Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften: Internationale Beiträge [1. Aufl.] 9783839404881

Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität ist bereits zu einem wichtigen Bestandteil der Diskussionen und Forschun

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German Pages 314 [313] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Gouvernementalität und Staat
Macht, Staat, Subjektivität. Foucaults Geschichte der Gouvernementalität im Werkkontext
Eine unverdauliche Mahlzeit? Staatlichkeit, Wissen und die Analytik der Regierung
Die »Regierung von Gesellschaften«. Über ein Konzept und seine historischen Voraussetzungen
II. Gouvernementalität zwischen Souveränität und Biopolitik
Die Regierung der Menschheit. Gouvernementalität und Bio-Souveränität
Regierung und Exklusion. Zur Konzeption des Politischen im Feld der Gouvernementalität
Foucaults »juridischer« Machttyp, die Geschichte der Gouvernementalität und die Frage nach Foucaults Rechtstheorie
Staatsmacht, Biopolitik und die lokale Regierung von Kriminalität in Großbritannien
III. Gouvernementalität und Neoliberalismus
»Der Staat unter der Aufsicht des Marktes« – Michel Foucaults Lektüren des Ordoliberalismus
Das unternehmerische Selbst? Zur Realpolitik der Humankapitalproduktion
Im Schatten des Homo oeconomicus. Subjektmodelle »am Lebensende« zwischen Einwilligungs(un)fähigkeit und Ökonomisierung
Müssen wir die Gesellschaft verteidigen? Gouvernementalität, Zivilgesellschaft und politischer Aktivismus im Anschluss an Foucault
Autoren und Autorinnen
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Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften: Internationale Beiträge [1. Aufl.]
 9783839404881

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Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften

2007-05-11 10-37-21 --- Projekt: T488.sozialtheorie.krasmann.volkmer / Dokument: FAX ID 0294146853907344|(S.

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Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.)

Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-488-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Susanne Krasmann/Michael Volkmer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Gouvernementalität und Staat Martin Saar Macht, Staat, Subjektivität. Foucaults Geschichte der Gouvernementalität im Werkkontext

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Thomas Lemke Eine unverdauliche Mahlzeit? Staatlichkeit, Wissen und die Analytik der Regierung . . . . . . . . . . . . .

47

Mitchell Dean Die »Regierung von Gesellschaften«. Über ein Konzept und seine historischen Voraussetzungen . . . . . . . .

75

II.

Gouvernementalität zwischen Souveränität und Biopolitik

Anne Caldwell Die Regierung der Menschheit. Gouvernementalität und Bio-Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

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6) T00_05 Inhalt.p 146853907528

Susanne Krasmann/Sven Opitz Regierung und Exklusion. Zur Konzeption des Politischen im Feld der Gouvernementalität . . . . 127 Petra Gehring Foucaults »juridischer« Machttyp, die Geschichte der Gouvernementalität und die Frage nach Foucaults Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Kevin Stenson Staatsmacht, Biopolitik und die lokale Regierung von Kriminalität in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

III.

Gouvernementalität und Neoliberalismus

Jan-Otmar Hesse »Der Staat unter der Aufsicht des Marktes« – Michel Foucaults Lektüren des Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Sophia Prinz/Ulf Wuggenig Das unternehmerische Selbst? Zur Realpolitik der Humankapitalproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Stefanie Graefe Im Schatten des Homo oeconomicus. Subjektmodelle »am Lebensende« zwischen Einwilligungs(un)fähigkeit und Ökonomisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Mathieu Potte-Bonneville Müssen wir die Gesellschaft verteidigen? Gouvernementalität, Zivilgesellschaft und politischer Aktivismus im Anschluss an Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Autoren und Autorinnen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

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Einleitung Susanne Krasmann/Michael Volkmer

Im Oktober 2004 erschienen zeitgleich in Frankreich und Deutschland die beiden Buchausgaben der Vorlesungen Michel Foucaults am Collège de France aus den Jahren 1977/1978 (2004a) und 1978/1979 (2004b). Im Unterschied zur französischen Ausgabe und zur englischsprachigen Übersetzung trägt die deutsche Ausgabe beider Bände den gemeinsamen Obertitel Geschichte der Gouvernementalität. Man mag über diesen editorischen Eingriff streiten, in der Sache erweist es sich auf jeden Fall als produktiv, die beiden Vorlesungen einer gemeinsamen Lektüre zu unterziehen und auf ihre Potenziale für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaften zu befragen. Die systematische Veröffentlichung der nicht-monographischen Arbeiten Michel Foucaults begann nach Jahren editorischer Arbeit im Jahr 1994 mit der französischen Ausgabe der Dits et Ecrits ([1994] 2001-2005), die die kleineren, zumeist verstreut erschienenen Texte Foucaults in einer vierbändigen Ausgabe zusammenfasste. Die Bedeutung einzelner dieser Texte für die Rezeption Foucaults, insbesondere auch in den amerikanischen humanities in den 1980er Jahren, gilt als nicht zu unterschätzen (Angermüller 2004). Nicht zuletzt da die wiedereinsetzende Rezeption Foucaults in den 1990er Jahren in Deutschland stark von diesen amerikanischen Lesarten beeinflusst war, gilt die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe der Dits et Ecrits zwischen 2001 und 2005 als weiterer Meilenstein in der Verankerung des »Werks« von Michel Foucault in den deutschsprachigen scientific communities der Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Philosophie (ebd.). Ende der 1990er Jahre begann die Veröffentlichung eines weiteren Teils der Arbeiten von Michel Foucault, nämlich die Edition der Vorlesungen, die Michel Foucault zwischen 1970 und 1983/84 regelmäßig am Collège de France gehalten hat. Diese Vorlesungen lagen ähnlich wie die in Dits et Ecrits versammelten Texte bislang nur in kleinen Auszügen als Texte vor,

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8 | Susanne Krasmann/Michael Volkmer obwohl sie zum Teil bereits eine lange Wirkungsgeschichte entfaltet haben. Man kann mit Martin Saar (siehe seinen Beitrag in diesem Band) daher mit einigem Recht vermuten, dass die Veröffentlichung der transkribierten Vorlesungen das Bild von der Entwicklung des Foucault’schen Denkens ebenso verändern wird wie die Einschätzung seines theoretischen Vermächtnisses und dass sich die Rezeptionspotenziale dieses Werks somit präzisieren und womöglich verbreitern werden. Die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität sind dabei mindestens in zweifacher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Zum einen stehen sie zeitlich an der wohl markantesten werkgeschichtlichen Zäsur in Foucaults Denken, nämlich unmittelbar vor dem Übergang von der Analytik moderner Machtverhältnisse zu der Zuwendung zur Konstitution antiker Selbstverhältnisse und zu Fragen der Ethik. Diese Zäsur stellt sich im Hinblick auf die monographischen Publikationen Foucaults weitgehend als übergangsloser Bruch zwischen Der Wille zum Wissen ([1976] 1977) einerseits und Der Gebrauch der Lüste ([1984a] 1986) sowie Die Sorge um sich ([1984b] 1986) andererseits dar. Der Einblick in die Transkriptionen der Vorlesungen gestattet neben einigen Texten aus Dits et Ecrits nun ein deutlicheres Verständnis für die feineren Übergänge dieser werkgeschichtlichen Entwicklung. Zum anderen stellen die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität auch in sachlicher Hinsicht eine Besonderheit dar. In diesen Vorlesungen äußert sich Foucault so umfangreich und systematisch wie ansonsten nie in seinen wissenschaftlichen Schriften zu Fragen der politischen Gegenwart. Auch leistet Foucault in dieser Vorlesungsreihe zum ersten Mal eine ausdrückliche Analyse der Rolle des Staates in modernen Regimen der Macht, die die zuvor von ihm selbst gegen den marxistischen Mainstream seiner Zeit vorgebrachte Kritik an einer »Überbewertung des Staatsproblems« (2004a: 163) positiv in eine »historische Ontologie des Staates« ([1984c] 2005: 702) wendet. Im Zuge seiner Genealogie der modernen Macht, die bis an die Ende der 1970er Jahre sich neu abzeichnenden post-keynesianischen neoliberalen Regime heranreicht, schärft und elaboriert Foucault nicht zuletzt mit Blick auf die Gegenwart seine Theorie und Typologie der Macht und entwickelt den Begriff der Gouvernementalität als Erweiterung seines machtanalytischen Instrumentariums. Es überrascht daher nicht, dass insbesondere die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität eine bereits vergleichsweise früh einsetzende Rezeption in bestimmten sozialwissenschaftlichen Diskursen, vor allem in den an Foucaults Begriff der Gouvernementalität anschließenden studies of governmentality1 (klassisch: Burchell/Gordon/Miller 1991), erhalten und Begriffe wie Biopolitik und Bio-Macht sowie ein Verständnis von Neoliberalismus als dezidiert politischem Programm Eingang in sozialwissenschaftliche Programme und Terminologien gefunden haben. Zweifellos hat das Foucault’sche Œuvre darüber hinaus bereits in vielfältigen Facetten eine Rezeption in den Sozialwissenschaften erfahren. Die

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Diskurse über Gender, der Aufstieg des Körperbegriffs zu einem Schlüsselbegriff der jüngeren Zeit in den Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften, die Durchsetzung des Diskursbegriffs und diskursanalytischer Verfahren in der qualitativen Sozialforschung bis hin zu neueren Entwicklungen, die den Begriff des Dispositivs sozialtheoretisch und methodisch fruchtbar machen (Bührmann/Schneider i.V.), sind bereits stark von bestimmten Lesarten des Werks von Michel Foucault mitgeprägt. Der jüngst entstandene Eindruck, Foucault sei nun auch im deutschsprachigen Raum auf dem Weg zu einem »soziologischen Klassiker« (Angermüller 2004) müsste sich indes auch an dem sozialwissenschaftlichen Potenzial der Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität, ihren konkreten Analysen gegenwärtiger Regime der Macht und den in diesem Zusammenhang entwickelten Begrifflichkeiten messen lassen. Wenn zu erwarten ist, dass die Veröffentlichung der Vorlesungen am Collège de France, aber auch von Dits et Ecrits das Bild von der Entwicklung des Foucault’schen Denkens und die Einschätzung seines theoretischen Vermächtnisses verändern wird, dann dürfte diese verbesserte Einsicht in die Übergänge und Dynamiken eines vielschichtigen Werks womöglich auch dazu geeignet sein, die zumindest partiell inkommensurabel erscheinende Vielfalt der sozialwissenschaftlichen Rezeptionslinien im Anschluss an das Denken Foucaults in eine etwas größere Nähe zu bringen. Nicht zuletzt die genauere Aufarbeitung der Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität könnte hier Impulse setzen, indem die Analytik der Gouvernementalität – wie Martin Saar in seinem Beitrag aufzeigt – zwar als eigenständiges fragmentarisches Projekt verstanden werden kann, das aber gleichwohl in einer Linie zu bestimmten vorhergehenden Überlegungen und Werkphasen steht. Eine nachhaltige Wirksamkeit des Denkens von Michel Foucault in den Sozialwissenschaften mag im Weiteren auch von einer breiten internationalen Rezeption und den Beziehungen zwischen verschiedenen nationalen scientific communities abhängen. Daher ist es nicht nur von Interesse festzuhalten, dass nach der Rezeption Foucaults in den amerikanischen humanities in den 1980er Jahren eine in den 1990er Jahren beginnende und von den angelsächsischen studies of governmentality maßgeblich angestoßene Rezeptionswelle in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften eingesetzt hat und langsam in die Forschungsprogramme und Curricula einrückt.2 Auch in Frankreich beziehungsweise im französischsprachigen Teil Europas hat das Werk Michel Foucaults in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit in den Sozialwissenschaften gewonnen, wie man anhand von Tagungen, Zeitschriften etc. feststellen kann.3

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Studies of governmentality Während die studies of governmentality sich vor allem auf die Analyse neoliberaler Regime konzentrierten, blieb das zweite zentrale Thema, das Foucault in den Vorlesungen eingehend erörterte, die Frage der Staatsbildung, zunächst seltsam ausgespart. Dies mag viele Gründe haben. Abgesehen davon, dass die Bedeutung dieser Fragestellung bei Foucault erst mit der vollständigen Publikation der Vorlesungen sichtbarer wurde, könnten unter anderem zwei weitere Gründe eine Rolle gespielt haben. Zum einen war die kritische Staatstheorie vor allem von neo-marxistischen Theorien und in Deutschland insbesondere von der Kritischen Theorie der Gesellschaft geprägt – und besetzt. Zum anderen sorgte eine Foucault’sche Perspektive vielleicht gerade vor diesem Hintergrund für Irritation. »Within the problematics of government, one can be nominalistic about the state: it has no essential necessity or functionality.« (Rose/Miller 1992: 176) Diese programmatische Aussage zur Konzeption von Staatlichkeit in einem der zentralen Aufsätze, die Anfang der 1990er Jahre die studies of governmentality begründeten, war eine Provokation. Nikolas Rose und Peter Miller hatten damit nicht nur Foucaults analytische Perspektive eines historischen Nominalismus aufgegriffen (vgl. u.a. Foucault [1976] 1977: 114; [1980] 2005: 43), sondern auch dessen Forderung, die politische Theorie von einem Souveränitätsbegriff zu befreien, der sich historisch an den absolutistisch-feudalen Gesellschaften orientierte: »Die politische Theorie ist von der Gestalt des Souveräns besessen geblieben. […] Was wir brauchen, ist eine politische Philosophie, die nicht um das Problem der Souveränität, als des Gesetzes, also der Untersagung herum aufgebaut ist; man muss dem König den Kopf abschlagen, und in der politischen Theorie hat man das noch nicht getan.« (Foucault [1977] 2003: 200; vgl. [1976] 1977: 110) Tatsächlich suchten Rose und Miller das Programm einer Analyse der »Reflexion […] auf die Regierungspraxis« und ihrer »Rationalisierung« zu entfalten (Foucault 2004b: 14), wie Foucault dies in seinen – damals noch nicht publizierten beziehungsweise vollständig ins Englische oder Deutsche übersetzten – Vorlesungen auch insbesondere im Hinblick auf das »Problem der Staatsbildung« (ebd.: 114) und der Transformation von Staatlichkeit ausgeführt hatte: Dies bedeutete, den Staat ebenso wenig als eine »Universalie« und »autonome Machtquelle« (ebd.: 115) zu begreifen wie als einen beherrschenden bürokratischen Apparat oder als das Instrument einer herrschenden gesellschaftlichen Gruppe (Saar und Lemke, in diesem Band). Foucault wandte sich gegen die Fallstricke einer »Staatsphobie« in der politischen Theorie, die in Absehung der konkreten gesellschaftlichen Praktiken und ihrer Veränderungen in Vergangenheit wie Gegenwart letztlich dem Staat als einem übermächtigen Organisationsprinzip von Gesellschaft verfällt (vgl. Foucault 2004b: 262-264). Das Plädoyer lautete indes alles andere als eine Verabschiedung vom »Problem der Staatsbildung«.

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Vielmehr rückte Foucault diese Frage ins »Zentrum« seiner Analysen (ebd.: 114), und dies bedeutete eine Umkehr der herkömmlichen Perspektiven. Foucault begriff Staatlichkeit von der Gesellschaft her, als den Effekt sozialer Praktiken und von Technologien des Regierens (2004a: Vorl. 4). Die studies of governmentality und allen voran Rose und Miller mit ihrem Programm einer Analyse politischer Macht »jenseits des Staates« handelten sich gleichwohl die dezidierte Kritik einer Vernachlässigung staatlicher Macht und ökonomischer Machtverhältnisse ein: »systematic domination and exploitation seem not to exist« (Curtis 1995: 577), so hieß es typischerweise. Foucaults Ausarbeitungen würden geglättet (bowlderize) und gleichsam von jeglichen Referenzen auf den Staat, staatliche Macht, Herrschaft und Ausbeutung, soziale Unterschiede und Klassen bereinigt (vgl. ebd.: 576; ebenso Frankel 1997; O’Malley/Weir/Shearing 1997; Rigakos/Hadden 2001). Damit würde »nicht nur systematisch die strategische Bedeutung staatlicher Organisations- und Regulierungsformen« verkannt, sondern der Begriff des Staates letztlich wieder »auf eine institutionell-rechtliche« Verfasstheit reduziert (Lemke 2000: 41). Die Analyse ginge damit an einem der aufschlussreichsten theoretischen Ansatzpunkte vorbei, die sich mit der Gouvernementalität verbinden, nämlich der Fokussierung eben jenes Scharniers, an dem Technologien des Regierens und Technologien des Selbst ineinander greifen (vgl. Foucault 1993: 203) und so als gleichermaßen »individualisierende und totalisierende Form der Macht« (Foucault [1982] 1987: 248) wirksam werden. Die Frage der Staatlichkeit in den studies of governmentality entzündete sich vor allem an der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Machttypen der Souveränität – als der Verkörperung einer autorisierten Gewalt – und der Gouvernementalität – als einer Form der Macht, die nicht mittels Gewalt und Zwang operiert, sondern über »Freiheit« regiert (Rose 1999), indem sie Wahrscheinlichkeiten erzeugt, Handlungsmöglichkeiten herstellt, strukturiert und begrenzt. Es war jedoch gerade die schlichte Gleichsetzung von Souveränität und staatlicher Macht auf Seiten der Kritiker, die in zweierlei Hinsicht in die Irre führte. Denn sobald man erstens souveräne Macht mit dem modernen Verständnis vom Staat als Herrschaft über ein bestimmtes Territorium und rechtlich abgesicherte Monopolisierung der Gewalt gleichsetzt (etwa Stenson 1998; 1999; ebenso Garland 2007; vgl. kritisch: Dean 2002b: 123; O’Malley 1997), ist es schwierig, Transformationen von Staatlichkeit jenseits dieser etablierten und vermeintlich universalen Kategorien zu erfassen. So werden Veränderungen in der »Strafkultur« auf nationaler Ebene zumeist lediglich alternativ entweder auf staatliche Macht oder auf eine steigende »Strafbereitschaft« in der Bevölkerung zurückgeführt, anstatt sie als eine (zuweilen umkämpfte) Souveränitätsbeziehung zwischen Staat und Bürger zu begreifen (vgl. Simon 1993: 10f.; Krasmann 2003; Stenson, in diesem Band). Ferner mündet die Beobachtung transnationaler Prozesse nicht selten nahezu zwangsläufig in norma-

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12 | Susanne Krasmann/Michael Volkmer tive Beschreibungen, zum Beispiel von gescheiterten Staaten (failed states) oder von erstrebenswerten und verbesserungswürdigen neuen Formen der good governance, die letztlich aber immer auf den Ausgangspunkt des Denkens zurück verweisen. Sie erweisen sich bei der Analyse transnationaler Kooperationsformen, in die staatliche und nicht-staatliche Akteure gleichermaßen involviert sind, nicht nur als sperrig, sondern erfassen auch nicht die spezifischen Formen von Zwang und Gewalt, die hier systematisch neu entstehen (Caldwell, in diesem Band; Krasmann 2007; Ong 2005). Wenn Foucault zweitens den Machttypus der Regierung von Gewalt und Zwang (vgl. [1982] 1987: 254), rechtlicher Übereinkunft und Konsens absetzte, so handelte es sich dabei in erster Linie um eine analytische Unterscheidung. Empirisch können diese Elemente sehr wohl zusammenspielen, aber sie konstituieren »eine Machtbeziehung nicht« (Lemke 2005: 337). Eben diese Frage nach der konstitutiven Rolle von Zwang und Gewalt in Machtregimen der Gegenwart sowie nach dem Verhältnis von Staat und neoliberaler Regierung, Sicherheitspolitik und souveräner Macht wurde jedoch bald innerhalb der studies of governmentality selbst aufgeworfen (Dean 2002b; Brunnett/Graefe 1999).4 Gerade hier erweist sich Foucaults analytischer Zugang als nützlich, der zunächst bei den Machttypen ansetzt, um die Frage nach den Formen von Staatlichkeit, die sich damit verbinden, in einem zweiten Schritt zu beantworten (2004a: Vorl. 4; vgl. Hindess 1996: 112). Eine zentrale Bedeutung kommt dabei dem Konzept der Biopolitik zu, das die gezielte Einflussnahme auf die Lebensverhältnisse, den Wohlstand und das Wachstum der Bevölkerung in den Blick nimmt (vgl. Foucault [1976] 1977: 170; [1997] 1999: Vorl. vom 17. März 1976) und das es gleichermaßen erlaubt, die dieser Machtform inhärente Gewalt wie auch die historischen Verschiebungen der Verhältnisse von (staatlicher) Macht und Gewalt in den Blick zu nehmen (Krasmann/Opitz, in diesem Band).

Zur Programmatik des Bandes In dieser Situation der editorischen Aufarbeitung der Schriften Michel Foucaults und ihrer – insbesondere sozialwissenschaftlichen – Rezeption verfolgt der vorliegende Sammelband eine Mehrzahl von Intentionen, die letztendlich in eine Perspektive münden sollen, nämlich das systematische Potenzial der Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität beziehungsweise des dort entfalteten gouvernementalitätsanalytischen Instrumentariums für eine Analyse der Gesellschaft der Gegenwart und ihr Gewordensein auszuloten. Erstens nimmt der Band die werkgeschichtliche Situierung der Vorlesungen in den Blick, um das Verhältnis des Gouvernementalitätskonzepts

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zu den anderen Projekten Foucaults aufzuhellen und den Begriff der Gouvernementalität damit gleichermaßen in einer bestimmten Linie des Denkens wie in seiner Besonderheit zu verstehen (Saar und, mit Blick auf Foucaults Konzeption des Rechts, Gehring). In systematischer Hinsicht erweisen sich vor allem die Modifikationen als instruktiv, die Foucault an seiner Machttypologie angesichts ihrer Erprobung an Formen der Macht, die an die Gegenwart heranreichen, vorgenommen hat. Diese begriffliche Matrix erschließt neue Möglichkeitsräume für die Analyse gesellschaftlicher Prozesse unserer Gegenwart. Dabei gehen die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität mindestens in zweierlei Hinsicht über die oben genannten Defizite, Einseitigkeiten und Desiderate der Rezeption des Gouvernementalitätsbegriffs deutlich hinaus. Zum einen interpretiert Foucault die Differenz der einzelnen Machttypen ausdrücklich nicht in einer Logik der linearen, distinkten und diskontinuierlichen Abfolge, sondern versteht die Historie der Macht nunmehr als Wandel der Regierungsformen aus variablen Arrangements zwischen den Machtformen der Souveränität, der Disziplin und der BioMacht. Allerdings bleibt das Verhältnis zwischen Bio-Macht und Souveränität ungeklärt, wird damit aber eben nicht im Sinne eines kategorischen Entweder-oder als unvereinbar aufgefasst. Zum anderen entwickelt Foucault in diesem Zusammenhang ein Verständnis von Staatlichkeit, das dem Staat, als institutionellem Effekt von Praktiken und politischen Technologien, einen spezifischen Platz als eigenständige Instanz in der Geschichte der Macht zuweist (Saar; zu Letzterem auch Dean; Lemke). Zweitens setzt der Band einen starken systematischen Akzent. Im kritischen Anschluss an bestehende Rezeptionen und unter – mal loserer, mal engerer – Bezugnahme auf die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität zielen die Beiträge des Bandes auf eine Fortführung der gouvernementalitätsanalytischen Perspektive in begrifflicher und in materialer Hinsicht. Im Vordergrund des Interesses stehen dabei zum einen der Anschluss an und die Revision der bisherigen Rezeption von Foucaults Analyse des Neoliberalismus (Hesse), zum anderen insbesondere die beiden genannten Verfeinerungen des machtanalytischen Instrumentariums, die Foucault in den Vorlesungen selbst vorgenommen hat: das veränderte Verständnis des Verhältnisses der verschiedenen Machttypen untereinander und die nominalistische Neufassung des Staatsbegriffs. Diese Verfeinerungen erweisen sich als produktiv für die Analyse gegenwärtiger Transformationen von Regierungsformen. Umgekehrt präzisieren die materialen Befunde der konkreten Analysen gegenwärtiger Regime der Gouvernementalität die theoretische Matrix der verschiedenen Machttypen und ihrer Interdependenzen. Die eingehende Analyse der Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität kann nicht nur zeigen, dass Foucault über einen positiven Begriff von Staatlichkeit verfügte, die er im Rahmen seines Projekts einer

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14 | Susanne Krasmann/Michael Volkmer Geschichte der Macht als eine historische und soziale Realität rekonstruiert. Vielmehr lässt sich im Anschluss daran die materielle Dimension des Staatsbegriffs um die Dimensionen des Symbolischen und der Technologie erweitern, der nicht nur politische Technologien im engeren Sinne, sondern auch Subjektivierungsprozesse umfasst. Auf diese Weise gelangt sowohl die Bedeutung von politischem Wissen für die Konstitution von Staatlichkeit als auch der enge Zusammenhang zwischen politischer Regierung mit Techniken der Selbstregierung in den Blick (Lemke). Insbesondere im Kontext von Prozessen der Globalisierung und der Transnationalisierung lassen sich die nachhaltige Relevanz von Staatlichkeit und Souveränität und der analytische Ertrag der Foucault’schen Perspektive hierauf aufweisen. So zeigt sich entgegen der neoliberalen These, im Zeitalter der Globalisierung hätten die Begriffe von »Regierung« und »Gesellschaft« überhaupt an Relevanz verloren, dass im globalen Kontext sowohl das Bezugsproblem liberaler Regierung von Gesellschaft – Sicherheit – eine Diversifizierung und Erweiterung erfahren hat, als auch die Bezugsprobleme souveräner Macht wie die Sicherung von Territorialität und von Zentralgewalt wieder eine stärkere Rolle spielen (Dean). Bei der Analyse der Transformationen von Macht im globalen beziehungsweise transnationalen Rahmen steht vor allem auch die Frage nach dem Verhältnis von Bio-Macht als Inbegriff liberaler Regierungsform und Souveränitätsmacht im Vordergrund. Insbesondere institutionell komplexe Regime der Gouvernementalität, die sich um universale Menschenrechte herum organisieren, tragen als neue politische Subjekte zur Entstehung von global und nicht länger nationalstaatlich geprägten hybriden Dispositiven der BioMacht in Verbindung mit Formen von Souveränität bei und damit auch zu einer Transnationalisierung von souveräner Macht. Diese neuen Formen von Souveränität sind von einem unmittelbar biopolitischen Charakter. Es liegt daher nahe, mit Agamben von Bio-Souveränität als dominantem (hybriden) Machttypus der Gegenwart zu sprechen (Caldwell). Was Foucault 1979 offen lassen musste, nämlich das (mögliche) Verhältnis zwischen Bio-Macht und Souveränität zu klären, erscheint unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre in einem klareren Licht: Die Arrangements der Macht sind von einer Geschmeidigkeit und Flexibilität, die eine Hybridisierung von Elementen der Souveränität mit solchen der Bio-Macht erlauben. Nicht zuletzt der taktische Zugriff auf das Recht erlaubt eine Supplementierung liberaler Formen der Regierung mit illiberalen Formen (Caldwell; Krasmann/Opitz; Prinz/Wuggenig; Stenson). Insgesamt dürfte daher ein tieferes Verständnis in die eigene Technizität und Historizität des Rechts auch jenseits seiner Gebundenheit an souveräne Macht die gegenwärtigen Formen der Macht besser begreifen lassen. Zwar bleiben auch und gerade die Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität in dieser Frage eine klare Position schuldig. Dennoch finden sich auch hier – wie in einigen anderen Texten Foucaults – Spuren

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eines impliziten verfahrensorientierten Begriffs einer allgemeinen Rechtsform, die über eine Identifizierung des Rechts mit dem symbolischen Gesetzesakt des Souveräns hinausgehen und an die eine Analyse der Beschaffenheit des Juridischen in der Moderne anknüpfen könnte (Gehring). Die feingliedrigere Bestimmung komplexer Arrangements der Macht aus liberaler Machtform, Souveränität und Biopolitik erlaubt zudem eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Formen der Inklusion und der Exklusion in gegenwärtigen Gesellschaften. Damit ist zugleich eine weitere Problematik in der bisherigen Rezeption der Gouvernementalitätsperspektive bezeichnet. Die Deutung liberaler (Bio-)Macht als Immanenzzusammenhang hatte häufig zu einer radikal inklusionistischen, hermetischen Deutung moderner gesellschaftlicher Verhältnisse geführt, die im Gegensatz zu der erdrückenden Vielfalt empirischer Befunde über das Ausmaß und die Bedeutung von Exklusionsprozessen stand. Demgegenüber lassen sich heute neue Formen der Grenzziehung innerhalb der Gesellschaften konstatieren, die ein biopolitisches »Innen« und ein »Außen«, das sich über souveräne Macht definiert, konstituieren (Krasmann/Opitz). Exklusion – sowohl verstanden als Einschluss zu Ausschließungszwecken als auch als Ausschluss im Sinne der Unvernehmbarkeit – und Gewalt erscheinen so als integrale Bestandteile der Gouvernementalität der Gegenwart. Zugleich ergeben sich mit der Einsicht in die Heterogenität und die Brüche der Macht, die eine gewisse Hermetik der Gouvernementalitätsanalysen aufbrechen, Perspektiven für die Denkmöglichkeit von Widerstand beziehungsweise des Politischen (Krasmann/Opitz; Graefe; Potte-Bonneville). So sind souveräne Macht und Biopolitik keineswegs dem Staat vorbehalten, vielmehr als umkämpfte Räume des Politischen zu begreifen. In ihnen profilieren sich heterogene Wissensformen und Praxen, die ihrerseits nicht nur auf eine Resistenz gegen staatliche Macht zu reduzieren, sondern auch als produktive Einsätze unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen zu lesen sind (Stenson). In der Analyse des Neoliberalismus erweisen sich die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität zunächst zur genaueren Rekonstruktion des Foucault’schen Verständnisses von ökonomischer Theorie als Bestandteil moderner Formen der Regierung als instruktiv, nicht nur im Hinblick auf seine Deutung des ordoliberalen Programms als Regulierung des Staates nach den Prinzipien des Marktes. Vielmehr ergeben sich aus einem denaturalisierten Staatsbegriff weitere Perspektiven auf eine Einbettung ökonomischer Diskurse in politische Rationalitäten. So lässt sich vermuten, dass der Wandel des wirtschaftstheoretischen Diskurses zu Keynesianismus und Neoliberalismus im 20. Jahrhundert deutlich mehr an Gemeinsamkeit mit sich führt, als es die zumeist scharfe Kontrastierung zwischen beiden Positionen – gerade im Hinblick auf die Rolle des Staates – nahelegt (Hesse). Auch die Analysen gegenwärtiger Entwicklungen des Neoliberalismus schließen an die subtilere Typologie der Machtformen und ihres

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16 | Susanne Krasmann/Michael Volkmer variablen Arrangements sowie an die stärkere Berücksichtigung der Rolle des Staates im Neoliberalismus an (Stenson; Prinz/Wuggenig; Graefe). Der Neoliberalismus produziert, wie die studies of governmentality aufgezeigt haben, Freiheit in einer scheinbar paradoxen Struktur der Anleitung zur Eigeninitiative und Selbstbemächtigung, der Zwang und Unsicherheit inhärent sind. Neoliberale Technologien bringen aber ebenso ganz unverhohlen und systematisch autoritäre und durchaus bürokratische Kontrollapparaturen zum Einsatz (Prinz/Wuggenig); und sie verknüpfen Technologien der Freiheit mit biopolitischer Kontrolle. Sie produzieren und konsumieren »Humankapital«, und sie legen Unterscheidungen zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben nahe. So lassen sich im Bereich des Rechts Entwicklungen identifizieren, die jenseits einer Verbotssatz-Theorie des Rechts produktive Formen der Macht entfalten (Graefe). Auch der Anschluss an Foucaults Genealogie der Zivilgesellschaft erlaubt schließlich eine subtile Analyse des Politischen der Gegenwart. Weniger als Lösung denn als Indiz für die unaufgelöste Spannung zwischen Homo oeconomicus und dem Gehorsamssubjekt markiert das Konzept der Zivilgesellschaft die Krisenhaftigkeit des modernen Regierens und seine uneingeholten Reste an der Bruchstelle zwischen politischen Technologien und Technologien des Selbst. Seine Bedeutungsoffenheit jenseits eines Festgelegtseins auf seine originäre historische Situierung im modernen liberalen Gouvernement öffnet den Begriff für einen variablen Einsatz in verschiedenen strategischen Arrangements politischer Rationalitäten (Potte-Bonneville). Die Auseinandersetzung mit dem spezifischen methodischen Instrumentarium der Gouvernementalitätsperspektive greift schließlich mit der Frage nach deren empirisch-analytischem Potenzial auch die nach ihrem machtanalytischen Potenzial auf (Stenson): Der ausdrücklichen Verknüpfung von theoretischer Konzeption und Methodologie in Foucaults Begriff der Analytik entspricht eine Forschungsperspektive, die Macht nicht nur »von oben« oder »von unten«, sondern im Scharnier von Subjektivierungsformen – im doppelten Sinne von Regierung des Selbst und sich selbst regieren – wahrnimmt. Drittens verfolgt der Band die Absicht, die Einsichten Michel Foucaults in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität und die Potenziale des gouvernementalitätsanalytischen Instrumentariums stärker in weitreichendere diskursive Zusammenhänge zu stellen; zum einen in solche zum Entstehungszeitpunkt der Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität; zum anderen vor allem in diejenigen Debatten, die nicht nur, aber auch an Foucaults Analytik der Macht in den Sozialwissenschaften und in der politischen Philosophie anschließen. Dieses Bemühen ist weniger einer philologischen Aufarbeitung geschuldet als vielmehr der Absicht, das systematische Potenzial eines Denkens jenseits einer vermeintlich singulären opaken Autorenschaft in seiner »Substanz« selbst aufzusuchen, die sich auch in dem Reichtum der von ihm ausgehenden Rezeptionswir-

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kung und seiner Weiterentwicklung zeigt. So finden sich nicht nur Bezüge zu den Diskursen einer materialistischen Staatstheorie in den 1970er Jahren um Autoren wie Louis Althusser und Nicos Poulantzas, die die Potenziale der Foucault’schen Staatsanalyse für eine Revitalisierung materialistischer Ansätze gegen den Mainstream einer verarmten Staatstheorie aufzeigen (Lemke; zu Althusser auch Graefe). Insbesondere auch die produktiven Anschlüsse eines Giorgio Agamben (Caldwell), einer Judith Butler (Caldwell; Graefe; Krasmann/Opitz) und eines Jacques Rancière (Krasmann/Opitz) an die machtanalytischen Arbeiten Foucaults (beziehungsweise an das Werk von Althusser) werden so als Potenziale in die weitere Debatte um die Gouvernementalität der Gegenwart einbezogen und einer sozialwissenschaftlichen Rezeption zugänglich gemacht. Eine Reihe von Beiträgen experimentiert mit der Konfrontation gouvernementalitätsanalytischer Ansätze mit anderen sozialwissenschaftlichen Paradigmen, wie insbesondere der Exklusionstheorie Niklas Luhmanns (Krasmann/Opitz) oder aber auch dem varieties of capitalism-Ansatz (Prinz/Wuggenig) oder – mit kritischer Distanz – dem governance-Diskurs (Lemke). Viertens bringt der Sammelband eine internationale Autorenschaft zusammen, die zumindest im Ansatz der Internationalität der sozialwissenschaftlichen Rezeptionslinien im Anschluss an Michel Foucaults Arbeiten im Allgemeinen und seiner Analytik der Gouvernementalität im Besonderen entspricht – und die zugleich die bisher zeitlich und thematisch heterogenen Diskussionsverläufe miteinander ins Gespräch zu bringen sucht.

Anmerkungen 1 | In der Rezeption wird zumeist der Begriff der governmentality studies verwendet. Wir ziehen jedoch im Anschluss an Thomas Osborne (2003) den der studies of governmenality vor, die auf die Analyse der historisch und kontextspezifischen Weisen der Rationalisierung der Regierung und somit auf die Frage zielen, wie konkrete Programme und Praktiken sich akzeptabel machen, wie sie eine »Programmatizität« entfalten (ebd.: 13) und »Realitätseffekte« erzeugen (Foucault [1980] 2005: 42, vgl. 28; auch Barry/Osborne/Rose 1996; Dean 1996). Demgegenüber seien die governmentality studies, so die Kritik, einem »Soziologismus« erlegen, der konträr zu Foucaults Anliegen auf der Suche nach »gesellschaftlichen Trends und Entwicklungstendenzen« eine vereinheitlichende Fragestellung verfolge (Osborne 2003: 12; vgl. ebenso Lemke 2000: 41f.). Tatsächlich lassen sich die Forschungen im Anschluss an Foucaults Konzept der Regierung entlang dieser Ausrichtung voneinander unterscheiden. 2 | Maßgeblich für die deutsche Rezeption war freilich auch die ausführliche Diskussion vor allem der bis dato noch unveröffentlichten Arbeiten Foucaults bei Lemke (1997). 3 | Siehe etwa die Diskussionen in der Zeitschrift cultures & conflits [http:// www.conflits.org/] sowie in dem Internetforum zur politischen Philosophie der Gegenwart Multitudes [http://multitudes.samizdat.net/].

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18 | Susanne Krasmann/Michael Volkmer 4 | Für eine Fokussierung auf den Zusammenhang von Disziplin und Regierung bzw. für eine Problematisierung des illiberalen oder autoritären Charakters liberaler Regierung siehe Cruikshank (1999); Dean (2002a); Lemke (1995); Valverde (1996).

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I. Gouvernementalität und Staat

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Macht, Staat, Subjektivität. Foucaults Geschichte der Gouvernementalität im Werkkontext Martin Saar

Die späte Veröffentlichung von Foucaults Vorlesungen am Collège de France aus der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ist eine Lektion in editorischer und wirkungsgeschichtlicher Nachträglichkeit. Denn diese Vorlesungen, die für die Mehrzahl der Interessierten bisher nur in kleinen Ausschnitten vorlagen und erst jetzt veritable »Texte« geworden sind, haben schon eine lange und produktive Wirkungsgeschichte hinter sich. Unbestritten ist, dass die – noch andauernde – Publikation der transkribierten Vorlesungen das Bild von der Gesamtentwicklung der Schriften Foucaults und auch die Einschätzung seines theoretischen Vermächtnisses transformieren wird. Mit jeder neu transkribierten Vorlesungsreihe wird deutlicher, in welchem Maße diese fortlaufende akademische Arbeit, die ab 1970 jährlich (mit einer Unterbrechung 1977) bis zum Studienjahr 1983/84 erfolgte, einen umfangreichen und durch die wenig flexible Form der Präsentation in Vorlesungsform fast erzwungen kohärenten Korpus an exponiertem historischen Material und experimentell erprobten Forschungshypothesen erzeugt hat. Diese Textproduktion begleitet und ergänzt wie ein zweiter chronologischer Unterstrom die ohnehin schon enorme Publikationstätigkeit Foucaults in dieser Zeit, d.h. zwischen der Archäologie des Wissens ([1969] 1973) und den letzten beiden Bänden von Sexualität und Wahrheit (histoire de la sexualité) ([1984a] 1986; [1984b] 1986).1 Beide Stränge, die Monographien wie die Vorlesungen, sind Teile des öffentlichen oder offiziellen »Werks« von Foucault, da sie beide für ein Publikum produziert sind; die Veröffentlichung der Vorlesungen bietet somit keinen Blick in die »private« Werkstatt seines Denkens. Aber der akademischere, vorläufigere Textkorpus der Vorlesungen liegt der Form nach entschieden näher an

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24 | Martin Saar demjenigen Typus archivarisch-historischer Forschung, die für den Philosophen und Historiker Foucault die Vorstufe und der unverzichtbare Ausgangspunkt jeder seriösen Theoriebildung war (Brieler 1998). Die Vorlesungen von 1977/78 und 1978/79 über die Geschichte der Gouvernementalität (Foucault 2004a; 2004b) sind für die Frage nach dem Haupt- und dem Unterstrom des Foucault’schen Œuvres von besonderem Interesse, da sie einerseits eine zentrale werkgeschichtliche Zäsur reflektieren, nämlich eine allmähliche Verschiebung der grundlegenden Forschungsperspektive Ende der 1970er Jahre, und andererseits kein Pendant in der Folge der Monographien haben. Die symbolträchtige publizistische Lücke zwischen dem ersten und den beiden folgenden Bänden des Projekts einer »Geschichte der Sexualität«, d.h. zwischen Der Wille zum Wissen (Foucault [1976] 1977) und Der Gebrauch der Lüste (Foucault [1984a] 1986) und Die Sorge um sich (Foucault [1984b] 1986),2 ist auf der Ebene der Bücher nur in Form einer Differenz kenntlich: Das ursprünglich angekündigte Projekt einer machtanalytischen Durcharbeitung der verschiedenen Felder moderner Macht über das Leben wird nicht eingelöst, sondern findet seine Fortsetzung in einem methodischen und historischen Neuansatz bei den antiken Selbstpraktiken und der Frage nach der Ethik. Auch wenn sich dieser Neubeginn bei sorgfältiger Betrachtung vielleicht weniger als radikaler Bruch darstellt, als es manche Interpretationen etwas forciert formuliert haben (Rajchman 1985; Fink-Eitel 1991; Davidson 1994), bleibt doch der Eindruck einer folgenreichen Neujustierung und Ausweitung des Forschungsinteresses in dieser Werkperiode, die einige zentrale Selbstkorrekturen und die Reaktion auf methodische Einseitigkeiten der machtanalytischen Arbeiten einschließt (Deleuze 1992; Lemke 1997; Schneider 2004). Die beiden letzten Bände von Sexualität und Wahrheit setzen diese Transformation aber voraus und fassen sie nur kurz zusammen, keines der Bücher erläutert und motiviert sie ausführlich (Foucault [1984a] 1986: Einleitung). Die vollständige Veröffentlichung von Vorlesungen aus dieser Zwischenphase weckt also die Hoffung auf einen Einblick in die systematischen Motivationen für die konsequente Neuausrichtung des historischen Projekts. Sind die Vorlesungen zur Gouvernementalität in einer ersten Hinsicht also als Texte interessant, die darüber Auskunft geben, was auf der Ebene der Monographien eine folgenreiche Verschiebung ist – nämlich der Ebenenwechsel von der Machtanalytik zur Geschichte des Selbst und der Selbstverhältnisse –, so sind sie in der zweiten Hinsicht als Einblick in etwas interessant, das in den späteren Büchern keine Rolle mehr spielen wird, nämlich das eigenständige Projekt einer machtanalytisch informierten Geschichte der europäischen Gouvernementalität als einer Geschichte des sich wandelnden Verständnisses von Regieren und Führen und der damit einhergehenden institutionellen Transformationen. Während man in der ersten Hinsicht die Vorlesungen in ihrer Funktion als Scharnier be-

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trachtet, erscheinen sie in dieser zweiten Hinsicht als ein attraktives, aber unvollendetes Projekt oder Fragment, das zwar in der Fluchtlinie bestimmter vorheriger Überlegungen Foucaults liegt, aber in entscheidenden Punkten keine Anschlusspunkte zu seinen späteren Arbeiten besitzt. Im Folgenden soll diesem Doppelcharakter der Vorlesungen von 1977/78 und 1978/79 Rechnung getragen werden; anhand dreier Themen soll nach der spezifischen Perspektive der Gouvernementalität im Kontext der anderen Arbeiten Foucaults gefragt werden, und zwar erstens hinsichtlich des Themas des Wissens; dieses stellt die Vorlesungen in den Kontext von Foucaults wichtiger Konzeption des »Macht/Wissens« und seiner variablen Periodisierung spezifisch moderner Machtformen (I.). Sodann wird die Frage nach dem Staat und den Institutionen als Ausgangspunkt für dasjenige Hauptthema der Vorlesungen herausgestellt, an dem sich am deutlichsten der selbstkorrektive Modus dieser Werketappe ablesen lässt; denn in den Vorlesungen zur Gouvernementalität widmet sich Foucault nach zahlreichen mikropolitischen Analysen von Institutionen (wie dem Strafsystem und der Psychiatrie) zum ersten Mal explizit dem Staat, ohne in die von ihm deutlich wahrgenommenen Fallstricke von Staatszentrierung einerseits und Staatsdämonisierung andererseits zu geraten (II.). Das dritte wichtige Feld, das vor allem die grundlegenden Neuentwürfe der späteren Bücher ankündigt, ist die Frage nach dem regierten Subjekt und der Freiheit; anhand dieses Themas lässt sich verständlich machen, wieso die Analyse der Pastoralmacht, der Regierung und des Problems der »Führung« Foucault dazu gebracht haben, in der Folge noch entschiedener die Frage nach dem Selbst und den Selbstverhältnissen und letztlich auch nach politischem Widerstand und »Gegen-Macht« zu stellen und damit ethische und politische Spielräume zu eröffnen, die – zumindest in den Augen seiner Leserschaft – in seinen Werken der 1970er Jahre kaum aufschienen (III.).

I. »Macht/Wissen« Als Foucault 1970 in seiner programmatischen Antrittsvorlesung am Collège de France die Umrisse eines Forschungsprojekts darstellt, wird eine Prämisse gesetzt, die eine durchgehende Dimension aller seiner folgenden Vorlesungen bleiben wird: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes [l’événement aléatoire] zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.« ([1972] 1977: 7, frz. 11)

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26 | Martin Saar Es ist Foucaults zentrale These, dass sinnvolles Sprechen (und Schreiben), d.h. das Bilden kommunizierbarer Sätze von Rahmenbedingungen und Institutionalisierungen abhängen, die sich analysieren und kritisieren lassen. Dass »in« oder »hinter« den Worten und Sätzen die »Unruhe von Kämpfen, Siegen, Verletzungen, Überwältigen und Knechtschaften« (ebd.) steckt, die der Dechiffrierung durch eine historische Analyse zugänglich ist, ist eine Behauptung, die über den deskriptiven Gestus von Foucaults Arbeiten der 1960er Jahre entscheidend hinausgeht und die die Reihe der nun im Anschluss an Nietzsche »genealogisch« genannten Arbeiten eröffnet.3 Denn die Frage nach der »Produktion des Diskurses« (s.o.) oder der Effekte der Wahrheit erweitert die »archäologische« Theorieform, wie sie die Archäologie des Wissens methodisch entworfen und wie sie mit leichten Variationen in Die Ordnung der Dinge (Foucault [1966] 1971) in ihrer Metageschichtsschreibung des Wissens und der Wissensordnungen, d.h. in ihrer vergleichenden Geschichte der episteme, praktiziert wurde.4 Was die frühere archäologische Analyse des »positiven Unbewussten des Wissens« (ebd.: 11) ans Licht bringen sollte, sind diskursimmanente Regeln und Organisationsprinzipien, die sich in einer bestimmten Zeit über die verschiedenen Wissensfelder und Disziplinen hinweg finden lassen. Auch wenn Die Ordnung der Dinge ein historisches Narrativ der Abfolge verschiedener Wissensordnungen enthält, bleibt die Ebene der von Foucault gegebenen Erläuterung einer einzelnen solchen Ordnung synchron und geschlossen; die Elemente innerhalb einer Ordnung werden ausschließlich zu anderen Elementen in Beziehung gesetzt und nicht auf eine soziale Realität, eine Geschichte oder eine außerdiskursive Referenzebene bezogen. Es ist dieses Immanenzprinzip der archäologischen Diskursanalysen, das von der Perspektive auf die »Produktion des Diskurses« aufgelöst wird; denn nun tritt ins Zentrum der Analyse, was bisher mit methodischer Strenge ausgeblendet wurde: die nicht-epistemischen, nicht-sinnhaften oder nicht-diskursiven Faktoren, die das Bilden von Sätzen und Erzeugen von Wahrheiten rahmen und ermöglichen. Aus diesem Grund sind alle historischen Projekte aus der Periode nach 1970 weiterhin Diskursanalysen; sie sind aber nun verstanden als Untersuchungen des Wechselspiels von Wissen und den Mechanismen seiner Produktion, die soziale, institutionelle und politische Elemente einschließen. Das wohl bekannteste Buch Foucaults der 1970er Jahre, Überwachen und Strafen ([1975] 1976), schreibt genau eine solche Doppelgeschichte des Wissens und der Macht: Die Analyse der Strafpraktiken und der Arten der Wissensgewinnung über die Sträflinge gehören untrennbar zusammen, das Gefängnis ist zugleich eine Disziplinarinstitution und eine Maschine zur Generierung von Wissen, die mit anderen Formen der Wissensgewinnung auch außerhalb der Strafinstitutionen in einer Homologiebeziehung steht (vgl. ebd.: 396f.; Foucault 2003: 54f.). Eine solche Frage nach der »politische[n] Ökonomie der Wahrheit«,

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d.h. ein Fokus auf die »politische, ökonomische und institutionelle Produktionsordnung der Wahrheit« (Foucault 1977a: 213), ist auch das rahmende Erkenntnisinteresse der Vorlesungsreihen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Während sich die ersten Vorlesungen (Der Wille zum Wissen, 1970/ 71) noch eher allgemeineren epistemologischen Problemen zuwenden, sind die folgenden Jahre konkreten Institutionskomplexen gewidmet; sie behandeln Theorien und Institutionen des Strafvollzugs, 1971/72, Die Strafgesellschaft, 1972/73, Die psychiatrische Macht, 1973/74 (Foucault 2003), Die Anormalen, 1974/75. Der synthetische Ausdruck »Macht/Wissen«, der in diesen Jahren geprägt wird, steht hierbei für dasjenige in konkreten Produktionsprozessen entstehende Amalgam, in dem sich Wissenskonstitution und Machtausübung überschneiden.5 Der Begriff der Macht hat also den Begriff des Wissens in seiner zentralen Bedeutung nicht verdrängt, sondern ihm nur eine spezifische Rolle innerhalb eines komplexeren Bildes zugewiesen: Wissen und Wahrheit haben eine konstitutive Funktion in der Herstellung und Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung, die immer von einer bestimmten, stets neu hergestellten epistemischen Ordnung begleitet und unterstützt wird. Aus diesen Gründen interessiert sich Foucault auch besonders für diejenigen Wissensformen, in denen ihre soziale oder politische Funktion, d.h. ihr Bezug zur Macht, besonders offenkundig ist. Die Vorlesung über die Psychiatrie von 1973/74 geht womöglich in dieser Hinsicht am weitesten; die im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehende psychiatrische Wissensform fungiert als Paradigma einer neuen Art des Wissens, die nur im komplexen Zusammenspiel von Kontrollmechanismen und einem immer auch strategisch motivierten Willen zum Wissen entstehen kann. In dieser Vorlesungsreihe von 1973/74 finden sich zudem die – jedenfalls in dieser Ausführlichkeit – neuartige Gegenüberstellung verschiedener historischer Formen der Macht und der Versuch einer Periodisierung von Phasen mit einem jeweils dominanten Machttypus. Foucault bemüht sich hier – wie später vor allem in Überwachen und Strafen – um die Abgrenzung der neuartigen, spezifisch modernen »Disziplinarmacht« von der »souveränen Macht«.6 Die Vorlesungen über die Entstehung der Idee des »Rassenkampfs« als eines grundlegenden historischen Modells (Die Verteidigung der Gesellschaft, 1975/76: Foucault [1997] 1999) ebenso wie der zur selben Zeit geschriebene erste Band von Sexualität und Wahrheit modifizieren dieses Schema durch die Verwendung des Begriffs der »Bio-Macht«.7 Disziplinierend-individualisierende »Unterwerfung der Körper« auf der einen und die administrativ-totalisierende »Kontrolle der Bevölkerungen« (Foucault [1976] 1977: 167) auf der anderen Seite bilden nun die zwei »Pole« oder »Entwicklungsstränge« (ebd.: 166f.) der Macht über das Leben. An dieser Stelle setzen die als nächste folgenden Vorlesungen zur Gouvernementalität an, wobei sie den bisher etablierten Analyserahmen verschieben. Denn sie beginnen genau mit dieser Frage nach der Spezifik und

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28 | Martin Saar Historizität der Bio-Macht (vgl. Foucault 2004a: 13); und selbst wenn der im voraus bestimmte Titel der Vorlesungen im zweiten Jahr (Die Geburt der Biopolitik) kaum mit dem zusammenhängt, was tatsächlich in ihr verhandelt wird, wofür sich Foucault immer wieder entschuldigt (vgl. 2004b: 261ff.), bleibt es doch sinnvoll, das Thema der Bio-Macht oder ihre konkrete politische Form, die Biopolitik, als das generelle Rahmenthema beider Vorlesungen zu betrachten (vgl. Senellart 2004: 529). Die prominente systematische Stellung, die Foucault aber nun einem weiten Begriff des »Regierens« gibt, lässt die Machtbegrifflichkeit zumindest auf der sprachlichen Ebene in den Hintergrund treten; aber die zentrale Frage nach den Kräften und Mechanismen, die auf menschliches Verhalten einwirken, bleibt weiterhin leitend. Selbst wenn der Fortgang der Vorlesungen einige Abschweifungen und Umwege abschreiten wird, das Hauptthema bleibt die Frage nach der spezifischen Konfiguration von Macht, die sich zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert herausgebildet und im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts auf eine derart folgenreiche Weise etabliert und institutionalisiert hat, sodass sie sogar noch den Rahmen für die heutigen Regierungsweisen abgibt (vgl. Foucault 2004a: 164). Foucaults kritische Fortschreibung seiner eigenen Periodisierungen und der These des Bruchs zwischen souveräner Macht, Disziplinarmacht und Bio-Macht in den vorangegangen Arbeiten besteht in erster Linie in einer typologischen Erweiterung und in einer Komplizierung der Chronologie: Er führt – vorläufig – den Begriff der »Sicherheit« als Oberbegriff für den Gegenstand biopolitischer, auf die Regierung von Bevölkerungen zielender Maßnahmen ein; und er beharrt darauf, dass es keine Ablösung und keine »Aufeinanderfolge« (Foucault 2004a: 26) verschiedener Machtformen gibt, sondern nur neue Verhältnisse zwischen einzelnen Elementen und Typen der Machtausübung. Nach dieser Schematisierung sind dann Souveränität, Disziplin und Sicherheit und die ihnen jeweils korrespondierenden Regierungs- oder Machttechniken abstrahierte Funktionsweisen der Macht, die verschiedenen Logiken folgen und die sich historisch überlagern, auch wenn sich jeweils einer der Modi als »Dominante« (ebd.: 23) durchsetzt. Die schematische Gegenüberstellung, die Foucault an zahlreichen Stellen vornimmt (vgl. ebd.: 26-40, 63, 72-78, 87-90, 162f.), wird so durch die Zurückweisung einer strikten Unterscheidung destabilisiert (vgl. Lemke 1997: 193f.): Jede Regierungsform umfasst souveräne, disziplinäre und regulatorische Elemente, aber erst die spezifisch moderne Form der Regierung wird nach der Entdeckung der Bevölkerung als Hauptziel (vgl. Foucault 2004a: 27, 70, 103, 161) und der mit ihr einhergehenden institutionellen Neuordnung in einen Modus wechseln, in dem Regulierung, Wachstumsbeeinflussung und »ökonomische« Steuerung die Hauptstrategien sind. Strenggenommen behandeln alle Vorlesungen der beiden Jahre dann Varianten und historische Etappen dieses Themas: Wie werden Bevölke-

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rungen (praktisch) regiert, mit welchen Begriffen wird diese Regierungspraxis (theoretisch) reflektiert und aus welchen historischen VorläuferPraktiken und -Theorien entstehen diese Regierungsweisen und Theoretisierungen? Die im Darstellungsgang der Vorlesungen nicht durchgängige Geschichte von Merkantilismus, Kameralismus, der Regierungslehre der Physiokraten und des frühen Liberalismus (Foucault 2004a: Vorl. 2, 3; 2004b: Vorl. 1, 2, 11, 12), die Geschichte der Idee der Staatsräson (Foucault 2004a: Vorl. 4, 9-11; 2004b: Vorl. 3), der Pastoralmacht und ihrer Gegenbewegungen (Foucault 2004a: Vorl. 5-9) und der Theorie und Praxis der »Polizei« im Kontext der neueren Regierungslehren (ebd.: Vorl. 12, 13) und schließlich die Analyse des deutschen Liberalismus der Nachkriegszeit (Foucault 2004b: Vorl. 4-8) und des amerikanischen Neoliberalismus der Chicago-Schule (ebd.: Vorl. 9-10) bilden gewissermaßen Kapitel einer umfassenden Geschichte der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2004a: 162). Da Theorie (oder Reflexionsform) und Praxis des Regierens (oder der Machtausübung) untrennbar zusammengehören, ist auch der Liberalismus oder die liberale Gouvernementalität, von der Foucault glaubt, dass sie noch die Gegenwart beherrscht (vgl. 2004b: 187, 423), »zugleich eine Ideologie und Technik der Regierung« (2004a: 78). In einer ersten Hinsicht lässt sich also zusammenfassend sagen, dass die Gouvernementalitätsanalyse konsequent die Linie einer zugleich epistemologischen wie institutionell-sozialen »Geschichte der Wahrheit« fortführt,8 wie sie die meisten anderen Arbeiten der 1970er Jahre auch schon praktiziert haben, d.h. eine Geschichte von Wissensbildung im Kontext von Kraftfeldern und sozialen Kämpfen. Dass das betreffende Wissen in diesem Fall das Wissen von der Politik und über das Regieren selbst, mithin »politisches Wissen« ist, macht diese Analysen zu einem interessanten Spezialfall, der aber die methodologischen Prämissen der anderen teilt. Neu ist dagegen die Umschreibung der – erst kurz zuvor entworfenen – Typologie einer Machtgeschichte der europäischen Politik in eine Geschichte der Regierungsweisen. Foucault weist hier eine simple Abfolge von Machttypen zurück und experimentiert mit verschiedenen komplexen Modellen sich überlagernder Logiken oder »Rationalitäten« und der Instrumente oder »Technologien« des Regierens. Der entscheidende Beitrag des Gouvernementalitätskonzepts zur genealogischen Machttheorie der 1970er Jahre ist demnach die radikale Historisierung des Begriffs der Macht, d.h. die Einsicht, dass sich der Hauptmodus der Machtausübung in der Geschichte der europäischen Politik allmählich, aber radikal transformiert hat, Macht nicht auf den einfachen Nenner der Unterwerfung zu reduzieren ist und auch die Gegenüberstellung von souveräner Macht und Disziplinarmacht als Schema nicht hinreicht, um die politische Moderne angemessen zu beschreiben.9 Eine überschaubare Periode lang bemüht sich Foucault also um eine umfassende historische Erfassung eines jahrhundertelangen Prozesses der Emergenz jener politischen Wissens- und

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30 | Martin Saar Machtformen, die noch immer die Parameter unserer Gegenwart sind. »Gouvernementalität« bezeichnet hierbei einen Komplex aus Regierungstechniken und Denkweisen, der sich mit dem Auftauchen moderner (biopolitischer) Staatlichkeit allmählich durchgesetzt und in dieser erst institutionalisiert hat; ihre Analyse ergänzt und überschreitet die Untersuchungen der anderen Macht- und Wissensformen, da erst unter der Perspektive der Regierung ein Zusammenhang zwischen der Entstehung von nützlichem Wissen und der »technologisch« hergestellten, regulierenden Verwaltbarkeit von Individuen und Bevölkerungen in einem gegebenen Territorium sichtbar gemacht werden kann. Im Verhältnis zu den früheren Arbeiten bedeuten die Vorlesungen zur Gouvernementalität demzufolge in einer zweiten Hinsicht eine Erweiterung und Akzentverschiebung des machtanalytischen Projekts. Was die Arbeiten nach 1979 angeht, so verlieren sowohl die Idee des Macht/Wissens, auf der auch das Konzept der Gouvernementalität aufbaut, wie auch die gouvernementalitätstheoretischen Weiterführungen des Machtproblems zumindest vordergründig an Prominenz. Auch wenn einige kleinere, vornehmlich politische Texte weiterhin auf der Ebene einer Kritik von bestimmten Praktiken und Institutionalisierungen operieren, verschieben sich mit der Einführung der Frage nach der Ethik und den Selbstverhältnissen die Analysebegriffe erneut, und neben Macht/Wissen und Regierung treten Subjektivitätsformen als ein weiteres zentrales Element (s. Abschnitt III). Aber in dem Maße, wie vor allem Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich präskriptive Texte analysieren, in denen sich durch ethische Problematisierung die Objekte wie Subjekte einer Praxis allererst herstellen, ist auch dort die Idee leitend, dass Wissen erst im Kontext seines aktiven Einsatzes relevant wird und immer schon in solchen Funktionen steht. Das »Regime« der Wahrheit, das die antiken Ethiken anleitet, ist allerdings weit weniger institutionalisiert und verwissenschaftlicht als die modernen Formen humanwissenschaftlicher Erkenntnis; dies ist nicht zuletzt die entscheidende Kontrastwirkung, auf die Foucaults historische Rückwendung zur antiken Vorgeschichte der modernen Subjektivität, die keine eskapistische »Rückkehr zu den Griechen« ist, abzielt: Die Hinwendung zu den antiken Lebenskünsten und Sorgepraktiken sollte auch einen historischen Moment sichtbar machen, in dem sich Wissen, Macht und Selbstverhältnis auf eine andere Weise als in ihrer modernen Form verbunden und eingespielt haben und in denen selbst auch andere Formen der Regierbarkeit herrschen. Die mit der historischen Arbeit an der Vorgeschichte verbundene Hoffnung auf Alternativen und Gegenbilder ist aber keine Abkehr von der früheren, nüchternen machtanalytischen Diagnose, sondern eine ihrer vielleicht ernsthaftesten Konsequenzen, denn sie setzt auf die Nichtnotwendigkeit und Transformierbarkeit heute eingespielter und scheinbar zu unausweichlichem Zwang verhärteter Konfigurationen von Macht und Subjektivität.

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II.

»Staat als Praxis«

Der zweite zentrale Einsatzpunkt, an dem neben der Fortschreibung der Konzeption des Macht/Wissens und der historischen Typologie der Macht die Besonderheit der Vorlesungen zur Gouvernementalität deutlich zutage tritt, ist die Frage nach dem Staat und der Politik. Auch wenn die am Anfang der 1970er Jahre erfolgte Perspektivenverschiebung von der Immanenz des Epistemischen zu den Wechselbeziehungen zwischen Macht und Wissen und damit zu den mit den Diskursen verbundenen sozialen Dynamiken und Kämpfen die Frage der Wahrheit selbst zu einer politischen gemacht hatte, hatte dieses Attribut den weitest möglichen Sinn. Man könnte die Pointe der Foucault’schen Theorie des Politischen der gesamten 1970er Jahre ganz allgemein so zusammenfassen, dass sie potenziell alles politisiert. Mithilfe einer innovativen Verwendung des Machtbegriffs lehrt sie das Feld des Sozialen neu zu beschreiben und zeigt, in welchem Ausmaß dieses machtgetränkt und -gesättigt ist (Simons 1995; Lemke 2002a). Zerstört werden somit hierarchische Bilder von Gesellschaft, die eine klare und mehr oder weniger dichotomisch nach dem Schema Macht/Ohnmacht beschreibbare Aufteilung der Macht von »oben« (Machtblöcke, Institutionen, eine herrschende Klasse etc.) nach »unten« (politische Subjekte als Untertanen, bloße Objekte von Politik) voraussetzen. Der mehr als semantische Wechsel der Rede von Macht als Besitz zur Macht als generellem strukturierendem Element des Sozialen ist folgenreich darin, dass er jede institutionelle Ordnung als nur temporäres Produkt eines dynamischen Machtgeschehens durchsichtig macht (vgl. Foucault 1977b: bes. 305). Die von Foucault seit Beginn der 1970er Jahre verwendete Bezeichnung »Mikrophysik der Macht« ([1975] 1976: 38) bezieht sich auf dieses hochdynamische und relationale Ensemble von »Dispositionen, Manövern, Techniken, Funktionsweisen« in einem Feld, in dem »zahllose Konfrontationspunkte und Unruheherde, in denen Konflikte, Kämpfe und zumindest vorübergehende Umkehrung der Machtverhältnisse drohen« (ebd.: 39). In den berühmten methodologischen Passagen aus Der Wille zum Wissen erläutert Foucault diesen alternativen Begriff der Macht, der sich in seinen zahlreichen Analysen des Straf- und Justizsystems, der Psychiatrie und Gesundheitspolitik bewährt hat, in fast definitorischer Weise: »Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren, das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen [appuis], die diese Kraftverhältnisse auseinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen [décalages] und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kris-

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32 | Martin Saar tallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern [prennent corps]. Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. […] die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger [une puissance dont certains seraient dotés]. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« ([1976] 1977: 113f., frz. 123)

Die »Allgegenwart der Macht« (ebd.: 114) ist in dieser Redeweise eine generelle Tatsache, die die Vorstellung eines Zentrums und einer Peripherie sinnlos werden lässt; und Macht ist keine Struktur, weil sie ein dynamisches Geschehen und ein fortwährend in Bewegung befindliches Spiel von Kräften ist. Eine solche radikal prozessuale Betrachtung des Politischen steht der Fixierung des Blicks auf die politische Ordnung und die stabilen politischen Institutionen entgegen. Wie es auf der schwankenden Grundlage, auf dem »bebenden Sockel der Kraftverhältnisse« (ebd.) überhaupt temporäre Stabilität geben kann, wird selbst zum Erklärungsziel der historischen Analyse, nicht zu ihrem Ausgangspunkt. Aus dieser Umkehrung der Perspektive folgt aber, dass die Institutionen selbst keinen systematischen Vorrang haben, sondern als Produkte, als »Kristallisierungen« (s.o.) begriffen werden müssen. Man könnte ohne Übertreibung sagen, dass genau dieser anti-institutionelle Ausgangspunkt vielen von Foucaults Analysen ihre systematische Besonderheit verleiht. Denn nur so kann die Verflechtung von Macht und Wissen und die Produktivität oder Konstitutionskraft der Macht erläutert werden: Weil das Soziale ein Feld ist, dessen Einheiten sich in einem komplexen Machtgeschehen erst bilden, ist es nicht sinnvoll, von der Existenz bestehender Einheiten auszugehen und das politische Geschehen daraus abzuleiten, wie es jede institutionalistische Erklärung tun würde (Saar 2004). Stattdessen können die einzelnen strategischen Elemente analysiert werden, die zur Formierung oder »Kristallisation« solcher Einheiten beitragen: Deshalb beginnt die Analyse von Strafsystem und Disziplinargesellschaft in den Vorlesungen von 1971/72 und 1972/73 und vor allem in Überwachen und Strafen mit den Praktiken des Strafens (und nicht mit den ausführenden politischen Organen) und mit den Diskursen und Begründungen dieser Praktiken. So beschreibt Foucault in seiner Analyse der Psychiatrie in den Vorlesungen von 1973/74 und 1974/75 minutiös den Umgang mit den pathologisierten Subjekten und vor allem das über sie und mit ihrer Hilfe gebildete Wissen, dessen sich neu entstehende medizinische und soziale Institutionen zur Selbstlegitimierung bedienen können (2003: Vorl. 8, 9). Der konstruktivistische und anti-essentialistische Grundzug der genealogischen Analysen der 1970er Jahre hat Foucault immer wieder eine polemische Position zu marxistischen Interpretationen desselben histori-

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schen Materials einnehmen lassen, denen er eine Reifizierung des Staates (als Instanz bürgerlicher Klassenherrschaft) vorwirft (1978). Demgegenüber folgt aus seinen Analysen, dass das Ökonomische, aber auch die europäische Meta-Institution des Staates nur »einen wichtigen, aber keinen vorrangigen Platz in einer differentielle[n] Analyse der verschiedenen Machtebenen« besitzen kann (Foucault 1975: 1011; vgl. 1981c: 231; [1997] 1999: 45ff.). Der Staat ist demnach nicht viel mehr als eine Kristallisation von Kräfteverhältnissen, und er ist weder reines Instrument (in den Händen irgendeiner sozialen Gruppe) noch ein vollständig verselbständigter bürokratischer Apparat. Weil der Staat eine soziale Einheit in einem Netz von Beziehungen mit anderen sozialen Institutionen ist, an deren Wissensproduktionen und Regulationsfunktionen er partizipiert, ist er keine von der »Gesellschaft« (und ihren strategischen Dynamiken) klar unterschiedene Instanz. Als Objekt von Analysen spezifischer Konfigurationen des Wissens und der Macht tritt er nur als eine von mehreren gesellschaftlich wirkmächtigen Instanzen in Erscheinung. In dieser Hinsicht kommt den Vorlesungen zur Gouvernementalität eine systematische, machttheoretische Bedeutung zu. Auch wenn Foucault dezidiert keine »Staatstheorie« schreiben will (vgl. 2004a: 114, 133), findet sich hier doch der einzige zusammenhängende Text im Rahmen seiner gesamten Arbeiten, der – unter den genannten anti-essentialistischen Prämissen – dem Staat als solchem gewidmet ist. Das bedeutet, dass zweierlei zu beobachten ist. Einerseits ist in negativer oder kritischer Hinsicht zu sehen, dass die Geschichte der Gouvernementalität analog zu den anderen Institutionen-Analysen den Staat denaturalisiert und in Prozesse des StaatWerdens auflöst; und der Begriff der Gouvernementalität als Geflecht aus Regierungstechnologien und Denkweisen spielt eine tragende Rolle in diesem Verfahren (Lemke 2002b). Andererseits ist positiv zu sehen, dass tatsächlich die Spezifik, die besondere Funktionsweise des (modernen) Staates in seiner Funktion als Regierungsinstanz im weitesten Sinn bestimmt werden kann, und hierfür ist vor allem die Formel von der »politischen Rationalität« einschlägig, der sich auf den Staat als eigenständige Instanz bezieht und sich von der – gewissermaßen »subjektlosen« – Rationalität des Regierens selbst unterscheidet (Gordon 1991; Hindess 1997). In der Tat geben die beiden Vorlesungsreihen Hinweise in beide Richtungen, ohne dass diese ganz übereinstimmen würden. Der Richtungswechsel von der Geschichte der Sicherheitsdispositive und dem historischen Auftauchen der Bio-Macht hin zur zeitgenössischen Fortsetzung des frühen Liberalismus in der neoliberalen Theorie und Praxis in der vierten Vorlesung im zweiten Jahr (vgl. Foucault 2004b: 43f., 112-116) verhindert zudem, dass die beiden Stränge zusammengeführt werden, d.h. dass das Verhältnis von Bio-Macht und Liberalismus bzw. liberalem Staat wirklich ausführlich thematisiert würde (vgl. ebd.: 443).10 Was die Denaturalisierung des Staates angeht, so ist Foucaults Polemik

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34 | Martin Saar gegen die »Überbewertung des Staatsproblems« (2004a: 163) und den »›Institutionalozentrismus‹« (ebd.: 175) vor allem durch das Ziel motiviert, einen unverstellten Blick auf diejenigen Prozesse zu gewinnen, in denen sich Staatlichkeit herstellt. Nur wenn man die Prämisse zugesteht, dass der Staat keine natürliche Einheit, sondern eine »zusammengewürfelte Wirklichkeit [une réalité composite], eine mythifizierte Abstraktion« (ebd.: 163, frz. 112) oder »eine spezifische und unzusammenhängende [discontinue] Wirklichkeit« (Foucault 2004b: 17, frz. 6) ist, lassen sich die Prozesse der Herausbildung moderner Staatlichkeit verstehen. Der zu erläuternde Prozess ist dann nicht die »Verstaatlichung [étatisation] der Gesellschaft, sondern eher […] die ›Gouvernementalisierung‹ des Staates« (Foucault 2004a: 163, frz. 112). Auch wenn Foucault kurz zuvor drei Bedeutungsebenen der Gouvernementalität einführt, die einige begriffliche Schwierigkeiten bereiten, wird der systematische Stellenwert des Konzeptes gleichwohl deutlich.11 Es zeigt die prozess- und konstitutionsorientierte Verflüssigung der vermeintlichen Einheit Staat an und verweist auf einen Komplex historisch spezifischer Regierungsprogramme und -techniken, die den modernen Staat möglich gemacht haben. Insofern ist der Staat im allerweitesten Sinne »eine Praxis« (ebd.: 400) beziehungsweise »nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten« (Foucault 2004b: 115). Der Plural verweist hier darauf, dass selbst innerhalb des Systems moderner Staatlichkeit verschiedene Rationalitäten des Regierens koexistieren können oder dass es verschiedene konkrete Formen von Biopolitik gibt. Mit dem Begriff der Gouvernementalität verbindet sich also eine Reihe von historischen und systematischen Thesen über die Verfasstheit moderner, biopolitischer Staatlichkeit: Sie ist eine historisch spezifische, nicht alternativlose Form der Organisation der politischen Form von Gesellschaften, die von bestimmten Techniken und Lehren des Regierens abhängig ist. Sie vollzieht sich in erster Linie im Modus des Regierens im Sinne der Führung, der fördernden Regulation und der gewährenlassenden Umweltsteuerung, die die Selbststeuerung der Subjekte und ihre Eigeninteressiertheit zugrunde legt. Auch wenn manche Bemerkungen Foucaults anderes nahelegen, seiner primären Verwendung entsprechend ist »Gouvernementalität« ein weiter klassifikatorischer Begriff, d.h. er bezeichnet und umfasst eine Vielzahl von Regierungstechniken und -weisen. Zugleich hat er einen historischen Index, denn die »Entdeckung« der Bevölkerung als Objekt des Regierens ist ein datierbares Ereignis, das – in geläufiger Nomenklatur – mit dem Beginn der politischen Moderne in den großen europäischen »Territorial-, Verwaltungs- und Kolonialstaaten« (Foucault 2004a: 135) zusammenfällt. Was die Spezifik der politischen Rationalität angeht, die mit dem Beginn des »Zeitalter[s] der Gouvernementalität« (Foucault 2004a: 164) entsteht, ist die Staatsräson (ebd.: Vorl. 4, 9-11; Foucault 2004b: Vorl. 3) die

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historisch erste autonome Reflexionsform des Regierens, auch wenn sie noch ganz im Kontext souveräner Machtausübung bleibt. Die Regierungslehren werden die Frage der Staatsräson und des Staatserhalts langsam in die Frage nach der wachstumssteigernden Erhaltung der Bevölkerung überführen. Die frühe politische Ökonomie, der Foucault schon in Die Ordnung der Dinge eine interessante Übergangs- und Signalwirkung an der Schwelle zur Moderne zugesprochen hatte (vgl. [1966] 1971: 274-279, 307322), steht für die Wissensform, die zum ersten Mal die Frage nach der richtigen Steuerung von Individuen mit Überlegungen zu ihrer Selbststeuerung verknüpft. Das Staats- und Regierungsdenken des frühen Liberalismus ist dann das erste politische Denken, das die Vorstellung von äußeren Grenzen der Steuerbarkeit von Individuen und sozialen Prozessen integrieren kann und ins Prinzip der inneren Grenzen der Einflussnahme transformiert (Foucault 2004b: Vorl. 2): Liberales Regieren heißt nun umsichtige Einflussnahme auf Rahmenbedingungen von Prozessen, die nach ihrer eigenen Logik effizient und wohlfahrtsoptimal verlaufen. Foucaults Historiographie der »politischen Vernunft« im Doppelsinn der Doktrinen des Regierens und ihrer instrumentellen, technischen Seite kann also herausarbeiten, wie sich in der europäischen Geschichte tatsächlich eine eigenständige Denkform gebildet hat, die die Ziele und Mittel des Regierens reflektiert.12 Diese Geschichtsschreibung ist kein Narrativ der allmählichen Emanzipation des Politischen aus der Verbindung mit der Theologie, wie es klassischere Ideengeschichten der frühen Neuzeit suggerieren.13 Eine solche Substanzialisierung ist Foucault schon unter den genannten methodischen Prämissen nicht verfügbar, und seine Pointe liegt auf einer anderen Ebene: Auch die Politik im engeren Sinne der Regierung von Subjekten ist eine moderne »Erfindung«, die von neuen Medien der Machtausübung und neuen Vorstellungen über die Regierbarkeit von Menschen abhängt. Die Geschichte der Gouvernementalität schreibt die Historie der Folgen dieser Erfindung und weist dem Staat eine historisch variable Position in dieser Geschichte zu. Diese höchst produktive Konzentration auf die politische Rationalität und auf die Reflexion des Staates bleibt im Verhältnis zum gesamten Werk transitorisch. Auch wenn eine Vielzahl kleiner Texte aus den Jahren 1977 bis 1982 diese Themen teils an einzelnen Punkten weiterführen, teils schon in den Vorlesungen erprobtes Material nun auch einem größeren und oft internationalen Publikum zugänglich machen, keiner von ihnen verlässt den dort gesetzten Rahmen.14 Die Vorlesungen am Collège de France von 1980/81 (Subjektivität und Wahrheit) reorientieren dann endgültig die Forschungstätigkeit Foucaults in die Antike, und die Geschichte des modernen Staates gerät in den Hintergrund. Die Geschichte der Gouvernementalität als eigenständiges Projekt bleibt Fragment; die allgemeine Frage nach Macht und Staat bleibt aber bis in die spätesten politischen Interventionen hinein relevant, weil sich von dieser Frage aus das Problem der

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36 | Martin Saar Führung und der Selbstführung stellen lässt, das allerdings kein rein theoretisches, sondern ein praktisches oder ethisches ist.

