pott“ existieren Abweichungen: Da ist das Video, das mit bewegtem Bild und Ton arbeitet, dann das Buch, das die Gespräche verschriftlicht und mit dem fotografischen Bild arbeitet. Die Ausstellung als Präsentationsform zeigt Schwarz-Weiß-Fotografien. Die Ausstellung bringt in ihrer Schwarz-Weiß-Repräsentanz auch noch mal diese Zusammenhänge mit den Fotografien August Sanders, den ich als wichtige historische Figur bereits nannte und der seine Menschenbilder ebenfalls in strengem Schwarz-Weiß fotografierte.
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In den Rezensionen zu deinem Buch „New Pott“ wird das Projekt häufig in die Diskussionen um das vermeintliche Scheitern der multikulturellen oder multiethnischen Gesellschaft gestellt und als eine Art Anti-Sarrazin11 gelesen. Auf mich wirkt dies wie die tagespolitische Vereinnahmung eines autonomen Projekts, das bereits seit 2008 entstand. Hast du die Reaktionen ebenfalls als Instrumentalisierung wahrgenommen? Vielleicht muss man dazu sagen, dass es bereits zur Entstehungszeit von „New Pott“ eine mediale Repräsentanz des Projekts und bereits im Prozess des Kompilierens und der wissenschaftlichen Überarbeitung erste Reaktionen gab. Es entstand eine zweite Öffentlichkeit, die sich mit dem Thema beschäftigte, die hat sich des Projekts angenommen und unterschiedliche Argumente angedockt. Es gab tatsächlich fast ein Telefonbuch an Reaktionen. Das Problem ist, dass geförderte Projekte schnell unter Grund- oder Pauschalverdacht stehen, dass sie möglicherweise eine politische Aussage entweder unterstützen oder konterkarieren sollen. Ist „New Pott“ demnach kein explizit politisches Projekt? Und würdest du dich in diesem Zusammenhang auch nicht als politischer Künstler beschreiben? Eine politische Motivation seitens meiner Person oder auch des Teams hat es tatsächlich nicht gegeben (Abb. 11). Niemand wollte gegen oder für irgendetwas sein. Wir wollten zunächst einmal beobachten, beschreiben, zusammenstellen und zum Sprechen bringen, mit den Einschränkungen, die es natürlich gibt, weil wir eben eine gewisse Situation dafür geschaffen haben. Ich glaube, dass es besser ist, wenn die Zuschreibung des Politischen von außen kommt und diese Wahrnehmung sich an dem Handeln selbst festmacht und nicht so sehr an der Selbstkategorisierung eines Künstlers. Ich würde sehr gerne ernst genommen werden in dem Versuch, in einer überschaubaren Topografie eine neue Kartografie einzuführen. Du sprichst von einer Kartografie, das heißt ein neues Vermessen, ein Mapping. Das Vermessen ist, wenn wir uns zurückwenden ins 19. Jahrhundert, ein Instrument des Kolonialismus gewesen, um Macht auszuüben – denken wir beispielsweise an die physiognomische oder ethnologische Fotografie. In meinen Augen ist „New Pott“ eine ganz andere Art des Vermessens, also ein Blick nach innen in das Land und eine Neubewertung von Migration als Entstehen einer gesellschaftlichen Vielheit. Eben diese Kartierung war mit „New Pott“ intendiert. Zudem haben wir versucht, aus der Pauschalisierung – es leben hier viele Nationen, die irgendwie repräsentiert sind – in die Spezialisierung zu kommen – mit den 100 Familien, die wir trafen, und ihren 100 Geschichten, die wir hörten. Dass man möglicherweise daraus etwas ziehen
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Abb. 11: Anonymes Graffiti, 2010, Ruhr-Universität Bochum, Archiv Mischa Kuball, Düsseldorf
kann, was politisierbar ist, das ist für mich nicht der Anspruch eines politisch wirkenden Künstlers, sondern das ist das, was eine tagespolitische Situation sich gerade wünscht. Wenn man eben jetzt von einer politischen Perspektive aus sagt, man wünscht sich mehr kulturelle Vielfalt, dann würde „New Pott“ vermutlich dafür stehen können. Aber wenn jemand das umdreht und sagt, man sehe schon an den Formulierungen, dass die Leute viel zu wenig Deutschkompetenz haben, dann könnte man das auch daran festmachen. Und das ist genau die Gefahr, die wir unterlaufen haben, indem wir das Projekt eben nicht unter eine Fragestellung gesetzt haben. Den gesamten Prozess begleitete über zweieinhalb Jahre in einer Supervision und in einem Metakommentar der Sozialwissenschaftler Harald Welzer. Der ist ein kritischer Geist, den man nicht in irgendeine politische Ecke setzen könnte, außer dass er Kritik gegen die richtet, die gesellschaftliche Entwicklungen forcieren und andere ausgrenzen. Harald Welzer hat dein Projekt begleitet, ebenso wie Egbert Trogemann, dein Kameramann, und einige andere, die das Vorhaben mit dir geplant und durchgeführt haben. „New Pott“ ist aus vielerlei Sicht ein partizipatorisches Projekt. Wie würdest du diese Arbeit im Team beschreiben, wie das Verhältnis von Team und Gesprächspartnern?
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Abb. 12: Mischa Kuball im Gespräch, New Pott, Foto: Egbert Trogemann
Das ist immer schwierig, weil bei solch komplexen Projekten dann vielleicht der eine künstlerische Name oder die eine Person, die als Künstler identifiziert ist, im öffentlichen Kontext Erwähnung findet und dann alle anderen Beteiligten zurückstehen (Abb. 12). Wir haben versucht, in der ausführlichen Dankesliste nicht nur einer rhetorischen Schuld oder Verpflichtung nachzukommen, sondern die wichtigen Mitglieder unseres Teams aufzuführen, darunter Sandra Höptner oder Sabine Márton. Egbert Trogemann führte die Video- und Fotokamera und hörte auch alle Geschichten. Da wurde stets die Frage bewegt: Wie gehen wir damit um? Manchmal hat uns das auch ganz privat berührt, beispielsweise das Gespräch mit Familie Stanojević aus Bosnien – Egbert Trogemann ist selbst mit einer bosnischen Künstlerin zusammen. Dieses Projekt war etwas, das mit uns selbst zu tun hat, kein abstrakter wissenschaftlicher Gegenstand außerhalb unseres eigenen Lebens- und Erfahrungsraumes. Zudem fanden die Gespräche nicht in einem Studio mit festem Setting statt, sondern uns wurde die Tür geöffnet und wir haben uns stets auf ein neues Szenario eingelassen. Dabei wurde das Licht als Element von uns mitgebracht, dadurch entstand eine Fremdheit im Raum. Also das war ein wichtiger Ausgangspunkt, auch unterstreicht dies erneut das Partizipatorische. Bei „New Pott“ ist das konstitutiv. Es gibt kein
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Abb. 13 und 14: Mischa Kuball, Ausstellungsansichten Kunstsammlung der Ruhr-Universität Bochum, 2010/2011, Foto: Thorsten Koch
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Sprechen von mir ohne die Idee, dass eigentlich die Geschichten der Teilnehmenden des Projektes zur Sprache kommen. Ist das Projekt abgeschlossen? Nein, das ist immer noch im Prozess. Wir sind mit einigen Personen auch weiterhin im Gespräch. Es gibt auch Leute, die möchten gerne, dass ihr Video aus dem Netz herausgenommen wird, weil sie sich zum Beispiel haben scheiden lassen und weil sie nicht mit ihrer Ex-Frau oder ihrem Ex-Mann in einem Video zu sehen sein wollen. Auf diese Weise wird uns das Projekt noch lange beschäftigen. Da sehe ich in den nächsten Jahren eine Intensivierung auf mich zukommen, für eine weitere forscherische Beschäftigung in Form von Abschlussarbeiten oder Dissertationen ist es wichtig, dass die Archive und Materialien zugänglich sind (Abb. 13 und 14). Und eine Weiterführung oder Wiederaufnahme von „New Pott“ – ist das angedacht? Wenn man das Projekt heute realisieren würde, könnten sich durch die wirtschaftlichen Auswirkungen nach der Finanzkrise andere Inhalte ergeben. Nach 2008 war die Angst der Menschen eher abstrakt. Und jetzt sind die Dinge an vielen Stellen verifiziert, man sieht eben die unmittelbaren Auswirkungen. Es könnte also sein, dass ein Projekt mit dem gleichen Grundgedanken möglicherweise andere Gespräche evozieren würde. Und es gibt diesen geheimen Plan, vielleicht in fünf Jahren oder erst in zehn Jahren die Familien, sofern möglich, erneut zu kontaktieren und das Mapping noch einmal zu spezifizieren. Nicht nur auf einer territorialen Ebene – wohin sind Sie gezogen oder wo leben Sie jetzt –, sondern eben auch hinsichtlich anderer Veränderungen: Wenn wir mit jemanden sprachen, der noch in der Ausbildung war, könnte uns interessieren, wohin ihn die Situation seitdem gebracht hat. Ich werde euer Projekt „New Pott“ weiterhin mit Neugier verfolgen. Vielen Dank für das Gespräch! 1 | Oswald de Andrade: Manifesto Antropófago (1928), dt.: Anthropophagisches Manifest, in: Arch+, H. 190, 2008, S. 29–30. 2 | Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Bensheim 1992. 3 | „Lux venit in mundum et dilexerunt homines magis tenebras quam lucem“ aus dem Johannesevangelium („Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen liebten die Finsternis mehr denn das Licht“, Joh 3,19). 4 | Vgl. Wolfgang Kemp: Von Gestalt gesteigert zu Gestalt. Hokusais 100 Ansichten des Fuji, Berlin 2006. 5 | Germaine Krull: 100 x Paris, Berlin 1929, erschienen im Verlag der Reihe. 6 | Hans-Peter Feldmann: 100 Jahre, München 2001. Feldmann widmete diese Fotoserie einem 100-jährigen Leben und fotografierte 101 Menschen aus seinem Umfeld – von einem wenige Wochen alten Säugling bis zur 100-jährigen Greisin. 7 | Erstmals in München 1929 als „Antlitz der Zeit“ publiziert, allerdings mit nur 60 Aufnahmen.
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8 | Vilém Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, in: ders.: Von der Freiheit des Migranten, Berlin 2007, S. 15–30. 9 | Vgl. z.B. Erol Yıldız: Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe, http://www. uni-klu.ac.at/frieden/downloads/yildiz-artikel-postmigrantisch.pdf [Abruf 4.1.2013]. Als „postmigrantisch“ definiert sich auch das Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin: „Das Ballhaus Naunynstraße wurde 2008 von Shermin Langhoff unter der Schirmherrschaft von Fatih Akın als translokales Theater neu eröffnet und ist seitdem ein Kristallisationspunkt für Künstler_innen migrantischer und postmigrantischer Verortung und darüber hinaus.“ http://www.ballhausnaunynstrasse.de/HAUS.8.0.html [Abruf 4.1.2013] 10 | Mischa Kuball und Harald Welzer (Hg.): New Pott. Neue Heimat im Revier, Zürich 2011. 11 | Bezogen auf die heftigen Debatten um das Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ von Thilo Sarrazin (München 2010), in dem dieser sich mit den aus seiner Sicht gesellschaftlich negativen Folgen von Einwanderung, vor allem aus den islamischen Ländern, auseinandersetzte. „AntiSarrazin“ in Bezug auf das gleichnamige Gegenbuch zu Sarrazin von Sascha Stanicic (Köln 2011).