III.

»Regierung der Freiheit«

Die Rede von den mit den Diskursen verbundenen Kämpfen in Foucaults Antrittsvorlesung von 1970 (s.o.) lässt erwarten, dass seine Analysen der sozialen und politischen Institutionen von einer grundsätzlichen Konfliktivität ausgehen. Die Gesellschaft als solche erscheint dann als Ort des Aufeinanderprallens von Kräften, an dem es letztlich um Überwältigung und Unterwerfung geht. Eine solche Grundthese schien auch in der Konsequenz von Foucaults affirmativer Bezugnahme auf Nietzsches Modell der Genealogie in vielen kleineren Texten zu Beginn der 1970er Jahre zu liegen, am prominentesten in Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971), die auf die Gewaltförmigkeit noch der scheinbar zivilisiertesten historischen Episoden abzielt.15 Dennoch ist auch dies keine absolute Prämisse, und die verschiedenen schon erwähnten Versuche, historische Typen von Macht zu kontrastieren, sind auch der Versuch, ein differenzierteres Vokabular des Wirkens von Macht jenseits von nackter Gewalt und Unterwerfung zu entwickeln. Die Vorlesungsreihe von 1975/76 (Die Verteidigung der Gesellschaft) versucht sogar explizit, die – von Foucault selbst zeitweilig vertretene – Auffassung von der Kriegsförmigkeit des Sozialen, die er die »Hypothese Nietzsches« nennt, zu historisieren und auf ihre Diskursgeschichte hin zu befragen; die Auffassung, »die Grundlage des Machtverhältnisses [sei] die kriegerische Auseinandersetzung der Kräfte [un rapport belliqueux]«, ist nun selbst eine zu erläuternde Idee, keine operative Prämisse mehr (Foucault [1997] 1999: 33, frz. 30; vgl. Lemke 1997: 131-134). Eine weitere entscheidende Etappe in der allmählichen Revision eines allzu einfachen Verständnisses vom Wirken der Macht ist die Ablehnung der von Foucault so bezeichneten »Repressionshypothese« ([1976] 1977: 21), der zufolge die Wirkung von Macht in erster Linie in »Verboten, Verweigerungen, Zensuren, Verneinungen« bestünde (ebd.: 22). Schon die Analysen der mikropolitischen Beziehungen zwischen Wissen und Macht und die Entdeckung der Disziplinarmechanismen hatten die Vorstellung vom produktiven Konstitutionscharakter von Macht vorausgesetzt. Aber noch Überwachen und Strafen verweist implizit auf das Narrativ einer »Schlacht« (Foucault [1975] 1976: 23) zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. In den Vorlesungen zur Gouvernementalität lässt Foucault mit dem neuen Forschungsthema des Regierens sowohl das Paradigma des Krieges, das er selbst eine Zeit lang akzeptiert hatte, wie das von ihm als Kardinalfehler alternativer Theorien entlarvte Paradigma der Repression hinter sich, denn mit Regierung und Biopolitik lassen sich Machtausübungen

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diagnostizieren, die weder offen kampfförmig noch wesentlich negativ sind. Dass der »dominante« Machtmodus (s.o.) im Zeitalter der Gouvernementalität in Verwaltung und Regulierung des Lebens besteht, bedeutet gerade, dass sich gouvernementale Macht anders als souveräne Macht und Disziplin vollzieht (vgl. I.). Damit ist nicht gesagt, dass diese Machtformen harmlose Varianten »guter Macht« wären; die biopolitische Verwaltung des Lebens kann sogar aus einer bestimmten diagnostischen Perspektive als umso verhängnisvoller erscheinen, da sie ungleich umfassender und durchdringender ist, im Zuge der »Gouvernementalisierung« des Staates und der Gesellschaft alle Bereiche des Sozialen erfasst und sich vor allem auf dem Umweg des Schutzes und der Förderung des Lebens das Recht zu töten erwirkt. Das begriffliche Instrumentarium der Gouvernementalitätsanalysen erlaubt es, die Spezifik bestimmter Formen moderner Macht gerade darin zu erfassen, dass sie weder als physischer Zwang noch als gewaltsame Unterwerfung noch – in Abgrenzung zu den von 1977 aus gesehen gerade erst beendeten Studien – als vereinnahmende Disziplinierung auftritt. Die Gouvernementalitäten seit dem 18. Jahrhundert sind, so Foucaults zentrale geschichtliche und politische These, um die Regierung der Freiheit beziehungsweise durch Freiheit konzentriert. Aus diesem Grunde kann auch keine politische Analyse, die Freiheit als Gegenbegriff, als Außerhalb der Macht versteht, in seinen Augen den politischen Realitäten der Gegenwart gerecht werden. Der historische Beitrag der Vorlesungen zu einer solchen Theorie des Zusammenhangs von Macht und Freiheit liegt in der Herausarbeitung der zentralen Idee der Regierung und des Regierens für die Geschichte der europäischen Politik. Für die Geschichte des christlichen Pastorats oder der Pastoralmacht interessiert sich Foucault in diesem Zusammenhang aus dem einfachen Grund, dass im religiösen Rahmen Praktiken, Institutionen und Regeln für eine paternalistische und heilsversprechende Beziehung zwischen einem »Hirten« und einer »Herde«, einem Leiter und einer Gruppe von Geleiteten etabliert wurden, die später Eingang in die politisch-institutionelle Sphäre finden. In diesen seelsorgerisch-pädagogischen Beziehungen spielt sich ein Typus regulativer Macht ein, der nicht-repressiv und nicht-konfliktiv (Foucault 2004a: Vorl. 7; vgl. Detel 1998: Kap. 1), sondern durch und durch wohlwollend ist – weshalb es vielleicht nur eine leichte historische Übertreibung ist, das christliche Pastorat »das Präludium der Gouvernementalität« (Foucault 2004a: 268) zu nennen. Es bleibt aber dem Liberalismus als einer politisch-philosophischen Theorie vorbehalten, die Beziehung zwischen Regierung und Regierten ganz nach dem Modell des Anleitens zur Selbststeuerung zu modellieren. Dies geschieht, indem der Liberalismus die Freiheit der politischen Subjekte aktiv organisiert. Die Regierungspraxis »vollzieht die Freiheit insofern [Elle est consommatrice de liberté], als sie nur in dem Maße mögliche ist, in dem es tatsächlich eine bestimmte Anzahl von Freiheiten gibt« (Foucault 2004b:

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38 | Martin Saar 97, frz. 65). In diesem Sinne gehören zum Liberalismus notwendigerweise »›freiheitserzeugende‹ [›libérogènes‹]« Dispositive (ebd.: 104f., frz. 70), die immer auch das Risiko in sich bergen, Freiheit durch Regulierung wieder zu zerstören. Schon anhand dieser nur kurz skizzierten und im Verhältnis zu den früheren Arbeiten der 1970er Jahre bahnbrechenden Überlegungen lässt sich erahnen, dass es dieses Motiv der Freiheit der Subjekte ist, das die Vorlesungen zur Gouvernementalität am deutlichsten als Übergänge zur späteren Fragestellung Foucaults darstellt. Denn in einem gewissen Sinn ist die Hinwendung zum Thema des Selbstverhältnisses und der Selbstsorge, aber auch zu den emphatischen Modellen einer »Ästhetik der Existenz« und aktiven Selbststilisierung in den letzten Texte Foucaults auch ein Versuch, die Rolle des (freien) Subjekts angemessen zu artikulieren; und es ist diese Frage, die über den methodologischen Rahmen der archäologischen Wissensanalyse und der genealogischen Machtanalytik hinausführt und die die Formulierung einer dritten irreduziblen »Achse« der Untersuchung nötig macht (Foucault 1983a: 474; vgl. Saar 2007a: 247-275). In dem kurzen, aufschlussreichen Text Subjekt und Macht (Foucault 1982), der den Schritt von der Gouvernementalitätsanalyse zu den Fragen des Spätwerks vielleicht am besten sichtbar macht, tritt die Bedeutung des Topos der Freiheit deutlich hervor. Wie schon in den Vorlesungen wird Machtausübung mithilfe des weiten Begriffes der Regierung als Führung der Führungen oder als Versuch verstanden, »›Führung zu lenken‹ [›conduire des conduites‹]« (ebd.: 286) oder »das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren« (ebd.: 287). Dass sich die in diesem Sinne Geführten immer schon auch selbst führen, Subjekte ihrer Handlungen sind, heißt nun terminologisch nichts anderes, als dass sie frei sind, wie es nun einiges expliziter als in den Vorlesungen heißt: »Macht kann nur über ›freie Subjekte‹ ausgeübt werden, insofern sie ›frei‹ sind.« (Ebd.) Entscheidend ist dieses klare und für Foucault offensichtlich unspektakuläre Eingeständnis, dass die Begrifflichkeit zur Beschreibung von Machtverhältnissen Platz für den Begriff der Freiheit haben muss, weil sonst die Idee einer Wirkung von Macht (als Führung) im Subjekt keinen Sinn hätte. Auch in diesem späteren Text kommt den Widerständen und Kämpfen gegen die »Führung« eine entscheidende Bedeutung zu, und damit greift Foucault erneut das Thema des »Gegen-Verhaltens [contre-conduite]« (2004a: 292 u.ö.) und der »Verfahrensrevolten« (ebd.: 284) aus den Vorlesungen auf. Aber entschiedener als dort ist nun der Impuls formuliert, diese historischen Prozesse auch als Schlüssel für gegenwärtige politische und ethische Fragen und damit für die Spielräume und Widerständigkeiten auszuloten, die Technologien des Regierens immer auch zulassen: »Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt« (Foucault 1982: 280). Diese (oder eine ähnliche) Formulierung fehlt in den

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Vorlesungen von 1977 bis 1979; sie ist aber in ihnen schon vorbereitet, denn Gouvernementalität ist nichts anderes als der Rahmen für die Entstehung derjenigen Formen von Subjektivität, die den regierten Individuen verfügbar sind, und die gouvernementalen Techniken und Institutionen sind wirksame Kräfte bei der Prägung politischer Formen des Selbst. Erst durch die bahnbrechende Einsicht in die Regierungsweisen der Moderne und der Gegenwart konnte im Rahmen der Geschichte der Gouvernementalität die Frage nach der spezifischen Form moderner Macht beantwortet werden. Der hier gegebenen Rekonstruktion zufolge liegt die allgemeine, systematische Originalität dieser Antwort darin, dass sie erstens die Verbindung von politischer Macht und politischem Wissen herausgestellt hat, zweitens dem Staat einen spezifischen Platz in der Geschichte der modernen Macht zugewiesen hat und drittens die Freiheit selbst als Medium und nicht als das Gegenteil der Macht darstellen konnte. Zugleich ist aber Foucaults Antwort eine spezifische und historisierende, die die vermeintlich einheitliche Gestalt der politischen Moderne in Phasen, Tendenzen und Kämpfe zersplittern lässt. Die vielfachen Periodisierungen, Typologien und Gegenüberstellungen, die sich für eine Geschichte der Gouvernementalität als heuristische Raster ergeben haben, tragen dazu bei, ein genealogisches Tableau von Kräfteverhältnissen zu zeichnen, das die mehrdeutigen Herkünfte der Gegenwart lesbar und damit auch entzifferbar macht, wie »wir« geworden sind, was wir sind. Der terminologische und systematische Schritt von den Regierungsformen zu den Subjektivitätsformen ist genau das, was sich für Foucault als sinnvoller Anschluss an die Frage nach dem Regiertwerden und dem Nicht-so-regiert-werdenWollen (vgl. [1990] 1992: 12) ergeben hat: Die macht- und gouvernementalitätstheoretischen Analysen konnten zeigen, dass die Formen des Regierens selbst Weisen des Subjektseins hervorbringen; damit wird aber der Widerstand gegen bestimmte Regierungsformen zur Auflehnung gegen spezifische Weisen der Subjektivierung (Foucault 1982; 1983a). Man kann vermuten, dass es dieser Zusammenhang von Selbst und Macht ist, der Foucaults beharrliches historiographisches Bohren nach den vielfältigen und von der Gegenwart aus alternativen Subjektformen der griechischen und römischen Antike in seinen letzten Schriften motiviert hat. Denn nur andere Formen des Selbstbezugs könnten wirksame und nachhaltige Transformationen des herrschenden Macht- und Wissensregimes überhaupt denkbar machen (Saar 2007b). Der Stellenwert des Konzeptes der Gouvernementalität im Kontext des Werks ist also mehrdeutig. Die Vorlesungen von 1977/78 und 1978/79 lassen sich einerseits als kohärente Etappen einer sich konsequent entfaltenden theoretischen Perspektive beschreiben, in deren Verlauf sich Selbstkorrekturen und Erweiterungen ergeben, die dann zu neuen materialen Studien führen. Dagegen kann man sie aber auch als ein solitäres und in sich geschlossenes Forschungsprojekt lesen, das zu Recht den Ausgangs-

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40 | Martin Saar punkt für einen ganz eigenen Forschungszweig gebildet hat, in dem das Instrumentarium einer Untersuchung der politischen Rationalitäten auch für von Foucault nicht behandelte Epochen, Kontinente und vor allem für die Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts fruchtbar gemacht wird. Man sollte nicht übersehen, dass die Bemerkungen Foucaults zur aktuellen Politik seiner Zeit in den Vorlesungen zu den wenigen gehören, in denen er – zumindest im Rahmen seines »offiziellen« Werks – an konkrete Fragen der politischen Gegenwart herankommt und so die Rolle des Historikers mit der des Zeitdiagnostikers tauscht (vgl. Senellart 2004: 559). Die Anwendung des Forschungsparadigmas der Gouvernementalität auch jenseits der rein historischen Fragen ist also von ihm selbst experimentell erprobt worden.16 Aus einer Vielzahl von werkinternen Gründen verliert das historische Projekt einer umfassenden Analyse der politischen Moderne für Foucault an Relevanz, nicht aber sein systematischer Einsatz: die Frage nach der Regierung. Die späten Texte werden das Problem der Selbstführung und des Selbstverhältnisses, des Ethos und des Widerstands des Selbst gegen die ihm auferlegten Subjektivierungen mithilfe anderer historischer Materialien und begrifflicher Mittel artikulieren und vor allem verschiedene Weisen, sich als ein Selbst zu konstituieren und zu führen, kontrastieren.17 Das Ergebnis dieses Kontrasts ist in erster Linie befreiend, weil es die Kontingenz und damit die Nichtnotwendigkeit des Gewordenen herausstellt: Die Geschichte der europäischen modernen Wissens-, Macht-, Regierungsund Selbstregierungsformen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Aber die historische Arbeit kann die Brüche, Einseitigkeiten und Zufälligkeiten dieses Prozesses nachzeichnen; und seine Analyse lässt die vermeintliche Einheitlichkeit und Unausweichlichkeit unserer politischen Identitäten zerbersten. Die Geschichtsschreibung der Gouvernementalität, d.h. der politischen Geschichte unserer selbst, ist ein unverzichtbares Werkzeug für dieses Graben unter unseren eigenen Füßen (vgl. Foucault 1967: 784).18

Anmerkungen 1 | Vgl. die Sammlung (Foucault 1989) der kurzen Zusammenfassungen der Vorlesungen, die im Jahrbuch des Collège de France veröffentlicht wurden und die inzwischen in die Gesamtausgabe der kleinen Schriften (Foucault [1994] 20012005) integriert sind. Für den biographischen Kontext vgl. Defert (2001). 2 | Dieser Eindruck gilt nur für die Monographien; was die kleinen Texte und Interviews angeht, kann von einer nachlassenden Produktivität Foucaults in diesen Jahren keine Rede sein (vgl. die Bände III und IV der Schriften). 3 | Vgl. besonders den entscheidenden Text Nietzsche, die Genealogie, die Historie (Foucault 1971) und als Interpretationen von Nietzsches Einfluss auf Foucault Mahon (1992); Owen (1994); Saar (2007a).

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Macht, Staat, Subjektivität | 41 4 | Vgl. das »Vorwort zur deutschen Ausgabe« in Die Ordnung der Dinge (Foucault [1966] 1971: 9-16). 5 | Vgl. etwa Foucault (1972: 486; [1975] 1976: 394). 6 | Vgl. Foucault (2003: Vorl. 3; [1975] 1976: 269-291), und die 1973 in Rio de Janeiro gehaltene Vorlesungsreihe Die Wahrheit und die juristischen Formen (Foucault 1974: bes. 728f., 759-767). 7 | In den Vorlesungen von 1975-1976 ist noch von »Regulierungsmacht« die Rede (Foucault [1997] 1999: 291), und die späteren »Sicherheitsdispositive« werden als »Sicherheitstechnologien« (ebd.: 294ff.) eingeführt. Die wichtigsten Passagen zur Bio-Macht stammen aus dem letzten Kapitel von Der Wille zum Wissen (Foucault [1976] 1977: 161-190, bes. 161-173). 8 | Vgl. Foucault (2004b: 59; 1980a: 67; 1983b: bes. 539; [1984a] 1986: 13); Lemke (1997: 327-346). 9 | Vgl. Foucault (2004b: 261, frz. 192): »Der Begriff der Macht selbst hat keine andere Funktion, als einen [Bereich] von Beziehungen zu bezeichnen, die alle analysiert werden sollen, und was ich vorgeschlagen habe die Gouvernementalität zu nennen, d.h., die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert, ist nichts anderes als der Vorschlag eines Analyserasters [grille d’analyse] für diese Machtverhältnisse«. Zu Foucaults Machttheorie allgemein vgl. Owen (1994); Hindess (1996); Lemke (1997: 38-125); Patton (1998). 10 | Die Vorlesungen im folgenden Jahr (1979/80) nehmen die historische Darstellung und systematische Argumentation bezüglich des Neo-Liberalismus nicht auf, knüpfen aber auch an die Geschichte der Pastoralmacht nur indirekt an, indem sie das Problem der Gewissensprüfung und des Bekenntnisses im frühen Christentum behandeln. Allerdings ist das Forschungsseminar dieses Jahres dem liberalen Denken gewidmet (Foucault 1980b). Für zwei Versuche, das von Foucault unterbestimmte Verhältnis von Bio-Macht und Gouvernementalität systematisch neu zu deuten, vgl. Dean (2001) und Lemke (2007). 11 | Foucaults zentrale Erläuterung nennt als die drei Bedeutungsebenen des Begriffs der Gouvernementalität erstens »die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen [calculs] und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form [biopolitischer] Macht auszuüben«, zweitens »die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus [der ›Regierung‹] geführt hat«, und drittens den »Vorgang oder vielmehr das Ergebnis des Vorgangs […], durch den der mittelalterliche Staat der Gerichtsbarkeit, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat wurde, sich nach und nach ›gouvernementalisiert‹ hat« (2004a: 162f., frz. 112f., Einfügungen: MS). – Das Hauptproblem liegt offenkundig neben der ungünstigen Zirkularität der dritten Bestimmung (Gouvernementalität als Ergebnis der Gouvernementalisierung) in der begrifflichen Unschärfe, die daraus entsteht, dass das erste (die Gesamtheit gouvernementaler Techniken) und die beiden anderen Elemente (eine historische Tendenz und das Ergebnis eines historischen Prozesses) dieser Erläuterung nicht auf der gleichen Ebene liegen. Man kann sich kaum vorstellen, dass diese »Definition« eine gründliche Redaktion des Vorlesungstextes seitens Foucaults überstanden hätte. Vgl. auch Lemke (1997: 193f.); Senellart (2004: 482-486). 12 | Zu dieser im deutschen Kontext ungewöhnlichen Verwendung der Begriffe Vernunft und Rationalität vgl. das Interview mit dem irreführenden deutschen Titel »Folter ist Vernunft« (Foucault 1977c).

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42 | Martin Saar 13 | Diese Divergenz zeigt sich besonders deutlich an der Differenz zwischen der Machiavelli-Interpretation Foucaults (2004a: Vorl. 3, 9, 10; vgl. [1997] 1999: 78, 201f.), der diesen eher als Repräsentanten des alten vor-gouvernementalen Regierungsdenkens vor der Staatsräson einordnet, und der inzwischen eher etablierten Interpretation von Autoren, die ihn als ersten Denker der politischen Moderne und der Autonomie des Politischen verstehen; vgl. exemplarisch Skinner (1978) und Münkler (1984). 14 | Dies gilt im Besonderen für die Vorträge Was ist Kritik? ([1990] 1992), gehalten 1978 in Paris, ›Omnes et singulatim‹: zu einer Kritik der politischen Vernunft (Foucault 1981a), gehalten 1979 in Stanford, und Die politische Technologie der Individuen (Foucault 1984e), gehalten 1982 in Vermont. 15 | Vgl. Foucault (1971) und das Ende von Überwachen und Strafen (Foucault [1975] 1976: 396) und zur Bedeutung dieser antagonistischen Konstruktion Warren (1988); Ansell-Pearson (1991); Saar (2007a). 16 | Für diese ethisch-politische Dimension sind auch die konkreten biographischen und zeithistorischen Kontexte der betreffenden Jahre zu beachten und hier vor allem die kontroverse Frage des Terrorismus, Foucaults Engagement in den Diskussionen der Neuen Linken in Frankreich (vor und nach dem Regierungswechsel) und seine Einschätzung der iranischen Revolution, über die er als Berichterstatter des Corriere della serra schreibt (Defert 2001; Senellart 2004). Vgl. auch die Bemerkungen zur abwesenden »sozialistischen Gouvernementalität« (Foucault 2004b: 134-138) oder zur französischen Sozialpolitik (ebd.: 271-290). 17 | Hierfür sind zahlreiche kleine Texte der letzten Jahre einschlägig: Foucault 1981b; 1983a; 1984a; 1984b; 1984c; 1984d; 1984e. 18 | Für Hinweise und Diskussionen bedanke ich mich bei Reinhard Föhrenbach, Ina Kerner, Susanne Krasmann, Thomas Lemke, Jörg Ossenkopp, Michael Volkmer und bei meinen Kolleginnen und Kollegen im »Frankfurter Arbeitskreis für politische Theorie & Philosophie«.

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Eine unverdauliche Mahlzeit? Staatlichkeit, Wissen und die Analytik der Regierung Thomas Lemke »Wir wissen wohl, daß dieser Staat kein Objekt ist, das man im voraus theoretisch erforschen könne, dessen Werden uns fortschreitende Entdeckungen machen ließe; dennoch fahren wir fort, uns auf ihn zu richten, anstatt unter Wasser die Praktik zu entdecken, von der er nur die Projektion ist. Das soll nun überhaupt nicht heißen, daß unser Irrtum darin bestünde, an den Staat zu glauben, wo es doch nichts als Staaten gäbe: unser Irrtum besteht darin, an den oder die Staaten zu glauben, anstatt die Praktiken zu studieren, die jene Objektivierungen projizieren, welche wir für den Staat oder seine Varianten halten.« (Veyne 1981: 35)

In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität (Foucault 2004a; 2004b) am Collège de France antwortet Foucault auf den vor allem von marxistischer Seite erhobenen Vorwurf, der von ihm ausgearbeiteten »Genealogie der Macht« fehle eine Theorie des Staates.1 Foucault (2004b: 114) entgegnet seinen Kritikern, dass er auf eine Staatstheorie verzichte, »wie man auf eine schwer verdauliche Speise verzichten kann und muß« – um wenig später festzustellen: »Das Problem der Staatsbildung liegt im Zentrum der Fragen, die ich zu stellen versuchte.« Der folgende Text geht diesem scheinbaren Widerspruch nach, um genauer den Beitrag einer »Analytik der Regierung« für staatstheoretische Problemstellungen zu untersuchen. Diese knüpft an die methodologischen und theoretischen Prämissen an, die Michel Foucault in seiner »Geschichte der ›Gouvernementalität‹« (2004a: 162) skizziert hat. Die Analytik der Regierung weist drei Untersuchungsdimensionen auf. Sie ist erstens durch eine nominalistische Analyseperspektive gekennzeichnet, die die zentrale Bedeutung politischen Wissens für die Konstitution von Staatlichkeit hervorhebt. Zweitens verwendet sie einen weiten Technologiebegriff, der nicht nur materielle, sondern auch symbolische Techniken, nicht nur politische, sondern auch Selbsttechniken umfasst. Drittens begreift sie den Staat als

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48 | Thomas Lemke Effekt und Instrument politischer Strategien, die sich in verschiedenen Staatsprojekten materialisieren. Bevor ich im Folgenden genauer die drei Untersuchungsdimensionen vorstelle, sollen zunächst die Konturen der Analytik der Regierung vor dem Hintergrund der staatstheoretischen Debatten der letzten 30 Jahre entwickelt werden.

1. Die »Verarmung« der Staatstheorie In den letzten Jahren sind zwei Klassiker der Staatstheorie wieder entdeckt worden. Die Neuausgabe von Nicos Poulantzas’ Staatstheorie (2002) erschien bereits vor einiger Zeit, im Frühjahr 2006 folgte Claus Offes Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. So vielfältig und heterogen die Gründe für die Neuauflagen sein mögen, das wissenschaftliche Interesse an den Texten dürfte nicht nur theoriehistorischen Gründen geschuldet sein, sondern verweist auch auf Schwierigkeiten und Schwächen der aktuellen Staatstheorie. Provokant formuliert: Die staatstheoretischen Debatten der 1970er Jahre, in denen die beiden Arbeiten ihren festen Platz hatten, besaßen ein Reflexionsniveau, das in vielen zeitgenössischen Beiträgen systematisch unterschritten wird.2 Die bis heute anhaltende Bedeutung der Arbeiten von Offe und Poulantzas besteht in einem materialistischen Begriff des Staates, der diesen in Bezug setzt zur kapitalistischen Ökonomie auf der einen und zum demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat auf der anderen Seite. Natürlich waren diese zwei Autoren nicht die einzigen, die in der Tradition materialistischer Theorie Form und Funktion des Staates zu bestimmen suchten.3 Entscheidend aber ist, dass diese relationale Perspektive, die den Staat als soziales Verhältnis und politische Form einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft begreift, in den folgenden Jahren weitgehend verloren ging. Vom Ende der 1970er Jahre an betonten neo-institutionalistische und staatszentrierte Ansätze in Abgrenzung von der neo-marxistischen Staatstheorie die (relative) Unabhängigkeit politischer Institutionen und insbesondere des Staates. »Bringing the state back in« (Evans/Rueschemeyer/Skocpol 1985) – so lautete die Forderung in den Debatten der 1980er Jahre, wobei sich zunehmend die Einsicht verflüchtigte, dass der Staat selbst ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt und nicht einfach von der Gesellschaft isoliert begriffen werden kann. Bemerkenswerterweise erlebte diese theoretische Renaissance des Staates als autonomer Akteur seinen Höhepunkt zu einer Zeit, als andere Theorien ihn bereits auf dem Rückzug und die Epoche der Staatlichkeit zu Ende gehen sahen. Aus unterschiedlicher, häufig konträrer Perspektive diagnostizierten systemtheoretische, pluralistische, neokonservative und modernisierungstheoretische Ansätze einen Verfalls- und Fragmentierungsprozess des Staates, der es höchst ungewiss erscheinen

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ließ, ob dieser überhaupt noch eine Zukunft habe und wenn ja welche (Lange 2002). In den folgenden Jahren war die staatstheoretische Debatte beherrscht von der Analyse der Funktionsprobleme und des Reformbedarfs des Wohlfahrtsstaates. Die unterschiedlichen Krisendiagnosen und Erneuerungsvorschläge konvergierten darin, dass sie sich – und dies markiert die zweite Etappe, in der Einsichten der materialistischen Staatstheorie verloren gingen – zumeist einseitig auf ein Element der sozio-politischen Dynamik konzentrierten, dabei aber zugleich die Komplexität des Beziehungsgeflechts reduzierten. Ob der Wohlfahrtsstaat, wie Ulrich Beck (1986) annimmt, durch Individualisierungsprozesse erodiert, in denen sich jene sozialen Gruppenidentitäten auflösen, auf denen er organisatorisch und legitimatorisch aufbaut; oder er wie bei Luhmann (1995; 2000) aufgrund der strukturellen Überlastung des politischen Systems kollabiert, das in alle gesellschaftlichen Prozesse und Lebensbezüge eingreift, ohne die Folgen dieser Interventionen kontrollieren zu können – so heterogen diese und andere Krisendiagnosen ausfallen, sie ähneln sich doch in einem zentralen Punkt. Stets wird die Krisenursache entweder in exogenen Faktoren wie sozialstrukturellen, sozioökonomischen oder technisch-infrastrukturellen Transformationsprozessen gesucht oder in endogenen Momenten wie der negativen Eigendynamik institutioneller Strukturen oder der mangelnden Kompetenz staatlicher Akteure (Borchert/Lessenich 2004). Da der Staat nicht als gesellschaftliches Verhältnis thematisiert und analysiert wird, können weder die Eigensinnigkeit staatlicher Strukturen noch die Wechselwirkungen oder Beziehungsmuster von Handlungssphären und institutionellen Arrangements angemessen untersucht werden. Die Folge dieser verkürzten Perspektive auf den Staat ist eine theoretische Konstellation, die sich durch die doppelte Vorherrschaft evolutionstheoretischer und dezisionistischer Argumentationsfiguren auszeichnet. So finden sich auf der einen Seite Ansätze, die aufgrund einer systemischen Entwicklungsdynamik den Staat als Analyseeinheit verabschieden wollen – um ihn, wie etwa Luhmann zu einer »regionalen Adresse einer Weltgesellschaft« (1995: 117) zu erklären; auf der anderen Seite gibt es Theoretiker und Theoretikerinnen, die umgekehrt am Staat voluntaristisch festhalten, um ihn entweder, wie bei Giddens (1997; 1998), als stillen Makler und Moderator einer sozialdemokratischen Modernisierung zu empfehlen oder ihn aber, wie Bourdieu (1996; 1998), als starken gemeinwohlorientierten Gegenspieler eines neoliberalen Imperialismus zu präsentieren. Als Folge werden Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten des Staates je nach theoretisch-politischer Positionierung systematisch über- oder unterschätzt. Aus dieser kritischen Rekonstruktion der staatstheoretischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte folgt nun weder, dass die Lösung aktueller

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50 | Thomas Lemke staatstheoretischer Probleme in der Rückkehr zu den Positionen der 1970er Jahre liegt; noch reicht es aus, diese Traditionen linear fortzuschreiben oder sie additiv um weitere Kategorien wie Geschlecht oder Ethnie zu ergänzen. Die theoretische Perspektive, die hier vorgeschlagen werden soll, zielt – auf eine kurze Formel gebracht – auf eine Erneuerung materialistischer Staatskonzepte durch die Aufnahme von Elementen poststrukturalistischer Theoriebildung. Dabei geht es nicht um eine Vermischung zweier heterogener oder sich wechselseitig ausschließender Theorietraditionen. Im Gegenteil: Poststrukturalistische Theorien können das Analyse- und Kritikpotenzial materialistischer Ansätze erweitern und vertiefen.4 Die Erweiterung liegt in der Ergänzung des Begriffs des Materiellen um die Dimensionen des Symbolischen und des Technologischen. Die Analyse von Staatlichkeit muss die realitätskonstituierende Bedeutung von Diskursen, Narrativen, Wissenssystemen auf der einen und praktischer Verfahren, Instrumente und Programme auf der anderen Seite einbeziehen. Die Vertiefung besteht in der umfassenden Konzeptualisierung von Subjektivierungsprozessen, die nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen Klassen beziehungsweise Klassenfraktionen oder zwischen Geschlechtern thematisiert, sondern auch die Konstitutionsprozesse von Subjektivität einbezieht. Eine zentrale Bedeutung für diese Erneuerung materialistischer Staatsanalyse hat ein Forschungsprogramm, das interessanterweise ebenfalls in den 1970er Jahren formuliert, aber zum größten Teil erst seit kurzem in publizierter Form vorliegt: die Analysen Michel Foucaults zur Geschichte der Gouvernementalität. Foucaults »Genealogie des modernen Staates« (2004a: 508) hat ihren festen Ort in den zeitgenössischen staatstheoretischen und politischen Debatten und ist nicht zuletzt eine Reaktion auf Kritik an seinen disziplinaranalytischen Arbeiten. Die von Foucault in den frühen 1970er Jahren favorisierte »Mikrophysik der Macht« ([1975] 1976: 38) zeichnet sich nicht nur durch eine Konzentration auf Verfahren und Methoden individueller Dressur aus, sondern auch durch die programmatische Ausklammerung der Problematik des Staates.5 In dieser Hinsicht markieren die Vorlesungen von 1978 und 1979 eine theoretische Wende. Der darin von Foucault vorgeschlagene umfassende Begriff von Regierung setzt unterhalb beziehungsweise jenseits staatlicher Institutionen an und verweist auf unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung und Leitung von Individuen und Kollektiven zielen. Auf diese Weise wird es erstens möglich zu untersuchen, wie Praktiken politischer Regierung auf Subjektivierungsformen und Techniken der Selbstregierung rekurrieren. Zweitens erlaubt die Problematik der Regierung eine systematische Untersuchung der engen Beziehungen zwischen Wissenssystemen und diskursiven Formationen auf der einen und der Konstitution von Politikfeldern und staatlichen Regulierungsformen auf der anderen Seite (Lemke 1997).

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Im Folgenden soll das theoretische Profil der »Analytik der Regierung« deutlicher konturiert werden. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungsperspektive steht eine dreifache Pluralisierungs- und Dezentrierungsaufgabe. Die Analytik der Regierung sucht »die Machtbeziehungen hinsichtlich der Institution freizulegen, um sie unter dem Gesichtspunkt der Technologien zu analysieren, sie ebenso hinsichtlich der Funktion freizulegen, um sie in einer strategischen Analyse wiederaufzunehmen, und sie hinsichtlich des Privilegs des Objekts flexibel zu machen, um zu versuchen, sie vom Standpunkt der Konstituierung der Felder, Bereiche und Wissensgegenstände zu positionieren« (Foucault 2004a: 177).

Praktiken statt Objekt, Strategien statt Funktion und Technologien statt Institution – »diese dreifache Bewegung des Übergangs nach Außen« (ebd.: 177; 174-181) soll in den folgenden Abschnitten genauer vorgestellt werden.

2. Eine historische Ontologie des Staates: die nominalistische Untersuchungsmethode Ausgangspunkt einer »Analytik der Regierung« ist »die ›Gouvernementalisierung‹ des Staates« (Foucault 2004a: 163). Foucault begreift die Regierung durch staatliche Apparate als einen kontingenten politischen Prozess und als ein singuläres historisches Ereignis, das erklärungsbedürftig ist. Eine Reihe von Wie-Fragen folgt aus dieser Problemstellung: Wie wird die imaginäre Einheit des Staates praktisch hergestellt? Wie wird ein Ensemble von Institutionen und Prozessen zum »Staat« – wenn man davon ausgeht, dass es nicht immer schon Staaten gegeben hat? Wie ist die »Autonomie« des Staates zu begreifen, der außerhalb und über der Gesellschaft zu stehen scheint? Foucault schlägt zur Untersuchung dieser Frage ein Analyseverfahren vor, das er an einigen Stellen als »historischen Nominalismus« bezeichnet (vgl. [1980] 2005: 43; [1982b] 2005: 377; [1984b] 2005: 709;auch [1976] 1977: 114). Diese methodologisch-theoretische Perspektive prägt nicht nur seine »Geschichte des modernen Staates«, sondern auch die genealogischen Arbeiten über die Entstehung der Sexualität oder die Geschichte des Gefängnisses (Foucault [1975] 1976; [1976] 1977).6 Foucaults historischer Nominalismus ist eine kritische Analyseform, die eine negative und eine positive Komponente umfasst.7 Die negative verweist auf eine Strategie der Denaturalisierung, die sich kritisch auf den essentialistischen Gebrauch von Kategorien bezieht, ohne die Existenz der vor- oder außerdiskursiven Realität zu negieren. Ziel dieser Operation ist es, vertraute Denkschemata und epistemologisch-politische Positivitäten infrage zu stellen. Der zweite – positive – Analyseschritt zeigt das historisch-spezifische Netz

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52 | Thomas Lemke von Kräfteverhältnissen, Interessen und Strategien auf, das jene Evidenzen ermöglicht und stabilisiert hat. Hier geht es darum, die soziale Genese und die politischen Konsequenzen dieser »Konstruktionen« zu verfolgen. Dieser Nominalismus schreibt sich insofern in ein materialistisches Theorieprogramm ein, als es dabei gegen einen sozialwissenschaftlichen Realismus um die analytische Rekonstruktion des Prozesses einer »Objektivierung der Objektivitäten« (Foucault [1980] 2005: 43) geht.8 Diese doppelte Analysestrategie macht das spezifische Profil einer Analytik der Regierung aus. Sie bewegt sich in Distanz zu zwei Positionen, die beide gleichermaßen theoretisch unbefriedigend sind. Der Staat bildet weder ein stabiles und der Analyse vorgängiges Objekt noch einen kontingenten Effekt sozialer Konstruktionen. Für den Staat wie für Politik und Ökonomie gilt, dass diese »weder existierende Dinge sind noch Irrtümer noch Illusionen noch Ideologien. Sie sind etwas Nichtexistierendes und doch etwas, das an der Wirklichkeit teilhat, das aus einer Herrschaft der Wahrheit hervorgeht, die das Wahre vom Falschen unterscheidet.« (Foucault 2004b: 39) Der Staat bildet in dieser Hinsicht eine »Transaktionsrealität« (ebd.: 407), ein soziales Verhältnis und eine Praxisform, »die die jeweilige Charakterisierung und Stellung der Regierten und der Regierenden zueinander festlegt« (ebd.: 28). Diese »historische Ontologie« (Foucault [1984a] 2005: 702) des Staates geht auf der Grundlage der Annahme einer prinzipiellen Nicht-Existenz des Staates der Frage nach, wie verschiedene Elemente und Praktiken es möglich machen, dass so etwas wie »Staat« eine historische Wirklichkeit und strukturelle Konsistenz über einen längeren Zeitraum besitzt. Staat wird dabei weder als Real-Objekt noch als ideologische Fiktion begriffen, sondern als ein dynamisches Ensemble von Beziehungen und Synthesen, das zugleich die institutionelle Struktur des Staates und das Wissen vom Staat hervorbringt. Zwar begreift Foucault den Staat als eine »mythifizierte Abstraktion« (2004a: 163), aber damit ist nichts über die konkrete politische Bedeutung des Staates gesagt. Vielmehr interessiert sich Foucault dafür, wie der Staat eine privilegierte Position innerhalb der »Ökonomien der Macht« (ebd.: 164) einnehmen konnte. Das Forschungsinteresse verschiebt sich damit vom Objekt »Staat« hin zu den Regierungspraktiken, in denen und durch die der Staat konstituiert wird. Als Folge wird Staatlichkeit historisch situiert, an Existenzbedingungen und Transformationsregeln gekoppelt und als eine spezifische Form des Regierens gefasst. Statt die politischen Praktiken ausgehend vom Staat zu erklären (im Sinne einer Funktionalität, Teleologie, Finalität, Reproduktion, Adäquanz etc.), untersucht die Analytik der Regierung den »Staatseffekt« und betrachtet den Staat als »Korrelat« (Foucault 2004b: 19) von Praktiken. Sie rekonstruiert jene Regierungspraktiken, durch die bestimmte »Elemente« in einer Art und Weise miteinander verbunden werden, so dass retrospektiv ein »Objekt« erscheint, von dem angenommen werden

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kann, dass es dem historischen und politischen Prozess vorausgeht und diesen anleitet und steuert (Lascoumes 2004).9 Das eigenständige Profil dieser Untersuchungsstrategie zeigt sich im Vergleich zu theoretischen Positionen, die beim ersten Analyseschritt – der Denaturalisierung des Staates – stehen bleiben. So wendet sich etwa Niklas Luhmann zu Recht gegen positivistische Staatskonzepte, um dann allerdings zu dem Schluss zu kommen, dass man über den Staat gar nicht sprechen könne, da man »zu viel Komplexität und zu viel Heterogenität auf den Bildschirm« bekomme (1984: 626). Luhmann zufolge transportiert der Alltagsbegriff des Staates Erfahrungen und Erwartungen, die sich einer wissenschaftlichen Analyse entziehen. Daher müsse eine theoretische Analyse des Staates davon absehen (vgl. Luhmann 1995: 102f.). Die Analytik der Regierung teilt die Kritik an einem ontologischen Staatsbegriff, schlägt dann aber einen entgegengesetzten Weg ein. Sie versucht nicht, den alltagspraktischen und unscharfen Begriff des Staates durch einen theoretisch präzisen abzulösen; es ist im Gegenteil eben diese »Unschärfe« und Diffusität, die für die Analytik der Regierung den Schlüssel zum Verständnis des Staates darstellt.10 Das Problem, dem Luhmann und andere durch eine begriffliche Trennungs- und Reinigungsarbeit begegnen, um es auf diese Weise aus der Theorie auszuschließen, bildet einen integralen Bestandteil staatlicher Praktiken. Es verweist auf die zentrale Bedeutung »politischen Wissens« (Foucault 2004a: 520).11 Diese Untersuchungsperspektive ist aus historischen und systematischen Gründen für die Staatsanalyse unverzichtbar. Zunächst sind die Entstehung und Fortdauer des modernen Staates undenkbar ohne die permanente Generierung, Verbreitung, Speicherung und Unterdrückung von Wissen: Medizinisches und humanwissenschaftliches Wissen über die Bevölkerung und die Individuen, Informationen über die physische Beschaffenheit des Staatsgebietes, diplomatisches und geheimdienstliches Wissen über die Stärken und Schwächen anderer Staaten etc. Staatliche Akteure nutzten statistische Erhebungen, gesundheitspolizeiliche Expertisen, Reiseund Expeditionsberichte, Aktennotizen, Geheimdienstinformationen, Spionageberichte, wissenschaftliche Abhandlungen und andere Wissensformen, um Probleme zu definieren, Interventionsbereiche abzustecken, Ressourcen abzuschätzen und Ziele zu bestimmen (Vismann 2000; Burke 2001; Collin/Horstmann 2004; Desrosières 2005). Jenseits des historischen gibt es auch einen systematischen Grund für die Bedeutung politischen Wissens. Staatliche Politik erfordert ein Wissen von den zu regierenden Subjekten und Gegenstandsbereichen. Wissenssysteme stellen kognitive und normative Karten bereit, die Räume der Regierung erst erschließen. Sie bilden ein »Repräsentationsregime« (vgl. Escobar 1995: 10f.), das die Realität begreifbar und kalkulierbar macht, so dass in sie interveniert werden kann, um sie zu strukturieren, zu steuern und zu regulieren (Rose/Miller 1992). Umgekehrt wird der Staat durch

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54 | Thomas Lemke Diskurse, Bedeutungskonstellationen und Deutungsmuster konstituiert, in denen politische Akteure Handlungsmöglichkeiten realisieren und Strategien entwickeln (Steinmetz 1999a; Müller/Raufer/Zifonun 2002; Meyer 2005). Aber dieses Wissen geht noch tiefer, da es nicht nur rational gewusst wird, sondern sich in Handlungsroutinen, kulturellen Selbstverständlichkeiten und normativen Orientierungen einschreibt. Der Staat ist daher nicht nur eine materielle Apparatur und ein »Denkgebilde«, er ist auch ein gelebtes und verkörpertes Verhältnis, eine »Existenzweise« (Maihofer 1995; vgl. auch Sauer 2001: 110-112). Diese Analyseperspektive hat zwei wichtige Konsequenzen: Erstens verliert die Differenz zwischen Staatsgründung und policy making an Plausibilität und Profil, Staatsformierung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein andauernder Prozess, in dem die Grenzen und die Inhalte staatlichen Handelns immer wieder neu bestimmt werden (vgl. Steinmetz 1999b: 9). Zweitens erlaubt dieser Ansatz, den eigenen Beobachterstandpunkt in die Theoriebildung einzubauen: Das politologische und soziologische Wissen, etwa die Dualismen von Individuum und Staat, Handeln und Struktur haben teil an der Konstitution konkreter Formen von Staatlichkeit, indem sie eine symbolische Infrastruktur schaffen, innerhalb derer der Staat verortet wird und die Subjekte ihr Verhältnis zum Staat definieren und praktizieren.12

3. Technologien des Regierens: die Apparatur des Staates Ein weiteres Kennzeichen der Analytik der Regierung besteht in der Untersuchung des Staates unter technologischen Gesichtspunkten. Wiederum ist auf eine doppelte Absetzbewegung hinzuweisen, die das an Foucault anknüpfende Verständnis von Technologie charakterisiert. Die Analytik der Regierung akzentuiert die Materialität und Eigenart von Technologien, die es unmöglich macht, sie entweder als »Ausdruck« sozialer Verhältnisse zu betrachten oder umgekehrt die Gesellschaft als Resultat technologischer Determinationen zu begreifen.13 Der Kritik an expressivistischen und deterministischen Konzepten korrespondiert eine Analyseperspektive, die den Technologiebegriff in zweifacher Hinsicht erweitert. Erstens untersucht eine Analytik der Regierung, wie Subjektformen, Geschlechterregime und Lebensstile praktisch hergestellt werden. Ihr Gegenstand sind neben den Techniken der Körperdisziplinierung und Bevölkerungsregulierung auch Subjektivierungsprozesse: »politische Technologien der Individuen« und »Technologien des Selbst«. Letztere erlauben es den Individuen, »selbst eine Reihe von Operationen mit ihrem Körper, ihrer Seele, ihren Gedanken, ihrem Verhalten vorzunehmen, sie auf diese Weise zu verwandeln oder zu verändern und einen bestimmten Zustand

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der Vollkommenheit, des Glücks, der Reinheit oder der übernatürlichen Macht zu erreichen« (Foucault [1981] 2005: 210), während Erstere dazu anleiten, »uns selbst als Gesellschaft wahrzunehmen, als Teil eines sozialen Gebildes, einer Nation oder eines Staates« (Foucault [1984c] 2005: 1000).14 Die in den Vorlesungen verfolgte »Geschichte der ›Gouvernementalität‹« ist zugleich eine »Geschichte des Subjekts« (Foucault 2004a: 268), da Foucault den modernen Staat nicht in erster Linie als eine zentralisierte Struktur begreift, sondern als eine »komplexe Verbindung zwischen Techniken der Individualisierung und totalisierenden Verfahren« ([1982a] 2005: 277). In dieser theoretischen Perspektive sind Subjektivierung und Staatsformierung einander nicht äußerlich, sondern konstitutiv aufeinander bezogen. Das Konzept der Regierung unterläuft die voranalytische Unterscheidung von Mikro- und Makroebene, um so gleichermaßen Prozesse der Individualisierung wie solche der Institutionalisierung als Regierungstechniken zu erfassen. In diesem Punkt besteht die zentrale Differenz zum neo-institutionalistischen Staatsbegriff. So geht etwa Theda Skocpol (vgl. 1979: 174-205) in ihrer historischen Analyse des französischen Staates davon aus, dass die Transformationen in der Armee und in der Verwaltung, die beide im 18. Jahrhundert zu professionellen Organisationen werden, ihre Ursache in der wachsenden Autonomisierung des Staates besitzen.15 Die Analytik der Regierung kehrt diese Perspektive um. Statt die politischen Veränderungen auf das Handeln eines aktiven und autonomen Staates zurückzuführen, betrachtet sie diesen als Effekt von neuen Technologien, die überhaupt erst die Möglichkeit schaffen, dass sich ein »Staatsapparat« von der Gesellschaft absondern kann. Die Techniken der Disziplinierung durchziehen im 18. Jahrhundert die gesamte Gesellschaft, sie produzieren disziplinierte Individuen in der Armee und in der Verwaltung, aber auch in der Schule, in Fabriken und anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Als Folge dieses Transformationsprozesses erscheinen Organisationen wie die Armee oder die Verwaltung als »künstliche Maschinen« zu funktionieren, also unabhängig von den lebenden Menschen, aus denen sie sich konkret zusammensetzen. Dies war aber nur deswegen und in dem Maße der Fall, in dem es gelang, die Körper zu formen, Verhalten zu regulieren, Raum- und Zeitvorstellungen zu schematisieren und Affekte zu kanalisieren. In der Folge wird der Staat als willentlich geschaffener Zweckverband begriffen, als Form, in der die Gesellschaft sich als einheitlicher, lenkbarer und veränderbarer – als disziplinierter und organisierbarer – Korpus erfährt (Dreßen 1982; van Krieken 1996; Sonntag 1999; Türk/Bruch/Lemke 2002).16 Zweitens arbeitet die Analytik der Regierung mit einem Begriff politischer Technologie, der neben materiellen auch symbolische Techniken umfasst. Das heißt, Diskurse und Bedeutungssysteme sind keineswegs auf semiotische Aussagegehalte beschränkt, sondern auf performative Praktiken und materielle Anordnungen bezogen. Politische Technologien be-

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56 | Thomas Lemke zeichnen einen Komplex von praktischen Verfahren, Instrumenten, Programmen, Kalkulationen, Maßnahmen und Apparaten, der es ermöglicht, Handlungsformen, Präferenzstrukturen und Entscheidungsprämissen von Akteuren im Hinblick auf bestimmte Ziele zu formen und zu steuern. Hierzu gehören etwa Methoden der Evaluation, der Untersuchung, des Berichts, der Aufzählung, der Buchhaltung, Routinen für die zeitliche und räumliche Anordnung von Handlungen in konkreten Räumen, Präsentationsformen wie Abbildungen, Grafiken und Schaubilder, Anleitungen für die Arbeitsplanung, die Einübung von Gewohnheiten, pädagogische und therapeutische Techniken der Bildung und Heilung, architektonische Pläne, ökonomische Instrumente und rechtliche Verordnungen (vgl. Miller/ Rose 1990: 8; Rose/Miller 1992: 183; Inda 2005: 9f.). Diese Analyseperspektive hat zwei theoretische Implikationen. Zunächst wird die Unterscheidung zwischen sogenannten harten und weichen, materiellen und symbolischen Techniken sowie zwischen politischen Technologien und Selbsttechnologien prekär. Akzentuiert wird eine integrale Perspektive, die das dynamische Zusammenspiel der in der Regel systematisch getrennten Pole untersucht. Darüber hinaus erweitert sich der Begriff des Staatsapparats. Dieser bezieht sich nicht nur auf die strukturellen und organisatorischen Charakteristika des Staates als ein institutionelles Ensemble. Vielmehr werden in dieser Perspektive Institutionen als Techniken begriffen; oder genauer: Den Bezugspunkt der Analyse bilden Technologien, die den Institutionen erst Sinn und Stabilität verleihen.

4. Staatsprojekte und Strategien Die dritte Untersuchungsdimension der Analytik der Regierung begreift den Staat als Effekt, Instrument und Feld politischer Strategien. Staatliches Handeln ist Effekt von Strategien, da es nicht auf einen homogenen, stabilen und dem Handeln vorgängigen Akteur zurückgeführt werden kann, sondern als emergentes, unintendiertes Resultat von konkurrierenden und konfligierenden Regierungspraktiken. Bob Jessops Idee einer Pluralität von »Staatsprojekten« ist hier hilfreich: »[W]hether, how and to what extent one can talk in definite terms about the state actually depends on the contingent and provisional outcome of struggles to realize more or less specific ›state projects‹« (Jessop 1990: 9; vgl. 1996). Wie Staatsprojekte sind »Regierungskünste« nicht Gegenstand philosophischer Theorien oder abstakter Ideologien, sondern integraler Bestandteil von Praktiken des Regierens, die sich an Zielen orientieren und durch kontinuierliche Reflexion regulieren (vgl. Foucault 2004b: 14, 436). Den Staat in einem Netzwerk von Regierungspraktiken zu verorten, bedeutet jedoch nicht, ihn als eine abgeleitete oder sekundäre Kategorie zu begreifen; im Gegenteil nimmt der Staat eine

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strategische Position innerhalb der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ein: »Es ist eine gesicherte Tatsache, dass der Staat in den heutigen Gesellschaften nicht bloß eine der Formen oder einer der Orte der Machtausübung ist – wenn auch vielleicht die wichtigste Form oder der wichtigste Ort –, sondern dass sich alle anderen Arten von Machtbeziehungen in gewisser Weise auf ihn beziehen. Allerdings nicht weil sie vom Staat abgeleitet wären, sondern weil es zu einer stetigen Etatisierung der Machtbeziehungen gekommen ist […]. Wenn man den Ausdruck ›Gouvernementalität‹ diesmal in seiner engeren Bedeutung von ›Regierung‹ nehmen will, könnte man sagen, die Machtbeziehungen sind zunehmend ›gouvernementalisiert‹, das heißt in der Form oder unter den Auspizien der staatlichen Institutionen elaboriert, rationalisiert und zentralisiert worden.« (Foucault [1982a] 2005: 291)

Der Staat ist jedoch nicht nur Effekt, sondern auch Instrument und Feld strategischen Handelns. Er dient als Instrument von Strategien, die ein Grenzregime etablieren, das durch die Unterscheidung von innen und außen, staatlich und nichtstaatlich gekennzeichnet ist. Die Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft trennt nicht einfach zwei Entitäten, vielmehr bildet sie ein differenzielles Raumregime, das ein strukturelles Gefälle zwischen unterschiedlichen Sphären etabliert wie etwa die Unterscheidung zwischen Inländern und Ausländern, privat und öffentlich etc. (vgl. Mitchell 1991: 89-91; Valverde 1996: 367-369).17 So kann die Tatsache, dass bestimmte Akteure und Prozesse als private wahrgenommen werden, diesen eine staatlich abgesicherte privilegierte Rolle sichern oder sie im Gegenteil von staatlichen Leistungen und rechtlichem Schutz ausschließen – eine Rechtlosigkeit und Schutzlosigkeit, die sich dann wiederum ökonomisch oder ideologisch ausbeuten lässt. Beispiele dafür sind die Situation von illegalen Einwanderern in den kapitalistischen Zentren oder männliche Gewaltoligopole und Verfügungsrechte in der Familie. In Bezug auf Letztere hat die feministische Forschung von einer »Doppelgesichtigkeit moderner Staatlichkeit« (Sauer 2004: 117) gesprochen. Der Monopolisierung und Zentralisierung der legitimen Gewaltmittel durch die staatlichen Institutionen korrespondierte das Recht auf physische Gewalt der Väter gegenüber Familienangehörigen: »Das staatliche Gewaltmonopol ließ also private männliche Gewaltoligopole be- beziehungsweise entstehen, so dass Gewalt in der Familie bis in jüngster Zeit eine staatlich tolerierte Gewaltform blieb.« (Ebd.) Auch wenn die Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft sich institutionell verfestigt und permanent reproduziert, werden doch Inhalte und Grenzen staatlichen Handelns immer wieder neu bestimmt – ebenso wie die Bedeutung von Prozessen der »Verstaatlichung« oder der »Privatisierung«. Auch in diesem Fall ist eine doppelte Entwicklungstendenz zu

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58 | Thomas Lemke beobachten, die aus zwei komplementären Prozessmustern besteht. Eine Verlagerung von Gegenständen und Handlungsformen aus dem öffentlichen in den privaten Bereich kann die Verschiebung von Mechanismen liberal-demokratischer Repräsentation und Aushandlung hin zur Logik des Marktprinzips anzeigen; aus einer solchen »Kompetenzverschiebung« folgt aber auch, dass bestimmte Aktivitäten oder Objekte nicht länger als vom Gegenstand staatlichen Handelns begriffen, sondern als eine natürliche und unmittelbare Angelegenheit von Individuen und Familien verstanden werden: »Folglich stellt Privatisierung zwei unterschiedliche, aber sehr oft miteinander verbundene Strategien des Regierens dar – entweder die Unterwerfung unter die Warenform (die Umwandlung öffentlicher Güter in private Güter, die käuflich erworben werden können) oder die Familiarisierung/Individualisierung (die Verschiebung von Verantwortung aus dem Öffentlichen und Kollektiven zur Familie und den Individuen).« (Brodie 2004: 23)

Darüber hinaus ist der Staat auch ein Feld strategischen Handelns. Er bildet nicht nur ein Grenzregime, das sich durch die Differenz von innen und außen, staatlich und nicht-staatlich definiert, auch die institutionelle Struktur des Staates zeichnet sich durch eine »strategische Selektivität« (Jessop 1990) aus. Staaten unterscheiden sich danach, dass sie prinzipiell für einige Kräfte und Akteure durchlässiger sind als für andere, bestimmte Zeithorizonte eher Resonanz finden als andere, für einige Interessen Organisationsmittel bereitgestellt werden, während andere sich nicht artikulieren können (vgl. ebd.: 10). Nimmt man die strategische Dimension von Staatlichkeit theoretisch ernst, so erschließen sich der Staatstheorie eine Reihe von Problemkomplexen und Fragen, die bislang zumeist als ›private‹ betrachtet wurden – ohne zu sehen, dass das Private gerade keinen Rückzugsort oder Schutzraum gegenüber staatlichen Interventionen markiert, sondern selbst staatlicher Definitions- und Regulierungsmacht unterliegt: Welche Identitätsentwürfe und Lebensformen werden staatlich sanktioniert, gefördert oder im Gegenteil behindert oder gar unterdrückt? Welches Geschlechterregime durchzieht den Staat? Welches Sexualitätsdispositiv, welche Familienarrangements und Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung werden favorisiert beziehungsweise marginalisiert?18 Diese »Logik der Strategie« (Foucault 2004b: 70) erlaubt es auch, die – letztlich funktionalistische – Frage zu umgehen, ob der Staat sich im Prozess der Europäisierung und Globalisierung in multilaterale Netzwerke und Handlungsebenen auflöst oder er neue Handlungsspielräume und Kompetenzen im nationalstaatlichen Rahmen gewinnt. An die Stelle eines äußerlichen »Passungs«-Verhältnisses setzt die Analytik der Regierung die Vorstellung eines internen Beziehungsgefüges, in dem sich zugleich der Staat wie die »gesellschaftliche Umwelt« des Staates verändern.19 Wenn

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der Staat als Instrument und Effekt von Strategien und als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen gefasst wird, stellt die »nationale Konstellation« von Staatlichkeit, in der der Nationalstaat die zentrale Arena politischen Handelns bildet, nur eine Regierungsform unter anderen dar (Demirovic´/Pühl 1997). Dieser theoretische Zugang erlaubt es auch, bestehende Raumdispositive wie etwa die Differenzierung von lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene als gouvernementale Formen zu begreifen, die nicht vortheoretischer Ausgangspunkt, sondern Gegenstand der Analyse sind.

5. Gouvernementalität und governance In den letzten Jahren hat die Analytik der Regierung ein ungewöhnlich starkes Interesse erfahren. Mit den governmentality studies etablierte sich im vergangenen Jahrzehnt insbesondere in Großbritannien, Australien, Kanada und den USA eine eigenständige Forschungsrichtung, die das »Raster der Gouvernementalität« (Foucault 2004b: 261) für eine kritische Analyse der Gegenwartsgesellschaft und die Untersuchung zeitgenössischer Regierungstechniken und politischer Rationalitäten nutzt. Ein besonderes Augenmerk der Arbeiten liegt auf der politischen Verschiebung von keynesianischen und wohlfahrtsstaatlichen Regierungsformen zu neoliberalen Regimen. Ihr theoretisches Verdienst besteht in der Entwicklung einer dynamischen Analyse, die sich nicht auf die Feststellung eines »Niedergangs des Politischen« beschränkt, sondern den »Rückzug des Staates« beziehungsweise die »Dominanz des Marktes« selbst als ein politisches Programm dechiffriert, das auf eine umfassende Restrukturierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zielt. In dieser Hinsicht lässt sich keine Erosion staatlicher Souveränität und Planungskapazitäten, sondern deren Transformation im Rahmen einer »neoliberalen Gouvernementalität« beobachten, die durch die Verschiebung von formellen zu informellen Formen der Regierung und die Konstitution neuer Techniken individueller und kollektiver Führung gekennzeichnet ist (Burchell/Gordon/Miller 1991; Barry/Osborne/Rose 1996; Dean/Hindess 1998; Dean/Henman 2004). So fruchtbar die Analytik der Regierung für die Untersuchung gegenwärtiger Transformationen von Staatlichkeit ist, die konkrete Forschungspraxis ist von zwei schwerwiegenden Problemen gekennzeichnet. Erstens ist zu beobachten, dass viele Autorinnen und Autoren, die sich in ihrer Arbeit auf das Konzept der Gouvernementalität beziehen, zwar beanspruchen, »politische Macht jenseits des Staates« zu untersuchen – so der Titel des programmatischen Artikels von Nikolas Rose und Peter Miller (1992) –, dann aber das selbstgesetzte Ziel nicht einlösen.20 Häufig bleiben staatstheoretische Fragestellungen in den Gouvernementalitätsstudien ausgeklammert. Die strategische Selektivität und die relative Autonomie staatli-

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60 | Thomas Lemke chen Handelns wird oft ebenso wenig berücksichtigt wie die politischen Implikationen der liberalen Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft.21 Das zweite Problem besteht darin, dass der souveräne Territorialstaat den impliziten oder expliziten Bezugspunkt der meisten Gouvernementalitätsstudien bildet. In dieser Perspektive stellt der Nationalstaat die zentrale Arena für die Regierungspraktiken dar (vgl. Miller/Rose 1990: 3).22 Als Folge dieser theoretischen Fixierung kann jedoch nicht untersucht werden, wie Veränderungen wohlfahrtsstaatlicher Regulierungsformen auf nationaler Ebene mit internationalen Restrukturierungsprozessen verknüpft sind und die Entstehung von neuen Akteuren innerhalb des globalen Systems mit Verschiebungen nationalstaatlicher Aufgaben und Handlungsfelder korrespondiert. Systematisch ausgeblendet bleibt somit, welche neuen Regierungsformen sich in dem Auftreten von inter-, supra- und transnationalen Regierungsorganisationen wie UN, IWF oder Weltbank und weltweit tätigen Nicht-Regierungsorganisationen abzeichnen. Die wachsende Bedeutung dieser neuen Akteure, Organisationsformen und Politiknetzwerke rechtfertigt es, von einem Regime »transnationaler« beziehungsweise »globaler« Gouvernementalität zu sprechen (Ferguson/Gupta 2002; Larner/Walters 2004a; 2004c; Perry/Maurer 2003).23 Um das analytische und kritische Potenzial der Analytik der Regierung zu erschließen, ist es zum einen notwendig, die skizzierten staatstheoretischen Verkürzungen vieler Gouvernementalitätsstudien zu korrigieren. Zum anderen ist es sinnvoll, diese Untersuchungsperspektive noch stärker von governance-Konzepten abzugrenzen, die in der Politikwissenschaft und der Soziologie eine immer größere Bedeutung erhalten.24 Diese verwenden wie die Analytik der Regierung einen weiten Staats- und Politikbegriff, der über politische Institutionen und staatliche Apparate hinaus auch zivilgesellschaftliche Regulationsformen erfasst. Ebenso beziehen beide Theorietraditionen neben juridischen und autoritativen auch informelle Steuerungs- und Koordinationsformen in die politische Analyse ein. Obwohl auf deskriptiver Ebene also Parallelen und Übereinstimmungen zwischen der governance-Literatur und der Analytik der Regierung existieren, gibt es eine Reihe substanzieller Unterschiede.25 Zwei sollen im Folgenden genauer behandelt werden. Der erste besteht in der Konzeptualisierung des Staates beziehungsweise der politischen Souveränität. Governance definiert sich durch die Differenz und Distanz zum Staat und wird als Gegenbegriff zu government eingeführt. Die Eigenheit des governance-Diskurses besteht darin, dass er negativ auf den Souveränitätsbegriff bezogen bleibt. Seine Protagonisten trennen strikt hierarchisch-staatliche Interventionen von dezentral-zivilgesellschaftlichen Mechanismen. In den Blick genommen werden soll die Entstehung einer neuen »Ordnungspolitik«, die auf verschiedenen Handlungsebenen geregelte Verfahren und Aushandlungsformen bereitstellt,

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um unterhalb und jenseits staatlicher Administrationen und souveräner Entscheidungsprozesse ökonomische und soziale Prozesse zu regieren (vgl. Altvater/Mahnkopf 1996: 549ff.; Demirovic´ 1997: 218-259; Benz 2004). Die zweite Differenz betrifft die daraus folgende normative Perspektive. Über die empirische Beschreibung der Transformation und Restrukturierung von Staatlichkeit hinaus findet sich in der einschlägigen governance-Literatur regelmäßig eine wertende Komponente. Viele Autorinnen und Autoren sind der festen Überzeugung, dass Dezentralisierung, Deregulierung und Liberalisierung zentrale soziale und politische Probleme lösen, indem sie souveräne Autorität und hierarchische Bürokratie durch Aushandlungsprozesse und die Einbindung Betroffener in die Entscheidungsprozesse ersetzen. Good governance bezeichnet daher all jene Strategien und Programme, die darauf zielen, die Rolle des Staates zu begrenzen. Im Rahmen der »Neuerfindung der Regierung« (Osborne/Gaebler 1992) soll die staatliche Verwaltung ihr Handeln als Dienstleistung und deren Adressaten als Kunden begreifen und vormals öffentlich erbrachte Leistungen an private Akteure delegieren (Brand 2004; vgl. Rose 1999: 15-17). Die Analytik der Regierung geht insofern über den governance-Diskurs hinaus, als sie dessen konzeptionellen Grundlagen und normativen Prämissen selbst zum Gegenstand der Untersuchung macht. Dies gilt zunächst für den Dualismus von Staat und Zivilgesellschaft. Wie gesehen bildet der Staat innerhalb der Analytik der Regierung nicht das Außen, gegen das sich das Feld der Regierung profiliert, noch ist er der Ausgangspunkt oder Adressat der Analyse; im Gegenteil verortet diese Theorieperspektive den Staat selbst im Netz der Regierung, er ist Effekt der Regierungspraktiken, nicht deren Grundlage oder Gegenspieler. Daher wird die Opposition von Staat und Zivilgesellschaft nicht als universell vorausgesetzt, sondern bildet ein strategisches Element liberaler Regierungspraxis (vgl. Foucault 2004b: 438). Diese historisch-politische Situierung des Regierungsproblems entzieht dem governance-Diskurs aber nicht nur die konzeptionelle Grundlage; sie entwertet ebenso seine normativen Prämissen. Während die Analytik der Regierung sich durch eine strategisch-technologische Untersuchungsperspektive auszeichnet, liegt dem governanceDiskurs ein technokratisches Steuerungsmodell zugrunde, das nur vermeintlich neutrale beziehungsweise rationale Entscheidungen kennt, nicht aber strategische Optionen. Er geht von der Annahme aus, dass die sich ausweitende Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern durch »modernes« oder »gutes Regieren« überbrückt werden könne. Darüber hinaus findet sich in der governance-Literatur regelmäßig die Vorstellung, dass weder zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Klassen noch zwischen unterschiedlichen politischen Interessen und Zieldefinitionen grundsätzliche Konflikte oder Gegensätze bestehen. Diese »Ausblendung wichtiger herrschaftssoziologischer Aspekte bei der Analyse politi-

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62 | Thomas Lemke schen Geschehens« (Mayntz 2004: 74) mündet in eine selektive Blindheit gegenüber strukturellen Determinationsverhältnissen. Kurz gesagt: Die Armut der einen scheint mit dem Reichtum der anderen nichts zu tun zu haben, und wirtschaftliches Wachstum, ökologische Nachhaltigkeit, politische Demokratie, soziale Solidarität, gesundes Wohnen etc. seien prinzipiell miteinander vereinbar – ohne die bestehenden politischen und sozialen Strukturen dabei radikal zu verändern (Brunnengräber/Stock 1999; Rucht 2001; Brand 2004).26 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der governance-Diskurs eine »Art der Überbewertung des Staatsproblems« (Foucault 2004a: 163) darstellt – und zwar paradoxerweise dadurch, dass er den Staat auf ein institutionelles Ensemble und eine hierarchische Struktur reduziert. Damit wird er kenntlich als Teil einer liberalen Problematisierung des Staates: einer »Staatsphobie« (Foucault 2004b: 115), die den Staat verdinglicht, indem sie ihn als ein autonomes Herrschaftszentrum konzipiert, das sich durch spezifische Gesetzmäßigkeiten und überzeitliche Eigenschaften auszeichnen soll. Demgegenüber erinnert die Analytik der Regierung daran, dass der Staat nichts anderes ist »als der bewegliche Effekt eines Regimes von mehreren Gouvernementalitäten« (ebd.; korrigierte Übersetzung). Das ist – um auf die eingangs zitierte Feststellung Foucaults zurückzukommen, dass eine Theorie des Staates eine »unverdauliche Mahlzeit« sei – sicherlich keine leichte Kost. Im Gegenzug bietet allerdings die hier vorgestellte theoretische Perspektive das Rezept für eine Untersuchung von Staatlichkeit, die der politischen Analyse und Kritik neue Untersuchungsgegenstände und Forschungsthemen erschließt.

Anmerkungen 1 | Für hilfreiche Kommentare und Kritik danke ich Ulrich Bröckling, Martin Saar, Susanne Krasmann und Michael Volkmer. 2 | Zur Aktualität der beiden Bücher vgl. Demirovic´/Hirsch/Jessop (2002) bzw. Borchert/Lessenich (2006). Die Diagnose einer »Verarmung« der Staatstheorie seit den 1970er Jahren stammt von Leo Panitch (1998). 3 | Vgl. etwa Hirsch (1974); Esser (1975). Für einen Überblick über die deutsche Debatte vgl. Rudel (1981). 4 | Vgl. hierzu die interessante Kontroverse zwischen Nancy Fraser und Judith Butler (Fraser 1998; Butler 1998). 5 | Für eine genauere Darstellung des »staatstheoretischen Defizits« in den frühen Arbeiten Foucaults vgl. Lemke (1997: 120-125). Parallelen und Differenzen zum Staatsbegriff von Nicos Poulantzas untersucht Bob Jessop (2005). 6 | Vor allem in der ersten Vorlesung von 1979 erläutert Foucault diese »Methode« (2004b: 16, 14-16; vgl. auch 2004a: 177). Der Foucault’sche Nominalismus bricht mit dem klassischen Nominalismus, wobei er Einsichten der französischen Wissenschaftsgeschichte und der marxistischen Philosophie Louis Althussers

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Eine unverdauliche Mahlzeit? | 63 aufnimmt und radikalisiert. Vgl. die Bemerkung Althussers, der Nominalismus sei nicht nur, wie Marx annahm, das »Vorzimmer des Materialismus«, sondern der einzig mögliche Materialismus (Althusser 1994: 46-48; vgl. auch Montag 1998). Für die Differenzierung zwischen »klassischem« und »epistemologischem« Nominalismus vgl. Pfaller (1997: 178-183). Eine ähnliche Unterscheidung zwischen »statischem« und »dynamischem« Nominalismus trifft der Wissenschaftshistoriker Ian Hacking (1986; 2004). Vgl. auch Ewald (1993: 36-42); Rose/Miller (1992: 176f.); Dean (1998a). 7 | Für das Folgende vgl. Lemke (1997: 332-346). 8 | Vgl. dazu auch Mitchell Deans Definition einer Analytik der Regierung: »An analytics is a type of study concerned with an analysis of the specific conditions under which particular entities emerge, exist and change. It is thus distinguished from most theoretical approaches in that it seeks to attend to, rather than efface, the singularity of ways of governing and conducting ourselves. Thus it does not treat particular practices of government as instances of ideal types and concepts. Neither does it regard them as effects of a law-like necessity or treat them as manifestations of a fundamental contradiction. An analytics of government examines the conditions under which regimes of practices come into being, are maintained and are transformed.« (1999: 20f.; vgl. auch Gottweis 2003) 9 | Vgl. dazu die schöne Formulierung von Paul Veyne: »Das ganze Unglück rührt von der Illusion her, mit der wir die Objektivierungen in ein natürliches Objekt ›verdinglichen‹: wir halten das Ergebnis für ein Ziel, wir halten den Ort, wo sich ein Geschoß von selbst einbohren wird, für eine absichtlich anvisierte Zielscheibe. Anstatt das Problem in seinem tatsächlichen Mittelpunkt, welcher die Praktik ist, zu erfassen, gehen wir von der Extremität, dem Objekt aus, so daß die aufeinander folgenden Praktiken Reaktionen auf ein und dasselbe, zuerst gegebene Objekt – ›materiell‹ oder rational – zu sein scheinen […]. Wir halten die Einschlagpunkte der sukzessiven Praktiken für ein im voraus bestehendes Objekt, das sie anvisierten, für eine Zielscheibe: der Wahnsinn oder das öffentliche Wohlergehen seien durch die Zeitalter hindurch von den aufeinander folgenden Gesellschaften, deren ›Haltungen‹ nicht dieselben waren, anders anvisiert worden, so daß sie die Zielscheibe an unterschiedlichen Punkten getroffen hätten.« (1981: 32f.) 10 | Für eine ähnliche Position mit Blick auf die Globalisierungsdiskussion vgl. Perry/Maurer (2003: XVII); vgl. auch Larner/Walters (2004c); Mitchell (1991: 90f.). Luhmanns Dualismus von Semantik und Gesellschaftsstruktur hat Urs Stäheli umfassend kritisiert. Stäheli sieht den analytischen Vorzug der Foucault’schen Genealogie gegenüber der Luhmann’schen Systemtheorie darin, dass Erstere untersuchen kann, was Letztere voraussetzen muss: »Während Luhmann davon ausgeht, dass Funktionssysteme operativ geschlossen werden, müsste nun die Frage in den Vordergrund geraten, welche Rolle Selbstbeschreibungen für die Konstitution jener Operationen, mit Hilfe derer sich ein System schließt, spielen. Was bei Luhmann zu oft nur vorausgesetzt wird, müsste problematisiert werden und auf ein Geflecht von Macht-Wissens-Beziehungen zurückgeführt werden: die Konstitution symbolisch generalisierter Medien. […] Die Selbstbeschreibung des Wirtschaftssystems mag zwar die Geldströme beschreiben, sie ist aber gleichzeitig auch an der Definition und Herstellung des Geld-Mediums selbst beteiligt. Dies verweist zum einen auf die Notwendigkeit einer genealogischen Analyse von symbolisch generalisierten Medien, zum anderen auf eine Analyse der permanenten Purifizierungsstrategien, die angewandt werden müssen, um die Funktionalität des Mediums zu gewährleisten.

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64 | Thomas Lemke […] Mit Foucault läßt sich die Konstitution von symbolisch generalisierten Medien als politischer Prozess fassen – als ein Prozess, durch den erst hergestellt wird, was ansonsten als selbstverständlich (wie z.B. funktionierendes Geld oder Wahrheitsmedium) angenommen wird.« (2004: 14f.; vgl. 2000: 184ff.; vgl. dazu auch Jessop 1996: 46f.) 11 | Die Analytik der Regierung schreibt sich ein in eine Neuorientierung der Politikwissenschaft, in der post-positivistische und wissenspolitologische Ansätze an Bedeutung gewinnen. Diese zeichnen sich aus durch die Kritik am Repräsentationsmodell, wobei Diskurse, Narrative und Deutungsmuster nicht einfach als richtige bzw. falsche Konstruktionen, sondern als materielle Praktiken begriffen werden, die in ihrer Materialität analysiert werden müssen (Fischer/Forester 1993; Nullmeier 1993; Hajer/Wagenaar 2003; Gottweis 2003). 12 | Alex Demirovic´ weist darauf hin, dass sozialwissenschaftliche Analysen in mindestens dreierlei Hinsicht die gesellschaftliche Realität nicht einfach beobachten, sondern diese performativ mit herstellen. Erstens werden gesellschaftstheoretische Begriffe von den sozialen Akteuren angeeignet und bilden ein Moment ihrer Orientierungen; zweitens verändert dieser Aneignungsprozess Erwartungsstrukturen und Handlungsmuster und somit die soziale Realität selbst; drittens nehmen die Intellektuellen, die Theorien und Begriffe ausarbeiten Funktionen wahr, die sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ergeben (vgl. Demirovic´ 1998: 49f.; vgl. auch Mitchell 1991: 94; Rose/Miller 1992: 182). 13 | Andrew Barry (2001: 9) ist eine sehr nützliche Klarstellung zum Verhältnis von Technologie und Politik bzw. Gesellschaft zu danken: »To say that a technology can be political is not to denouce it, or to condemn it as a political instrument, or to say that its design reflects particular social or economic interests. Technology is not reducible to politics. Nor is to claim that technical devices and artefacts are ›social constructions‹ or are ›socially shaped‹: for the social is not something which exists independently from technology.« Für eine Würdigung des Foucault’schen Technologiebegriffs siehe den Hinweis von Gilles Deleuze: »Damit überhaupt technische Maschinen erscheinen, bedarf es schon einer ganzen Gesellschaftsmaschinerie mit ihrem Diagramm und ihren Verbindungen, die deren Auftauchen ermöglichen. Mehr noch, damit in einer Gesellschaft etwas als Werkzeug konstituiert wird, damit Werkzeuge aufgegriffen und ausgewählt werden und sich zu technischen Maschinen verbinden können, bedarf es einer vollständigen Gesellschaftsmaschinerie, die ihrer Auswahl vorangeht. Kurz, es gibt eine menschliche Technologie, die tiefer, verborgener und auch ›abstrakter‹ ist als die technische Technologie.« (1987: 123; vgl. auch Lösch/Schrage/Spreen/Stauff 2001; Lemke 1997: 71-80) 14 | Vgl. dazu auch Barbara Cruikshanks Begriff der »technologies of citizenship« (1999). Einen Systematisierungsvorschlag zur Differenzierung zwischen verschiedenen Regierungstechnologien hat Mitchell Dean (1998b: 32-36) vorgelegt. 15 | Der folgende Vergleich stützt sich auf die Ausführungen von Mitchell (1991: 91-94). 16 | Foucault spricht von der Notwendigkeit, den »Institionalozentrismus« durch eine Analyseperspektive zu ersetzen, die Institutionen »von etwas Äußerem und Allgemeinerem ausgehend« untersucht (2004a: 175). In gewisser Weise formuliert er bereits eine Kritik der neo-institutionalistischen Position von Skocpol avant la lettre: »Man kann sagen, dass die Disziplinierung der Armee von ihrer Verstaatlichung herrührt. Man erklärt die Transformation einer Machtstruktur in einer Institution durch die Intervention einer anderen Machtinstitution. Ein Kreis ohne Exteri-

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Eine unverdauliche Mahlzeit? | 65 orität. […] Wenn man der Zirkularität entrinnen will, die die Analyse der Machtbeziehungen von einer Institution zur nächsten verweist, dann indem man sie da erfasst, wo sie Techniken bilden, die in vielfältigen Prozeduren einen operativen Wert haben« (2004a: 179). 17 | Die prinzipielle Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, staatlich und zivilgesellschaftlich ist Teil einer strategischen Differenzierungspraxis, die charakteristisch ist für die liberale Regierungsweise. Vgl. Foucault (2004b: 438): »Anstatt aus der Unterscheidung von Staat und Zivilgesellschaft eine historische und politische Universalie zu machen, die es gestattet, alle konkreten Systeme zu untersuchen, kann man versuchen, in ihr eine Form der Schematisierung zu sehen, die einer spezifischen Technologie der Regierung eigen ist.« 18 | Dieses Analyseraster, das den Staat als Instrument und Effekt politischer Strategien begreift, weist Parallelen mit neo-gramscianischen Staatskonzepten auf. Diese teilen mit der Analytik der Regierung die relationale Perspektive auf den Staat, die diesen als »Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse« (Poulantzas) fasst. Neogramscianische Ansätze zeichnen sich allerdings häufig durch einen juridischen bias aus, insofern sie die Kräfteverhältnisse selbst wieder auf Willensakte und Kompromissstrukturen reduzieren. Dabei wird der Staat als »als ein sich ständig änderndes gesellschaftliches Kompromissgleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Kräften begriffen. Er stellt also ein Kompromissfeld dar, auf dem sich Interessen verallgemeinern und Koalitionen und Allianzen eingegangen werden.« (Demirovic´/Pühl 1997: 234) Demgegenüber untersucht die Analytik der Regierung jene Strategien, die es erlauben, soziale Verhältnisse und staatliche Institutionen retrospektiv auf »Kompromisse« zurückzuführen. Es reicht nicht aus, den Staat in juridischen Kategorien zu konzipieren, sondern er ist nach der agonalen Logik von Kräfteverhältnissen zu begreifen, in denen sich Willen erst konstituieren, d.h. der Staat ist nicht als Kompromiss zwischen Klassen, Geschlechtern oder anderen Gruppenidentitäten anzusehen, sondern der Kompromiss ist selbst Ergebnis strategischer Artikulationen. Daher bezieht die Analytik der Regierung stärker als neo-gramscianische Staatskonzepte Subjektivierungsprozesse und Wissensproduktionen in die Untersuchung ein. 19 | Perry/Maurer (2003): »One ought not therefore obsess over whether the state is withering away or that it is being reempowered, or whether the market is either all-pervasive or is still in service to the nation-state. Rather, […] state and market themselves are being reconfigured in novel ways.« (XIV, Hervorheb. im Orig.) 20 | Bruce Curtis hat sich ausführlich mit der Argumentation von Rose und Miller auseinandergesetzt. Auch wenn seine Kritik in einer Reihe von Punkten einseitig bleibt, weist er doch treffend auf einige Probleme in der Konzeptualisierung des Staates hin (Curtis 1995; vgl. auch Miller/Rose 1995). 21 | Vgl. dazu die Kritik von Verónica Schild an der Vernachlässigung staatstheoretischer Probleme in den Gouvernementalitätsstudien. Sie betont in ihrer Analyse des Beitrags von feministischem Aktivismus und Expertenwissen zur Durchsetzung neoliberaler Regierungsformen in Chile »die Zentralität des Staates als eines Architekten kulturell-politischer Transformationen« (Schild 2003: 485; vgl. auch Garland 1997: 193-195; Brunnett/Gräfe 2003). 22 | Manche Arbeiten bleiben darüber hinaus einem eurozentrischen Staatskonzept verhaftet. So stellen etwa Ferguson und Gupta zurecht heraus, dass jener »fortgeschrittene Liberalismus«, von dessen globaler Bedeutung Nikolas Rose ausgeht (vgl. 1996: 53) sich tatsächlich nur in vergleichsweise wenigen Staaten findet:

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66 | Thomas Lemke »It is striking, for instance, that Rose […] characterizes ›advanced liberalism‹ as a set of strategies that ›can be observed in national contexts from Finland to Australia‹ – without any discussion of the vast range of national contexts (most of the world, it would seem) to which his account does not apply.« (Ferguson/Gupta 2002: 998) 23 | Die Artikel von Ferguson und Gupta (2002) und Lippert (1999) sowie die Sammelbände von Larner/Walters (2004a) und Perry/Maurer (2003) gehören zu den wenigen Arbeiten innerhalb der Gouvernementalitätsliteratur, die deren Fixierung auf nationalstaatliche Regulierungsmuster kritisch hinterfragen. 24 | Anne Mette Kjær (2004: 1-2) weist darauf hin, dass governance zwischen 1986 und 1998 in 1.774 Artikeln des Social Sciences Citation Index verzeichnet ist. In den drei Jahren von 1999 bis 2002 waren es bereits 1.855 Artikel. 25 | Leider werden diese Differenzen durch den Umstand verstellt, dass viele Vertreter der an Foucault anschließenden Gouvernementalitätsstudien beide Begriffe synonym verwenden (vgl. etwa Weir 1996: 374, 379; Valverde 1996; Pearce/ Tombs 1996; Ruhl 1999). 26 | Vgl. auch die Einschätzung von Wendy Larner und William Walters: »As an analytical perspective governance shares with governmentality a recognition that governance does not necessarily issue from a single centre or source […]. However, governmentality can offer a particular kind of historical perspective that is often lacking in the global governance literature. This would involve seeing global governance as a particular technology of rule and placing it within the much longer trajectory of liberal political reason.« (2004b: 16f.; vgl. auch Crowley 2003).

Literatur Althusser, Louis (1994): Sur la philosophie, Paris: Gallimard. Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit (1996): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot. Barry, Andrew (2001): Political Machines. Governing a Technological Society, London, New York: Athlone Press. —/Osborne, Thomas/Rose, Nikolas (1996): Foucault and Political Reason. Liberalism, Neo-liberalism and Rationalities of Government, London: UCL Press. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benz, Arthur (2004): »Einleitung: Governance – Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept?«. In: Ders. (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung, Wiesbaden: VS, S. 11-28. Borchert, Jens/Lessenich, Stephan (2004): »›Spätkapitalismus‹ revisited. Claus Offes Theorie und die adaptive Selbsttransformation der Wohlfahrtsstaatsanalyse«. In: Zeitschrift für Sozialreform 50 (6), S. 563-583. —/— (2006): »Lang leben die ›Strukturprobleme‹! Einleitung zur Neuausgabe«. In: Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates.

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Die »Regierung von Gesellschaften«. Über ein Konzept und seine historischen Voraussetzungen 1 Mitchell Dean

Das Konzept der »Regierung von Gesellschaften« ist in zweierlei Hinsicht monströs: Es deckt ein sehr weites Feld ab und es belebt gewisse Figuren neu, von denen man kürzlich noch dachte, sie seien glücklich der Teratologie (Monsterkunde) überantwortet, nämlich Staat und Gesellschaft. Sie seien, so sagt man uns, zusammen mit einer Menge anderer »Zombiekategorien« (Beck und Beck-Gernsheim 2002: 203f.; Beck 2002: 47). Man könnte nun annehmen, dies bedeute, mit der toten Hand der alten Moderne nach der neuen Moderne der Mobilität, Virtualität, Komplexität und Vielfalt, der kosmopolitischen Identitäten und Politikansätze, der Welt der Netzwerke und des »Regierens ohne Regierung« zu greifen. Zumindest den Staat als Zombievorstellung zu betrachten, ist vielleicht gar nicht so neu. Schon Nietzsche hat das getan ([1883] 1988: 61), für den »Staat […] das kälteste aller kalten Ungeheuer« heißt. »Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ›Ich, der Staat, bin das Volk.‹« Bei Hobbes ist dieses Bild vom Staat von der mythischen Meereskreatur aus dem Buch Hiob, dem Leviathan abgeleitet, der auf einmal als künstlicher Mensch und sterblicher Gott auftaucht. Tatsächlich wurden Staaten während des 16. und 17. Jahrhunderts als Personen dargestellt, und die Beziehungen zwischen ihnen als Beziehungen zwischen mächtigen Männern, magni homines. Vielleicht steht die Zombie-Metapher in Verbindung mit der immer wiederkehrenden Beschreibung des Staates als »politischer Körper« (body politic) und seiner Verwandlung in den Gesellschaftskörper im 19. Jahrhundert (Neocleous 2003). Solche politischen Metaphern bargen zweifelsohne außerordentliche Gefahren, die zum Teil der Grund für den Wunsch der heutigen Theoretiker sind, sie wieder loszuwerden. Der sogenannte po-

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76 | Mitchell Dean litische Körper steht eindeutig in einer Reihe mit medizinischen Metaphern von Politik. Vorstellungen vom Gesellschaftskörper verbinden sich mit dem Versuch, die Gesellschaft von gefährlichen Seuchen und Krankheiten zu befreien, und finden ihren Höhepunkt in den Praktiken der Rassenhygiene des faschistischen Staates. Meiner – an dieser Stelle nicht vollständig bewiesenen – Ansicht nach ist es ebenso gefährlich, die Kategorien Staat und Gesellschaft als Zombies zu betrachten. Denn die Leugnung der aktuellen Gültigkeit solcher Kategorien ist mit der Ansicht verknüpft, dass außerordentliche Maßnahmen in einer Zeit notwendig sein werden, die von vielen als wahrlich außergewöhnlich angesehen wird, in der nämlich die Herrschaft des Staates samt seiner Souveränität in den gewaltigen ozeanischen Fluten und Oberflächen der Globalisierung untergegangen sein wird. Die Ablehnung der Kategorien Staat und Gesellschaft bedeutet, vor der harten Seite der Politik, einschließlich des Einsatzes von Gewalt, von dem gewisse Staaten im Umgang mit äußeren und inneren Gegnern Gebrauch machen, die Augen zu verschließen. Es bedeutet, sowohl den Nutzen, den ein Staat seiner eigenen Bevölkerung durch den Aufbau einer stabilen Rechtsordnung und öffentlicher Dienstleistungen bringt, als auch die Verpflichtungen zu ignorieren, die er ihnen in vielfach gängigen Regierungspraktiken abverlangt. Wir entdecken also, dass der Leviathan, einst ein Symbol einer vom Meeresungeheuer des Buchs Hiob abgeleiteten terrestrischen Ordnung, eine beeindruckende Fähigkeit aufweist, in den gewaltigen Wellen und Oberflächen der Globalisierung zu überleben und sogar zu gedeihen. Meeresungeheuer wie auch Zombies, das muss hier einmal gesagt werden, haben eine seltsame Art uns mitzuspielen. Sie können uns zu Taten verleiten, die wir sonst wohl unterlassen würden. Sie jagen uns so viel Angst ein, dass wir unsere bürgerlichen Freiheitsrechte beschneiden, um Sicherheit vor dem Terrorismus zu gewährleisten. Sie können auch auf Einrichtungen wie z.B. Gewerkschaften losgehen, deren Streiklust bremsen und sie so weit bringen, dass sie individuelle Vereinbarungen mit Einzelbetrieben abschließen. Oder sie können uns bis in den Schlaf verfolgen, denn gerade als wir endlich dachten, in einer globalen Welt ohne Hegemonialmacht zu leben, mussten wir auf den Mächtigsten aller Zeiten unter solch mächtigen Männern stoßen – auf ein neues, amerikanisches Weltreich (vgl. Beck 1997: 33; 2002: 49). In diesem Beitrag möchte ich das Konzept der »Regierung von Gesellschaften« und seine gegenwärtige Problematisierung auf zweierlei Art erschließen und mich dabei auf verschiedene Fachdisziplinen beziehen und mit verschiedenen Registern arbeiten. Zunächst werde ich einen Überblick über die allgemeinen historischen Umstände geben, unter denen eine derartige Vorstellung denkbar werden konnte. Anschließend gehe ich näher auf deren gedankliche Prämissen ein. Die hier zu schulternde Aufgabe ist

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schlicht, die Grundvoraussetzungen für die Vorstellung von der Regierung von Gesellschaften in einer Zeit zu verdeutlichen, in der gerade gefordert wird, von diesem Gedanken Abschied zu nehmen. Meiner Ansicht nach sind Konzepte der Regierung von Gesellschaften sowie auch das damit verbundene begriffliche Umfeld von Staat und Nation im Allgemeinen mit der Perspektive der Gouvernementalität verknüpft, die man in den kürzlich veröffentlichten Vorlesungen Foucaults über die Geschichte der Gouvernementalität (2004a; 2004b) vorfindet. Das ist insofern der Fall, als diese gegenüber gewissen Begriffen wie Staat und Gesellschaft eine auf historischem Wissen beruhende nominalistische Kritik vornehmen (Foucault [1980] 2003: 43). Im Ergebnis bedeutet das für die politische Analyse, dass »der Staat in erster Linie als komplexer und beweglicher Effekt von Herrschaftsdiskursen und -techniken verstanden werden sollte« (Rose/Miller 1992: 178). Um Foucaults Vorlesungstext selbst zu bemühen: »Nun hat der Staat aber zweifellos weder gegenwärtig noch im Lauf seiner Geschichte je diese Einheit, diese Individualität, diese strikte Funktionalität und, ich würde sogar sagen, diese Bedeutung besessen. Alles in allem ist der Staat vielleicht nur eine bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit, eine mythifizierte Abstraktion, deren Bedeutung viel beschränkter ist, als man glaubt. Vielleicht. Das, was es für unsere Modernität, das heißt für unsere Aktualität an Wichtigem gibt, ist also nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das, was ich eher die ›Gouvernementalisierung‹ des Staates nennen würde.« (2004a: 163)

Diese Beobachtung, dass der Staat über keine ihm wesensmäßige Einheit, Individualität und Funktionalität verfügt, und der Wunsch, die Problematik von der »Verstaatlichung« (étatisation) der Zivilgesellschaft auf die Gouvernementalisierung des Staates zu verlagern (oder auf die Art und Weise, in der Regierungstechnologien und -rationalitäten den Staat verändert haben), entlassen uns nicht aus der Pflicht, die maßgeblichen Aussagen und Projekte für die Regierung von Gesellschaft samt der dazugehörigen Terminologie zu untersuchen. Sie befreien uns nicht von der Aufgabe, den Territorialstaat als etwas Erstrebenswertes und in gewissem Maß auch als bemerkenswerte Errungenschaft mit ihren realen Konsequenzen und Auswirkungen, sowie Vorteilen, Risiken und Gefahren zu analysieren. Während wir einerseits den Nutzen der »Gouvernementalität« und ihrer Analyse der Methoden, mit denen wir unsere Welt vorstellbar und handhabbar machen, anerkennen, stimmen wir andererseits auch denen zu, die geltend machen, wir seien dadurch nicht von der Notwendigkeit befreit, soziale und politische Wirklichkeiten zu untersuchen (Stenson, in diesem Band). Wir müssen im Gegenteil noch umso aufmerksamer sein gegenüber den Bedingungen und Zusammenhängen von »Herrschaftsdiskur-

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78 | Mitchell Dean sen«, gegenüber deren aufforderndem Charakter, wie Quentin Skinner sagen würde (vgl. Tully 1988), also gegenüber dem, was geschieht, wenn sie artikuliert werden, und was daraus für das Leben der Betroffenen folgt.

Historische Bedingungen der »Regierung von Gesellschaften« Das Projekt der Regierung von Gesellschaft blickt auf eine komplexe Geschichte zurück. Die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Vorstellung lassen sich in zwei Aufteilungen finden: einerseits zwischen der Regierung und dem ihr Äußerlichen, nämlich der Gesellschaft, und andererseits zwischen einer Einheit aus Regierung und Gesellschaft oder Staat und anderem. Damit es überhaupt Sinn macht, von »Gesellschaften regieren« zu sprechen, ist eine Instanz erforderlich, die innerhalb eines gegebenen Gebiets mit einer gewissen Geltungskraft ein Herrschaftsmonopol beansprucht. Damit diese Instanz ein ausreichendes Maß an exklusiver Kontrolle über ein Gebiet ausüben kann, bedarf es einer klar markierten Grenze zwischen einzelnen Gebieten. Bis ins 16. und 17. Jahrhundert hinein war keine dieser Bedingungen erfüllt, da der Territorialstaat, wie wir ihn kennen, nicht existierte. Nehmen wir an, das Problem, Gesellschaft zu regieren, sei zunächst als eine innere Angelegenheit aufgetaucht. Hier haben sich Michel Foucaults Vorlesungen als sehr nützlich erwiesen. Demnach wurde die Frage, wie Gesellschaft zu regieren sei, in europäischen Ländern zuerst im Hinblick auf die Effektivität der Herrschaft im Territorialstaat im Verhältnis zur sogenannten bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts gestellt (vgl. Dean 1999: 113-130). Eine Schlüsselkomponente für das Aufkommen dieser Vorstellung war das liberale Problem der Sicherheit. Die Sicherheit des Staates hing demnach von der Sicherung der quasi-natürlichen und notwendigen Funktionsweisen der bürgerlichen Gesellschaft ab, einschließlich Handel, Industrie, Wirtschaft, Bevölkerung und so fort. Sicherheit wurde hier häufig als elementarer angesehen denn Freiheit und oft in Verbindung oder zumindest in eine Wechselbeziehung mit dieser gebracht. Beispielsweise argumentierte Adam Smith (vgl. [1752-1754] 1978: 332f.), dass die wirtschaftliche Freiheit des Industriearbeiters die Grundlage für die Herstellung von Sicherheit darstellte, denn erst durch Freiheit sei es möglich gewesen, dass die Prozesse der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere die des Marktes, in Gang kamen. Im Gegensatz dazu behauptete Jeremy Bentham, eine klare Vorstellung von Freiheit würde uns dazu bringen, diese als einen Zweig der Sicherheit zu begreifen, während Sicherheit für Humboldt die rechtliche Gewährleistung der Freiheit bedeutete (vgl. Neocleous 2000: 8f.). Diese Verankerung von Sicherheit in der bürgerlichen Gesellschaft un-

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terscheidet gewisse Aspekte moderner Herrschaft von früheren oder anderen Konzepten von Regierung, wie die aus dem 17. Jahrhundert stammenden Lehren der »Souveränität«, »Staatsräson«, »bürgerlichen Vernunft« und sogar »Polizeiwissenschaft« (Hunter 1998; Oestreich 1969; Foucault [1981] 2005). Diese Lehren setzten zumindest aus der Perspektive ihrer liberalen Kritiker voraus, dass die Objekte der Regierung für den Souverän oder Staatsmann oder andere offizielle Amtsinhaber transparent waren und dass diese Amtsinhaber eine Art unbegrenzter Fähigkeit besaßen. Staat oder Königreich, so die Vorstellung, bestanden aus Haushalten, die lediglich Ableger und Werkzeuge des Königshauses und seiner Finanzverwaltung waren (vgl. Dean 1999: 93ff.). Beim Thema Sicherheit ging es um das Bekämpfen innerer Feinde, um die Ächtung und Bestrafung von Umsturzversuchen, Hochverrat und Königsmord, sowie darum, Aufstände gnadenlos niederzuschlagen und unter der Herrschaft eines einzigen Territorialfürsten Ordnung herzustellen. Betrachtete man hingegen die Sicherung der Gesellschaft als den Zweck von Regierung, so hieß das, von etwas auszugehen, das der Regierung äußerlich war und eine eigene Geschichte und Dynamik besaß, die jeder mit dem Anspruch, es zu regieren, kennen und respektieren musste. Die bürgerliche Gesellschaft wurde also zur selbständigen Einheit, die sich über quasi-natürliche, allerdings relativ undurchschaubare, wirtschaftliche, bevölkerungspolitische und gesellschaftliche Prozesse konstituierte. Diese Prozesse wiederum hingen von der »natürlichen Freiheit« des Individuums ab, seine eigenen Interessen zu verfolgen und seine eigenen Lebensbedingungen zu verbessern. Die bürgerliche Gesellschaft ließ sich nur mit Hilfe wissenschaftlicher Fachdisziplinen begreifen, wie zum Beispiel der politischen Ökonomie und der Bevölkerungsstatistik, sowie später der Demographie und der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. Unter diesen neuen, liberalen Vorzeichen wurden die Konzepte von Haushalt und Familie sowie der Verteidigung des Souveräns eher umgestaltet denn abgeschafft. Dieser liberale Fokus auf Regierung mittels bürgerlicher Gesellschaft bedeutete, dass formeller politischer Herrschaft Grenzen gesetzt waren. Indem man aber, z.B. bei der Reform der Getreidehandels- und Armengesetze in Großbritannien, wirtschaftliche und individuelle Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellte, schaffte man auch einigermaßen Spielraum für die Herausbildung eines Bereichs, in den der liberale Staat intervenieren durfte – und löste dadurch »the nineteenth-century revolution in government« aus (Sutherland 1972; Polanyi 1957). Staatliche Schulen, Krankenhäuser und Zugang zur Gesundheitsversorgung, Abfindungen für Arbeitnehmer, sowie Arbeitslosenunterstützung, Krankengeld und Renten entstanden später vor einem bestimmten historischen Hintergrund. Dieser umfasste das Expertenwissen über die verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und industriellen Prozesse und deren schädliche Auswirkungen, Probleme und Risiken; ebenso ein Abschätzen der Grenzen liberaler politi-

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80 | Mitchell Dean scher Ökonomie, solche Probleme zu lösen und die Lösungen zu finanzieren. Er umfasste auch die Aktionen sozialer, philanthropischer, sich für Gesundheit und Bildung einsetzender Bewegungen sowie die Organisationen der entstehenden Arbeiterklasse als auch feministische und andere Zusammenschlüsse der Bevölkerung. Diese Praktiken, Disziplinen und Akteure wirkten bei der Formierung politischer Interessen im Sinne des öffentlichen Gemeinwohls, des Wohlstands, sozialer Solidarität und später bei der Erweiterung der Bürgerrechte mit. Ein sozialer Sektor bildete sich heraus, und mit diesem ein sozialer Regierungsansatz, der kollektive Verantwortung und individuelle Entschädigung für die Unbilden und Risiken der industriellen Wirtschaft miteinander verband (Donzelot 1980; Ewald 1991; vgl. Rose 1999: 98-136). Das Ideal oder Projekt eines Wohlfahrtsstaates entwickelte sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Teil aus den Praktiken und Institutionen von Regierungsinterventionen im Bildungs-, Gesundheits- und Wohlfahrtssektor und zum Teil aus den Bestrebungen der Massenbewegungen sowie den Programmen von Volksparteien im Zuge einer sich ausweitenden Wahldemokratie. Die liberale Beschränkung der Regierungszuständigkeit erwies sich dabei gleichermaßen als förderlich wie als hinderlich. Nichtsdestoweniger versuchten klassisch liberale und Wohlfahrtsstaaten die Unterscheidung aufrechtzuerhalten zwischen einer Bürokratie des öffentlichen Sektors einerseits und privaten Bereichen des Familien- und Wirtschaftslebens andererseits, in die der Staat nur im Falle von offen zu Tage tretenden Missständen, Problemen oder Unvermögen der Selbstorganisation im Namen eines höheren Gutes wie der Sicherheit oder dem Wohl der Nation intervenieren durfte. Es wäre irreführend anzunehmen, dieser sozial ausgerichtete Regierungsmodus sei aufgrund seiner Eigendynamik nicht auch alternativen und in vielerlei Hinsicht strapazierfähigeren Rationalitäten der Regierung ausgesetzt gewesen. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erlebte das liberale Projekt der Regierung eine beachtliche Verwandlung, in deren Verlauf die scharfe Trennung, die sich zwischen der von der staatlichen Verwaltung organisierten öffentlichen Versorgung und der privaten Wirtschaftstätigkeit ergeben hatte, zunehmend als grundlegend problematisch angesehen wurde. Es entstand, zunächst in den angelsächsischen Ländern und erst später, zudem in stark abgemilderter Form, in den Staaten Westund Nordeuropas eine neoliberale Regierungsweise, die diese Trennlinie durch die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente im öffentlichen Sektor mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen und Methoden zu durchbrechen suchte, auch durch einen neuen Sprachgebrauch sowie durch Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen, insbesondere den manchmal als sogenannten Dritten Sektor bezeichneten, privaten und nichtkommerziellen NGOs. Man könnte diesen Bruch derart beschreiben, dass die Kollektivierung von Risiken zunehmend selbst als ein Risiko für die Entwicklung der Wirtschaft angesehen wurde, daher sollten Risiken zumindest

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teilweise entsozialisiert, individualisiert und privatisiert werden (O’Malley 1992). Der Weitsicht von Foucaults Vorlesungen ist es zu verdanken, dass sie die Genealogie des Neoliberalismus in Deutschland und den USA einschließlich der Ordoliberalen und der Chicago School bereits vor ihrer anderweitigen, ausführlichen Diskussion und Analyse behandelt haben. Seit Anfang der 1990er Jahre erfuhren die neoliberalen »Reformen«, deren Stern eigentlich schon gesunken war, neuerlich Auftrieb, der sich mit einem einzigen Wort umschreiben ließ: Globalisierung. Das Konzept der Globalisierung verknüpfte Umstrukturierungen in der Politik, im internationalen Recht, in Kultur, Technik, Handel und Wirtschaft mit der offenkundigen Ausbreitung privater Konzerne sowie internationaler Nichtregierungs- und zwischenstaatlichen Organisationen. Für diese Organisationen wurde schließlich der Begriff transnationale Zivilgesellschaft geprägt (Held/McGrew/Goldblatt/Perraton 1999; Habermas 1998; Beck 1997). Diese Entdeckung einer jenseits des Staates angesiedelten Zivilgesellschaft und die Vermischung diverser Wirkungslinien zu dem monströsen Begriff Globalisierung waren geeignet, die althergebrachte, liberale Sicherheitsdiskussion, mit der diese Abhandlung begann, zu sprengen. Eine »avanciert« oder neoliberale Problematisierung von Sicherheit ging davon aus, dass die Einflussmöglichkeiten von Staaten auf die Regulierung ihrer nunmehr »ungebundenen« Volkswirtschaften stark reduziert seien, und verlangte gleichzeitig im institutionellen und privaten Bereich so viele staatliche Reformen als möglich, um wettbewerbsfähige, effiziente und damit für die globalen Kapital- und Finanzströme attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen. Genau diese zweigleisige Haltung steckt hinter der Auffassung, das Thema der Regierung von Gesellschaft habe an Bedeutung verloren. Der Aspekt der Sicherheit hat sich einerseits von der Frage der Regierung der Zivilgesellschaft innerhalb des Territorialstaats abgekoppelt und andererseits aufgebläht, um nun unter anderem Umwelt, Wirtschaft, Politik, Terrorismus sowie Ernährung und Gesundheit auf globaler Ebene mit einzuschließen (Neocleous 2000). Um ein anderes Bild zu verwenden: Die Besonderheiten, Grenzen und Hierarchien des Territorialstaats verflüchtigen sich zu nichts unter der gewaltigen, sanften Oberfläche des sie überspülenden Weltmeeres. Diese »Gouvernementalitäts«-Perspektive auf die Regierung von Gesellschaften bezieht sich vor allem auf innenpolitische Fragen. Daher muss ergänzend auf die Bedingungen der Entstehung der Territorialstaaten selbst eingegangen werden (vgl. Hirst 2005: 26-38). An erster Stelle beinhaltete die Formierung eines solchen Verständnisses von Regierung auch die Entstehung einer politischen Einheit in Gestalt eines Staates, der in der Lage war, religiöse und zivile Konflikte innerhalb seiner Grenzen zu beenden (Hunter 1998). Diese Entwicklung begann in Europa im 16. und 17. Jahrhundert und ganz besonders, zumindest nach dem historischen Gedächtnis der Moderne, mit dem Westfälischen Frieden von 1648, der

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82 | Mitchell Dean den Dreißigjährigen Krieg beendete (Zacher 1993; Krasner 2000). Dieser Vertrag lief im Kern darauf hinaus, dass sich fortan ausländische Mächte nicht mehr in religiöse Binnenkonflikte einmischen sollten (vgl. Hirst 2005: 35). Das Prinzip wurde mit dem Ausdruck cuius regio, eius religio umschrieben: wessen Land, dessen Religion, ein Grundsatz, der schon früher im Augsburger Religionsfrieden von 1555 formuliert worden war. Die Bevölkerung gehörte künftig der Religion des Fürsten an, und der Fürst seinerseits konnte seinen Glauben nicht ändern, ohne gleichzeitig sein Herrschaftsgebiet zu verwirken. In der Folge waren Herrscher nunmehr in der Lage, ihre Gebiete zu kontrollieren, ohne sich übertriebene Sorgen über die blindwütige Vernichtung von Menschenleben durch Milizen und Söldnerbanden im Namen religiös-doktrinärer Differenzen machen zu müssen. Im Laufe der Zeit konnten sie stattdessen mit dem Aufbau einer Gesellschaft beginnen und, basierend auf einer gemeinsamen religiösen Identität, allmählich eine stabile Identifikationsgrundlage für die Bevölkerung bilden. Anschließend benutzten sie diese Loyalität, um die Bevölkerung so zu disziplinieren, dass sich deren Aggressionspotenzial statt auf bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen im eigenen Land auf andere Staaten richtete. An zweiter Stelle musste der Territorialstaat die ausschließliche Kontrolle über ein Gebiet gewinnen. Wie Paul Hirst uns erinnert, fiel politische Macht nicht immer mit »einem gegebenen, räumlich und kulturell kohärenten Gebiet« zusammen (2005: 27). Das antike Griechenland kannte nur das kleine Gebilde des Stadtstaates, das auf höherer Ebene unfähig war, eine kohärente politische Einheit zu formen, und das deswegen auch dem Untergang geweiht war, sobald es auf einen Feind stieß, der genau diese politische Einheit in Mazedonien erreicht hatte. Der Machtbereich des Römischen Reiches dehnte sich ohne Rücksicht auf rechtliche und kulturelle Grenzen immer weiter aus, was ihm eine politisch inaktive und militärisch demobilisierte Bevölkerung bescherte, Bürgerkriegen Tür und Tor öffnete und Barbareneinfälle im tieferen Landesinneren zuließ. Herrschaft wurde im Europa des Spätmittelalters von einer Vielzahl von Mächten ausgeübt, die »um die Kontrolle derselben Gebiete konkurrierten und sich dabei auf territoriale und funktionale Machtansprüche beriefen, die hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Rechte unzulänglich definiert waren« (ebd.: 31). Vieles von dem, was Jean Bodin in seinem Werk Six Livres de la République aus dem Jahr 1576 als die verschiedenen Kennzeichen von Souveränität hervorhob (vgl. [1576] 1955: 40-49), also Befehle zu geben, ohne welche zu empfangen, Gesetze zu machen, Recht zu sprechen, Münzen zu prägen, Steuern zu erheben, Heere aufzustellen und mit anderen Herrschern zu verhandeln, verteilte sich über eine große Vielfalt anderer Kräfte. Unter diesen fanden sich Städtebünde wie die Hanse, militärische Mönchsorden, Stadtstaaten, Erzbistümer und Söldnertruppen (vgl. Hirst 2005: 33). Es war ein großer Fortschritt für die europäische Geistes- und

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Rechtskultur, als all dies einer einzigen, nämlich der zentralen Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verwaltung des Territorialstaats unterstellt wurde. Der dritte Aspekt in der Entwicklung zum Territorialstaat war die Notwendigkeit, dass die Staaten sich innerhalb eines gemeinsamen rechtlichen Rahmens gegenseitig anerkannten, um genau das zu bilden, was verschiedentlich als eine »Gesellschaft von Staaten« bezeichnet wurde (Bull 1977; Held/McGrew/Goldblatt/Perraton 1999: 37ff.). Zentrale Grundlage dieser Anerkennung ist das Prinzip der Nichteinmischung, das es den Staaten erlaubt, weiter die Einigung und Homogenisierung ihrer eigenen Bevölkerungen zu betreiben und auf diese Weise Gesellschaften zu formen. All dies führte zu einer umfassenden Ordnung des europäischen Raumes auf der Grundlage des Territorialstaats, die mit folgenden Worten beschrieben werden kann: »Erstens schafft er in seinem Innern klare Zuständigkeiten, indem er die feudalen, territorialen, ständischen und kirchlichen Rechte unter die zentralisierte Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz eines Gebietsherren stellt. Zweitens überwindet er den damaligen europäischen Bürgerkrieg der Kirchen und konfessionellen Parteien und neutralisiert den innerstaatlichen Streit der Konfessionen durch eine zentralisierte, politische Einheit […] Drittens endlich bildet der Staat auf der Grundlage der von ihm bewirkten innerpolitischen Einheit gegenüber anderen politischen Einheiten eine in sich geschlossene Fläche, die nach außen feste Grenzen hat und zu ähnlich organisierten Flächenordnungen in eine spezifische Art der Außenbeziehung treten kann.« (Schmitt 1950: 98f.)2

Wenn das »innere« Außen der Regierung allmählich zur Gesellschaft oder zur bürgerlichen Gesellschaft im Europa des 18. Jahrhunderts wurde, so bestand das »äußere« Außen des Staates in erster Linie aus einer Welt anderer solcher Staaten, die an zwischenstaatliches Recht gebunden waren und einander wechselseitige Anerkennung boten. Dies gab es erstmals im 17. Jahrhundert. Eine Voraussetzung für diese wechselseitige Anerkennung war die Existenz einer klar bezeichneten und gegenseitig respektierten Grenze zwischen zwei solchen Staaten, die sie gegeneinander abschloss. Die Vorstellung von einer Grenze, die auf Karten eingezeichnet und als klare Trennlinie zwischen Staaten verteidigt werden konnte, fällt ihrerseits mit dem Territorialstaatssystem zusammen und ist nur eine Episode in der Geschichte geographischer Grenzen. So wie der Territorialstaat das verworrene Netz sich überlagernder Rechtszuständigkeiten im Europa des Spätmittelalters ablöste, so ersetzt die Staatsgrenze andere Arten politischer Grenzziehung. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens seien die Mark und der Limes angeführt. Die Mark, vertreten durch die anglo-keltischen und anglo-gälischen Marken, ist eine Art neutrales Niemandsland zwischen verschiedenen

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84 | Mitchell Dean Mächten und damit ein Ort des Austausches und der Vermischung von Völkern und Kulturen (vgl. Walters 2004: 683f.). In geopolitischer Hinsicht war die Mark über eine lange Geschichtsperiode hinweg mit Mittelund Osteuropa verbunden, so dass zum Beispiel das Wort Ukraine eben »Mark« oder Grenzland bedeutet. Im Gegensatz dazu ist der Limes mehr der äußerste Rand, die Einfassung oder Grenzlinie. Er trennt eine Welt von dem, was sich außerhalb ihrer befindet, das Reich von den Barbaren, den Kosmos vom Chaos, ein Haus von seiner Umgebung, eine befriedete Ordnung von aggressivem Aufruhr, eine Einfriedung von der Wildnis (vgl. Walters 2004: 690f.; Schmitt 1950: 22). Zwar weist sein Verlauf Unterbrechungen auf und verschiebt sich von Zeit zu Zeit, dennoch ist er beständiger als eine Mark, die mehr als bewegliche »Pufferzone« fungieren kann. Ein Limes wird häufig durch einen Schutzwall gekennzeichnet, wie zum Beispiel der Hadrianswall und andere römische Befestigungen oder die Große Chinesische Mauer. Während man die Gefahr und auch die Feinde jenseits des Limes durchaus zur Kenntnis nimmt, gibt es keine offizielle Anerkennung anderer politischer Einheiten. Der Limes stellt weniger eine feste Markierung territorialer Grenzen dar als vielmehr ein Leitsystem, das die Bewegungen der Bevölkerung mit Hilfe von Flüssen und Bergketten kanalisiert, sowie eine Art Frühwarnsystem gegen mögliche Überfälle von außen (vgl. Hirst 2005: 62). Während die Grenze im Europa des 18. Jahrhunderts sowohl eine Einfriedung als auch die gegenseitige Anerkennung des Hoheitsgebiets des jeweiligen Nachbarn darstellte, markierte der Limes den radikalen Ausschluss dessen, was jenseits der Zivilisation lag, und die Mark bildete eine neutrale Zone zwischen Mächten und Kulturen. Die umfassende Ordnung des europäischen Raumes auf der Grundlage des Territorialstaats ermöglichte also die Vorstellung von einer Welt, die sich aus gegenseitig sich anerkennenden Territorialstaaten zusammensetzte. Wie Foucault feststellt (vgl. 2004a: 422ff.), gestalteten sich die Beziehungen zwischen diesen europäischen Staaten nach dem Westfälischen Frieden, der dem Traum von der Wiedererstehung des Römischen Reiches ein Ende setzte, auf der Grundlage neuer diplomatischer und militärischer Auffassungen. Unter diese fielen die Vorstellung von Europa selbst als einer Vielfalt von Souveränitäten, die auf ihrem Gebiet jeweils die Hoheit besaßen und sich gegenseitig anerkannten; neue diplomatische Modelle einer »Balance« zwischen solchen Staaten und ihren Einflusssphären; neue, ständige Militärapparate einschließlich stehender Heere und der Professionalisierung des Kriegshandwerks; und neue Konzepte der Kriegsführung als Staatsräson. Diese neuen internationalen Rechtsbeziehungen mündeten in ein zwischenstaatliches europäisches Rechtssystem (genannt ius publicum Europaeum), das den Krieg als eine Art Duell zwischen zwei souveränen Personen, magni homines, betrachtete und den sogenannten gerechten Krieg (bellum ex iusta causa) des mittelalterlichen Christentums (respublica Christiana) ebenso ablehnte wie das vom Dreißigjährigen Krieg

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verkörperte Chaos konfessioneller Konflikte (vgl. Schmitt 1950: 96-100). Krieg zwischen europäischen Souveränen würde fortan ein offiziell erklärter Krieg zwischen zwei sich gegenseitig anerkennenden Souveränitäten sein, une guerre en forme, ein Krieg nach Regeln, die den Krieg einschränkten und auch zu einem gewissen Grad humanisierten und zivilisierten, zumindest im Unterschied zu den religiös motivierten Bürgerkriegen und Feudalkonflikten (vgl. ebd.: 113). Diese räumliche Ordnung beinhaltete jedoch auch eine Vorstellung von Teilen der Welt, die nicht von solchen Staaten okkupiert waren und in denen die europäischen Staaten sich außerhalb der normalen europäischen Rechtsstrukturen auf Eroberungen und gegenseitigen Wettkampf einlassen konnten. Die Entdeckung und Inbesitznahme der Neuen Welt geschah ganz wesentlich auf der Grundlage dieser Unterscheidung zwischen europäischen und nicht europäischen Teilen des Erdballs, sowie zwischen den Teilen der Welt, in denen europäisches Recht galt, und denen außerhalb dieses Geltungsbereichs. Die frühesten Beispiele dieser Art von Bewusstsein zogen fast unmittelbar die Entdeckung der Neuen Welt nach sich (vgl. Schmitt 1950: 59-69). Papst Alexander VI. zog 100 Meilen westlich der Azoren und Kapverden seine berühmte Linie vom Nordpol zum Südpol. Die von Spanien und Portugal gezogenen rayas teilten die Welt unter den zwei katholischen Mächten auf, die sich weiterhin als Teile eines gemeinsamen christlichen Weltreichs verstanden. Auf diese folgten die sogenannten »Freundschaftslinien«, die eher zum Zeitalter der Religionskriege gehörten und dazu dienten, die Grenzen zu definieren, innerhalb derer Abkommen zwischen katholischen und protestantischen Mächten anzuwenden waren. Parallel zu der Vorstellung von einem europäischen zwischenstaatlichen Recht entwickelte sich dabei eine genaue Bezeichnung der Zonen, wo dieses Recht nicht galt, die also »jenseits der Linie« lagen. Es handelte sich um Zonen des Wettkampfs zwischen europäischen Mächten, die zunächst erobert und anschließend kolonisiert wurden, um Gebiete, in denen sich die Europäer nicht mehr an ihre eigenen Abkommen oder Kriegsregeln gebunden fühlten und sich stattdessen mit der Hilfe von Ketzern, Piraten, Freibeutern und Abenteurern aller Arten gegenseitig bekämpften. Die Abwesenheit regulärer europäischer Rechtssprechung und die Nichtanerkennung der Souveränität derer, die sich »jenseits der Linie« des Rechts befanden, lieferten die Grundlage für die große Landnahme in der Neuen Welt, für die Enteignung von deren Ureinwohnern und für die spätere Unterdrückung der lokalen Bevölkerung in den erworbenen asiatischen und afrikanischen Kolonien. Folgt man den Arbeiten von Hugo Grotius, so wurde die Welt entlang des fundamentalen Gegensatzes von festem Land und freier See aufgeteilt, terra firma und mare libre (vgl. ebd.: 143f.). Um das Jahr 1713, nach dem Vertrag von Utrecht, unterschied der europäische juristisch-politische Diskurs nicht nur zwischen Land und Meer, sondern auch zwischen verschiedenen »Boden-Status«, vom Staatsgebiet über

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86 | Mitchell Dean die Kolonie und das Protektorat bis hin zu frei okkupierbarem Land und exotischen Ländern mit europäischem Extraterritorialstatus, sowie dem Begriff der Hoheitsgewässer (vgl. ebd.: 153-156; Connery 2001: xx). Die Sicherheit der Territorialstaaten in diesem europäischen System wurde durch diesen Prozess gegenseitiger Anerkennung innerhalb eines gemeinsamen rechtlichen Rahmens erreicht. Wenn auch einige zeitgenössische Kommentatoren (Held/McGrew/Goldblatt/Perraton 1999: 38) einwerfen, dass dieses internationale Recht nur aus minimalen Regeln der Koexistenz bestanden habe und mit »praktisch keinerlei rechtlichen Schranken ausgestattet [war], die den Rückgriff auf Gewalt hätten zügeln können«, so erweist sich dies eindeutig als falsch. Das öffentliche europäische Recht war im Gegenteil ein in hohem Maße reguliertes System militärischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Beziehungen zwischen Staaten mit globalen Interessen, das, zumindest auf dem europäischen Kontinent, deutlich zur Begrenzung und Humanisierung von Kriegen beitrug. Es zeugte auch von einem global ausgerichteten Territorialbewusstsein, das dazu befähigte, einen Großteil des Erdballs zu entdecken, in Besitz zu nehmen, zu kolonisieren und schließlich der eigenen Staatenordnung weltweite Gültigkeit zu verschaffen. Zu den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit seinen zwei Weltkriegen kam es, als dieses internationale System durcheinander geriet. Angesichts dieser relativ befriedeten und sicheren Außengrenzen zielte die Entwicklung von Nationalkultur und sozialer Absicherung auch darauf, die innere Befriedung der Staaten zu vollenden, indem diese wie in dem berühmten Ausdruck Benedict Andersons (1983) zu Imagined Communities werden sollten, also zu Räumen, in denen sich der Einzelne in erster Linie mit der Nation identifizierte und sich so für Aufgaben wie Militärdienst und Landesverteidigung, die Kolonisierung anderer Teile des Erdballs und für wirtschaftlichen Wettbewerb mobilisieren ließ. Die Identifikation von Staat und Nation ließ sich als ein Weg ansehen, innere Homogenität zu erreichen (womit das notwendige Minimum an Übereinstimmung innerhalb der Bevölkerung gemeint ist) und das Potenzial für effektiven wirtschaftlichen Wettbewerb nach außen, für militärische Konflikte sowie für die Eroberung eines Imperiums zu fördern. Wie Foucault ([1997] 1999) in seinen frühen Vorlesungen aufzeigte, wurde diese »Homogenisierung« der Bevölkerung manchmal auch durch die Gleichsetzung der Nation mit einem biologisch verbrämten Rassebegriff im Rahmen eines neuen Staatsrassismus erreicht. Einer der Gründe, warum diese zwischenstaatliche Ordnung in Europa so lange, nämlich bis zum Ersten Weltkrieg fortbestand, war, dass das System souveräner Staaten zu einer weltweiten Blüte von Wirtschaft und Handel in einem Ausmaß beitrug, das erst in den letzten Jahren wieder erreicht wurde (vgl. Hirst 2005: 38ff.). Unter dem neuen politischen Prin-

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zip des wirtschaftlichen Liberalismus und unter der britischen militärischen und wirtschaftlichen Vorherrschaft über die Weltmeere war der liberale Verfassungsstaat darauf aus, feste, internationale Freihandelsnormen durchzusetzen. Das lange 19. Jahrhundert von 1815-1914 und seine friedliche Weltordnung beruhten auf einem weltweiten Freihandelssystem und auf der Massenmigration von Europäern in die Neue Welt. Der Territorialstaat und das Staatensystem, die dies zusammen mit der maritimen Pax Britannica ermöglichten, waren die zwei wesentlichen Säulen der im Rückblick ersten großen, globalen Ära des Freihandels. Das 20. Jahrhundert erlebte die im Rückblick unvermeidliche Mutation dieses Systems eines von Europa ausgehendem zwischenstaatlichen Rechts einschließlich der Anerkennung von Nationalstaaten in der Neuen Welt und im Orient durch Organisationen wie die Internationale Telegraphenunion von 1864 und die Universelle Postunion von 1874, also insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika und, in Asien, von Siam, Japan und dann China. Internationales Recht sollte nun, zuerst im Völkerbund und später in den Vereinten Nationen, eher eine universale statt eine europäische Perspektive einnehmen. Entscheidend für diese Bewegung von einer eurozentrischen Weltsicht hin zu einem nicht ortsgebundenen Universalismus waren der Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika sowie die Vorstellung von einer westlichen Hemisphäre. Dieser Gedanke war schon 1823 mit der sogenannten Monroedoktrin erstmals artikuliert worden, mit der man seitens der USA versuchte, den amerikanischen Gesamtkontinent dem Einfluss der Mächte der nunmehr Alten Welt Europas zu entziehen. Nach den Katastrophen des neuen »Dreißigjährigen Krieges« in Europa von 1914 bis 1945 und der stattgefundenen Völkermorde, die ihr grausigstes Beispiel im von den Nazis an den Juden und anderen Völkern begangenen Holocaust gefunden hatten, waren Angriffskriege aus nationalen Beweggründen fortan kriminalisiert; außerdem entstanden Rechtsbegriffe wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Frieden; und die Doktrin von den universell gültigen Menschenrechten beherrschte mehr und mehr die Theorie und Praxis internationaler Beziehungen. Der Erste Weltkrieg markierte den Zusammenbruch der alten Weltordnung und der britischen Vorherrschaft sowie die Entstehung einer Reihe autoritärer, nationalistischer Regime und der Sowjetunion, die ihre Macht mit Hilfe auferlegter Planwirtschaft und sozialer Kontrolle ihrer Bürger und deren Bewegungen zu stützen suchte. Nach 1945 und insbesondere nach 1989 übernahmen die Vereinigten Staaten die einst von Großbritannien ausgefüllte Rolle, Regeln für eine neue Welthandelsordnung aufzustellen und die Respektierung bestehender territorialer Grenzen durchzusetzen. Wie Admiral Alfred Thayer Mahan (1894) in seinem Plädoyer für eine britisch-amerikanische Wiedervereinigung vorausgesagt hatte, haben die USA die Rolle der an zwei Weltmeere grenzenden »größeren Insel« von kontinentaler Aus-

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88 | Mitchell Dean dehnung übernommen, die das nun zu klein gewordene Großbritannien aufgeben musste, und agieren mit Hilfe ihrer weltweit einsatzfähigen Streitmacht zu Wasser (und in der Luft) als neuer Garant des Welthandels. Die Lehren vom Wohlfahrtsstaat und das Vertrauen in die Regierbarkeit von Gesellschaften erreichten in den westlichen Nationalstaaten während der ersten dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Höhepunkt ihrer Akzeptanz. Damals wurde das rein europäische Gleichgewicht zwischen den Staaten und ihren Kolonialreichen allmählich abgelöst vom blockbezogenen Gleichgewicht der wechselseitig gesicherten Zerstörung*, die durch den Aufbau riesiger Atomwaffenarsenale auf Trägersystemen mit interkontinentaler Reichweite möglich wurde. Der Kalte Krieg erzeugte einen Sicherheitspatt zwischen einer kapitalistischen und einer kommunistischen Welt, dem Westen und dem Osten. Letztendlich fungierte der Kalte Krieg als internationales Stellvertretersystem. Im Westen war der Nationalstaat nach dem Bretton Woods Abkommen von 1944 durch seine Einbindung in internationale Strukturen der Finanz- und Währungskontrolle geschützt, zu denen teilfixierte Wechselkurse, sehr seltene Paritätsanpassungen, die Abschottung der Binnengeldmärkte und Kredite vom Internationalen Währungsfond gehörten. All dies »war konstruiert worden, um sicherzustellen, dass die Ziele inländischer Wirtschaftspolitik nicht von den globalen Kapitalströmen dominiert wurden, sondern im Gegenteil Letztere in geregelte Bahnen lenkten« (Held/ McGrew/Goldblatt/ Perraton 1999: 200). Der Prozess der Dekolonisierung der früheren Kolonien, die das Produkt des alten, europäischen Staatensystems gewesen waren, eröffnete in der verfahrenen Situation des Kalten Krieges ein neues Feld des Wettkampfs zwischen den Supermächten. Zwischen dem autoritären, landgestützten, sozialistischen Weltreich und dem die Meere beherrschenden, liberalen Wirtschaftsimperium bildete sich eine sogenannte »Dritte Welt«. Paradoxerweise wurde das Territorialstaatsmodell von diesen ehemaligen Kolonien beansprucht beziehungsweise auf diese ausgedehnt, obwohl ihnen die Fähigkeiten fehlten, auch nur ihre eigene Bevölkerung zu verwalten, ganz zu schweigen von der Verteidigung ihrer eigenen Landesgrenzen, was gerade das entscheidende Kennzeichen des klassischen europäischen Staatskonzepts nach dem Westfälischen Frieden gewesen war. Die wachsende Zahl der Staaten, die ganz offenkundig nicht in der Lage waren, nach einem solchen Modell zu funktionieren, hat zusammen mit der Zunahme nichtstaatlicher internationaler Organisationen und der Kriminalisierung von Akten der Aggression durch internationales Recht zu einer * | Anm. d. Übersetzers: Im Originaltext ist zusätzlich die im englischen Sprachraum eingeführte Abkürzung MAD für Mutually Assured Destruction angegeben; nicht ganz zufällig dürfte bei deren Prägung auch das Adjektiv mad (verrückt, geisteskrank, wahnsinnig) Pate gestanden haben.

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Situation geführt, in der man den Staat nicht länger als ein politisches Gebilde betrachtet, das seine eigene Position in der internationalen Ordnung behaupten kann, weshalb er in großen Teilen der Welt einfach von den Kräften ersetzt wird, denen man noch am ehesten die Aufrechterhaltung eines Minimums an politischer und sozialer Ordnung zutraut. Wenn die Revolution der Regierung im 19. Jahrhundert den tatsächlichen Beginn der Herausforderung, Gesellschaften zu regieren, kennzeichnet, dann kennzeichnet der Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt. Selbiger wurde durch eine spezifische Regelung der internationalen Finanzbeziehungen gestützt, die einen geschützten Raum zur Ermöglichung makroökonomischer Binnenpolitik schaffte, wie zum Beispiel keynesianische Nachfragesteuerung durch Manipulation der öffentlichen Ausgaben- und Investitionsniveaus. Nach außen hin sahen sich die liberalen westlichen Demokratien mit einer autoritären Alternative konfrontiert, bestehend aus Kommandowirtschaften, erzwungener wirtschaftlicher und militärischer Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Ländern sowie Kontrolle der Bevölkerung und ihrer Aktivitäten und Bewegungen. Ein Schlüsselelement für die Problematisierung der Frage der Regierung von Gesellschaften bestand damals in der oben erwähnten neoliberalen Kritik an der inneren Leistungsfähigkeit des Staates. Im Kern stand diese Kritik für die Ansicht, dass der Wohlfahrtsstaat und hohe Löhne auf der Grundlage von mit den Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträgen sowie hohe öffentliche Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Infrastruktur samt und sonders die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der Wirtschaft untergruben. Der aggressive Neoliberalismus fasste, angeführt von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, zuerst im anglophonen Teil des Westens Fuß. Diese Anführer nahmen auch gegenüber der sowjetischen Alternative eine härtere Haltung ein, die ihrerseits allmählich unter dem Gewicht ihrer eigenen Systemunzulänglichkeiten, dem Mangel an innenpolitischer Legitimität und ihrer Unfähigkeit, es militärisch mit dem Westen aufzunehmen, zusammenbrach. Die neoliberalen Kritiker bereiteten im Verbund mit dem Zusammenbruch dieser Alternative den Weg für eine Beschwörung der Globalisierung und führten damit im Kern die Handels- und Investitionsströme zwischen verschiedenen Teilen der Welt als dauerhaften Grund für neoliberale Politik an. Liberale Intellektuelle im Westen verkündeten, wie in Fukuyamas End of History (1992) dargelegt, die unvermeidliche Ausbreitung des liberalen, kapitalistischen Systems über den ganzen Globus, sowie die Globalisierung als das »One Big Thing« (Friedman 2000). Alle, bis auf die mit dem Spitznamen Neocons bezeichneten Ultrakonservativen in den Vereinigten Staaten, die nach einem globalisierungsfreundlichen Jahrzehnt auf umstrittene Weise an die Macht gelangten, schienen für den Widerstand gegen das Ende der Geschichte und die Globalisierung als amerikanische Hegemonie unvorbereitet zu

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90 | Mitchell Dean sein. Durch dieses Zusammentreffen verschiedener Umstände kam es zur Stärkung autoritärer und halbautoritärer Regime in ganz Mittel- und Ostasien und zum Stillstand bei der Demokratisierung in Russland. Außerdem bestanden »Schurkenstaaten« und Guerillabewegungen als Feinde der ausgerufenen kosmopolitischen Ordnung fort und legten ihrem Widerstand manchmal religiöse, insbesondere islamistische Lehren sowie neue Formen der Auseinandersetzung und des Krieges zugrunde, bis hin zum weltweiten Terrorismus und der westlichen Antwort darauf. Letztere schien dabei außerhalb der gültigen Normen des Kriegsrechts und deren Regelungen in den Genfer Konventionen des 20. Jahrhunderts zu liegen. Wenn man zu einer langfristigen Perspektive zurückkehrt, dann war ein Staat mit festem Territorium und einer effektiven Zentralregierung, eingebunden in ein System aus anderen solchen Staaten, die miteinander Handel trieben, Allianzen und Rivalitäten pflegten und gelegentlich gegeneinander Krieg führten, eine Voraussetzung für das Aufkommen eines Konzeptes der Regierung von Gesellschaften und der Techniken und Rationalitäten der Regierung. Es handelte sich hierbei um ein Schlüsselpostulat, um ein Anliegen und – zumindest teilweise und wenn auch immer fragil und unvollständig – um den Erfolg unzähliger Praktiken und Diskurse über die binnen- und zwischenstaatliche Regierung aus der frühen Neuzeit. Die Problematisierung der Stichhaltigkeit einer solchen Weltordnung und des Platzes, den dieses beschränkte Gebilde darin einnimmt, ist der unmittelbare Grund für unseren gegenwärtigen Eindruck, dass die Vorstellung, Gesellschaften zu regieren, außer Mode gekommen ist. Angesichts der bereits langen Geschichte des 21. Jahrhunderts könnten wir indes revidieren wollen, was jetzt im Rückblick als eine allzu hastig getroffene Schlussfolgerung erscheint. Die Ereignisse des 11. September und der Krieg gegen den Terrorismus, die Behandlung und Internierung von Flüchtlingen und sogenannten »illegalen feindlichen Kämpfern«, die starke Zunahme von Sicherheitsthemen einschließlich des »Heimatschutzes«, die Gefängnisskandale von Abu Ghraib und Guantánamo Bay sowie die Bestrebungen, Zwang und Hierarchie – z.B. bei »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen« – gegenüber einheimischen Bevölkerungsgruppen durchzusetzen, könnten ohne Begriffe wie Souveränität, Territorium, Gesellschaft und Zentralregierung weder vorstellbar noch handhabbar gemacht werden. Der obige Abschnitt beschreibt die Existenzbedingungen für die liberale Regierung von Gesellschaft sowie deren Verhältnis zur nicht so liberalen rechtlichen Regierung von Gesellschaft durch Staaten auf der einen Seite und zu einer nicht selten autoritären Herrschaftsweise durch diejenigen Staaten, denen liberale Autonomie nicht zu attestieren war, auf der anderen Seite. Dieser Regierungsstil begründete im 18. Jahrhundert das Verhältnis zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft, das dann die nächsten zwei Jahrhunderte bestehen blieb. Vor allem vor dem Hintergrund dieser liberalen Regierungsweise erlangte das Konzept der Regierung von Ge-

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sellschaften eine Selbstverständlichkeit, die heute in der sozialen und politischen Theorie in Frage gestellt wird. Nach diesem Versuch, die allgemeinen historischen Bedingungen des Konzeptes der Regierung von Gesellschaften zu erläutern, komme ich nun zum Konzept selbst.

Das Konzept der »Regierung von Gesellschaften« Im Kern setzt diese klassisch liberale Vorstellung der Regierung von Gesellschaften eine Beziehung voraus zwischen einer Instanz politischer Herrschaft und Verwaltung, gemeinhin Regierung genannt, und einer Sphäre, die außerhalb dieses Bereichs liegt, Gesellschaft oder Zivilgesellschaft, sowie einem Bündel von Zielen und geeigneten Mitteln, um auf diese wechselweise einzuwirken. Diese Vorstellung ist in dem ziemlich anachronistischen Zitat Jeremy Benthams aus dem Jahr 1789 enthalten, »[that the] business of government is to promote the happiness of the society, by punishing and rewarding« ([1789] 1996: 74).3 Wenn heutzutage auch nur noch wenige Benthams Verständnis von Glück oder der These zustimmen dürften, die Mittel des Regierens beschränkten sich auf Bestrafung und Belohnung, so geht seine Aussage doch davon aus, dass eine politische Instanz (»Regierung«) auf ein einheitliches Gebilde (»Gesellschaft«) im Sinne einer bestimmten Zielsetzung – der Schaffung von Glück – einwirkt. In etwas aktuellerer Wortwahl könnten wir von der Rolle der Regierung bei der Sicherung des Wohls der Staatsbürger sprechen. Dennoch wird eben all dies von großen Teilen der heutigen Sozialwissenschaften in Frage gestellt, weil diese ein Paradigma zurückweisen, demzufolge Regierung als die Existenz eines mehr oder weniger zentralisierten Machtkörpers verstanden werden kann, der innerhalb eines einheitlichen Gebietes oder Territoriums mit besonderer rechtlicher Zuständigkeit agiert. Anstatt dieses Paradigma zu erklären, will ich lediglich das begriffliche Konzept verdeutlichen. Mein Interesse gilt der Macht des Begriffs: dem, was er bezweckt, wie er wichtige Züge unser Lebenswelten verdichtet und welche Wirkungen im Realen des Ordnungsprozesses dieser Welten er hervorruft. Beginnen will ich mit der Idee der Regierung. Dabei handelt es sich um ziemlich einfaches Terrain. Thomas Hobbes liefert uns zwei klassische und kontrastierende Verständnisweisen des Begriffs. In seinem Leviathan von 1651 verwendet er diesen in einem sehr gebräuchlichen Sinn: »If the Sovereign of one Common-wealth, subdue a people that have lived under other written Laws, and afterwards govern them by the same Lawes, by which they were governed before; yet those Lawes are the Civill Lawes of the Victor, and not of the Vanquished Common-wealth.« (Hobbes [1651] 1996: 185) Der Sinn des Terminus »regieren« lautet hier einfach, mit Au-

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92 | Mitchell Dean torität zu herrschen, mit anderen Worten, auf einer gewissen, in diesem Fall gesetzlichen Grundlage zu herrschen. Dieses Verständnis betrachte ich als die nach wie vor noch bestehende Grundbedeutung des Begriffs und auch als die, die wir normalerweise meinen, wenn wir von Regierung von Gesellschaften sprechen. In seinem Behemoth von 1679 verwendet Hobbes in einer Auseinandersetzung mit der Haltung des Parlaments zu den mutmaßlichen Vorzügen des Universitätslebens den Terminus »regieren« jedoch in einem etwas anderem Sinne: »Some others were sent thither [to the university] by their Parents, to save themselves the trouble of governing them at home, during that time wherein Children are least governable.« (Hobbes [1679] 1840: 347) Hier wird das Wort »regieren« (govern) in einem viel weiteren Sinne verwendet, nämlich für jede Art von Handlung, die mehr oder weniger absichtlich den Zweck verfolgt, andere anzuleiten, zu führen oder zu kontrollieren, seien es Kinder, Untertanen, Ehefrauen, eine Kirchengemeinde, sogar Vieh und so weiter. Diese zweite Verwendung des Begriffs »regieren« ist größtenteils obsolet, obwohl sie in deutlichem Zusammenhang mit dem Sinn steht, den Foucault in seinen Vorlesungen wiederzubeleben suchte. So gesehen kann man von der Regierung einer riesigen, aus Personen und Gegenständen zusammengewürfelten Gruppe, also aus Kindern, Familien, Haushalten, Vieh, Kirchengemeinden und Seelen genauso sprechen wie von der Regierung von Ländereien, einem Fürstentum oder einem Staat (vgl. Foucault 1997: 68; 2004a: 143f.). Die Problematik der »Gouvernementalität«, die sich auf die Rationalitäten und Techniken einer Vielzahl von Instanzen und Behörden bezieht, das Verhalten verschiedener gesellschaftlicher und politischer Akteure anzuleiten, beruht ganz wesentlich auf dieser zweiten Verwendung des Begriffs. Andererseits findet man das Konzept der Regierung als gebieterische Herrschaft täglich in Zeitungen, im Fernsehen und in unseren Gesprächen. Darüber hinaus wird sie mit einer speziellen Art der Autorität assoziiert, nämlich der des souveränen Staates als Befehls- und Gesetzgebungsinstanz. Wie das Oxford English Dictionary Online elegant formuliert, bedeutet regieren »mit Autorität herrschen, insbesondere mit der Autorität eines Souveräns; die Handlungen und Angelegenheiten eines (Volkes, Staates oder seiner Bürger) zu lenken und zu kontrollieren, sei es auf despotische oder verfassungsgemäße Weise«.4 Ich würde behaupten, dass dieses souveräne Handeln zumindest einen Hauptaspekt der Diskussion über die »Regierung von Gesellschaften« ausmacht, worauf ich noch zurückkommen werde. Eingeschränktere Auffassungen von Regierung, wie »einen Konzern regieren« oder »eine Universität regieren«, beinhalten dagegen nicht das Handeln eines Souveräns, obwohl auch hier sicherlich darauf Acht gegeben wird, dass alles im Einklang mit dem Gesetz und der Regierungspolitik geschieht. Andernfalls bestünde das Risiko, sich Nachteile oder gar Bestrafung einzuhandeln.