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Nanna Heidenreich
DIE KUNST DES AKTIVISMUS. KANAK ATTAK REVISITED
Kanak Attak ist eine Künstlertruppe, eine Hip-Hop-Gruppe, ein Büro mit Sekretär und Konto, ein Haufen postkolonialer Lesben, eine Untergruppe von attac. Kanak Attak ist ein Film, ist Performancekunst, eine Ansammlung diskursiver Überintellektueller, irgendetwas von Feridun Zaimoğlu, ein westdeutscher Akademiker/-innenverein, ein türkischer Fernsehsender, ein Haufen biodeutscher Antirassist/-innen, ein Migrant/-innenverbund, ein Forschungs- und Studienobjekt, das Versprechen einer neuen Politik, das Ende der Dialogkultur, eine Erfolgsgeschichte, ein Mythos, eine Projektionsfläche, eine Webseite, ein Franchisingunternehmen, ein Manifest, ein Label, ein Netzwerk. Kanak Attak war gestern, Kanak Attak ist noch nicht vorbei, Kanak Attak trägt Kennzeichen einer neuen sozialen Bewegung, Kanak Attak ist ein Archiv, eine Gruppe Amateurhistoriker/-innen, ein loses Bündnis, eine Ansammlung von Großmäulern, von Geschichtenerzählern/-innen, Kanak Attak tanzt dir die Migration, Kanak Attak ist der Versuch, auf der Bühne gut auszusehen, ohne zu wissen, wie das genau geht. Kanak Attak ist: eine Haltung. Mit dieser Aufzählung habe ich nur einige der Adressierungen aufgezählt, mit denen Kanak Attak in den letzten 15 Jahren zitiert und kontaktiert wurde und zum Teil sich auch selbst so zur Verhandlung gestellt hat. Heute gibt es Kanak Attak im eigentlichen Sinne nicht mehr. Auf der Webseite (www.kanak-attak.de) erscheint unter „Aktüell“ die Meldung: „Hinweis in eigener Sache: Kanak Attak als Netzwerk existiert nicht mehr. Trotzdem erscheinen auf dieser Seite von Zeit zu Zeit Kommentare oder Verweise zu Ereignissen des Tagesgeschehens“. Dennoch wird Kanak Attak als weiterhin existierende Gruppe adressiert.1 Die Personen, die das Netzwerk ganz wesentlich gekennzeichnet haben, sind auch nicht etwa von der Bildfläche verschwunden oder „vom Thema abgekommen“.2 Das, was Kanak Attak ausmachte, sein Wissensschatz
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und die Erfahrungswerte des Netzwerkes, hat sich in andere Formen, Projekte, Strukturen weitergetragen, hat sich transformiert und entwickelt. Wie jedes kollektive Unterfangen ist das Ende eines solchen Projekts zugleich diffus (gibt es das, einen klaren Endpunkt?) und schmerzhaft. Der Streit gehört wesentlich zum Politischen, und die persönliche Investition zur Gruppenstruktur. Am Ende eines solchen Vorhabens stehen dann: die Scherben, die Risse, die Mythen, Hoffnungen auf Wiederbelebung und Weitermachen, Missverständnisse. Und natürlich die verschiedenen Deutungen, insbesondere der Beginn: Was und wann genau war Kanak Attak? Wer gehörte dazu, wie hat alles angefangen? Mir geht es hier jedoch nicht etwa um die vermeintlich richtige Ursprungserzählung, sondern darum, einen Blick zu werfen auf eine bestimmte Verbindung von Politik und Kunst, auf den Aktivismus, durch den die Idee von Antirassismus ebenso gründlich umgekrempelt wurde wie die Art und Weise des Politikmachens. Kanak Attak ist aber natürlich auch ein klassisches Fallbeispiel für das, was jedes kollektive politische Projekt auszeichnet: seine Zeitlichkeit, die Tatsache, dass dazu ebenso das Ende gehört wie der Anfang, wenn auch mit einem ganz anderen Ton, einem anderen Soundtrack. Und, das halte ich gleich vorweg fest, was fehlt, ist ein Manifest, das das Ende markiert, ein Manifest des Aufhörens, was auch eines des Weitermachens wäre. Die Arbeit geht nämlich weiter, aber eben: anders. Aber zunächst zurück auf Los: Kanak Attak ist (war) ein antirassistisches Bündnis in Deutschland. Es wurde Ende der 1990er-Jahre mit einem Manifest ins Leben gerufen, das 1998 erst auf Deutsch und kurz danach auch auf Türkisch, Englisch und Französisch veröffentlicht wurde. Das Manifest ist in der ursprünglichen Form noch heute auf der Webseite zu finden.3 Über dessen Entstehung kursieren ebenso viele Gerüchte wie Varianten in der Definition dessen, was Kanak Attak gewesen sein soll oder noch ist. (M)Eine Version ist die, dass das Manifest von einer Reihe von Leuten geschrieben wurde, von denen damals viele im Rhein-Main-Gebiet gelebt haben und die alle bereits jahrelang in antirassistischen, migrantischen und linken politischen Zusammenhängen umtriebig waren. Nicht wenige waren, auch im Kontext der sogenannten Poplinken, schreibend – journalistisch, schriftstellerisch –, musikmachend und in anderer Form als Kulturproduzent/-innen tätig. Oder zumindest dabei, sich als solche zu positionieren. Es gab auch Vorläuferformationen von Kanak Attak, wie „das Fest des deutschen Mitbürgers“, veranstaltet in Mannheim vom auch heute noch aktiven Migrant/-innenverein „Die Unmündigen“, einer Organisation, die auch als solche wichtig war für die Entwicklung von Kanak Attak.4
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Das Manifest wurde an Freund/-innen, Genoss/-innen und andere Verbundene geschickt; kurz darauf fand in Frankfurt am Main das erste bundesweite Treffen statt. In der Folge bildeten sich zahlreiche Gruppen unter dem „Label“ Kanak Attak in Frankfurt, Köln, Hamburg, Saarbrücken und Berlin, später auch in München, Tübingen und Freiburg. (Und spätestens hier muss ich einfügen, was sicherlich längst deutlich geworden ist: Kanak Attak ist zwar ein bundesweiter Zusammenschluss – aber es ist auch ein westdeutsches Projekt. Der Bezugspunkt war zum allergrößten Teil die Geschichte von Migrationsbewegungen nach Westdeutschland. Das aber nur als Randbemerkung an dieser Stelle.) Und es begannen Veranstaltungen unter dem „Label“ Kanak beziehungsweise Kanak Attak (den Kanak-Label-Begriff hatte Feridun Zaimoğlu bereits zuvor für seine Performances geprägt), darunter die Lese- und Soundtour „VIP: KANAK“ von İmran Ayata und Feridun Zaimoğlu, die über Augsburg und Reykjavik bis nach Hamburg geführt hat.5 2001 fand dann auch die erste richtig große Veranstaltung statt, „Dieser Song gehört uns“ in der Volksbühne in Berlin (Abb. 1), bei der das gesamte Haus mit Vorträgen, DJ-Sets, Diskussionen, kommentierten Filmausschnitten und mit der „OpelPitbullAutoput“-Revue mehrere Tage bespielt wurde. Das Festival lockte 2000 Besucher/-innen an den Rosa-Luxemburg-Platz. In dieser „History Revue“ wurden zum ersten Mal in einer Performance Geschichte und Geschichten der Migration mit dem für Kanak Attak zentralen Fokus auf die Dynamiken der Kämpfe präsentiert. Wie es in einer Presseerklärung anlässlich von „Dönerstress“ im Prater resümierend hieß: „[…] damit haben wir ein Thema, dessen Spuren sich bislang in Bibliotheken und persönlichen Archiven verloren hatte, ins Rampenlicht gebracht. Die Auseinandersetzung mit den Kämpfen von Migrant/-innen und ihren Selbstbehauptungsstrategien seit den 50er Jahren diente uns auch dazu, Positionen zum Alltag und zur gesellschaftspolitischen Situation von Kanaken im Almanya von heute zu formulieren.“6 Ein Jahr später, 2002, folgte dann „Konkret Konkrass“ mit der, ich zitiere aus derselben Presseerklärung von „Dönerstress“, „wir erneut in einer Mischung aus Bühne, Panels, Filmen und DJ-ing in der Volksbühne Berlin und im Schauspielhaus Frankfurt/Main unsere Arbeit in die Öffentlichkeit gebracht und mit den Kanak Swing Serials die Themen No Integration, Recht auf Legalisierung und Globalisierung von unten lanciert“7 haben (Abb. 2). Wieder ein Jahr später folgte die Performance „Le Show Papers Royal“ im SO 36 in Berlin und bei „go create resistance!“ im Schauspielhaus Hamburg 2004, die im
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Abb. 1: Plakat „Dieser Song gehört uns“, Kanak-Attak-Veranstaltung in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 13. April 2001
Rahmen der Kampagne „Recht auf Rechte“ und der Gründung der „Gesellschaft für Legalisierung“ entstand,8 sowie die mit Mitteln des Hauptstadtkulturfonds finanzierte Produktion „Dönerstress“ im Prater in Berlin im selben Jahr.9 2008 und 2009 wurde dann „The Walking Cube“ erst im Haus der Kulturen der Welt in Berlin im Rahmen der Ausstellung „In der Wüste der Moderne. Koloniale Planung und danach“10, kuratiert von Serhat Karakayali, Marion von Osten und Tom Avermaete, präsentiert und dann in einer anderen Version für das Ausstellungs- und Rechercheprojekt „Crossing Munich“11 erarbeitet. In der Ankündigung hieß es damals: „Eine performative Verknüpfung von Architektur, Macht, Migration und Widerständen: Die vier Wände des wandernden Kubus engen die Performer ein, die die Last der mobilen Behausung tragen. Es ist eine Enge, die die ,Gastarbeiterwohnheime‘ oder die Container von Flüchtlingslagern zitiert. Nie steht diese Behausung ruhig, selbst im Stillstand ist vibrierende Spannung zu fühlen. Unruhig auch die Projektionen, die die Wände treffen oder verfehlen: Fotos, Zeitzeugenberichte, Artikel, Filmsequenzen zur Lage in Deutschland bringen den Raum zum Sprechen
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Abb. 2: Plakat „No Integración! Konkret Konkrass 2002“, Kanak-Attak-Veranstaltung in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 19./20. Mai 2002 Nanna Heidenreich | KANAK ATTAK REVISITED
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und Geschichten Risse ins Gefüge. Sprachgebäude treffen auf Architektur. Diese vielen Facetten entsprechen der Vielstimmigkeit der Soundpartikel, die den Wandernden Kubus einhüllen.“12 Die Resonanz – seitens der Medien, in der Kunst und Kulturlandschaft –, aber vor allem im Feld des Antirassismus und politischen Aktivismus auf den von Kanak Attak propagierten Mix aus Theorie, Politik und künstlerische Praxis war enorm. Eine Resonanz, die sich bis heute unter anderem darin zeigt, dass der Webmaster der Kanak-Attak-Webseite, Michael Willenbücher – außerdem Autor eines Buches zur Figur des Illegalisierten13 –, regelmäßig Anfragen bekommt von Studierenden und anderen Forschenden, die zu Kanak Attak recherchieren und Arbeiten schreiben, die bis hin zu Promotionsprojekten reichen.14 Aber an dieser Stelle noch einmal genauer zur Konstitution von Kanak Attak. Kanak Attak hat immer über selbst erklärte Zugehörigkeit funktioniert. Die Struktur war daher die eines Netzwerks, das aber auch als Kollektiv, besonders in den örtlichen Zusammenschlüssen, funktioniert hat. Wichtig war, dass diese Struktur – der eigenständigen Zugehörigkeitserklärung, die nicht etwa von einer Art Zentralkomitee bestätigt – überprüft oder gar zurückgewiesen wurde, was natürlich auch bedeutet hat, dass es höchst unterschiedliche Interpretationen des Konzepts und des Begriffs gab. Wie Ulrich Steuten in einem der ersten – leider weitgehend übersehenen – wissenschaftlichen Artikel zu Kanak Attak argumentiert hat, bereitet eine genaue Konstruierung dieses neuen „Labels“ Schwierigkeiten, weil sich äußerst unterschiedliche Gruppen/Personen als Kanaken labeln, aber nicht unbedingt sich mit allem, was im Manifest steht, identifizieren.15 Am Anfang ging es in den Auseinandersetzungen um die Frage, wer oder was Kanak Attak eigentlich ist, vor allem um die Subsumtion unter das rassistische Schimpfwort „Kanake“, später dann deutlich um Fragen des Politikverständnisses, insbesondere das Verhältnis zur Kritik einer Identitätspolitik, die einerseits einen wesentlichen Unterschied zu anderen politischen Artikulationen im Feld des Antirassismus markierte, andererseits bis heute einer der umstrittensten Bestandteile von Kanak Attak ist. Ich zitiere an dieser Stelle das Manifest: „Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluß verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter „Identitäten“ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der