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Soziologen in der Nachfolge Max Webers haben viel Mühe darauf verwendet, Fragen der Autorität und speziell legitimer Autorität zu erörtern, also die Grundlage, auf der die Herrschaftsautorität gerechtfertigt ist. Weber ([1919] 1964: 9) selbst unterschied drei verschiedene »Typen« der Legitimation – »die Autorität des ›ewig Gestrigen‹« oder traditionelle Autorität, »die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe« oder Charisma und die »Herrschaft kraft ›Legalität‹« oder gesetzliche Autorität. Diese »Typen« sind ziemlich eindeutig und leicht zu erkennen (abgesehen von ihrem methodologischen Status). Weber ging davon aus, dass die Herrschaft »kraft Legalität« in modernen Gesellschaften zur vorherrschenden Form wurde. Mit dem Vorteil auf ein weiteres Jahrhundert zurückblicken zu können, würden wir seine Einteilung vielleicht noch um die Autorität des Expertentums ergänzen wollen. Wenn wir heute zum Beispiel darüber diskutieren würden, wie wir unsere Kinder am besten regieren, würden wir ohne weiteres Rechtfertigungen und Anleitungen für unser Tun in Handbüchern über Kinderpsychologie und Kindeserziehung und in von Experten entwickelten Methoden der Familientherapie, Beratung und Sozialarbeit finden. Es ist deshalb keine gewagte These zu behaupten, dass vieles an der heutigen Art zu regieren in diesem zweiten obigen Sinn auf »Autorität durch Expertentum« beruht. Die Legitimität dieses Expertentums liegt nicht in einer sakrosankten Spezialausbildung und dem Zugang zu medizinischem, psychologischem oder anderem Expertenwissen und auch nicht in der unantastbaren Hierarchie zwischen Arzt und Patient begründet, vielmehr in dem Versprechen dieses Expertentums, dem Einzelnen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und ein glückliches und erfülltes Leben als Individuum wie innerhalb der Familie und anderer Gemeinschaften, sowie in der Schule und am Arbeitsplatz zu führen. Regierung in diesem Sinne hat seine eigene Rechtfertigung in der Macht gefunden, die inneren Fähigkeiten des Einzelnen freizulegen, den Regierten zu erlauben, sich selbst zu regieren und zu verwirklichen, die Erfahrungen und Hemmnisse von Opferdasein, Ausgrenzung und Abhängigkeit zu überwinden, sich auf diese Weise selbst zu bemächtigen (empower) und sich letztlich selbst in einem wahrhaftigeren Sinne zu befreien. In dieser Hinsicht hat Foucault ([1982] 1987) Recht, wenn er argumentiert, dass das Thema der Herrschaft in solchen Beispielen weder in erster Linie eine Frage von Souveränität und Gewalt noch von Recht und Legitimität ist, sondern von Regierung im zweiten obigen Sinne, also Regierung als das »Führen der Führungen«, als die mehr oder weniger kalkulierte Modellierung von Bedürfnissen, Wünschen und Hoffnungen des Einzelnen und ganzer Bevölkerungen im Sinne verschiedener Zwecke. Auch Foucaults Nachfolger hatten Recht, die Bedeutung der Regierung mittels solchen Expertentums hervorzuheben. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass das Konzept »Gesellschaft« ein Gegenstand und Wissensgebiet ist und seinerseits verschiedene Arten von Exper-

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94 | Mitchell Dean tentum hervorbringt, und werde darlegen, dass eine Bedeutung des Begriffs der Regierung von Gesellschaften genau in diesem Regieren mittels einer spezifischen Art von Expertentum liegt. Allerdings operiert vieles von dem, was wir Regierung und Regierungsaktivität nennen, wie bereits Max Weber festgestellt hatte, »kraft Legalität«. Wir müssen uns nicht in die Feinheiten einer Diskussion darüber begeben, ob der Begriff Legitimität oder das Verhältnis zwischen Legalität und Legitimität zu hinterfragen seien, um darauf zu kommen, dass Regieren vielfach eine fast maschinelle Produktion von Gesetzen beinhaltet. In liberalen Demokratien konzentriert sich ein Großteil der Arbeit der Exekutive ebenso wie der Legislative und Judikative auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene darauf, Gesetze zu produzieren, auszulegen und durchzusetzen. Die Tätigkeit von Amtsträgern im öffentlichen Dienst, in Universitätsverwaltungen, Betrieben, Wohltätigkeitsorganisationen und praktisch eines jeden Inhabers einer Führungsposition ist durch Gesetze oder daran geknüpfte Verordnungen und Durchführungsbestimmungen geregelt. Damit setzt die Vorstellung vom Regieren einer Gesellschaft einen Staatskörper voraus, der Gesetze erlässt, aushandelt oder aufzwingt. Die Legitimität, um wieder mit Weber zu sprechen, »zu befehlen ruht für den Inhaber der Befehlsgewalt auf rational gesatzter, paktierter oder oktroyierter, Regel« ([1920] 1988: 267). Dieser Staatskörper kann zentralisiert oder föderal, monarchisch oder republikanisch, liberal, autoritär oder beides, ein repräsentatives System oder eine Militär- bzw. populistische Diktatur sein. Er kann sogar Teilbereiche seiner Autorität an andere Staatskörper abtreten und so einen Staatenbund wie den der Europäischen Union mit funktional spezifischen, gemeinsamen Regierungsinstitutionen bilden. Die Tatsache, dass regierungsamtliches Handeln im ersten obigen Sinne auf mehr als nur ein solches Gebilde zurückgehen kann, oder dass bestimmte Gesetze und Regelungen (zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention) dazu verwendet werden können, um Gesetze eines anderen Staates für ungültig zu erklären und außer Kraft zu setzen (wie kürzlich in Großbritannien in Form höchstrichterlicher Urteile gegen Verordnungen zur Kontrolle von Terrorismusverdächtigen geschehen), bedeutet nicht, dass diese Form von Autorität »kraft Legalität« aufgehört hätte zu existieren. Sie breitet sich, im Gegenteil, vielmehr aus und wird immer komplexer. Denn wie die Sicherheit gewinnt auch Legalität mit ihrer wie geschmiert laufenden Gesetzesmaschinerie immer mehr an Bedeutung. Will man diese Überlegungen auf einer weiteren, grundlegenderen Ebene fortführen, so ist die Vorstellung von Regierung »kraft Legalität« (als Autoritätssystem) neben dem System der Gesetzgebung auf eine »Gerichtsbarkeit« angewiesen, mit anderen Worten, auf eine Instanz, welche die Reichweite oder den Geltungsbereich jener Gesetze definiert. Auch wenn es mehrere und sich überlagernde Rechtszuständigkeiten geben kann, gelten diese normalerweise nur in einem geographisch fest umrisse-

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nen Gebiet oder Territorium. So haben auch die Gesetze von New South Wales, der australischen Provinz, in der ich dies schreibe, einen geographisch festgelegten Geltungsbereich. Sie gelten zum Beispiel nicht in der australischen Nachbarprovinz Victoria oder in den weit entfernten Ländern Botswana und Belgien. Dies heißt aber nicht, dass andere gesetzgebende Körperschaften (zum Beispiel die australische Bundesebene), ihr Recht nicht innerhalb desselben geographischen Gebietes zur Anwendung bringen dürften, oder dass deren rechtsrelevante Aktivitäten (verschiedene UN-Verträge, zu deren Unterzeichnerstaaten Australien gehört, auch das kürzlich unterzeichnete Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und so weiter) hier nicht gültig wären. Es hält die australische Regierung nicht von der Zusammenarbeit mit indonesischen Behörden auf dem Gebiet der Küstenwache, der Kontrolle der Einwanderung und anderer in den Gewässern zwischen beiden Ländern auftretenden Sicherheitsfragen ab. Wie man daran sieht, kann sogar ein ziemlich isolierter und vom Meer umgebener Territorialstaat wie Australien mehrere, sich überlagernde Rechtszuständigkeiten und -institutionen haben. Das Konzept der Rechtsprechung schließt also die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Einrichtungen und Behörden auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene nicht aus. William Walters (vgl. 2004: 677680) hat dargelegt, dass der Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten der Europäischen Union von anderen Arten der Regulierung begleitet ist, zum Beispiel in Form grenzüberschreitender Zusammenarbeit der Polizei, mobiler, in einem erweiterten Grenzabschnitt tätiger Überwachungsteams, durch Informationsaustausch, eine gemeinsame Visa- und Einwanderungspolitik, sowie gemeinsame Verwaltungsstandards. Walters nennt dies »die vernetzte Nicht-Grenze«. Die EU wendet speziell an ihren östlichen und südlichen Grenzen auch Strategien an, die an die Mark und den Limes erinnern. Diese Strategien beziehen sich auf neue Sicherheitsprobleme wie Drogenschmuggel, Menschenhandel, Terrorismus, Waffenhandel und Asylsuchende. In einem weiteren Sinne, so schlägt Walters (ebd.: 678) anknüpfend an Michel Foucher vor, sollten wir verschiedene Grenztypen als »Geostrategien« betrachten, die auf »die Instrumentalisierung eines Territoriums mit dem Ziel, eines oder mehrere dieser neuen Sicherheitsprobleme zu kontrollieren«, hinauslaufen. Natürlich ist das konventionelle Verständnis von Grenze als einer Trenn- und Befestigungslinie zwischen zwei eigenständigen Gebieten nur eine mögliche Art, Territorium zu nutzen, während man sich »Grenzen« am besten als Resultante unterschiedlicher Strategien vorstellt. Gleichwohl ist jede dieser Strategien mit »Territorialisierung« befasst, also mit »jeder Art von Bewegung, die markiert, Linien zieht, absteckt, ordnet, eingrenzt und unterteilt« (Walters 2004: 681), und setzt daher ein Territorium voraus und den Versuch, dieses zu regieren. Wenn Regierung Recht beinhaltet und Recht wiederum Rechtsprechung, dann beruht diese auf der Exis-

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96 | Mitchell Dean tenz eines Territoriums. Diese Stärke territorialer Rechtsprechung ist eine Voraussetzung für die vielfältigen, sich überlagernden, geteilten und sogar vernetzten Arrangements, wie man sie heute in Europa vorfindet. Wenden wir uns nun dem Verständnis von Gesellschaft zu. Die historischen Voraussetzungen für unseren Gesellschaftsbegriff sind das oben beschriebene Staatensystem und die Entstehung von Nationen. Wahrscheinlich hatten die alten Griechen noch kein Wort für Gesellschaft, denn sie kannten nur Stadtstaaten mit etwas Hinterland. Übersetzungen aus dem 20. Jahrhundert von Aristoteles ins Englische schreiben diesem allerdings die Ansicht zu, dass, während sich die Menschen um des bloßen Überlebens willen zusammenscharten, oder um ihre Existenz abzusichern und zu schützen, »good life is the chief aim of society« (1957: 201). Hier, so anachronistisch die Übersetzung sein mag, ist die Gesellschaft tatsächlich ein Projekt. Doch es handelt sich um eine besondere Art von Projekt, es beinhaltet die Zusammenkunft von Menschen. Das englische Wort society für Gesellschaft ist aus dem Lateinischen societas und socius abgeleitet, was Kameradschaft, Gefährte, Freund oder Genosse bedeutet. Gesellschaft beinhaltet also zu einem gewissen Grad die freundschaftliche Zusammenkunft von Menschen. Für Hobbes enthält der Begriff nach wie vor all dies, allerdings muss das Ganze unter Schutz stattfinden, der durch die Stärke des Leviathans, des Staates gewährleistet ist. Denn das Dasein im vorpolitischen Naturzustand ist nicht nur »solitary, poore, nasty, brutish and short«, sondern auch »[with] no […] Industry […] no Culture of the Earth […] no Navigation […] no commodious Building […] no account of Time; no Arts; no Letters, no Society; and which is worst of all, continuall feare, and danger of violent death« (Hobbes [1651] 1996: 89). Für Hobbes ist also die Bildung des Staates das eigentliche und notwendige Projekt für die Regierung von Gesellschaft. Hobbes’ Gesellschaftsvorstellung ist nur ein Beispiel unter vielen für die frühneuzeitliche Vision von Gesellschaft als formeller Übereinkunft, Pakt oder Vertrag, mit anderen Worten als Ergebnis einer politischen Vereinbarung zwischen freien Menschen (üblicherweise Männern) oder »[an] assemblie and consent of many in one«, wie es der Autor von Mirrour of Policie im Jahre 1599 formulierte.5 Spätere Gesellschaftstheorien wie die der schottischen Aufklärung im 18. Jahrhundert (zum Beispiel Adam Ferguson) nehmen eine Trennung von Staat und Gesellschaft vor und brechen in gewisser Weise deren Identität. Allerdings war der Gegensatz zwischen Staat und Zivilgesellschaft immer noch programmatisch. Das lag daran, dass der Staat in den Augen dieser Theoretiker erst daran gewöhnt werden musste, die Autonomie der Zivilgesellschaft zu respektieren und seine Regierungsweise mit dem Wissen über die Prozesse, Gesetze und Entwicklungstendenzen der Zivilgesellschaft abzustimmen. Letztere können sich auf die Herausbildung von Nationen, die Gesetze des Handels, die Ent-

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wicklungstendenzen von Bevölkerungen und die Sitten und Gebräuche von Völkern beziehen. Wenn die Gesellschaft auch gleichsam naturalisiert worden war, so blieb sie doch immer noch Gegenstand liberaler politischer Programme und Regelungen. Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verstand man Gesellschaft mehr und mehr als ein Ganzes oder eine Totalität, die von den Einzelnen, die sie ausmachten, unterschieden war, und innerhalb derer Regierung auch einfach als eine spezifische Ansammlung von Institutionen angesehen werden konnte. Man prägte dafür organische Metaphern, die aus Fortschritten in der Biologie und aus Darwins Evolutionstheorie abgeleitet waren. Gesellschaft wurde sogar zum Objekt einer Wissenschaft, der Soziologie. Viele spätere Theoretiker lehnten sowohl derartige gedankliche Analogien zu natürlichen Vorgängen als auch und sogar die Vorstellung von einer Totalität ab und zogen es vor, ihre Aufmerksamkeit auf Dinge wie gesellschaftliches Handeln, gesellschaftliche Interaktion, gesellschaftliche Institutionen und gesellschaftliche Klassen zu richten. Marxisten wollten zwar die Vorstellung von einer Ganzheit oder Totalität bewahren, verwendeten aber zu deren Umschreibung dann doch Bezeichnungen wie »Produktionsverhältnisse« oder »Klassenbildung«. Von den Fachmeinungen einmal abgesehen hat der Begriff Gesellschaft auch im Alltagsgebrauch überlebt. Hier wie auch in dem eher fachspezifischen Wissen legt das Adjektiv »sozial« oder »gesellschaftlich« eine Qualität von Prozessen nahe, deren Ausgangspunkt in der Gesellschaft vermutet wird, wie das zum Beispiel bei den Begriffen sozialer Inklusion oder Exklusion der Fall ist. Der Begriff der Gesellschaft bewahrt immer noch viele freundliche Konnotationen des Zusammenschlusses von Menschen, wie Geselligkeit und so weiter. Adam Smith ([1759] 2002) sprach von einer grundlegenden »Sympathie« (sympathy) oder einem »Mitgefühl« (fellow-feeling), das Individuen miteinander verbinde. Zwei Jahrhunderte später analysierte Emile Durkheim ([1893] 1988) verschiedene Formen sozialer Solidarität, die sich aus verschiedenen Formen der Arbeitsteilung ergaben. Tatsächlich stand letztere Vorstellung auch Pate für eine politische Lehre zur Regierung der Gesellschaft, der Solidarismus. Wenn man allerdings annimmt, dass es bei Gesellschaft darum geht, Menschen zu gemeinsamer Identifikation oder Bindung zu bringen, muss man auch einräumen, dass dies zu geographischen und anderen Trennlinien zwischen Territorien und Bevölkerungen führt. Konzepte von Gesellschaft enthalten also nicht nur einfach einen räumlichen, sondern auch einen örtlichen Aspekt. Gesellschaften existieren an verschiedenen Orten. Diese Orte können in einer Großstadt, auf nomadischen Wanderrouten liegen, oder durch die Grenzen von Nationalstaaten oder sogar eines Bündnisses oder einer anderen Einteilung mehrerer Staaten definiert sein. Es kann darum gehen, diese Orte gegen ver-

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98 | Mitchell Dean schiedene Gruppen, von illegalen Einwanderern über Rebellen bis hin zu äußeren feindlichen Kräften, zu schützen, abzuschotten und zu verteidigen. Wenn Gesellschaft also Identifikation und Mitgefühl (fellow-feeling) zwischen Freunden oder Bürgern beinhaltet, so beinhaltet er ebenso zumindest das Potenzial für Feindschaft. Diese Feindschaft kann in der Vernichtung von Aufständischen innerhalb einer Gesellschaft bestehen oder in dem Versuch, solche Rebellen wieder mit der bestehenden Ordnung zu versöhnen. Die Geschichte des Kampfes der baskischen Separatisten in Spanien oder der irischen Nationalisten in Nordirland führen uns vor Augen, dass Bürgerkrieg, Aufstände und die Versuche, diese zu überwinden, nach wie vor zum Bild der liberalen europäischen Demokratien gehören. Während der innere Feind entweder zur Aufgabe seiner Feindschaft überredet oder ein für allemal besiegt werden muss, um einen Bürgerkrieg zu verhindern oder zu beenden, zieht der Gesellschaftsgedanke auch eine Abgrenzungslinie nach außen und dämmt so die latente Macht eines externen Feindes ein, der die Sicherheit und den Lebensstil einer bestimmten Gesellschaft bedroht. Im traditionellen Rechtssystem der europäischen Staaten war der Feind der Allgemeinheit der gerechte Feind (iustus hostis), nämlich ein anderer souveräner Staat. In der gegenwärtigen internationalen Ordnung ist der Feind der Allgemeinheit eher jemand, gegen den eine neue Form des gerechten Krieges ausgerufen wurde. Dabei kann es sich um den »Schurkenstaat« handeln, der sich mit, sagen wir, der Produktion von Atomwaffen, außerhalb internationaler Übereinkünfte bewegt, oder an dessen Spitze ein in schwere Menschenrechtsverletzungen verstrickter Diktator steht. Es kann aber auch ein nichtstaatlicher Akteur sein, wie zum Beispiel ein terroristisches Netzwerk, eine internationale kriminelle Organisation, die Menschen und Drogen schmuggelt, oder es können auch nur irgendwelche Piraten sein, egal ob auf dem Meer, in der Industrie oder im Cyberspace. Sogar eine perfekt kosmopolitische Gesellschaft böte ein Angriffsfeld für Feinde, zum Beispiel in Form von politischen Parteien, die versuchen, nationale Identitäten zu bewahren und Nationalstaaten zu errichten (vgl. Beck 2000: 98). Zwar ändert sich die Art und Weise, in der die Linien zwischen Freunden und Feinden gezogen werden, aber wir sollten uns nicht etwa davon verleiten lassen zu glauben, dass solche Linien keinerlei Bedeutung mehr hätten, und dass das Vorhaben, Gesellschaften zu definieren und einzuteilen, keine solchen grundlegenden politischen Konstruktionen enthielte.

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Fazit Die »Regierung von Gesellschaften« beruht also auf diesen zwei Hauptunterscheidungen, zum einen innerhalb des Territorialstaats zwischen Gesellschaft und Staat, zum anderen zwischen dem Staat und seinem Außen, einerlei ob man sich dieses als Staatengeflecht, die internationale Gemeinschaft oder den Hobbes’schen Naturzustand vorstellt. Die erste Unterscheidung führt zu Strategien, die zur Verfolgung bestimmter Ziele ein spezielles Wissen oder Expertentum zu Gebieten heranziehen, die außerhalb der formalen Regierungsinstitutionen, aber innerhalb des Territoriums liegen. Die zweite Unterscheidung führt dazu, dass internationale Instanzen versuchen, auf Teilbereiche bestimmter Staaten oder Gesellschaften Einfluss zu nehmen (wie zum Beispiel die Weltbank mit ihren Kriterien für »bedingte« Kredite); oder auf die gegenseitige Kooperation verschiedener Staaten oder Gesellschaften, zum Beispiel in den erwähnten Bereichen der Strafverfolgung, Sicherheit, Asyl und Einwanderung; und schließlich auf die Aufstellung eines Grundregelkatalogs für das gesamte System von Staaten oder Gesellschaften (wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder deren Vollversammlung). Die Grenzen dieser und zwischen diesen Gesellschaften können sich mit der Zeit durch Kriege, friedlichen Landerwerb oder internationale Abkommen verschieben. Noch grundsätzlicher gedacht ist die Vorstellung von einer statischen, befestigten Grenze lediglich eine unter mehreren historischen Erscheinungsformen des Übergangs zwischen zwei Staaten. Die verschiedenen Grenztypen können Gesellschaften aus unterschiedlichen Gründen mehr oder weniger »durchlässig« machen und entsprechend mehr oder weniger mit anderen Gesellschaften verbinden. Nordkorea zum Beispiel ist in diesem Sinn ein ganzes Stück weniger durchlässig als Dänemark. Während die Menschen auf beiden Seiten der koreanischen Grenze seit dem Koreakrieg voneinander und von ihren Familien getrennt sind, können die Menschen aus dem schwedischen Malmö und Umgebung jeden Tag mit dem Nahverkehrszug zur Arbeit nach Kopenhagen pendeln. Die relevantere Grenze für die Dänen ist womöglich nicht die imaginäre Linie im Öresund, die Dänemark von Schweden trennt, sondern, nach dem Beitritt der baltischen Staaten zur EU im Jahre 2004, deren Ostgrenze mit Russland, oder es sind jene Bereiche des internationalen Flughafens von Kopenhagen, in denen Flüge von außerhalb der EU ankommen. Grenzen können immer noch verteidigt und geschützt werden, aber sie können auch Beziehungen und Zusammenarbeit erleichtern und nützlich sein. In allen Fällen jedoch umreißen sie Territorien und dienen auf unterschiedliche Weise dazu, Innerhalb und Außerhalb zu definieren und verschiedene Arten von Bedrohungen und Problemen zu benennen. Die Gesellschaften, die sie definieren, können intern in unterschiedliche, miteinander konkurrierende Gruppen gespalten sein, die sich am Ende

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100 | Mitchell Dean miteinander im Bürgerkrieg befinden. Sie können auch zusammen mehr oder weniger eindeutige äußere Feinde haben. Seit der frühen europäischen Neuzeit meint die Rede vom Regieren der Gesellschaft das Vorhaben oder Ansinnen, die Aktivitäten innerhalb eines gegebenen Raumes zu kontrollieren, in der Lage zu sein, die Ränder dieses Raumes zu kennen und zu orten und die in diesem Raum lebende Bevölkerung zu bestimmen. Dass dies stets nur ein Anliegen bleiben wird, lässt sich mit der Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Einwanderung vom 15. März 2006 belegen, als dieser einräumte, dass »die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten keine vollständige Kontrolle über ihre Grenzen mehr haben«, weshalb sie »ihre Grenzen sichern müssen« als »grundlegende Aufgabe einer souveränen Nation« und »dringendes Erfordernis unserer nationalen Sicherheit« (Bush 2006). In dieser Rede werden Einwanderungspolitik und Grenzkontrollpolitik in der Hoffnung vermischt, gleichzeitig sowohl die Grenzen als auch die national Zugehörigen kontrollieren zu können. Die Europäische Union ist zweifelsohne ein Spezialfall und passt nicht so einfach zu der hier zusammengefassten politischen Terminologie. Sie ist weder ein einheitlicher Territorialstaat, noch im strengen Sinne eine Föderation aus solchen Staaten. Sie ist aus einer Reihe von Verträgen hervorgegangen und dennoch nicht einfach nur ein Pakt auf dem Papier. Sie unterliegt dem Einfluss der Mitgliedsregierungen, aber ist doch mehr als eine zwischenstaatliche Organisation (vgl. Hirst 2005: 14). Allerdings sieht sie auch weniger nach einem neuen, globalen Projekt oder einem politisch-juristischen Diskurs aus (wie das ius publicum Europeaum) als nach einer nach innen gerichteten Ausnahme, die auf dem Verlangen beruht, die Exzesse territorialer Souveränität im letzten Jahrhundert künftig zu vermeiden und von wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu profitieren. Für große Teile der Welt, insbesondere in Afrika, Zentralasien und für die städtischen Armen in Lateinamerika sind der Territorialstaat und die Regierung der Gesellschaft, die diesen ermöglicht, nach wie vor nur eine vage Hoffnung oder ein entferntes Projekt. Für andere, besonders für die bereits multikulturellen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten, Kanadas und Australiens ist das europäische Projekt schlicht uninteressant. Für wieder andere, von China über Russland bis hin zu Israel, überragen Grenzen, die souveräne Autonomie innerhalb derselben sowie das Recht, diese mit jedem als notwendig erachteten Mittel zu verteidigen, immer noch jede Geschichte der Entstehung einer kosmopolitischen Demokratie oder einer vielschichtigen Regierungsgewalt auf diesem Planeten an Bedeutung. Wenn man als einstiger Globalisierungsbefürworter dies im Licht von Israels Bombardierung des Libanon im Sommer 2006 als Reaktion auf die Guerillaaktivitäten der Hisbollah betrachtet, dann wird dieser Krieg »um die elementarsten Fundamente der internationalen Ordnung geführt – um Grenzen und Souveränität –, und die Erosion dieser Fundamente würde

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Unheil über die Lebensqualität auf dem gesamten Erdball verbreiten« (Friedman 2006). Diese Vorstellung der Regierung von Gesellschaften wird wieder aktuell angesichts der beachtlichen Anstrengungen in Vergangenheit und Gegenwart, die in die Kontrolle und Verteidigung von Grenzen, die Durchsetzung von Souveränität, die Definition von Bevölkerungen und die Kultivierung ihrer besonderen Merkmale gesteckt wurden und werden. Nachdem viele Elemente dieser Politik nach wie vor relevant sind, ließe sich fragen, wie diese Vorstellung der Regierung von Gesellschaften so in Verruf kommen konnte. In dieser Hinsicht muss das kritische europäische Denken zu einem globalen Ansatz zurückfinden, der in der Lage ist, die eigenen politischen Strukturen als exzeptionell anzusehen, und der sich vielleicht letztlich auch auf den Erfolg der einzelnen Territorialstaatsprojekte stützt. Wenn Foucaults Vorlesungen die Gewissheit über das ewige Fortbestehen des Staates in Frage zu stellen suchten, dann müssen wir jetzt gegen die Gewissheit eines Liberalismus angehen, der sich so unangefochten fühlt, dass er unter den grauen Wolken des globalen, kosmopolitischen Regierens gerade Staat und Gesellschaft im großen Tsunami der Globalisierung untergehen lässt. Übersetzung aus dem Australischen von Andreas Kiendl

Anmerkungen 1 | Dieses Kapitel beruht auf dem ersten Kapitel von Governing Societies. Political Perspectives on Domestic and International Rule (Open University Press, 2007). 2 | Die Heranziehung von Schmitts Ausführungen über die Entstehungsbedingungen des souveränen Staates im Europa der frühen Neuzeit innerhalb eines eurozentrischen, global gültigen, überstaatlichen Rechtsgefüges bedeutet in keiner Weise die unkritische Akzeptanz weder seiner Geschichte des Völkerrechts oder der politischen Mythologie, die ihr oft zugrunde gelegt wird, noch, und das sollte kaum der Erwähnung bedürfen, der abstoßenden politischen und moralischen Entscheidungen, die er während seiner ganzen Karriere traf. Zum Thema seiner politischen Weltordnungsmythologie verweise ich auf Dean (2006b), für eine Kritik des von Schmitt inspirierten Verständnisses vom zeitgenössischen Krieg als Polizeiaktion auf Dean (2006a). 3 | Dieses und verschiedene andere Zitate in diesem Abschnitt lassen sich in den Einträgen der Onlineversion des Oxford English Dictionary (OED) für »government«, »govern«, »governing« und »society« unter der Webadresse http://dictio nary. oed.com finden. Benthams Satz steht im Eintrag zu »government«. 4 | Im Eintrag des OED (Online) für »govern« als Verb. 5 | Im Eintrag des OED (Online) für »society« als Substantiv.

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II. Gouvernementalität zwischen Souveränität und Biopolitik

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Die Regierung der Menschheit. Gouvernementalität und Bio-Souveränität Anne Caldwell

Humanitäre oder Menschenrechtskomplexe (HRC*) sind heute ein globales Phänomen. Diese Komplexe setzen sich aus verschiedenen Akteuren zusammen, die sowohl auf umweltbedingte als auch auf politische Krisen reagieren. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit politischen Krisen. Im begrifflichen Umfeld von Krisen, Notstand oder Ausnahmezustand verortet sind diese Komplexe zum festen Bestandteil der Weltpolitik geworden. Als solche führen sie neue Formen von Autorität ein, die sich an neue politische Subjekte richtet. Die permanente Anwesenheit solcher Organisationen und ihr Einsatz für Bevölkerungen über Staatsgrenzen hinweg zeugt von einer neuen, globalen Verfassung der Menschheit, die sich eher über das Kriterium des Menschseins als über Staatsbürgerschaft definiert. Diese Menschenrechtskomplexe beziehen ganz unterschiedliche Kräfte ein, sogar Staaten, internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), und sie arbeiten mit widersprüchlichen Methoden: Der wachsende Einfluss der Menschenrechte wird oft als Zeichen dafür gesehen, dass ein modernes Staatswesen, das auf seiner Souveränität besteht, von einer globalen Ordnung abgelöst wird, die sich am Wohl der Menschen orientiert. Da humanitäre Interventionen jedoch zum großen Teil von Staaten durchgeführt werden, dehnen HRC staatlichen Einfluss auch aus. Sie erzeugen überdies sogar neue Formen von Souveränität, beispielsweise geteilte Souveränität, eine Art internationaler Treuhandverwaltung, Protektorate und internationale Souveränität. Unterschiedliche Arten von HRC erzielen zuweilen auch gegenläufige Wirkungen, etwa wenn sie

* | Anm. d. Übersetzers: HRC (pl.) Abk. für den englischen Terminus »Human Rights Complexes«.

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108 | Anne Caldwell Kriegsparteien unterstützen oder wenn sie in Bürger- beziehungsweise internationalen Kriegen einseitig Partei ergreifen. Foucaults Bemühungen um eine Analyse von Regierung, die nicht auf staatliche Souveränität ausgerichtet ist, erweisen sich für die Untersuchung von HRC als hilfreich. Indem seine Arbeiten das Augenmerk auf die Art und Weise legen, in der Leben fördernde Maßnahmen neue Formen der Unterwerfung hervorrufen, eignen sie sich auch für ein Verständnis, wie HRC neue Formen der Herrschaft erzeugen. Zugleich beschränkt Foucaults Misstrauen gegenüber staatlicher und juridischer Macht aber auch die Möglichkeit, deren Rolle in gegenwärtigen HRC konzeptuell einzuholen. Umfassender lässt sich die gegenwärtige Bedeutung souveräner Macht und die neue rechtliche Weltordnung verstehen, wenn man auf die Arbeiten von Giorgio Agamben zurückgreift. Agamben begreift seine eigene Untersuchung der Beziehung zwischen Leben und Macht als Versuch, Foucaults Forschungen weiterzuentwickeln (vgl. 2002: 15f.). Seine Konzeption einer explizit biopolitischen Souveränität und seine Einsicht, dass die Entwicklung des Rechts eher durch die Ausnahme als durch liberale Prinzipien bestimmt ist, bieten uns weitere Schlüssel zum Verständnis der HRC in der Gegenwart.

I. Humanitäre und Menschenrechtskomplexe Im 20. Jahrhundert haben sich, getrieben von der Sorge um humanitäre Belange und Menschenrechte, neue, weltweit aktive, politische Zusammenschlüsse gebildet, die sich im weitesten Sinne unter den Begriff der Menschenrechtskomplexe (HRC) fassen lassen. Seit Ende des Kalten Krieges sind sie besonders einflussreich geworden. Ihre Ziele, Taktiken und ihr Einsatzfeld bringen die Begriffe der modernen, internationalen Ordnung durcheinander, seien es der Nationalstaat als Hauptform innerstaatlicher Autorität oder der Staat als zentrale Einheit in internationalen Beziehungen. Der vom Westfälischen Frieden verkörperte Weltordnungsgedanke und das mit ihm verknüpfte, weltweite Geflecht internationalen Rechts verlieren an Bedeutung. In der Folge widersetzen sich zeitgenössische Formen von Souveränität einer allgemeinen Definition angesichts eines sich wandelnden internationalen Rechts, eines Machtgefälles zwischen Staaten, neuer Formen von Souveränität und humanitärem Aktivismus seitens nicht-staatlicher Akteure. Als eine Folge dieser fortgesetzten Veränderungen treten neue Formen von Souveränität in Erscheinung. Sie umfassen mobile Arten von Souveränität (Pandolfi 2003), geteilte Souveränität (Krasner 2004) und Neo-Treuhänderschaft (Fearon/Laitin 2004). Für diese sich neu herausbildenden Souveränitäten existiert kein einziges Modell, und die Gesetze oder Mandate, auf deren Basis sie ausgeübt werden, kommen häufig spontan zustande

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und haben einen unsicheren Rechtsstatus. Manchmal liegt ein UN-Mandat vor (Beispiel Bosnien), manchmal ein regionales, aber kein internationales, wie beim NATO-Einsatz im Kosovo. Manchmal gibt es überhaupt kein formelles, internationales Mandat (Beispiel Irak). Es kommen auch Formen geteilter Souveränität vor zwischen internationalen Organisationen, regionalen Organisationen und Staaten vor Ort wie in den Fällen Bosnien oder Kosovo (Krasner 2004). Oder es gibt die faktische Ausübung direkter internationaler Kontrolle durch die UN wie in Osttimor (vgl. Mégrét/ Hoffmann 2003: 329). Diese Fälle sind ebenfalls beispielhaft für Formen mobiler Souveränität. Dabei verbindet sich lokale Autorität mit der anderer Staaten oder internationaler Organisationen zu einer de-territorialisierten Souveränität, die um den ganzen Erdball wandern kann, um jeweils neue Krisenherde zu bewältigen (vgl. Pandolfi 2003: 369f.). Die Anwesenheit von NGOs verkompliziert diese Konstellationen zusätzlich. NGOs haben keinen formellen Regierungsstatus. Deshalb können sie nicht als autorisierte Regierungseinheiten tätig werden. Dieser Mangel an offizieller Legitimation verstärkt den Eindruck, dass NGOs im Interesse einer übergeordneten Menschheit anstatt einer parteiischen Gruppe oder eines Staates handeln. Gleichwohl legt die regelmäßige Präsenz von NGOs in HRC nahe, dass diese zu den neuen globalen Souveränitätsmächten zählen. Schließlich übernehmen sie als nachgeordnete Vertragspartner Aufgaben für Regierungen und internationale Organisationen (Dillon/Reid 2000), oder sie mischen auf diplomatischem Parkett mit und beraten Regierungen bei Verträgen und in zwischenstaatlichen Beziehungen (vgl. Pandolfi 2003: 372). Und indem sie Flüchtlingsgruppen elementaren Schutz und Versorgung bieten, übernehmen sie Aufgaben, für die einst Staaten zuständig waren. Die Flüchtlingslager, die eine zentrale Aufgabe von HRC bilden und in denen NGOs als Hauptakteure tätig sind, geben ein besonders verwickeltes Bild von Zuständigkeiten ab. Das internationale Recht überträgt den Regierungen der betroffenen Staaten die Verantwortung für die Flüchtlingssicherheit. Dennoch hat das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) häufig die vorrangige Hoheit über die Lager, und im konkreten Lageralltag geben Mitglieder von NGOs den Ton an. NGOs spielen auch eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen humanitärer Militäreinsätze, indem sie für den Einsatz der Weltgemeinschaft appellieren (vgl. Hardt/ Negri 2002: 50f.). Diese neuen Gebilde verfügen, verglichen mit der modernen Souveränität, über mehrere bemerkenswerte Eigenschaften. Das Prinzip der territorialen Unverletzlichkeit wird nun regelmäßig verletzt. Da es jedoch häufig durch andere Staaten verletzt wird, deutet dieser Umstand nicht auf einen Bedeutungsverlust staatlicher Souveränität als solcher hin. Während Foucault die Herausbildung der modernen europäischen Souveränität noch als erfolgreich bezeichnen konnte, weil sie im Verhältnis zur Heterogenität der gemischten Feudalsysteme ein einheitliches Recht hervorge-

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110 | Anne Caldwell bracht hatte (2004: Vorl. 11; vgl. [1976] 1977: 107ff.), gibt es heutzutage keine klare, souveräne Instanz, die über neue Formen der Autorität entscheiden könnte. Auch die moderne Formel, jeder Staat sei nur für seine eigene, nationale Bevölkerung zuständig, unterliegt gerade einem radikalen Wandel. Moderne Staaten betrachteten die Menschenrechte als Bestandteil ihrer nationalen, staatsbürgerlichen Rechte und als durch diese geschützt. Inzwischen sind die UN, regionale Organisationen, Staatenbündnisse und NGOs dabei, die Definitionsmacht über den Status von Menschenrechten und Regierungsverantwortung zu erlangen. Regionale und globale Organisationen übernehmen so in zunehmendem Maß die Verantwortung für den Schutz und die Versorgung der weltweiten Bevölkerung, also der Menschheit insgesamt. Es gibt gute Gründe, diesen Veränderungen mit Vorsicht zu begegnen. Neue Formen von Souveränität in Verbindung mit HRC ziehen auch neue Formen globaler Macht und Herrschaft nach sich bei gleichzeitig kaum ausgebildeten Kontrollmechanismen. Man kann bei HRC auch auf überraschende Allianzen treffen zwischen NGOs, die sich für Menschrechte einsetzen, und Staaten, deren Engagement weniger klar ist. Während sich ältere humanitäre Institutionen wie das Rote Kreuz noch zur Überparteilichkeit verpflichtet hatten, vertreten jüngere NGOs offener politische Standpunkte und ergreifen Partei (Chandler 2001). Gegenwärtige HRC vermengen also gebräuchliche Vorstellungen vom modernen Staat und von globaler Ordnung und fordern die »klassisch liberalen Unterscheidungen zwischen öffentlich und privat, zivil und militärisch, national und international, Wissenschaft und Wirtschaft, sowie Wissen und Macht« heraus (Dillon/Reid 2000).

II.

Die Regierung der Menschheit

Foucaults Perspektive auf Bio-Macht und sein Anliegen, die Analyse von Regierungstechnologien nicht auf Souveränität zu konzentrieren, liefern uns nützliches Handwerkszeug für die Untersuchung der neuen Formen globaler Macht, welche die HRC verkörpern. Das offenkundigste und erklärteste Ziel von HRC ist es, Leben zu schützen und zu fördern. Ohne die Veränderungen, die Foucault als Bedingungen für das Entstehen von Bio-Macht ansieht, wäre modernes humanitäres Engagement kaum denkbar. Foucault erklärt die Entstehung von Bio-Macht als ein Resultat von Veränderungen in der Ernährungslage und der Gesundheitsversorgung, die bewirkten, dass die »Tatsache des Lebens […] nicht mehr der unzugängliche Unterbau« war. Im Ergebnis konnte die Macht sich auf »Lebewesen« beziehen,

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Die Regierung der Menschheit | 111 »deren Erfassung sich auf dem Niveau des Lebens halten muß. […] so müßte man von ›Bio-Politik‹ sprechen, um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens zu bezeichnen.« (Foucault [1976] 1977: 170)

Die grundlegendste Voraussetzung weltweiter humanitärer Einsätze liegt in dieser Beziehung zwischen Leben und Macht. Ohne die Einbeziehung des Lebens ins politische Kalkül und ohne die Fähigkeit der Politik, Veränderungen in den grundlegendsten Lebensbedingungen herbeizuführen, wären humanitäre Maßnahmen in großem Maßstab nicht möglich. In seiner eigenen Forschung bezog Foucault den Begriff der Gouvernementalität in erster Linie auf die nationalstaatliche Ebene. Doch auch innerhalb einer staatlichen Ordnung spielt globale Biopolitik eine Rolle. Wie Dean (1999: 106) feststellt, »gibt es einen Bereich, in dem sich die Ausübung von Souveränität und die Herausbildung einer Kunst des Regierens wechselseitig bedingen – nämlich in den internationalen Beziehungen. […] Auf der einen Seite ist die Existenz formell unabhängiger, souveräner Staaten eine Voraussetzung, um jene geopolitischen Räume zu erschließen, in denen sich die Kunst des Regierens von Bevölkerungen überhaupt erst entfalten kann. Auf der anderen Seite sind ein System supranationaler Abkommen und die Zuordnung von Bevölkerungen zu Staaten notwendige Bedingungen für die Existenz einer Welt, die sich aus diesen souveränen Staaten zusammensetzt.«

Internationale Institutionen wie die UNO und ihre Unterbehörden wie z.B. die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geben ebenfalls Aufschluss über die Wirkungsweise von Gouvernementalität auf der Ebene der Weltbevölkerung. Einige der offensichtlichsten Formen globaler Gouvernementalität treten bei der Beobachtung und Regulierung von Infektionskrankheiten in Erscheinung. Das Ziel solcher Beobachtungen besteht darin, auf die Entwicklung spezifischer Bevölkerungsgruppen auf der Welt zum Zwecke der Krankheitskontrolle Einfluss zu nehmen. Wie Pandolfi (2003: 374) anmerkt: »Politik ist nicht länger Geopolitik, und Macht beschränkt sich nicht mehr darauf, Subjekte innerhalb realer und institutioneller Staatsgrenzen oder im Niemandsland internationaler Beziehungen zu beherrschen.« Obwohl also Foucault das Konzept der Gouvernementalität in erster Linie mit Blick auf Bevölkerungen von Staaten entwickelte, kann es ohne weiteres auch auf die Analyse weltweiter Bevölkerungsregulierung ausgedehnt werden. Tatsächlich geht einer der unmittelbarsten Wege, humanitäre Komplexe zu definieren, über deren Bemühungen, weltweit Bevölkerungen zu regulieren. Gegenstand ist die Menschheit als Ganzes, weniger sind es Individuen oder Staaten. Im Einklang mit Foucaults Bestimmung von Gouvernementalität als

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112 | Anne Caldwell das Bemühen, menschliches Verhalten zu lenken, suchen HRC mit verschiedenen Taktiken, die von diplomatischem Druck über Sanktionen bis hin zu Militärinterventionen reichen, das Verhalten derjenigen Kräfte zu verändern, die Einfluss auf die jeweilige Bevölkerung haben. HRC setzen ein spezifisches Problem mit Hilfe gezielter Strategien, bestimmter Formen von Wissen und bestimmten Akteuren auf die Agenda. In der Arbeit von NGOs erscheinen, unabhängig von deren jeweiligen Beweggründen, nicht-westliche Regierungen abwechselnd als korrupt, inkompetent, schwach oder irrational, jedenfalls als unfähig, ihr Land selbst zu regieren (Chandler 2001). NGOs unterstützen daher nicht selten das Aufstellen von Bedingungen für Hilfeleistungen, in der Hoffnung, schlecht funktionierende Regierungen derart zu mobilisieren, dass sie selbst besseren Zugang zur Bevölkerung erhalten. Hieraus ergeben sich taktische Allianzen mit Staaten, die den Staaten des Südens mit Hilfe des IWF in seiner Eigenschaft als Teil des Washingtoner Abkommens, das den Interessen des Kapitals dient, Bedingungen auferlegen. Internationale Gouvernementalität gerät auf diese Weise in Übereinstimmung mit neoliberaler Rationalität, und die Akteure spalten sich in diejenigen, die zu rationaler, autonomer Herrschaft fähig sind, und diejenigen, die – selbst unfähig zu solch rationalem Verhalten – der Eingriffe von außen und entsprechender Nachhilfe bedürfen. HRC stellen auch die Bevölkerungen, um die sie sich kümmern, ihrerseits als passiv, überfordert und viktimisiert dar. Die Sprache des Rechts, die HRC bemühen, hebt den Begriff der Menschenwürde hervor, die Schutz und Respekt verdiene. Doch die Dynamik, die die Hilfeleistung entwickelt, kann auch das Gegenteil bewirken. Aufgrund ihrer Hilfsbedürftigkeit werden Bevölkerungen kurzerhand als unfähig abgestempelt, Hilfe erscheint als Almosen (vgl. Harrell-Bond 2002: 56). Die Hilfsabhängigen selbst verfügen kaum über Autonomie (Chandler 2001). Und weil Hilfsorganisationen ihre Unterstützungsarbeit durchführen müssen, um ihre Legitimität zu behalten, haben sie womöglich wenig Anreiz, Flüchtlingen selbst die Verwaltung und Verteilung der für sie bestimmten Hilfsgüter zu übertragen (vgl. Harrell-Bond 2002: 57). Die von HRC versorgten Menschen werden im Gegenzug auf ihren Körper, auf Bevölkerungen und ihre biologischen Bedürfnisse reduziert. »Solch ununterscheidbare, entwurzelte und festgesetzte Körper werden gemäß der diagnostischen Kategorien humanitärer Arbeit als Flüchtlinge, als legale oder illegale Einwanderer oder auch als traumatisierte Opfer klassifiziert und definiert.« (Pandolfi 2003: 374) Sie »werden zu einer ›Population‹, die gezählt, ethnisch bestimmt und katalogisiert werden muss« (ebd.: 376). Diese zugewiesenen Identitäten resultieren aus den Verfahren der Unterstützung, die ein Wissen über die betreffende Bevölkerungsgruppe erfordern, damit sowohl in angemessener Weise Hilfe geleistet als auch Spenderinteressen befriedigt werden können. Wie Harrell-Bond anmerkt,

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verstehen HRC sich eher ihren Spendern gegenüber rechenschaftspflichtig und richten auf diese ihr Hauptaugenmerk anstatt auf ihre Schützlinge (vgl. 2002: 53). Die Abhängigkeit von NGOs und UN-Missionen von Spendengeldern bestärkt häufig noch die Tendenz, Menschengruppen als Opfer darzustellen. Die Spendenbereitschaft und die Hilfsorganisationen selbst aufrechtzuerhalten, beruht darauf, »die Flüchtlinge als hilflose Wesen, die verzweifelt auf internationale Hilfe hoffen, zu porträtieren. NGOs und internationale Organisationen haben insofern auch finanzielle Beweggründe, die Empfänger ihrer Unterstützung als hilflose Opfer darzustellen. Ein solches Bild verstärkt den Eindruck, Hilfe von außen sei unbedingt erforderlich. Auch das Verhalten der Helfer ist hiervon bestimmt, denn deren eigene Interessen werden bedient, indem die Flüchtlinge als hilflos und verletzlich pathologisiert, medikalisiert und stigmatisiert werden.« (Harrell-Bond 2002: 57)

So werden Flüchtlinge häufig als kindlich oder unselbständig beschrieben (vgl. ebd.: 60), was ihre Autonomie beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit weiter untergräbt, einmal einflussreiche Positionen einzunehmen und sich in den Auffanggebieten selbst zu verwalten. Indem Staaten der Dritten Welt oder des Südens als irrational und inkompetent und die zugehörige Bevölkerung als überfordert und traumatisiert hingestellt werden, erscheinen die westlichen Staaten, NGOs, Spender und Journalisten als heroische Retter. Ihre Rolle erlangt insofern zusätzlich an Bedeutung, als die weltweite Not die eigenen Ressourcen der NGOs und internationaler Organisationen sowie die Mittel, die Staaten aufzuwenden bereit sind, übersteigt. Folglich erlangen NGOs, UN-Einrichtungen und die Journalisten mit ihrem Einfluss, die Aufmerksamkeit der Welt zu lenken, auch die Macht »zu entscheiden, wer Hilfe verdient« (Harrell-Bond 2002: 68). Diese Beziehungen und die Identitäten, die sie hervorbringen, sorgen für die der Menschenrechtsfrage innewohnende Vertracktheit. Während HRC sich allumfassend an die Menschheit richten, deren allgemeine Rechte vielleicht als Grundlage der rechtlichen Ausstattung erscheinen, die die Bürger in gut funktionierenden Staaten genießen, dienen die Menschenrechte in der Praxis vor allem als Rückzugsposition. Sie werden erst reklamiert, wenn andere Formen von Schutz, insbesondere durch Staaten, nicht greifen. Insofern tragen HRC, die der Kategorie des »Menschseins« scheinbar den höchsten Stellenwert einräumen, tatsächlich dazu bei, das »Menschsein« als eine nachrangige Identität festzuschreiben. Zumindest insoweit erscheinen HRC als ein Beispiel für Gouvernementalität. Sie nutzen verschiedene Methoden einschließlich Gesetzen und Rechten, um die Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Territorium zu ordnen (Foucault 2004: Vorl. 4). Tatsächlich können uns die Machtspiele innerhalb von HRC dabei helfen, die Unterschiede zwischen

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114 | Anne Caldwell Foucaults Konzeption von souveräner Macht und Gouvernementalität zu klären. Wie uns Victor Tadros vor Augen führt, liegt der Unterschied zwischen Souveränität und Biopolitik nicht im bloßen Vorhandensein von Recht, sondern in dessen Status. In einer souveränen Machtordnung besteht der Zweck des Rechts darin, akzeptable und nicht akzeptable Handlungen zu definieren. »Was Foucault als ›das Juridische‹ bezeichnet, ist nicht gleichbedeutend mit gesetzgeberischer Macht. Der Ausdruck beschreibt jede Form von Macht, die eine bestimmte Art von Handlung durch die Drohung mit rechtlichen oder sozialen Sanktionen zu verhindern sucht« (Tadros 1998: 78). Anders als die juristische Unterscheidung zwischen erlaubt und verboten nehmen normative und biopolitische Formen der Macht ein Kontinuum von Handlungen in den Blick. Dieses weist kein Außen auf, kein Äußeres und keine klare Abgrenzung gegenüber Übertretungen. Bei HRC funktioniert das Recht als Disziplinierungstaktik. Rechtliche Verhältnisse rund um die Welt werden von Staaten, internationalen Organisationen und NGOs überwacht. Diese Institutionen klassifizieren dann die betreffenden Staaten je nach Performance. Solche Rangfolgen bieten einen Maßstab für unterschiedliche Formen der Intervention – von diplomatischem oder öffentlichem Druck über Sanktionen bis hin zu militärischen Interventionen. Als ein Bestandteil von HRC sind militärische Interventionen am meisten erklärungsbedürftig. Militäreinsätze, die die Zerstörung von Leben beinhalten, sind sehr merkwürdige Aspiranten für das Etikett »humanitär«. Die durch HRC entstandenen Identitäten in Verbindung mit dem Ende des Kalten Krieges helfen jedoch, diese Entwicklung zu erklären. Denn seit dem Kalten Krieg haben sich NGOs immer offener politische Ziele gesteckt. Waren die westlichen Staaten einst parteiisch in Stellvertreterkriegen, so können sie sich jetzt selbst als unparteiische, globale Vermittler begreifen. Mehr noch als ihr eigener Status verstärkt die Darstellung eines der Selbstverwaltung und der Reaktion auf bereits vorhandene Krisen unfähigen Südens eine globale Asymmetrie zwischen allgemein erfolgreichen Staaten und gescheiterten Staaten. Einzig dass die mächtigen Nationen sich als neutrale Weltpolizisten präsentieren, erlaubt ihnen den Einsatz des Militärs im Dienste der Menschheit anstatt für politische Ziele. Genau diese, regelmäßig von NGOs und Intellektuellen befürworteten humanitären Einsätze mit militärischen Mitteln drücken den gegenwärtigen Widerspruch aus: die Bereitwilligkeit nichtstaatlicher Akteure, im Namen der Menschlichkeit den Einsatz von Gewalt zu befürworten. Das Spannungsverhältnis zwischen lebenserhaltenden und lebensbedrohenden Maßnahmen wird durch die Struktur von HRC noch intensiviert. Auf verschiedene Weise kann die Gewährleistung rein humanitärer Hilfe ohne militärische Unterstützung humanitäre Krisen noch verlängern oder verschärfen und die für solche Krisen verantwortlichen Kräfte sogar noch stärken. Wo sie der Unterstützung von Zivilisten ausschließlich einer Seite

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dient, kann humanitäre Hilfe je nachdem mal Rebellen und mal Regierungen legitimieren. Sie kann Kombattanten auch direkt Rückhalt geben, indem sie »sichere Häfen« einrichtet, in denen Konfliktparteien Unterstützung für sich und ihre Anhänger finden. Im schlimmsten Falle alimentieren diese humanitären Oasen dann Gruppen, die ihrerseits jede Form von Menschlichkeit mit Füßen treten, wie im Falle der ruandischen Flüchtlingslager in Zaire. Foucault war sich solcher Entwicklungsdynamiken überaus bewusst, indem er beobachtete, in welcher Weise die moderne Macht auf die Sicherung des Lebens bedacht war und dabei zugleich eine Zerstörung von Leben bewirkte. Ihm fiel auch eine umgekehrte Logik auf: Phänomene, die eine bestimmte Wirkung erzielen sollen, tragen als Nebeneffekt auch das Gegenteil in sich. Das Paradebeispiel für solche Phänomene ist bei Foucault die Art und Weise, in der moderne Forderungen nach mehr individuellen Rechten und Freiheiten als Anknüpfungspunkte für die Ausweitung staatlicher Macht dienen. »Es ist gleichsam, wie wenn von einem bestimmten Zeitpunkt an jedes entscheidende politische Ereignis ein doppeltes Gesicht angenommen hätte: Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich frei zu machen gedachten, eine neues und noch furchterregenderes Fundament.« (Agamben 2002: 129)

Prozesse mit ähnlicher Dynamik laufen heute auf globaler Ebene ab. Genau die Praktiken, welche die Menschenrechte gegenüber staatlicher Macht auszuweiten scheinen, legitimieren auch neue Formen transnationaler Herrschaft (vgl. Pandolfi 2003: 371). Foucaults Forschung beschränkte sich allerdings größtenteils auf die nationalstaatliche Ebene. Dieser Rahmen erklärt auch seine Neigung, souveräne Macht und Bio-Macht einander gegenüberzustellen. Seine Analyse des Nationalsozialismus, welche die Verknüpfung der blutigen Natur der Souveränitätsmacht mit Biopolitik thematisiert (vgl. Foucault [1976] 1977: 178), veranschaulicht diese Einschätzung. Während Foucault also im Großen und Ganzen Biopolitik als einen logischen Widerpart souveräner Macht, diese verdrängend, darstellt, greift ausgerechnet seine Erklärung für die extremsten Auswirkungen von Biopolitik auf eine archaische und nationalstaatliche Souveränitätslogik zurück. In ähnlicher Weise leitet er die Ziele von Regierung aus dem völligen Verschwinden aller Träume vom Römischen Reich und aus der Entstehung des modernen europäischen Staates ab. »Politik hat es fortan mit einer nicht zu reduzierenden Vielzahl von Staaten zu tun, die miteinander in einer begrenzten Geschichte gegeneinander kämpfen oder miteinander konkurrieren.« (Foucault [1984] 2005: 1006) In einer nach-westfälischen Ord-

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116 | Anne Caldwell nung fällt es indes schwerer, biopolitische Gewalt zu erklären. Der relevante Horizont sind nicht konkurrierende Staaten, sondern wechselseitig aufeinander angewiesene Staaten, die sich an eine allgemeine Menschheit richten. Foucault ([1997] 1999: Vorl. vom 17. März 1976) zeigte jedoch auch die zerstörerische Wirkung von Biopolitik innerhalb einer gegebenen Bevölkerung auf, etwa als die Identifizierung und Kontrolle der Kranken, Schwachen oder als abnorm Eingestuften um der Verbesserung der allgemeinen Gesundheitslage willen erlaubt war. Ähnliche Dynamiken wirken auch auf globaler Ebene bei transnationalen Formen von Autorität, die sich mit der gesamten Gattung der Menschheit befassen; oder bei Problemen der Gesundheit. Ebenso tauchen sie in neuer Form bei militärischen humanitären Interventionen auf. Hier gilt dann die Tötung bestimmter Individuen oder von Teilen der Bevölkerung als Verbesserung oder Schutz des Wohlergehens der Menschheit als Ganzer. Derartige Zusammenhänge werden sichtbar bei der Verfolgung von Milosevic, Hussein oder Bin Laden, oder beim Versuch, die Taliban zu vernichten. Jedes Mal wurden tödliche Massenbombardements mit der Begründung angeordnet, das Wohl der Menschheit als Ganzer zu fördern. Während also vieles von Foucaults Analyse der inneren Widersprüche von Biopolitik auf der nationalstaatlichen Ebene angesiedelt ist, treten diese durchaus ebenso in globalem Maßstab auf. Andere Aspekte von HRC erklärt Foucault weniger genau. Wie Mitchell Dean (vgl. 2004: 26) bemerkt, konnte Foucault die modernen Paradoxien besser beschreiben als ihre Ursachen erklären. Gerade warum Biopolitik so destruktive Auswirkungen haben sollte, bleibt unklar. Selbst wenn man Foucaults Beschreibungen der Souveränität in den biopolitischen Rahmen von Gouvernementalität stellt, eignen sie sich nicht zur Erklärung jener neuen Formen, die sich nicht auf geschriebenes Recht zurückführen lassen, sondern neue Identitäten erzeugen und unmittelbar biopolitisch sind. Dagegen helfen uns Agambens Analysen der Souveränität und Biopolitik dabei, den globalen Dimensionen von HRC auf die Spur zu kommen. Darüber hinaus erlaubt uns seine Definition von Souveränität als Ausnahme zu begreifen, wie biopolitische Praktiken neue Formen von Weltrecht schaffen können.

III.

Bio-Souveränität und Ausnahmezustand

Einer der eher verblüffenden und faszinierenden Aspekte von HRC und der »ethisch« ausgerichteten Außenpolitik der beteiligten Staaten, ist die Entstehung neuer und verschiedener Formen von Souveränität. Auch wenn die Souveränität mancher Staaten eingeschränkt wird, weitet sich die anderer Staaten doch aus. Durch solche Interventionen, einschließlich de-

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rer durch die UN und durch transnationale Allianzen zwischen NGOs, den UN, regionalen Organisationen und Staaten, werden völlig neue Formen von Souveränität erzeugt. Sie alle weichen erheblich vom modernen Souveränitätsbegriff als einem Prinzip der Nichteinmischung und unantastbarer territorialer Autorität ab. Diese neuen Formen der Souveränität sind auch mit den HRC verflochten, denn humanitäre Anliegen oder der Schutz der Menschenrechte rechtfertigen mittlerweile auch globale politische Aktionen. Neue Formen von Souveränität richten sich mit anderen Worten ihrerseits an die Menschheit anstatt an nationale Bevölkerungen, die an ihren eigenen individuellen Staat gebunden sind. Die Arbeiten von Giorgio Agamben bieten ein Souveränitätskonzept, das in der Lage ist, entstehende Formen von Autorität jenseits des staatlichen Rahmens zu begreifen. Zudem helfen uns seine Arbeiten dabei, gegenwärtige HRC zu verstehen, indem sie Souveränität als biopolitisch (vgl. Agamben 2002: 16) und durch den Ausnahmezustand bestimmt definieren. Entgegen liberalen und vertragsorientierten Vorstellungen von Souveränität entwickelt Agamben ein Konzept von Souveränität als Ausnahmezustand. Westliche Theoretiker der Souveränität haben den Ausnahmezustand lange als autoritär und willkürlich zurückgewiesen. Im Gegensatz dazu betrachtet Agamben den Ausnahmezustand als eine spezifische politische Rationalität und zeigt, dass dieser zu einer regulären Taktik westlicher Regierungen geworden ist, zu einem Paradigma von Herrschaft. Noch radikaler zeigt er, dass die Rechtsordnung sich vom Ausnahmezustand her gestaltet. Auf seiner einfachsten Einsatzebene dient der Ausnahmezustand seit der französischen Revolution als eine spezifische Taktik, um mit Situationen umzugehen, die nicht ohne weiteres vom geltenden Recht abgedeckt sind. »Die Geschichte des Belagerungszustands ist die Geschichte seiner fortschreitenden Emanzipation von der Kriegssituation, an die er ursprünglich gebunden war, und seiner zunehmenden Inanspruchnahme als außergewöhnliche Polizeimaßnahme bei inneren Unruhen und Aufständen, wodurch aus einem tatsächlichen (d.h. militärischen) ein fiktiver (d.h. politischer) Belagerungszustand wurde.« (Agamben 2004: 11f.)

Agamben legt die verschiedenen Mechanismen, mit Hilfe derer der Ausnahmezustand ausgerufen wird (formelle Erklärung, Berichte ans Parlament, Regierungsdekret), sowie die verschiedenen Zwecke dar, für die er genutzt werden kann (Wirtschaftskrisen, Kriege). Das nationalsozialistische Deutschland macht hier einen wesentlichen Teil der Diskussion aus. Foucault definierte den Nationalsozialismus als eine entsetzliche, hybride Mischung, in der sich blutige Elemente souveräner Macht mit der Produktivität von Bio-Macht verbanden. Agamben wie-

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118 | Anne Caldwell derum hebt die rechtlichen Methoden des Nationalsozialismus hervor, die er als alarmierende Erscheinungsform der Macht begreift. In Anbetracht der Außerkraftsetzung von Teilen der Weimarer Verfassung vertritt er die Ansicht, »dass man das Dritte Reich vom juristischen Standpunkt aus als Ausnahmezustand betrachten kann, der sich zwölf Jahre lang hinzog.« (Agamben 2004: 8) Und dieser Gebrauch des Ausnahmezustands »erweist sich […] in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens.« Er ist »von einer ausnahmsweise ergriffenen provisorischen Maßnahme zu einer Technik des Regierens« geworden (ebd.: 9). Es geht hier jedoch nicht nur um eine Taktik. In Weiterentwicklung von Schmitts Analyse argumentiert Agamben, der Ausnahmezustand strukturiere sogar die Rechtsordnung: »In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Problem seiner Definition betrifft genau die Schwelle oder eine Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern sich un-bestimmen [s’indeterminano].« (2004: 33) Denn nur der Kontrast zwischen Ausnahme und Norm erlaubt die Unterscheidung zwischen einem Rechtssystem und seiner Abwesenheit. Allerdings existieren, wie Agamben weiter ausführt, keine solch klaren Unterscheidungen. Denn insofern der Souverän die Macht hat, die Ordnung außer Kraft zu setzen, steht er, Schmitt zufolge, »zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung« (zit.n. Agamben 2002: 25). Auch eine Außerkraftsetzung des Rechts bleibt in Beziehung zur Rechtsordnung. Dieses Modell von Souveränität steht im Kontrast zur Souveränität, wie sie Foucault auf Grundlage seiner Lektüre der liberalen Vertragstheorie beschreibt. Souveränität per Ausnahme ist eine produktive Kraft. Der Wirkungsbereich dieser Kraft bleibt bei Agamben jedoch unklar. Seine spezifischen Analysen zur Ausnahme beziehen sich in Ausnahmezustand (Agamben 2004) auf nationales Recht. Auch in Homo sacer (Agamben 2002) taucht bei der Beschreibung von Souveränität als der Macht, Grenzen durch Festlegung externer und interner Räume zu setzen, kein ausdrücklicher Hinweis auf den geopolitischen Raum auf. Das Bild von einer Souveränität, die das Drinnen und Draußen jeder beliebigen Grenzlinie durchkreuzt, suggeriert, Souveränität könne niemals allein auf nationale Herrschaft beschränkt sein. Der Raum der Unbestimmtheit, der souveräne Macht kennzeichnet, muss sich aber zwangsläufig mit dem einer anderen Gemeinschaft oder dem internationalen Raum überschneiden, in dem unterschiedliche politische Gruppierungen interagieren. Diese Überschneidungen eröffnen einen Raum, in dem Souveränität nicht länger im Territorium eines Nationalstaats oder auch nur in einer politischen Gemeinschaft verankert sein kann. Gleichzeitig sieht Agamben die Struktur des modernen Staates bereits zusammenbrechen und bringt das zunehmende Auftauchen von Ausnah-

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mezuständen in Verbindung mit diesen Vorgängen. Er behauptet, dass Souveränität in der Vergangenheit vor allem auf die Frage hinauslief, wer innerhalb einer spezifischen Ordnung Macht besaß. Anschließend grenzt er die Gegenwart von dieser Ordnung ab: »Heute, da die großen staatlichen Strukturen in einen Prozess der Auflösung geraten sind und der Notstand – wie das Walter Benjamin vorausahnte – zur Regel geworden ist, wird es Zeit, das Problem der Grenzen und der originären Struktur der Staatlichkeit erneut und in einer neuen Perspektive aufzuwerfen.« (Agamben 2002: 22)

Diese unstete und unbestimmte Macht kommt den neuen und gemischten Formen von Souveränität nahe, die keine innere Bindung zu bestimmten Territorien oder Völkern aufweisen. Anders als moderne staatliche Souveränität bewegt sich die von Agamben beschriebene Souveränität auf globaler Ebene und kann den Anspruch erheben, die Menschheit insgesamt zu regulieren. Aber dieser letztere Zusammenhang lässt sich nicht untersuchen, ohne verstanden zu haben, in welcher Beziehung die von Agamben beschriebene Souveränität zum Leben steht. Wie bereits angeführt wurde, sind die gegenwärtigen globalen Souveränitäten eng mit der globalen Bedeutung, die dem Wohl der Menschheit beigemessen wird, verbunden. Einer der von Foucault genannten Gründe dafür, »dem König den Kopf abzuschlagen« und die Macht zu studieren, ohne Souveränität als deren Ursprung anzusehen, war sein Eindruck, dass sich mit den Kategorien des Rechts und der Staatsbürgerschaft keine Formen von Macht erfassen ließen, die sich direkt auf das Leben bezogen. Agambens Konzeption von Souveränität als Ausnahmezustand widerlegt diese Annahme. Agamben skizziert eine unmittelbar biopolitische Souveränität und merkt dazu an, dass sein juristischer Zugang zum Ausnahmezustand sich auf eine substantielle Grundlage stützt: das nackte Leben. Er bezeichnet die Schaffung des biopolitischen Körpers außerdem als den ersten Akt der Souveränität (vgl. 2002: 36) und zieht eine Reihe von Quellen heran, um Souveränität und Leben direkt miteinander zu verbinden. Die wichtigste Quelle für das Verständnis von HRC einerseits und von seinem Anknüpfungspunkt an Foucaults Konzepte von Souveränität und Bio-Souveränität andererseits ist Agambens Interpretation von Schmitt. Dieser argumentiert, dass eine stabile Situation als Voraussetzung für die Existenz des Rechts geschaffen werden müsse. Dies sei Aufgabe der souveränen Macht, die nicht in erster Linie dazu da sei, den Willen der einzelnen Vertragssubjekte zu bündeln. »Der Souverän entscheidet nicht über das Zulässige und das Unzulässige, sondern über die ursprüngliche Einbeziehung des Lebewesens in die Sphäre des Rechts« (ebd.). In diesem Sinne ist Souveränität stets Bio-Souveränität. Gegenstand der souveränen Ausnahme, die Ordnung herstellt, ist das nackte Leben. Mit diesem Leben ist weder das natürliche Leben außerhalb

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120 | Anne Caldwell des politischen Lebens, noch das politische Leben der Staatsbürger gemeint, sondern der Unterschied zwischen beiden: das Leben, dessen Status einer souveränen Entscheidung unterworfen ist. Agamben bezeichnet dieses Leben als Homo sacer. Dieser lateinische Begriff bezieht sich auf einen Menschen, der durch das Recht außerhalb des Rechts gestellt wurde: jemand, der straflos getötet werden darf ohne geopfert zu werden. Das nackte Leben entspricht mit anderen Worten genau jener Unbestimmtheit eines Rechts, das zugleich ein- und ausschließt. Als ein reines Objekt staatlicher Macht geht das nackte Leben der Kategorie der Staatsbürgerschaft voraus und begründet das Verhältnis des Staates zum Leben. Wie man anhand der Ausführungen Agambens zur Rolle des Ausnahmezustands in der Rechtsordnung nachvollziehen kann, findet das Recht im Falle des Ausnahmezustandes insofern weiter Anwendung, als es darüber entscheidet, was unter die normale Ordnung und das Recht fällt. Deshalb beschreibt Agamben den Ausnahmezustand als die Etablierung eines Verhältnisses der Preisgabe von Leben. Diese der Ausnahme Unterworfenen sind »nicht nur dem Geltungsbereich des Rechts entzogen, durch dieses selbst ausgegrenzt und ohne Verbindung zu ihm, sondern dem Recht auch in seinem Rückzug ausgeliefert. Diese Beziehung zwischen Ausnahme und Verlassenheit bedeutet, dass es unmöglich ist, klar zu sagen, ob sich der Verbannte jeweils innerhalb oder außerhalb der Rechtsordnung befindet.« (Mills 2004: 45)

Da das nackte Leben Hauptgegenstand der souveränen Macht ist, sind alle diesem Status unterworfen. Die Tatsache, dass einige in alle Rechte und Sicherheiten einer bestimmten Ordnung einbezogen sind, spiegelt nach wie vor die Rolle des nackten Lebens als Objekt politischer Macht wider. Denn auch der Schutz und das Wohlergehen einiger hängen mehr von einer souveränen Entscheidung ab, denn ein ureigener Bestandteil des Lebens selbst zu sein. Das Konzept des nackten Lebens ist vielfach bemüht worden, um damit die Wirkung der amerikanischen Praxis des Ausnahmezustands zu beschreiben (Butler 2004; Pease 2003). Agamben selbst zieht diese Verbindungslinie (vgl. 2004: 9f.). Wie aber seine Analyse der langjährigen Praxis des Ausnahmezustands nahelegt, ist diese kein einzigartiges Kennzeichen der Bush-Administration. Wer zur Beschreibung der Situation von Gefangenen den Begriff des nackten Lebens heranzieht, hebt auf die Wirkung ab, die Staaten durch die Aufhebung grundlegender Bürgerrechte herbeiführen. Diese Interpretation geht von einer scharfen Unterscheidung aus zwischen dem, was innerhalb und was außerhalb des Rechts, und zwischen dem, was im Interesse des Staates und was im Interesse der Menschen-

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rechte liegt. Agamben präsentiert hierzu eine komplexere und anspruchsvollere Argumentation. Wenn das Recht bereits die Struktur der Ausnahme hat und das nackte Leben sein Gegenstand ist, so kann keine einfache Linie gezogen werden zwischen den Akten, die sich innerhalb oder außerhalb des Rechts bewegen, ebenso wenig zwischen einem mit allen Rechten ausgestatteten Staatsbürger und einem Leben ohne solche Rechte. Die Konzepte Bio-Souveränität und nacktes Leben verdrängen die Elemente moderner Politik, die Foucault noch im Blick hatte. Neu aufkommende Formen der Souveränität sind nicht mehr notwendig an ein bestimmtes Gebiet oder eine bestimmte Bevölkerung gebunden. Bio-Souveränität ergänzt und erweitert in dieser Hinsicht unsere Analyse von HRC als Form von Gouvernementalität. Durch die Neudefinition von Souveränität als Bio-Souveränität können wir von manchen begrifflichen Verwirrungen absehen, die sich ergeben, wenn man sich die verschiedenen Beschreibungen Foucaults von den Eigenarten der Souveränität und der Biopolitik vornimmt. Im Wesentlichen funktioniert das um die Menschenrechte herum organisierte Regime der Gouvernementalität wie eine Form von Bio-Souveränität, bei der Teile souveräner Macht auf verschiedene Akteure verteilt werden. Bio-Souveränität trägt darüber hinaus insofern zu unserem Verständnis von HRC bei, als es auch hier um den Status des Lebens geht. Das Regime der Regulierung der Menschheit ist in dieser Hinsicht problematischer als die Perspektive, die Foucault mit den verschiedenen, jeweils im Spannungsverhältnis zueinander stehenden Machttypen wie Souveränität und Biopolitik anbietet. Agambens Arbeiten ebenso wie die Eigendynamiken der HRC zeigen, dass juristische oder souveräne Macht immer schon biopolitisch sind. Agambens Ausführungen zum Ausnahmezustand bringen überdies noch einen weiteren Aspekt von HRC zur Geltung: die Rolle der Ausnahme bei der Herstellung von Recht auf der Basis von Biopolitik. Denn HRC verändern das Verhältnis zwischen juridischer Macht und Bio-Macht. Agamben stuft juridische Macht als produktiv ein, als verantwortlich für die Vereinnahmung und Regulierung des Lebens noch vor jeder Etablierung einer regulären Rechtsordnung. Diese produktive Dynamik tritt in den neuen Formen von Souveränität zu Tage, deren erste Aufgabe darin besteht, Leben zu regulieren, um so die grundlegende Stabilität zu schaffen, die für die Herrschaft des Rechts notwendig ist. Dies ist eine Hauptaufgabe des militärischen Humanitarismus, wie in Fällen wie dem Irak offenkundig wird. Auch bei HRC entwickelt sich der Status des Rechts häufig aus der Ausnahme heraus. Während Foucault zwar anerkennt, dass Gesetze im Rahmen von Gouvernementalität taktische Funktionen haben können, richtet er sein Augenmerk jedoch weniger auf die Eigendynamiken der Rechtsordnung selbst. Doch HRC schaffen aktiv neue Formen einer globa-

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122 | Anne Caldwell len Rechtsordnung. Die Rolle der Ausnahme ist im internationalen Recht sogar noch bedeutsamer als auf nationaler Ebene. Handlungsweisen, die als Ausnahme von existierendem internationalen Recht vollzogen werden, erlangen als neue Norm oder zumindest als Teil des Gewohnheitsrechts Akzeptanz, sofern nicht gegen sie protestiert wird. Diese Ausnahmen, die im Kontext humanitärer Fragen auftreten und unter Hinweis auf die Umstände der Notstandssituation gerechtfertigt werden, haben das Potenzial, zur Rechtsnorm zu werden, insbesondere wenn ein Recht der Intervention beansprucht wird. Auf internationaler Ebene funktioniert das Recht, wie von Foucault skizziert, entsprechend der Eigendynamik der Norm, und ein solches Recht wirkt nicht mehr in Beziehung zu einem über es selbst hinausgehenden Außen, sondern zieht eine kontinuierliche Linie, die alle Vorkommnisse in Beziehung zu sich selbst setzt. Die HRC tragen heute zur Entwicklung einer globalen Rechtsordnung bei, die unmittelbar biopolitisch und an das nackte Leben gebunden ist. Die Implikationen dieser Ordnung sind ambivalenter als der Optimismus, der sich mit der Aufwertung des Menschenrechtsdiskurses verbindet. Das Konzept der Gouvernementalität zeigt, wie NGOs, internationale Organisationen und Staaten sich zusammenschließen, um neue Formen weltweiter Autorität und Regulierung zu schaffen. Agamben führt unsere Analyse noch weiter mit seiner These, dass souveräne Macht und humanitäre Organisationen denselben Gegenstand haben, nämlich das nackte Leben: »Letztlich können humanitäre Organisationen, die heute mehr und mehr zu den übernationalen Organen aufrücken, das menschliche Leben jedoch nur in der Figur des nackten Lebens oder heiligen Lebens erfassen und unterhalten deshalb gegen ihre Absicht eine geheime Solidarität mit den Kräften, die sie bekämpfen sollten.« (2002: 142)

Diese Beschreibung passt zu unserer vorherigen Analyse der Art und Weise, in der staatliche und nicht-staatliche Akteure im Rahmen der HRC ähnliche Ziele verfolgen. Der gemeinsame Gegenstand des nackten Lebens macht das Wirken von HRC besonders ambivalent. Die bio-souveräne Macht, über den Status von Leben zu entscheiden, wird von den verschiedenen Akteuren der HRC ausgeübt, die insofern mehr bewirken, als lediglich bestimmte Identitäten zu konstituieren. Sie haben die Macht, über den Status von Leben zu entscheiden. Die Menschen, auf die sich die HRC beziehen, sehen sich daher denselben Eventualitäten ausgesetzt wie bei traditionelleren Herrschaftsformen. Während humanitäre Organisationen wie auch Abhandlungen zum Thema Menschenrechte das Wohl und die Menschenwürde als ihr Ziel definieren, zeugen ihre Praktiken von einem ambivalenteren Verhältnis. Wie Malkki beobachtet, weisen humanitäre Interventionen ein standardisiertes Verfah-

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rensmuster auf, das die jeweiligen Schützlinge ihrer Stimme, ihres Umfeldes und ihrer Geschichte beraubt. Die gängige Konzentration auf Unmengen von Körpern und »elementarste menschliche Bedürfnisse« erweckt die Vorstellung von »Flüchtlingen als bloße Menschheit – ja sogar als bloße biologische oder demographische Erscheinung« (Malkki 1996: 390). Hier zeigt sich die Relevanz von Agambens Unterscheidung zwischen natürlichem Leben und nacktem Leben, denn nacktes Leben ist nicht natürliches Leben. Es weist auf eine politische Beziehung und Entscheidung hin. HRC kümmern sich um ein Leben, das bereits von politischen Praktiken geprägt ist. Sie definieren und gestalten dieses dann durch neue politische Entscheidungen und Maßnahmen. Humanitäre Maßnahmen erzeugen also nacktes Leben in ziemlich derselben Art und Weise wie Bio-Souveränität. Walter Benjamins Kritik des Rechts, die eine der Quellen für Agambens Konzept des nackten Lebens ist, erweist sich auch im Hinblick auf humanitäre Maßnahmen als einschlägig. Benjamin verurteilt das Recht, weil es das Leben eher zu einem Instrument seiner eigenen Macht degradiert, denn als Instrument zum Wohle des Lebens zu dienen (vgl. [1921] 1965: 60). Worin auch immer die individuellen Motivationen für humanitäres Engagement bestehen mögen, ihre standardisierten Verfahren verwandeln jedenfalls das Leben, um dessen Wohl es eigentlich gehen soll, in eine Grundlage und ein Werkzeug ihrer eigenen Macht. Mehrere Beispiele weisen auf diesen Punkt hin. Gerade die Professionalisierung im Umgang mit globalen Krisen erzeugt eine Dynamik an »sozialer Versorgung, die auf ihre Nachfrage wartet. Und wenn es keine Nachfrage gibt, tendiert man dazu, sie zu schaffen« (Laidi, zit.n. Pandolfi 2003: 380). In den verschiedenen Arten globaler Krisen zeigt sich dieser Druck in unterschiedlicher Weise. In einigen Fällen agieren bewegliche Souveränitäten über einen längeren Zeitraum hinweg. In Bosnien zum Beispiel bleibt die Weltgemeinschaft mehr als zehn Jahre nach der formellen Beendigung des Krieges durch den Vertrag von Dayton immer noch vor Ort aktiv. Andere Bespiele belegen die kurze Einsatzdauer solch mobiler Souveränitätsträger. Im Fall von Albanien und Kosovo waren Journalisten, Offizielle und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bereits auf dem Sprung, sobald der Krieg beendet war. »Das Ende des Krieges und die massenhafte Rückkehr von Kosovaren führte zur Unterdrückung des ›Notstands‹ in Albanien, der in wenigen Tagen dem ›befreiten‹ Gebiet des Kosovo weichen musste. Die Folge war, dass die in Albanien aktiven NGOs und internationalen Hilfsorganisationen ihre Tätigkeit vor Ort einstellten, ihre albanischen Angestellten entließen und noch ungenutztes Material zurückließen, das der örtliche Zoll noch nicht einmal freigegeben hatte. Die Notsituation hatte sich anderswohin verlagert, und im und für den Kosovo mussten neue Projekte, eine neue Logistik und neue Verwaltungsapparate aufgebaut werden. Drei Jahre

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124 | Anne Caldwell später wurden Projekte, die im Kosovo während des ersten Jahres nach dem Krieg finanziert worden waren, wegen ausgelaufener ›Nothilfemittel‹ auf Eis gelegt.« (Pandolfi 2003: 379)

Im Anschluss an den Völkermord in Ruanda ignorierte das Interesse der internationalen Gemeinschaft an der Repatriierung von Flüchtlingen sowohl deren Sorge um ihre eigene Sicherheit, als auch Hinweise auf die fortgesetzte Gewalt in Ruanda. Die Sorgen der Flüchtlinge wurden dargestellt als »ein Symptom ihrer hysterischen, abergläubischen, überdramatisierenden Mentalität. Nicht erwähnt wurde aber, dass Gewalt […] in der Region häufig vorgekommen ist […] angesichts ihres Widerstands wurden seit 1994 viele Taktiken und Argumente vorgebracht, um die Flüchtlinge zu überreden und zu beschwichtigen. UN-Vertreter gaben vor Ort verschiedentlich Stellungnahmen ab, in denen sie die Sicherheit der Rückkehrer trotz der Tatsache beschworen, dass die Vereinten Nationen nicht über eine angemessene Anzahl mobiler Beobachter vor Ort in Ruanda verfügten und auch sonst keinen brauchbaren Weg kannten, um herauszufinden, was aus denen geworden war, die tatsächlich zurückgekehrt waren.« (Ebd.: 395)

In allen solchen Fällen wird die Beziehung zwischen Bio-Souveränität und nacktem Leben virulent. Wie diese Analyse zeigt, sorgen die etablierten Handlungsmuster von HRC eher für eine Zementierung dieser Entwicklungsdynamiken, anstatt ihnen entgegenzuwirken. Globale humanitäre Zusammenschlüsse sorgen für die Sicherung ihrer eigenen Existenz. Foucaults Perspektive der Gouvernementalität erweist sich hier nochmals als nützlich. Denn jedes gouvernementale Regime legt »Formen der Intervention [fest]. Eine politische Rationalität ist also kein reines, neutrales Wissen, das die Regierungswirklichkeit einfach nur ›re-präsentiert‹, sondern stellt immer schon eine intellektuelle Bearbeitung der Realität dar, an der politische Technologien ansetzen können. Darunter sind Apparate, Verfahren, Institutionen, Rechtsformen etc. zu verstehen, die es erlauben sollen, die Objekte und Subjekte einer politischen Rationalität entsprechend zu regieren.« (Lemke 2001: 191)

Solche Regime etablieren Wahrnehmungsmuster und Praktiken, die sie in ihren Objekten wieder vorfinden. Die Einzigartigkeit des Lebens und der Umstände, auf die sie sich beziehen, geht damit verloren. Während unterschiedliche Individuen und Gruppierungen heutzutage nach Formen globaler Politik suchen, welche die Freiheit, Einzigartigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten aller Individuen verbessern würden, arbeiten die bestehenden Regime, die Leben, Macht und Aktivitäten aneinander gebunden haben, solchen Alternativen entgegen. Das Verständnis der Funktionsweisen der gegenwärtigen globalen Regime, die sich mit huma-

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nitären und Menschenrechtsfragen befassen, ist eine erste Voraussetzung dafür, neue Formen globaler Vorgehensweisen zu schaffen, die tatsächlich auf die Einzigartigkeit und das Wohl der vielfältigen Mitglieder der globalen Menschheit bedacht sind. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andreas Kiendl

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Regierung und Exklusion. Zur Konzeption des Politischen im Feld der Gouvernementalität Susanne Krasmann/Sven Opitz

Studien zur Gouvernementalität im Anschluss an Foucault haben sichtbar machen können, wie Macht sich nicht nur repressiv über Zwang und Gewalt, Verbot und Unterdrückung durchsetzt, sondern mit Wissensformen und Wahrheitsansprüchen operiert, die individuelle Erfahrungsweisen und Selbstkonzepte erst konstituieren. So sind Formen der Selbstverwirklichung und sozialer Teilhabe integraler Bestandteil der Macht, auch wenn sie darin freilich nicht aufgehen. Entsprechend gehört es zur Leistung der Gouvernementalitätsstudien, jene Prozesse aufzuzeigen, in denen eine derartige Mitwirkung erzeugt wird. Gleichzeitig sind jedoch widerstreitende Momente innerhalb von gouvernementalen Formationen ebenso wie Formen der Widerständigkeit seltsam unbeleuchtet geblieben. Darüber hinaus gewinnt man den Eindruck, der Fokus auf die Produktivität der Macht habe zuweilen deren Liaison mit destruktiv-gewaltsamen Spielarten aus dem Blick geraten lassen. Deshalb wird in dem vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen, inwiefern derartige weiße Flecken auf die theoretische Konzeption der Gouvernementalität selbst zurückzuführen sind. Zu diesem Zweck möchten wir das Theoriegerüst der Gouvernementalitätsstudien in einem ersten Schritt mit dem begrifflichen Dual von Inklusion und Exklusion konfrontieren, wie es in der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu finden ist. Nicht eine Theorievermengung wird dabei angestrebt, sondern vielmehr eine Irritation und Öffnung des gouvernementalitätsanalytischen Registers. Ein solches Manöver erlaubt es, im zweiten Abschnitt zu untersuchen, wie im Zeichen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken Praktiken der sozialen Ein- und Ausschließung die Schwelle bereiten, an der die (neo)liberale Gouvernement die Chance der Illiberalität ergreift. Zugleich

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128 | Susanne Krasmann/Sven Opitz ist es das Ziel der Argumentation, einem Denken des Politischen stattzugeben, das jenes Ausgeschlossene theoretisch einholen kann und damit eine gewisse Hermetik des Denkens der Gouvernementalität aufbricht. Letzteres soll Gegenstand des dritten Abschnitts sein.

I. Exklusion bei Michel Foucault und Niklas Luhmann Ein Blick in die Publikationslisten einschlägiger Verlage und Zeitschriften führt recht schnell zu der begründeten Feststellung, dass der Exklusionsbegriff seit den 1990er Jahren zur sozialwissenschaftlichen Leitkategorie avanciert ist. Dies gilt mindestens in zweifacher Hinsicht. Zum einen hat er in der quantitativen Forschung Konzepte wie »Ungleichheit« oder »Armut« überformt, ein Vorgang, der nicht zuletzt durch die Fördergeldvergabe der EU beeinflusst wurde (Steinert 2003). Zum anderen fungiert der Exklusionsbegriff über unterschiedlichste soziale Bereiche hinweg als privilegierte Chiffre der Zeitdiagnostik. So besteht Einigkeit darüber, dass im Zuge der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen die Ausweitung einer »Zone der Verwundbarkeit« stattgefunden habe und somit eine Erhöhung des Exklusionsrisikos für breite Teile der Bevölkerung zu konstatieren sei (Castel 2000; Bude 2004). Gleichzeitig erkennt die Kriminologie in der stillen Abkehr vom Ideal der Integration bei Straftätern und dem deutlichen Anstieg der Gefängnisinsassen weltweit eine Entwicklung hin zur »exclusive society« (Young 1999). Die Stadtsoziologie schließlich diagnostiziert verstärkt Formen räumlicher Ausschließung, sei es im Fall von gated communities, repressiver Innenstadtpolitiken oder Formen der Ghettoisierung (vgl. Bauman 2003: 117ff.; Wacquant 2004). Martin Kronauers (2002: 9) Fazit bezüglich der begrifflich-diskursiven Konjunktur in den Sozialwissenschaften erscheint daher alles andere als überzogen: »Die soziale Frage in Europa hat einen neuen Namen: Exklusion.« Trotz einiger Versuche, den Begriff der Exklusion als Angelpunkt einer Theoriebildung »mittlerer Reichweite« zu wählen (Jordan 1996; Kronauer 2002), findet sich eine überzeugende gesellschaftstheoretische Ausarbeitung der Kategorie ausgerechnet dort, wo sie vor 15 Jahren noch am wenigsten vermutet worden wäre: in der Systemtheorie.1 Hier beschreibt man mit differenztheoretisch geschultem Blick Exklusion als die Außenseite der Form »Inklusion«. Dabei bezieht sich Inklusion auf die Art und Weise, in der Menschen im Kommunikationszusammenhang als relevant erachtet – das heißt: bezeichnet – und somit als Personen behandelt werden. Dem Formbegriff entsprechend ist Exklusion umgekehrt aufzufassen als »ein Begriff für das, was fehlt, wenn Inklusion nicht zustande kommt« (Luhmann 1995c: 239). Insofern Inklusion die »Chance der Berücksichtigung von Personen« (Luhmann 1997: 620) anzeigt, bedeutet Exklusion, dass die Chance zur Kommunikation verweigert wird. Der Grund: Die be-

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treffende Person wird nicht als mitwirkungsrelevant ausgewiesen und tritt daher genau genommen gar nicht als Person in Erscheinung. Diese knappe Bestimmung bedarf der ebenso knappen Erläuterung, um ihre Vorteile hervortreten zu lassen. Erstens kann präzise angegeben werden, was ausgeschlossen wird, nämlich die Möglichkeit, als relevante Person aufzutreten. Hier ist es wichtig, die strikt soziale Verfasstheit von Personen zu beachten. Luhmann beschreibt Personen als »Identifikationen« (1995b: 146) beziehungsweise »Identitätsmarken« (1997: 620). Sie kondensieren im Vollzug sinnhafter Verweisungen auf in der Umwelt mitlebende Menschen, mit dem Ergebnis, dass die Person als kommunikative Struktur im System limitiert, welches Verhalten jeweils erwartbar ist. Zweitens erhält man zugleich eine Antwort auf die Frage, woraus die Exklusion erfolgt, nämlich aus sozialen Systemen. Allerdings kann der Ausschluss nicht länger nach dem eher trivialen, von der Begriffssemantik nahe gelegten Modell eines substanziellen Transfers von innen nach außen gedacht werden. Keine Person verlässt ein System, da sie selbst ein Produkt systemischer Rekursionen ist und deshalb von systemischem Kontext zu systemischem Kontext ihre Form ändert. Drittens erfasst die Systemtheorie die immer wieder behauptete Multidimensionalität des Phänomens. Indem sie ein Register unterschiedlicher Systemtypen (Gesellschaft, Organisation, Interaktion) vorlegt und diese gemäß der Theorie funktionaler Differenzierung arrangiert, gelingt es ihr äußerst exakt, die Vieldimensionalität als Systemrelativität zu konkretisieren. Viertens können auf dieser Grundlage die Verlaufsformen in ihrer Komplexität nachgezeichnet werden, ohne von einem determinierenden Zentrum der Exklusion ausgehen zu müssen. Das Schema von Inklusion/Exklusion verweist im deutlichen Kontrast zum Konzept der sozialen Lage auf einen Prozess des unter Umständen kumulativen »Verschiebens« der personellen Relevanz: »Jede Inklusion führt den Schatten der Exklusion mit sich, jede Exklusion inkludiert zugleich in andere soziale Kontexte.« (Fuchs 2004: 130) Das bedeutet fünftens, dass eine Elaborierung der durch die Exklusionssemantik aufgerufenen Verhältnisse von innen und außen möglich wird. Der Ausschluss erfolgt nicht einfach in eine Welt jenseits der Gesellschaft, sondern ist als gesellschaftsinterner Ausschluss zu begreifen, weil das umfassende Kommunikationssystem nur über eine interne Grenze verfügt. Die Unterscheidung von Inklusion/Exklusion tritt auf ihrer Innenseite wieder ein, denn im Ablauf spezifischer Kommunikationen wird bei Exklusion systemintern die Möglichkeit ausgeschlossen, als Person kommunikativ in Erscheinung zu treten. Der Extrempunkt der Exklusion wäre aus systemtheoretischer Sicht dann erreicht, wenn nach der Tilgung jeglicher Personalität nur noch ein a-sozialer Körper übrig bleibt (vgl. Luhmann 1995a: 147ff.).2 Im Abgleich mit der diskursiven Konjunktur rund um das Thema der Exklusion fällt jedoch auf, dass die governmentality studies angesichts dieser Kategorie bisher eigentümlich stumm geblieben sind. Weder nimmt der

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130 | Susanne Krasmann/Sven Opitz Exklusionsbegriff in spezifischen Analysen eine prominente Stellung ein, noch war er bisher Gegenstand theoretischer Erörterungen. Eine naheliegende Erklärung für diese Leerstelle könnte darin bestehen, dass Foucault selbst die Ausschließung als Merkmal einer längst überwundenen Machtform identifiziert hat. Das historische Modell bildet für ihn der Umgang mit der Lepra: Insofern die Exklusionsoperation eine rigorose Zweiteilung produziert, auf deren Grundlage die Aussetzung in eine undifferenzierte äußere Finsternis jenseits der städtischen Mauern erfolgt, konzentriert sich die Macht auf die repressive Sicherung dieser einen, territorial bestimmten Grenze (vgl. Foucault [1975] 1976: 254ff.; [1999] 2003: 63ff.). In der Tat transportiert der Exklusionsbegriff in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Debatte zumindest implizit ähnliche Vorstellungswelten. Während aber die souveräne Macht bis ins 17. Jahrhundert als derart exkludierende Macht angemessen beschrieben ist, verfehlt ein solches Verständnis Foucault zufolge die Funktionsweisen der Disziplinar- wie auch der Regierungsmacht. Denn beide eröffnen ein Feld der Sichtbarkeit, das Subjekte erst in spezifischen Relationen hervortreten lässt, statt sie in die Unsichtbarkeit zu verbannen. Die Historisierung einer spezifischen Modalität der Ausschließung führt ihn zu der Konzeption einer Macht ohne Außen, die in ihrer Reichweite mit dem Sozialen deckungsgleich gesetzt wird. Macht erscheint als absoluter Immanenzzusammenhang, was in den governmentality studies den Kurzschluss zu einem radikal inklusionistischen Forschungsparadigma offenbar begünstigt. Damit jedoch läuft eine an Foucault orientierte Analytik strukturell Gefahr, gegenüber Ereignissen der Exklusion blind zu werden. Stellt man das Problem in dieser Form, ergeben sich Fragen: Besteht die Alternative tatsächlich zwischen dem Festhalten an einem historischen Exklusionsmodus einerseits und der vollständigen Tilgung des Begriffs andererseits? Oder ist nicht eine Verwendung der Kategorie denkbar, ohne eine historische Form der Exklusion unausgesprochen zu universalisieren? Dieser Fährte gilt es nun zu folgen, indem die zuvor umrissene systemtheoretische Skizze als Resonanzboden für eine Neubestimmung des Exklusionsbegriffs im Feld der governmentality studies dienen soll. Methodisch geht es dabei allerdings nicht darum, reibungslose Anschlüsse zwischen heterogenen Theorievokabularen zu behaupten. Die Metapher der Resonanz verweist vielmehr auf das Ziel, ein Zusammentreffen zu inszenieren, aus dem beide Seiten verändert hervorgehen. Sowohl Luhmann als auch Foucault sind Theoretiker der Emergenz. Sie beschreiben gesellschaftliche Zusammenhänge nicht als feststehend, sondern als produziert und in Produktion begriffen. Im Gegensatz zu Luhmann analysiert Foucault die Emergenz sozialer Formen ausgehend von historischen Strategien der Macht, wobei die Machtbeziehungen für den Analytiker dort erfassbar werden, wo sie Techno-logien bilden und auf diese Weise materielle Wirkungen entfalten. Foucault selbst unterscheidet drei

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strategische Ordnungen der Macht: die Souveränität, die Disziplin und die Regierung durch Sicherheitsdispositive. Alle drei Machtformen eröffnen epistemische Räume, in denen sie sich vollziehen. Sie konstituieren ihren Gegenstandsbereich, konzipieren Verfahren zu dessen Bearbeitung und legen entsprechende Beurteilungskriterien fest. Letztlich ist es somit die Topographie des Sozialen, deren Genese unter dem Gesichtspunkt der Macht hervortritt. Daraus folgt, dass diese Topographie den Referenzbereich in Bezug auf Prozesse der sozialen Inklusion und Exklusion ausbildet. Wenn also Foucault die Disziplinarmacht und die Regierungsmacht in ihrer Inklusivität behandelt, lädt Luhmanns differenztheoretischer Fokus zu der Untersuchung ein, welche Arten der Exklusivität sie gleichzeitig mit sich führen. Die Disziplin wäre demnach auch lesbar als Modus der Exklusion, der über Einschluss operiert. Von einer ausschließenden Einschließung lässt sich sinnvoll sprechen, insofern man Luhmann darin folgt, dass Exklusion immer gesellschaftsinterner Ausschluss und damit gesellschaftlich konditionierter Ausschluss ist. Beide Momente können auf dem Weg einer Relektüre Foucaults konkretisiert werden. Zum einen erzwingt die Disziplin, wie sie sich etwa im Gefängnis oder der Psychiatrie aktualisiert, den Ausschluss aus zentralen gesellschaftlichen Bereichen; die Möglichkeiten, etwa in Wirtschaft, Recht oder Liebe als mitwirkungsrelevante Person zu erscheinen, sind jeweils deutlich eingeschränkt. Selbst innerhalb der Disziplinarinstitution findet eine Reduktion der Person auf ihre bloße Adressabilität statt: Der Insasse »ist Objekt einer Information, niemals Subjekt einer Kommunikation« (Foucault [1975] 1976: 257). Die Disziplin ist daher eine Innovation der Festsetzung von Körpern und zugleich eine Ökonomie der Macht, die eine spezifische Regulierung sozialer Grenzen instituiert. Historisch tritt sie das erste Mal dort exkludierend auf den Plan, wo sie das gefährliche Individuum in der Form des Anormalen identifiziert (vgl. Foucault [1999] 2003: 51, 82). Ausschluss fällt also nicht einfach an den Grenzen der Systeme an, sondern die Passage zwischen Ein- und Ausschluss wird sozial bearbeitet. Das bedeutet zum anderen, dass das lakonische Diktum der Systemtheorie, Exklusion sei Inklusion in andere Kontexte, näher bestimmbar ist. Im Licht des Macht/Wissens kehrt der disziplinäre Ausschluss nämlich die Sichtbarkeit um. Die Platzierung des Einzelnen in einem Überwachungsdispositiv hat zur Folge, dass »das Kind mehr individualisiert [wird] als der Erwachsene, der Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsinnige und der Delinquent mehr als der Normale« (ebd.: 248). Das Außen des Ausschlusses befindet sich im tiefen Inneren einer Machtmechanik, die quer zu den Systemtypen Luhmanns operiert. Foucaults Arbeiten demonstrieren, wie Diskurse und Praktiken ein Außen im Verhältnis zu anderen Diskursformationen herausbilden. Der Ausschluss erfolgt somit nicht einfach in einen Bereich des Nicht-Sprachlichen, sondern verbleibt im Feld des sozial-technologischen Zugriffs (vgl. Engel 2002: 108).3

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132 | Susanne Krasmann/Sven Opitz Umgekehrt kann die Gegenblende der Systemtheorie davor bewahren, die disziplinäre Einschließung inklusionistisch umzudeuten. Denn im Licht der meisten Organisations- und Funktionssysteme verwandelt sich die Sichtbarkeit der Eingeschlossenen unter Umständen in die Unsichtbarkeit nicht-relevanter Personen. Diese Relektüre der Disziplinarmacht unter dem Gesichtspunkt ihrer Exklusivität bedarf noch der Ergänzung. So muss hervorgehoben werden, dass ein Machtmechanismus prinzipiell in unterschiedlichen Prozessen (Heilen, Strafen, Erziehen etc.) zur Geltung kommen kann. Dementsprechend sind je nach Einschließungsmilieu auch unterschiedliche Inklusions-/Exklusionsprofile zu beobachten. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die soziale Ausgestaltung der Passage zwischen Inklusion und Exklusion angesichts einer gegenwärtigen »Krise aller Einschließungsmilieus« (Deleuze 1993: 255) andere Formen annimmt. Aber auch wenn die Diagnose des Übergangs von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft (vgl. ebd.: 254ff.) den Blick auf eher »offene« Formen der Exklusion freigibt, bleibt festzustellen, dass die Einschließung gerade dort eine störrische Persistenz aufweist, wo die Funktion der Exklusion besonders im Vordergrund steht. Indikatoren dafür sind etwa der Anstieg der Gefängnisinsassen in den USA der 1990er Jahre um jährlich rund 8 Prozent (vgl. Wacquant 2000: 68f.) sowie die Rückkehr zu geschlossenen Jugendheimen in deutschen Städten wie Hamburg. Das bietet Anlass zu folgender Hypothese: Während Foucault die disziplinäre Einschließung als umfassenden Vergesellschaftungsmodus beschreibt, deutet sich gegenwärtig eine Gabelung an. Einerseits weicht die Disziplin Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, andererseits supplementiert sie die Kontrolle, indem sie sich auf die Einschließung zu Ausschließungszwecken konzentriert. Dabei sollte man ebenfalls die Möglichkeit einer Entdisziplinierung des Einschließungsmilieus in Betracht ziehen. Für eine solche Entwicklung sprechen die systematische Überbelegung der vornehmlich auf Exklusion spezialisierten Anstalten sowie die Grenzverwischungen zwischen der Psychiatrie und dem Gefängnis, das immer öfter zur Verwahrungsstätte psychisch Kranker wird. Geht man nun zur modernen Regierungsmacht über, die in Dispositiven der Sicherheit operativ wird, so eröffnet sich ein komplett anderer Bezugsrahmen für die Analyse von Exklusionsprozessen. Wo die Disziplin als »Modus der Individualisierung von Mannigfaltigkeiten« (Foucault 2004a: 28) im parzellierten Raum festsetzt, durchdringt die Regierung die Zirkulation einer »Multiplizität von Individuen […], die nur sind und existieren als grundlegend […] an die Materialität gebundene, in deren Innerem sie existieren« (ebd.: 41). Sie rechnet mit den Eigengesetzlichkeiten eines derartigen sozial-materiellen Kontinuums, indem sie die in ihm wirksamen Variablen identifiziert und deren Relationierung bearbeitet. Ihr Interven-

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tionsmodus ist deshalb auf das Ausgleichen, Anreizen oder Hemmen von Praktiken ausgelegt. Möchte man die Felder des Gouvernements als Referenz für Exklusion theoretisieren, ergibt sich allerdings die Herausforderung, deren Grenzen zu bestimmen. Während die Systemtheorie die Einheit des Systems in der Differenz des Codes findet, der anschlussfähige (das heißt: codierbare) gegen nicht-anschlussfähige Kommunikationen sortiert, beschreiben die governmentality studies eher lose, im Verhältnis zur administrativen Politik oder zur Rechtssprechung rhizomorphe Systematizitäten.4 Diese sind jedoch Träger historisch-lokaler Rationalitätsformen, die sich den jeweiligen Praktiken einschreiben. Die Regierung im Sinne Foucaults geht einher mit der Konstitution eines epistemischen Terrains, das als Gegenstand der Regierung immer schon deren Vollzugsinstrument ist, weil es bestimmte Interventionen und Reaktionsweisen akzeptabel macht, andere ausschließt. So geraten jene Semantiken in den Blick, anhand derer ein gouvernementales »Möglichkeitsfeld« (Foucault [1982] 1987: 254) strukturiert wird. Was die Systemtheorie unter dem Begriff der Selbstbeschreibung als sekundär behandelt, untersuchen die governmentality studies somit auf dessen formative Funktion hin: Welche Führungsweise impliziert etwa die Semantik des Unternehmerischen? Wie verändern Technologien der Risikokalkulation sowohl die Konzepte von Krankheit als auch die Maßnahmen der Behandlung? Oder welche Verhaltensweisen entwirft und sanktioniert ein kriminologisches Wissen im Verbund mit einer entsprechenden Ordnung des Raums? In jedem dieser Fälle sind es spezifische Rationalitätsformen, welche den Regierungsweisen als politische Rationalitäten innewohnen. Die Führung der Führungen wird von ihnen eingefasst, ausgerichtet und hervorgebracht. Damit sind die Konsequenzen für ein Verständnis von Exklusion im Register der Regierungsmacht bereits angedeutet. Erstens differenziert sich jede gouvernementale ratio nur gegen den Horizont des Nicht-Rationalen aus, das Außen der Rationalität wirkt konstitutiv. Insofern der von der Regierung eröffnete epistemische Rahmen dabei nicht zuletzt mögliche Subjektivierungsweisen präfiguriert, umschreibt dieses radikale Außen »einen Bereich verworfener Wesen« (Butler 1997: 23). Der Begriff der Verwerfung bezeichnet bei Judith Butler eine fundamentale Exklusion dessen, was die Regierung in den von ihr regulierten Zirkulationsprozess nicht integrieren kann. Es handelt sich bei diesem Ausschluss um eine nicht-intelligible Größe, die für das gouvernementale Kalkül unberechenbar bleibt. Eine solche Inkommensurabilität macht sich immer dann bemerkbar, wenn eine diskursive Formation Grenzbegriffe einsetzt, um das gemäß ihrer Logik nicht Subsumierbare noch mit Bedeutung zu versehen.5 Einschlägige Beispiele dafür sind etwa die Rede vom Lumpenproletariat im 19. oder von der Masse im frühen 20. Jahrhundert (Stallybras 1990; Lüdemann 2005).

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134 | Susanne Krasmann/Sven Opitz Analog dazu identifizieren die politischen Ökonomen in der Geburtsstunde der modernen Gouvernementalität das Volk als jenes Element, das nicht in der Regulierung der Bevölkerung aufgeht (vgl. Foucault 2004a: 72, 85). Zweitens stellt die Regierung in ihrem Funktionieren einen Schwellenmechanismus dar. Sie setzt diejenigen Bedingungen, unter denen Inklusion möglich ist. Zur Illustration: Es gibt gegenwärtig Überlegungen, dass nur derjenige, der sich bereits vor dem Ausbrechen einer Krankheit mit Blick auf seine Risikodispositionen verantwortungsvoll führt, Anspruch auf bestimmte Gesundheitsdienstleistungen haben soll (vgl. Lemke 2003: 166). Als Schwellenmechanismus ist die Regierung damit jenes Relais, das über die Festsetzung von Bedingungen der Inklusion zugleich Bedingungen für abgestufte Exklusionen anordnet. So haben zuletzt Gerichte in den USA die Praxis von Arbeitgebern für rechtmäßig erklärt, Arbeitnehmer mit bestimmten gesundheitlichen Risikoprofilen von einer sie möglicherweise gefährdenden Arbeit auszuschließen (vgl. Lemke 2005: 11ff.; Simon 1987: 85). Das verweist drittens auf die Bedeutung von Sicherheitsdispositiven bei der Regelung von Inklusion und Exklusion. Das Unterfangen der Regierung ist es, durch die von ihr identifizierten Eigengesetzlichkeiten hindurch zu wirken: Einerseits besteht ihre Intervention in der Bearbeitung dieser Eigengesetzlichkeiten, andererseits begreift sie sie als bedroht und daher der Absicherung bedürftig. Den Zielpunkt der Intervention bilden dabei, anders als bei der Disziplin, nicht die Individuen, die aus Sicht der Regierung nur ein »Instrument« oder »Relais« sind, um etwas auf der Ebene der Bevölkerung zu erreichen (Foucault 2004a: 70). Deshalb können einzelne Personen einerseits durch die von der Regierungsmacht in Szene gesetzten Mechanismen bis in ihre soziale und physische Existenz bedroht werden, so lange die auf dem Weg ökonomischer Kalkulationen bestimmten Grenzen des Akzeptablen nicht überschritten werden. Ein gewisses Aufkommen an personaler Exklusion und punktuelle Formen extremer Unfreiheit werden als Effekte des freien Waltens der selbst-regulativen Kräfte in Kauf genommen.6 Andererseits erfordert das Regieren durch Eigengesetzlichkeiten zugleich deren Sicherung vor den eigenen Aus- und Überschüssen. Notwendig werden mithin Eingriffe, die ein Nicht-Eingreifen in die selbstregulativen Zirkulationsprozesse ermöglichen. Während etwa der ideale Sicherheitsmechanismus im Kontext neoliberaler Gouvernementalität noch die Arbeitslosenunterstützung an ein Marktverhältnis anschließt und dadurch den Arbeitslosen zum unternehmerischen Umgang mit seiner Arbeitslosigkeit animiert, besteht immer auch die Option, die Sicherheit durch andere, stärker exkludiernde Formen der Intervention zu gewährleisten. Man gelangt somit an den Punkt, an dem die isolierte Betrachtung der drei Ordnungen der Macht aufgegeben werden muss. Tatsächlich besteht die Chance der governmentality studies gerade darin, die Serie »Souveräni-

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tät–Disziplin/Kontrolle–Regierung« als ein integriertes Ensemble strategischer Formationen zu begreifen. Erst unter dieser Voraussetzung ist es möglich, differenzierte Karten der Inklusion und Exklusion zu zeichnen, welche die Modi der Verweisung zwischen den drei Registern, ihre Kopplungen und ihre gegenseitige Vereinnahmung sichtbar machen. So sind vor allem die Punkte von Interesse, an denen die Regierung zu Zwecken der »Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren« (Foucault [1997] 1999: 294) auf die disziplinäre Einschließung zurückgreift und damit exakt jene kritische Schwelle strukturiert, an der sie den Einzelnen nicht mehr auf der Grundlage seiner Freiheit produktiv werden lassen kann und das Machtverhältnis einem Herrschaftsverhältnis annähert. Ebenfalls ist die Aufmerksamkeit auf jene Einsatzstellen zu lenken, an denen die Regierung Zonen der souveränen Ausnahme eröffnet und auf diese Weise ihre Operationen des Anreizens, Begünstigens oder Bremsens durch physische Gewalt supplementiert. Foucault selbst registriert die Adaption der souveränen Ausnahme durch die Regierung bereits im Fall der Staatsräson, die er als Initiationsmoment der Gouvernementalisierung des Staates behandelt (vgl. 2004a: 348ff.). Wie er aufzeigt, »ist der Staatsstreich im Verhältnis zur Staatsräson kein Bruch. Er ist im Gegenteil ein Element, ein Ereignis, eine Handlungsweise, das vollkommen im allgemeinen Horizont […] der Staatsräson erfolgt« (ebd.: 378). In der taktischen Anwendung des Staatsstreichs gestattet es sich die Regierung, gewalttätig zu werden, »sie wird dazu gebracht, ungerecht und mörderisch zu sein« (ebd.: 381). Die wohltätig-sorgende Pastoral verkehrt sich in eine »Pastoral der Ausschließung« (ebd.). Mit der Ausarbeitung der Serie »Souveränität–Disziplin/Kontrolle–Regierung« als Referenz für die Analyse von Prozessen der Inklusion/Exklusion hat die vorliegende Argumentation nun ein erstes Etappenziel erreicht. Diente die systemtheoretische Fassung der Begriffe der Ein- und Ausschließung zum einen als Impulsgeberin für deren Übertragung in die Theoriematrix der governmentality studies, konnte dadurch zum anderen die soziale Fabrikation der entsprechenden Prozesse im Licht der Machtkonzeption Foucaults deutlicher in den Blick geraten. Im Folgenden sollen auf dieser Grundlage zwei weitere Schritte vollzogen werden. Im nächsten Abschnitt ist das empirische Zusammenspiel der drei Machtformen auf eine zentrale Fragestellung Foucaults ([1981] 1994) zu beziehen: die nach dem Verhältnis von Staatlichkeit und Subjektivierung. Wie arrangieren die Dispositive der Gegenwart die Differenziale von Inklusion und Exklusion, Sicherheit und Unsicherheit sowie Freiheit und Gewalt im Kontext einer sich transformierenden Staatlichkeit? Der letzte Abschnitt möchte umgekehrt untersuchen, inwiefern ausgerechnet der Exklusionsbegriff die Grundlage dafür bietet, die oft beklagte Hermetik der governmentality studies zu öffnen: Ist es möglich, ausgehend von der hier entwickelten Kategorie der Exklusion ein Denken des Politischen zu initiieren, das den Gegensatz zwischen

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136 | Susanne Krasmann/Sven Opitz der Positivierung des Widerstands im Immanenzfeld der Macht und der Exklusion als reiner Negativität aufsprengt?

II.

Sicherheitsdispositive und Gewalt

Die »Gouvernementalisierung des Staates« habe diesem »das Überleben ermöglicht«, so konstatiert Foucault (2004a: 164) etwas erratisch. Weder die klassische Form souveräner Macht, die sich auf die Kontrolle eines begrenzten Territoriums bezieht, noch die Disziplin, die eine Gesellschaft durchformt, bestimmten die Gegenwart. Vielmehr würden beide durch den Machttypus der Regierung, dessen zentraler Mechanismus der der Sicherheit ist (vgl. ebd.: 165), eingefasst und reartikuliert. Zweierlei Implikationen dieser Überlegung sind hier interessant: Wenn Foucault den Staat als einen »Effekt« von Technologien des Regierens beschreibt und diese mithin ins Zentrum seiner Analyse stellt, bedeutet das erstens keineswegs, Staatlichkeit aus dem Blick zu verlieren, im Gegenteil. Gerade auf diese Weise ist es möglich zu untersuchen, wie Staatlichkeit sich mit den Formen der Machtausübung verändert, ohne ein bestimmtes Konzept vom Staat vorauszusetzen (vgl. Foucault 2004b: 114f.). Zweitens operiert das Gouvernement in gewisser Weise flexibler als die Paradigmen der Souveränität und der Disziplin. Es ist nicht ans Recht oder an vorab festgesetzte Normen gebunden, sondern »verwaltet und bewirtschaftet« eine Realität (Foucault [1976] 1977: 163; vgl. 2004a: 76) – eine Realität, die ihrerseits immer schon der Effekt von Technologien der Erfassung, Auswertung und Verarbeitung von Daten ist. Die Genealogie der Gouvernementalität zeichnet damit einen Prozess nach, bei dem die Deterritorialisierung mit einer Reterritorialisierung der Macht einhergeht (Deleuze/Guattari 1997). Die Geburt der modernen Regierungsmacht ereignet sich exakt in jenem Moment, in dem sie den lebenden Menschen als epistemisches Objekt und die Bevölkerung als ihren Gegenstandsbereich konstituiert (vgl. Foucault 2004a: 120, 183). Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, implizieren diese Verschiebungen Mechanismen der Gewalt und der Exklusion, die unter dem Vorzeichen der gegenwärtigen Sicherheitspolitiken spezifische Formen annehmen. Während das Konzept der Regierung das Moment des Kräfteausnutzens in den Blick nimmt, scheint für Foucault die Frage der Gewalt marginal zu werden, denn ein »Gewaltverhältnis« lasse keinen Spielraum der Widerständigkeit zu, es ist gänzlich repressiv ([1982] 1987: 254). Die Analyse der Disziplinarmacht nimmt sich auf den ersten Blick pointierter aus: Der Wandel von den sichtbaren Körperstrafen im ancién regime hin zur bürokratischen und sozialtechnologischen Normierung der Individuen bedeutet kein Verschwinden der Gewalt, die vielmehr – sozial gestreut – in den Gesellschaftskörper einsickert. Diskurse konstituieren und formen

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Körper, auch darin manifestiert sich ihre Materialität (Foucault [1972] 1991; [1975] 1976). Die gesellschaftliche Zurichtung der Individuen beruht sogesehen auf einem Gewaltverhältnis, das dem Recht und direkter staatlicher Intervention vorgelagert ist. Diese Problematisierung von hegemonialer Gewalt im erweiterten Horizont einer Vergesellschaftung, die über die Beziehung von Recht und (staatlicher) Gewalt hinausweist, behält Foucault auch später bei, zunächst über das Konzept der Bio-Macht. Sich auf den Schutz und die Kultivierung der Bevölkerung konzentrierend, operiert diese immer schon mit Grenzziehungen, die Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, Ein- und Ausschluss markieren, und entlang derer sich Gewaltanwendung legitimiert: Die Sicherheit der Bevölkerung gebietet es, Gefahren erkennbar zu machen und auszumerzen. Die alte Form der Souveränitätsmacht, die das Recht über Leben und Tod verkörpert, verschwindet dabei nicht (vgl. Foucault [1997] 1999: 297; [1976] 1977: 161ff.), vielmehr verändert sie ihre Erscheinungsform, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits beinhaltet das Auftauchen der Bevölkerungspolitik eine Verschiebung. Es geht nicht mehr so sehr um das Recht zu töten, sondern um die Festlegung der Norm, aus der sich der Unwert von Leben ableitet, und damit, im Sinne des Schutzes der Bevölkerung, eine Notwendigkeit der Vernichtung. BioMacht, die nicht auf einem negativen, sondern einem positiv-qualifizierenden Begriff von »Leben« beruht, bedeutet demnach eine Umcodierung der souveränen Rationalität (vgl. Dean 2001: 53). Sie verbirgt ihre Gewaltförmigkeit (vgl. Dillon/Reid 2001: 41f.), indem sie das Leben in das Feld der »bewußten« politischen Kalküle einschreibt (vgl. Foucault [1976] 1977: 170). Gewalt wird so zu einer ontologischen Voraussetzung jeglicher Sozialität, zur Bedingung einer politischen Ökonomie der Bevölkerung (vgl. Newman 2004: 580f.), die sich nach außen und innen über Mechanismen der Inklusion und Exklusion profiliert (Balke 2002). Andererseits bleibt Souveränitätsmacht, die Recht und Gewalt verknüpft, virulent und taucht in verschiedenen sozial-historischen Kontexten in anderem Gewand auf. Am Beispiel der »unbegrenzten Haft« in Guantánamo analysiert Judith Butler (2005) eine solche neue Erscheinungsform der Souveränität, die, im Sinne Foucaults, erst aus einer die Gegenwart beherrschenden Gouvernementalität hervorgehen konnte: Die Häftlinge in Guantánamo, die weder als Kriegsgefangene anerkannt sind, noch als bloße Verbrecher gelten, können dort bekanntlich unbegrenzt und ohne weitere Begründung festgehalten werden. Das Gebot nationaler Selbstverteidigung schien diese Berechtigung (right) zu unbegrenzter Haft herzustellen. Staat und Regierung setzten sich damit jedoch über rechtliche Normen und internationale Konventionen hinweg. Das Recht (law) wurde willkürlich suspendiert und auf diese Weise ein außerrechtlicher Zustand hergestellt. Souveräne Macht aber, der berechtigte Zugriff auf das Leben der Inhaftierten, wurde erst, so Butlers These (vgl. ebd.: 85), durch das Außer-

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138 | Susanne Krasmann/Sven Opitz kraftsetzen der Rechtsstaatlichkeit performativ hervorgebracht.7 Es handelte sich dabei nicht um den klassischen Akt einer einheitlichen und vorausgesetzten souveränen Macht, die sich über das Recht legitimiert, vielmehr um den einer Exekutive, die sich auf Verfahren einer administrativen und außergesetzlich operierenden Gouvernementalität stützt. Schließlich sind es auch nicht Juristen, die über das Schicksal der Häftlinge bestimmen, sondern Bürokraten und Militärs.8 Außergesetzlich bedeutet indes nicht ungesetzlich, auf das Recht kann vielmehr jederzeit taktisch zurückgegriffen werden: »Der Staat ist der Rechtsstaatlichkeit nicht unterworfen, doch das Recht kann aufgehoben oder taktisch und parteilich eingesetzt werden, um den Erfordernissen des Staates zu genügen« (ebd.: 74). Dieses Zusammenspiel, in dem Sicherheit das Recht okkupiert, zeigt sich nicht nur in der US-amerikanischen Politik, vielmehr handelt es sich um ein allgemeineres Prinzip, das auch in der hiesigen Kriminal- und Sicherheitspolitik beobachtbar ist. Es ist das strategische Doppel von Sicherheit und Bevölkerung im Feld der Gouvernementalität, das es erlaubt, das Recht als ein taktisches Instrument einzusetzen und neue Formen souveräner Macht hervorzubringen. Die gouvernementale Verknüpfung von Bio-Macht und Souveränität bildet nunmehr den Bezugsrahmen für die Analyse einer Politik, in der der Schutz der Bevölkerung zu einer Richtlinie wird, die auch die Rechtspraxis beherrscht. Zugleich zeichnet sich in diesem Horizont bereits die Art und Weise ab, in der das Dispositiv der Sicherheitspolitik den Rückgriff auf Technologien der Einschließung und der Kontrolle orchestriert. Denn sowohl die starre Festsetzung von Körpern als auch ihre Sortierung in offenen Milieus realisiert gouvernemental kalkulierte Zäsuren und wird damit zum Agenten der Exklusion gemäß dem Code von gefährlich/ungefährlich. Die Möglichkeiten, das Recht dem Gebot der Sicherheit unterzuordnen, sind in Deutschland nicht zuletzt verfassungsrechtlich begrenzt. Gleichwohl zeigen die sich im Recht niederschlagenden sicherheitspolitischen Veränderungen der letzen Jahrzehnte, wie flexibel und historisch kontingent die selbst definierten Grenzen von Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Freiheit, Gesellschaft und Staat sind. Anschauungsmaterial bieten hier die folgenden Entwicklungen: erstens die Ausweitung polizeilicher Befugnisse in das sogenannte Vorfeld von Straftaten, den Bereich abstrakter Gefahren und möglicher Intentionen; zweitens die Verlagerung von Eingriffsoptionen in andere Bereiche, wie das Ausländerrecht, das die Abschiebung auf der Basis bloßen Verdachts ermöglicht; drittens schließlich die Veränderungen im Sexualstrafrecht, das die Einsperrung immer mehr unter das Gebot der Sicherung gestellt hat. Die Figur des Rechtsstaates muss ihre Gültigkeit damit nicht verlieren, im Gegenteil. Das Gefüge von Judikative, Parlament, Regierung und Verwaltung scheint dasselbe zu bleiben. Es bildet eine Hülle, die ihre Inhalte und ihre Form verändern kann, gerade im Rückgriff auf das Recht, das diese Veränderungen sanktioniert. Dabei spielt der komple-

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xe Begründungszusammenhang von Freiheit und Sicherheit die entscheidende strategische Rolle: Die Freiheit gilt zum einen als das zu sichernde Vermögen, zum anderen ist es gerade das Versprechen der Sicherheit, welches die Freiheitseinschränkungen legitim erscheinen lässt. So kann sich die Verteidigung der Freiheit/Sicherheit der Gesellschaft, sobald sie zu einem dominierenden Prinzip wird, schließlich im Selbsterhalt der Macht und dem Überleben des Staates als Garant der Sicherheit verlieren. Die Argumentation hat somit einen Punkt erreicht, an dem die Herstellung des Staates als Effekt von Technologien der Regierung näher bestimmbar wird. Folgt man Jean-Luc Nancy darin, dass die faktische Ausübung staatlicher Souveränität notwendig an die Ausübung eines Denkens gebunden ist (vgl. 2002: 142), markiert das Hobbes’sche Kalkül nach gängiger Lesart einen historischen Einschnitt. In ihm wird die (Un-)Sicherheit aufgerufen, um den Leviathan vermittelt durch das Versprechen der Schutzgarantie zu begründen (vgl. Foucault [1997] 1999: 99ff.). Der historische Übergang vom Natur- zum Staatszustand, den Hobbes beschreibt, tritt nun synchron als Einsatz bei der Gouvernementalisierung des Staates hervor: Sicherheit und Unsicherheit sind in ihrer Gleichzeitigkeit konstitutiv für die moderne Staatlichkeit, die über die Einfaltung eines Außen gewaltdurchsetzter Verhältnisse ihren Innenraum begründet (vgl. Ortmann 2003: 24). Auch die Sicherheitsversprechen der Gegenwart verweisen immer schon auf die Unsicherheit, die Bedrohung oder Gefährdung, welche die staatliche Intervention und Absicherung legitimiert, ohne dass diese die Bedrohung wird je gänzlich aufheben können. Das verbietet schon ihre Unbestimmtheit. So gesehen offenbart ein Begriff wie der des Sicherheitsgesetzes, der die rechtliche Einhegung von Bedrohungen suggeriert, seinen Charakter als ein politisches Versprechen, anstatt tatsächlich eine Garantie zu verbürgen. Im Sinne Carl Schmitts (1963: 32) begründet die Bedrohung in der Repräsentation des Feindes die »reale Möglichkeit« des Ausnahmezustands und damit der Aufhebung der normalen staatlichen Ordnung. Auch hier handelt es sich, ebenso wie bei dessen Begriff der Souveränität, um eine dem Recht und dem Staat vorgelagerte Kategorie, die als Hebel der Auflösung und Konstitution der Ordnung fungiert. Im Anschluss an Foucault stellt Sicherheit sich indes grundsätzlicher als ein liberales Prinzip des Regierens dar, indem sie ein doppeltes Spiel mit der Freiheit eingeht. Sie bildet den Rahmen, in dem Freiheit ausgeübt werden kann, und wird so zugleich als eine Technologie des Regierens wirksam. Im liberalen Kalkül stellt die Freiheit sowohl die Grenze als auch die Begründung der Sicherheitsmaßnahmen dar und bezeichnet deshalb nichts anderes, »als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten« (Foucault 2004b: 97). Sicherheit und Freiheit sind konstitutiv aufeinander bezogen und formen eine spezifische Rationalität, die Subjektivierung und Staatsformierung systematisch miteinander verknüpft.

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140 | Susanne Krasmann/Sven Opitz Vor diesem Hintergrund lässt sich nun die Frage nach dem Gewaltverhältnis und den Prozeduren der Ein- und Ausschließung im Register der Gouvernementalität einholen. Denn unter den Bedingungen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken rückt eine fundamentale Trennungslinie ins Zentrum des politischen Kalküls, deren variabler Verlauf immer deutlicher die Weisen des liberalen Regierens durch illiberale Formen supplementiert und dadurch kontaminiert. So erfolgt die Subjektivierung im Inklusionsbereich liberaler Gouvernementalität einerseits in Beziehung zu vielfältigen Instrumenten der Absicherung; die Praxis des Regierens vollzieht sich hier im Horizont der Reproduktion von Furcht und Sicherheitsversprechen. Zum anderen ist das liberale Prinzip des indirekten Ausgleichens, Anreizens und Hemmens von Praktiken von einem illiberalen Feld der Subjektkonstituierung gesäumt. Dieses Feld umschreibt die Kehrseite einer Produktion von Adressaten, die Unsicherheit repräsentieren und dementsprechend gehandhabt werden müssen oder können. Sie werden von einem Kontinuum exkludierender Praktiken eingefasst, dessen gemeinsames Merkmal darin besteht, dass sich das Ermöglichungsverhältnis der liberalen Regierungsweise zu einem Herrschaftsverhältnis zusammenzieht. Im Zuge ihrer Konstitution als gefährliche Träger einer illegitimen Gewalt erfahren die Einzelnen dabei eine Beschädigung ihres Status als vollwertige Subjekte, so dass ihre bloße Kreatürlichkeit auf dem Spiel steht: Auf einer basalen Ebene stabilisiert sich das Herrschaftsverhältnis über einen strikten – und das heißt: potenziell gewaltsamen – Körperbezug, der nur vor dem Hintergrund eines Angriffs auf die soziale Intelligibilität der Betroffenen stattzufinden vermag. Der Körper, der für Luhmann einen durch Exklusion bedingten Rest nach Abzug der Sozialität darstellt, erscheint aus dieser Perspektive gewissermaßen als ein restlos gouvernementalisierter Körper, insofern die Eröffnung von Exklusionsbereichen »sozial bedingte Zustände des suspendierten Lebens« (Butler 2005: 87) schafft. Somit stellen die Exklusionsbereiche als soziale Orte, an denen die Produktion verworfener Wesen stattfindet, nicht einfach ein gouvernementales Jenseits dar. Die Gouvernementalität der Gegenwart nutzt vielmehr das Relais von Sicherheit und Unsicherheit, um die Schwelle von Inklusion/Exklusion zu organisieren. Damit disloziert und reartikuliert das Differenzial von Liberalität und Illiberalität letztlich den gouvernementalen Raum als ganzen.9 Fassen wir zusammen: Es besteht Grund zu der Annahme, dass die gegenwärtigen Strategien der securisation (Buzan/Weaver/Wilde 1998) ein Transformationsmoment in der Geschichte der Gouvernementalität markieren. In einer paradoxen Bezugnahme auf den klassisch-liberalen Fundus von Menschen- und Freiheitsrechten ist ein erweiterter Katalog von Sicherheitsrechten entstanden, der sich unter Berufung auf den Schutz der Bevölkerung vor inneren und äußeren Bedrohungen legitimiert und politische Interventionen jenseits der herkömmlichen Grenzen nationalstaatlicher Zuständigkeit nach sich zieht (vgl. Hampson 2002: 14ff.; Dillon/Reid

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2001). Wir werden gegenwärtig zu Zeugen der Entfaltung einer »Bio-Souveränität« (Caldwell, in diesem Band; vgl. Agamben 2002), die das Recht im Spiel auf der Klaviatur der Ausnahme taktisch wendet und dadurch spezifische Praktiken der Exklusion sowie der Gewaltanwendung auf die Tagesordnung setzt. Die gouvernementale Transformation der Gegenwart bewirkt somit nicht zuletzt eine Reorganisation von Staatlichkeit. Im Folgenden sollen drei Kristallisationspunkte einer solchen Entwicklung exemplarisch analysiert werden, um das abstrakt skizzierte Regime anschaulich zu machen. Im Feld der äußeren Sicherheit sind es erstens humanitäre Ambitionen, die Interventionen unter Aussetzung staatlicher Souveränität rechtfertigen und diese ihrerseits transformieren. Einerseits verliert nationale Zugehörigkeit an Bedeutung gegenüber international codierten Rechten und Bestimmungen von Leben und Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, während souveränes Recht sich andererseits im Namen der Biopolitik über die Grenzen des Nationalstaates hinwegsetzt und – nicht nur vorübergehend – ausdehnt: Souveränität bezieht sich auf das Recht über Leben innerhalb eines Territoriums, aber sie ist ihrerseits nicht an eine bestimmte Lokalität gebunden. Bio-Souveränität bringt eine neue, flexible Demarkationslinie hervor, die zu schützendes und zu bekämpfendes Leben nicht mehr entlang territorialer Bindungen, sondern unter dem Signum der Humanität von Fall zu Fall unterscheidet (Caldwell, in diesem Band). Recht und Unrecht bilden dabei keineswegs die Leitdifferenz. Zwar stellen Menschenrechte ein demokratisiertes Prinzip von Souveränitätsmacht dar, die sich auf den politischen und rechtlichen Status von Individuen als Menschen bezieht (vgl. Dean 2001: 48; Foucault 2004b: 65ff.). Doch im Kontext humanitärer Interventionen bilden die Menschenrechte das Element von Sicherungsstrategien. Human security verbindet daher die beiden Foucault’schen Machttypen: Sicherheit, ob im Namen einer Garantie der Freiheit oder des Bevölkerungsschutzes, ist stets mit Grenzziehungen verbunden, und es ist die sichernde Intervention selbst, welche die Unterscheidung markiert: zwischen einem biopolitischen Innen, der zu schützenden Bevölkerung, und einem Außen souveräner Machtausübung, die sich auf die zu eliminierende Gefahr bezieht. Im Feld der inneren Sicherheit wäre zweitens eine neu aufgekommene Folterdebatte zu nennen, die vor dem Hintergrund einer Bedrohung durch den internationalen Terrorismus eine besondere Legitimität erhält. Folterpraktiken oder gar die Legalisierung der sogenannten Rettungsfolter werden als eine Art »Verteidigung der Gesellschaft« gerechtfertigt (Krasmann/Wehrheim 2006), obgleich so ein Kernprinzip moderner westlicher Rechtsstaatlichkeit angetastet und diese nach den Buchstaben des Rechts gänzlich in Frage gestellt wird (Brunkhorst 2005). Doch die Nachrangigkeit des Rechts im Verhältnis zu neuen Sicherheitsimperativen zeigt sich gerade hier, weil das »Überleben des Staates« selbst nicht gefährdet ist, im Ge-

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142 | Susanne Krasmann/Sven Opitz genteil: Nicht die rechtlich verankerten Grundprinzipien sind es, welche die Rechtsstaatlichkeit schließlich bestimmen oder in Frage stellen. Sie sind historisch kontingent und insofern rein theoretisch bis zum Äußersten veränderbar. Es ist nicht zuletzt diese Anpassungsfähigkeit der rechtlichen Normen an soziale und politische Konditionen, die es erlaubt, noch die spezifische Figur demokratischer Rechtsstaatlichkeit über veränderte Verhältnisse hinweg neu zu füllen und so aufrechtzuerhalten. Die Scheidelinie, entlang der Folterpraktiken geduldet, ignoriert oder aber als akzeptabel erachtet und befürwortet werden, lässt sich auch hier über das Doppelspiel Bevölkerung/Sicherheit und Bedrohung/Zerstörung nachvollziehen. Das dritte Exempel schließlich ist das Konzept des Feindstrafrechts, eine Idee des Strafrechtsprofessors Günther Jakobs, die insbesondere in jüngerer Zeit eine verbreitete Wahrnehmung in Fachdiskussionen erfahren hat. Noch handelt es sich nur um die theoretische, wenngleich empirisch keineswegs abwegige Überlegung, ein neues Feindstrafrecht vom liberalen Bürgerstrafrecht abzukoppeln und so einer bestimmten Zielgruppe – notorischen Kriminellen, vom Terroristen über den Wirtschaftsverbrecher bis hin zum Sexualdelinquenten, die ein unverbesserliches Gefahrenpotenzial für die Gesellschaft darstellen – die üblichen Rechtsgarantien zu entziehen. Ziel ist es, auf diese Weise ein extraordinäres Sicherheitsinstrument zu gewinnen, das es erlaubt, bedrohliche Elemente zu eliminieren. Dieses Programm, so theoretisch es ist, entbehrt der realen Bezüge nicht. Es findet Entsprechungen in der Terrorismusbekämpfung, in der solche FreundFeind-Schemata sichtbar werden, die besondere Maßnahmen des Wegschließens, der »außerordentlichen Überstellung« oder der Vernichtung rechtfertigen; und es findet Ansätze in einer Kriminalpolitik, die zusehends bestimmte Delinquenten als zu kontrollierende Risikogruppen qualifiziert und die »Gefährder« unter dem Anschein des Verdachts noch vor einer Straftat aus dem Verkehr ziehen will. Dementsprechend kann jenes Programm seinerseits eine Realitätsmächtigkeit entfalten und sich als Denkund Handlungsschema in aktuellen Sicherheitsstrategien gleichsam wahr machen (Krasmann 2007). Wiederum würde dies neue Grenzziehungen implizieren. Jakobs (vgl. 2000: 53) selbst stellt das Feindstrafrecht als eine Form der Kriegsführung dar, es überschreitet die Grenzen rechtsstaatlicher Standards, und es legitimiert die Vernichtung eines Feindes, der diesseits oder jenseits nationalstaatlicher Grenzen lokalisierbar und exterminierbar sein kann. Ausdrücklich geht Jakobs dabei von zwei »Systemen« aus. Die Feinde sind empirische Realität wie »störende Umwelt« des Rechts der Gesellschaft. Geht es hier um Fragen der normativen Integration, so steht dort die Sicherheit der Gesellschaft auf dem Spiel, die es mit anderen Mitteln zu schützen gilt. Die Exklusion des Feindes soll durch eine Inklusion in das Sicherungssystem des Feindstrafrechts stattfinden. Diese Inklusion bedeutet freilich gerade nicht dessen Anerkennung als Person, sondern initiiert im Gegenteil einen Prozess der Desubjektivierung und Unsichtbarma-

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chung. Anders als Jakobs vermeint, würde das Feindstrafrecht nicht ein zweites System neben dem Bürgerstrafrecht bilden, sondern allenfalls ein Subsystem des Rechts. Diese Wucherung des Rechts geschieht im Namen der Sicherheit, und wiederum ist es Letztere, die auf diese Weise Rechtsstaatlichkeit insgesamt formt und verändert. Bevölkerungspolitik im Sinne dieser drei Exempel produziert neue Grenzlinien, etabliert neue Formate der In- und Exklusion und verweist die Analyse damit nochmals auf die Problematik des Außen. Denn der Schutz der Bevölkerung schließt die Frage der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit immer schon mit ein. Die Bedrohung scheint ihr äußerlich zu sein, doch nicht zugehörig ist sie nur in Beziehung zur Bevölkerung, die es zu schützen gilt. Die äußere Bedrohung in Gestalt eines Anderen ist das Produkt einer Differenzierung, nicht aber ontologisch vorgelagert. Die Rationalität von Sicherheitstechnologien bestimmt sich demnach nicht einfach entlang einer Grenze von Intelligiblem und Nicht-Intelligiblem. Vielmehr formt sie auf der Grundlage der Differenz von Sicherheit/Unsicherheit ein Differential von Regierten, in dem die zu Exkludierenden als Repräsentationen der Unsicherheit auftreten und als mögliche Adressaten von Gewalt freigegeben werden. Dabei sind die Grenzlinien zwischen Inklusion und Exklusion variabel, ihr Verlauf wird durch das bestimmt, was jeweils als Bedrohung der Bevölkerung ausgemacht wird. Als eine exemplarische Grenzfigur von Sicherheitsdispositiven verweist der »Gefährder« dann einerseits auf eine unberechenbare und unbestimmte Größe. Weil sich die Bevölkerung jedoch erst im Kontrast zu dieser Größe als eine wahrnehmbare und regierbare Entität abhebt, bilden die »Gefährder« andererseits gerade jene identifizierbare Risikogruppe, die es aus dem Feld der Zirkulation auszuschließen gilt. Eine gouvernementale ratio hätte so gesehen zwei Seiten, ein Feld der Unbestimmtheit wie der Bestimmtheit, vor dem sie sich jeweils profiliert. Ferner begründet die personelle Identifikation als »Gefährder« die Festsetzung in einen hochintegrierten Exklusionsbereich, während zugleich die personelle Relevanz und mit ihr die Fähigkeit, anschlussfähig zu kommunizieren, in sozialen Kernbereichen weitestgehend getilgt wird. Auch die Gewaltausübung wird im Zuge dieser Relevanzverschiebung unsichtbar, übrig bleiben lediglich mehr oder weniger emblematische Signaturen der Gewalt, die ihrerseits eine Botschaft vermitteln und unter Umständen ein Element des Regierens bilden. Dabei können diejenigen, die mittels (Un)Sicherheit regiert werden, jedoch nicht darauf vertrauen, dass sie sich stets diesseits der Grenzlinie befinden. Zwar sind die Risikoprofile an kulturelle und soziale Erwartbarkeiten gebunden, doch diese Erwartbarkeit der üblichen Verdächtigen fungiert wie ein Versprechen, das zum kalkulativen Element der Selbstregierung wird.

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III.

Technologien der Schwelle: Polizei und Politik

Die moderne Konzeption des Nationalstaates verbindet sich mit der Vorstellung, von einem universalen, neutralen Recht eingehegt zu sein (O’Malley 1997). Der Polizei kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn sie verkörpert wie keine andere Institution das Monopol legitimer Gewaltanwendung. Polizeiliches Handeln ist streng an Gesetze gebunden und gilt stets als Rechtsanwendung. Walter Benjamin ([1921] 1965) hat diesen Mythos zerstört: Ausgerechnet im polizeilichen Handeln seien rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt ununterscheidbar. Obgleich diese Funktion ihre Sache nicht sein sollte, schöpfe die Polizei in uneindeutigen Situationen Recht ständig neu. Damit reproduziere sich fortwährend das grundsätzliche Problem einer (Letzt-)Begründung des Rechts, das eine Ordnung immer schon voraussetzt. Nun ist die Besorgnis des kritischen Philosophen auf einen historischen Kontext zu beziehen, in dem schließlich auch die Theorie der souveränen Ausnahme politisch reüssieren konnte. Heute hingegen gilt jene »Aktualisierung dieses gewaltsamen Moments des Rechts« bis hinein in die Sicherheitsgesetzgebung eben dann als legitim, wenn sie »prozedural umhegt ist«, und das heißt, unter Verweis auf geltende Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit »demokratische Legitimation für sich beanspruchen darf« (Kötter 2003: 73). Begreift man Polizei indes weniger als eine Institution des Staates, vielmehr als eine spezifische Rationalität und Technologie der Regierung, so verschiebt sich die Perspektive. Polizei wäre dann von ihren Aufgaben und Praktiken her zu analysieren, die sich zuerst auf die Bevölkerung, die Ordnung und Sicherheit der Gesellschaft beziehen und Staatlichkeit von hier aus mitformen (vgl. Foucault [1975] 1976: 274; 2004a). Dem Recht kommt dabei eine wichtige Rolle zu, als Instrument der Kontrolle legitimiert es polizeiliches Handeln. Die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Polizei erschließt sich so jedoch nicht. Schon die rechtsstaatlichen Kriterien der Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Angemessenheit usw. sind eben auch soziale Kategorien und nur eine Form der Rationalisierung polizeilicher Praktiken. Das gesellschaftliche Prinzip der Polizei ist nicht das des Rechts, sondern die Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit ihres Handelns.10 Insofern nun die – immer wieder neu zu bestimmenden – Erfordernisse von Sicherheit und Ordnung das Bezugsproblem der Polizei bilden, liegt es angesichts der im vorangegangenen Abschnitt vorgeführten Okkupation des Rechts durch Strategien der securitisation nahe, die Polizei als eine gegenwärtig hegemoniale Technologie des Regierens zu verstehen. Eine solche Diagnose wird nicht zuletzt angesichts der jüngsten Transformation des Krieges einsichtig: Hat bereits der Zweite Golfkrieg die Logik der Polizei auf das Terrain der internationalen Politik übertragen (vgl. Hardt/Negri 2002: 28f.), werden unter der Formel des War on Terror die Ansatzpunkte

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für sicherheitspolitische Interventionen multipliziert. Dabei durchkreuzt der Krieg als Chiffre des Notstands die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitk zugunsten einer grenzenlos verstreuten polizeilichen Aktivität. So erleben wir durchaus einen »Eingang der Souveränität in die Figur der Polizei« (Agamben 2001: 101), vor allem aber eine verstärkte Inanspruchnahme der Polizei im Sinne einer Technologie der Erzeugung von MikroSouveränität. Denn unter dem Eindruck der Sicherheit kann die explizite Erklärung des Ausnahmezustands umgangen werden, während unterschiedlichste soziale Verfahrensweisen, die nicht den Status von Gesetzen haben, dennoch deren Kraft gewinnen. Getragen durch das Versprechen von Sicherheit erlaubt der gouvernementale Zugriff auf die Technologie der Polizei somit die Umwandlung einer unbestimmten »Gesetzeskraft« in ein »fluktuierendes Imperium« (Agamben 2004: 63). Die zentrale Bedeutung der Polizei im Rahmen der Gouvernementalität der Gegenwart tritt jedoch erst vollends zu Tage, wenn man sie auf die Mechanik von Inklusion und Exklusion bezieht. Letztlich sind es Techniken der Polizei, mittels derer die Schwelle zwischen liberaler und illiberaler Regierung kalkuliert, strukturiert und bearbeitet wird. Diese Funktion kann die Polizei zum einen effektiv wahrnehmen, weil sie »die konstitutive Vertauschung von Gewalt und Recht« nicht nur »entblößt« (Agamben 2001: 99ff.), sondern unter Rekurs auf Sicherheitserfordernisse operabel macht. Zum anderen ist damit die Arbeitsweise der Polizei noch zu negativ beschrieben. Sie besteht ebenfalls in einer umfassenden Registrierung, also in der Erstellung von Registern und der Erhebung der entsprechenden Daten (vgl. Vogl 2002: 73ff.). Erst auf dieser Grundlage wird eine Regulierung der Zirkulation von Informationen, Waren oder Menschen möglich. Die Polizei ist demnach die Produktionsstätte eines Wissens, das ordnende Eingriffe, Zugangskontrollen und die Sortierung von Körpern ebenso stützt wie es in solchen Praktiken hervorgebracht wird. In dem Moment, wo sich Leben in zu sicherndes Leben verwandelt, verläuft die Grenzfunktion gegenwärtiger Gouvernementalität über die Polizei: Sie sichert die in den sozialen Kernbereichen vorherrschenden liberalen Inklusionsmodi ab, indem sie die kritische Schwelle bestimmt, jenseits derer sie als Agentin der Exklusion ein Feld illiberaler Regierung eröffnet. Im Licht des aktuellen Zusammenhangs von (Un-)Sicherheit und Inklusion/Exklusion gewinnt deshalb die von Jacques Rancière (2002) vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Polizei und Politik eine spezifische Anschaulichkeit. Sowohl Polizei als auch Politik werden im Verhältnis zu einer sozialen Ordnung bestimmt, die nach dem Modell einer prekären Arithmetik konzipiert ist: Eine Ordnung ist nur deshalb eine Ordnung, weil in ihrem Rahmen Einigkeit darüber besteht, welche Äußerungen als sinnvolle Rede zählen und welche als Lärm verhallen. Die Polizei berechnet und verwaltet diese Trennlinie des logos, die die Modalitäten des Ausgleichs zwischen den anerkannten Ansprüchen einfasst: Sie »ist in ihrem Wesen

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146 | Susanne Krasmann/Sven Opitz das im Allgemeinen unausgesprochene Gesetz, das den Anteil oder die Abwesenheit des Anteils der Teile bestimmt« (ebd.: 40f.). Prekär ist diese Arithmetik der Teile, weil jede Ordnung sich über einen Ausschluss konstituiert, so dass sie immer schon einer Dislokation unterliegt und gegen potenzielle Forderungen der Anteilslosen nach einem Anteil abgesichert werden muss. Die Polizei tritt daher erstens als Garant einer quasi-ontologischen Sicherheit in Aktion, indem sie darauf abzielt, dass man in und mit den Grenzen einer spezifischen Ordnung rechnen kann. Der gegenwärtige Rekurs auf (Un-)Sicherheit erweist sich damit zweitens als gouvernementale Rückversicherung für eine polizeiliche Praxis des Ordnens entlang jeweils souverän zu bestimmender Grenzen. Politik erscheint umgekehrt als Moment der Unsicherheit im zuerst genannten Sinn, weil sie einen Bruch mit der polizeilichen Ordnung vollzieht. Sie stellt das Dasein der Teile als Teile infrage, indem sie einen Anteil der Anteilslosen einfordert. Die für die Politik emblematische Situation des Unvernehmens ist gekennzeichnet durch den fundamentalen Streit um die Existenz einer gemeinsamen Welt, in der man als intelligibles Subjekt seinen Platz wird einnehmen können. Genau besehen verschränkt jedes politische Ereignis also zwei Bewegungen: Einerseits das Aufbrechen der »durch einen Zählungsvorgang etatisierten Situation« (Badiou 2003: 127), andererseits die Einschreibung eines Namens in das symbolische Register der jeweiligen Ordnung, die dadurch eine Neuformierung erfährt. Diesen zweiten, produktiven Vektor des Politischen begreift Rancière als Prozess der Subjektivierung. Jedoch erfährt der Begriff der Subjektivierung eine Neuausrichtung der Linie, die von Althusser über Foucault zu Butler verläuft. Subjektiviert wird nämlich eine Abwesenheit, oder genauer: das Unrecht einer Abwesenheit, wobei ein derartiger Vorgang gleichbedeutend ist mit »einer Reihe von Handlungen […], die eine Instanz und eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen« (Rancière 2002: 47). Politik entsteht aus dieser Perspektive immer vom Ausgeschlossenen her, jedes politische Projekt macht die Bedingungen eines Verstummens zum Gegenstand des Streits. Der Einsatz des Streits liegt darin, die Verworfenheit in die Form eines Subjekts umzufalten, das als (zunächst) Unmessbares die Zählweise der existierenden Ordnung herausfordert: »Dieses Subjekt ist immer ein Zusätzlicher.« (Ebd.: 70) Die entscheidende Frage ist nun die folgende: Welches Problem gibt diese Figur der Subjektivierung dem Denken auf – und wie verändert ein solches Denken die Analytik der Gouvernementalität in Bezug auf Prozesse der Inklusion/Exklusion? Es deutet alles darauf hin, dass die nun vorgenommene Lektüre von Das Unvernehmen (Rancière 2002) in erster Linie das Verhältnis von Positivität und Negativiät beziehungsweise dasjenige von Anwesenheit und Abwesenheit betrifft. Zum einen läuft insbesondere Rancières Politikkonzeption einer strikt »positivistischen« Auslegung Foucaults zuwider, bei der der Verweis auf die Immanenz des Widerstands im

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Feld der Machtbeziehungen dazu führt, die Unruhe der Macht und ihre Flucht über jede Ordnung hinaus zu unterschlagen (Hindess 1997).11 Die Konsequenz einer solchen Auslegung besteht darin, dass das theoretische Axiom der Immanenz inklusionistisch umgedeutet wird und die Behandlung von Exklusionsprozessen aus dem Blick gerät. Damit verschließt sich die Analytik der Gouvernementalität jedoch die Sicht auf die potenziell disruptiven Effekte des Ausschlusses. Zum anderen muss sich die Politik der Subjektivierung im Sinne Rancières davor in Acht nehmen, nicht in eine negative Theologie umzukippen. Sie darf an ihrer Relaisstelle nicht auf ein magisches Moment vertrauen, das darüber im Dunkeln lässt, wie man als Niemand eine geteilte Szene errichten kann. Wie aber bewerkstelligen die Teile einen Konflikt, in dem sie erst als Teile gezählt werden? Die Beantwortung dieser Frage ist nur möglich, wenn man realisiert, dass mit den Begriffen der Polizei und der Politik keine Akteure bezeichnet sind. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um soziale Dynamiken, nämlich um eine Dynamik des Ordnens und eine Dynamik des Umordnens. Eine derartige, sicherlich etwas vereinfachende Umschreibung behauptet die Komplementarität von Politik und Polizei in ihrer wechselseitigen Bezugnahme. »Die Politik wirkt auf die Polizei. Sie wirkt an den Orten und den Wörtern, die ihnen gemeinsam sind, nur um diese Orte neu zu ordnen und das Statut dieser Wörter zu verändern.« (Rancière 2002: 44) Die Politik arbeitet also mit dem Gegebenen, sie nutzt soziale Heterogenität aus (vgl. Laclau 2005: 140).12 Im Bezug auf die polizeiliche Ordnung erlangt die Politik ein Dasein, das jedoch auf der Schwelle von Inklusion/Exklusion dem gespenstischen »Dasein eines Abwesenden« gleicht (Derrida 2004: 20).13 Rancières Figur der Subjektivierung ist eine Entität in der Schwebe, weshalb auf ihr die performative Beweisführung der eigenen Existenz lastet. Das Subjekt der Politik hat eine Selbstproduktion zu bewerkstelligen, was darauf hindeutet, dass die Politik sich techno-logisieren muss. Den polizeilichen Techniken der Ausnahme entsprechen am ehesten Techniken der Annahme, insofern die Herausforderung der Politik darin besteht, eine Szene zu antizipieren, auf der die Rede eines bisher unerhörten Subjekts zählt. Politik agiert folglich im fiktionalen Modus des »als ob« (Rancière 2002: 64), sie vollführt eine Ästhetik der Sichtbarmachens als Ästhetik der Existenz. Die Nennung von Foucaults Ästhetik der Existenz geschieht hier nicht zufällig. Denn das Konzept verweist auf den schmalen Grat, auf dem sich die politische Dynamik des Umordnens bewegt: Ihre Produktivität ist nicht zu verwechseln mit einer creatio ex nihilo, alleine schon deshalb, weil das Ausgeschlossene niemals einfach abwesend ist, sondern als Unhörbares/ Unsichtbares insistiert.14 Insbesondere wenn das Ausgeschlossene von einem gouvernementalen Regime, wie oben dargestellt, mit Grenzbegriffen belegt wird, muss die Produktivität der Politik mit einer Umarbeitung der Ordnungskategorien einhergehen: »Jede Subjektivierung ist eine Entiden-

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148 | Susanne Krasmann/Sven Opitz tifizierung, das Losreißen von einem natürlichen Platz« (Rancière 2002: 48). Zweifellos handelt es sich hierbei um eine gleichermaßen schwierige wie riskante Operation. Vor allem aber macht eine solche Fassung des Problems deutlich, dass die bloße Adressabilität von Personen, anders als es die Systemtheorie nahelegt, noch kein Kriterium für deren Inklusion ist. Politik umschreibt vielmehr den Vorgang des Umarbeitens der Bedingungen von Adressabilität in eine Richtung, die die Freiheitsgrade des Adressierten durch die Implementierung einer Wechselseitigkeit erhöht. Damit lässt sich der Bogen schließen, das Argument kann sich an dem Versuch einer kommunikationstheoretischen Reformulierung erweisen. Urs Stäheli hat im Rahmen seiner dekonstruktiven Lektüre von Niklas Luhmanns Arbeiten darauf hingewiesen, dass aus Sicht der Systemtheorie die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Macht, Recht oder Wahrheit eine »›Policing‹-Funktion« (2000: 235f.) ausüben. Über sie sichern die jeweiligen Systeme ihre kommunikativen Routinen ab und bauen Erwartungsstrukturen auf. Die Medien etablieren eine »Struktur des ordering« (ebd.: 117), insofern der Einsatz von Macht, Recht oder Wahrheit zur Annahme einer Kommunikation auffordert und deshalb ordnungsbildend wirkt. Das heißt jedoch auch, dass sich genau an dieser Stelle die Frage der Inklusion und Exklusion von Personen entscheidet. So spielt sich die Diskriminierung zwischen beiden Seiten der Unterscheidung im Zugriff auf Medien ein. Nur wer zum Beispiel die akademischen Regeln der Wissensproduktion beherrscht und über anerkannte Abschlüsse verfügt, dessen Äußerung werden auch in der Wissenschaft anhand der Differenz wahr/nicht wahr beobachtet. Umgekehrt verhallen diejenigen Kommunikationsversuche als Lärm, die infolge eines mangelbehafteten Mediengebrauchs von keinem Code als systemrelevant erachtet werden. Wer zum Beispiel nicht mit Euro, sondern mit Papierrosen zahlen möchte, wird Probleme haben, diesen Versuch überhaupt als Zahlungsvorgang identifizierbar zu machen. Politik, in dem hier vertretenen weiteren Sinn, bahnt sich immer dann an, wenn in Bezug auf die Frage von Inklusion und Exklusion ein Moment der Unentscheidbarkeit eintritt: Das System kann nicht definitiv klären, ob eine Kommunikation stattgefunden hat oder nicht, ob man es überhaupt mit einer mitwirkungsrelevanten Person zu tun hat oder nicht – und gerät darüber ins Stocken. Politik beginnt, anders gesagt, mit einer Erosion der systemischen Signifikationsroutinen. An dieser Stelle ist Rancières Rede vom Lärm instruktiv.15 Lärm ergibt sich immer nur systemrelativ als dasjenige, was nicht codierbar ist. Jedes System verfügt über die Fähigkeit, Lärm wegzufiltern. Allerdings gibt es kritische Pegelstände, jenseits derer der Lärm nicht länger überhörbar ist, etwa weil er die regulären Operationen übertönt, verzerrt oder in seinem Rauschen mitreißt. Lärm erweist sich dann als etwas in den Sinnhorizont des Systems Nicht-Integrierbares und zugleich Nicht-Ignorierbares. Er erzeugt im System Irritationen, weil

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er die Konnektivität der Systemoperationen gefährdet. Positiv formuliert, birgt der Lärm einen »maximalen Überraschungswert« (Stäheli 2000: 117), der das System herausfordert. Zieht man in Betracht, dass das System die Differenz von System und Umwelt ist, diese Grenze also permanent in Anschlussoperationen hergestellt werden muss, so schlägt sich die temporäre Unverknüpfbarkeit kommunikativer Ereignisse infolge der Irritation durch ein Ausgeschlossenes im Prozess der Systemdifferenzierung nieder. Die Begegnung mit dem Exkludierten kann an einem nicht im Voraus bestimmbaren Punkt dazu führen, dass die Grenzziehungen des Systems verändert werden. Ein solcher Fall wäre etwa dann gegeben, wenn die Zahlungsunfähigkeit ein solches Maß erreicht, dass die Wirtschaft nur durch die Re-Definition dessen, was als Zahlung zählt, fortbestehen kann. Ein weiteres Beispiel bestünde darin, dass das politische System dem Lärm der Migration mit einer Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts begegnet, um eine größere Legitimität von Regierung und Opposition zu erzeugen. Umgekehrt sind angesichts eines anschwellenden Umwelt-Rauschens ebenso solche systemischen Re-Organisationen denkbar, welche die Exklusivität restriktiver absichern, d.h. die Systemgrenzen enger und entschiedener ziehen. Natürlich ist eine solche Konzeptionalisierung des Verhältnisses von systemisch-diskursiven Formationen zu Prozessen der Inklusion/Exklusion nur indirekt auf die Analytik der Gouvernementalität übertragbar. Aus der Perspektive der Gouvernementalitätsstudien verkehrt sich der Vorteil, auf der Grundlage der Theorie funktionaler Differenzierung die einzelnen Dimensionen der Inklusion/Exklusion detailliert nachzeichnen zu können, in einen Nachteil. Denn ihre Kapazität besteht gerade darin, die Verflechtung der dort separierten Logiken zu fokussieren. So befragt sie etwa die Ökonomie auf den für sie konstitutiven Wahrheitsdiskurs, der Machtwirkungen erzeugt und ein Feld regierbar macht, in dem wiederum bestimmte Rechte taktisch eingesetzt werden. Dennoch muss die Analytik der Gouvernementalität ebenfalls lernen, mit dem unberechenbaren Moment der Disruption zu rechnen. Vor dem Hintergrund der nun vorgelegten Argumentation empfiehlt es sich, zu diesem Zweck die Unterscheidung von Inklusion/Exklusion in ihr begriffliches Register aufzunehmen. Das Dual von Polizei/Politik bietet dazu einen Anknüpfungspunkt, der dabei behilflich sein kann, den zuweilen hermetisch wirkenden Raum der von ihr analysierten gouvernementalen Rationalitäten wieder zu öffnen.