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Herkunft. Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab [...].“16 Ich muss hier detaillierte Ausführungen zum Kontext der 1990er-Jahre aussparen und hoffen, dass das spezifische Gefüge einigermaßen präsent ist – von den rassistischen Gewaltexzessen nach der deutsch-deutschen Vereinigung bis zur Frage nach dem Ort der Linken und einer linken Politik.17 Innerhalb dieses Gefüges hat sich Kanak Attak damals wie ein Lauffeuer verbreitet. Nochmals Ulrich Steuten: „Medienwirksamkeit hat die Gruppierung in den letzten Jahren durch ihre unkonventionelle Selbstdarstellung und eine Reihe spektakulärer und provokativer künstlerischer Aktionen erlangt.“18 Es kamen meiner Ansicht nach verschiedene Dinge zusammen, die die Verbreitung und die Sichtbarkeit von Kanak Attak bedingt haben: die Aufkündigung der aufoktroyierten Dialogkultur, deren einziger Ort der zwischen zwei Stühlen zu sein hatte, der radikale Bruch mit dem Stillhaltefaktor „Multikulti“ und gleichzeitig die unverfrorene Benennung der rassistischen Verhältnisse: anti-repräsentationspolitisch, anti-essentialistisch und mittels des Sampelns unterschiedlichster Formate und Genres – Theorie, Pop, Politik, Sound, Film, Performance, Plakatives und Subversives, hoch Theoretisches und politisch Avantgardistisches. Kanak Attak kündigte nicht nur dem diskursiven Mainstream die Zurückhaltung und das Mitspielen auf, sondern distanzierte sich auch von antirassistischer Arbeitsteilung und einem Politikverständnis, das von Selbstaufgabe, Aufopferung, Fantasielosigkeit und institutionalisierten Formen gekennzeichnet war. Ich muss hier, ebenfalls der notwendigen Kürze des Textes geschuldet, auch die wesentlichen politischen Konzepte, die die Geschichte von Kanak Attak gekennzeichnet haben, aussparen – Stichworte sind hier „No Integration“, „Recht auf Legalisierung“, „Autonomie der Migration“. Nur ein Aspekt soll an dieser Stelle, weil er für die künstlerischen Strategien von Kanak Attak wichtig war, hervorgehoben werden: den des „Kanak-Aha-Effekts“, einer Art „historical turn“ hinsichtlich Migration. Nicht nur war Deutschland bis 1998 offiziell durch den Neologismus „Nichteinwanderungsland“ definiert, Migration hatte keine Geschichte, genauer: Migration wurde aus der offiziellen Historiografie ausgespart. Kanak Attak war daher zunächst auch
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die Suche nach der Geschichte der Migration. Was einerseits hieß, die in privaten Archiven gesammelten, erlebten und kolportierten Geschichten weiterzuerzählen und aufzuzeichnen, andererseits in der Tat ganz basale historische Forschung darstellte – aus der dann wesentliche Beiträge einer neuen kritischen Migrationsforschung hervorgingen.19 Die Dynamik der Kämpfe in den Mittelpunkt zu stellen – der Kanak-Aha-Effekt – war den Erfahrungen des italienischen Operaismo20 geschuldet und führte dann auch schnell zu einem weiteren Begriff, der zu zirkulieren begann, dem „Kanak-Operaismus“. Auch dieser stammte aus einem Interview, diesmal in der Wochenzeitung „Jungle World“ 2001. Die Assoziation zum Operaismus stellte eine der Interviewer/ -innen, Katja Diefenbach, her. Vassilis Tsianos antwortete damals auf ihre Frage, ob es einen Bezug dazu gebe: „Operaismus in der Rassismustheorie finde ich eine schöne Formulierung. In unserer theoretischen Praxis arbeiten wir tatsächlich an einer widerstandstheoretischen Perspektive, aus der wir Rassismus analysieren und kritisieren wollen. Dabei geht es nicht so sehr um MigrantInnen als Subjekte, sondern vor allem um eine Konzentration auf die Dynamik der Kämpfe. Das heißt, wir verstehen Antirassismus nicht bloß als eine Reaktion auf staatliche Repression. MigrantInnen haben zum Beispiel auf den Anwerbestopp von 1973 damit geantwortet, hinter dem Rücken der neuen Abschottungspolitik die Familienzusammenführung als ein Instrument für Einwanderung zu benutzen. Dieses Wissen um die eigene geschichtliche Aktivität, diese operaistische Sichtweise, ermöglicht MigrantInnen ein anderes politisches Bewusstsein. Das ist der Kanak-Aha-Effekt.“21 Auch das kürze ich hier ab, aber auch dazu finden sich die entsprechenden Texte auf der Webseite von Kanak Attak.22 Stattdessen wende ich mich hier nun den künstlerischen Strategien von Kanak Attak zu, wofür sich eine Zwischenüberschrift des Manifests anbietet: „Repräzent? Repräzent!“ Mit diesem Aufruf zur Intervention in Repräsentationspolitiken wurde der letzte Abschnitt des Manifests eingeleitet, der wie folgt lautete: „Kanak Attak bietet eine Plattform für Kanaken aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, denen die Leier vom Leben zwischen zwei Stühlen zum Hals raushängt und die auch den Quatsch vom lässigen Zappen zwischen den Kulturen für windigen Pomokram halten. Kanak Attak will die Zuweisung von ethnischen Identitäten und Rollen, das ‚Wir‘ und ‚Die‘ durchbrechen. Und weil Kanak Attak eine Frage der Haltung und nicht der Herkunft oder der Papiere ist,
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sind auch Nicht-Migranten und Deutsche der xten-Generation mit bei der Sache. Aber auch hier wieder ¡ojo! Die bestehende Hierarchie von gesellschaftlichen Existenzen und Subjektpositionen läßt sich nicht einfach ausblenden oder gar spielerisch überspringen. Es sind eben nicht alle Konstruktionen gleich. Damit bewegt sich das Projekt in einem Strudel von nicht auflösbaren Widersprüchen, was das Verhältnis von Repräsentation, Differenz und die Zuschreibung ethnischer Identitäten anbetrifft. Dennoch: Wir treten an, eine neue Haltung von Migranten aller Generationen auf die Bühne zu bringen, eigenständig, ohne Anbiederung und Konformismus. Wer glaubt, daß wir ein Potpourri aus Ghetto-Hip-Hop und anderen Klischees zelebrieren, wird sich wundern. Wir sampeln ganz selbstverständlich verschiedene politische und kulturelle Drifts, die allesamt aus einer oppositionellen Haltung heraus operieren. Wir greifen auf einen Mix aus Theorie, Politik und künstlerischer Praxis zurück. Kanak Attak sinniert nicht über Kulturkonflikte, lamentiert nicht über fehlende Toleranz. Wir äußern uns: mit Brain, fetten Beats, Kanak-Lit, audio-visuellen Arbeiten und vielem mehr. Dieser Song gehört uns. Es geht ab. Kanak Attak!“23 Diese Proklamation „Wir treten an, eine neue Haltung [...] auf die Bühne zu bringen“ formulierte also schon vor 2001, vor dem ersten großen Auftritt in der Volksbühne, dass Politik hier auch auf den Bühnen von Kunst und Kultur betrieben wird, und das nicht (nur) als Kulturpolitik.24 Die Mischung aus politischem Aktivismus, Theorie und künstlerischer Praxis war ebenso Bestandteil des Manifests wie die Artikulation eines neuen Antirassismus, einer anti-identitären radikalen Politik, die Migration zum Ausgangspunkt nimmt, sich aber gegen Authentizität und die Frage nach der Herkunft wendet. Dass sich Kanak Attak auch auf die Bühnen begeben hat, hat verschiedene Gründe. Zum einen eine Redefinition des Politischen beziehungsweise der Relation von Politik und Ästhetik – genau jener Aushandlungsprozess, den Jacques Rancière unter anderem in „Das Unvernehmen“25 theoretisiert –, wozu auch die durchaus pragmatische Einbindung der „skills“ der Beteiligten zählte, die eben Wissenschaftler/innen, Journalist/-innen, Autor/-innen, Performancekünstler/-innen oder Musiker/innen waren. Dies war schlicht der Erkenntnis geschuldet, dass man Talente und Interessen produktiv in aktivistische Umtriebe einbringen sollte, statt sie in getrennten Sphären zu halten. Und nicht zuletzt motivierte der sich in vielfacher Hinsicht kulturalistisch äußernde Rassismus, der eine Antwort genau in diesem Feld nahe-
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legte. Hellsichtig hieß es bereits 1998 im Manifest: „Der Rassismus artikuliert sich in Deutschland gegenwärtig vor allem in kulturalistischer Form. Wie in anderen europäischen Ländern bietet der Islam eine Projektionsfläche für unterschiedliche Rassismen.“26 „Eine neue Haltung auf die Bühne zu bringen“ war zwar erfolgreich, aber zugleich auch Ursache dafür, dass Kanak Attak so oft als Künstlergruppe adressiert wurde. Ich denke, dass sich hier zum einen die Tendenz zum Konsum politischer Statements als multikultureller Artefakte äußert, zum anderen aber schlicht eine konservative Vorstellung davon artikuliert, was Politik und was künstlerische Praxis sei. Dem Netzwerk selbst ging es jedoch gerade um die Herausforderung beider Konzepte beziehungsweise deren Trennung und damit stets um die Erweiterung des antirassistischen Projekts. So äußerte Ellen Bareis als Mitglied von Kanak Attak (sie ist heute Professorin im Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Ludwigshafen am Rhein) in einem Interview 2001: „Wir wollten bewusst mit Bildern arbeiten und die unterschiedlichen künstlerischen, politischen oder auch theoretischen Interessen der Leute nutzen und kombinieren.“27 Es lassen sich drei Hauptstränge einer konkreten Bilderpraxis von Kanak Attak ausmachen. Zum einen die bereits genannte Archivarbeit, das Geschichte(n)erzählen, beziehungsweise das Ausgraben von Material wie beispielsweise die Dokumentation des „Wilden Streiks“ in den Ford-Werken in Köln 1973 (natürlich mit migrantischen Protagonist/-innen), dann die eigene Videoproduktion, gerne in Form von Agitprop – die Arbeiten von Kanak TV sind ebenfalls auf der Webseite zu sehen, beispielsweise „Philharmonie – 40 Jahre Einwanderung“ und „Weißes Ghetto“28 – und nicht zuletzt das Videosampeln, die Nutzung von bestehendem Bildrepertoire aus dem Mainstream zu anderen Zwecken, wie auch in einigen der Posterkampagnen von Kanak Attak das „Culture-Jamming“, das „Hijacken“ von existierendem Bildmaterial, das mit anderen Inhalten gefüllt wird. Sei es die Neusynchronisation einer „Emergency Room“-Episode, um damit Alltagspraktiken in der Illegalisierung zu thematisieren, oder der Zusammenschnitt von Trailern wie „Men in Black“ zu einem neuen „Wir sind unter euch“-Videostatement für die Show „Papers Royale“. Wie es in einem Statement zu dieser Performance hieß: „Zwischen Plastikblumen und Melonenbowle hat Kanak Attak vor der Kulisse von Videoschnipseln, Hollywood, Baustellenkämpfen und Hochzeitsgeflüster politische Kämpfe und Alltagspraktiken zusammengeführt“.29 Videosampling war aber auch ein Element bei „Döner-
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stress“, wo Kanak Attak mit dem Videocollagekünstler 2/5 bz (Serhat Köksal) zusammenarbeitete.30 Ich habe mich dagegen entschieden, hier einige der konkreten künstlerischen Strategien genauer zu analysieren,31 und möchte stattdessen abschließend lieber auf einige offene, vielleicht notwendigerweise offene, definitiv problematische Punkte eingehen, die mögliche Anschlüsse zu weiterführenden Diskussionen eröffnen können. Das eine ist die Frage der ästhetischen Strategien und deren Gerinnung zu abrufbaren Formaten. Kanak Attak hat sehr schnell sehr viel kulturelles Kapital anhäufen können. Videos wie „Philharmonie Köln – 40 Jahre Einwanderung“ waren ausgesprochen erfolgreich. Nicht in einem klassischen Sinne von Festivalauftritten, Ausstellungspartizipation, Preisen oder in kommerzieller Hinsicht. Das wäre auch unsinnig gewesen, handelt es sich doch um einen kurzen, kleinen, schnell gemachten Agitprop-Clip. Aber die Häufigkeit der Nachfragen, des Zeigens in allen möglichen Kontexten, aber auch das genaue Treffen entscheidender wunder Punkte macht etwas aus, das eben auch als „Erfolgsgeschichte“ erzählt werden kann. Das Video entstand 2001 anlässlich der Feierstunde „40 Jahre Einwanderung in Deutschland“32 in der Philharmonie Köln. Dort rückte eine kleine Kanak-Attak-Truppe mit Kamera und Mikrofon an und wurde tatsächlich unangemeldet und ohne Eintrittskarten als Presse hereingelassen, weil sie für Vertreter/-innen eines türkischen Fernsehsenders gehalten wurden. Das entstandene Video, ebenso wie „Das Weiße Ghetto“33 ein Jahr später, funktionierte genau auf der Basis der Aufkündigung der Dialogkultur. In schönem internationalem Englisch fragen die „Reporter/-innen“ eine Besucherin, was sie davon halte, dass Dieter Bohlen seine Exfreundin geschlagen haben soll und ob Gewalt gegen Frauen etwa typisch sei für Deutschland (darin bezugnehmend auf aktuelle Nachrichten). Worauf sie antwortet: „Nein, nein“, das sei zu verurteilen, und: „It gives in all Cultures!“ [sic!] Und an anderer Stelle wird ein Sekt trinkendes Paar mit der Tatsache konfrontiert, dass sie hier schon wieder nur von Kanaken bedient werden würden, und wie sie das denn fänden angesichts des Anlasses der Feierstunde: „Nein, also das finde ich jetzt nicht richtig, dass sie hier Kanaken sagen, Kanaken, das will ich nicht hören. Mit ihnen möchte ich nicht mehr reden.“ Diese Verfahrensweisen – über Sinn und Zweck von Provokation, Polemik und „versteckter Kamera“ lässt sich sicher streiten – waren zunächst präzise und auf den Punkt gebracht. Dann gerieten sie in späteren Kanak-TV-Videos jedoch zum Format, das, so schien es, nurmehr abgerufen werden sollte, um dann möglichst
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genauso gut zu funktionieren. Aber eine Formatvorlage bleibt eine Formatvorlage und kann in der Wiederholung letztlich nur scheitern oder zur Nostalgie gerinnen. Denn wie bereits das durchaus luzide Manifest formulierte: „Was richtig ist, muß in der jeweiligen Situation verhandelt und entschieden werden“.34 Es gibt sie zwar, als politisches Konzept und aktivistisches Projekt – auch auf der Bühne und im Ausstellungsraum –, die „Strategia Kanak“, wie ein Text von Massimo Perinelli betitelt ist.35 Aber weder als abrufbare, konkrete künstlerische Strategie noch als Möglichkeit einer immer gleichen politischen Weise des Verfahrens. Schon 2001 hat Manuela Bojadžijev, ebenfalls Gründungsmitglied von Kanak Attak und heute u.a. Teil der Künstlergruppe „Ultra Red“36, in einem Interview geäußert: „An einem Projekt selbst möchte ich nicht festhalten, mich interessieren seine Möglichkeiten.“37 Kanak Attak als Netzwerk gibt es nicht mehr – was fehlt, ist, wie gesagt, ein Manifest des Aufhörens, ein Manifest, das das Ende eines kollektiven Projekts nicht als Scheitern, sondern als durchaus notwendigen Prozess begreift, einen Prozess, der sich der nostalgischen Verhärtung verweigert, der die Arbeit fortführt, aber in anderen Formen und Formationen und mit anderen Möglichkeiten. Es fehlt hierfür aber nicht nur ein Manifest. Eine Neubetrachtung von Politik, die gezielt auch im Symbolischen interveniert – von „Act up“ über die Entwicklung queerer Politik in den 1990ern, aber auch die sogenannte Poplinke und eben nicht zuletzt Kanak Attak –, stellt ein echtes Forschungsdesiderat dar. Dies betrifft zwar nicht ausschließlich den Kontext von Migration und künstlerischer Praxis, allerdings ließe sich hierfür aus der Bearbeitung dieser Fragestellung ein Denken von Migration nicht nur als Sujet und Allegorie, sondern als Möglichkeitsraum gewinnen. 1 | … und weiterhin ganz unterschiedlich adressiert, unter anderem auch als Künstlergruppe. Im November 2012 organisierte Imran Ayata einen Reisebus von Berlin zur Gedenkveranstaltung der rassistischen Brandanschläge von Mölln, nachdem er im Jahr zuvor die sogenannte Möllner Rede gehalten und, schockiert von der Abwesenheit der „biodeutschen“ Möllner Bevölkerung sowie überhaupt der Abwesenheit einer größeren Öffentlichkeit, ein Versprechen auf Präsenz, Anwesenheit und Interesse abgegeben hatte. Dies wurde 2012 nicht nur mit dem Reisebus aus Berlin eingelöst. Während der Veranstaltung raunte mir mein Sitznachbar zu, ein lokaler Kulturarbeiter und antirassistischer Aktivist, er habe gehört, das Künstlernetzwerk Kanak Attak solle auch kommen. Dieses Missverständnis galt eben jener Gruppe von Personen, die auf Imran Ayatas Initiative hin aus Berlin angereist waren. 2 | So unter anderem Manuela Bojadžijev, Imran Ayata, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos, Feridun Zaimoğlu, Mark Terkessidis, Michael Willenbücher, Ellen Bareis, Miltadis Oulios, Sun-Ju Choi, Sabine Hess, Minu Haschemi Yekani, Nikola Durić, Vojin Saša Vukadinović, Çiğdem İnan, Şenol Şentürk, Astrid Kusser, Massimo Perinelli, Sandy Kaltenborn, Jonas Berhe, Ulaş Şener, Murat Güngör, um nur einige zu nennen. Ich
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selbst bin zu Kanak Attak gekommen, als sich in Berlin Ende der 1990er-Jahre eine lokale Gruppe gründete. Diesen Artikel verstehe ich in diesem Sinne auch als Beitrag zu einem „Weiterdenken“ von Kanak Attak. 3 | http://www.kanak-attak.de, unter Archiv, Texte zum Download [Abruf 23.12.2012]. 4 | http://www.die-unmuendigen.de. Zur genannten Veranstaltung siehe http://www.die-unmuendigen.de/ die-unmuendigen/ges_heu/geloescht/thema/mitburg.html [Abruf 23.12.2012]. 5 | 2000 eröffnete Aljoscha Zinflou in der damaligen Schilleroper in Hamburg den Abend – nach einem Song von Aziza A. – mit einem Statement von Kanak Attak, als Ausrichter des Abends. Dieses begann wie folgt: „[I]ndem wir in den Bereich der Kultur vordringen, besetzen und politisieren wir einen Bereich, der auch in dieser Zeit Kanaken ihre Arbeit nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Sexy, hybrid, bereichernd, erfolgreich, so sollen die Ghettokids aus Kreuzberg die Vorzeigekanaken der Berliner Republik sein. Wir jedoch kommen nicht nur aus Kreuzberg, sondern von überall und lassen uns nicht anpassen oder vorschreiben, wie unser Feld auszusehen hat.“ Etwas später folgte die für die Frage des „Missverständnisses“ von Kanak Attak als Künstlergruppe aussagekräftige Frage: „Wer wird wann zur Kanaka-Crème und warum?“ (eigene Transkription einer Videoaufzeichnung aus dem Archiv von Kanak Attak). 6 | http://www.kanak-attak.de/prater/sites/presse.html [Abruf 23.12.2012] 7 | Ebd. 8 | Siehe http://www.rechtauflegalisierung.de [Abruf 23.12.2012]. 9 | Siehe http://www.kanak-attak.de/prater/index.html [Abruf 23.12.2012]. 10 | Siehe http://www.hkw.de/de/programm/2008/wueste_der_moderne/_wueste_der_moderne/projektdetail_wueste_20465.php [Abruf: 23.12.2012]. 11 | http://www.crossingmunich.org/. Das Projekt widmete sich der Geschichte und Gegenwart der Migration in München [Abruf 23.12.2012]. 12 | http://www.hkw.de/de/programm/2008/wueste_der_moderne/veranstaltungen_20465/Veranstaltungsdetail_1_26111.php [Abruf 23.12.2012] 13 | Michael Willenbücher: Das Scharnier der Macht. Der Illegalisierte als homo sacer des Postfordismus, Berlin 2007. 14 | Siehe dazu beispielsweise die Arbeit von Duygu Gürsel. Eine erste Publikation ihrer Forschung, der Artikel „Kanak Attak: discursive acts of citizenship in Germany“, findet sich unter http://www.opendemocracy.net/duygu-g%C3%BCrsel/kanak-attak-discursive-acts-of-citizenship-in-germany [Abruf 23.12.2012]. 15 | Ulrich Steuten: Provokative Selbstethnisierung: Kanak Attak, in: Markus Ottersbach, Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yıldız (Hg.): Migration in der metropolitanen Gesellschaft: zwischen Ethnisierung und globaler Neuorientierung, Münster 2004, S. 167–180, hier S. 168. 16 | http://www.kanak-attak.de/ka/archiv.html [Abruf 23.12.2012] 17 | Zum Rassismus in den 1990er-Jahren nach dem Fall der Mauer siehe u.a. Can Candans Dokumentarfilm „Duvarlar“ (D/TR/USA 2000; http://www.duvarlarmauernwalls.blogspot.de [Abruf 26.1.2013]) sowie Philip Scheffners Film „Revision“ (D 2012) und Merle Krögers Krimi „Grenzfall“, Hamburg 2012; zu beidem siehe http://pong-berlin.de/ [Abruf 26.1.2013]. 18 | Ebd. 19 | Wie beispielsweise Manuela Bojadžijev: Die windige Internationale. Rassismus und die Kämpfe der Migration, Münster 2007, und Serhat Karakayalı: Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2007. 20 | Der Begriff des Operaismus leitet sich vom italienischen „operaia“ oder „operaio“, also Arbeiterin/Arbeiter ab und ist als marxistische Strömung in Italien in den 1960er-Jahren entstanden. Ausgangspunkt des Operaismus ist die Idee, dass es immer die kämpfenden Subjekte sind, die in sozialen Bewegungen die Geschichte voranbringen. Ein Verfahren der kritischen Theorieproduktion des Operaismus, das zugleich der Mobilisierung diente, waren die militanten Untersuchungen, die die konkreten Arbeits- und Lebenssituationen der Arbeiter/-innen zu erfassen versuchten. Der sogenannte Postoperaismus wiederum verbindet Ansätze des Operaismus mit Aspekten des Poststrukturalismus. Zu den zentralen Figuren des Postoperaismus zählen Namen wie Antonio Negri, Michael Hardt, Maurizio Lazzarato. 21 | So die Überschrift eines Interviews von Katja Diefenbach und Sabine Grimm mit Kanak-Attak-Aktivist/-
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innen, das im April 2001 in der Wochenzeitung „Jungle World“ veröffentlicht wurde, vgl. http://jungle-world. com/artikel/2001/16/25921.html [Abruf 23.12.2012]. 22 | Auf www.kanak-attak.de unter „Texte“ und „Archiv“ [Abruf 18.1.2013] 23 | http://www.kanak-attak.de/ka/archiv.html [Abruf 23.12.2012] 24 | Obwohl Feridun Zaimoğlu in einem Interview in der „taz“ am 26.9.2010 anlässlich seiner umstrittenen Hamlet-Übersetzung äußerte, er habe Kanak Attak verlassen, weil es als Kulturoffensive gedacht war und dann von einer Politikfraktion „gehijacked“ worden sei; vgl. http://www.taz.de/!58914/ [Abruf 23.12.2012]. 25 | Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt am Main 2002. 26 | http://www.kanak-attak.de/ka/archiv.html [Abruf 23.12.2012] 27 | Hier findet sich auf der Webseite von Kanak Attak nur der knappe Hinweis, dass das Interview mit dem Titel „Der Kanak-Attak-Aha-Effekt und die Überwindung der antirassistischen Arbeitsteilung“ in „ak“ erschienen ist, Hamburg, Juni 2001, http://www.kanak-attak.de/ka/text/ak070601.html [Abruf 23.12.2012]. 28 | http://kanak-attak.de/ka/kanaktv.html [Abruf 23.12.2012] 29 | http://www.rechtauflegalisierung.de/aktuell/aktionstag/legaloshow_b.html [Abruf 23.12.2012] 30 | http://www.kanak-attak.de/prater/index.html [Abruf 23.12.2012] 31 | Ich verweise hier auf den Artikel: Nanna Heidenreich und Vojin Saša Vukadinović: In Your Face: Activism, Agit-Prop, and the Autonomy of Migration. The case of Kanak Attak, in: Randal Halle und Reinhild Steingröver (Hg.): After the avant-garde: contemporary German and Austrian experimental film, Rochester 2008, S. 131–180. Dieselbe Phrase – „In Your Face“ – verwendete interessanterweise Georg Seeßlen in der „taz“ vom 29.6.2012 zur Beschreibung und Analyse der Torjubelgeste Mario Barwuah Balotellis im Kontext von Fußball und Alltagsrassismus, s. http://www.taz.de/!96419/. 32 | http://kanak-attak.de/ka/media_video.shtml [Abruf 23.12.2012] 33 | Ebd. 34 | http://www.kanak-attak.de/ka/archiv.html [Abruf 23.12.2012] 35 | http://kanak-attak.de/ka/text/wissen.html [Abruf 23.12.2012] 36 | www.ultrared.org [Abruf 18.1.2013] 37 | In einem Interview mit der „ak“, archiviert unter http://www.kanak-attak.de/ka/text/ak070601.html [Abruf 18.1.2013] (s. dazu Anm. 29).
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WAS SIND MIGRANT/-INNEN ANDERES ALS BABYLONISCHE BOTSCHAFTER DES PARADIESES? MIGRANTENSTADL 2.0
Erster Akt Was tun wir da eigentlich, wenn wir schreiben, Fotos oder Bilder posten und Aktionen starten? Und in welche Kategorien kann man das packen? Was ist das Migrantenstadl überhaupt und wie soll man das benennen? Ist es eine blogophile Performance, eine literarische Intervention, theoretischer Krach, absurdes Theater, eine diskursive Formation, ein postmigrantisches Projekt, ein Dialog, ein Monolog, ein Selbstgespräch, Flüsterpost, ein marginalisierter Diskurs, eine Selbstreflexion, eine gesellschaftliche Praxis, eine Haltung, eine Positionierung; ist es Kunst, Feldforschung, ein Experiment, Journalismus oder eine Wurstbraterei, ist es ein Knotenpunkt, ein Netzwerk, ein eigener Raum, eine oppositionelle Bewegung, ein Akt der Emanzipation, ist es der springende Punkt, die Metropole der Zukunft oder die Stimme mitten aus der Peripherie? Migrantenstadl – andere haben es gesagt – ist ein Schauplatz, wo etwas passiert. Man klickt sich ein, der Vorhang fällt, man liest, man guckt, man wird Zeuge von Ereignissen, man klickt sich in weitere Szenen und hinterher ist man nicht mehr dieselbe wie zuvor. Zweiter Akt1 Değerli arkadaşlar, Brüder und Schwestern, æŪ͵ͳŠððŔæĈͲŤͲðøŤðŔêĈͶŤͲö Man hat versucht uns zu erzählen, dass wir Deutsch lernen müssen. Das stimmt, aber wir wollen es nicht! Man hat versucht, uns zu erzählen, dass wir uns integrieren müssen. Das stimmt, aber wir wollen es nicht! Über Jahrzehnte hat man versucht, uns zu erzählen, dass wir irgendwann heimkehren müssen. Auch wenn das stimmen sollte, wir wollen es nicht! Und wenn wir heimkehren, dann müssen das alle anderen auch, denn wir sind nicht die einzigen Gäste auf dieser verdammten Erde!