Anmerkungen 1 | Ausgehend von zwei Aufsätzen Niklas Luhmanns, die dieser nach einem ›Besuch‹ in den Armenvierteln Rio de Janeros angefertigt hat (1995a, 1995c), ist eine Vielzahl von Texten zum Thema entstanden. Erwähnt werden sollen zumin-

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150 | Susanne Krasmann/Sven Opitz dest die Abhandlungen von Peter Fuchs (vgl. 2003: 15ff.; 2004: 129ff.), Rudolf Stichweh (2005) und Sina Farzin (2006). 2 | Wörtlich heißt es: »Einiges spricht dafür, daß im Exklusionsbereich Menschen nicht mehr als Personen, sondern als Körper erfasst werden. […] Alles, was wir als Personen erfassen würden, tritt zurück […].« (Luhmann 1995c: 262) 3 | Insofern verweist Foucault, ähnlich wie Luhmann, auf Grenzverläufe zwischen Diskursen. Jede diskursive Systemazität produziert im Vollzug ihrer Formierung einen sozialen Bereich des Außen, der keineswegs das (gemeinsame) Jenseits aller Diskurse bildet. Vielmehr bezeichnet das Außen das, was innerhalb dieses spezifischen Diskurses nicht intelligibel ist, wohl aber innerhalb eines anderen intelligibel sein kann. Foucault ([1966] 2001) thematisiert mit dem Außen also nicht das der Sprache Vorgelagerte, absolut und immer schon Ausgeschlossene, sondern das gleichsam durch die Sprache Ausgeschlossene. 4 | Urs Stäheli legt eine analoge Unschärfe bereits in der Archäologie des Wissens (Foucault [1969] 1973) frei: Hier definiert Foucault die diskursive Formation als ein »System der Streuung« (ebd.: 58) und setzt damit lediglich die zwei gegeneinander wirkenden Dynamiken der Systematizität und der Dispersion in eins, ohne auf die Einheitsbedingungen des Diskurses zu reflektieren (vgl. Stäheli 2004: 227ff.). 5 | Man hat es also auch hier mit einem re-entry im Sinne der Systemtheorie zu tun: Die diskursive Formation reflektiert auf ihre eigenen Grenzbedingungen und konstruiert ein inneres Außen. Sie lässt, mit anderen Worten, die Unterscheidung von außen und innen in sich eintreten, um das Außen innen zu behandeln. 6 | Indem die Physiokraten des 18. Jahrhunderts etwa den freien Kornumlauf als Mechanismus der Nahrungsdistribution gegenüber der merkantilistischen Regulierung der Preise, der Lagerung und des Exports favorisieren, sieht man es als normal an, dass in bestimmten Perioden an bestimmten Orten bestimmte Leute an Hunger leiden und sterben. Mehr noch: Die Nahrungsmittel-Knappheit, die Leute sterben lässt, ist selbst integraler Bestandteil jener Dynamik, welche die Nahrungsdistribution regeln soll (vgl. Foucault 2004a: 68). 7 | Anders als Agamben (vgl. 2002: 39) begreift Butler die Souveränitätsmacht nicht als eine strukturelle Funktion der Ausnahme, sondern als einen möglichen Effekt, dessen Auftauchen nicht determiniert, sondern je spezifisch ist. 8 | Daran hat sich grundsätzlich auch nach dem Urteil des Obersten Gerichts im Juni 2004 über die rechtlichen Möglichkeiten der Gefangenen nichts geändert (Mayer 2005). 9 | Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos charakterisieren diesen neuen gouvernementalen Raum in einer wegweisenden Studie als »postliberal« (2007). 10 | Naucke (1986: 182) leitet dieses polizeiliche Prinzip der Zweckmäßigkeit aus dem Ende einer Kantischen Metaphysik, dem Scheitern einer absoluten Begründung des Rechts her: Damit »kommt es zum Wegfall aller Möglichkeiten, Recht […] zu legitimieren, und es bleibt für die Bestimmung des Verhältnisses der Menschen untereinander nur der Naturzustand oder die Polizei übrig.« Statt einer Metaphysik habe sich im 19. Jahrhundert zusehends eine »Physik des Rechts« durchgesetzt, deren Protagonistin die Polizei ist. 11 | In Der Wille zum Wissen (Foucault [1976] 1977) bestimmt Foucault den Widerstand als »das nicht wegzudenkende Gegenüber« (ebd.: 117) im Inneren jeder Machtrelation. Gegen eine zu statische Lesart dieses Immanenzgedankens unterscheidet etwa Gilles Deleuze das Register der Macht deutlich von dem des Wissens und dem der Subjektivierung, um die Dynamik der Macht als eine Dynamik mikro-

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Regierung und Exklusion | 151 physikalischer Krafteinwirkungen in ihrer Unberechenbarkeit zu akzentuieren (vgl. Deleuze 1987: 103 und passim). 12 | Bei Ernesto Laclau heißt es: »the kind of outside that I am now discussing presupposes exteriority not just to something within a space of representation, but to the space of representation as such. I will call this type of exteriority social heterogeneity.« (2005: 140) Wenn Laclau hier von sozialer Heterogenität spricht, unterstreicht er, dass er von einer Exteriorität spricht, die sich in den Diskurs als Spur einzeichnet. Die Heterogenität ist demnach nicht einfach abwesend, sondern in ihrer Abwesenheit anwesend. 13 | Die Schwierigkeit der Politik besteht folglich darin, dass man ihr die eigene Prekarität offen ansieht – im Gegensatz zu der Prekarität, die jede Ordnung als ihr eigen zu verbergen vermag. Die offene Prekarität der Politik erklärt zudem den Eindruck des Schreckens, den sie zwangsläufig erzeugt: »Wir sehen nicht, wer uns erblickt« (Derrida 2004: 25), weil uns noch kein vollwertiges Subjekt ansieht. 14 | Foucaults Aufsatz über Das Leben der infamen Menschen ([1977] 2003) legt nahe, dass sich ein solches Insistieren im kurzen Zusammenstoß mit der Macht zeigt . 15 | Kurz und bündig heißt es: »Das Problem ist […] die Frage, ob die Subjekte […] sprechen oder Lärm machen.« (Rancière 2002: 62) Wie deutlich geworden sein sollte, handelt es sich sowohl um das Problem der Polizei wie das der Politik.

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Foucaults »juridischer« Machttyp, die Geschichte der Gouvernementalität und die Frage nach Foucaults Rechtstheorie Petra Gehring »Seit einigen Jahrhunderten sind wir in einen Typ von Gesellschaft eingetreten, in dem das Juridische immer weniger die Macht codieren oder ihr als Repräsentationssystem dienen kann.« (Foucault [1976] 1977: 111)

1. Wer Überwachen und Strafen (Foucault [1975] 1976) sowie Der Wille zum Wissen (Foucault [1976] 1977) las, behielt im Hinblick auf das Recht ein irritierendes Bild zurück. Zum einen betätigt sich Foucault als Strafrechtshistoriker. Materialreich und scharfsinnig gilt seine Aufmerksamkeit vor allem Fragen des Strafverfahrens und des Strafvollzugs. Diese strafjustiztheoretische Spur von Foucaults Arbeit hat bereits in Wahnsinn und Gesellschaft ([1961] 1969) begonnen (vgl. etwa ebd.: 464ff.). Sie führt über den Fall Pierre Rivière (Foucault [1973] 1975) und die Vorlesung über Die Anormalen (Foucault [1999] 2003) bis zu den gemeinsam mit Arlette Farge publizierten Forschungen über die rechtspolitisch vieldeutige Bitt- und Denunziationskultur der Lettres de cachet (Farge/Foucault [1982] 1989; vgl. auch Foucault [1977] 2003). Die Straf- und Disziplinarrechtsgeschichte steht jedoch nicht allein da. Vielmehr spielt das Recht im Denken Foucaults noch eine zweite, eine exemplarische Rolle. Es prägt Foucaults machtgeschichtliche Überlegungen – genauer: seine Hintergrundannahme von historisch sich ablösenden, für bestimmte Epochen der europäischen Geschichte charakteristischen »Formen« oder auch »Spielarten« (Foucault [1975] 1976: 247f., 284) oder »Typen« (vgl. ebd.: 111, 276f.) der Macht.1 Mit Überwachen und Strafen und den Arbeiten im Umfeld wird das Recht zur Epochensignatur, denn Foucault beschreibt den sich im 18. Jahrhundert anbahnenden und im 19.

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158 | Petra Gehring Jahrhundert vollzogenen Umbruch zur modernen Disziplinargesellschaft als eine Depotenzierung des Rechts: Die symbolischen Machttechniken des politischen Souveräns des Ancien Régime verschwinden nicht völlig, aber sie werden überlagert durch wirksamere Techniken als solche der Inszenierung von Befehl und Gesetz. Eine »neue Physik« (ebd.: 267), neue, auf Individualisierung nicht des Machthabers, sondern der Machtunterworfenen angelegte Empirien unterstützen die Kontrolle der räumlichen und zeitlichen Verfügbarkeit der Körper, »Polizeimacht« und Bevölkerungsstatistik organisieren ein kompaktes politisches Wissen, das auf unmittelbare, kleinteilige, kaum sichtbare Zugriffe hinausläuft, nicht mehr aber auf das öffentliche Schauspiel einer Restitution der Recht gebenden und Recht sprechenden Herrschaftsmacht. Die physische Dressur und dann die modernen, negationslosen Sozialtechniken der Normalisierung und der Kontrolle des Lebens neutralisieren die alte Logik von Todesdrohung und Verbot: So lautet eine der zentralen Botschaften von Überwachen und Strafen. Die Disziplinen schreiben nur scheinbar das Recht fort. Tatsächlich bilden sie »eine Art Gegenrecht« (ebd.: 285) und bringen gänzlich neue, der rechtlichen Bindung fremde Verfahren der Körperkontrolle und der Wissensgewinnung zum Tragen. Im Zuge des 19. Jahrhunderts weiß sich die Disziplinartechnik mit den entstehenden Menschenwissenschaften – Anthropologie, Soziologie, Kriminologie, Sexualwissenschaft – eng zu verbünden. »[H]eimtückisch und gleichsam von unten« (ebd.: 291) dringen der psychologisierende und der sozialwissenschaftliche Blick in die Strafjustiz ein und ersetzen das juridische Phänomen des Rechtsbruchs – das »Verbrechen« – durch die vollkommen andere, gänzlich unjuridische Figur der Delinquenz. Das Verbrechen, diese Einsicht buchstabieren auch andere Texte Foucaults aus den 1970er Jahren aus, korrespondierte unmittelbar mit dem durch das Gesetz geforderten anerkennungsvollen Gehorsam: einer Herrschaftsform und einem Politikerfordernis vormodernen Typs. »Das Verbrechen war in dem Maße ein Verbrechen, als es aufgrund der Tatsache, ein Verbrechen zu sein, den Souverän anging; es betraf die Rechte und den Willen des Souveräns, wie sie im Gesetz gegenwärtig sind; es griff folglich die Kraft und den physischen Körper des Souveräns an. […] Im kleinsten Verbrechen lag ein Stück Königsmord.« (Foucault [1999] 2003: 109)

Die entscheidende Geste der Rechtsmacht lag wiederum in Strafe als Antwort – in der Strafe als symbolischem Kraftakt, als Marter, als am Körper exekutierter, symbolischer Exzess. Vor diesem Hintergrund nicht von Interesse war so etwas wie eine »Natur« des Rechtsverstoßes. Eben diese aber wird bedeutsam mit der Konstruktion der Delinquenz. Überwachen und Strafen schildert ausführlich die Entstehung der Delinquenz als einer allgemeinen, durch statistische Fassung, Pathologisierung und Psychologisie-

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rung der Kriminalität wirklich gemachten Sozialdimension. Die Delinquenz schreitet von der Tat zum Täter, sie verabschiedet das Verbrechen und unterwirft das delinquente Subjekt nicht länger einer strafenden Prozedur, sondern einer Behandlung, und diese wurzelt in der Disziplin, nicht im Recht. Sie zielt auf die Natur der Delinquenz und des Delinquenten, soll diese verändern, bessern, »normalisieren«. Dem Symbolismus der Strafe wie auch dem der juridischen Ordnung der souveränen Herrschaft innewohnenden Vertragsband steht jener einseitige, skalierende Blick der Normalisierungsanstrengungen des 19. Jahrhunderts diametral entgegen. Techniken der Menschenbehandlung ersetzen Rechtsverfahren. »Die Delinquenz«, heißt es am Ende von Überwachen und Strafen, »ist die Rache des Gefängnisses an der Justiz« (Foucault [1975] 1976: 328). Tatsächlich erhält das Recht bei Foucault neben der Ebene der Strafrechtsgeschichte und dem Aspekt der Epochencharakteristik eine dritte, noch abstraktere Funktion – und zwar mit Foucaults Überlegungen zum Machtbegriff, so wie sie in der Der Wille zum Wissen entfaltet werden. Foucault kritisiert die Praxis und die Theorie der Psychoanalyse zum einen historisch: als eine Unternehmung, die mit modernen Mitteln an Geständnistechniken älteren Typs anknüpft und dabei alles andere als eine Befreiung des Patienten ins Werk setzt. Was die Psychoanalyse produziert, ist vielmehr eine Selbstnormalisierung des Ich – auch in der Theorie. Das normale Ich lernt, dass es – von den Objektivationen seines Geschlechts getrieben – um seine eigene Wahrheit nur mehr ringen kann. Damit ist die Psychoanalyse für Foucault zum anderen systematisch von Belang: als Fall einer »repressiven« Theorie des Gesetzes und der Macht. Foucaults Kritik an allen »repressiven« Modellen der Macht ist bekannt. Folgt man seiner schwungvollen Polemik, so handelt es sich bei der sogenannten »Repressionshypothese« um eine »juridische« Konzeption der Macht. »Man muß«, lautet in Überwachen und Strafen ein berühmtes Diktum, »aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches« (Foucault [1975] 1976: 250). In Der Wille zum Wissen listet Foucault die Merkmale dieser (falschen) »juridisch-diskursiven« Vorstellung auf, die Macht sei in ihrem Wesen ein Mechanismus der »Unterdrückung«. Er verwirft die bisherige »Theorie« der Macht – und er stellt ihr den methodologischen Gegenentwurf einer »›Analytik‹ der Macht« (Foucault [1976] 1977: 102) gegenüber. Anstelle einer Auffassung der Macht als Verneinung, als Negationsbeziehung, als »Gesetz«, »Verbot« (und Drohung) oder auch als »Zensur« gelte es, die Macht nur mehr »strategisch« zu denken. Verabschieden muss sich das Denken schließlich von jeder Annahme einer Einheitlichkeit der Macht – und der Homogenität ihrer Formen. Die Macht gibt es nicht. Im Gegenteil: Indem sie sich als Einheit behauptet, indem sie ihre heterogenen Me-

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160 | Petra Gehring chanismen, ihre »Dispositive«, verbirgt, sichert sich eine juridische (und daher homogene) Konzeption der Macht ihren eigenen Durchsetzungserfolg. »Würde die Macht akzeptiert, wenn sie gänzlich zynisch wäre?« (Ebd.: 107) Diese Frage folgt in Der Wille zum Wissen auf eine Frage, die der Text zuvor selbst stellt: »Warum akzeptiert man diese juridische Konzeption der Macht so ohne weiteres. Und läßt damit alles unter den Tisch fallen, was die produktive Effizienz, den strategischen Reichtum und die Positivität der Macht ausmacht?« (Ebd.: 106) Letztlich gibt es im Text eine kurze und bündige Antwort. »Reine Schranke der Freiheit – das ist in unserer Gesellschaft die Form, in der sich die Macht akzeptabel macht.« (Ebd.: 107) Materielle Strafrechtsgeschichte, Epoche juridischer Machtausübung und »juridische« Konzeption der Macht – dreifache Inanspruchnahme des Rechts im Werk Foucaults: das ist die eingangs als »irritierend« bezeichnete Lage. Zugleich bietet Foucault nirgends eine Untersuchung des Rechts oder des Juridischen – als Diskurs oder auch als Dispositiv. An anderer Stelle habe ich diese Diagnose ausführlich behandelt (Gehring 2000). Es scheint, dass es bei Foucault eine wirklich durchgreifende Umgangsweise mit dem Gegenstand Recht nicht gibt. Gewiss lässt Foucault die Ebenen nicht einfach nebeneinander stehen: In Überwachen und Strafen werden die Befunde zur Geschichte des Strafrechts mit der Epochencharakteristik nach Kräften verbunden – und Der Wille zum Wissen verknüpft die Epochencharakteristik mit der allgemeinen Machttheorie. Mit Blick auf die Jetztzeit konstatiert Foucault außerdem eine Art anachronistisches Verhältnis zwischen Machttheorie und den tatsächlichen Machtstrukturen. Im Grunde sei »die Repräsentation der Macht« epochenübergreifend im Banne der Monarchie verblieben: »Im politischen Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt.« (Foucault [1976] 1977: 110) »Mit anderen Worten«, heißt es etwas drastischer einige Jahre später in Die Maschen der Macht, »im Westen hatte man nie ein anderes System der Repräsentation, Formulierung und Analyse von Macht gehabt als das System des Rechts und der Gesetze« (Foucault [1981a] 2005: 228). Obwohl wir strafrechtsgeschichtlich und »epochal« gesprochen längst in die Epoche der Disziplinar- und der Bio-Macht eingetreten sind, haftet den Darstellungen der Macht etwas Nachträgliches, etwas historisch Verschlepptes an. Das Reden über Macht und die Theorie scheinen im Souveränitätsmodell befangen. Dennoch bleibt der Status einer solchen Beobachtung Foucaults unklar. Handelt es sich um einen Nachklang der Epoche der Souveränität, oder haftet dem »juridischen« Denken der Macht vielleicht sogar etwas Überhistorisches an, gehorcht Macht immer irgendwie dem Schema einer Gegnerschaft von Unterdrückung und Begehren? Jedenfalls, so deutet Foucault an, reichen die Wurzeln der Vorstellung von Unterdrückung und Befreiung über den Zusammenhang von Macht und Geschlecht hinaus »tief in die Geschichte des Abendlandes« hinein (Foucault [1976] 1977: 103).

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Die Spanne ist immens zwischen Überlegungen wie diesen und der Ebene der Rechtsgeschichte selbst. Wie steht das ältere Recht zum Epochenschema der Macht, was genau soll am Recht für einen ganzen Machttyp paradigmatisch sein und vor allem: wie wäre dasjenige neuere Recht zu begreifen, das mit der Epoche der Disziplinen und des Lebens erst entsteht – nämlich das »positivierte« Recht der Moderne? Will Foucault es tatsächlich vor allem als eine Schwundstufe fassen, als einen Abglanz der alten Repräsentativmacht des klassischen Souveräns? Gibt es keine Eigenart, keine spezifische Form der modernen, voll positivierten Juridizität? Wie bestimmt der Theoretiker des Strafens, der Machtformen und der Diszplinarmacht überhaupt diese Form und diesen Singular: das Recht? Foucaults Texte erklären sich nicht.

2. Zwei verschiedene Untersuchungsrichtungen möchte ich im Folgenden miteinander verbinden. Die eine zielt auf Abstraktion und gilt der offenen Frage nach Foucaults Denken des Rechts. Die andere zielt direkt auf bestimmte Texte, denn es könnte lohnend sein, die Frage nach dem Recht noch einmal ausdrücklich an die erst 2004 erschienenen Manuskripte zweier in der deutschen Ausgabe mit dem gemeinsamen Obertitel Geschichte der Gouvernementalität (Foucault 2004a; 2004b) überschriebenen Vorlesungen zu richten, die Foucault in den Jahren 1977 bis 1979, also nach dem Erscheinen von Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen, gehalten hat. Fällt in den beiden Gouvernementalitätsvorlesungen auf den Gegenstand Recht oder auch auf das oben skizzierte historisch-systematische Ineinander von Strafrecht, »juridischer« Machtform und Machttheorie ein neues Licht? Verändert die neue Literaturlage möglicherweise sogar das Bild? Mit der in Sachen Recht ergiebigeren ersten der beiden Vorlesungsreihen, zusammengefasst sowie in der Nachschrift publiziert unter dem Titel Securité, territoire et population2 und gehalten im Vorlesungsjahr 1977/ 1978, wendet sich Foucault erneut ungefähr demjenigen Zeitausschnitt zu, den Überwachen und Strafen umfasst und der auch für Wahnsinn und Gesellschaft, Die Geburt der Klinik ([1963] 1988) und Die Ordnung der Dinge ([1966] 1971) eine entscheidende Rolle spielt: dem 16. und dann vor allem dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Es ist, als wolle Foucault vor allem die zuletzt genannten drei Jahrhunderte mit ihren gravierenden Wandlungen wie ein Fresko wieder und wieder mit dünnen Farbaufträgen übermalen und so ein Bild aus Interferenzen und Phasenverschiebungen entstehen lassen, ein Bild aus Bildern, in denen sich Forschungsanläufe oder Durchgänge überlagern.

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162 | Petra Gehring

2.1. Eine erste Sonde, die ins Material hineingehalten wird, heißt »Sicherheit«. Foucault kündigt an, »eine Art Geschichte der Sicherheitstechnologien« (Foucault 2004a: 26) versuchen zu wollen. Kann man für die entstehende Moderne auch von der Formation einer »Sicherheitsgesellschaft« sprechen, von einer »Gesamtökonomie der Macht«, welche »die Form der Sicherheitstechnologie hat oder jedenfalls von ihr dominiert ist« (ebd.)? Dieser Blickwinkel lässt sich auch als eine Differenzierung des schroffen Gegensatzes von juridischer und disziplinarischer Machtausübung lesen. Zwar rückt Foucault das Aufkommen von Sicherheitstechniken in das vertraute Schema von der Ablösung eines »juridischen Mechanismus« strafgesetzlicher Verbote vom Mittelalter bis ins 17. und beginnende 18. Jahrhundert durch im 18. Jahrhundert aufkommende »Disziplinarmechanismen« der (tendenziell: präventiven) Erfassung und Behandlung. Das Dispositiv der Sicherheit soll in dieser Abfolge eine dritte Stufe bilden. Es datiert auf das 19. Jahrhundert und beruht auf einer ökonomischen Optimierungslogik, die auf statistischen Werten aufsetzt und in welcher die Individualprognose wie überhaupt der individuelle »Fall« Eingang finden. Neue mathematische – oder soll man sagen: durchschnittsmathematische, normalmathematische Techniken bilden den Kern einer Epoche der Sicherheit, die bis in die Gegenwart reicht: »Das Rechtssystem, das ist der archaische Strafbetrieb […]. Das zweite ist dasjenige, das man modern nennen könnte und das seit dem 18. Jahrhundert installiert wurde, und dann das dritte, das […] das zeitgenössische System ist und dessen Problematik schließlich recht früh in Erscheinung zu treten begann, das zur Zeit jedoch im Begriff ist, sich um neue Formen der Strafe und der Kostenkalkulation von Strafen herum zu organisieren […].« (Ebd.: 20)

Diese Bemerkung zielt erkennbar erneut auf die Strafrechts- und Strafrechtstheoriegeschichte: Mit den gesamtgesellschaftlichen Kostenmodellen der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts dämmert das neue Paradigma der Schutz- und Verwahrstrafen herauf. Das Verbrechen wird im doppelten Wortsinne »normal«: Als statistische Größe wird es jeder Metaphysik entkleidet – und als Phänomen wird es in Kategorien der Abweichung von einer Normalität erfasst und behandelt. Die Abweichung von der Normalität liegt dabei nicht mehr in der »Tat«, sondern in der Person des Täters – und idealtypisch ist das Ziel der Behandlung ein statistisch maximaler »Erfolg« in der Prävention von abweichendem Verhalten.3 Souveränität – Disziplinierung – Sicherheit: Dieser Dreischritt wird im Fortgang der Vorlesungen mehrfach getan. Foucault nimmt das Schema allerdings schon gleich zu Anfang zum Anlass für eine wertvolle Klarstellung in Sachen Recht: Der fragliche Wandel lässt die älteren Momente

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beim Hinzutreten der neuen nicht verschwinden, dies war auch früher schon zu lesen gewesen (vgl. etwa Foucault [1976] 1977: 172); nun jedoch heißt es näher: Um eine »Serie« (Foucault 2004a: 22) gehe es mit diesen drei Stichworten nicht. Es ändere sich vielmehr »das Korrelationssystem zwischen den juridisch-rechtlichen Mechanismen, den Disziplinarmechanismen und den Sicherheitsmechanismen.« Was zähle, sei jenseits der »Techniken« »die Geschichte der Technologien«, nämlich diejenige »der Korrelationen und dominanten Systeme, die bewirken, daß sich in einer gegebenen Gesellschaft […] zum Beispiel eine Sicherheitstechnologie installiert, indem sie sich im Inneren ihrer eigenen Taktik juristische Elemente, disziplinarische Elemente zu eigen macht und in Gang setzt« (ebd.: 23). Im Klartext: Hier bestätigt sich der Eindruck des Mehrebenenmodells. Foucault unterscheidet die Ebene der juridischen Machtform von den positiv vorfindlichen rechtlichen Techniken. Die »Form« oder auch der historische »Typ« einer Macht definiert sich dabei auf einem gesonderten Niveau. Hier geht es nur mehr um die Charakterisierung einer »Korrelation« zwischen konkreten Elementen (die ihrerseits wiederum rechtliche, aber auch nichtrechtliche, etwa disziplinäre, sicherheitstechnische, symbolische sein können). Die juridische »Form« ist somit ein übertragener Begriff.

2.2. Eine zweite Sonde heißt »Normalisierung«. Unter diesem aus seinen früheren Schriften schon vertrauten Stichwort kommt es Foucault nun darauf an, die epochale Differenz zwischen der Disziplin und einer – der Logik der Sicherheit zugehörigen – abstrakteren Orientierung herauszuarbeiten, nämlich einer, die sich auf »Bevölkerung« und in einem allgemeinen Sinne auf das physische »Leben« (dieser – vom Prozess zur Entität sich wandelnden Bevölkerung) bezieht. Foucault spaltet den Normalisierungsbegriff jetzt regelrecht auf: Es soll einen spezifischen Normalisierungsbezug der Disziplin geben und einen davon unterscheidbaren Normalisierungsbezug der Sicherheit. Erneut wird an dieser Stelle das Recht tangiert. Foucault kommt zunächst kurz auf Kelsen zu sprechen: Kelsen habe nicht zuletzt aussagen wollen, dass jedes System von Gesetzen sich auf ein Normensystem bezieht.4 Und dann folgt eine kompakte Überlegung zur Differenz von Gesetz und Norm: Es sei zu zeigen, »daß die Beziehung zwischen Gesetz [loi] und Norm [norme] tatsächlich darauf hindeutet, daß es da etwas jedem Gesetzesimperativ intrinsisches gibt, das man eine Normativität [normativité] nennen könnte; diese dem Gesetz intrinsische und für das Gesetz möglicherweise fundierende Normativität kann jedoch keinesfalls mit dem verwechselt werden, was wir hier unter dem Namen Prozeduren, Verfahren, Techniken der Normalisierung [normalisation] herauszustellen versuchen. Ich möchte sogar sagen: Wenn es wahr ist, daß sich das Gesetz auf eine Norm bezieht,

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164 | Petra Gehring so besteht die Rolle und Funktion des Gesetzes – ja sogar die Gesetzesoperation selbst – darin, eine Norm zu kodifizieren, mit Bezug auf die Norm einer Kodifikation auszuarbeiten; das von mir versuchsweise herausgestellte Problem ist hingegen zu zeigen, wie sich von einem Gesetzessystem ausgehend, unter diesem, in dessen Spielräumen und vielleicht sogar diesem zuwiderlaufend Techniken der Normalisierung entwickeln.« (Foucault 2004a: 88)5

Das Gesetz ist also die kodifizierte – Kelsen würde sagen: die »statuierte« – Norm. Die Disziplin hingegen, so erläutert Foucault weiter, »normalisiert«. Sie geht vom Gesetz aus, bewegt sich aber – zergliedernd, klassifizierend, sequenzierend, kontrollierend – in eben jenen Spielräumen unterhalb, innerhalb und jenseits der Kodifikation. Dabei haben Disziplinartechniken zur Norm allerdings ein ganz bestimmtes Verhältnis, sie nehmen die Norm nämlich als eine Art Vorschrift – und dies ist ein Punkt, der die Normalisierungstechniken der Disziplin von den Normalisierungstechniken der Sicherheit unterscheidet: »Die disziplinarische Normalisierung besteht darin, zunächst ein Modell, ein optimales Modell zu setzen, das in bezug auf ein bestimmtes Resultat konstruiert ist, und der Vorgang der disziplinarischen Normalisierung besteht darin, zu versuchen, die Leute, die Gesten, die Akte mit diesem Modell übereinstimmen zu lassen, wobei das Normale genau das ist, was in der Lage ist, sich dieser Norm zu fügen, und das Anormale ist das, was dazu nicht in der Lage ist.« (Ebd.: 89f.)

Die Sicherheitsdispositive jedoch »normalisieren« ganz anders – Foucault erläutert das am Beispiel des Einsatzes von Impftechniken zum Umgang mit dem (statistisch vermittelten) Phänomen der Epidemie. Zum Einzelnen als »Fall« in einer statistischen Verteilung gehört so etwas wie eine »normale Mortalität«, auf die dann »Risiken« aufgetragen werden können – wie überhaupt auf eine Fülle von differentiellen Normalitäten gleichsam gegeneinander gerechnet und stufenlos konstruiert werden können. »Wir haben also«, folgert Foucault, ein System, das sich »genau umgekehrt verhält wie das, was bei den Disziplinen zu beobachten war. In den Disziplinen ging man von einer Norm aus, und mit Rücksicht auf die von der Norm bewerkstelligte Ausrichtung konnte man das Normale vom Anormalen unterscheiden. Hier haben wir, im Gegenteil, eine Ortung der verschiedenen Normalitätskurven, und der Vorgang der Normalisierung besteht darin, diese verschiedenen Normalitätsaufteilungen wechselseitig in Gang zu setzen und auf diese Weise zu bewirken, daß die ungünstigsten auf die günstigsten zurückgeführt werden. Wir haben hier also etwas, das vom Normalen ausgeht und sich bestimmter Aufteilungen bedient, die, wenn Sie so wollen, für normaler, für günstiger als die anderen gehalten werden. Es sind diese Aufteilungen, die als Norm dienen. Die Norm ist ein Spiel im Inneren von differentiellen Normalitäten. Das Normale kommt als erstes,

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Die Frage nach Foucaults Rechtstheorie | 165 und die Norm leitet sich daraus ab, oder die Norm setzt sich ausgehend von dieser Untersuchung der Normalitäten fest und spielt ihre operative Rolle.« (Ebd.: 98)

Foucault schlägt zur Unterscheidung der beiden Normalisierungen eine Sprachregelung vor. Jenen zwar diesseits des Gesetzes sich entfaltenden, aber doch »vorschreibenden« Normalisierungstypus der Disziplin sollte man eigens benennen: »Wegen dieser Haupteigenschaft der Norm im Verhältnis zum Normalen, wegen dieses Faktums, daß die disziplinarische Normalisierung von der Norm zur abschließenden Teilung von Normalem und Anormalem führt, ziehe ich es vor, zu sagen, es handelt sich eher um eine Normation [normation] als um eine Normalisierung.« (Ebd.: 90)

Bei dem von der Normalität ausgehenden, der Idee nach mathematischen Ableitungsverfahren, auf das sich die Sicherheitstechniken stützen, ist das Wort Normalisierung hingegen angebracht: »Hier würde ich sagen, daß es sich nicht mehr um eine Normation handelt, sondern eher, im engeren Sinne, um eine Normalisierung.« (Ebd.: 98) Normalisierung und »Normation« (im Deutschen könnte man trotz Mehrdeutigkeit wohl durchaus Normierung sagen) – und beiden gegenüber das Gesetz als das explizite, das rechtssatzförmige Gebot. Das ergibt eine Art allgemeiner Normentheorie – eine, die wiederum allerdings das »Juridische« prototypisch eng fasst und, man könnte sagen: dem »Recht« einen staatsgesetzlichen Charakter gibt.

2.3. Eine dritte Sonde, mittels derer Foucault in Sicherheit, Territorium, Bevölkerung die politische Geschichte seit der frühen Neuzeit analysiert, ist das Problem der »Bevölkerung« – jenes schillernde Quasi-Phänomen, auf dessen Erscheinen im 18. Jahrhundert bereits Der Wille zum Wissen eingehend zu sprechen kommt (vgl. Foucault [1976] 1977: 37f.), in einem Kontext, in dem dann namentlich das Thema des auf neue Weise populationsweit gedachten »Lebens« als Objekt einer fortpflanzungs- und gesundheitstechnischen »Bio-Politik der Bevölkerung« (ebd.: 166ff.) von Bedeutung ist. In der Vorlesung wird das Thema nun tiefer gelegt und auch vorverlagert. Bereits im 17. Jahrhundert rückt aus kameralistischer und merkantilistischer Perspektive die Bevölkerung auf eine neue Weise in den Blickpunkt des Regierens. Ganz pauschal betrachtet war es zu allen Zeiten für einen Machthaber bedeutsam, ein großes und zufriedenes Volk zu haben. Mit dem entstehenden Wirtschaftsverwaltungsdenken des 17. Jahrhunderts erhält die Bevölkerung jedoch erstmals die Rolle eines »grundlegenden« Elements, einer »produktiven Kraft« – und zwar für das ertragreiche Wirt-

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166 | Petra Gehring schaften wie auch für den Staat überhaupt. Mit den Ökonomietheorien der Physiokraten und erst recht im 19. Jahrhundert wird sich die Art der Bedeutung, die die Bevölkerung für die Macht gewinnt, stark verändern. Aber schon der Merkantilismus impliziert eine den Disziplinarmechanismen gemäß der Ordnung zugängliche Bevölkerung: Allerdings »betrachteten sie sie im Grunde lediglich als die Menge der Untertanen eines Souveräns, denen man von oben auf völlig voluntaristische Weise eine gewisse Anzahl von Gesetzen und Verordnungen akkurat auferlegen konnte, die ihnen sagten, was zu tun war und wo und wie es zu tun war. Anders gesagt, die Merkantilisten betrachteten gewissermaßen das Problem der Bevölkerung wesentlich von der Achse Souverän-Untertan aus: nämlich als Rechtssubjekte, als einem Gesetz unterworfene Untertanen, als Untertanen, die für eine Einrahmung durch Verordnungen geeignet seien […].« (Foucault 2004a: 107)

Damit verknüpft Foucault die politisch-ökonomisch umfassende Frage nach der »Emergenz der Bevölkerung« (ebd.: 120) direkt mit dem Problem der Souveränität – und die Souveränität wiederum hatte er ja – wie im Zitat auch wieder – stets unmittelbar mit dem Thema des »Juridischen« verbunden. Durchaus analog zu Überwachen und Strafen rekonstruiert Foucault im Fortgang der Vorlesung vor allem die Phasen der Ablösung dieser frühen politischen Form einer erst noch als Untertanenherrschaft und noch nicht als Menschenregierung funktionierenden Einheit. Insbesondere ist es das mit dem Auftreten der Physiokraten beginnende Wichtigwerden der Natur, der »Naturalität« der Bevölkerung, das ihn interessiert: »Was bewirkt, daß die Bevölkerung von diesem Moment an nicht vom juridisch-politischen Begriff des Untertanen wahrgenommen wird, sondern als eine Art technisch-politisches Objekt einer Verwaltung oder Regierung? Was ist diese Naturalität?« (Ebd.: 108) Dennoch soll für uns nicht dieser Punkt wichtig sein – das Auftun einer Interessennatur und schließlich von Arbeits- und Sexualnatur, kurz: »Leben« – sondern eine Vorfrage: die Frage nach dem Zusammenhang von »juridischer« Machtform und Souveränität. Foucault beschreibt das Auftreten einer naturalisierten Bevölkerung ein wenig wie eine Nötigung mit am Ende so etwas wie einer Demission des Souveräns. Das Genau-wissen-Wollen bezüglich der Bevölkerung markiert den »Eintritt in das Feld der Machttechniken einer ›Natur‹, die nicht das ist, welchem, über das und gegen das der Souverän gerechte Gesetze auferlegen und einsetzen darf.« Vielmehr scheint die unbekannte Natur der Bevölkerung so beschaffen, »daß der Souverän im Innern dieser Natur, mit Hilfe dieser Natur, wegen dieser Natur durchdachte Regierungsprozeduren aufbieten muß« (Foucault 2004a: 114). Der Souverän muss regieren – und in dem Maße, in dem jenes Phänomen einer »Natur« der Bevölkerung politisch bedeutsam hervortritt, ist

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die vormals auf das Verfertigen gerechter Gesetze beschränkte Regierungskunst vor grundsätzlich neue Aufgaben gestellt. »Regierung« (gouvernement) – damit ist Foucault bei dem Thema, das den Rest der Vorlesung überstrahlt. Das Problem setzt im 16. Jahrhundert ein, in der Zeit der Entstehung des Souveränitätsgedankens und des frühneuzeitlichen Staates. Foucault lokalisiert sein Thema, indem er weder den Staat noch die Politik, sondern das Regieren als Praxis in den Mittelpunkt rückt, bewusst anders, als die traditionelle politische Geschichtsschreibung die fragliche Zeit zu betrachten pflegt.6 Das Problem des Regierens erscheint in der Nähe der Technik und der Ethik – und es manifestiert sich auf mehreren Ebenen: als Problem der Leitung seiner selbst, als Problem der Seelen- und Verhaltensführung, als Problem der Lenkung von Kindern, als Problem der Lenkung von Staaten durch Fürsten (vgl. Foucault 2004a: 135). Schon für das 16. Jahrhundert – eine Zeit, die gemäß dem Foucault’schen Schema noch ausdrücklich unter dem Vorzeichen des Juridischen steht – tut sich mit der Position des staatlichen Souveräns bereits ein ganzes Aufgabenfeld auf: Regierung ist im Staat multipel gegeben – und sie zieht deswegen nicht nur ein umfassendes Ideal von »Ökonomie« (vgl. ebd.: 144), sondern schon im 17. Jahrhundert das Ideal einer »Statistik« als »Wissenschaft« des guten Regierens und später Staatswissenschaft nach sich.7 Nicht das Territorium wird zunächst regiert, sondern regiert werden die Angelegenheiten, die Dinge. Und der Souverän muss gleichsam unterhalb der alten, christlich-aristotelischen Gemeinwohlformeln Dinge konkret ordnen und effizient einrichten lernen. Das wiederum heißt, »eher Taktiken als Gesetze oder allenfalls Gesetze als Taktiken einzusetzen« (ebd.: 150) und neben der Sanktionsgewalt neue Kompetenzen einzusetzen: Geduld, Kenntnisse, Fleiß. Foucault zufolge handelt es sich bei der auf diese Weise teils juridisch codierten, teils »statistisch« (und das heißt etwa: am Modell der Familie) Maß suchenden Regierungskunst des klassischen Souveräns um eine instabile Form. »Die Regierungskunst konnte ihre eigene Dimension nicht finden« (ebd.: 155) – und zwar solange nicht, bis nicht (dank der zunehmenden statistischen Modellierung einer der Ökonomie korrespondierenden »Natur«) die Bevölkerung als Bezugsgröße herausgearbeitet und auch – praktisch, technisch, epistemisch – sichergestellt werden kann. In Foucaults Worten: »Solange die Souveränität das Hauptproblem war, solange die Institutionen der Souveränität die grundlegenden Institutionen waren und solange die Machtausübung als Ausübung der Souveränität reflektiert wurde, konnte sich die Regierungskunst nicht auf eine spezifische und autonome Weise entwickeln […].« (Ebd.: 153)

Das ist eine starke These. Schon durch ihren kausalen Charakter hat sie in Foucaults Werk Seltenheitswert. Sie konterkariert freilich in keiner Weise seine früheren Überlegungen zum Repräsentationssystem der Klassik, zur

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168 | Petra Gehring Ablösung der symbolisch vermittelten Herrschaft durch Machtformen eines »physischen«, polizeilich und wissenschaftlich vermittelten Charakters, zur Transformation der Machtstrukturen im Zeitalter einer Vernunft, die nicht nur aus der Gelehrigkeit, sondern auch aus der Gesundheit wie überhaupt aus der Physis ihrer Subjekte ein »rationales« und wahrnehmbares Ganzes namens Gesellschaft zu formen weiß. Die Überlegungen der bisherigen historischen Untersuchungen werden durch den Befund einer Spannung zwischen Souveränität und Regierung vielmehr um ein wichtiges Bindeglied erweitert. Es gibt also ein tiefliegendes Begründungsproblem moderner Souveränität – Foucault leuchtet diese Lage bis zum Vorlesungsende mit Entschlossenheit weiter aus. Dabei rückt er insbesondere denjenigen Gegenstand aus dem Zentrum, der für Geschichtsschreibung wie politische Theorie stets als Erklärungsgröße entscheidend war: den Staat. Geschichte der Gouvernementalität – das wäre die Ablösung der politischen Geschichtsschreibung von der »Überbewertung des Staatsproblems« (ebd.: 163). Vor dem Hintergrund jener Spannung zwischen depotenziertem Recht und technischen Belangen der Ökonomie lässt sich der Staat neu lesen – als, so heißt es im Text programmatisch, »vielleicht nur eine bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit, eine mythifizierende Abstraktion« (ebd.).

2.4. Als eine vierte Sonde könnte man das Thema der »Pastorale« nennen – Dezentrierung des vermeintlich kompakten Wesens Staat, dabei unter anderem Hinführung zur Ethik und damit Wegführung vom Recht.8 Zur Neugründung der Frage nach dem Politischen in der Thematik des Regierens (gouverner) oder auch der »Führung"9 nimmt Foucault in Sicherheit, Territorium, Bevölkerung den berühmten Bogen über die Analyse der Pastoralmacht, die man aus der publizierten Fassung Omnes et singulatim aus dem Jahre 1981 (Foucault [1981b] 2005) kennt. Mit einer These zur Krise der Pastorats und dessen breiter Individualisierung (vgl. Foucault 2004a: 280f.) sowie der Rekonstruktion des langen Übergangs von »der Pastoral der Seelen zur Regierung der Menschen« (ebd.: 331ff.) wird das Thema des Regierens am Leitfaden der theologischen Figur des guten Hirten und als eine Frage der »Führung« neu grundiert. Hatte Foucaults bisherige Datierung des »juridischen« Machttyps das Recht ja mit dem 18. Jahrhundert vor allem verblüffend früh enden lassen, so erscheint das Recht, akzeptiert man die Dominanz der Hirtenpflichten für die Staatsräson, nun zudem erstaunlich spät geboren. Wann und wie ist (oder wird?) Recht überhaupt in der frühen Neuzeit wirksam? Diese Frage – eine frühere Vorlesung hatte dazu einmal auf die Rezeption des römischen Rechts verwiesen (vgl. Foucault 1978: 77) – betrifft im Gouvernementalitätszusammenhang Foucaults Doppelthese einer »Entgouvernementalisierung des Kosmos« bei

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gleichzeitiger »Gouvernementalisierung der res publica« durch die Staatsräson in der Zeit von 1580 bis 1650 (vgl. Foucault 2004a: 343ff.). War der frühere, der »gouvernementalisierte« Kosmos wohl ein juridischer? Aus dem Blickwinkel von Sicherheit, Territorium, Bevölkerung ergibt sich erneut eine Fehlanzeige. Die frühe Theorie der Staatsräson bietet gerade keine juridische, auch keine naturgesetzhafte, sondern eine pastorale Definition der Staatsräson – das ist Foucaults These. »Der Staat ist eine straffe Herrschaft über die Völker«, lautet ein Schlüsselzitat aus Botero (vgl. ebd.: 345). Nicht der juridische Sachverhalt einer »Politik«, sondern »die Politiker« als diejenigen, die die gesuchte Rationalitätsform für sich persönlich zu denken versuchen, sind das erste Subjekt der Staatsräson, aus dem dann das neue Subjekt »Politik« erst entsteht (vgl. ebd.: 356f.). Als das objektive Problem des Regierens erweist sich von hier aus nicht die Gerechtigkeit, sondern die Natur der zu regierenden Dinge und Menschen, und genau in diesem Feld entsteht folglich im 17. Jahrhundert die Neuerung des Staates als regulative Idee einer »gouvernementalen Vernunft« (ebd.: 414f.).

2.5. Wo finden wir nun im Zuge dieser pointierten Analysen auch für das 17. und beginnende 18. Jahrhundert Aussagen zur Rolle der Form Recht? Foucaults Text gibt hierzu keine Auskunft. Zu sehr interessiert ihn in der Gouvernementalitätsvorlesung auch im Hinblick auf die Epoche des »juridischen« Machttyps gerade die Gegenrechnung aller rechtlich imprägnierten Staatsmetaphysik. Der Krieg beispielsweise – Foucault betont den rechtlichen Charakter des mittelalterlichen und die post-juridische Funktion des neuzeitlichen Krieges: Dieser löse sich von seinem rechtlichen Vorwand ab und erhalte eine politische Gleichgewichtsfunktion (vgl. Foucault 2004a: 435f.). Ähnlich die Diplomatie – nach dem Dreißigjährigen Krieg sollte man sie, so Foucault, ganz wörtlich als Kräfteausgleich verstehen, denn der multilaterale Vertrag ist weniger ein juridisches als ein physikalisches Konstrukt: »Eine Physik der Staaten, und nicht mehr ein Recht der Souveräne, wird nun das Grundprinzip […].« (Ebd.: 437) Ähnlich die Polizei, welche die öffentliche Wohlfahrt und Handel zum Ansatzpunkt hat und genau diejenigen infrastrukturellen Machteffekte wirksam verwaltet, mit der die Disziplin wie später auch die Bio-Macht des 19. Jahrhunderts korrespondieren kann. Foucault spitzt dies zu: Die Polizei ist nicht die Justiz. Sie ist nicht, wie der Justizapparat, die Verlängerung des Königs. Sie ist »die unmittelbare Gouvernementalität des Souveräns als Souverän. Wir können auch sagen, daß die Polizei der permanente Staatsstreich ist.« (Ebd.: 488) Mit den genannten vier Momenten wird in Sicherheit, Territorium, Bevölkerung das Problem des Juridischen zwar punktuell berührt, aber es liegt eindeutig gerade nicht auf der Fluchtlinie von Foucaults Forschungsfrage nach der technisch-praktisch bestimmten »gouvernementalen« Dimension.

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170 | Petra Gehring Mit der Vorlesung über Die Geburt der Biopolitik wird hier noch etwas Neues nachgetragen, nämlich die Beobachtung einer »oppositionellen« Funktion des öffentlichen Rechts im 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Foucault 2004b: 24) und von hier aus einer allgemeinen politischen Begrenzungsfunktion des Rechts – und zwar insbesondere Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Gemeint ist der Diskurs der Staatsrechtslehre und der Diskurs der politischen Philosophie, der aus den Legitimationsfragen älteren Typs eine neue Frage gewinnt: »Wie lassen sich der Ausübung öffentlicher Macht juridische Grenzen [bornes juridiques] setzen?« (Ebd.: 65) »Zwei Pfade« sieht Foucault in der theoretischen Ausarbeitung dieser Frage: einen axiomatischen, »juridisch-deduktiven« Weg und einen »induktiven«, »residuellen« Weg. Abgekürzt gesprochen: auf der einen Seite den Diskurs der Menschenrechte, den »revolutionären Weg« und den »radikalen Weg«, auf der anderen Seite den Diskurs des Nutzens: »Der Utilitarismus ist eine Regierungstechnik genauso, wie das öffentliche Recht in der Epoche der Staatsräson die Reflexionsform war, oder wenn Sie so wollen, die juridische Technologie [technologie juridique], mit der man versuchte, die unbestimmte Neigungslinie der Staatsräson zu ergänzen.« (Ebd.: 68)

Hier haben wir nun die interessante Konstellation, dass Foucault das Recht nicht auf Seiten des Königs, sondern auf der Seite der Revolutionäre verortet: Es gibt »eine Kontinuität zwischen den Theoretikern des Naturrechts im 17. Jahrhundert und den Juristen und Gesetzgebern der Französischen Revolution« (ebd.: 66). Hat das Juridische die Fronten gewechselt und wenn ja wie? Nur auf der deklaratorischen Ebene? Tatsächlich bleibt die Rede von der »juridischen Technologie« vergleichsweise leer: Was genau ist gemeint? Erscheint das Recht hier als Form der Artikulation von revolutionären Forderungen – so würde es doch wiederum eher auf der Seite der Repräsentation von Legitimität erscheinen, auf der Seite der bloßen Symbolisierungen – und nicht als im Foucault’schen Sinne »moderne« Interventionstechnik, als empirisch (und nicht normativ) gegründete, als mikrophysikalische Technologie.

3. Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Das Juridische ist auch in Foucaults Gouvernementalitätsvorlesungen – trotz jener letzten Überlegung zum System der Menschenrechte, die im Grunde ja aber auch wieder auf die symbolische Ebene von Postulaten und Forderungen abzielt – mehr oder weniger durchgehend gerade nicht technisch, sondern symbolisch bestimmt. Vielleicht ist es sogar mit der Symbolisierung von Macht identisch. Diese Vorentscheidung, das Recht über den autorisierten und expliziten Imperativ zu

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bestimmen, die auch für Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen weichenstellend ist, wird bei Foucault auch später im Großen und Ganzen fortgeschrieben. So sollte man wohl die Nebenbemerkungen Foucaults zum Problem der Rechtsform lesen: Das Juridische ist vor allem Folie, vielleicht sogar Negativfolie. Als Gegenstand für sich lässt Foucault es unbearbeitet liegen.

3.1. Gewisse Ausnahmen bleiben. Eine solche Ausnahme wäre etwa die Vorlesungspassage zum juridischen Charakter des mittelalterlichen Krieges, zum Krieg als »Verhalten der Rechtsprechung« (Foucault 2004a: 435). Die Passage ist leider zu kurz, um – jenseits des historischen Befundes – die Frage an sie zu richten, die in unserem Zusammenhang bedeutsam wäre: Welchen Rechtsbegriff Foucault nämlich wohl in dieser Überlegung selbst in Anschlag bringt, wenn er das mittelalterliche Fehdehandeln als »Recht« bezeichnet. Zumeist stehen in Foucaults Texten ja entweder das Gebot, das positive Befehlsgesetz des repräsentativen Souveräns oder aber das Verbotsgesetz des Strafrechts prototypisch für die Form Recht – und gerade nicht das (technischere) Verfahrensrecht. Auch und gerade das Verfahrensrecht aber scheint an der zitierten Stelle für Foucault nicht nur »Technik«, sondern auch in einem näher zu bestimmenden Sinne genuin »Recht« zu sein. Ähnlich notiert die Vorlesung über Die Geburt der Biopolitik recht unvermittelt eine gesteigerte Bedeutung rechtlicher Schlichtungsverfahren für den Neoliberalismus im 20. Jahrhundert: »Eine Unternehmensgesellschaft und eine Gesellschaft der Rechtsprechung, eine am Unternehmen ausgerichtete Gesellschaft und eine Gesellschaft, die von einer Vielzahl von Institutionen der Rechtsprechung eingerahmt wird, sind zwei Seiten desselben Phänomens.« (Foucault 2004b: 212) Für den Ordoliberalismus gehört das Rechtliche nicht zum Überbau. Vielmehr wird der »Rechtsstaat« erfunden und propagiert – als eine Form des Eingreifens in den liberal gestalteten und gewollten Markt wie auch als eine Form der Vermittlung zwischen Markt und Bürger. Eine (verborgene) Relevanz der juridischen Dimension gibt es auch in der marxistischen Analyse des Kapitalismus: »Das heißt, daß wir bei der Schlacht um die Geschichte des Kapitalismus, der Geschichte der Rolle der Rechtsinstitutionen, der Regel innerhalb des Kapitalismus tatsächlich einen politischen Einsatz haben.« (Ebd.: 233) Foucault nimmt die Idee des Rechtsstaates wie überhaupt die Vision der Fusion von Wirtschaft und Recht freilich vor allem als diskursive Gegenstände in den Blick. Die Geburt der Biopolitik untersucht vor allem neoliberale Theoreme, weniger die ihnen korrespondierenden Praktiken oder institutionellen Realitäten.10 Im Blick auf die Gegenwart liegt genau hier eine der kritischen Pointen der Vorlesung: Sie setzt sich mit dem abgehobenen, um nicht zu

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172 | Petra Gehring sagen hilflosen Charakter jener liberalen Modelle des 20. Jahrhunderts auseinander, mittels derer eine Wissenschaft versucht die Hoffnung zu nähren, das Regieren könne als rahmensetzende soziale Ordnungsmacht den »Markt« bändigen und gleichsam zur Wohlfahrt wenden. Foucaults Analysen zum Ordoliberalismus wären ein Kapitel für sich – denn auch hier wird »das Recht« auf gewisse Weise ins Spiel gebracht und womöglich noch einmal anders, allerdings auch unklarer und unverbundener als vorher, erscheint das Juridische hier als Teil einer typologischen Diagnose – sofern nämlich zum Liberalismus ein Diskurs des »Rechtsstaats« gehöre. Recht wird in diesem Kontext über die »Schlichtung« hinaus auch kaum eigens bestimmt. Foucault liefert eine Diskursstudie zur modernen Wirtschaftspolitikwissenschaft und ihren Begriffen – nicht aber eine Analyse institutioneller Realitäten, etwa konkreter »rechtsstaatlicher« Formen oder überhaupt der spezifischen Machtmomente des modernen positiven Rechts.11 Gleichwohl: Mit Überlegungen wie denen zum Fehdestreit oder denen zur Schlichtung deutet sich der Hauch einer Möglichkeit an, weitergehende Fragen an Foucaults Umgang mit dem Gegenstand Recht zu knüpfen. Noch jenseits der drei Ebenen (Strafrechtsgeschichte, Machttypenschema, Machtbegriff) und auch jenseits des Nachdenkens über deren Vermittlung(en) scheint Foucault hier so etwas wie ein allgemeines Konzept der Rechtsform im Hinterkopf zu haben. Und dieses erschöpft sich nicht darin, einfach das Recht mit dem »Gesetz« zu identifizieren – und dieses wiederum mit dem symbolisierten Gebot oder Verbot des absolutistischen Souveräns. Vielmehr verfügte Foucault an Stellen, an denen es um Verfahrensfragen geht, auch über einen verfahrensorientierten Begriff der Rechtsform. Das Recht als Urteilstechnik – das wäre ein Gegenstand, der mit der viel engeren Frage, ob der »Kopf des Königs« schon gerollt ist, oder überhaupt mit der Frage der Symbolisierung repräsentativer Herrschaft nur auf überaus vermittelte Weise zusammengebracht werden kann. Und jedenfalls wäre aus einer solchen Perspektive das »Juridische« nicht mehr einfach nur als das Gegenstück der physischen oder auch der ethischen Techniken ins Auge gefasst – sondern es hätte selbst eine bestimmte, freilich eine näher zu bestimmende Technizität.

3.2. Wie hält es Foucault – jenseits des Gesetzes – mit dem »Urteil« und mit dem »Verfahren«? Spätestens zu dieser Frage lohnt ein Blick auf andere Texte. Auf die Vorlesung Die Anormalen beispielsweise, in der sich (in brillanter Polemik) die Verfahrensform des forensischen Gutachtens behandelt findet (Foucault [1999] 2003), vor allem aber auf die Vortragsfolge Die Wahrheit und die juristischen/juridischen12 Formen von 1974 (Foucault [1974] 2002). Der Text gehört seiner Entstehung und seinem Erscheinen nach in

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das Vorfeld von Überwachen und Strafen und verfolgt in der Hauptsache auch ein ähnliches Interesse. Er dreht sich um »die juristischen Formen und ihre Entwicklung im Strafrecht als Ursprung einer Reihe von Wahrheitsformen« (ebd.: 13) und damit unter anderem um das Thema der subjektivierenden Effekte des Geständnisses und um »die komplexen Techniken« der Untersuchung (enquête) »als Form der Wahrheitssuche im Gerichtsverfahren«, die sich dann aber eben – so die bekannte These – im 19. Jahrhundert verwandeln zu jenen »recht eigentümlichen Untersuchungsformen« der »Prüfung« (examen), und aus denen unter anderem »Soziologie, Psychologie, Psychopathologie, Kriminologie und Psychoanalyse« hervorgegangen sind (ebd.: 14). Gleichwohl zeichnet sich der frühe Text vor allem in seinen Anfangspassagen durch eine merklich weiter gefasste und vielleicht auch anders gelagerte, nämlich gar nicht so eindeutig auf das Strafrecht zugespitzte, sondern allgemein die Frage von Entscheiden und Urteilen mit umfassende Fragestellung aus. Und er bietet zum Einstieg eine kühne Interpretation eines Rechtsdokuments aus einer ganz anderen Epoche als derjenigen des mittelalterlichen oder des modernen Geständnisses – nämlich des sophokleischen König Ödipus. Foucault zufolge setzt die Geschichte des Ödipus konsequent ein rechtsfindungstechnisches Problem in Szene.13 Nicht die alte Streit- und Entscheidungsform der »Probe«, bei der sich die Wahrheit zeigt oder gleichsam gewonnen wird, durchherrscht das Stück, sondern die Praxis des symbolon, des »Gesetzes der Hälften«: Das sichtbare Zusammenpassen der zusammenkommenden Teile ergibt die »ganze« Wahrheit. Ödipus ist der König, der wissen will und Wissen akkumuliert – wie er zugleich aber auch der König ist, dessen Wille die politischen Gesetze setzt, er ist der Richter und er verkörpert die Aufrechterhaltung des Rechts. Diese Verbindung von Macht und Wissen ist, wo sie wirklich gelingt, – so interpretiert Foucault die Tragödie – monströs: »Ödipus ist der Mann des Übermaßes, der Mann, der von allem zuviel besitzt: in seiner Macht, seinem Wissen, seiner Familie, seiner Sexualität.« (Foucault [1974] 2002: 48) Ödipus steht für eine neue und fatale Verbindung eines Universalismus der politischen Macht und des Universalismus eines (vollständigen) Wissens der Wahrheit. Die durch die Tragödie vermittelte Botschaft ergibt vor allem aber eine Art europäisches Credo. Es ist dasjenige einer Trennung: Der Mächtige muss unwissend sein und der Wissende sich der politischen Macht enthalten. Foucault zieht hier letztlich ein politisches Fazit: Der Westen sei »von dem großen Mythos beherrscht, die Wahrheit gehöre niemals der politischen Macht, die politische Macht sei blind, und wirkliches Wissen besitze man nur, wenn man mit den Göttern in Verbindung stehe oder sich an etwas erinnere, wenn man die große ewige Sonne anschaue oder den Blick auf die Vergangenheit richte« (ebd.: 51).

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174 | Petra Gehring Dennoch entspringt im Punkt der normativen Entkopplung der Wahrheitsfrage von der politischen Macht eine neue Konfiguration von Legitimität des bloßen Erkennens und Wahrheitssuche als Teil der juridischen Form. Drei Formen – so Foucault – hat das Recht, »einer Macht ohne Wahrheit eine Wahrheit ohne Macht entgegenzusetzen«, aus sich entlassen: die rationalen epistemischen Systeme, also die Wissenschaften, die Überredungskunst mittels der Wahrheit, also das politisch-rhetorische Argument, und die Erkenntnis durch Zeugnis, Erinnerung, Untersuchung und Erkundung (enquête) (ebd.: 53). Foucault skizziert im Fortgang von Die Wahrheit und die juridischen Formen von der Ödipus-Analyse ausgehend so etwas wie eine extrem verkürzte Geschichte des Verfahrensrechts – von der »Probe«, dem Streitkampf, über die Etablierung von Gerichtsbarkeit, Staatsanwalt/Inquisition und der Strafe als Wiedergutmachung am Souverän, nicht mehr am Opfer, führt der Weg in die aus Überwachen und Strafen bekannten Kontexte hinein. Der Durchgang erfolgt zwar mit der bereits genannten strafverfahrensrechtlichen Stoßrichtung, aber mit einer spielerischen langen Linie versehen, und daher eben doch so, dass weitergehende Valenzen gegeben sind. Das Projekt einer Genealogie nicht nur der Bestrafung, sondern überhaupt der verfahrensförmigen Techniken zur Institutionalisierung des gerechten Urteilens und zur Herstellung des rechtlich Beständigen – eingeflochten in andere Spiele von Macht und Wahrheit – scheint zum Greifen nahe. Eine Genealogie des Juridischen, nicht der rechtsförmigen Macht, sondern der Machtform(en), mittels derer sich dasjenige Wirklichkeitswert zu geben vermag, was wir rechtlich oder Recht nennen? Foucault hat sie nicht realisiert.

4. In der angekündigten zweiten Untersuchungsrichtung ließ dieser Durchgang durch die vielen Felder, in denen Foucault das Problem des Rechts touchiert, einiges hervortreten. Ich spitze die Erträge der Begehung zusammenfassend zu. Lassen sich Foucaults Aussagen zum Recht und zum Juridischen, auch wenn sie im Gesamtwerk Baustellen bleiben, produktiv wenden? Lassen die lose verbundenen Überlegungen Rückschlüsse zu auf so etwas wie Foucaults Theorie des Rechts? Bündeln wir noch einmal die Negativbefunde:14 Strafrecht, »juridische« Machtform und juridische Machttheorie sind Baustellen im Gesamtwerk und eher lose verbunden – und: Foucault unternimmt keine Genealogie des Rechts, sonst hätte sich der Rechtsbegriff viel klarer auf das Formproblem zurückspiegeln und auch pluralisieren müssen. Die Identifikation des Juridischen mit dem königlichen »Gesetz« wäre ebenso brüchig geworden wie die vielfache Gleichsetzung von Recht mit Strafrecht

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und »Verbot«. Überhaupt wäre die Aufgabe in den Blick gerückt, das Problem des Vertrages und die historisch radikal variierenden Spielarten des öffentlichen Rechts mit der Geschichte des Strafens zusammenzudenken – um dann vor allem aber diejenige Frage aufzuwerfen, die man vielleicht am meisten vermisst, nämlich diejenige nicht nur nach den Techniken, die das Recht ablösen, sondern nach den genuin »juridischen« Techniken selber und nach einer Geschichte der spezifischen Technizität des Rechts. In gewisser Weise enthält Foucaults Kritik der Repressionsvorstellung der Macht in ihrer Strafrechtslastigkeit und Souveränitätsorientierung eine Rechtstheorie – oder zumindest eine Art systematischer Skizze, nämlich die Skizze einer Verbotstheorie, einer Verbotssatztheorie, des Rechts: Das Juridische wird zum einen mit der logischen Struktur des Verbots als Satz identifiziert, mit dem binären Schema, aber auch mit der diskursiven Struktur des Verbots. Zum anderen erscheint es als die bloße Rede des Souveräns, als Sprechakt, als eine Funktion der bloßen Repräsentation und dadurch – anders als die Mikrophysik der Machttechniken – in einem bestimmten Sinne »global« (Foucault [1981a] 2005: 30). Fast scheint es, als habe sich dieses Bild des Rechts an jener Form der absolutistischen Lettres de cachet ihr Maß genommen: Das Juridische wäre nicht mehr als der sich als unmittelbar entwerfende Sprechakt des einen individualisierten Souveräns.15 Auf der Linie einer solchen – denkt man an die Komplexität der Vertragsform, an Gesellschafts- und öffentliches Recht, an Verwaltung, an die Fülle der mehrseitigen und anonymen Rechtsformen zweifellos geradezu haarsträubend naiven – Verbotssatztheorie des Rechts lassen sich auch die Gouvernementalitätsvorlesungen lesen. Gleichwohl sollte man ähnlich wie die Kritik der Repressionshypothese der Macht gerade auch die beiden Vorlesungen zur neuzeitlichen Kunst und Ökonomie der Regierung nicht so lesen, als handele es sich um Beiträge zur Rechtstheorie. Zum Recht als normativem Phänomen, das seine eigene Wirklichkeit und Technizität hat, zu den subtileren Seiten der fungierenden Form Recht, kann im Kontext der »Gouvernementalität« schon deshalb wenig an Einsichten gewonnen werden, weil Foucaults Hauptanliegen in den beiden einschlägigen Vorlesungen erklärtermaßen darin besteht, die traditionelle Fixierung an ein Denken des »Staates« zu durchbrechen – und damit auch an das Recht, in dessen Begriffen sich das Staatsdenken ja bewegt. Aspekte eines ganz anderen, über eine naive Verbotssatztheorie des Juridischen hinausgehenden Foucault’schen Denkens der Rechtsform finden sich gleichwohl. Sie finden sich immer dann, wenn man sich auf die Spuren von Foucaults Beobachtungen zu Fragen von rechtlich geformten Verfahren setzt und die hier aufspringenden Überlegungen verfolgt. In den assoziationsfreudigen Passagen der beiden hier ausführlich behandelten Vorlesungen oder auch in Die Wahrheit und die juridischen Formen kann man Anstöße zu einer Genealogie des Juridischen finden – Hinweise auf

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176 | Petra Gehring das Juridische nicht als Widerpart der Techniken, sondern als eine Form, die selbst erstens eine Geschichte und zweitens selbst etwas Technisches hat. Dies deutlich zu machen, war ein Anliegen meines Textes. Gleichwohl sollte die Lage nicht beschönigt werden. Foucaults Aussagen zum Recht bleiben dürftig – ganz zu schweigen davon, dass er die Frage nach der Beschaffenheit des Juridischen in der Moderne gänzlich unbearbeitet lässt. Die auf den Begriff »Rechtsstaat« und das liberale Ideal der Begrenzung beschränkten, geradezu konventionellen Referate zur Sicht des Ordoliberalismus auf das Verhältnis von Recht, Staat, Wirtschaft und Politik wirken – jedenfalls was die technologie juridique angeht – geradezu provozierend oberflächlich. Dann lieber Foucaults eindringliche Positionen aus Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen: Entweder kann das Juridische tatsächlich heute immer weniger »die Macht codieren«. Oder wir wissen noch so gut wie nichts über die Frage des Juridischen in der Epoche seiner Positivität.

Anmerkungen 1 | Foucault spricht von »Formen«, »Spielarten«, »Typen«, »Modellen«, »Gestalten« etc. der Macht, ohne terminologisch näher zu unterscheiden. Recht als »allgemeine Machtform« (auf allen Ebenen der »Einheit des Dispositivs«) wird in Der Wille zum Wissen quasi im Vorbeigehen als »Spiel des Erlaubten und Verbotenen, der Überschreitung« definiert und dann wie folgt charakterisiert: »Ob man nun der Macht die Form des rechtsetzenden Fürsten, des verbietenden Vaters, des Schweigen gebietenden Zensors oder des gesetzgebenden Herrn verleiht – immer handelt es sich um eine juridische Form, deren Wirkungen man als Gehorsam bestimmt. Gegenüber einer Macht, die Gesetz ist, ist das ›Subjekt‹, das zum Untertanen unterworfen ist, ein gehorchendes. Der formalen Homogenität der Macht durch alle ihre Instanzen hindurch entspricht angeblich bei dem von ihr Niedergezwungenen […] die allgemeine Form der Unterwerfung. Gesetzgebende Macht auf der einen Seite und gehorchendes Subjekt auf der anderen.« (Foucault [1976] 1977: 105f.) 2 | In der deutschsprachigen Ausgabe fungiert Sicherheit, Territorium, Bevölkerung nur als Untertitel, denn die Vorlesung wurde mit der nachfolgenden (herausgeberseitig unerläutert) unter dem gemeinsamen Obertitel Geschichte der Gouvernementalität auf den Markt gebracht. Für die Rezeption war die neue Überschrift gewiss nicht folgenlos. Mit den governmentality studies – inzwischen ein eher lose an Foucault gemahnendes Schlagwort aus der angelsächsischen politikwissenschaftlichen Diskussion (klassisch: Burchell/Gordon/Miller 1991) – existierte bereits eine Marke. Unter ihrem neuen Titel flaggen die beiden Vorlesungsbände hier jetzt Zugehörigkeit aus – und: Disziplinär gesehen rücken sie in die Nähe der Politikwissenschaft. 3 | Nicht die Tat, sondern der Täter sei Gegenstand des Urteilens, heißt die berühmte Maxime der deutschsprachigen Strafrechtsreformbewegung (vgl. von Liszt [1882] 1905: 159). Schuld ist in diesem Szenario eine entbehrliche Voraussetzung der staatlichen Intervention, wobei von Liszt das entstehende Handlungsfeld

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Die Frage nach Foucaults Rechtstheorie | 177 wie folgt absteckt: »1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; 3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher.« (von Liszt [1882] 1905: 166) 4 | Vgl. Foucault (2004a: 88). Die fragliche Stelle ist ein wenig verschwommen. Gemeint sein müsste wohl: Jedes System von Gesetzen bezieht sich auf ein anderweitiges vorgängiges Normensystem, also eines, das seinerseits gerade nicht bereits aus Rechtsnormen besteht. Auf Kelsens weiten und gerade nicht zweigeteilten Normenbegriff (von dem nicht zuletzt das Grundnormkonzept lebt) passt diese Überlegung nur, sofern man sie auf seine strenge Unterscheidung zwischen »statuierten« (und also positiv rechtskräftigen) und anderen Normen bezieht. 5 | Die etwas sperrige deutsche Übersetzung wurde hier und in den nachfolgenden Zitaten leicht verändert, PG. 6 | Staatsräson nicht nur als neues Element der politischen Souveränität, sondern ausdrücklich als »Praxis« – ganz allein steht Foucault mit dieser Perspektive in der jüngeren Geschichtsforschung nicht. Auch deutschsprachige Kenner der Staatsräson (etwa Stolleis 1990) betonen den im umfassenden Sinne politischen, den nicht nur machtpolitischen, sondern ebenso ordnungspolitischen wie auch wohlfahrtspolitischen Charakter des entstehenden Staates in der frühen Neuzeit. 7 | Vgl. (zur Statistik nur sehr kurz) Foucault (2004a: 152). Vgl. als Überblick über die Begriffsgeschichte der »staatswissenschaftlichen« Statistik Gehring (1999). 8 | Dass man – dank wilder Beimischungen von Carl Schmitt und Pierre Legendre – Foucaults Pastoralmacht offenbar auch in eine Rechtstheorie der »Verfassung« hineinblenden kann, zeigt Wenger (2006). Hier wird die Pastorale dann aber eben gar nicht im Hinblick auf »Recht« ausgewertet, sondern (für Schmittianer kein Problem) unter »Staat« subsumiert. 9 | Das Problem der Übersetzung von »gouverner« wie auch »gouvernement« trifft deutsche Ambivalenzen, denn natürlich ist hier nicht nur das Thema des Regierens und der Regentschaft/Regierung, sondern auch das Thema des Führens und der Führerschaft/Führung gemeint. Für meine Begriffe macht sich die deutschsprachige Diskussion, indem sie durchgehend mit »regieren/Regierung« übersetzt, die Sache eindeutiger und damit leichter, als sie ist. 10 | »Die Idee einer ökonomisch-juristischen Wissenschaft ist streng genommen unmöglich und wurde in Wirklichkeit auch nie etabliert.« (Foucault 2004b: 388) 11 | Ließe sich mit Foucaults Werkzeugen die Spezifik der modernen Rechtsform herauspräparieren und beschreiben? François Ewald hat diese Frage in Angriff genommen. Ewald nimmt nicht das – konventionelle – Thema Rechtsstaat, sondern Foucaults Überlegungen zur Normalisierung sowie das Dispositiv der »Sicherheit«, das zum Ende des 19. Jahrhunderts entstehende »Sozialrecht« als Einsatzpunkt und arbeitet die Konturen eines von daher nicht nur in der Regelungsmaterie, sondern in der Form seiner Juridizität neuen Forschritts- oder Vorsorgestaates heraus (Ewald 1993). 12 | La vérité et les formes juridiques lautet der Titel der kleinen Schrift in der französischen Fassung. Im Deutschen gibt es hier zwei Übertragungsmöglichkeiten und daher ein Übersetzungsproblem. Die Übersetzer der Dits et Ecrits und der gesonderten Suhrkamp-Ausgabe haben sich zur Übertragung von »juridique« für den engeren Terminus »juristisch« entschieden – für meine Begriffe keine glückliche Lösung. »Juristisch« impliziert tatsächlich die fachliche Bindung an das Recht als

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178 | Petra Gehring Gegenstand der Berufspraxis von Juristen. Demgegenüber kann »juridisch« ganz allgemein dasjenige bezeichnen, was die Logizität, Politik und Macht des Rechts als abstrakte Form betrifft; es handelt sich um einen etwas älteren, philosophisch aber durchaus geläufigen Ausdruck. Ich halte es daher mit der Übersetzungsentscheidung von Walter Seitter, der für Überwachen und Strafen konsequent die Übertragung »juridisch« wählt. 13 | Vgl. als eine ausführliche (und glänzende) Interpretation von Foucaults Ödipuslektüre – mit Blick unter anderem auf Kleist: Vogl (2004). 14 | Negativ im Sinne von Fehlanzeige, nicht im Sinne von Wertung. – Diese Anmerkung nur zur Sicherheit, denn Biebricher (2006) (ein in verschiedener Hinsicht katastrophal schwacher Text) konstatiert allen Ernstes eine »Entwertung« des Rechts bei Foucault. 15 | In der angelsächsischen Foucault-Literatur wurde Foucault ein »imperativischer« Rechtsbegriff à la Austin zugeschrieben (Hunt 1992, dagegen, mit dem Argument, Foucaults Rechtsbegriff sei weiter, Tadros 2001). Eine sei es bewusste, sei es unterschwellige Orientierung an Austin ist hier nicht gemeint. Es steht außer Frage, dass Foucault erstens das kontinentale Recht vor Augen hat und zweitens das, was ich hier metaphorisch als »Akt« bezeichnet habe, auf Rückfrage stets als Technik, und zwar als Machttechnik erläutert hätte.

Literatur Biebricher, Thomas (2006): »Macht und Recht: Foucault«. In: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 139-161. Burchell, Graham/Gordon, Colin/Miller, Peter (Hg.) (1991): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Hemel Hempstead: Harvester Wheatsheaf. Ewald, François (1993): Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Farge, Arlette/Foucault, Michel ([1982] 1989): Familiäre Konflikte: Die ›Lettres de cachet‹. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel ([1961] 1969): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1973] 1975): Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Justiz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1974] 2002): »Die Wahrheit und die juristischen Formen«. In: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band II, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Nr. 139, S. 669-792. — ([1975] 1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1976] 1977): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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— ([1977] 2003): »Das Leben der infamen Menschen«. In: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band III, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Nr. 198, S. 309-332. — (1978): »Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin. Vorlesung vom 14. Januar 1976«. In: Ders., Dispositive der Macht, Berlin: Merve, S. 75-85. — ([1981a] 2005): »Die Maschen der Macht«. In: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band IV, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Nr. 297, S. 224-244. — ([1981b] 2005): »›Omnes et singulatim‹: Zu einer Kritik der politischen Vernunft«. In: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band IV, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Nr. 291, S. 165-198. — ([1999] 2003): Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (19741975), hg. von Valerio Marchetti und Antonella Salomoni, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2004a): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1977-1978), hg. von Michel Senellart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2004b): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France (1978-1979), hg. von Michel Senellart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gehring, Petra (1999): »Statistik (Staatsbeschreibung, Staatsgelehrtheit)«. In: Joachim Ritter u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel: Schwabe, S. 104-110. — (2000): »Epistemologie? Archäologie? Genealogie? – Foucault und das Recht«. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie, S. 18-33. Hunt, Alan (1992): »Foucault’s Expulsion of Law: Toward a Retrieval«. In: Law and Social Inquiry 17, S. 1-38. Liszt, Franz von ([1882] 1905): »Der Zweckgedanke im Strafrecht«. In: Ders., Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, Berlin: Guttentag, S. 126-179. Stolleis, Michael (1990): Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Tadros, Victor (1998): »Between Governance and Discipline: The Law and Michel Foucault«. In: Oxford Journal of Legal Studies 18 (1), S. 75-103. Vogl, Joseph (2004): »Scherben des Gerichts. Skizze zu einem Theater der Ermittlung«. In: Rüdiger Campe/Michael Niehaus (Hg.), Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg: Synchron, S. 109-122. Wenger, David R. (2006): »Der gute Hirte als Verfassungsbild. Eine Recht-Fertigungs-Tragödie mit Pierre Legendre, Michel Foucault und Carl Schmitt«. In: Rechtsgeschichte 8, S. 111-128.

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Staatsmacht, Biopolitik und die lokale Regierung von Kriminalität in Großbritannien* Kevin Stenson

Einleitung Die Regulierung von Kriminalität, Risiko und Furcht sowie die Neubewertung anderer Fragen der Regierung unter diesen Überschriften sind mittlerweile auf die politische Tagesordnung avanciert liberaler Demokratien gelangt (Stenson 2001b). In Europa haben Sicherheitsängste nach dem 11. September die Sorge gegenüber überregionalen Bedrohungen wie Terrorismus, Menschen-, Waffen- und Drogenschmuggel über lokale Fragen der öffentlichen beziehungsweise kommunalen Sicherheit hinaus verstärkt. Für diese gibt es zwar keinen einheitlichen, internationalen Begriff, aber sie umfassen die öffentliche Ordnung, den Umgang mit Furcht und Unsicherheit, ethnisch motivierte Gewalt, sowie alltägliche Gewalt- und Eigentumsdelikte gegenüber Personen, privatem und öffentlichem Besitz, Frauen, Kindern und alten Menschen. Die Behörden in Großbritannien sind zunehmend besorgt darüber, dass die seit mehreren Jahren rückläufigen offiziellen Kriminalitätsraten sich nicht dementsprechend, wie der jährliche britische Kriminalitätsbericht offenbart, in der öffentlichen Wahrnehmung niederschlagen. Viele Menschen bleiben ängstlich und skeptisch hinsichtlich der Fähigkeit der Behörden, die (weiter ansteigende) Gewaltkriminalität sowie das unterschiedlich definierte und zumeist nicht angezeigte, antisoziale Verhalten in den Griff zu bekommen (ODPM/

* | Der Autor dankt Adam Edwards, Gordon Hughes und Eugene McLaughlin für ihre Kommentierung eines früheren Entwurfs. Die Herausgeber danken dem SAGE-Verlag für die freundliche Genehmigung, eine Übersetzung dieses zuerst in Theoretical Criminology 9 (3), 2005 erschienen Textes abzudrucken.