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Wir möchten die Folklorefeste nicht mehr haben, die für uns veranstaltet werden! Wir wollen nicht mehr Gäste oder Gastarbeiter oder Quotentürken in diesem Migrantenstadl sein. Denn das hier, Brüder und Schwestern, ist unsere Gesellschaft und wir haben ein Recht darauf, über die Bedingungen unserer Gesellschaft zu entscheiden, und nicht nur darüber, ob wir nach der Hauptschule Friseurin oder Zahnarzthelferin werden wollen! Warum, frage ich euch, warum sollten wir in einer einzigen Sprache miteinander sprechen? Man hat versucht, uns zu erzählen, dass die Mehrheit in Deutschland nun mal deutsch spreche. Was ist denn das für eine Dönergurke!? Und falls doch die Mehrheit deutsch sprechen sollte, was ich bezweifle, ja was ein Blödsinn ist, dann müssen wir das Recht haben, selbst darüber zu entscheiden. Ich will nicht nur deutsch sprechen, und ich will auch nicht, dass meine beiden Papageien, Süleyman und Süleyha, deutsch sprechen müssen, wenn sie es nicht ausdrücklich wollen. Und meine beiden Papageien wollen das nicht! „Aber das System“, höre ich die Parteiideologen rufen, das System sei nun mal so, wie es sei. Aber nur weil stimmt, was sie sagen, müssen wir das noch lange nicht akzeptieren! Warum sollten wir hinnehmen, dass die Monokultur über die Bedingungen der Gesellschaft entscheidet? Ist für uns denn nur von Belang, ob wir bei der Heimkehr in die Türkei Mercedes oder BMW fahren? Ob wir Döner oder Schweinshaxn essen, bevor ein Sarrazin unsere Gehirnmassen wegätzt? Nein, nein, nein. Kesinlikle nein. Wenn wir sprechen, dann fordern wir Autonomie von der Welt. Tamam’mı! Wenn wir sprechen, so sprechen wir nicht einfach deutsch (wie soll das überhaupt gehen!?), sondern wir entwerfen unsere Sprache immer wieder neu, nehmen Änderungen vor und fordern heraus, indem wir nicht sprechen, wie wir sollen und wie wir müssen, sondern wie wir wollen und können. Es gibt einen Ort! Değerli arkadaşlar, Brüder und Schwestern, æŪ͵ͳŠððŔĈͲŤͲðøŤðŔêĈͶŤͲö, es gibt einen Ort! Ihr wisst, dass ich das Migrantenstadl meine. Das Migrantenstadl ist das Migrantenstadl und nicht der Migrantenstadl. Und dieses Migrantenstadl ist der Ort, wo Biodeutsche und andere Lebewesen aufeinandertreffen und es ist also der Ort, wo beide ihre Sprache verlieren in der heiligen und totalen Integration! Das Migrantenstadl ist das Mekka der Migration! Was sind Migrant/-innen anderes als babylonische Botschafter des Paradieses? Was haben wir also zu fordern in dem Migrantenstadl? Dass Pässe an Bäumen wachsen, Kopftücher verschleiern und dennoch entzücken, Frontex ein Slipeinlagen-
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unternehmen wird mit Öko-Zertifikat, dass Spiel, Spannung und ein Ü in allen Worten stecken, dass duftendes Rosenwasser aus den Toilettenhähnen fließt, alle Menschen wandern, und sei es nur im Schlaf, dass der Döner wirklich schöner macht: mit, aber auch ohne Knoblauch, dass Abschiebebescheide sich in Luft auflösen, noch bevor sie verfasst werden, dass Staatsgrenzen nicht mehr gelten: nirgends, und dass alle mit einer Sprache sprechen: jener der Migration. Değerli arkadaşlar, Brüder und Schwestern, æŪ͵Šͳ ððŔĈͲŤðͲ øŤðŔêĈͶŤöͲ , das Migrantenstadl ist unmöglich unmöglich und daher möglich! Es gibt keinen Grund, mir das zu glauben, also tut es trotzdem! Im Namen des Ö’s, des Ü’s, des Döners, Doyschlands, der Drüse und Don Juans: Das Migrantenstadl lebt, trotz allem und gerade deshalb! Dritter Akt (oder: Stimmen aus der Peripherie) Den Blog gründeten Imad Mustafa, Amira Amor Ben Ali und ich, die Verfasserin dieser Zeilen. Wir lernten uns vor über zehn Jahren zu Beginn unseres Studiums in Heidelberg kennen. Imad Mustafa studierte dort Politik- und Islamwissenschaft sowie Soziologie. Amira Amor Ben Ali hatte ihr Soziologiestudium abgebrochen und wechselte dann an die Hochschule für Gestaltung nach Karlsruhe, um Medienkunst zu studieren. Ich entschied mich für das Studium der Soziologie, Ethnologie und Politikwissenschaft. Gemeinsam war uns eine ähnliche Biografie: die Sozialisation in einer migrantischen Arbeiterfamilie, ähnliche Lebens- und Problemlagen, die alljährliche Reise in die Heimatländer unserer Eltern und schließlich ein beachtenswerter Bildungsverlauf – immerhin waren wir auf der Uni Heidelberg, also gewissermaßen dem „Oxford“ Deutschlands, gelandet. Viele unserer Kommiliton/-innen absolvierten mit vorstrukturierten ErasmusStipendienprogrammen ihre Auslandssemester: Zeugnisse der Weltoffenheit, interkulturellen Kompetenz und Mehrsprachigkeit gehörten zum Standardrepertoire jeder gelungenen Studienbiografie. Mit den Universitäten, die uns interessierten – in Tunesien, Ramallah oder Adygeja –, gab es keine strukturierten Studienaustauschprogramme. Wir mussten selbst erst den Weg schaffen, eine Verbindung herstellen und die Anerkennung der Studienleistungen aus diesen Ländern aushandeln und hart erkämpfen. Und schließlich – dieser Punkt wird viel zu oft ausgeblendet – schlugen wir uns alle in permanenter finanzieller Mangellage durchs Studium, mit BaföGHöchstsatz, wechselnden Nebenjobs, und, als die Studiengebühren eingeführt wurden, mit dem Studienkredit.
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Unsere Biografien, Identitäten, Lebenslagen und Perspektiven sind keine Geschichten am Rande der großen bundesrepublikanischen Erzählung. Ich erzähle diese Hintergründe deshalb, weil es wichtige Faktoren sind, die unsere Wahrnehmung und unser Handeln in der Gesellschaft beeinflussten und stets beeinflussen. Vierter Akt (oder: Wurst und Wahrheit) Der Migrant in Deutschland ist in seiner historischen Entwicklung dafür vorgesehen, „eingesetzt“ zu werden, in der Arbeitswelt, in einem Wirtschafts-, Flüchtlings-, Migrations- oder Integrationsplan. Er ist im Wesentlichen immer noch Objekt irgendeines staatlichen Konzepts. Das wirkt sich natürlich aus, auf die Kinder und Kindeskinder der Migrant/-innen, auf ihren Habitus, ihr Selbstbewusstsein und ihre Biografie. Deshalb ist es uns wichtig, einen Ort zu schaffen, in dem wir selbst bestimmen, wer wir sind und wie wir sein wollen. Es geht uns darum, selbst zu entscheiden, wie wir das Weltgeschehen wahrnehmen und welchen Erinnerungsarbeiten wir nachgehen. Wir haben unsere eigenen Erinnerungen und Geschichten, und wir haben unseren eigenen historischen Bezugsrahmen. Um diese Geschichte(n) mit einer Selbstverständlichkeit einbringen zu können, braucht es Räume – physische, psychische und virtuelle. Es braucht öffentliche Projektionsflächen, Medien und Plätze, die unsere Interpretation der Welt widerspiegeln, und in denen wir dem schöpferischen Prozess des Erinnerns nachgehen können. Intermezzo (oder: der Integrasyonsdiskurs)2 Nachdem das Bundesministerium des Innern eine Studie über die „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ (2011) herausgebracht hat, wird das Migrantenstadl nun eine ergänzende Studie über „Lebenswelten junger Christen in Deutschland“ in Auftrag geben. Wir hoffen darauf, erstaunt feststellen zu dürfen, dass die jungen Christen in Deutschland nicht alle Kinderschänder und Vollrassisten sind. Unsere Mitarbeiter/-innen Imad Abdallah Hosni al Mustafa und Amira Amor Ben Sen ve Ali arbeiten derzeit an einer Lösungsstrategie, wie mit dem hoffentlich geringen Prozentsatz an christlichen Pädophilen, Islamophoben und Nazis umgegangen werden kann. Unverzügliche Abschiebungen wären denkbar, um die Innere Sicherheit zu bewahren. Nur, wohin? Insgesamt soll die Studie Aufschluss über die Integrationsbereitschaft der biodeutschen Bevölkerung geben. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass ein Großteil nicht
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Abb. 1: Migrantenstadl, „Bundesministerium der Innern Auflösung“, 2012, Screenshot mit Photoshop bearbeitet, gepostet auf www.dasmigrantenstadl.blogspot.com
bereit ist, die Sprache der Migrantengruppen zu erlernen. Das Migrantenstadl bietet seit zwei Jahren Integrationskurse für Biodeutsche an. Die Teilnehmerzahlen halten sich besorgniserregend gering. Nach vorsichtigen Schätzungen sind etwa 85 % radikal gegen einen weiteren Spracherwerb eingestellt. Die Ergebnisse der Studie sollen im Frühjahr vorliegen und werden im Rahmen einer Pressekonferenz veröffentlicht (Abb. 1). Fünfter Akt (oder: Wortimport – Textexport) Unsere Ideen und unsere Inspiration entspringen dem urbanen, migrantischen Milieu, der Perspektive der/des Marginalen und Marginalisierten. So ist etwa die bemerkens-
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werte Aussprache und Schreibweise unserer Elterngeneration, ihre zweisprachigen Wortzusammensetzungen und Wortneuschöpfungen, der fantastische italienische, türkische, griechische, vietnamesische oder arabische Einschlag in die deutsche(n) Sprache(n), die sprachlichen Eigenheiten von Migrant/-innen im Allgemeinen: Das alles ist fundamentaler Bestandteil unseres Humors und vieler anderer junger Erwachsener der zweiten und dritten Migrantengeneration. Diese Sprech- und Schreibeigenheiten verstehen wir als Bereicherung der bundesrepublikanischen Kultur und ihrer Verwendung in doyçsprachigen Texten als einen wichtigen Moment migrantischer Freiheit. Sechster Akt (oder: Wörterayntoff)3 schutudgart kölün münhen hapbahnhoff schwanthalerschitrasse meryemplass schibedak woswogen vaagin buluminkol nudiln gigohtis ei rükin schimersin grank schuturumf buluse ansuk doyçland.
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Abb. 2: Migrantenstadl, „Kakkla Yildirim“, 2012, Screenshot von einem Post auf www.dasmigrantenstadl. blogspot.com
Siebter Akt: Epilog Als Shermin Langhoff das Schaffen am Ballhaus Naunynstraße mit dem Satz „Wir sind kein Migranten-Stadl“ beschrieb, wies sie auf etwas Bedeutendes hin, nämlich dass es in ihrem Theater nicht um etwas Partikulares jenseits der Allgemeininteressen geht. Sie verdeutlichte damit, dass die Geschichten, die am Ballhaus von Migrantenkindern erzählt werden, universellen Anspruch haben und die gesamte Gesellschaft ansprechen. Wenn wir sagen, wir leben in einem Migrantenstadl oder wenn wir sagen, wir erzählen Geschichten aus dem Migrantenstadl, dann sind das ebensolche Geschichten mitten aus der Gesellschaft im Hier und Jetzt. Für das Migrantenstadl steht die Selbstbezeichnung „Migrant“ letztlich für eine oppositionelle Figur, die die
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Abb. 3: Migrantenstadl, „Exklusiv und nur in München“, 2012, Screenshot von einem Fotopost auf www.dasmigrantenstadl.blogspot.com
herrschenden Denk- und Funktionslogiken konterkariert. Das Migrantenstadl 2.0 ist daher ein Ort von und für Grenzüberschreitende, Dadaisten, Textterroristen, mit provokativen, subjektiven und politischen Ansichten aus dem Migrantenmilieu, und
darüber hinaus, in München und anderswo (Abb. 2 und 3). 1 | Der Zweite Akt wurde im Februar 2012 auf www.migrantenstadl.blogspot.com unter dem Titel „Integrasyondiskurs: Mehr Dadaisierung statt Kelekisierung“ gepostet und ist eine Replik auf die „Rede zum Unmöglichen Theater“ von Wolfram Lotz, vgl. Wolfram Lotz, Das Unmögliche Theater, veröffentlicht auf www.deruntergehendefisch.de, 2010. 2 | Der Fünfte Akt wurde im März 2012 auf www.migrantenstadl.blogspot.com unter dem Titel „Ankündigung“ gepostet. 3 | „Wörterayntoff “ wurde im November 2011 auf www.dasmigrantenstadl.blogspot.com gepostet.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
ZUZANA BIĽOVÁ Master in Kunstgeschichte, ist seit Oktober 2011 als Mitglied des Promotionsprogramms ProArt Doktorandin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Studium der Kunstgeschichte in Bratislava und an der Karls-Universität Prag. 2011–2012 Mitglied der Arbeitsgruppe „Kunst, Exil, Migration“ bei Prof. Dr. Burcu Dogramaci am Center for Advanced Studies der LMU München. 2009–2010 Leonard Moll Stipendium. 2011–2013 Stipendiatin von BAYHOST, dem Stipendienprogramm des Bayerischen Hochschulzentrums für Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Publikation: remember me!, Ausst.-Kat. Center for Advanced Studies der LMU München, München 2011. BURCU DOGRAMACI Prof. Dr. phil., lehrt am Institut für Kunstgeschichte der LMU München. Studium der Kunstgeschichte in Hamburg. 2000 Promotion. 2003–2006 Forschungsstipendiatin der DFG. 2005 Stipendium des Aby M. Warburg-Preises. 2007 Habilitation. 2008 Kurt-Hartwig-Siemers-Wissenschaftspreis. 2011/12 Fellow am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU. Forschungen zu Exil und Migration, Stadtkultur und Fotografie, Mode und Moderne. Publikationen (u.a.): (Hg.) Migration, kritische berichte, H. 4, Marburg 2011; (Hg. mit Karin Wimmer) Netzwerke des Exils. Künstlerische Verflechtungen, Austausch und Patronage nach 1933, Berlin 2011. SABINE ECKMANN Dr. phil., ist Direktorin und Chief Curator des Mildred Lane Kemper Art Museum an der Washington University in St. Louis, wo sie zudem am Department of Art History and Archaeology lehrt. Publikationen (u.a.): (Hg. mit Stephanie Barron) Exiles +
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Emigrés: The Flight of European Artists from Hitler, New York/Los Angeles 1997; (Hg. mit Lutz Koepnick) Caught by Politics: Hitler Exiles and American Visual Culture, New York 2007; (Hg.) Reality Bites: Making Avant-garde Art in Post-Wall Germany, Ostfildern 2007; (Hg. mit Stephanie Barron) Art of Two Germanys: Cold War Cultures, New York/Los Angeles 2009; (Hg.) Sharon Lockhart: Lunch Break, Chicago 2010. Sie erhielt Auszeichnungen und Förderungen u.a. des DAAD, der Emily Hall Tremaine Foundation, des National Endowment for the Arts und der Andy Warhol Foundation. NEZAKET EKICI Künstlerin mit Schwerpunkt auf Performance. 1970 in Kırşehir (Türkei) geboren und in Duisburg aufgewachsen, lebt heute in Berlin und Stuttgart. Meisterschülerin von Marina Abramović. Studium der Performancekunst HBK Braunschweig 2000–2004; 1994–2000 Studium der Kunstpädagogik LMU München mit Abschluss M.A. 1996– 2000 Studium der Kunsterziehung, Schwerpunkt Bildhauerei, Akademie der Bildenden Künste München. Seit mehr als zehn Jahren Performances und Video-Installationen in über 100 Städten und mehr als 30 Ländern auf vier Kontinenten. Einzel- und Gruppenausstellungen (Auswahl): National Anthems, Proje 4L Elgiz Museum of Contemporary Art, Istanbul 2005 (E); Into me out of me, PS1, New York 2006 (G); Fashion Accidentally, Museum of Contemporary Art Taipei, Taiwan 2007 (G); Save As, Triennale Bovisa Museum, Mailand 2008 (G); 5th Latin American Biennale of Visual Arts Vento Sul, Curitiba/Brasilien 2009 (G); The First Mediterranean Biennial of Contemporary Art, Haifa 2010 (G); Personal Map, to be continued ..., Kraftwerk Depot, MARTa Herford 2011/12 (E); Fertile Crescent, Arts Council Princeton/Paul Robeson Center for the Arts, New Jersey 2012 (G); Imagine, Pi ARTWORKS Gallery Istanbul 2012 (E). www.ekici-art.de. ELKE FRIETSCH Dr. phil., ist Kunstwissenschaftlerin und seit 2009 Oberassistentin im interdisziplinären Studienfach Gender Studies an der Universität Zürich. Sie war Gastprofessorin an der Kunstuniversität Linz und wissenschaftliche Assistentin an der Universität Wien. Ihre Dissertation schrieb sie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungen zu Nationalsozialismus, Migration und Orientalismus. Publikationen u.a.: (Hg. mit Bettina Dennerlein und Therese Steffen) Verschleierter Orient – Entschlei-
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erter Okzident? (Un-)Sichtbarkeit in Politik, Recht, Kunst und Kultur seit dem 19. Jahrhundert, München 2012; (Hg. mit Bettina Dennerlein) Identitäten in Bewegung. Migration im Film, Bielefeld 2011. HANNI GEIGER M.A., Studium Modedesign in Zagreb. 2008 Magistra Artium in Kunstgeschichte und Interkultureller Kommunikation in München. 2008–2009 Projektangestellte im Goethe-Institut Kroatien. 2011/12 Mitarbeit am Forschungsprojekt „Exil, Migration und Transfer“ am Center for Advanced Studies in München unter der Leitung von Prof. Dr. Burcu Dogramaci. Promotionsstudentin an der LMU München mit einem Dissertationsprojekt über Hussein Chalayan. Redaktionelle Tätigkeit bei den kunsthistorischen Online-Magazinen sehepunkte und lesepunkte, LMU. Mitwirkung am internationalen Kunstprojekt „art-homes“. Forschungen zu moderner und zeitgenössischer Kunst, Mode und Design, Interdependenzen von (Mode-)Design, Kunst und Migration. ORTRUD GUTJAHR Prof. Dr., hat seit 1997 den Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur und Interkulturelle Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg inne und leitet die Arbeitsstelle Interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft. Sie war zuvor Professorin für Interkulturelle Germanistik an der Universität Karlsruhe, hat an der Universität Freiburg zur Selbstreflexion der literarischen Moderne habilitiert und zu Ingeborg Bachmann promoviert. Leitung von Drittmittelprojekten u.a. zum Thema Interkultureller Topos Hafenstadt, zur Geschichte des deutsch-türkischen Films und zur Interkulturellen Poetik. Zuletzt herausgegebene Publikationen (u.a.): Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik: Yoko Tawada – Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge (2012); Transkulturalität und Intermedialität in der Germanistik des globalen Zeitalters (2012). BIRGIT HAEHNEL Dr. phil., Projektleitung DFG-Forschungsprojekt zur Bedeutung des weißen Tuchs in der visuellen Kultur TU Darmstadt und CePoG, Universität Trier. 2012 „Fluchtlinien – Kunst und Trauma“. Ausstellung Alte Schieberkammer Wien. 2007/08 Gastprofessur Universität Osnabrück – Textiles Gestalten. 2004 Promotion zu Nomadismuskonzepten
AUTORINNEN UND AUTOREN
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in der Kunst nach 1945. Forschungen zu Gender, Postkolonialismus, Biopolitik, Migration und Erinnerung. Publikationen (u.a.): (Hg. mit Marianne Koos) Stoffe weben Geschichte(n) – Textilien im transkulturellen Vergleich. FrauenKunstWissenschaft, H. 52, Marburg 2011; (Hg. mit Melanie Ulz) Slavery in Art and Literature. Approaches to Trauma, Memory and Visuality, Berlin 2010. NANNA HEIDENREICH Dr. des., seit Sommersemester 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig. Zuvor vor allem Arbeit im Bereich Experimentalfilm und Videokunst bei Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Berlin, wo sie auch weiterhin Ko-Kuratorin der Sektion „Forum Expanded“ bei der Berlinale ist (www.arsenal-berlin.de). Daneben unabhängige kuratorische Projekte mit Film und Video. Übersetzungen aus dem Englischen (Kunst/Theorie/Kino) und bis 2009 Performanceproduktionen und andere Interventionen mit dem antirassistischen Netzwerk Kanak Attak. Forschungsschwerpunkte: Visuelle Kultur, Bilderstreite, Migration sowie die Verknüpfungen von Politik und Kunst/Kino. Publikation: Ansichtssachen. Die V/Erkennungsdienste des deutschen Ausländerdiskurses und die Perspektive der Migration (im Erscheinen). SABINE HESS Prof. Dr. phil., lehrt und forscht am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Göttingen. Studium der Kulturwissenschaft, Politik und Geschichte in Tübingen. Promotion in Kulturanthropologie 2004 („Globalisierte Hausarbeit“, 2005). Mitarbeiterin und wissenschaftliche Leitung von Forschungs- und Ausstellungsprojekten zu Migration und Grenzregimen in Europa: Transit Migration (2003– 2005) im Rahmen von Projekt Migration (Kölnischer Kunstverein 2005); Crossing Munich (2008–2009); Movements of Migration (2011–2013); Mitbegründerin des Netzwerks Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet); Leiterin des Labors für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung an der Universität Göttingen. ALEXANDRA KARENTZOS Dr. phil., ist seit 2011 Wella-Stiftungsprofessorin für Mode und Ästhetik an der TU Darmstadt. 2004–2011 Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Universität Trier, 2002–2004 wissenschaftliche Assistentin bei den Staatlichen Museen zu Berlin.
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2007 Fellow in der Forschungsgruppe „No Laughing Matter. Visual Humor in Ideas of Race, Nationality, and Ethnicity“ am Dartmouth College, Hanover/USA, 2010/11 Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Mitbegründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift „Querformat. Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur“. Forschungsschwerpunkte: Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts, Kulturtheorien (Visual Culture, Postcolonial, Gender Studies, Systemtheorie), Körper- und Identitätskonzepte, Lachen und Ironie, Mode, Kunst und Globalisierung, Reise und Tourismus in der Kunst, Antikenrezeptionen, Orientalismen, Ästhetische Theorien. Publikationen (u.a.): (Hg. mit Julia Reuter) Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012; (Hg. mit Alma-Elisa Kittner und Julia Reuter) Topologien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration / Topologies of Travel. Tourism – Imagination – Migration, Trier 2010. MARTA KOSCIELNIAK M.A., promoviert am Institut für Kunstgeschichte der LMU München, arbeitet u.a. für die Galerie Wimmer und übernahm 2011/12 Übersetzertätigkeiten für das Bezirksmuseum in Suwałki/Polen. 2002–2009 Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Ethnologie in München und Paris. 2009 Praktikum und Mitarbeit an der Ausstellung „Paul Klee. Leben und Nachleben“ im Zentrum Paul Klee, Bern. 2010/11 Interviewerin im internationalen Forschungsprojekt „Causes and Consequences of Socio-cultural Integration Processes among New Immigrants in Europe“ am Lehrstuhl Soziologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. 2011/12 Mitglied der Arbeitsgruppe „Kunst, Exil, Migration“, Senior Research Fellowship unter der Leitung von Prof. Dr. Burcu Dogramaci am CAS der LMU München. CHRISTIAN KRAVAGNA Prof. Mag., ist Kunsthistoriker, Kritiker und Kurator und unterrichtet Postcolonial Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien. Publikationen (u.a.): (Hg.) Privileg Blick: Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997; (Hg.) Agenda: Perspektiven kritischer Kunst, Wien/Bozen 2000; (Hg.) Das Museum als Arena: Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln 2001. Folgende Ausstellungen hat er kuratiert: Routes: Imaging Travel and Migration, Grazer Kunstverein (2002); (mit Amit Mukhopadhyay) Migration: Globalisation of Cultural Space and Time, Max Mueller Bhavan, New Delhi (2003); Planetary Consciousness, Kunstraum der Leuphana
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Universität Lüneburg (2008); Living Across: Spaces of Migration, Akademie der bildenden Künste Wien (2010). Gemeinsam mit Hedwig Saxenhuber leitet Christian Kravagna den Kunstraum Lakeside in Klagenfurt. MISCHA KUBALL geb. 1959 in Düsseldorf, arbeitet seit 1984 im öffentlichen und institutionellen Raum. Er ist seit 2007 Professor für Medienkunst an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) und gründete dort das -1/MinusEins Experimentallabor. Mithilfe des Mediums Licht erforscht er in partizipatorischen Projekten, Installationen und Fotografien architektonische Räume und führt soziale und politische Diskurse. Er hat zahlreiche Ausstellungen mit Institutionen im In- und Ausland realisiert, u.a. am Bauhaus Dessau (1992), Biennale São Paulo (1998), Jewish Museum, New York (2002), Hamburger Kunsthalle (2007), NTT InterCommunication Center, Tokio (2008). Temporäre Installationen wurden an der Neuen Nationalgalerie Berlin (1999), am K 20/ Kunstsammlung NRW Düsseldorf (2005), dem MNK/ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (2005) und dem Centre Pompidou-Metz (2010) installiert. Weitere Informationen zu Projekten und Publikationen unter www.mischakuball.com. KATRIN NAHIDI M.A., ist seit 2013 Doktorandin an der Universität Bern im Rahmen des Projekts „Other Modernities: Patrimony and Practices of Visual Expression Outside the West“ und arbeitet dort an ihrer Dissertation „Saqqa-khaneh. Zwischen Tradition und Avantgarde“. Studium der Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2011/12 Mitarbeit am Forschungsprojekt „Exil, Migration und Transfer“ am Center for Advanced Studies in München unter der Leitung von Prof. Dr. Burcu Dogramaci, in dieser Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der LMU München. Publikation: Rezension der Ausstellung „Merhaba Stuttgart. Oder die Geschichte vom Simit und der Brezel“, in: kritische berichte, H. 4, Marburg 2011, S. 63–68. MORITZ NEUMÜLLER geb. 1972 in Linz, ist Ausstellungsmacher, Kunsterzieher und Medientheoretiker in Wien und Barcelona. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und der Wirtschafts-
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wissenschaften in Wien folgten Tätigkeiten am Museum of Modern Art in New York, beim Festival PhotoEspaña sowie beim LOOP Videokunstfestival in Barcelona. Derzeit Kursleiter des European Master of Fine Art Photography in Madrid und Kurator des Festivals PhotoIreland in Dublin. Seit 2009 arbeitet er an ArteConTacto, einem Projekt zur Adaptierung von Ausstellungen und Museen für sehbehinderte Besucher, und seit 2011 am Projekt MuseumForAll. Mitarbeiter der Zeitschrift „European Photography“ und Initiator des Blogs The Curator Ship; Publikationen im Bereich Fotografie und Neue Medien. TUNAY ÖNDER M.A., gebürtige Münchnerin mit türkisch-tscherkessischem Migrationshintergrund; Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Ethnologie in Heidelberg und Istanbul; Gründerin des Blogs „Migrantenstadl“ (www.dasmigrantenstadl.blogspot.com) 2011 zusammen mit Imad Mustafa und Amira Amor Ben Ali; bestreitet ihren Unterhalt unter anderem als freiberufliche Wissenschaftlerin am Institut zweiplus. MONA SCHIEREN studierte Kunstgeschichte und Philosophie in Hamburg und Nizza. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Künste Bremen, wo sie das EUForschungsprojekt iMediathek/Gama. Gateway to Archives of Media Art (bis 2009) konzipierte und leitete sowie im Gebiet Theorie und Geschichte der Kunst lehrt. 2011 Forschungs- und Reisestipendium TERRA Foundation for American Art. Publikationen (u.a.): (Hg. mit Kirsten Einfeldt) Not Berlin and Not Shanghai. Art Practice on the Periphery, Bielefeld 2009; (Hg. mit Andrea Sick) Look at me! Celebrity Culture at The Venice Art Biennale, Nürnberg 2011; Lines in Writings and Drawings. Agnes Martins Schriften, in: Forschungsstelle Künstlerpublikationen http://www.setup4.org. EROL YILDIZ Prof. Dr., lehrt an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie in Köln. 1995 Promotion. 2005 Habilitation. Aktuelle Publikationen: (Hg. mit Wolf-Dietrich Bukow, Gerda Heck, Erika Schulze) Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, Wiesbaden 2011; (Hg. mit Birgit Mattausch) Urban Recycling. Migration als GroßstadtRessource, Basel/Boston/Berlin 2009.