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182 | Kevin Stenson Home Office 2004*). Hinzu kommen die zunehmende globale Interdependenz auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene; technologische Veränderungen; der wirtschaftliche Umbau samt der damit einhergehenden sozialen Ungleichheiten; die Migrationsbewegungen aus dem Osten und Süden nach Europa infolge des Zusammenbruchs des Kommunismus und politischer Destabilisierung, sowie infolge von Krieg, Hungersnot und ethnischen Konflikten; schließlich die Auswirkungen dieser Einwanderung auf die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften und auf den sozialen Zusammenhalt in ärmeren städtischen Wohnvierteln mit zunehmend komplexer demographischer Zusammensetzung (Stenson 2001a; Crawford 2002a). Dieser Beitrag wird zunächst die Implikationen dieses Interesses an lokaler Kriminalitätskontrolle und öffentlicher Sicherheit im Hinblick auf einen political turn und einen damit einhergehenden spatial turn in der Kriminologie untersuchen, in der Annahme, dass eine Beschäftigung mit der lokalen Regierung von Kriminalität und Sicherheit auch die Sensibilität für räumliche Unterschiede fördert. Dies bedeutet, gleichermaßen die verschiedenen Steuerungsebenen zu berücksichtigen wie auch die Frage, wie mit diesen Themen an verschiedenen Orten auch innerhalb desselben Nationalstaats umgegangen wird (Edwards/Hughes 2005). Dem Ansatz der »diskursiven Gouvernementalität« wird der der »institutionalistischen politischen Wissenschaft« gegenübergestellt, die beide über neomarxistische Zugänge hinausgehen und innerhalb der Kriminologie einen großen Einfluss haben. Ersterer beleuchtet Veränderungen in den Mentalitäten oder Rationalitäten der Regierung und unterstreicht den Wandel von der sozialen, universalistischen zur ziel- und risikoorientierten liberalen Regierungsweise. Letzterer besteht aus einem Korpus institutionsorientierter Forschungen und entsprechender theoretischer Konzeptualisierungen. Unter teilweisem Rückgriff auf die diskursive Gouvernementalitätstheorie verfolgt er die Ungleichheitsauswirkungen von Globalisierungseffekten sowie der Modernisierungsreformen der Neuen Rechten während der 1980er und 1990er Jahre zurück. Beide Ansätze konzentrieren sich auf das Thema Sicherheit und verstehen darunter ein variables Feld gemeinsamer Ziele und Anliegen, wobei sie aber die zentrale Rolle von Staat und Recht herunterspielen. Alternativ dazu wird eine »realistische Theorie der Gouvernementalität« vorgestellt, welche die Diskursanalyse von Mentalitäten durch eine fundierte empirische und realistische Erforschung von Praktiken des Regierens ergänzt und dabei Elemente beider Theorie- und Forschungsrichtungen aufnimmt. Für gewöhnlich legt die Sicherheitsforschung das Augenmerk auf Formen der »Regierung von oben« beziehungsweise auf Formen der Zusammen* | ODPM = Büro des stellvertretenden Premierministers; Home Office = Innenministerium; Anm. d. Herausgeber.

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arbeit von Partnerinstitutionen, anstatt, wie die »realistische Theorie«, die Interaktion zwischen der »Regierung von oben« und der »Regierung von unten« in den Blick zu nehmen, also die Rolle informeller politischer Akteure bei lokalen Auseinandersetzungen um territoriale Kontrolle sowie in der Kriminal- und Sicherheitspolitik. Anhand regionaler Forschungen in Großbritannien zeigt dieser Ansatz Gemeinsamkeiten und lokale Unterschiede der Regierung öffentlicher Sicherheit auf. Er erkennt die Bedeutung staatlicher Institutionen sowie der Auseinandersetzungen um die jeweils von unten und oben geforderte souveräne Kontrolle über ein Territorium und verschiedene, konkurrierende Bevölkerungsgruppen an. Genau hierin manifestiert sich umkämpfte Biopolitik beziehungsweise Bevölkerungsmanagement. Darunter versteht man gewöhnlich den systematischen Versuch, Bevölkerungsgruppen mittels professioneller Expertise, die sich auf staatliche Kategorisierungen und Erhebungen sowie auf die Sozial- und Biowissenschaften stützt, erkennbar und regierbar zu machen (Foucault [1976] 1977). Behördliche Biopolitik schließt auch Zwang und die Auseinandersetzung um das Thema der Solidarität mit ein, bei der die Spannung zwischen liberalen/universalistischen und nationalistischen/partikularistischen Werten und Identitäten zum Tragen kommt. Vor diesem Hintergrund wird das Konzept der Biopolitik um den Aspekt der Regierung von unten erweitert: Biopolitik, die von den Leuten ausgeht. Auf diese Weise wird anerkannt, dass ethnische, religiöse, kriminelle und andere Schauplätze der Regierung in Zivilgesellschaften mehr sind als nur Widerstand gegen staatliche Macht. Vielmehr sind hier jeweils eigene Konzepte von Regierung, von Formen des Wissens und des Expertentums relevant. Diese werden eingesetzt, um Solidarität innerhalb der eigenen Territorien und Bevölkerungsgruppen oder darüber hinaus zu organisieren und aufrechtzuerhalten.

Political turn und spatial turn in der Kriminologie Kriminologen teilen heutzutage die Sorge der Politiker über Massenkriminalität, über Kriminalitätsrisiken und -furcht, sowohl bezogen auf das häusliche Umfeld als auch den öffentlichen Raum. In der theoretischen Diskussion über Kriminalität und Kontrolle ist das ein political turn, wenn auch einer, der sich im Mainstream der Kriminologie erst noch durchsetzen muss. Kriminalpolitik reduziert sich nicht länger auf den Zusammenhang zwischen Kriminalität und gesellschaftlicher Reaktion. Was als Kriminalität definiert wird oder auch nicht, wie sich kriminelles Verhalten organisiert, wie darauf reagiert wird oder auch nicht, und wie man es kontrolliert, mit all diesen Fragen verbinden sich jeweils politische Beziehungen in einem weitesten Sinne und nicht nur Auseinandersetzungen über die Macht im Staat (Stenson 1991; Stenson/Edwards 2001). Begriffe wie Ver-

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184 | Kevin Stenson brechen, kommunale Sicherheit (community safety), Sicherheit und Gerechtigkeit tragen ihre jeweilige institutionelle und kulturelle Geschichte mit sich (Nelken 1994). Der lokalen, öffentlichen oder kommunalen Sicherheitspolitik, die für sich in Anspruch nimmt, das Allgemeininteresse zu vertreten, kann man überdies in Gesellschaften mit starker sozialer Ungleichheit und asymmetrischen Machtstrukturen nicht ohne weiteres trauen. Für sozialen Zusammenhalt und die Sicherheit der Mehrheit zu sorgen, heißt Minderheiten zu diskriminieren und wirft die Frage auf: öffentliche Sicherheit – aber für wen? Was jeweils im Rahmen öffentlicher oder kommunaler Sicherheitsaufgaben als soziale Schädigung gilt, ist variabel. Sicherheit im öffentlichen Raum zu organisieren, könnte heißen, die Bedrohung, die von ordnungswidrig sich verhaltenden Jugendgangs ausgeht, in Verbindung mit Terrorismus zu bringen und mit dieser Begründung lokale, administrative Großkomplexe für die Regulierung von Kriminalität und Unsicherheit einzurichten. In der Praxis sind die Regelungskompetenzen allerdings stärker voneinander getrennt. Lokale Behörden erfassen häusliche Gewalt und Konflikte zwischen den Geschlechtern gesondert von anderen, für die kommunale Sicherheit relevanten Bereichen und vernachlässigen demgegenüber Geschwindigkeitsübertretungen und andere durch das Autofahren verursachte Schädigungen der Allgemeinheit, ebenso wie die Kriminalität der Wohlhabenden oder von Unternehmen, beziehungsweise übertragen deren Ahndung anderen Abteilungen oder Einrichtungen (Corbett 2003; Croall 2004). Vandalismus, Lärmbelästigung durch Nachbarn, Konsum von Alkohol und illegalen Drogen in der Öffentlichkeit und andere unter der Bezeichnung »antisoziales Verhalten« (ein Etikett, das immer häufiger verwendet wird) firmierende Unbotmäßigkeiten werden hingegen schwerpunktmäßig verfolgt. Rückfalltäter werden als Mitglieder einer »andersartigen«, heterogenen, von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppe definiert und entlang der Kategorien Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, ethnischer Hintergrund und Wohnumfeld unterschieden. Die Kategorien kennzeichnen die Ausgeschlossenen, nicht aber die ausschließenden Instanzen (Young/Matthews 2003). In den alternden europäischen Gesellschaften mit ihren Sicherheits- und Überfremdungsängsten bedeutet das, Devianz künstlich hochzuspielen: Die Toleranz gegenüber Ordnungsstörungen durch Jugendliche nimmt immer mehr ab, und zwar dort umso mehr, wo außerdem noch soziale Schichtzugehörigkeit, ethnische Herkunft und andere soziale Unterscheidungsmerkmale mit im Spiel sind (Hornquist 2004). Vor diesem Hintergrund muss man die beschränkten Möglichkeiten der Kriminologie, politisch Einfluss zu nehmen und Anwendung zu finden, anerkennen. Matzas Kritik (1969) an der positivistischen Annahme, man könne Kriminalität unabhängig von gesetzlichen und staatlichen Maßnahmen definieren, beschreiben und erklären, ist immer noch zutref-

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fend für eine Kritik an kriminologischen Erklärungsansätzen, die den Schwerpunkt z.B. auf individuelle Biographien und Familiendynamiken legen und dabei die größeren Zusammenhänge zwischen Deliktbegehung und sozialer Kontrolle vernachlässigen (Farrington 1997). Dies gilt ebenso für eine Gesellschaftswissenschaft, die für sich in Anspruch nimmt, apolitische, international gültige Erkenntnisse zu bieten. Bei der selbst ernannten »Kriminalwissenschaft« zeigt sich das, wenn sie, auf der Basis anerkannter Fakten über funktionierende Lösungen (»what works«) zur Reduzierung von Gelegenheiten der Deliktbegehung, behauptet, von politischem Nutzen zu sein (Clarke 2004) – und dies trotz ihrer Unfähigkeit und ihres Unwillens, Theorien zu erarbeiten und die wechselnden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontexte, in denen Politik zum Einsatz kommt, oder deren Resultate zu studieren, einschließlich der Kriminalitätsverlagerung und anderer unbeabsichtigter Konsequenzen (Hope/Karstedt 2003; Stenson/Edwards 2004).1 Gleichwohl teilen selbst miteinander konkurrierende Perspektiven die Auffassung, dass die Definition und Erklärung von Kriminalität und Kontrolle samt der damit verbundenen sozialen Auswirkungen genuin politisch und eng mit neuen Formen der Regierung von Bevölkerungsgruppen und sozialen Konflikten verknüpft sind. Neuere Perspektiven grenzen sich dabei vom früheren Neomarxismus ab, der auf eine Tendenz zum law and order-Staat aufmerksam gemacht hatte. Demnach erfordert die neue Wirtschaftsordnung die monopolisierte, Zwang ausübende souveräne Staatsmacht, um soziale Verwerfungen und Widerstand zu unterdrücken und einzudämmen (Scraton/Chadwick 1991). Neomarxistische Abhandlungen richten ihr Augenmerk zwar möglicherweise durchaus auf einzelne Operationen staatlicher Herrschaftsausübung unterhalb der nationalen Ebene, aber der Einzelfall illustriert dann eher die allgemeine Funktionsweise staatlicher Macht, anstatt der Konzeptualisierung subnationaler Varianten in der Politik der Kriminalitätskontrolle zu dienen (Coleman/Sim 2002). Man kann zwei neuere Ansätze unterscheiden, die besonders auf Fragen von Regierung und Kriminalität eingehen, auch wenn sie sich in mancher Hinsicht unterscheiden und sich zuweilen überschneiden: die »diskursive« Theorie der Gouvernementalität und die »institutionalistischen« politischen Wissenschaften. Die Vertreter der ersten Perspektive sind skeptisch gegenüber Positionen, welche die ökonomischen Verhältnisse letztlich als bestimmend ansehen und die Funktionsweise des Staates – im Sinne eines integrierten, kollektiven Akteurs, der den Kapitalismus verteidigt und fördert – als zu kohärent beschreiben. Demgegenüber betrachten jene den Staat als weniger monolithisch und ökonomische Verhältnisse als politisch konstruiert, während sie politische Auseinandersetzungen und Formen der Regierung in vielfältigen Bereichen jenseits des Staates wirken sehen (Rose/Miller 1992; Stenson 2002). Die Vertreter dieser Perspektive untersuchen die seit den 1970er Jahren

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186 | Kevin Stenson entstandenen neuen liberal-demokratischen Regierungsweisen (Foucault 2004). Schwerpunkt ist hier weniger der realistische Zugriff auf Institutionen, vielmehr konzentriert die Analyse sich auf der Basis von Schlüsseltexten auf die wechselnde argumentative Untermauerung liberaler Herrschaftsorganisation. Indem sie den Liberalismus als umkämpftes Terrain liberaldemokratischer Politik, und nicht als bloße Philosophie oder Position im ideologischen Spektrum betrachtet (Rose 2000), arbeitet diese Perspektive Mentalitäten oder Rationalitäten liberaler Herrschaft heraus. Sie zeichnet den Wandel von frühen Modellen des freien Marktes bis zu den Varianten sozialer, biopolitischer Herrschaft seit dem späten 19. Jahrhundert nach: dem Bevölkerungsmanagement, das Gesundheit, Reichtum, Disziplin und Wohlstand fördert. Möglich wurde dieses durch neue, statistische Verfahren, die Bevölkerungsnormen, -zahlen und andere staatliche Kategorien und Daten zu identifizieren erlaubten und so ermöglichten, dass sich neue Wissensbereiche entfalten konnten, nebst einem Expertentum unter dem Einfluss von Philanthropie, Sozial- und Biowissenschaften sowie der neuen Berufe der Fürsorge und Kontrolle (Foucault [1975] 1976; [1976] 1977). Diese soziale Form der Herrschaft, die Risiken mit Hilfe eines allumfassenden Angebots von öffentlichen Dienstleistungen innerhalb eines Nationalstaates sozialisiert, wurde seit den späten 1970er Jahren vom sogenannten avancierten Liberalismus abgelöst. Dieser ging aus den Reformen seitens der Neuen Rechten hervor, die Selbstregierung, Deregulierung, Privatisierung und die Einführung marktwirtschaftlicher Disziplin in den öffentlichen Sektor förderte. Die Rhetorik der Stadtteilbezogenheit, Eigenverantwortung (responsibilisation) und Gemeinde (community) trieb die Selbstorganisation von Initiativen wie Neighbourhood Watch, den Kauf von Sicherheitstechniken und so weiter an, mit der Folge, dass viele Bürger sich in exklusive, risikoarme Gemeinschaften zurückgezogen haben. Die abgeriegelten Wohnviertel (gated communities) stehen hierfür ebenso wie der Bedeutungsverlust des öffentlichen Raumes, der als gefährlich angesehen wird. So zeichnet sich das Bild von einer neuerdings vorherrschenden Kriminalpolitik ab, die sich mit der Regulierung von Bevölkerungsgruppen beschäftigt, die unwillig oder unfähig sind, sich in einem akzeptablen Maße selbst zu organisieren. »Verdiente Strafe« (just desert) oder wohlfahrtsstaatlich-resozialisierende Reaktionen auf Straftäter werden zurückgedrängt zugunsten von Risikoeinschätzung und -management: Eindämmung geht vor Vergeltung oder Therapie (Feeley/Simon 1994). Risikoorientierung heißt, zufällige, unbestimmte Bedrohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen, ständig in versicherungstechnologisch kalkulierbare Risiken übersetzen zu müssen (O’Malley 2004). Auf diese Weise entstehen neue Technologien, neues Spezialwissen, neue Maßnahmen und berufliche Kader innerhalb der Polizei, sowie reorganisierte und neue Berufe im Strafjustizsystem, in denen Datensammlung über Kriminalität und Unsicher-

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heit, Analyse und Austausch zwischen Partnereinrichtungen zur zentralen Betätigung werden. Bevölkerungen werden so für Regierungszwecke erkennbar, erfassbar, messbar und hierarchisch einteilbar gemacht (Ericson/Haggerty 1997; Stenson 2000a). Hierin zeigt sich die Neucodierung der Sozialpolitik unter der Überschrift der Verbrechenskontrolle: Regieren mittels Verbrechen (Simon 1997). In einer Reihe von Ländern, so wird gesagt, sei die Entwicklung der 1980er Jahre zu lokalen Partnerschaftsansätzen der öffentlichen Sicherheit, die Akteure aus dem öffentlichen, privatwirtschaftlichen und dem ehrenamtlichen Bereich für Kriminalprävention und Neighbourhood Watch zusammenbringen, bezeichnend für einen Wechsel hin zu Formen der Regierung, die über den Staat und die meisten herkömmlichen Politikfelder hinausgehen (Rose 2000; Garland 2001). Indem diese Version einer Gouvernementalitätstheorie, die bisher den größten Einfluss auf die Kriminologie hat, monolithische Staatskonzeptionen vermeidet, verdeutlicht sie die vielfältigen Formen politischer Steuerung über den liberalen Staat hinaus, spielt aber die Bedeutung der Souveränität, also der monopolisierten, legitimen Anwendung von Zwangsmitteln im Namen von Recht und Nationalstaat zum Zwecke der Kontrolle von Territorien und Bevölkerungen herunter (Rose/Miller 1992). Wenn diese gleichwohl wahrgenommen wird, so betrachtet man die auf Gewalt und Zwang gestützten, souveränen Regierungstechnologien, wie z.B. Krieg, grausame Bestrafung, Verbot, Beschränkung und Sanktion, eher als monarchische Überbleibsel (Garland 1996). Diese Forschungsrichtung neigt zur Generalisierung, denn ihr fehlen erprobte Konzepte, um nationale und subnationale Varianten der Regierung auseinander zu halten.

Veränderungen in Regierung und Machtverteilung Auch ein empirisch ausgerichteter, institutionalistischer Zweig der Politikwissenschaft war in der Theoriebildung und Erforschung der lokalen Regierung von Kriminalität einflussreich (Crawford 1997; 2002b; Rhodes 1997; Hughes 1998). Entsprechende empirische Untersuchungen stützten sich dabei zuweilen auf die Theorie der Gouvernementalität, beurteilten aber die Gültigkeit theoretischer Annahmen mit Hilfe der Analyse allgemeiner Trends in der neuen Regierungsarchitektur, die aus der sogenannten »Modernisierung« der 1980er und 1990er Jahre hervorging. Diese beinhaltete Eingriffe der Zentralgewalt in die Unabhängigkeit und die steuerliche Finanzierungsgrundlage kommunaler Behörden, ebenso die Schaffung alternativer Regelungsbereiche und eines New Public Management, indem Marktdisziplin in den öffentlichen Dienst über konkrete Zielvorgaben und Rechnungsprüfung eingeführt wurde (Audit Commission 1999; McLaughlin/Muncie/Hughes 2001). Diese Politik, zunächst unter der konservativen Regierung und seit 1997 unter New Labour, umging die lokalen Behörden,

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188 | Kevin Stenson indem sie über zentral kontrollierte Stadterneuerungsprogramme, anfangs unter dem Vorzeichen von Safer Cities, gezielt Mittel in benachteiligte Gebiete leitete (Stenson/Watt 1999a; Stenson/Edwards 2003). Die Modernisierung, von der nationalen bis zur lokalen Ebene, zielte mit anderen Worten auf eine Veränderung der hierarchischen Beziehungen und Zuständigkeiten innerhalb des Regierungssystems. So entstanden Formen von Partnerschaften, die von staatlichen über wirtschaftliche bis hin zu ehrenamtlich-gemeinnützigen Einrichtungen und Bürgerinitiativen reichten und dabei Fragen nach ihrer demokratischen Legitimität aufwarfen (Loader/Walker 2004). Hintergrund dieser Politik war die langfristige Zielsetzung, die überkommenen Strukturen des britischen Regierungswesens mit seiner Arbeitsteilung zwischen hierarchischen Ebenen und Zuständigkeitsbereichen, seinen Rivalitäten, den sich überlagernden Verwaltungsgebieten und dem beschränkten Informationsaustausch unter den Behörden zu vereinfachen.2 Als Antwort auf die erfolgte Aufwertung der schottischen und walisischen Regionalverwaltungen und mitten im wiedererwachenden, eher englischen denn britischen Nationalismus sollten diese Maßnahmen schwerfällige Regierungshierarchien abbauen und staatliche Zuständigkeiten auf acht regionale Verwaltungszentren mit gewählten parlamentarischen Vertretungen übertragen. Jedes dieser Zentren verfügt über einen Kriminalitätsbeauftragten, der Fragen öffentlicher Sicherheit und Strategien der Kriminalitätskontrolle koordinieren und zwischen dem (für Kriminalität und Justiz zuständigen) Innenministerium und den städtischen sowie den Strafverfolgungsbehörden vermitteln soll, einschließlich der lokalen, sich über mehrere Bereiche erstreckenden strategischen Partnerschaften und anderer lokaler Bündnisse zur Reduzierung von Kriminalität. Letzteres fordert das Gesetz gegen Kriminalität und Unordnung (Crime and Disorder Act) von 1998, um auf der Basis von Evaluationen jeweils für Drei-JahresZyklen Strategien zur Kriminalitätsreduktion zu entwickeln. Allerdings hat die Komplexität der alten Institutionen den zentralistischen Reformeifer sowohl rechter als auch linker Regierungen empfindlich behindert. So haben Untersuchungen über die lokalen Ansätze der Kriminalitätskontrolle unter Beteiligung zahlreicher Einrichtungen die Spannungen zwischen lokalen und nationalen politischen Vorgehensweisen sowie zwischen den Anhängern einer ganzheitlichen Betrachtung der tieferen Ursachen von Kriminalität und Furcht – z.B. im Zusammenhang mit ungünstigen Bildungs-, Gesundheits- und Beschäftigungschancen – und denen einer scharfen Kontrolle von Problemgruppen und Wohnvierteln aufgezeigt. Auch wurde der relative Einfluss von Polizei und Partnereinrichtungen in den entstehenden Strategienetzwerken sowie die Möglichkeit, eine Konsensgrundlage für solche Strategien zu schaffen, geprüft (Crawford 1997; Rhodes 1997; Hughes/Gilling 2004). Insofern stellen diese Forschungen die These in Frage, die Neue Rechte

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habe ihre Reformen durchgeboxt und abweichende Meinungen durch ein autoritäres Staatsgebaren einfach erstickt. Es waren vielmehr zivilgesellschaftliche Institutionen, welche die staatlichen Anordnungen übermittelt haben. Zwischen politischem Anspruch und praktischer Umsetzung ist so eine Lücke entstanden, denn staatliche Akteure sind, insbesondere in liberalen Systemen, für die Durchsetzung ihrer Macht auf die untergeordneten Instanzen angewiesen (Rhodes 1997). Diese Abhängigkeit der Macht erleichtert die Umgehung politischer Kursvorgaben beziehungsweise den Widerstand dagegen, wenn z.B. Polizeieinheiten eifersüchtig über den Erhalt ihrer lokalen Autonomie wachen (Savage 2003). Bei der Bildung von Partnerschaften zur Kriminalprävention traten beispielsweise neue Interessen angesichts der asymmetrischen Verteilung zwischen den verfügbaren Ressourcen der jeweiligen Einrichtungen einerseits und ihrer Entscheidungsgewalt andererseits zu Tage (Crawford 1997). An dem Morgan Report des britischen Innenministeriums (Home Office 1991), der für kommunale Sicherheitspartnerschaften unter Führung der lokalen Behörden eintrat, schieden sich die Geister. Obwohl die konservative Regierung ihn sich nicht zu eigen gemacht hatte, erlaubte dieser den von Labour geführten Stadtverwaltungen, verschiedene, ganzheitliche, sozial ausgerichtete kommunale Sicherheitsstrategien zu entwickeln, die sich bis zum Amtsantritt von New Labour 1997 entfalten konnten. Dass New Labour auf die strikte Durchsetzung von Gesetzen, speziell zur Eindämmung von Einbruchs- und Raubdelikten, sowie auf die Berichte von Effizienzprüfungskommissionen und andere neu eingeführte Kontrollelemente und Zielvorgaben setzte, stärkte jedoch den Einfluss der Zentralgewalt. Zusätzlich an die mikroökonomischen Vorgaben seitens des Finanzministeriums gebunden schränkten diese Neuerungen lokale Entscheidungsspielräume ein und schnitten die Frage der Kriminalitätsreduktion von weiter reichenden, ganzheitlichen Politikansätzen ab (Stenson 2002). Diese einige Hundertmillionen Pfund teure Strategie der Kriminalitätsreduktion (davon 250 Mio. £ allein für die wissenschaftliche Auswertung) stützte sich auf die Analyse faktenorientierter (evidence-based) Kriminalitätskontrolle, eine Agenda, die die Ausrichtung der kriminologischen Forschung in Großbritannien unter New Labour mitgeprägt hat (Goldblatt/ Lewis 1998).

Sicherheitsforschung Politikwissenschaftliche Untersuchungen zu Veränderungen in der Regierungsarchitektur in anderen europäischen Ländern (Crawford 2002b) arbeiten mit einer Mischung aus ideographischen Fallstudien und nationaler oder internationaler Trendanalyse. Dabei gibt es Studien, die sich gleichermaßen auf die diskursive Gouvernementalitätstheorie als auch auf die

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190 | Kevin Stenson politikwissenschaftliche Forschung stützen und die neuen Formen der Kriminalitätskontrolle in avanciert liberalen Demokratien verallgemeinern (Garland 2001). Die Gemeinsamkeiten der Prozesse und Gegenstände können sie erkennen, weil sie sich für die vergleichende Analyse auf Konzeptionen von Sicherheit beziehen (Zedner 2004). Dabei variiert die Bedeutung von Sicherheit zwischen der Assoziation mit Recht (right), mit Ware oder mit öffentlichem Gut (Stenson 2001b). So können Forschungen zum Thema Sicherheit plurale Polizeiarbeit als interagierende »Knotenpunkte« der Sicherheitsversorgung begreifen, die staatliche, privatwirtschaftliche und ehrenamtliche Sektoren durchzieht und dabei diverse eigenständige »Sicherheitsblasen« erzeugt, vom Flugzeug in der Luft über Einkaufszentren bis hin zu nach außen abgeriegelten Wohnvierteln (Johnston/Shearing 2003). Solche Konzeptionen spielen indes die Bedeutung souveräner staatlicher Institutionen herunter. Sie behaupten, der Nationalstaat sei schwindsüchtig oder sogar dem Tode geweiht, und betrachten staatliche Einrichtungen dementsprechend auch lediglich als weitere, mit anderen Teilnehmern konkurrierende Knotenpunkte auf dem Sicherheitsmarkt. Es wird behauptet, das allgemeine Vertrauen in die souveräne Autorität des Staates nehme ab, das in private Sicherheitsdienste und Bürgerinitiativen hingegen zu. Dadurch konzentrierten sich die Risiken und Gefahren in den armen, polizeilich unterversorgten Gebieten (Kempa/Stenning/Wood 2004), und der Schwerpunkt liege zunehmend auf der Kontrolle von Straftätern durch vertraglich geregelte Auflagen.3 Auf diese Weise würde sich die Grenze zwischen Straf- und Zivilrecht in der Kriminalitätskontrolle verwischen, und genau darin zeige sich ein Wechsel von souveräner zu kommunaler Strafjustiz mit ihren Konfliktregelungsinstrumenten, die primär auf Verhandlung, Einsicht, Vermittlung und Wiedergutmachung setzten (Crawford 2003). Solche Aussagen haben zu einer wissenschaftlichen Debatte über die generelle Anwendbarkeit solcher Erklärungsansätze geführt (Jones/Newburn 2002): Inwiefern können die neuen pluralistischen Sicherheitsstrukturen Gerechtigkeit sowohl im sozialen als auch im strafrechtlichen Sinne gewährleisten und demokratisch legitimiert sein (Loader/Walker 2004)? Auch wurde die Strategie, staatliche Macht auf der Basis von Kriminalitätsfurcht auszuweiten und ein scheinbar apolitisches, »technisches« und der demokratischen Kontrolle zunehmend entzogenes Sicherheitsexpertentum samt entsprechender Verfahrensweisen ins Leben zu rufen, scharf kritisiert (McLaughlin/Muncie/Hughes 2001; DeLint/Virta 2004). Allerdings erzeugt diese Sicherheitsforschung auch eine übergeordnete Perspektive und beleuchtet die Komplexität der binnen- und zwischeninstitutionellen Beziehungen von Kontrollagenturen, dies jedoch zu Lasten einer Untersuchung der wechselnden Kontexte der Kriminalitätskontrolle sowie der Interaktion zwischen den formellen Kontrollagenturen und den Aktivitäten

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und Zielen der regierten Bevölkerungsgruppen. Wie nur können wir dem Drang entkommen, bei der Konzeption unseres gemeinsamen Aufgabenbereichs und Anliegens allein auf den Aspekt der Sicherheit zu schielen, und wie können wir die vergleichende Forschung fördern?

»Realistische« Gouvernementalitätstheorie Diese alternative Theorie, die sich gleichermaßen auf das Konzept der Gouvernementalität wie auf die politikwissenschaftliche Forschung bezieht, beruht auf einem Korpus von Arbeiten, welche die vorherrschende Lesart »diskursiver« Gouvernementalitätstheorie herausgefordert haben. Der Ansatz unterfüttert nämlich die Diskursanalyse mit historisch begründeter, realistischer Forschung und konzentriert sich auf politische Beziehungen und die Frage der Souveränität, also auf die Auseinandersetzungen um die Kontrolle von Bevölkerungsgruppen und Territorium, die letztlich über die Monopolisierung der Androhung oder Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Namen übergeordneter Gesetze und staatlicher Autorität bewirkt wird. »Realistische« Gouvernementalitätstheorie sieht ökonomische Verhältnisse als ein politisches Produkt an und hebt wieder auf die Bedeutung des Staates ab. »Sicherheit« ist kein gegebener Gegenstand der Forschung, eher besteht sie – wie die »Gemeinde« – aus einer Reihe rhetorischer Figuren und Praktiken, die der Kriminalitätskontrolle dienlich sind (Stenson 1993; 1998; 1999; 2002; Stenson/Edwards 2001; 2004; Dean 2002). Auch wenn der Staat natürlich kein monolithischer, homogener kollektiver Akteur ist, ist es – zumal in den avanciert liberalen Demokratien, in denen der staatliche und öffentliche Sektor zwischen 30 und 50 Prozent des BIP ausmacht – nicht nachvollziehbar, wenn man staatliche Organisationen, die über riesige Mittel verfügen, auf den Status von gleichrangigen Knotenpunkten im Sicherheitsmarkt reduziert (Hirst/Thompson 1996; vgl. Zedner 2004: 302f.). Souveräne Machtausübung erfolgt vielmehr im Namen und mit den Mitteln der zentralen Staatsgewalt und ihrer Gesetze. Das gilt auch dort, wo einzelne souveräne Machtbefugnisse, wie die elektronische Überwachung von Straftätern, vertraglich kommerziellen Körperschaften übertragen werden (Paterson/Stenson 2005). Allerdings versteht die »realistische« Gouvernementalitätstheorie staatliche Souveränität nicht als monarchisches Überbleibsel und auch nicht einfach als eine Funktion von Staat und Gesetz. Staatlich ausgeübter Zwang ist eng verbunden mit nationaler Biopolitik: Zentripetale Maßnahmen dienen dazu, die in pluralistischen, liberalen Marktwirtschaften entstehenden zentrifugalen Tendenzen zu überwinden. Die diskursive Gouvernementalitätstheorie erkennt nicht, dass sich universalistische liberale Rationalitäten und Herrschaftsweisen im Schoß eines partikularistischen Nationalismus herausgebildet haben und von diesem geprägt bleiben (vgl.

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192 | Kevin Stenson Stenson 1998: 342f.). Nationalstaaten beruhten hauptsächlich auf Gemeinsamkeiten in Sprache, Religion und anderen kulturellen Werten, auf gemeinsamen Institutionen, empfundener Abstammung, geteilten historischen Überlieferungen und lokalen Heimatgefühlen (Smith 1986; Loader/Mulcahy 2003). Diese Elemente sind in den Nationalstaatsdoktrinen verwurzelt, die sich im 1648 geschlossenen Westfälischen Frieden manifestierten. Dieser bildete die Grundlage für – wenn auch asymmetrische – Vereinbarungen zwischen Staaten, ihre in zunehmendem Maße säkulare, entkonfessionalisierte Rechtshoheit über Gebiete und Bevölkerungen wechselseitig anzuerkennen (vgl. Hirst/Thompson 1996: 171; Hunter 1998). Projekte »sozialer« Solidarität waren, auch wenn sie oft auf soziale Bewegungen zurückgingen, ein Ergebnis organischer Nationenbildung, die durch die wechselnden historischen und kulturellen Parameter von Staaten geprägt wurde (Dench 1986; Esping-Andersen 1990). Die französische Tagespolitik – am einen Extrem – reflektiert immer noch säkulare, republikanische Werte, wenn sie für Forderungen nach einem Sonderstatus für moslemische und andere Minderheiten, die als Bedrohung für die Ideale bürgerlicher Gleichheit angesehen werden, nur begrenzt Toleranz zeigt. Im Gegensatz dazu, und ähnlich wie beim niederländischen Multikulturalismus, entstand das Vereinigte Königreich organisch auf der Basis von Kompromissen zwischen dem Staat und den christlichen Mehrheits- und Minderheitskirchen, ethnischen und regionalen Minderheiten sowie Unternehmer- und Arbeiterorganisationen, wodurch sich robuste zivilgesellschaftliche Institutionen herausbildeten (Dench 1986). Der britische Multikulturalismus, der daraus hervorging, verstärkte sich durch die Migrationsströme der jüngsten Zeit und die zunehmende ethnische Komplexität der Städte noch. Auf diese Weise entstehen Spannungen, nämlich zwischen dem Bestreben, Formen partikularistischer, spezifisch britischer, nationaler Solidarität und englischer Mehrheitsidentität zu schaffen, einerseits und den Bemühungen, die jeweiligen Identitäten von Minderheiten zu schützen, andererseits. Letztere betrachten die Lobbys einiger Minderheiten als einen Bestandteil der liberal-universalistischen Menschenrechtsprinzipien, die, so heißt es, übergeordnet seien und innerhalb eines Nationalstaats durchsetzbar sein sollten (Parekh 2000; Stenson 2005). Solche Spannungen manifestieren sich zwischen partikularistisch bestimmter nationaler Identität und dem Bürgerschaftsbegriff der übergreifenden Nationalkultur. Sie erzeugen starke, emotionale Verknüpfungen zwischen Person, Kultur, Identität und Status in der Mehrheitsbevölkerung (Gellner 1983). Solidarität oder »gemeinschaftlichen Zusammenhalt« innerhalb der Mehrheitsbevölkerung zu erzeugen, kann allerdings auch soziale Exklusion fördern (Young 1999). Eine Kombination aus sozialer Schichtzugehörigkeit, Ethnizität, Subkultur und anderen, einander überschneidenden Unterscheidungsmerkmalen erlaubt, das ausgeschlossene »Andere«, den

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Tummelplatz für Kontrollagenturen, zu identifizieren (vgl. Reiner 2000: 93f.).4 Wie anderswo in der EU werden Debatten über Ausgrenzung, Kriminalität, Furcht, Risiken und eine empfundene Bedrohung durch Bevölkerungsteile, die in die Rolle der »Anderen« gedrängt werden, mit solchen über Einwanderung und demographische Zusammensetzung des Vereinigten Königreichs vermengt, sodass diese biopolitischen Fragen vom rassistischen Rand ins liberale Herz der Gesellschaft befördert werden (Goodhart 2004). Großbritannien mit seiner magnetischen Anziehungskraft dank des stetigen Wirtschaftswachstums unter New Labour ist das einzige EU-Land, das in der jüngsten Zeit ein Bevölkerungswachstum sowohl auf legaler als auch auf illegaler Grundlage erlebte.5

Regierung von oben und von unten Die Umsetzung zentral verfügter, politischer Konzepte und Direktiven wird durch lokale Unterschiede der Regierung von Kommunen und den jeweiligen lokalen »Habitus« der politischen Akteure beeinflusst, also durch ihr kulturelles, emotionales und instrumentelles Repertoire und entsprechende Erkenntnis- und Handlungsdispositionen. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Zunächst gibt es die lokale Politik der Kriminalitätskontrolle unter Beteiligung der ortsansässigen Behörden, die einen Teil der Auseinandersetzung um die übergeordnete souveräne Vorherrschaft der amtlichen Biopolitik und des professionellen Expertentums ausmachen. Auf der Ebene der Auseinandersetzung um die territoriale Vorherrschaft von unten hingegen verschwimmen die staatlichen Behörden eher zu informellen Schauplätzen der Steuerung. Hier gilt es, den Begriff der Biopolitik zu erweitern und auch populäre Arten von Expertentum und Wissen einzuschließen. Diese kommen häufig in mündlicher Form zum Einsatz, wenn gesellschaftliche Gruppierungen unterschiedlichen Formalisierungsgrades sich um die Regierung des geographischen Territoriums und der Bevölkerungsgruppen in ihrem Lebensbereich bemühen. Dazu gehören z.B. spontane Versammlungen, Nachbarschaftsvereine, ethnische, religiöse, kriminelle und paramilitärische Organisationen sowie die Selbstorganisation von Jugendlichen. Dazu gehören ebenso durch die Medien gefilterte und verstärkte Forderungen von unten an staatliche Behörden, souveräne Macht über Gebiete und Bevölkerungsgruppen auszuüben, die als abweichend erachtet werden (Watt/Stenson 1998; Stenson 1999; Stenson/Watt 1999b; Lea 2002). Die Auseinandersetzung um souveräne Macht springt auf lokaler Ebene wesentlich stärker ins Auge als in den Apparaten zentraler Ministerien oder im zwischenstaatlichen Austausch. Dabei besteht die Sorge, bis zu welchem Grad die lokale Stadtverwaltung, Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft, Strafjustiz und kommerzielle Körperschaften das Stadtzentrum,

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194 | Kevin Stenson Hauptverkehrsstraßen und ärmere Stadtviertel überhaupt kontrollieren, wenn dort konkurrierende, illegale Schattenwirtschaften und Formen der Regierung die Staatsmacht möglicherweise in Frage stellen (Stenson/Edwards 2001).6 Im städtischen Umfeld hat sich ein subkulturelles Zeichensystem territorialer Markierungen, das von Bandengraffiti bis hin zu paramilitärischen Symbolen reicht, in direkter Umgebung der Markensymbole von Nationalstaaten und großen Konzernen durchgesetzt (Ferrell 1996). Es steht für die lokalen Auseinandersetzungen um knappe Ressourcen, die Kontrolle von Straßenzügen, Jobs, Unterkunft und so weiter und beruht auf einem größeren symbolischen Rahmen der Statuszuweisung als Zugehöriger und Außenseiter – »Anderer« –, der inzwischen dank medialer Vermittlung auch zum Bestandteil der übergreifenden nationalen Kultur geworden ist. Symbole wirken auch in den tieferen Schichten einer kulturellen Grammatik. Im protestantischen Großbritannien wurden irische Katholiken Jahrhunderte lang mit Argwohn betrachtet, denn vielleicht fühlten sie sich ja dem Vatikan oder einer angestrebten oder tatsächlichen irischen Souveränität eher verpflichtet als dem Vereinigten Königreich. Muslime, soweit ihnen in erster Linie die Identifikation mit der »Umma«, der globalen Gemeinschaft des Islams unterstellt wird, dürften sich ungeachtet der Vielfältigkeit moslemischer Stimmen und Interessen in einer ähnlichen kulturellen Zuordnung wiederfinden, die jenen vorbehalten ist, die im Verhältnis zu bestimmten Nationalstaaten als bedrohlich »anders« eingestuft werden (Mac an Ghaill 1999; Spalek 2002). Hierin zeigt sich der vielschichtige Charakter von Identität. Lokale »Gemeinschaften« werden manchmal sowohl von ihren Mitgliedern, als auch von Außenstehenden als Teil einer globalen Diaspora mit konkurrierenden Loyalitäten und Bezugssystemen angesehen (Anderson 1983).7 Komplexe Beziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen, die häufig in Begriffen wie Kriminalität und antisoziales Verhalten gerahmt werden, sind demnach, ebenso wie die finanziell messbaren, materiellen Lebensbedingungen, das Produkt von Auseinandersetzungen um Werte, Glaubensüberzeugungen, Lebensstile, Sexualität und Sexualpartner (vgl. Stenson 2002: 114-124).

Umschichtung von Souveränität Der Staat schichtet souveräne Machtbefugnisse um, und zwar nach oben auf internationale Körperschaften wie die EU, Interpol und die NATO und nach unten auf lokale Regierungsebenen und andere Schauplätze zivilgesellschaftlicher und wirtschaftlicher Steuerung, auf die Familie, lokale Gemeinschaften und den einzelnen Bürger (Stenson 2001b). In europäischen Ländern werden staatliche Hoheitsbefugnisse teilweise auf lokale Exekutivorgane übertragen, um Kriminalität und damit verbundene Probleme

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durch die Zusammenarbeit von Bürgermeistern, Polizeichefs, Staatsanwälten, Richtern und anderen am Strafjustizwesen Beteiligten zu erfassen und zu regulieren. Allerdings fallen diese Entwicklungen je nach Regierungsarchitektur, Geschichte, Kultur und Gerichtsbarkeit unterschiedlich aus (Crawford 2002b). Souveränität gestaltet sich analytisch betrachtet abhängig davon, wie ihre Technologien oder instrumentellen Mittel mit anderen zusammenwirken. Straforientierte souveräne Technologien zielen darauf ab, die Kontrolle über ordnungsstörende Bevölkerungsgruppen und Gebiete zurückzugewinnen, zum Beispiel durch Aufstören und Kontrolle von offenen Drogenszenen und Straßenprostitution, bettelnden Obdachlosen, Straßenräubern und »antisozialem Verhalten«.8 Erklärtes Ziel ist es, die Qualität urbanen Lebens für die Mehrheit zu verbessern und gleichzeitig Kleinkriminelle, Obdachlose, Graffitisprüher und geistig verwirrte Menschen aus den öffentlichen Räumen zu vertreiben, die für das etablierte Wirtschaftsund Gesellschaftsleben zurückgewonnen werden sollen (Stenson 2000b). Diese Technologien operieren mit Videoüberwachung, baulicher Umgestaltung, Technoprävention beziehungsweise Risikomanagement, um Straftaten zu verhindern, die Zahl der Opfer zu verringern und die Nutzung des öffentlichen Raumes zu fördern. Gleichzeitig dienen kommunale Sicherheitstechnologien dazu, mit unterschiedlichen Mitteln die Solidarität zwischen den Menschen zu fördern, Kriminalität durch Ansetzen an den tieferen Ursachen zu verhüten, die armen Wohnviertel zu erneuern und die wohlhabenden zu verteidigen (Stenson 2000a). Um sich ein angemessenes Bild dieser hybriden Praktiken in der kommunalen Sicherheitspolitik zu machen, muss man zum Beispiel anhand eines Themas wie der Prostitution oder des antisozialen Verhaltens untersuchen, wie die lokalen politischen Akteure das Interesse einer Zielgruppe wecken, indem sie Streitfragen in ihrer bevorzugten Wortwahl aufbereiten beziehungsweise problematisieren und beantworten; wie sie unterstützende Koalitionen gewinnen, um diese Problematisierungen voranzutreiben; wie sie die politische Dynamik dieser Zusammenschlüsse gestalten; und wie sie formelle und informelle politische Akteure zusammenbringen (vgl. Stenson/Edwards 2001: 75-81). Nachdem einige der allgemeinen Einflussfaktoren im Kampf um Souveränität über das Thema der Kriminalitätskontrolle identifiziert sind, können wir nun mit Hilfe von Beispielen aus ländlichen und städtischen Kontexten die lokalen Unterschiede in der Politik der Kriminalitätskontrolle und der öffentlichen Sicherheit erörtern.

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Biopolitik und kommunale Sicherheit auf dem Land Die niedrigeren Kriminalitätsraten auf dem Land gehen nicht immer mit einem entsprechend geringen Ausmaß von Furcht und Angst einher. Dies ergab eine Untersuchung in dem überwiegend ländlichen, wohlhabenden und politisch konservativen Thames Valley, in dessen städtischen Gebieten erstmals progressive, ganzheitliche Strategien kommunaler Sicherheitspolitik angewandt worden waren (Stenson 2002). Wie anderswo im ländlichen Großbritannien gibt es auch hier einen kleinen Anteil nicht-weißer Minderheiten, die zur Zielscheibe rassistischer, von den Behörden meist verharmloster Diskriminierung werden können. Die Haupttrennlinien verlaufen allerdings innerhalb der weißen Bevölkerung, ebenso finden sich vor allem hier die Beispiele für Konstruktionen von »Anderssein« (Stenson/Watt 1999b; Chakraborti/Garland 2004). Die Region wirft ein Schlaglicht auf die »weiße Flucht » vor ethnischer und kultureller Vielfalt, vor sozialen Problemen und Konflikten in den Innenstädten: Die Menschen suchen einen sicheren Arbeitsplatz und träumen von einer weißen, englischen Landidylle. Nach Berichten der für die ländliche Entwicklung zuständigen Stelle der britischen Regierung, der Countryside Agency (2001), verbirgt sich hinter den Gesamtstatistiken jedoch ein hohes Ausmaß an Mangel und Problemen, die öffentlichen Stellen kaum übermittelt werden, sich aber gleichermaßen in den heftigen lokalen Konflikten im öffentlichen Raum wie in den zerrütteten Beziehungen zwischen den Geschlechtern und in häuslicher Gewalt manifestieren. Diese Probleme können auf die ökonomische und soziale Umgestaltung zurückgeführt werden, die das ländliche Leben erfasst hat (Dingwall/Moody 1999). Der Verkauf ländlicher Sozialwohnungen und die Invasion wohlhabender Pendler in die Dörfer ließen die Immobilienpreise steigen, polarisierten Dörfer entlang der Grenzen sozialer Schichtzugehörigkeit und verdrängten nach und nach die sozial Schwachen in das nahe gelegene städtische Umland. Eine Studie über ein solches gespaltenes Dorf mit einem abgesonderten, unpopulären Bestand an Sozialwohnungen – in dem auch eine Reihe beargwöhnter, ursprünglich nicht-sesshafter Familien lebte, die dort erst kürzlich einquartiert worden waren – ergab, dass marginalisierte Bevölkerungsteile auch von der Stadt hinaus aufs Land verdrängt werden können (Stenson/Watt 1999b). In diesen und ähnlichen Wohngebieten ließen sich die Polizei und andere behördliche Vertreter nur selten blicken. Konflikte wurden den Behörden kaum berichtet. Informelle Formen der Kontrolle von unten über das lokale Territorium in Form von Bürgerwehren, organisiertem Verbrechen und patriarchaler Gewalt in der Familie füllten teilweise das Vakuum. Versuche, ein partnerschaftliches System der Lokalverwaltung aufzubauen, stießen auf mächtige Netzwerke, die ihren informellen, illegalen Führungsanspruch verteidigten. Dies veranschaulicht die wachsenden Sorgen kommunaler Sicherheitspartner-

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schaften über ländliche und städtische Sozialwohnungskomplexe mit sozial gemischter Mieterschaft, die zuletzt zunehmend dazu verwendet wurden, dort Personen mit gegenseitig sich verstärkenden, vielfältigen Problemen unterzubringen, die in einer volatilen Mischung von Armut über Kriminalität bis hin zu geistigen Störungen reichen (Flint 2002). Die Antworten der Lokalpolitik auf solche Verhältnisse sind jedoch häufig einseitig, das Hauptaugenmerk liegt auf dem »Anderssein«, der materiellen und kulturellen Armut und einer unterstellten mangelnden Funktionstüchtigkeit der Haushalte jener vermeintlichen Eindringlinge. Hierin zeigt sich auch die begrenzte Fähigkeit der Hauptopfer dieser Umstände, eine komplexere Diagnose oder eine verständliche Darstellung der lokalen Probleme und möglicher Lösungen zu entwickeln oder dafür Unterstützung zu gewinnen. Im Gegensatz zu den großräumigen urbanen Gebieten verlassen sich lokale Partnerschaften zur Kriminalitätsreduktion auf dem Land oft engstirnig auf polizeiliche Kriminalstatistiken, konzentrieren alle Mittel auf einen minimalen, repressiven Ansatz und verschließen sich gegenüber weiter reichenden, ganzheitlichen Konzeptionen von Kriminalität und kommunaler Sicherheit (Countryside Agency 2001; Stenson 2002). Wie in anderen ländlichen Gebieten des Vereinigten Königreichs kommt es hier zu erbitterten, manchmal sogar gewalttätigen Spannungen zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den geschätzten 300.000 Roma, Iren und anderen nicht-sesshaft Lebenden über deren Niederlassung auf öffentlichen Grundstücken (Power 2005). Diese nicht-sesshaft Lebenden werden, nicht immer zurecht, als Quelle krimineller Bedrohung und Einschüchterung und als Hauptgefahr für die kommunale Sicherheit auf dem Land empfunden. Ihr Lebensstil wird als unbotmäßig im Verhältnis zum Lebensrhythmus derer betrachtet, die fest ins Arbeits- und Bildungssystem eingebunden sind. Diese Spannungen entstanden infolge eines zurückgehenden Bedarfs an landwirtschaftlicher Arbeitskraft, der von den nicht-sesshaft Lebenden abgedeckt worden war. Diese drängten folglich zunehmend in andere Erwerbsbereiche, während sich die für sie vorgesehenen, städtischen Lagerplätze zugleich reduzierten. So entstanden illegale Lager, manchmal auf einem Grundstück, das die nicht-sesshaft Lebenden erworben hatten, für das aber keine entsprechende Nutzungsgenehmigung vorlag. Cowan und Lomax haben die komplexen lokalpolitischjuristischen Abläufe und den dienstlichen Habitus ortsansässiger Beamter bei der Anwendung repressiver, behördlicher Maßnahmen mit dem Ziel, die nicht-sesshaften Gruppierungen zu maßregeln, aufgedeckt. Diese Maßnahmen verknüpfen Risikomanagement, wohlfahrtsstaatliche Konzepte und solche kommunaler Sicherheit, wobei man sich um das Wohlergehen der Kinder in der Hoffnung kümmert, die nicht-sesshaft Lebenden zu einem als akzeptabel erachteten Lebensstil zu bringen (Cowan/Lomax 2003).

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Biopolitik und kommunale Sicherheit in der Stadt Die wirtschaftliche Umstrukturierung – besonders in den Städten Nordenglands, in denen es darum ging, veraltete Industrien zu ersetzen – führte zu sozialen Verwerfungen, die sich z.B. in sozialer und geographischer Mobilität, Arbeitslosigkeit und illegalem Drogenhandel niederschlug. Gleichzeitig entwickelt sich eine wachsende, auf das mit Alkoholkonsum verbundene Nachtleben von Jugendlichen ausgerichtete Branche. In diesem Kontext wird öffentliche Sicherheit in erster Linie unter dem Vorzeichen der Bedrohung durch antisoziales Verhalten und dem, was sonst noch als Auswuchs post-industrieller Männlichkeit betrachtet wird, verhandelt. In den städtischen Zentren leben die verschiedenen Altersgruppen zusehends getrennt voneinander, gleichzeitig nimmt die alltägliche Gewalt zu. Das ist eine Herausforderung für kommunale Sicherheitspartnerschaften, die wenig Möglichkeiten haben, den Handel mit Alkohol zu reglementieren, auf den das Wirtschaftsgefüge in Ballungszentren immer stärker angewiesen ist. Hinzu kommen die sich mit der Sicherheitsindustrie rasant ausbreitenden Netzwerke organisierter Kriminalität, die zumeist ein ambivalentes Verhältnis zwischen Profitstreben und Aufrechterhaltung der kollektiven Ordnung und Sicherheit entwickeln (Hobbs/Hadfield/Lister/ Winlow 2003). Der Versuch, staatliche Kontrolle über Ballungszentren wiederzugewinnen, beruht hier auf einer Kombination von Zwangsmaßnahmen, wirtschaftlicher Regulierung und dem Einsatz von Videoüberwachung – zum Zuge kommen, mit anderen Worten, gezielte, vorbeugende Steuerungsformen: target hardening und actuarial justice-Methoden (McCahill 2002). Ein Beispiel hierfür ist auch die Hafenstadt Liverpool, die Mitte der 1990er Jahre einen Großteil ihrer industriellen Grundlage und Bevölkerung verloren hatte; die Arbeitslosigkeit lag auf einem hohem Niveau, ebenso die Klein- und organisierte Kriminalität; und es gab eine hohe Anzahl illegaler Drogenkonsumenten. Parallel zu wohlfahrtsorientierten kommunalen Sicherheitsinitiativen basierte die lokale Sicherheits- und Sanierungspolitik auf einer strikten, straforientierten staatlichen Strategie, die Polizei und private Sicherheitsdienste koordinierte und Randgruppen von Einkaufszentren und anderen neuen Konsumeinrichtungen kategorisch fernhielt. In der Region Merseyside gab es manchmal Spannungen zwischen gemeinschaftsorientierten Sicherheitsmodellen einerseits und Sanierungsprogrammen zur Verbesserung der Infrastruktur, des Freizeitund Kulturangebots, sowie der Arbeitsmarktsituation andererseits, um gut ausgebildete Schichten zum Zuzug zu bewegen. Letztere huldigten einer neuen Dienstleistungsökonomie und einem kostspieligen Lebensstil und setzten sich damit in einen Gegensatz zur ortsansässigen Unterschicht. Auf diese Weise wurden soziale Spannungen geschürt und die Zuzügler häufig Opfer von Kriminalität (Coleman/Sim 2002; Hancock 2003).9

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In städtischen Gebieten stellen die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ethnien, die mit Hilfe sowohl sichtbarer ethnischer, als auch kultureller Unterscheidungsmerkmale definiert werden, das empfindlichste biopolitische Thema kommunaler Sicherheit dar. Kriminologische Diskussionen drehten sich (unter Hervorhebung kaum sichtbarer Unterscheidungsmerkmale) um ethnisch bedingte Ungleichheiten bei Delinquenz, sowie um die rassistische Unterdrückung durch die Mehrheitsbevölkerung, Polizei und Strafjustizeinrichtungen (Phillips/Bowling 2003). Allerdings ist das letztere Szenario unter den Vorzeichen der neuen demographischen Situation nicht mehr adäquat, um Biopolitik im städtischen Umfeld zu verstehen, in dem große und noch wachsende weiße und nicht-weiße Minderheiten untereinander um knappe Ressourcen konkurrieren (vgl. Fitzgerald/Hough/Joseph/Qureshi 2002: 8-12). Das Innenministerium und die Polizei konzentrieren sich auf Unterschiede, die über die Kategorien der »Rasse« definiert sind, und machen damit kulturell bestimmte ethnische Gruppierungen – z.B. große irische, polnische, albanische und andere kulturell verschiedene Bevölkerungsteile innerhalb der weißen Unterschicht – für die Kriminologie und das Strafjustizwesen unsichtbar (Stenson/Travers/Crowther 1999; Waddington/Stenson/Don 2004). Behördliche Vorgehensweisen haben auf lokaler Ebene einen entscheidenden Einfluss auf biopolitische Beziehungen. Ein Bericht des Innenministeriums, der auf die heftigen Zusammenstöße zwischen weißen Mitgliedern der Unterschicht (einer, aufgrund der Flucht weißer Bevölkerungsteile aus den Städten in die Vororte, entkernten Bevölkerung) und südasiatischen Moslems in den nordenglischen Städten im Jahr 2001 reagierte, warf ein Schlaglicht auf die Schlüsselrolle der lokalen Behördenpolitik sowie auf deren Ausnutzung durch rassistische Organisationen. Die Kriterien für die Vergabe von Mitteln für die gezielte Sanierung von Stadtvierteln mit gemischter ethnischer Bevölkerung waren undurchsichtig, und der Bericht mündete in eine Debatte über die Überwindung der Rassentrennung, der kulturellen Abgrenzung voneinander und der wechselseitigen Anschuldigungen über kriminalitätsbedingte Viktimisierung (Home Office 2001; Ousley 2001; Webster 2004). Diesen Umstand, dass die in den örtlichen Sicherheitseinrichtungen gepflegte Berufsauffassung darüber entscheidet, wie Kriminalitäts- und Sicherheitsfragen für politische Maßnahmen aufbereitet werden, bestätigt auch die Forschungsarbeit von Adam Edwards Mitte der 1990er Jahre in Leicester und Nottingham, beides Städte mit großen ethnischen Minderheiten. Dort waren diverse Programme kommunaler Sicherheit, die eine hybride Mischung von Kontrollstrategien vorsahen, aufgelegt worden. Beide Städte hingen wirtschaftlich von ihrer Textilindustrie ab, wiesen große afro-karibische, somalische, verschiedene moslemische und andere Bevölkerungsminderheiten auf, bei – wie im übrigen Vereinigten Königreich auch – zunehmender Konkurrenz zwischen den bereits seit längerem an-

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200 | Kevin Stenson sässigen und den eher vor kurzem zugewanderten Minoritäten. Auch bestimmte die Labour-Partei in beiden Städten die Lokalpolitik. Nottingham fühlte sich einer ganzheitlichen Strategie stark verpflichtet, örtliche Meinungsführer aus verschiedenen benachteiligten Stadtbezirken wurden mobilisiert, um Vorschläge für politische Maßnahmen und deren Umsetzung zu formulieren. Die Behörden sahen Kriminalitätskontrolle als ein Element, aber nicht als das Kernziel von Stadtsanierungsprogrammen. Der Akzent der kommunalen Sicherheitsstrategien lag vielmehr auf Resozialisierungskonzepten für jugendliche Risikogruppen. In Leicester dagegen hieß Sanierung in erster Linie Investitionsanregung und Kriminalitätskontrolle. Man setzte vor allem auf Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und investierte in situationsbezogene Kriminalprävention auf Kosten der Einbeziehung von Interessengruppen verschiedener ethnischer Gruppierungen aus der Unterschicht. Lokale Sozialprogramme für Jugendliche wurden also zu Gunsten situationsbezogener Kriminalprävention, polizeilicher Maßnahmen und strafjustizieller Reaktionen heruntergefahren (Edwards 2002). An einigen Orten in Leicester widerstanden Polizei und Stadtrat Kampagnen von Allianzen zwischen südasiatischen und moslemischen Bevölkerungsgruppen einerseits und weißen Bewohnern, die einen luxuriösen Lebensstil pflegten, andererseits für eine repressive staatliche »Null-Toleranz«-Politik, die das Rotlichtgeschäft aus der Stadt vertreiben sollte, das ethnische und andere Spannungen vor Ort zusätzlich anheizte. Behördenvertreter und Polizei setzten dem »soziale Maßnahmen« entgegen, z.B. Projekte mit Prostituierten in sozialen Randbezirken und Gesundheitsaufklärung, denn das Geschäft aus der Innenstadt zu vertreiben hieße, seine Neuansiedelung in den umliegenden, politisch einflussreichen und von Weißen bewohnten Gebieten zu riskieren. Kommunale Sicherheitspolitik war in diesem Fall hybrid angelegt, denn sie verband soziale Sicherheitsprojekte mit vorbeugendem Risikomanagement und anderen Maßnahmen der Eindämmung von Kriminalität (vgl. Stenson/Edwards 2001: 79-81).

Fazit Die national und international fortschreitende vergleichende Forschung zu kommunaler oder öffentlicher Sicherheit bedarf eines theoretischen Gerüsts, um gemeinsame Gegenstände und Anliegen zu formulieren. Hier wurde die Meinung vertreten, dies werde von der realistischen Gouvernementalitätstheorie besser geleistet als von Sicherheitstheorien. Wo das alte, gewachsene Verhältnis zwischen Einwohnern, Identität, Solidarität und Territorium zerfallen ist, richtet jene ihr Augenmerk auf die Auseinandersetzungen um souveräne und weniger formelle, biopolitische Kontrolle. Diese Auseinandersetzungen vollziehen sich unter wechselnden politi-

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schen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorzeichen, wobei jeweils Gebiete und Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung im Mittelpunkt stehen. Die Kriminologie sollte sich deshalb bei der Analyse von und im Umgang mit lokalen Kriminalitäts- und Sicherheitsproblemen gegenüber den staatlich favorisierten, »technischen« und entpolitisierten konzeptuellen Ansätzen zurückhalten, die weder lokale Zusammenhänge noch politische Prozesse berücksichtigen. Sie sollte auch von allgemeinen Sicherheitsforschungen Abstand nehmen, die sich in die byzantinische Komplexität von und in die Beziehungen zwischen Sicherheitsinstitutionen vertiefen und darüber vergessen, eben die Prozesse zu beachten, die zwischen diesen Institutionen und den Bevölkerungsgruppen und Gebieten ablaufen, die kontrolliert werden sollen. Diese Sicherheitsforschungen erfinden verführerische Beschreibungen von Schauplätzen der Regierung jenseits staatlicher Verantwortung und meinen damit konkurrierende Knotenpunkte in offener gestalteten Sicherheitsmärkten. Gemessen an der Gleichsetzung des Regierungsbegriffs mit hierarchisch-monolithischen Konzepten vom zentralisierten Nationalstaat ist das ein Fortschritt. Sicherheitsdiskurse sind jedoch nicht politisch neutral. In avanciert liberalen Demokratien ist es naiv davon auszugehen, dass staatliche Einrichtungen lediglich parallel zum kommerziellen Sektor in einem gemeinsamen Feld der Sicherheitsherstellung operieren. Kriminologische Kategorien werden so mit denen der Sicherheitsindustrie vermengt. Indem der Sicherheitsdiskurs gleichlautende Argumentationen aus dem Gesundheits- und Medienbereich sowie anderen Dienstleistungsfeldern einfach übernimmt, unterstützt er überdies die neoliberalen Argumente, die Wirtschaftskonzerne mit dem Ziel der Privatisierung staatlicher Dienstleistungen vorbringen. Die realistische Gouvernementalitätstheorie dagegen mit ihrem Hauptaugenmerk auf Biopolitik und den Auseinandersetzungen um souveräne Kontrolle bietet der Kriminologie einen radikal anderen und über die reine Sicherheitsdebatte hinausgehenden Ersatzdiskurs. Die Ausrichtung auf die Frage der Souveränität bedeutet keine Wiederkehr der Theorien vom monolithischen Nationalstaat. Diese Perspektive nimmt vielmehr gleichermaßen den politisch herbeigeführten Aufbau von Sicherheitsmärkten wie die Abhängigkeit der zentralen politischen Entscheidungsträger von den Beamten vor Ort und den beteiligten privaten Subunternehmern in den Blick, wenn es um die Umsetzung legislativer Anordnungen geht (Edwards 2005). Auf diese Weise eröffnet sich ein Raum für Widerstand und andere Formen der Aneignung auf der lokalen Regierungsebene, auf der die offensichtlichsten Machtkämpfe stattfinden. Diese Theorie stellt die Gesellschaft also als eine Konfliktarena dar, in der Auseinandersetzungen um symbolische und emotionale Fragen genauso bedeutungsvoll sein können wie die um materielle Ressourcen. Auseinandersetzungen über Gebiete und Bevölkerungen, so zeigt sich,

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202 | Kevin Stenson sind universell. In avancierten Demokratien mit ihrem breiten Spektrum an öffentlichen Institutionen treten zuweilen kriminelle und andere Formen der Regierung auf, die den offenen Kontakt mit Vertretern staatlicher Macht meiden, oder, wie im Falle der paramilitärischen Organisationen in Nordirland, die der Staatsmacht die widerwillige Erlaubnis abtrotzen, über ihre Kerngebiete zu herrschen und dort eine grobe Form kommunaler Sicherheit aufrechtzuerhalten. Allerdings haben religiöse, wirtschaftliche, ideologische und andere Felder und Akteure zivilgesellschaftlicher Steuerungspolitik beachtliche Vorteile, wenn sie ihre jeweiligen Anliegen an die nationalistische wie universalistische Rahmenvorgabe des souveränen Rechts und des Staates anpassen. Eine derartige Anpassung kann dazu führen, dass die begrenzten lokalen oder sektoralen Ressourcen durch die eindrucksvolle Macht gesetzlicher und staatlicher Mittel unterstützt werden. Dennoch sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dass solche Möglichkeiten unter Umständen in scharfem Kontrast zu den Bedingungen stehen, die in Entwicklungs- und Schwellenländern vorherrschen. Die Kriminologie sollte der Bedeutung politischer Auseinandersetzungen und regionaler Unterschiede sowohl auf subnationaler, als auch auf nationaler und übernationaler Ebene Rechnung tragen (Feeley 2003). Der Zentralismus staatlicher Souveränität führt uns die gewaltige Macht des avancierten Nationalstaats vor Augen, Souveränität ist jedoch nicht einfach eine seiner Funktionen. Vielmehr beinhaltet sie komplexe Formen behördlicher und informeller, durch die Medien gefilterter Biopolitik, die oft miteinander im Widerstreit stehen. Während gesellschaftliche Ungleichheiten zu- und die Aufstiegschancen der ärmeren Schichten abnehmen (Paxton/ Dixon 2004), muss Großbritanniens Politik der »städtischen Erneuerung« (Civic Renewal) auf schwerwiegende ethnische Konflikte reagieren. Sie fördert direktes Bürgerengagement, versucht, ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen zu integrieren und die auf der Basis der Menschenrechte für alle gleichen Bürgerrechte mit partikularistischer Nationenbildung und entsprechendem professionellem Expertentum zu verbinden (ODPM 2004). Diese Politik beißt sich jedoch mit der Anerkennung kultureller Unterschiede (Stenson 2005). Sie wird hauptsächlich im Büro des stellvertretenden Premierministers entwickelt, wobei das Ziel der Kriminalitätsreduktion innerhalb des Innenministeriums in Konkurrenz zur Agenda der »bürgerlichen Erneuerung« (Civil Renewal) steht. Dieses Spannungsverhältnis überträgt sich auch auf staatliche Einrichtungen vor Ort und verbreitert noch die Kluft zwischen Kriminalitätskontrolle einerseits sowie der Förderung von Solidarität und der Verbesserung der nicht-kriminogenen Rahmenbedingungen andererseits. Diese Spannungen dringen in unterschiedlichem Ausmaß bis auf die Tagesordnungen lokaler und nationaler Regierungsgremien in Europa vor und nehmen dabei je nach liberaler Herrschaft nur unterschiedliche Erscheinungsformen, entlang des Dauergegensatzes zwischen dem französisch-republika-

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nischen Staatsbürgerdenken und dem britischen und niederländischen Multikulturalismus, an. Komplexe Konflikte zwischen verschiedenen Gemeinden werden im politischen Sprachgebrauch in zunehmendem Maße unter den einfacheren Überschriften Kriminalität, Angst und öffentliche Sicherheit gefasst: Regieren mittels Verbrechen. Dieser Sprachgebrauch führt aber zu einer Kapazitätsüberlastung des Polizei- und Strafjustizwesens vor Ort, die mit diesen politischen Themen befasst sind, also auf einer Ebene, auf der staatliche Autorität sich am deutlichsten zeigt und auch herausgefordert wird. Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Kiendl

Anmerkungen 1 | Hier liegt ein Pol im Spannungsfeld zwischen generalisierendem, gesetzesbasiertem Wissen einerseits und ideographischem Wissen andererseits, das dazu dient, kontextuelle Unterschiede aufzudecken (Edwards/Hughes 2005). 2 | Das Gesetz gegen Kriminalität und Unordnung (Crime and Disorder Act) von 1998 stärkte die Verbindungen zwischen lokalen Behörden, der Polizei und anderen Einrichtungen, die Strategien der Kriminalitätskontrolle entwickeln. Es wurde nochmals vom Dezentralisierungsgesetz (Local Government Act) von 2002 untermauert, das die Exekutivbefugnisse von Bürgermeistern und Landräten erweiterte. Außerdem baute das Polizeireformgesetz, ebenfalls von 2002, die Aufteilung von Polizeiaufgaben zwischen dem staatlichen, dem ehrenamtlichen und dem Sektor der Privatwirtschaft aus. Im Jahr 2004 wurde diese Entwicklung durch die Verstärkung der regulären Polizei mit kommunalen Hilfskräften und die Bildung vielfältiger »Präsenzteams mit Polizeiaufgaben« noch einmal forciert (Innes 2004). 3 | Diese Tendenz zeigt sich z.B. in Großbritannien in der Anwendung von Vorschriften gegen sogenanntes antisoziales Verhalten, welche die Bewegungsfreiheit und die Verhaltensmöglichkeiten der Betreffenden gemäß Gesetz gegen Kriminalität und Unordnung (Crime and Disorder Act) von 1998 und gegen antisoziales Verhalten (Anti-Social Behaviour Act) von 2003 einschränken. 4 | So sind in Großbritannien die den kriminalisierten Anderen unterstellten Charaktereigenschaften innerhalb der unteren Schichten bis in populäre, von Sicherheitsleuten in Umlauf gebrachte Geschichten vorgedrungen. Begriffe wie »scally« (etwa Gauner, Liverpool Slang), »scrote« (verächtlicher Polizeislang für einen kriminellen Jugendlichen), »pikie« (im Südwesten Englands abschätzig für Vagabund, Landstreicher, Zigeuner), »skaghead« (Junkie; »skag« = Slangausdruck für Heroin) und »yardie« (Dealer oder Bandenmitglied mit karibischem Abstammungshintergrund) bezeichnen als deviant eingestufte Lebensweisen und Identitäten (McCahill 2002). 5 | Dem britischen Nationalen Statistikbüro (Office of National Statistics) zufolge verdoppelten sich die Einwanderungszahlen zwischen 1993 und 2002, wobei die Bevölkerung zwischen 1992 und 2003 jährlich durchschnittlich um 300.000 Personen zunahm. 6 | Selbst in avanciert liberalen Gesellschaften wie Nordirland agieren rivali-

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204 | Kevin Stenson sierende Formen lokaler Kontrolle, von organisierten, kriminellen Ökonomien bis hin zur routinemäßigen Aufrechterhaltung der Ordnung durch paramilitärische Organisationen, zuweilen im Namen einer alternativen nationalstaatlichen Souveränität (Stenson 1999; Lea 2002; McEvoy/Mika 2002). 7 | Diese ethnischen und andere Gruppen auf kommunaler Ebene sind vielgestaltig und unterscheiden sich intern – beispielsweise – durch Alter, Geschlecht, soziale Schichtzugehörigkeit und religiöse Ausrichtung. In der Kommunalverwaltung tätige Staatsbeamte schränken mitunter, vielleicht unbewusst, die Anerkennung dieser Komplexität ein, indem sie konservative, patriarchalische Lobbys, die für sich die Führung der betreffenden Gemeinschaft reklamieren, als legitime Gesprächspartner anerkennen (Stenson/Travers/Crowther 1999). 8 | Beispielhaft sind hier Maßnahmen, die in Großbritannien wiederum das Gesetz gegen Verbrechen und Unordnung (Crime and Disorder Act) von 1998 und das Gesetz gegen antisoziales Verhalten (Anti-Social Behaviour Act) von 2003 vorsehen. 9 | Im dienstlichen Gespräch zwischen Beamten und auch generell im Sprachgebrauch vor Ort bezeichnete man die Adressaten straforientierter Sicherheitskonzepte als »scallies« (Gauner), was in ganz Großbritannien zur allgemeinen Bezeichnung für eine »andersartige« Bevölkerungsgruppe geworden ist, deren Lebensstil als nicht konform geächtet wird.

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III.

Gouvernementalität und Neoliberalismus

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»Der Staat unter der Aufsicht des Marktes« – Michel Foucaults Lektüren des Ordoliberalismus Jan-Otmar Hesse

Einleitung In der Geschichte der ökonomischen Theorien nimmt der deutsche Ordoliberalismus kaum einen prominenten Platz ein. Seine Exponenten, Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke, sind in der internationalen Forschung kaum mehr bekannt ebenso wie ihre eigentümlichen Vorstellungen von den wirtschaftlichen Ordnungen, die Anleihen bei mittelalterlichen Begriffen nehmen und zugleich den modernen Neoliberalismus mit prägten. In den jüngsten politischen Diskussionen über die Grenzen des Sozialstaates und den Segen des Wettbewerbs sind dagegen nicht zuletzt von politischer Seite die »Väter der Sozialen Marktwirtschaft« immer wieder ins Feld geführt worden, die gleichzeitig die »Väter« des Wirtschaftswunders und unseres modernen Wohlstandes gewesen seien (Cassel/ Rauhut 1998). Für die Bundesrepublik erwuchs aus solchen Bezügen eine sehr spezielle Mythologisierung der Sozialen Marktwirtschaft und ihrer Theorie. Dass sich Michel Foucault in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität (2004) sehr ausführlich mit dem deutschen Ordoliberalismus beschäftigt, verwundert im Hinblick auf die Thematik und auch auf den Zeitpunkt, zu dem er seine Analysen unternahm. Wollte man Konjunkturen der Rezeption des Ordoliberalismus in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft unterscheiden, so würden darin die Jahre 1978 und 1979 mehr als eine Krise denn als eine Hochkonjunktur erscheinen. Wirtschaftspolitisch einflussreich war der Ordoliberalismus bis kaum zum Ende der 1950er Jahre, während die erste Phase seiner Historisierung und Mythologisierung in den 1980er Jahren begann. In diesem Sinne sind Foucaults Ordoliberalismus-Lektüren gleichzeitig der allgemeinen kriti-

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214 | Jan-Otmar Hesse schen Analyse vorauseilend wie der Epoche ihrer Wirksamkeit hinterherhinkend. Das macht sie ebenso spannend wie schwer zu bewerten. Im Folgenden soll eine Bewertung in drei Schritten unternommen werden: In einem ersten Schritt soll eine kurze Geschichte des Ordoliberalismus aus der jüngsten Forschungsliteratur entwickelt und abgeleitet werden, die an einigen zentralen Stellen mit Foucaults Sicht kontrastiert wird. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Foucault noch nicht über das nötige Wissen verfügen konnte, um jene Schlüsse zu ziehen, die uns heute auf der Grundlage einer modischen Forschung seit etwa 20 Jahren möglich sind. Zudem erhob Foucault freilich nie den Anspruch, empirische historische Forschung zu betreiben. Ihn als »empirisch absolut unzuverlässig[en]« Historiker einzustufen, wie dies Hans-Ulrich Wehler (1998: 89) vor Jahren einmal tat, wird demnach schon im Ansatz seinen Texten nicht gerecht und soll hier auch als Maßstab für eine Beurteilung nicht in Betracht gezogen werden. In einem zweiten Schritt soll dann Foucaults Interpretation des Ordoliberalismus etwas ausführlicher dargestellt und erläutert werden. In einem dritten Schritt ist Foucaults Position ihrerseits zu kritisieren, wobei Möglichkeiten aufgezeigt werden sollen, wie man sie dennoch für weitere Analysen fruchtbar machen könnte.