AUTORINNEN UND AUTOREN
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ABBILDUNGSNACHWEISE
Burcu Dogramaci | EINLEITUNG Abb. 1: Claire Fontaine. Foreigners Everywhere, Ausst.-Kat. Museion Bozen 2012, S. 60; Abb. 2: Archiv d. Verf.; Abb. 3: Superflex/Tools, hg. v. Barbara Steiner, Köln 2003, S. 289; Abb. 4: Özlem Günyol & Mustafa Kunt; Abb. 5: Cem Yücetaş; Abb. 6, 7: Meriç Algün Ringborg, Courtesy of the artist, Photo credits: Nathalie Barki; Abb. 8: Dietmar Elger: Felix Gonzalez-Torres, Bd. 2: Catalogue Raisonné, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover 1997, S. 121. Sabine Eckmann | EXIL UND MODERNISMUS DER 1930ER-/40ER-JAHRE Abb. 1: Exil. Flucht und Emigration europäischer Künstler 1933–1945, hg. v. Stephanie Barron und Sabine Eckmann, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1998, S. 167; Abb. 2: http:// library.artstor.org/library/welcome.html; Abb. 3: Photo: Kemper Art Museum; Abb. 4: Bruce Altshuler: The Avant-Garde in Exhibition, Berkeley/Los Angeles 1998, S. 153; Abb. 5, 6: George Grosz. Berlin – New York, hg. v. Peter-Klaus Schuster, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1995, S. 437, 375. Christian Kravagna | MODERNISTISCHE KUNSTTHEORIE UND MIGRATION Abb. 1: Foto: Wolfgang Woessner, Courtesy Galerie Martin Janda, Wien; Abb. 2, 3: Ausst.-Kat. Norman Lewis. Black Paintings, 1946–1977, The Studio Museum in Harlem 1998, S. 36, 63; Abb. 4: Ausst.-Kat. Afro Modern. Journeys Through the Black Atlantic, Tate Liverpool 2010, S. 125; Abb. 5: Internet Archive, San Francisco; Abb. 6: Lowery Stokes Sims: Wifredo Lam and the International Avant-Garde, 1923–1982, University of Texas Press, Austin 2002, S. 89. Mona Schieren | TRANSMISSION ASIANISTISCHER DENKFIGUREN Abb. 1: Agnes Martin, hg. v. Lynne Cooke, Karen Kelly und Barbara Schröder, New Haven 2011, S. 41, Foto: Bill Jacobson; Abb. 2: 3 x Abstraction, New Methods of Drawing by Hilma af Klint, Emma Kunz and Agnes Martin, hg. v. Catherine de Zegher und Hendel Teicher, Ausst.-Kat. The Drawing Center, New York 2005, S. 40; Abb. 3: Arthur Wesley Dow: Composition: A Series of Exercises in Art. Structure for the Use of Students and Teachers (1899), New York 1928, S. 46 und S. 56, New York Public Library, Digitalized from Goggle; Abb. 4: Agnes Martin, hg. v. Barbara Haskell, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, New York 1992, S. 57, Foto: Ben Blackwell; Abb. 5: Agnes Martin, hg. v. Barbara Haskell, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, New York 1992, S. 40, Foto: Bill Jacobson; Abb. 6: Agnes Martin, hg. v. Barbara Haskell, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, New York 1992, S. 41, Foto: Bill Jacobson für die Werke von Agnes Martin © Agnes Martin, VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Burcu Dogramaci | GESPRÄCH MIT NEZAKET EKICI Abb. 1, 2, 5, 6, 7, 8: Haydar Koyupinar; Abb. 3: Nezaket Ekici; Abb. 4: Juergen Bernhard Kuck; Abb. 9: Asiatopia International Performance Festival; Abb. 10: Cetin Özer; Abb. 11: Luciano und Marlen Fasciati; Abb. 12: Andreas Dammertz (Istanbul) und A.D. (Berlin).
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Sabine Hess | HEGEMONIALE DISKURS-BILDER BRECHEN Abb. 1, 2: Natalie Bayer, Andrea Engl und Sabine Hess (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, Ausst.-Kat. Rathausgalerie der Landeshauptstadt München, München 2009, S. 37, 18; Abb. 3: Jörg Koopmann. Birgit Haehnel | ZEITGEIST-IKONEN DER ILLEGALITÄT Abb. 1: Foto: ullstein bild 1999; Abb. 2: Spot on … Dak’art. Die 8. Biennale zeitgenössischer afrikanischer Kunst, hg. v. Akinbode Akinbiyi und Barbara Barsch, Ausst.-Kat. ifa Institut für Auslandsbeziehungen e.V., Berlin und Stuttgart, Berlin 2009, S. 74; Abb. 3: Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie: Gülsün Karamustafa. Ausst.-Kat. Museum Fridericianum, hg. v. René Block, Kassel 1998, S. 22; Abb. 4: Foto: Günter Dinhobl; Abb. 5: Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie: Gülsün Karamustafa, hg. v. René Block, Ausst.-Kat. Museum Fridericianum, Kassel 1998, S. 23; Abb. 6: Foto: Maria Otte. Alexandra Karentzos | BILDERMACHT UND MIGRATION Abb. 1: Toril Goksøyr and Camilla Martens, Foto: Alexandra Karentzos; Abb. 2: Photo courtesy Fred Wilson and Pace Gallery; Abb. 3: Hatje Cantz, Ostfildern; Abb. 4–6: Sven Johne; Abb. 7: Courtesy Isaac Julien, Victoria Miro Gallery, London, Metro Pictures, New York and Galería Helga de Alvear, Madrid; Photograph: Laila Meyrick / Velour ; Abb. 8: Courtesy Isaac Julien, Victoria Miro Gallery, London, Metro Pictures, New York and Galería Helga de Alvear, Madrid; Photograph: Pirje Mykkänen / The Central Art Archives, Helsinki; Abb. 9: Lisl Ponger, http://archiv.ok-centrum.at/presse/downloads/shake/phantom03.jpg [5][Abruf 25.2.2013]. Hanni Geiger | HUSSEIN CHALAYANS DESIGN FÜR POSTMODERNE NOMADEN Abb. 1, 2, 5: Hussein Chalayan 1994–2010, hg. v. Esin Eşkinat, Ausst.-Kat. Istanbul Modern Sanat Müzesi, Istanbul 2010, S. 54 / Robert Violette (Hg.): Hussein Chalayan, New York u.a. 2011, S. 238, 24 (Ausst.-Kat. Istanbul 2010), 91 (Violette 2011); Abb. 3: http://chalayan.com/collection/view/album/id/51 [Abruf 11.11.2012]; Abb. 4: http://chalayan.com/collection/view/album/id/76 [Abruf 13.11.2012]; Abb. 6: http://chalayan.com/ collection/view/album/id/58 [Abruf 13.11.2012]. Elke Frietsch | KÖRPER- UND LANDESGRENZEN IN EYTAN FOX’ „THE BUBBLE“ Abb. 1: Aufnahme aus: Checkpoint (Yoav Shamir, ISR 2003), DVD Polarfilm 2004; Abb. 2–6: Aufnahmen aus: The Bubble (Eytan Fox, ISR 2006), DVD Pro-Fun Media 2009. Katrin Nahidi | REZEPTION ZEITGENÖSSISCHER KUNST AUS DEM IRAN Abb. 1, 3, 4: Light from the Middle East, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London 2012, S. 67, 57, 31; Abb. 2: Privatarchiv, Foto: Katrin Nahidi; Abb. 5: Ethnic Marketing, Ausst.-Kat. Centre d’Art Contemporain Genève, Zürich 2006, S. 35. Moritz Neumüller | MIGRATION KURATIEREN Abb. 1, 2: Alison Baker Kerrigan, PhotoIreland 2012. Burcu Dogramaci | MIGRATION ALS FORSCHUNGSFELD DER KUNSTGESCHICHTE Abb. 1: Anny und Sibel Öztürk; Abb. 2: Städtische Galerie Nordhorn; Abb. 3, 4: Peggy Meinfelder; Abb. 5: Stefan Moses: Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989–1990, Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum, Berlin, Ostfildern 1991, S. 235; Abb. 6: Nevin Aladağ; Abb. 7: Thomas Mailaender; Abb. 8: Christoph Faulhaber; Abb. 9: Marlis Jonas. Erol Yıldız | MIGRATION ALS URBANE RESSOURCE Abb. 1–4: Paula Altmann, Köln.
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Marta Koscielniak | MIGRATION POLNISCHER KÜNSTLER IM 19. JAHRHUNDERT Abb. 1: Muzeum im. Jacka Malczewskiego w Radomiu, Sp. gr. 167, Foto: Muzeum im. Jacka Malczewskiego w Radomiu; Abb. 2: Universitätsbibliothek der LMU München; Abb. 3: Muzeum Okręgowe w Suwałkach. Zuzana Biľová | MIGRATORISCHE ERFAHRUNG BEI JAN KOTÍK Abb. 1, 3, 5: Marcela Pánková (Hg.): Jan Kotík, Texty 1939–1991 Texte, Ausst.-Kat. Národní galerie v Praze, Prag 1992, S. 65, 79, 87. Fotos © NG, J. Pohribný, M. Hák, J. Kuklík; Abb. 2: Jan Kotík: The Painterly Object, hg. v. Susan Krane, Ausst.-Kat. Albright–Knox Art Gallery, New York 1984, S. 11, Foto © Jan Kotík; Abb. 4: Jan Kotík: Geschichte des Dreiecks. 52 Zeichnungen, Collagen, Malereien und Objekte, Berlin 2001, S. 15; Abb. 6: Iva Mladičova (Hg.): Jan Kotík 1916–2002, Národní galerie v Praze, Prag 2011, S. 269, Foto © Privatarchiv. Burcu Dogramaci | GESPRÄCH MIT MISCHA KUBALL Abb. 1: VG Bild-Kunst, Bonn 2013, Foto: Nelson Kon, São Paulo; Abb. 2: VG Bild-Kunst, Bonn 2013, Foto: Kelly Kellerhoff, Berlin; Abb. 3, 4, 5, 6, 8, 9, 10, 12: VG Bild-Kunst, Bonn 2013 © Foto: Egbert Trogemann, Düsseldorf; Abb. 7: © Hans-Peter Feldmann, VG Bild-Kunst, Bonn 2013; Abb. 11: Archiv Mischa Kuball, Düsseldorf; Abb. 13: VG Bild-Kunst, Bonn 2013, Foto: Thorsten Koch, Ruhr-Universität Bochum. Nanna Heidenreich | KANAK ATTAK REVISITED Abb. 1, 2: www.kanak-attak.de Tunay Önder | MIGRANTENSTADL 2.0 Abb. 1–3: www.dasmigrantenstadl.blogspot.com
ABBILDUNGSNACHWEISE
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PERSONENREGISTER Verweise auf Abbildungen sind kursiv gesetzt.
A Abendroth, Irene 276 Abramović, Marina 89, 104, 370 Abu-Assad, Hany 180 Achola, Agnes 134 Adam, Franz 282 Adorno, Theodor 33, 36, 40 Akal, Emre 267 Akın, Fatih 346 Akinbiyi, Akinbode 140 Aladağ, Nevin 238–240; 239 Albalá, Carlos 222 Ali, Amira Amor Ben 263; 375 Aliabadi, Shirin 214; 213 Altdorfer, Albrecht 39 Amirsadeghi, Hossein 205 Andrade, Oswald de 325 Appadurai, Arjun 166, 236, 289 Arabshahi, Massoud 208 Aristoteles 78, 79 Arouna, Mahamed 333, 337; 334 Asad, Talal 192 Assmann, Aleida 231 Attar, Abbas [Abbas] 209; 209 Attinger, Irene 225; 224 Avermaete, Tom 350 Ayata, İmran 349, 358 Ažbe, Anton 273, 282 B Babaie, Sussan 218 Babbitt, Irving 50 Bade, Klaus J. 17; 126 Bademsoy, Tayfun 98 Bäumer, Dörthe 117 Bailey, Brett 107 Bal, Mieke 69 Balaghi, Shiva 208 Baltaduonyte, Ieva 223
PERSONENREGISTER
Bareis, Ellen 356, 358 Bauche, Manuela 107 Baudelaire, Charles 319 Bauwens, Michel 220 Bayer, Natalie 235, 246 Bearden, Romare 55 Becher, Bernd 241 Becher, Hilla 241 Becher, Max 223; 224 Beck, Ulrich 257 Below, Irene 130, 137 Belting, Hans 204 Benedict, Ruth 58; 58 Benton, Thomas Hart 40 Bergmann, Sven 261 Berhe, Jonas 358 Berthold, Dana 48 Bhabha, Homi K. 189, 246 Biemann, Ursula 127, 130, 214 Bilińska, Anna 276 Binder, Bandi 222 Block, René 19 Bloom, Lisa 51 Boas, Franz 58 Bobrowska-Jakubowska, Ewa 275 Bohlen, Dieter 257 Bohm, Hark 308 Bojadžijev, Manuela 358, 359 Bollnow, Otto Friedrich 289 Bołoz-Antoniewicz, Jan 277 Bourdieu, Pierre 238, 247 Boznańska, Olga 274, 282 Braith, Anton 282 Brandt, Józef von 282 Brecht, Bertolt 319, 320 Breton, André 26, 35, 42, 59 Bruneau, Michel 227, 228 Buchbinder, Szymon 277; 278 Bush, George W. 210
Butler, Judith 157, 179, 181, 184, 185, 187, 192–196 Bynner, Witter 74, 77, 80, 83 C Cage, John 73, 78, 207 Can, Candan 359 Canal, Giovanni Antonio [Canaletto] 147 Caprivi, Georg Leo von 279 Castells, Manuel 258 Castro, Debbie 223 Cembalest, Robin 144 Césaire, Aimé 59 Cézanne, Paul 53 Chalayan, Hussein 161–171, 173–176, 371; 162, 164, 167, 170 Chambers, Emma 271 Chateaubriand, François-René de 30 Chelkowski, Peter 208 Choi, Sun-Ju 358 Clake, David J. 67 Clifford, James 240, 242 Conze, Eduard 80 Cornelius, Peter von 274 Craven, David 52 Cunningham, Merce 207 Curran, Mark 223 Curry, John Steuart 40 Curtis, Penelope 229 Czachórski, Władysław 274, 276, 277, 279, 282, 285 D Dadi, Iftikhar 215 Daftari, Fereshteh 208 David, Catherine 212, 215 Deben, Leon 260
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Debray, Régis 69 Deleuze, Gilles 171 Demos, T. J. 35 Denton, Nancy A. 48 Descartes, René 295 Diallo, Cheikh 331 Diba, Farah 206 Diba, Kamran 208 Diefenbach, Katja 354, 359 Dörrie, Doris 308 Douglas, Aaron 53 Dow, Arthur Wesley 73, 81; 73 Držkovás, Kateřina 223 Du Bois, William Edward Burghardt 56 Duchamp, Marcel 35–37, 40, 214; 34 Durić, Nikola 358 E Eberhard, Roger 223 Echaurren, Roberto Matta 26 Egger, Simone 117 Einstein, Albert 177 Ejsmond, Franciszek 276, 277, 278 Ekici, Nezaket 18, 85, 104, 370; 86–90, 92–94, 97, 100, 103 Ekici, Dudu 97 Ekici Polat, Elma 97 Emami, Karim 206, 208 Emanuel, Max 274 Engelmann, Lilian 151 Enwezor, Okwui 199 Erkmen, Ayşe 238, 247 Ernst, Max 23, 26, 41, 42 F Fałat, Julian 273, 277; 278 Faulhaber, Christoph 245, 246; 244 Faure, Bernhard 72 Feldman, Alice 227 Feldmann, Hans-Peter 332, 345; 332 Fenollosa, Ernest 73, 83 Flood, Finbarr Barry 203, 204 Flusser, Vilém 25, 26, 36, 37, 40, 41, 169, 231, 238, 325, 333 Foucault, Michel 109, 115, 289 Fox, Eytan 179, 184, 186, 193; 184
382
Francis, Sam 67 Frank, Robert 32 Frei, Christian 196 Fried, Michael 46 Fuchs, Anne 33 G Gaafar, Rania 227 Gedizlioğlu, Zeynep 98 Geertz, Clifford 162 Geiger, Anette 194 Gennep, Arnold van 312 Gergely, László 223 Geschonneck, Matti 308 Ghadirian, Shadi 200, 203, 214; 201 Giddens, Anthony 115 Gierymski, Aleksander 282 Gilroy, Paul 154 Godard, André 207 Göke, Simone 117 Goethe, Johann Wolfgang von 309, 322 Goksøyr, Toril 141, 142; 143 Golshiri, Barbad 212 Gonzalez, Angel Luis 219 Gonzáles, Jennifer 155 González-Torres, Félix 12, 20; 15 Gorki, Maxim 319 Gottlieb, Adolph 53, 60 Grass, Günter 320 Greenberg, Clement 37, 45, 46, 49–52, 59, 60, 62, 67, 68, 82 Grey, Abbie Weed 207, 208 Grocholski, Stanisław 273, 282 Grosz, George 24, 37–41; 38, 39 Grottger, Artur 281 Groys, Boris 25 Guattari, Félix 171, 246 Güngör, Murat 358 Günyol, Özlem 11, 12; 13 Gürsel, Duygu 359 Guibault, Serge 52 Gunsteren, Moritz van 111 Gunning, Maurice 226 H Ha, Kien Nghi 115 Haacke, Hans 296 Haider, Jörg 242 Hall, Michael C. 145
Hall, Stuart 236, 268 Han, Byung-Chul 78, 246 Hannerz, Ulf 176 Hardt, Michael 359 Hassan, Salah M. 212 Hatoum, Mona 199 Haughey, Anthony 227 Herskovits, Melville J. 50, 58 Hess, Thomas 53 Hobbes, Thomas 295 Höfer, Candida 236, 237, 240 Höptner, Sandra 343 Hokusai, Katsushika 330, 332 Holert, Tom 147 Hollósy, Simon 282 Holzfeind, Heidrun 223 Honnef, Klaus 247 Huineng 74 I İnan, Çiğdem 358 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 200 Issa, Rose 205 J Jalali, Bahman 202, 203; 203 Jasiński, Emil 281 Johne, Sven 150–152; 148, 150 Jooss, Birgit 282 Jorn, Asger 293 Juan, Don 363 Julien, Isaac 152–155, 158; 153 K Kafka, Franz 246 Kaltenborn, Sandy 358 Kant, Immanuel 258 Kaplan, Caren 34, 41 Karakayali, Serhat 350, 358 Karamustafa, Gülsün 131, 135, 136, 214; 131, 135 Kastner, Jens 151 Kastoriano, Riva 228 Kaufman, Leon 280 Kaulbach, Friedrich August von 274, 276 Keller, Christoph 340 Kelly, Ellsworth 70 Keshmirshekan, Hamid 208 Kleczyński, Bohdan von 278
Kline, Franz 56, 67, 68, 71 Kochanowski, Roman 281 Köksal, Serhat 357 Kossak, Wojciech 276 Kotík, Jan 287–303; 290, 295, 297, 301 Kotík, Pravoslav 287 Kotík, Ruth 288 Krämer-Badoni, Thomas 251 Kramář, Vincenc 303 Krasiński, Zygmunt 281 Kraszewska, Otolia 276–279; 278 Kraszewski, Józef Ignacy 274 Krauss, Rosalind 81 Kröger, Merle 359 Krull, Germaine 330 Kürşat-Ahlers, Elçin 108 Kumar, Amitava 235 Kummer, Raimund 296 Kunt, Mustafa 11, 12; 13 Kurella, Alfred 275 Kusser, Astrid 358 L Lam, Wifredo 59–62; 61 Lange, Dorothea 225 Langhoff, Shermin 102, 346, 367 Langewiesche, Dieter 281 Lanz, Stephan 112, 114, 256, 259 Laotse [Lao Tzu] 77 Latour, Bruno 47 Lawrence, Jacob 53 Lazzarato, Maurizio 359 Léger, Fernand 26, 30–32, 40; 31 Leibl, Wilhelm 282 Lenz, Ramona 145, 176, 177 Lévi-Strauss, Claude 27, 59 Lewis, Norman 53–58; 54, 55, 57 LeWitt, Sol 293 Li, Dinu 223 Lichtenstein, Roy 230 Loewy, Ernst 24 López, Francisca 222 Lorca, Federico García 319 Lukács, Georg 32 Luvera, Anthony 223 M Madimba, Familie [d. s. Patrizia, Baylon, Christian, Karina, Laurent-Benjamin] 331
PERSONENREGISTER
Mailaender, Thomas 225, 241, 242; 243 Maffi, Irene 205 Malczewski, Jacek 273 Markowicz, Artur 280 Marini, Marino 207 Marsh, Reginald 40 Martens, Camilla 141, 142; 143 Martin, Agnes 65–83, 375; 66, 67, 76, 77, 79 Márton, Sabine 343 Massey, Douglas S. 48 Masson, André 26–30, 32, 40; 28, 29 Matejko, Jan 273, 281 Matisse, Henri 59 Matisse, Pierre 59 McCarthy, Joseph 52, 62, 63 McLuhan, Marshall 175 Meinfelder, Peggy 235; 234 Mercer, Kobena 205 Mersmann, Birgit 69, 70 Mickiewicz, Adam Bernard 281 Miłosz, Czesław 96 Mitchell, William John Thomas 124 Monahan, David 226 Moreo, Elena 227 Moses, Stefan 236, 247; 237 Moshiri, Farhad 214; 213 Motherwell, Robert 56 Müller-Pohle, Andreas 225 Mustafa, Imad Abdallah Hosni al [Imad Mustafa] 363, 364, 375 Myrie, Vanessa 154 N Naef, Silvia 205 Nannucci, Maurizio 7 Nauman, Bruce 7 Negri, Antonio 359 Neshat, Shirin 199, 214–216 Newman, Barnett 26, 27, 52, 53, 56, 60, 73 Newton, Isaac 25 Nizam, James 223 O Özdamar, Emine Sevgi 307–310, 312, 315, 317–320, 322 Özdogan, Selim 241
Özet, Halil 267 Öztürk, Anny 231–233, 235, 236, 241; 232, 233 Öztürk, Sibel 231–233, 235, 236, 241; 232, 233 O’Hara, Morgan 258 Okoda, Kenzo 73, 81 Ortiz, Fernando 50, 59 Orywal, Erwin 259 Osten, Marion von 350 Osterhammel, Jürgen 271 Otte, Maria 137; 139 Oulios, Miltadis 358 Oveisi, Naser 208 P Pahlavi, Mohammad Reza 206, 207, 209 Parr, Martin 220, 225 Parson, Betty 26, 73, 83 Pasiphaë 28 Pateer, Isabelle 226 Pecht, Friedrich 277 Perinelli, Massimo 358 Pialaram, Faramaz 206 Picasso, Pablo 27, 59, 60, 62, 293 Piloty, Carl Theodor von 274 Pitz, Hermann 296 Platon 78 Po, Huang 74, 83 Pohribný, Arsén 288 Polat, Pinar 137, 138; 139 Polke, Sigmar 230 Pollock, Jackson 27, 37, 52, 53, 56, 60, 62 Ponger, Lisl 155–157, 242; 156 Pries, Ludger 257 Przerwa-Tetmajer, Kazimierz 279 Ptaszyńska, Eliza 273 Puar, Jasbir 179, 187 Pütz, Robert 257 Q Qandriz, Mansur 208 Quax, Judith 128–130; 129 R Rahmann, Fritz 295 Rancière, Jacques 355 Rasmussens, Lilibeth Cuenca 223 Ratdke, Frank-Olaf 114
383
Reimann, Helga 112 Reimann, Horst 112 Reinhardt, Ad 56, 58, 67, 70, 73; 58 Remiz, Tina 223 Reveillard, Jean 226 Richter, Gerhard 230 Rijn, Rembrandt van [Rembrandt] 292 Ringborg, Meriç Algün 12, 20, 101; 14 Robbins, Andrea 223; 224 Römhild, Regina 118, 261 Rosen, Jan 274–276, 281; 278 Rosenberg, Harold 51, 53 Rothko, Mark 53, 60 Różycki, Prälat 276 Ruminski, Krzysztof 274 S Saatchi, Charles 210 Saburo, Hasgawa 81 Safran, William 276 Saeed, Familie [d. s. Zeynab, Ammar, Mohammed, Sahera Hassan Mustafa, Donja, Haida Salam Abbas, Noah Salam Abbas] 336; 338 Said, Edward W. 32–34, 36, 40, 165, 256, 257, 264 Sander, August 236, 332, 340 Sangaré, Oumou 154 Sarrazin, Thilo 109, 254, 341, 346, 362 Sartre, Jean-Paul 80 Sassen, Saskia 266 Saunders, Doug 9 Schah, Naser ad-Din 200; 202 Scharf, Robert H. 74 Scheffner, Philip 359 Scheppe, Wolfgang 147 Scherman, Augustus 225 Schiffauer, Werner 114 Schönwälder, Karen 110 Schramma, Fritz 266 Şener, Ulaş 358 Sennett, Richard 9 Şentürk, Şenol 358 Shakespeare, William 312, 316, 319, 320 Shamir, Yoav 181; 182 Shaw, Wendy 205
384
Siddiquie, Shabbir 329 Silverman, Katja 151 Simmel, Georg 317 Sims, Lowery Stokes 60 Siqueiros, David 60, 62 Słowacki, Juliusz 281 Sobieska, Teresa Kunigunda 274 Sobieski, Jan III. 274 Sökefeld, Martin 115 Sontag, Susan 196 Spielmann, Peter 288 Spies, Christian 70, 75, 83 Spillmann, Peter 117 Stalin, Josef Wissarionowitsch 287 Stanojević, Familie [d. s. Milan, Maijana, Lidija] 343 Stępień, Halina 271, 272, 275, 283 Steuten, Ulrich 352, 353 Stevens, Mark 80 Steyerl, Hito 152, 214 Still, Clifford 27, 53 Suzuki, Daisetz T. 74, 78, 83 Szerner, Władysław 278 Szpakowski, Andrzej 273 T Tabatabai, Zhazeh 208 Tabrizi, Sadeq 208 Tanavoli, Parviz 205, 207, 208, 217 Terkessidis, Mark 147, 358 Terlecki, Teofil 279; 280 Theseus 28 Thiam, Ibou 128 Tobey, Mark 67, 68, 71, 81 Trzebiński, Marian 273, 274, 285; 281 Tschechow, Anton Pawlowitsch 319 Tsianos, Vassili 354, 358 Turmes, Familie [d. s. Luc, Seán] 327 Turquier, Władysław 280 Tuttle, Richard 78 V van Veen, Familie [d. s. Abraham, Jutta (Kohn), David Wilhelm, Michael Abraham] 337; 338 Valoch, Jiří 289 Ven, Jacques van de 260
Ventura, Holger Kube 151 Visconti, Luchino 155 Vukadinović, Vojin Saša 358 Vukoje, Maja 44, 45; 44 W Wacquant, Loïc 254 Waldhoff, Hans-Peter 108 Wankie, Władysław 282 Warhol, Andy 230 Wehrli, Ursus 257 Weibel, Peter 199 Weiner, Lawrence 295, 298 Weiss, Peter 320 Weltfish, Gene 58 Welzer, Harald 248, 340, 342 Wierusz-Kowalski, Alfred von 274, 276, 279, 281 Wierusz-Kowalski, Karol 279 Willenbücher, Michael 352, 358 Williams, Allan145 Wilson, Fred 144; 143 Winegar, Jessica 211 Winter, Eduard 282 Winther-Tamaki, Bert 71 Wodziński, Józef 280 Wołowski, Michał 279, 281 Woodruff, Hale 55 Wrotnowski, Łucjan 279, 281 Wygrzywalski, Felix 280 Y Yekani, Minu Haschemi 358 Z Zahavi, Dror 180 Zaimoğlu, Feridun 347, 349, 358, 360 Zenderoudi, Hossein 205–208, 216, 217 Zhuangzi [Dschuang Dsi] 74 Ziff, Trish 227 Zinflou, Aljoscha 359 Žižek, Slavoj 231 Zolghadr, Tirdad 212, 214
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