Abriss der Geschichte des Ordoliberalismus Foucault selbst verwendet in seiner Beschreibung des wirtschaftstheoretischen Diskurses in Deutschland zwischen Weimarer Republik und den 1960er Jahren die Begriffe deutscher Neoliberalismus und Ordoliberalismus. Beide Begriffe sind nachträgliche Bezeichnungen für eine sehr inhomogene Gruppe von Personen und sehr unterschiedliche theoretische Reflexionen auf das Problem der Gouvernementalität. Der Begriff des Ordoliberalismus insinuiert dabei noch stärker als die Rede vom deutschen Neoliberalismus die Vorstellung einer einheitlichen und homogenen wirtschaftstheoretischen Position, die die Diskussionen in der frühen Bundesrepublik (vielleicht sogar noch vorher) dominiert habe. Nachdem der Freiburger Volkswirt Walter Eucken und der Frankfurter Wirtschaftsrechtler Franz Böhm 1948 die Zeitschrift Ordo – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft gegründet hatten, etablierte sich der Begriff als Sammelbezeichnung für eine große Gruppe von marktliberalen Ökonomen in der Bundesrepublik (vgl. Ptak 2004: 9-20). Keineswegs ist er deckungsgleich mit der bekannten Freiburger Schule, wie Foucault annimmt (vgl. 2004: 150f.). Der deutsche Neoliberalismus weist vielmehr zahlreiche vordergründige Widersprüche auf, die nur verständlich sind, wenn man die biographischen und intellektuellen Stränge differenziert, aus denen er sich speiste. Im Grunde können hierbei drei Stränge unterschieden werden: Die

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»Der Staat unter der Aufsicht des Marktes« | 215

Freiburger Schule im engeren Sinne, die Freiburger Schule im weiteren Sinne sowie das ordoliberale Exil. Dabei kommen in einer solchen übertrieben künstlichen Vereinsbildung durchaus Doppelmitgliedschaften vor. Zur Freiburger Schule im engeren Sinne gehörten die Professoren Walter Eucken und Hans Großmann-Doerth, der Privatdozent Leonhard Miksch, die tatsächlich in Freiburg lehrten, und der seit 1937 in Jena tätige Wirtschaftsjurist Franz Böhm. Zu einer Freiburger Schule im weiteren Sinne würde man zudem den späteren Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack (Münster), Erwin von Beckerath und Fritz W. Meyer (Bonn) oder Otto Veit (Berlin, später Frankfurt) zu zählen haben.1 Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke gehören dagegen nicht zur Kerngruppe der Freiburger Schule, da sie bereits seit 1933 in der Türkei beziehungsweise in der Schweiz lehrten und auch nach 1945 nicht unmittelbar in die wissenschaftlichen Institutionen des ordoliberalen Netzwerkes zurückkehrten. Schon institutionenhistorisch oder kollektivbiographisch lässt sich die Unterschiedlichkeit der Gruppen zeigen. Da waren auf der einen Seite die Freiburger, die in unterschiedlichem Maße am Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt waren. Zum Teil waren sie in die ökonomischen Institutionen des Dritten Reiches involviert, in die unterschiedlichen Wirtschaftsausschüsse, die Gremien der Preis- und Lohnkontrolle oder die diversen Planungsstäbe im Reichswirtschaftsministerium. Zum Teil hatten sie diese Institutionen aber auch oppositionell umgewandelt, arbeiteten an Nachkriegsplanungen und versuchten, das planwirtschaftliche System in Nazi-Deutschland mit wettbewerblichen Impulsen zu durchsetzen. Zu diesen widerständigen oder kritischen Wirtschaftsintellektuellen gehörten auch solche Ökonomen, die dem Ordoliberalismus kaum zugerechnet werden können, beispielsweise der Freiburger Wirtschaftshistoriker Constantin von Dietze, der eine eher etatistische Vorstellung pflegte.2 Der entscheidende Zusammenhang für diesen wirtschaftswissenschaftlichen Freiburger Kreis war die »Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath«, die aus der nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht hervorgegangen war und sich – nach der eigenen Legende – seit der Auflösung der Akademie für Deutsches Recht 1943 heimlich in Freiburg traf (vgl. Blesgen 2000: 149; Tribe 1995: 217-225).3 Neben Erwin von Beckerath gehörten der Arbeitsgemeinschaft Walter Eucken, Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth an, aber auch nicht dem Ordoliberalismus zuzuordnende Ökonomen wie Heinrich von Stackelberg und Günther Schmölders. Zu Unrecht aber wird in der Arbeitsgemeinschaft ein Vorläufer des einflussreichen Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft gesehen (auch von Foucault), der seit 1950 ebenfalls unter dem Vorsitz von Beckeraths tagte. Dieser Beirat wurde von den Ordoliberalen keineswegs dominiert, sondern der Frankfurter Volkswirt und Soziologe Heinz Sauermann hatte den ersten Vorsitz übernommen, Karl Schiller und

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216 | Jan-Otmar Hesse Gerhard Weisser waren einflussreich und vertraten anfangs sozialistische Programme (vgl. Blesgen 2000: 224, 449, 475; im Gegensatz dazu: Löffler 2002: 78-80). Deshalb ist es zweckmäßig, von der Freiburger Schule im engeren Sinne eine im weiteren Sinne zu unterscheiden, welche Personen einschließt, die während des Dritten Reiches nicht in unmittelbarem Kontakt zu den Freiburgern standen, nach 1945 aber dafür zu umso wichtigeren Akteuren bei der politischen Durchsetzung des Paradigmas avancierten. Ludwig Erhard arbeitete während des Nationalsozialismus am Institut zur Erforschung der deutschen Fertigware in Nürnberg teils für die Reichsinstitutionen, teils für die Industrie (Hentschel 1998). Auch derjenige, der den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft geprägt hat, Alfred Müller-Armack, war mit den Freiburger Ökonomen während des Dritten Reiches (und auch später) nicht verbunden (Kowitz 1998). Genau wie sein Bonner Kollege Erwin von Beckerath hatte er Sympathie für den italienischen Faschismus gehabt und war durchaus Anhänger einer ständestaatlichen Gesellschaftskonzeption (vgl. Haselbach 1991: 122f.; Krelle 1985: 13). Für diese zweite Gruppe also (die tatsächlich aus wissenschaftlichen Einzelgängern bestand) ist eine eindeutige Distanznahme gegenüber dem Nationalsozialismus jedenfalls wesentlich aufwendiger in der Beweisführung. Gleichwohl speist sich die spätere Konzeption des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft stark aus dem brain pool dieser zweiten Gruppe, jenen Ökonomen, die während des Nationalsozialismus außerhalb von Freiburg – aber in Deutschland – aktiv waren, sich auf das Regime bis zu einem gewissen Grad einließen, aber nie von ihren wirtschaftsliberalen Positionen abrückten. Bei der dritten Personengruppe des Ordoliberalismus handelte es sich faktisch nur um Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow (Hagemann/ Krohn 1999; Peukert 1992; Meier-Rust 1993). Beide waren für den Ursprung des deutschen Neoliberalismus am Ende der Weimarer Republik zentral, nicht aber für seine »theoretische Fundierung während des Nationalsozialismus« (Ptak 2004: 26). Den seit 1936 in Princeton lehrenden Eucken-Schüler, Friedrich A. Lutz, der Anfang der 1950er Jahre kurzzeitig die Nachfolge von Eucken in Freiburg antrat und ganz anders als Rüstow und Röpke Elemente des amerikanischen Liberalismus in die deutsche Diskussion einbrachte, könnte man zu diesem Personenkreis sicherlich noch hinzuzählen. Genauso wie den in Südafrika von den Briten inhaftierten Bernhard Pfister. Die beiden Letzteren hatten als Vertreter der Gruppe des Exils auch nach Kriegsende Einfluss in der deutschen Nationalökonomie. Schon aufgrund dieser sehr unterschiedlichen Lebenswege der einzelnen Akteure und der hiermit durchwanderten ausgesprochen unterschiedlichen intellektuellen Umwelten ist es sicherlich nicht sinnvoll, ihre verstreuten Schriften zu einem einzigen Paradigma des Ordoliberalismus zu-

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sammenzubinden. Die für den Ordoliberalismus so typische Kombination von marktwirtschaftlicher Freiheit und staatlich durchgesetzter (Wirtschafts-)Ordnung musste sehr unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten bieten, je nachdem, ob man es in einem autoritären faschistischen Staat, im türkischen Exil oder unter amerikanischer und britischer Besatzung propagierte. Einheitlich konnte es angesichts der Vielzahl intellektueller Ursprünge ohnehin auch nur in der praktischen Anwendung werden, in der Politik der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, und hieran hatten die Akteure in unterschiedlicher Weise Anteil: Die einflussreichen Vertreter der Freiburger Schule im engeren Sinne, Walter Eucken, Leonhard Miksch und Adolf Lampe waren 1949 beziehungsweise 1950 verstorben. Erwin von Beckerath und einige andere Personen der zweiten Gruppe fanden sich im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft zusammen und rieten Ludwig Erhard zu einer Wirtschaftspolitik, die sich im Verlauf der 1950er Jahre immer stärker am Keynesianismus orientierte. Dagegen war Alexander Rüstow weder in der universitären Wirtschaftswissenschaft noch in der Politikberatung der Bundesrepublik aktiv, beschäftigte sich stark mit der Interessenpolitik der Landwirtschaft und der von ihm mit begründeten »Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft«. Wilhelm Röpke war zum Adenauer-Berater aufgestiegen, stand damit häufiger im Gegensatz zum Kurs von Ludwig Erhard und dem wissenschaftlichen Beirat und beurteilte ansonsten die wirtschaftliche Entwicklung mit bissigen Kommentaren aus dem Ausland (vgl. Hennecke 2005: 207-217). Während die Etikettierung dieser im Detail sehr unterschiedlichen Positionen als Ordoliberalismus mehr Probleme als Erkenntnisse produziert (denn zwischen der organizistischen Konzeption eines Müller-Armack und der klassisch liberalen Haltung eines Franz Böhm gibt es doch einen großen Abstand), ist Foucaults Rekurs auf den gemeinsamen Ursprung des deutschen Neoliberalismus umso berechtigter. Die 1920er Jahre bildeten für alle erwähnten Ökonomen gleichermaßen den Ausgangspunkt ihres ökonomischen Denkens und lassen am ehesten die Zuordnung zu einer »Schule« zu. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Historische Schule der Nationalökonomie, eine an Gustav von Schmoller und anderen geschulte, ebenso affirmative wie etatistische Tradition des Wirtschafts- und Staatsrechtsdenkens, in eine Krise geraten. Auf die ökonomischen Probleme von Hyperinflation und Wirtschaftskrise hatte diese Richtung keine Antworten gehabt und die zeitgenössische Wirtschaftswissenschaft, mit ihren mathematischen und modellorientierten Methoden, war den deutschen Ökonomen enteilt (Borchardt 2001). Hierauf hatte sich in Deutschland eine jüngere Generation von kritischen Ökonomen zusammengefunden, die zu den Enkeln der historischen Schule, insbesondere zu Werner Sombart, bewusst in Distanz traten. Allerdings schien ihnen auch der klassische Liberalismus, der sich an Adam Smith und David Ricardo orientierte und

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218 | Jan-Otmar Hesse den in den 1920er Jahren vor allem die Anhänger der Österreichischen Schule der Nationalökonomie vertraten (allen voran Ludwig von Mises), keine Alternative zu sein. Zu Beginn der 1930er Jahre bildete sich eine Gruppe von jüngeren (d.h. um die Jahrhundertwende herum geborenen) Ökonomen heraus, in der Alexander Rüstow (damals Referent beim Verband Deutscher Maschinenbau-Anstalten) eine entscheidende Rolle spielte, und die sich selbst als »Deutsche Ricardianer« bezeichnete. Die wirtschaftspolitischen Grundsätze dieser Gruppe lassen sich nur sehr schwer beschreiben, weil zu ihnen auch solche Ökonomen gestoßen waren, die mit dem Sozialismus sympathisierten (vgl. Janssen 2000: 50-58). Schon aufgrund der unterschiedlichen politischen Überzeugungen, aber auch durch die nationalsozialistische Machtübernahme brach dieses Bündnis zur Neuformierung der damaligen Wirtschaftswissenschaft bald auseinander. Während damit der Ausgangspunkt für den deutschen Neoliberalismus die Weltwirtschaftskrise 1929/32 gewesen ist, in der zentrale Texte von Eucken, Röpke und Rüstow entstanden, stellt Foucault ein anderes Ereignis in den Mittelpunkt und betont so wesentlich stärker als die bisherige Forschung die internationale Einbettung des deutschen Neoliberalismus: Gemeint ist ein Treffen von europäischen Liberalen im August 1938 in Paris, dessen formaler Anlass die französische Übersetzung des von dem liberalen amerikanischen Journalisten Walter Lippmann verfassten Buchs The Good Society gewesen ist. Aus dem Kontext des deutschen Neoliberalismus waren aber damals bezeichnenderweise nur die Exil-Ordoliberalen Rüstow und Röpke anwesend, die ein Programm zur Neuorientierung des Liberalismus angesichts der veränderten Verhältnisse einer immer stärker totalitären Welt formulierten. Unter dem Titel A Note on the Urgent Necessity of Re-Orientation of Social Science kritisierten sie die »Soziologieblindheit« des alten, traditionellen Liberalismus und plädierten dafür, die klassische Wettbewerbsvorstellung um die Ebene der sozialen Integration zu ergänzen.4 Das damalige Pamphlet von Röpke und Rüstow liest sich also eher als das Gegenteil dessen, was heute als Neoliberalismus bezeichnet wird. Die Prägung des Begriffs war keineswegs das Ergebnis dieses Kolloquiums, auf dem sehr unterschiedliche Begriffe für die Neuausrichtung des Liberalismus diskutiert wurden, sondern wurde bereits seit Mitte der 1920er Jahre in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet und später mit dem Lippmann-Kolloquium in Verbindung gebracht. In einer Hinsicht war das Kolloquium vom Sommer 1938 aber dennoch paradigmatisch für die Weiterentwicklung des Liberalismus: Die Teilnehmer setzten sich vom älteren Liberalismus mit der Meinung ab, dass die Freiheit als politisches und ökonomisches Ideal sich nicht automatisch durchsetze, sondern aktiv an der Verbreitung der Idee der Freiheit gearbeitet werden müsse. Sie forderten einen neuen Liberalismus, der die Grundsätze von Marktwirtschaft und Wettbewerb notfalls auch mit (staatlichen) Eingriffen sichere

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(vgl. Walpen 2004: 59f.; zum Begriff des Neoliberalismus ebd.: 73ff.). Hierbei sind die Umstände der 1930er Jahre natürlich zu berücksichtigen, in denen sich die Liberalen in Europa und den USA gleichermaßen durch Roosevelts New Deal-Politik wie durch den Faschismus und den Kommunismus bedroht fühlten (Schivelbusch 2005). Für die Nachkriegszeit war diese Konferenz des Sommers 1938 nicht nur deshalb wichtig, weil sie in der Tat – worauf zurückzukommen ist – das Programm des späteren Neoliberalismus mit groben Pinselstrichen konzipiert hatte, sondern weil sie gleichzeitig den institutionellen Vorläufer der Mont Pèlerin Society darstellte, der 1947 von Friedrich August von Hayek und Wilhelm Röpke gegründeten, wohl einflussreichsten Vereinigung zur Durchsetzung dieses Programms (vgl. Walpen 2004: 84-92). Während allerdings die Veranstaltung des Jahres 1938 von französischen Liberalen (wie Jaques Rueff, Louis Rougier und Raymond Aron) dominiert war, Angehörige der Freiburger Schule im engeren Sinne ebenso wenig auftraten wie amerikanische Liberale, stellte die Mont Pèlerin Society wesentlich eine Institutionalisierung des amerikanischen Neoliberalismus dar. Schlüsselfigur für die amerikanischen Liberalen wurde Friedrich August v. Hayek, dessen Buch Road to Serfdom 1945 in den USA ein großer Erfolg gewesen war und der seit 1949 in den USA lehrte.5 Im Gegensatz zum deutschen Neoliberalismus der 1930er Jahre, der in seinen inländischen Zweigen durch die noch deutlich etatistische Position der Freiburger Schule im engeren Sinne geprägt war und in seinen ausländischen Strängen die Koalition mit den europäischen Liberalen in Frankreich und Italien suchte, handelte es sich bei dem Nachkriegs-Ordoliberalismus um eine einflussreiche Interessenkoalition von deutschen und amerikanischen Liberalen. Die Bedeutung dieser institutionellen Akzentverschiebung wird von Foucault nicht thematisiert. Erst nach dem Krieg stieg auch Walter Eucken zum alles überragenden theoretischen Kopf des Ordoliberalismus auf. Zwar war er während des Nationalsozialismus sicher nicht »schweigsam«, wie Foucault (2004: 150) schreibt, aber doch weniger einflussreich selbst im engen Zirkel der akademischen Wirtschaftswissenschaft. Nun fanden seine Texte, insbesondere sein erstmals 1940 erschienenes Lehrbuch Grundlagen der Nationalökonomie, große Verbreitung. Seine guten Kontakte zu den im Ausland lehrenden Österreichern, die noch aus den 1920er Jahren stammten, waren hierbei hilfreich. Vor allem mit dem in den USA lehrenden Fritz Machlup und mit Friedrich A. Hayek pflegte er seit 1945 intensive Korrespondenz. Auch der bis 1933 in Kiel tätige Agrarexperte Karl Brandt, der seit den 1930er Jahren am Institute for Food Research an der Stanford University lehrte, und der 1948 ebenso wie Hayek als Mitherausgeber des Ordo gewonnen werden konnte, wurde zu einer wichtigen Kontaktperson. Eucken war nicht nur der einzige deutsche Teilnehmer bei der Gründung der Mont Pèlerin Society in der Schweiz, sondern bestimmte darüber hinaus die weiter angeworbenen deutschen Mitglieder der Gesellschaft. Er wurde schließlich

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220 | Jan-Otmar Hesse von Fritz Machlup zur Ausarbeitung einer Liste der Ökonomen in Deutschland gebeten, die 1948 in der von Machlup mit herausgegebenen American Economic Review erschien.6 Er besaß – überspitzt formuliert – in dieser Zeit die vielleicht lauteste Stimme bei der Definition des Faches Volkswirtschaftslehre in der entstehenden Bundesrepublik. Dabei war Eucken sowohl in seiner intellektuellen Herkunft, dem auch von Foucault betonten starken Rekurs auf die Phänomenologie und Edmund Husserl, als auch hinsichtlich seiner politischen Überzeugungen für den deutschen Neoliberalismus durchaus ungewöhnlich. An den sozialistischen Gedankenexperimenten der 1920er Jahre hatte er sich im Unterschied beispielsweise zu Alexander Rüstow nicht beteiligt; den italienischen Faschismus hatte er im Gegensatz zu Müller-Armack oder von Beckerath nie bewundert. Während sich viele Ökonomen in der Nachkriegszeit zum Interventionsstaat bekannten, propagierte Eucken von Beginn an die eindeutige Stellungnahme gegen jegliche planerische Wirtschaftspolitik. Nicht zuletzt diese Eindeutigkeit machte ihn als Bündnispartner der amerikanischen Liberalen interessant: »Wir nicht-sozialistischen Nationalökonomen müssen über die Grenzen zusammenwirken. Die Ratlosigkeit der Praxis verlangt das«7 – so schrieb Eucken schon im November 1945 an Friedrich von Hayek, den er zu Vorträgen nach Freiburg einlud. Eine solche Standhaftigkeit war in der unmittelbaren Nachkriegszeit keineswegs selbstverständlich: Klassische sozialistische Konzeptionen, bis hin zur Vergesellschaftung von Großunternehmen in bestimmten Sektoren, erfreuten sich damals bis weit in das konservative Lager großer Zustimmung. In der Wirtschaftstheorie dominierte das Paradigma der keynesianischen Makroökonomie, das dem Staat die Rolle konjunkturpolitischer Interventionen zuschrieb. Es war dieses theoretische Paradigma, gegen das der deutsche Neoliberalismus sich im Verlauf des ersten Nachkriegsjahrzehnts formierte, weil man in ihm eine moderate Form allgemeiner wirtschaftlicher Planung entdeckte (vgl. Ptak 2004: 26) – ein Aspekt der von Foucault überhaupt nicht in Betracht gezogen wird. Dabei ging auch der Keynesianismus in seiner linksliberalen englischen Tradition stets von der Aufrechterhaltung des Privateigentums als einer zentralen Triebkraft des wirtschaftlichen Prozesses aus und muss somit durchaus als liberale Wirtschaftsauffassung charakterisiert werden. Und bei diesem Gegensatz handelte es sich eben nicht allein um einen politischen Meinungsstreit hinsichtlich der Frage der Staatsintervention in den Wirtschaftsprozess, sondern um einen grundlegenden epistemologischen Strukturwandel der Wirtschaftstheorie: den Übergang von der Mikroökonomie (d.h. der Betrachtung einzelner Marktund Wettbewerbsverhältnisse) zur Makroökonomie (d.h. der Betrachtung eines gesamtwirtschaftlichen Totalmodells); von einer situativen Marktanalyse zu dem Versuch, sämtliche ökonomischen Transaktionen grundlegend

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und vollständig zu quantifizieren; von einer Abstraktion vom Geldbereich der Volkswirtschaft, der sich nach der neoklassischen Theorie lediglich »wie ein Schleier« über die Produktion legte, zur Integration der Geldökonomie in die Totalmodelle. Durch den Gegensatz zu diesem, meist auf das Paradigma des Keynesianismus verkürzten, Fortschritt der Wirtschaftstheorie erhält der deutsche (wie der internationale) Neoliberalismus in den 1950er Jahren letztlich seine Kohärenz. Der deutsche Neoliberalismus erscheint dabei in der neoliberalen Internationale nicht zuletzt deshalb als besonders wichtig, weil er im Gegensatz zu anderen Ländern die nationale Wirtschaftspolitik zu bestimmen schien. Versteht man aber die Auseinandersetzung zwischen wissenschaftlichen Paradigmen als Konflikte an der Oberfläche, die letztlich einem beiden gemeinsamen Strukturimpuls innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin zum Durchbruch verhelfen, so würde die eigentliche Forschungsfrage nicht der epistemologischen Grundlage des Neoliberalismus, sondern dem generellen Wandel ökonomischer Diskurse gelten. Ich bin der Meinung, dass in diesem Sinne die diskurshistorischen Forschungen zur Wirtschaftstheorie an Foucault äußerst Gewinn bringend anschließen können. Wenn man die Opposition zum Keynesianismus als ein wesentliches Kennzeichen des deutschen Neoliberalismus der Nachkriegszeit erkannt hat, so wird es leichter verständlich, im welchem Maße der Ordoliberalismus von vordergründigen politischen Zielen dominiert worden ist. Dies wird nicht zuletzt in den einzelnen Bausteinen der Konzeption deutlich, die in der Auseinandersetzung mit Foucaults Analyse des inhaltlichen Gegenstandes der deutschen Neoliberalen weiter auszuführen sind. Ganz allgemein ist darüber hinaus zu betonen, dass es sich beim Ordoliberalismus eben nicht um eine neutrale wirtschaftstheoretische Position handelte, die nach ihren innerwissenschaftlichen Leistungen zu beurteilen ist, sondern gleichzeitig um eine politische Programmatik, die teilweise durchaus im Sinne einer Klientelpolitik Einfluss auf die bundesdeutsche Wirtschaftspolitik zu gewinnen suchte. Von Foucault wird dieser Unterschied viel zu selten expliziert und konkretisiert. Nachdem die Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten und die anschließende Besatzung eine zutiefst regulierte Wirtschaftsordnung in Deutschland hervorgebracht hatten, setzten sich Ordoliberale an den unterschiedlichsten Stellen in Wirtschaft und Gesellschaft für eine rasche Rückkehr zu Marktwirtschaft und freier Preisbildung ein – das wohlgemerkt zu einer Zeit, als sowohl in Großbritannien als auch in den USA die keynesianisch motivierte Steuerung der Wirtschaft auf dem Höhepunkt ihres Einflusses stand (Hall 1989). Die öffentliche Propagierung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft wurde dabei in dem Maße intensiviert, wie die Wirtschaftspolitik (übrigens schon unter Erhard) seit Mitte der 1950er Jahre von der reinen Ordnungspolitik abging und keynesianische Elemente der Konjunktursteuerung integrierte (vgl. Nütze-

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222 | Jan-Otmar Hesse nadel 2005: 207-217). Der Ordoliberalismus wurde nun regelrecht beworben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung war unter dem Mitbegründer Erich Welter das wohl wichtigste Medium für eine regelrechte Pressekampagne zu der auch Werbekampagnen gehörten, die von Unternehmern in Auftrag gegeben wurden. Alexander Rüstow selbst hatte das Aktionsbündnis Soziale Marktwirtschaft gegründet, das Informationsbroschüren herausgab, Vortragsveranstaltungen organisierte und Verbindungen zwischen Wissenschaft und Industrie anbahnte (vgl. Ptak 2004: 279-287; Riedl 1992). Schließlich wurde die wirtschaftsliberale Forschung unmittelbar aus dem Bundesministerium für Wirtschaft heraus alimentiert. Das von der Eucken-Witwe Edith Eucken-Erdsiek und Mitstreitern 1952 gegründete Walter Eucken Institut an der Universität Freiburg erhielt auf einen Vorschlag Ludwig Erhards hin unmittelbar aus dem Budget des Ministeriums finanzielle Unterstützung, formal für die Anfertigung von wissenschaftlichen Gutachten. (Es wurden allerdings auch andere Forschungsinstitute finanziert.)8 Der gesellschaftliche und politische Einfluss der Ordoliberalen war Mitte der 1950er Jahre so übermächtig, dass der Frankfurter Finanzwissenschaftler Fritz Neumark, der selbst stärker dem Keynesianismus zuneigte, über die »Diktatur der Liberalen«9 spottete. Nicht zuletzt die erhebliche öffentliche Einflussnahme führt damit zu der Frage, wie liberal die Ordoliberalen denn eigentlich gewesen sind, eine in der Forschung noch heute durchaus umstrittene Frage. Die Stärken von Foucaults Lesart des Ordoliberalismus liegen sicher in der Neuinterpretation genau dieser Frage.

Foucaults Perspektive Die gesamte historische Forschung hat die Entstehung und die Konzeption des Ordoliberalismus bislang als eine Einschränkung der Geltung des freien Marktes und des Preismechanismus interpretiert, welche aus den Erfahrungen der unzureichenden Allokationsfunktion marktlich verfasster Wirtschaften insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise hergerührt habe. Die Forderung eines »starken Staates« gilt der Forschung als Inbegriff für die Innovationsleistung des Ordoliberalismus. Gleich ob dieser in wohlwollender Absicht als Einschränkung der negativen Auswüchse des Konkurrenzkampfes angesehen wurde oder kritisch als autoritärer Liberalismus, immer erscheint er als eine Einschränkung der Radikalität des klassischen Liberalismus (vgl. Ptak 2004: 33-35; Haselbach 1991). Für Ludwig von Mises, den wortgewaltigen Kritiker jeglicher Form staatlicher Aktivität seit den 1920er Jahren, stand fest, »dass viele, die sich heute neoliberal nennen, in Wahrheit gemässigte Interventionalisten sind.«10 Foucault kehrt eine solche Sichtweise nun vollständig um, und es gilt zu klären, ob er die übliche Interpretation auf den Kopf (vgl. Goldschmidt/Rauchenschwandt-

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ner 2005: 2) oder vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Für ihn stellt der Ordoliberalismus eine Ausweitung des liberalen Programms dar. Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus sei der Geltungsbereich der Forderung nach freien Märkten und Konkurrenz nicht mehr auf den Bereich des Ökonomischen beschränkt, sondern würde auf die Gesellschaft und den Staat ausgedehnt. In diesem Sinne sei der Ordoliberalismus nicht ein Rückschritt, sondern eine Weiterentwicklung des Liberalismus, ein Zwischenschritt auf dem Weg zum heutigen Neoliberalismus. Eine solche Interpretation ist nicht nur vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung zum Ordoliberalismus eigentümlich, sondern es verwundert zugleich, dass Foucaults Perspektive in dieser Forschung bislang überhaupt nicht rezipiert wurde. Schon Foucaults Deutung des klassischen Liberalismus weist gegenüber konventionellen Deutungsmustern jene Umkehrung der Argumentation auf, die auch in der Analyse des Ordoliberalismus fortgesetzt wird. Hatte sich die politische Ideengeschichte angewöhnt, den Liberalismus und die hieraus hervorgehenden demokratischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts als eine Zurückdrängung des Staates zu begreifen, so sieht Foucault in ihm eine intelligente »Selbstbegrenzung« des Staates, die die Regierung gerade wirkungsvoller mache. Indem man die Wirtschaft als ein Feld eigener Gesetzmäßigkeit konstruiert habe, sei die Möglichkeit entstanden, die Tätigkeit des Staates nach ihrem (ökonomischen) Erfolg zu bewerten und damit umfassend zu legitimieren, was einen Regierungsanspruch eben stützte und nicht schmälerte. Die Entstehung des wirtschaftlichen Liberalismus, der politischen Ökonomie eines Adam Smith und eines David Ricardo, sei Ausdruck dieser Strukturveränderung der Gouvernementalität gewesen. Es sei eine Wissenschaft zur Erforschung der Regeln des Wirtschaftssystems etabliert worden, die letztlich eine »ökonomische Regierung« ermöglichen sollte (vgl. Foucault 2004: 30-34). Der Ordoliberalismus ist nach Foucault nun insofern eine Fortsetzung dieses liberalen Programms, als auch er die Legitimität der Regierung aus dem Bereich des Ökonomischen herleitete. Allerdings bestand ein Unterschied darin, dass die deutliche Grenze zwischen Staat und Markt im Ordoliberalismus verschwinde. Während der klassische Liberalismus das Prinzip der Selbstbegrenzung des Staates durch den Markt darstellte, werde der Staat im Ordoliberalismus als nach den Regeln des Marktes zu gestaltende Organisation beschrieben. Damit sei der Staat im Grunde gegenüber dem klassischen Liberalismus noch weiter zurückgedrängt worden, was Foucault unmittelbar mit der Erfahrung in Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus erklärt. Die Krise des (demokratisch legitimierten) Staates habe die Ordoliberalen zu einer fundamentalen Kritik geführt: »Da sich herausstellt, daß der Staat auf jeden Fall wesentliche Mängel hat, und nichts beweist, daß die Marktwirtschaft solche Mängel aufweist, können wir von der Marktwirtschaft fordern«, so beschreibt Foucault die Position der Ordoliberalen,

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224 | Jan-Otmar Hesse »daß sie an sich nicht das Prinzip der Begrenzung des Staats sein soll, sondern das Prinzip der inneren Regelung seiner ganzen Existenz und seines ganzen Handelns. […] Anders ausgedrückt, es soll sich vielmehr um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter der Aufsicht des Staats.« (Ebd.: 168)

Damit verschwindet auch die Gegenüberstellung von Staat und Markt als zwei deutlich unterscheidbare soziale Systeme, die nach jeweiligen internen Regeln operieren. Ökonomische Kalküle und Allokationsmechanismen erhalten Einzug in die Organisation des Staatswesens selbst. Die Regierung im Ordoliberalismus trachte also nicht mehr danach – fasst Foucault zusammen – eine »Trennwand zwischen der Gesellschaft und den Wirtschaftsprozessen« zu errichten und die Gesetze des Marktes möglichst perfekt zu erkennen, um das Regierungshandeln danach ausrichten zu können, wie das noch das Ziel der Physiokraten des 18. Jahrhunderts gewesen war. »Es wird keine ökonomische Regierung, sondern eine Regierung der Gesellschaft sein.« (Ebd.: 206f.) Man wird über Foucaults These von der Zurückdrängung des Staates, die ja auch ausgerechnet dem Nationalsozialismus ein »Verschwinden des Staates« attestiert (Foucault 2004: 161), trefflich streiten können, zumal – wie Martin Saar in seinem Beitrag zu diesem Band aufzeigt – Foucaults Staatstheorie in den Vorlesungen äußerst unklar bleibt. Neuere Forschungen betonen im Gegenteil gerade eine ausgesprochen dauerhafte Tradition des Staatsrechtes in Deutschland, die mit Substanzbegriffen operiert und gerade gegen die angelsächsischen Rechtsbegriffe wirksam bleiben, die das Individuelle betonen (Günther 2004). An dieser Stelle sollen dagegen nur die auf die Wirtschaft bezogene Staatstätigkeit und das Paradigma des Ordoliberalismus interessieren. Vor diesem Hintergrund liegt der Kern der Argumentation Foucaults in der Verschiebung des Bedeutungsgehaltes des Wettbewerbsbegriffs, die er dem Ordoliberalismus zuschreibt. Der klassische Liberalismus habe im Marktmechanismus einen naturgegebenen Anpassungsprozess gesehen, welcher automatisch in Kraft tritt, sobald Angebot und Nachfrage nach einem Gut auf einem Markt zusammentreffen. Der Markt und mit ihm der Wettbewerb kommen also immer dann zustande, wenn Angebot und Nachfrage ungehindert zusammentreffen können. Der Ordoliberalismus gehe hingegen davon aus, dass dieser Wettbewerb unter Umständen nicht wirksam werden könnte. Weil die Ordoliberalen genauso wie die Liberalen aber davon überzeugt seien, dass der Wettbewerb für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eines Landes unverzichtbar sei, leiten sie aus ihrer Meinung die Schlussfolgerung ab, dass der Wettbewerb durch die Regierung ermöglicht und gepflegt werden müsse. Damit ist nicht nur der Kern des klassischen liberalen Programms von einem an Ausgleich und Äquivalenz ausgerichteten Markt zu einem auf Ungleichheit und Konkurrenzkampf basierenden Begriff des Wettbewerbs vollzogen. Diese Akzentverschiebung sieht Foucault als Ver-

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dienst der neoklassischen Ökonomie an, wie sie sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete. Der Ordoliberalismus habe aber zudem das Ziel formuliert, dass die Regierung die Ungleichheit und den Konkurrenzkampf als Impuls für den Wettbewerb geradezu produzieren oder jedenfalls konservieren müsse, da dieser andernfalls nicht in Erscheinung trete (vgl. Foucault 2004: 171-173). Die Innovation des deutschen Neoliberalismus liegt für Foucault also gar nicht so sehr in der phänomenologischen Herleitung des Wettbewerbs von Husserl durch Eucken, wenn er dies auch durchaus als einen wichtigen Unterschied zur allgemeinen Entwicklung des Paradigmas hervorhebt (vgl. 2004: 171-173; hierzu: Goldschmidt/Rauchenschwandtner 2005: 11ff.). Er sieht die Innovation vielmehr in den neuen Aufgabenbeschreibungen, die die Ordoliberalen aus dem Wettbewerbsbegriff für den Staat herleiten. Und an dieser Stelle wird Foucaults Argument ebenso spitzfindig wie undurchdringlich: Das ordoliberale Plädoyer für den »Wettbewerb als Aufgabe« oder als »staatliche Veranstaltung« – um die beiden Schlagworte von Miksch und Böhm aus dem Jahr 1937 zu benutzen – interpretiert Foucault nicht als Intervention des Staates in den Bereich der Ökonomie, weil sich der Staat auf die Festlegung von Rahmenbedingungen beschränke, die nichts weiter seien als eine Verhinderung der Verhinderung des Wettbewerbs. Die Ordoliberalen sprächen sich lediglich für eine staatliche Intervention in die Wirtschaftsordnung aus, welche für Eucken eben keine dem Wirtschaftssystem »übergestülpte« rechtliche Regulierung eines ökonomischen Prozesses sei, sondern eine je dynamische und im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Verhältnissen sich ändernde Einheit von beidem. Die Intervention der »Regierung« im Ordoliberalismus sei nicht auf ein festes Ziel einer Markt- oder Gesellschaftsordnung bezogen, sondern sei permanent regulativ, aber immer nur formal, d.h. auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens gerichtet, wobei die Evolution der Wirtschaftsordnung eben vom ökonomischen Strukturwandel angetrieben werde (vgl. Foucault 2004: 230-236).11 Foucault landet mithin in diesem Teil der Vorlesungen doch wieder bei der etatistischen Tradition der deutschen Wirtschaftslehre, die sich maßgeblich vom anglo-amerikanischen Wirtschaftsdenken unterscheide, nur dass er diese Tradition liberalismustheoretisch interpretiert. Die Schwierigkeit von Foucaults Interpretation des Ordoliberalismus besteht sicherlich darin, dass er an keiner Stelle den Begriff des Wettbewerbs systematisch im Kontrast zu anderen zeitgenössischen Wirtschaftstheorien entwickelt, sondern sich auf wenige Passagen aus Walter Euckens Werk beschränkt (vgl. Foucault 2004: 170f.). Die Verweise auf Leon Walras, Alfred Marshall und Knut Wicksell werden nicht weiter ausgeführt und betreffen ohnehin das Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. ebd.: 234). Die einflussreiche Debatte über die Möglichkeit eines »monopolistischen« oder »unvollständigen Wettbewerbs«, die mit den Büchern von Edward Cham-

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226 | Jan-Otmar Hesse berlin, Joan Robinson und Heinrich von Stackelberg 1933 beziehungsweise 1934 eröffnet wurde (vgl. Schumann 2002: 183-187), erwähnt Foucault nicht. Statt dessen beschreibt er den von Leonhard Miksch im Kontext dieser Debatte eingeführten »Als-ob-Wettbewerb« – die Vorstellung, dass Monopolisten sich genauso verhalten müssen wie Anbieter auf Wettbewerbsmärkten, sobald sie durch den Marktzutritt von anderen Unternehmern permanent bedroht sind – als einen eigenständigen Beitrag des Ordoliberalismus (vgl. Foucault 2004: 195), obwohl gerade diese Vorstellung im deutschen Neoliberalismus kontrovers diskutiert wurde (vgl. Goldschmidt/ Berndt 2005: 980f.). Gerade für das Argument, dass die Innovation des Ordoliberalismus in der besonderen Interpretation des Wettbewerbsbegriffs liegt, wäre es indes überaus zweckmäßig gewesen, die Semantik, die sich um den Begriff seit den 1930er Jahren anlagerte, in ihrer ganzen epischen Breite zu aktualisieren. Nur auf diese Weise, durch die Konfrontation mit der sehr kämpferischen Sprache des Ordoliberalismus, enthüllt sich der Charme von Foucaults Interpretation und die Akzentuierung der Wettbewerbsthematik. »Wirtschaft ist Kampf, vielfach sehr harter Kampf« – schrieb Walter Eucken beispielsweise 1947 in einer populären Darstellung (Eucken 1947: 18). »Wettbewerb«, weiß Alfred Müller-Armack, »duldet keine Konservierung gesellschaftlicher Schichtungen. Er ist die Ordnung des auf echter Leistung beruhenden gesellschaftlichen Aufstieges und auch des Abstieges.« (Müller-Armack 1948) Wilhelm Röpke spricht von der »Vitalkraft des Eigeninteresses«, die nur durch den Wettbewerb und den Konkurrenzkampf zum Ausdruck kommen könne und dann wie »ein Wildbach gezähmt« werden müsse (Röpke 1953: 16). Franz Böhm schließlich spricht immer wieder von den »Feldzügen« der Unternehmen, von der Konkurrenz als einem »Angreifer«, der »niedergeboxt« werden müsse (Böhm 1953: 186). Erst wenn man gewahr wird, welche konkrete Vorstellung sich mit der »Ungleichheit« und dem Wettbewerb in der Bundesrepublik der 1950er Jahre verband, lässt sich die gesellschaftliche Relevanz von Foucaults Argument erahnen. Es lässt sich erahnen, was es heißen mag, wenn Foucault der »Regierung«, wie sie der Ordoliberalismus sich vorstellt, das Ziel zuschreibt, sie »will so handeln, daß der Markt ermöglicht wird« (Foucault 2004: 207), und damit eben auch der Wettbewerb in seiner ganzen kämpferischen Attitüde. Während seine konkrete Analyse der Sprache des Ordoliberalismus also überraschend schmächtig ausfällt (immerhin spricht der wohl wichtigste Kopf der modernen Diskursanalyse!), versucht Foucault wesentlich stärker auf die durch das Theoriemodell induzierten politischen Handlungen einzugehen. Er entwickelt hierzu drei Themenfelder aus der Wirtschaftspolitik der Zeit nach Gründung der Bundesrepublik: 1. Die Diskussionen über ein Verbot von Kartellen und Monopolen, die sich um den Entwurf eines Kartellgesetzes rankte; 2. die stärker theoretische Frage nach den »marktkonformen Handlungen« des Staates und 3. die wirtschaftstheoretische Debat-

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te über die Sozialpolitik (vgl. Foucault 2004: 191-212). Dabei rekurriert die Rede von den »marktkonformen Handlungen« faktisch wiederum auf eine abstrakt-theoretische Debatte, jene um die Wirtschaftsordnung, die bereits entwickelt worden ist, so dass sich die folgenden Ausführungen auf die Kartelldebatte und die Diskussion der bundesdeutschen Sozialpolitik beschränken. Die Debatte um die Einführung eines Gesetzes, das marktbeherrschende Unternehmen oder Zusammenschlüsse von Unternehmen verhindern sollte, stand nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits im Kontext der alliierten Entflechtungspolitik, andererseits stellte sie die Fortsetzung einer wirtschaftspolitischen Streitfrage seit dem 19. Jahrhundert dar. Dabei gilt Deutschland im internationalen Vergleich als ein besonders »kartellfreundliches« Wirtschaftssystem. Die wirtschaftshistorische Forschung geht von rund 3500 Kartellabsprachen zur Jahrhundertwende aus, und die mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 eingeführte »Zwangskartell«-Gesetzgebung, nach der der Staat in Notlagen bestimmte Industriezweige zwangsweise zu Kartellen zusammenfassen konnte, war eine im internationalen Vergleich einzigartige Rechtslage. Die Äußerungen der Ordoliberalen zu dieser Thematik sind sehr uneinheitlich und hängen vor allem stark von der historischen Situation ab (vgl. Ptak 2004: 174-188). Sicherlich kann man aber die Position nicht dahingehend zusammenfassen, dass die Neoliberalen für die Zurückhaltung des Staates und damit gegen das Kartellgesetz plädieren, weil sie im Vertrauen auf den Wettbewerbsprozess die automatische Ausschaltung von Monopolen prognostizieren. Unter der Voraussetzung, dass die Wirtschaftsordnung Wettbewerbsmechanismen nicht außer Kraft setze, erscheinen danach Monopole als eine prinzipiell vorübergehende Entwicklung. Die deutsche Anti-Monopolgesetzgebung sei daher nur darauf bezogen, »äußere Prozesse daran zu hindern, Monopolerscheinungen hervorzubringen« (Foucault 2004: 195f.). Die ordoliberalen Stellungnahmen in den sich fast über ein Jahrzehnt hinziehenden Debatten über den Entwurf eines bundesdeutschen Kartellgesetzes sprechen aber von einer wesentlich weitgehenderen staatlichen Einflussnahme. Sicherlich ist Foucaults Interpretation zutreffend, nach der ein schier grenzenloses Vertrauen in die Steuerungsmöglichkeiten des Wettbewerbsprozesses herrschte. Eine solche Haltung wird pikanterweise vom Präsidenten des Bundeskartellamtes formuliert, jener 1957 als Aufsichtsbehörde zusammen mit dem Kartellgesetz eingerichteten Institution, die gerade die Eingriffe in die Wirtschaft organisieren sollte: »Der Wettbewerb stellt ein viel widerstandsfähigeres Element unseres Daseins dar, als allgemein angenommen wird. Selbst ein nicht vollkommener Wettbewerb vermag noch Lenkungsleistungen zu vollbringen, zu denen weder das fähigste Individuum, noch das machtvollste Kollektiv jemals in der Lage sein wird.« (Günther 1960: 752)

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228 | Jan-Otmar Hesse Die ordoliberalen Theoretiker gingen aber davon aus, dass der Wettbewerb selbst »gezügelt« werden müsse. Wilhelm Röpke war beispielsweise der Meinung, dass »Menschen, die auf dem Markte ihre Kräfte im Wettbewerb miteinander messen, […] um so stärker im übrigen durch eine Ethik der Gemeinschaft verbunden werden [müssen], da andernfalls sogar der Wettbewerb aufs schwerste entartet« (1953: 16). Franz Böhm betonte, »dass in der Wirtschaft Wettbewerbsenergien lebendig sind; die Verbotsgesetzgebung zielt auf nichts anderes ab, als darauf, diese Energien zu ermutigen« (1951: 253). Ludwig Erhard spricht von der durch Marktmacht »ihrer Anpassungsfähigkeit an den gesellschaftlichen Willen beraubten Wirtschaft« (1947: 25) und lieferte sich eine lautstarke Auseinandersetzung mit dem kartellfreundlichen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Fritz Berg (vgl. Hentschel 1998: 242f.). Diese Stellungnahmen richten sich gegen die internen Monopolisierungstendenzen der Wirtschaft und nicht nur gegen wirtschaftsäußerliche Interventionen, so dass man Foucaults Interpretation der Wettbewerbsthematik im Ordoliberalismus jedenfalls für die Zeit der Bundesrepublik und nach Eucken nicht wird teilen können. Anlässlich seiner Ausführungen über die bundesdeutsche Sozialpolitik, wie sie der Ordoliberalismus mit bestimmte, führt Foucault schließlich ein neues Thema in seine Interpretation ein, das letztlich den Hintergrund für seine Analysen des Wettbewerbsbegriffs liefert: Die Stellung des Individuums im System der ordoliberalen Wirtschaftspolitik. Die ordoliberale Sozialpolitik sei nicht auf den sozialen Ausgleich und die gleichen Konsummöglichkeiten für alle bedacht, sondern strebe wiederum danach, Unterschiede als Antriebe des Wettbewerbs zu erhalten. Es gehe daher nur in begrenztem Maße um eine soziale Umverteilung von den hohen zu den niedrigen Einkommen der Gesellschaft, sondern die Sozialpolitik solle in erster Linie mit der sozialen Sicherung der vollständig von den Konsummöglichkeiten ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen befasst sein. Eine soziale Existenzsicherung wird dagegen als Aufgabe des Einzelnen betrachtet, so dass Foucault von einer »Individualisierung der Sozialpolitik« spricht (2004: 205). Der Ordoliberalismus betrachte das wirtschaftliche Wachstum als einzige wirtschaftliche Maßnahme gegen allgemeine existenzielle Risiken, und das bedeutet gleichzeitig, dass die je konkrete Vorsorge nur privat und nicht durch das Kollektiv erfolgen kann. Foucault vergisst an dieser Stelle nicht zu erwähnen, dass die konkrete Politik in der Bundesrepublik hier sehr widersprüchliche Ergebnisse zu Tage förderte. Als Beispiele für eine »individualisierte Sozialpolitik« sind sicherlich die Wohnungsbaugesetze und die Eigentumsförderung in den 1950er Jahren zu nennen sowie die zahlreichen Steuerbegünstigungen auf Eigentumsbildung (Hesse 2000). Aber das Gesetz über den Lastenausgleich (1952), das Flüchtlingen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße Ersatz für ihr

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verlorenes Eigentum zusprach und hierfür die Werktätigen des Westens belastete, war genauso wenig ein ordoliberales Gesetz in diesem, Foucault’schen Sinne, wie die Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957. Das Rentengesetz koppelte die Ruhestandsbezüge der Zukunft an die durchschnittlichen Lohnsteigerungen und bescherte den Rentnern des Jahres 1957 als rückwirkende Anpassung ein Einkommenswachstum von 70 Prozent sowie Konrad Adenauer einen grandiosen Wahlsieg (Hentschel 1983). Es kann kaum mehr als existenzielle Sicherung von jenen Bevölkerungsteilen interpretiert werden, die von den Konsummöglichkeiten der Wirtschaftswundergesellschaft ausgeschlossen waren, sondern steht – wie die Sozialpolitik der frühen Bundesrepublik – gerade stellvertretend für den Bedeutungsverlust ordoliberaler Wirtschaftspolitik. Abstrahiert man aber im Bereich der Sozialpolitik von der tatsächlichen Politik und geht wieder stärker auf die ordoliberale Theorie zurück, so kann man hier besonders deutlich den Übergang zum permanent im Wettbewerb stehenden Individuum nachvollziehen, den Foucault als ein Kennzeichen des Neoliberalismus insgesamt betont. Der Ordoliberalismus rückt ein vollständig eigenverantwortliches Individuum in den Mittelpunkt des Wirtschaftsprozesses, dessen Existenz als eine Voraussetzung für jegliche Entstehung des Wettbewerbs gesehen wird. Die spezifische Konstruktion einer »individuellen Sozialpolitik« ist eine zentrale Voraussetzung für eine solche Perspektive. Dieser wirtschaftliche Akteur ist nicht mehr eine neutrale Utopie, sondern Voraussetzung für eine funktionsfähige Gesellschaft. Letztlich schreibt Foucault dem Ordoliberalismus die Einführung der Vision einer Gesellschaft zu, in der idealtypisch nur noch Unternehmer existieren, die sich gegenseitig durch den Zwang, ihre Produkte zu verkaufen, anstacheln und bedrohen. Nicht die reine Bedürfnisbefriedigung stehe im Mittelpunkt menschlichen Handelns, wie es sich der Ordoliberalismus vorstelle, sondern die Produktion. »Der homo oeconomicus, den man wiederherstellen will, ist nicht der Mensch des Tauschs, nicht der Mensch des Konsums, sondern der Mensch des Unternehmens und der Produktion.« (Foucault 2004: 208) Vor diesem Hintergrund scheint es reine Mathematik zu sein, dass die dergestalt anvisierten Unternehmensverbünde hinreichend klein sein müssen, damit der Antrieb des Wettbewerbs auf jeden Einzelnen wirken kann. Das ist der epistemologische Rahmen für die wortgewaltigen Attacken gegen den »Termitenstaat« und die »Vermassung«, für die insbesondere Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow bekannt sind (Nolte 2000). Vor allem die von Alexander Rüstow propagierte »Vitalpolitik«, die Ideologie der Rückkehr zu bäuerlichen Lebensformen, die jedem Einzelnen eine minimale Existenz sichere, sieht Foucault als exemplarisch für die hinter der ordoliberalen Variante des Wettbewerbsbegriffs hervortretende Gesellschaftskonzeption (vgl. 2004: 193-206, 211). Man könnte hinzufügen, zahlreiche andere Programmatiken, die Stärkung

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230 | Jan-Otmar Hesse des Mittelstandes, die starke Förderung von Eigentum und die Wiederbelebung der Unternehmerrhetorik in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bilden weitere Versatzstücke dieser Gesellschaftspolitik.

Fazit: Foucault als Ausgangspunkt Bilanziert man abschließend Foucaults Lektüren des deutschen Neoliberalismus so wird eine gewisse Zwiespältigkeit in der Bewertung wohl zurückbleiben. Dabei steht Foucaults eigentümliche Interpretation der Rolle des Staates wohl im Mittelpunkt: Kann die Rede vom »starken Staat« und die Interpretation des Ordoliberalismus als autoritärem Liberalismus und der von ihnen beeinflussten Wirtschaftspolitik als »Diktatur der Liberalen« auf der Grundlage der Foucault´schen Sichtweise wirklich in das Gegenteil verkehrt werden? Können die Beiträge der Ordoliberalen wirklich auf die Formel der Subordination des Staates »unter die Aufsicht des Marktes« und die universelle Gültigkeit des Wettbewerbs zusammengefasst werden? Derartige Fragen können sicher erst beantwortet werden, wenn die äußerst rege Forschung zum deutschen Neoliberalismus und ihren Akteuren beginnt, sich mit Foucaults Interpretation auch im Detail auseinander zu setzen. Aber man braucht sich in dieser Frage gar nicht abschließend zu entscheiden, um die Impulse der Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität für weitere Forschungen fruchtbar zu machen. Ganz generell betrachtet stellt Foucault die Entwicklung der ökonomischen Theorie in einen engen Zusammenhang mit Verfahrensweisen des »Regierens« in der Moderne. Die Reflexion über die Wirtschaft und damit die akademische Wirtschaftswissenschaft ist für Foucault ein Bestandteil der Herausbildung des modernen Staates und verändert sich mit diesem. Eine solche Position steht zunächst in Opposition zu dem gegenwärtig vorherrschenden Paradigma der Ökonomie, gerne auch als Mainstream bezeichnet, das ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass ökonomisches Wissen die immer exakter werdende Beschreibung naturgegebener Austauschprozesse sei. Während eine erste seichte Rezeption von Foucault in der ökonomischen Theorie sich auf dessen Kritik am Subjektbegriff und seiner Betonung von Machteffekten beschränkt hat (Amariglio 1988), könnten auf der Grundlage der Vorlesungen zur Gouvernementalität nun stärker die evolutionären und praxeologischen Effekte ökonomischer Theorien untersucht werden. Die gerne als »heterodox« bezeichnete kritische Perspektive in der heutigen Wirtschaftswissenschaft erhält durch Foucaults Verknüpfung von Gouvernementalität und Ökonomie einen neuen Impuls, schon allein deshalb, weil er den Blick auf eine epistemologische Akzentverschiebung in den 1930er bis 1950er Jahren lenkt, die von ganz unterschiedlichen Seiten

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mit sehr unterschiedlichen Interessen derzeit ohnehin häufig behandelt wird. Philip Mirowski (2002) beschrieb vor einigen Jahren den Übergang der Wirtschaftswissenschaft zu einer »cyborg science« und stellte damit den Übergang zu modernen makroökonomischen Analysen und die damit einhergehende Formalisierung und Abstraktion der Wirtschaftswissenschaft ins Zentrum des Strukturwandels. Dass es sich bei den intellektuellen Innovationen der 1930er und 1940er Jahre allein um den Siegeszug eines einzigen neuen Paradigmas, des Keynesianismus, gehandelt habe, wird schon länger nicht mehr behauptet (vgl. den Überblick bei Morgan 2003). Allerdings sind auch kritische Ökonomen noch keineswegs darüber einig, was genau sich eigentlich ereignete, als die Wirtschaftswissenschaft von einem randständigen, eher technischen Universitätsfach in den Rang einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft aufstieg, die heute weite Bereiche der öffentlichen Diskussionen dominiert. Foucault ist mit seinen Ausführungen zum Neoliberalismus, der detaillierten Untersuchung des Wettbewerbsbegriffes und der These von der Individualisierung der Akteure sicher einer wichtigen epistemologischen Verschiebung auf der Spur. Allerdings – und dies wäre der wesentliche kritische Einwand – ist kaum ersichtlich, warum eine solche Verschiebung ausschließlich dem Neoliberalismus zugeschrieben werden sollte. Die Fokussierung auf eine ontologisch gedachte Vorstellung des Wettbewerbs findet sich keineswegs nur in den Schriften der neoliberalen Autoren des Deutschen Reiches der 1930er Jahre, sondern in einer großen Bandbreite nationalökonomischer Theorien, von Überresten der Historischen Schule bis zu den Ständestaatsideen eines Othmar Spann oder der Gebildelehre eines Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld und den Theoretikern der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre, bei Hans Bräutigam beispielsweise (Hesse 2006). Der Ordoliberalismus ist damit Bestandteil eines allgemeinen diskursiven Wandels der Wirtschaftstheorie der 1930er Jahre und weniger exponiert, als es (nicht zuletzt durch die spezifische Selbstinszenierung seiner Exponenten nach 1945) heute häufig den Anschein hat. Die Forschungsfrage im Anschluss an Foucault müsste daher fortführen von der Besonderheit ordoliberaler Theoriemodelle zu der Frage, was denn die Gemeinsamkeit der Unterscheidung von Ordoliberalismus und Keynesianismus ist, d.h. welcher Strukturveränderung das Spiel der beiden widerstreitenden Paradigmen eigentlich zum Durchbruch verhilft? Und hierbei sind internationale Analysen unverzichtbar, denn letztlich weist Foucault darauf hin, dass der Neoliberalismus von Beginn an von einem internationalen Netzwerk getragen wurde, in dem die jeweiligen historischen Erfahrungen der Akteure die Impulse für die permanente Anpassung des Paradigmas gaben. Auf diese Weise könnte dann auch die von Foucault hinterlassene Erklärungslücke geschlossen werden, die Erklärung des Übergangs vom einflussreichen Neoliberalismus der Kriegs- und Nachkriegszeit, über

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232 | Jan-Otmar Hesse sein Verschwinden in der Versenkung der 1960er Jahre zur Vorherrschaft des amerikanischen Neoliberalismus in den 1970er Jahren, der monetarist counterrevolution. Aber es gibt auch eine gesellschaftspolitische Komponente, die Foucault wichtig ist: Was folgt aus einer Wirtschaftstheorie, die es zur Aufgabe des Staates macht, alle Bürger zu Unternehmern zu erziehen? Denn das ist das Ziel, das Foucault dem Ordoliberalismus zuschreibt: »Der Ordoliberalismus entwirft also eine Wettbewerbsmarktwirtschaft, die von einem sozialen Interventionismus begleitet wird, der seinerseits eine institutionelle Erneuerung im Umfeld der Neubewertung der Einheit ›Unternehmen‹ als eines grundlegenden Wirtschaftsakteurs impliziert.« (2004: 248)12 Neigen wir auch der Meinung mehr zu, dass es sich um die Ergebnisse eines allgemeinen diskursiven Strukturwandels der Wirtschaftstheorie handelt, so lassen sich doch gerade am Beispiel der bundesrepublikanischen Geschichte zahlreiche politische Initiativen nennen, die genau in diese Richtung gewirkt haben: Die Aktivitäten bei der Verbesserung des Konsumentenschutzes verfolgten letztlich nichts anderes als das Ziel, einen »mündigen Konsumenten« zu erziehen, der sich dann am Markt umso unternehmerischer verhalten kann (Kleinschmidt 2006). Die Eigentumsförderung im Rahmen der Wohnungsbaugesetze war erwähnt worden, die staatlichen Transfers in die Landwirtschaft fallen ebenso in diesen Bereich. Gleichzeitig erlangte die Unternehmerfigur eine gesellschaftliche Bedeutung, die man ihr nach den Grabenkämpfen der Zwischenkriegszeit kaum noch zugetraut hätte. Unternehmer galten nach einer vorübergehenden Krise in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr als Profiteure, Kapitalisten und gesellschaftliche Parasiten, sondern als Innovatoren (Niemann 1982; Jaeger 1992; Schmölders 1973). Die Betriebswirtschaftslehre entwickelte sich zu einer der am schnellsten wachsenden Berufsausbildungen der Bundesrepublik (Gaugler/Köhler 2002), und zwar noch weit bevor der »Bedarf« der wachsenden Industrie marktwirksam wurde. Foucaults Analyse des Ordoliberalismus ist umfassend zu verstehen, er untersucht die wissenschaftlichen Texte nur als ein Symptom für den übergeordneten diskursiven Strukturwandel in der Bundesrepublik, der in einem langen Anlauf den »mündigen Konsumenten« der »Massenkonsumgesellschaft« seit den 1970er Jahren hervorbringt, eben den »Menschen des Unternehmens und der Produktion«. Die politische Ökonomie, die er als eine entscheidende Komplementärkraft der Gouvernementalität für uns entdeckt hat, hatte an diesem Strukturwandel ganz erheblichen Anteil.

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Anmerkungen 1 | Diese Unterscheidung stellt eine Variation der von Goldschmidt/Berndt (vgl. 2005: 992) und der von Ptak (vgl. 2004: 17) vorgenommenen Unterteilung dar. 2 | Vgl. aus der Vielzahl der Untersuchungen der Verbindungen der Freiburger Ökonomen zum Widerstand: Goldschmidt (2005), sowie die kritische Diskussion bei Ptak (2004: 62-72). 3 | Im Gegensatz zu der in der Literatur vorherrschenden Meinung, die Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath habe sich seit 1943 im Untergrund weiter getroffen, steht die Tatsache, dass von Beckerath ganz offiziell um Urlaub beim Kuratorium der Universität Bonn nachsuchte, als er 1944 zu einer Sitzung des AK fuhr. Beckerath an Kuratorium, 6.3.1944, Universitätsarchiv Bonn, Personalakte E. v. Beckerath, Nr. 417. 4 | Datiert »August 1938«, Hoover Institution Archive, Palo Alto CA (HIA), Collection Mont Pèlerin Society, Box 5, Fo. 10. 5 | Hayek lehrte seit 1931 an der London School of Economics, hielt sich aber nach dem Erfolg seines Buches Road to Serfdom seit 1946 sehr häufig in den USA zu Lesungen auf und nahm schließlich 1949 einen Ruf an die University of Chicago an (Ebenstein 2003). 6 | Eucken an Hayek, 18.07.1947, HIA, Friedrich August v. Hayek Papers, Box 18, Fo. 40; Machlup an Eucken, 04.03.1948, HIA, Fritz Machlup Papers, Box 36, Fo. 16. 7 | Zitat: Eucken an Hayek, 10.11.1945. Bereits am 12.08.1945 hatte Eucken Hayek nach Freiburg eingeladen. Beide Briefe in: HIA, Friedrich August v. Hayek Papers, Box 18, Fo. 40. 8 | Das Bundeswirtschaftsministerium hatte einen Etat für Forschungsarbeiten, der üblicherweise auf die großen Forschungsinstitute verteilt wurde. Mit der Gründung des Walter Eucken Instituts wurde dieses nun (was ungewöhnlich war) unmittelbar an dem Etat beteiligt. Schreiben Rolf Gocht (Ministerialrat in der Grundsatzabteilung des BMWi) an Edith Eucken, 03.11.1953, Bundesarchiv (Koblenz), B 102/ 12715. 9 | Fritz Neumark an Erich Schneider, 24.7.1952, Universitätsarchiv Frankfurt, Nachlass Fritz Neumark, Box 3, Ordner Nr. 2, »Allgemeine Korrespondenz«. 10 | Ludwig v. Mises an Volkmar Muthesius (Knapp-Verlag), 18.05.1955, Abschrift, In: HIA, Rep. Mont Pèlerin Society, Box 35. 11 | Undurchdringlich wird die Argumentation an dieser Stelle nicht zuletzt dadurch, dass Foucault nun auf eine Analyse der »Verfassung der Freiheit« von Friedrich August v. Hayek rekurriert, die zwar 1960 erschienen war, kurz bevor Hayek als Professor für Politische Theorie an die Universität Freiburg berufen wurde. Das Buch kann aber keineswegs als ein ordoliberaler Schlüsseltext angesehen werden. 12 | Korrigierte Übersetzung, JOH.

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Das unternehmerische Selbst? Zur Realpolitik der Humankapitalproduktion Sophia Prinz/Ulf Wuggenig

Ein Großteil der Literatur, die sich mit den gegenwärtigen ökonomischen, politischen und kulturellen Transformationen auseinandersetzt, beschreibt das Phänomen »Neoliberalismus« als ein einheitliches und kohärentes Programm, das sich gegenüber den wohlfahrtsstaatlichen, korporatistischen oder kommunitaristischen Modellen durchgesetzt habe. Auch die diskursanalytisch orientierten governmentality studies bilden keine Ausnahme, wenn sie dem Neoliberalismus eindeutige Charakteristiken und Tendenzen – wie etwa die Ökonomisierung des Sozialen und die Ausbildung eines unternehmerischen Selbst – unterstellen und das Foucault’sche Theorieinstrumentarium in erster Linie darauf verwenden, einzelne in sich abgeschlossene und konsistente Diskurse zu analysieren und performativ zu deuten. Demgegenüber soll im Folgenden die Foucault’sche Gouvernementalitätstheorie für eine differenzierende Sicht des Neoliberalismus fruchtbar gemacht werden. Diese analytische Ausrichtung basiert auf zwei zentralen Annahmen: Global verbreitete ökonomische und politische Programme werden nicht gleichartig implementiert. Ihre Realisierung ist einerseits von den synchron existierenden kulturellen und institutionellen Dispositiven abhängig, andererseits sind diachron auch Phasen sowie Tiefe und Reichweite der Implementierung zu unterscheiden (vgl. Jessop 2002: 458). Ferner lassen sich die von Foucault analysierten modernen Gouvernementalitäten1– der klassische Liberalismus, der Wohlfahrtsstaat und der Neoliberalismus – nur idealtypisch voneinander abgrenzen. Vielmehr gehen die verschiedenen Regierungsformen sowohl untereinander Verbindungen ein als auch mit konkurrierenden Koordinationsmodellen, wie dem Neoetatismus oder dem Neokommunitarismus. Entgegen der Annahme einer linearen Historisierbarkeit der Regierungs- und Wirtschaftsformen muss davon ausgegangen werden, dass die realen Gouvernementa-

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240 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig litäten auf ökonomisch-politischen Mischformen basieren und divergierende, zum Teil sich widersprechende Diskursfragmente und Technologien in sich vereinen. Um zu verdeutlichen, dass sich gerade Foucaults Analyse des Neoliberalismus dazu eignet, Grundlagen für die Analyse der Heterogenität des gegenwärtigen »real existierenden Neoliberalismus« (Brenner/Theodore 2002) herauszuarbeiten, wird Foucaults Argumentation auf eine differenzierende Sichtweise zugespitzt und mit Ansätzen in Verbindung gebracht, die die Uneinheitlichkeit und Variation des neoliberalen Paradigmas dezidiert betonen und teilweise einzelne Lücken der Foucault’schen Analyse schließen. Die Komplexität der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Ordnungen soll schließlich am Beispiel der hochschulpolitischen Gouvernementalität konkretisiert werden, die sich einerseits diskursiv an der transinstitutionellen neoliberalen Wahrheitsproduktion orientiert, aber gleichzeitig auf interventionistische und dirigistische Praktiken zurückgreift, die dem Flexibilisierungsimperativ und dem Ideal der unternehmerischen Selbständigkeit zuwiderlaufen.

1. Die Heterogenität der neoliberalen Gouvernementalität In seinem kritischen Überblick über die governmentality studies problematisiert Thomas Lemke (2000) deren Tendenz, die analytische Multidimensionalität des Regierungsparadigmas auf eine »rationalistische« Darstellung der politischen Rationalitäten engzuführen. Lemke zufolge wurden in der angloamerikanischen Literatur (vgl. etwa Burchell/Gordon/Miller 1991) die ökonomischen Diskurse losgelöst von ihrem konkreten historischen Kontext betrachtet. Die neoliberale Rationalität wurde außerdem zu einem »idealen Schema« stilisiert, ohne dass ihre irrationalen und paradoxalen Momente, die sowohl im theoretischen Diskurs als auch auf der Ebene konkreter Praktiken auftreten, Berücksichtigung fanden. Derart falle jedoch ein wichtiger theoretischer Winkelzug Foucaults, nämlich das Scheitern von politischen und ökonomischen Programmen nicht auf das Intervenieren einer äußeren Kraft zurückzuführen, sondern in der grundlegenden Ambivalenz der Rationalitäten und Technologien selbst zu verorten, einer unhaltbaren Harmonisierung zum Opfer. Solchen Einwänden wäre hinzuzufügen, dass die governmentality studies dazu neigen, die differenzierte historische Analysemethode Foucaults, die sich immer unmittelbar am Untersuchungsobjekt orientiert, zu vereinfachen und zu einer linearen historischen Perspektive zu verdichten – die neoliberale Gouvernementalität wird mit anderen Worten als eine Art universelles Entwicklungsstadium in der westlichen Welt aufgefasst, das sich von den historisch früheren gouvernementalen Formen klar abgrenzen

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lässt. Demgegenüber muss jedoch – analog zur These Foucaults (vgl. [1976] 1977: 161ff.), dass in dem modernen biopolitischen Zeitalter die souveräne Macht nicht verschwunden sei, sondern sich lediglich transformiert habe und neben den modernen Machtformen der Disziplin und Regulierung parallel weiter existiere – davon ausgegangen werden, dass sich Souveränität, Disziplin und neoliberale Gouvernementalität nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr ineinandergreifen und zusammenwirken. Des Weiteren besteht die Gefahr, die Diagnose der Biopolitik, deren Verknüpfung mit dem liberalen Paradigma Foucault nicht mehr explizieren konnte, auf eine »biologistische« Interpretation zu verkürzen. Gegenüber einer theoretischen Reduktion der Biopolitik auf eine rein biologisch-materielle Kontrolle des Körpers und der Bevölkerung ist zu betonen, dass auch die Regierung des Lebens verschiedene historische Formen umfasst. Neben einer biologischen und mittlerweile auch biogenetischen Regulation von Gesundheit, Hygiene und Reproduktion fungiert die Biopolitik unter neoliberalen Vorzeichen auf der Mikroebene auch als ein Regime der individuellen Lebensgestaltung (vgl. Schrage 2004: 192). Sie legt insbesondere Investitionsentscheidungen in die eigene Bildung und Biographie nahe beziehungsweise stellt Zusammenhänge zwischen solchen Investitionen und einem gesamtgesellschaftlichen Nutzen, insbesondere in Form von Wirtschaftswachstum her. Diese Vorwürfe der rationalistischen Harmonisierung, der historischen Linearisierung und des biologistischen Reduktionismus treffen weiterhin zu: Ein Gros der neoliberalismuskritischen Literatur, die sich auf den Gouvernementalitätsansatz beruft, identifiziert Diskurse der westlichen Gegenwart, wie beispielsweise die manageriale Organisation nicht-ökonomischer Bereiche und Institutionen der Gesellschaft oder die genetische Codierung des Menschen, als hegemonial. Dabei werden kohärente Subjektformen unterstellt, wie etwa das selbständige und sich selbst optimierende Unternehmenssubjekt, ohne deren immanente Brüche aufzuspüren oder die freiheitsgenerierenden Programme und Selbsttechnologien mit den gleichzeitig wirksamen disziplinarischen und autoritären Diskursen und Technologien zusammen zu denken (Lemke 2000). Dass auch in der »gouvernementalisierten« neoliberalen Gegenwart noch Elemente der Disziplin wirksam sind, zeigen nicht nur die kritischen Medienwissenschaften und surveillance studies (Krasmann 2003), die sich am Konzept des Panoptismus orientieren, um die sich intensivierenden Überwachungstechniken und Kontrollmechanismen im öffentlichen Raum oder in bestimmten Fernsehformaten zu charakterisieren. Judith Butler (2004) weist ferner darauf hin, dass in einigen westlichen Ökonomien und Regierungsrationalitäten selbst längst überwunden geglaubte souveräne Technologien gegenwärtig wiederbelebt werden.2 Durch diese Beispiele soll deutlich gemacht werden, dass sich eine an Foucault geschulte gegen-

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242 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig wartsdiagnostische Analyse der politisch-ökonomischen Praktiken keineswegs auf das Paradigma der neoliberalen Freisetzung beschränken muss, sondern auch auf die disziplinarischen Aspekte eingehen kann, welche die Widersprüche der momentan gültigen Gouvernementalitäten konstituieren. Allerdings gilt es auch der theoretischen Sackgasse zu entgehen, die eine Verabsolutierung des Disziplinarnarrativs und des biopolitischen Codes mit sich bringt. Vielmehr müssen in der Tradition der Foucault’schen Methodologie Überschneidungen, Transformationen und Mischungsverhältnisse dieser Teildiskurse und -gouvernementalitäten im Vordergrund der Analyse stehen. Für die Abgrenzung des Neoliberalismus gegenüber der wohlfahrtsstaatlichen Gouvernementalität und dem Keynesianismus scheint in erster Linie eine Veränderung der interventionistischen Regierungspraktiken signifikant zu sein. Entgegen der verbreiteten Diagnose, dass sich der Staat im Neoliberalismus aus allen sozialen Bereichen zurückziehe, sprechen die governmentality studies von einer veränderten Ausrichtung der interventionistischen Praktiken. Demzufolge werden die wohlfahrtstaatlichen Praktiken nicht einfach nur verdrängt, sondern u.a. in eine individualisierende Gesellschaftspolitik umgeformt, die dem einzelnen Subjekt die individuelle und soziale Verantwortung überträgt. In diesem Sinne wurden die Abschaffung einer zentralistisch organisierten Regierung des Sozialen (Rose 2000), eine allumfassende Aktivierung und Selbstoptimierung des eigenverantwortlichen unternehmerischen Subjekts (Bröckling 2003a; 2003b; Opitz 2004; Rose 1992) und allgemein eine Ausweitung der Marktförmigkeit und Ökonomisierung von sozialen und kulturellen Bereichen sowie eine Dominanz indirekter und informeller Führungspraktiken konstatiert. Gegen eine These, solche »weichen« Regierungsformen hätten sich in öffentlichen und privaten Sphären durchgesetzt, spricht jedoch, dass in Feldern, die für die neoliberale Umgestaltung von zentraler Bedeutung sind, durchaus auch disziplinäre – wenn nicht gar autoritäre – Technologien nicht nur angewendet werden, sondern historisch in ihrer Bedeutung zunehmen. Wie noch näher darzustellen sein wird, weist etwa die Implementierung der hochschulpolitischen Reformen in Deutschland, die sich rhetorisch neoliberaler Formeln und Gemeinplätze bedienen, klare disziplinäre, dirigistische und bürokratische Züge auf – wie etwa der Akkreditierungszwang und die sogenannte Qualitätssicherung durch Audits und Evaluationen, ganz abgesehen vom Zwangscharakter der Umstellung auf ein duales Modell von Studienzyklen in den meisten Bundesländern. Diese Hochschulreform ist in ihrer Implementierung somit kaum auf eine »neoliberale« Transformation im Sinne einer erhöhten Flexibilisierung und Freisetzung der institutionellen Prozesse und Subjekte oder ein Kontraktmanagement zu reduzieren, sondern weist ein eigentümliches Mischungs-

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verhältnis auf, in dem jedoch der Zwang über die Freiheit zu regieren scheint. Für eine solche Fragestellung erweisen sich einige Argumentationsstränge aus Foucaults Vorlesungen am Collège de France über die Geschichte der Gouvernementalität (2004b) von 1978 und 1979 als bedeutsam, die entweder expliziert vorliegen oder implizit angelegt sind: erstens die Differenzierung verschiedener Varianten des Neoliberalismus, nämlich der USamerikanischen Chicagoer Schule, des deutschen Ordoliberalismus und des französischen Neoliberalismus (vgl. ebd.: 116f., 272ff.). Hierbei ist bemerkenswert, dass Foucault den deutschen Neoliberalismus bereits in der Zwischenkriegszeit ansiedelt und darüber hinaus mit der »Sozialen Marktwirtschaft« der Nachkriegszeit identifiziert und die Wende zum Neoliberalismus nicht – wie etwa die angelsächsischen governmentality studies oder die neuere neoliberalismustheoretische Literatur – erst in den 1970er Jahren ansetzt. Wie bereits angedeutet arbeitet Foucault zweitens Paradoxien im neoliberalen Paradigma heraus. So basiert die ökonomische Freiheit und Selbstverantwortlichkeit im Denken des deutschen Ordoliberalismus paradoxerweise auf einem verstärkten sozialen Interventionismus, auf einer Beschränkung der sozialen Freiheit. Nach Foucault ist diese Janusköpfigkeit der Praktiken und Diskurse, die zwischen Freisetzung und Reglementierung oszillieren, für alle Dispositive charakteristisch, »die freiheitserzeugend sind« (Foucault 2004b: 105). In Ergänzung der biologistischen Interpretationen der spätmodernen Biopolitik, die in erster Linie um Fragen der Gentechnologie kreisen, soll als dritter relevanter Aspekt die neoliberale Biopolitik in ihrer Spezifität als »soziologische« und »humankapitaltheoretische« Biopolitik herausgearbeitet werden.

1.1 Spielarten des Neoliberalismus Die verstärkte Rezeption des neoliberalen Programms in den 1970er Jahren, das sich etwa an der gehäuften Vergabe von Nobelpreisen an Vertreter des Neoliberalismus beziehungsweise Theoretiker der Chicagoer Schule ablesen lässt,3 kann Foucault zufolge als eine Reaktion auf die Krise der wohlfahrtsstaatlichen Gouvernementalität verstanden werden. Aus neoliberaler Sicht resultierte diese Krise aus der Expansion der Regierungsapparate, der Überadministration und vor allem der ökonomischen Intervention. Die mit dieser Kritik des Wohlfahrtsstaates und des Keynesianismus einhergehende Staatsphobie gründet auf der Annahme, dass der ökonomische Interventionismus und Protektionismus für die weltumspannenden Wirtschaftskrisen verantwortlich gemacht werden könne. Bob Jessop hat darauf hingewiesen, dass diese Kritik zunächst vor allem in den »unkoordinierten

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244 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig Marktökonomien« im Sinne von Peter Hall auftrat, da diese mit den Krisentendenzen des Fordismus sowohl auf organisatorischer als auch institutioneller Ebene nicht zurechtkamen (vgl. Jessop 2002: 457). Ganz im Sinne der klassischen politischen Ökonomie forderten also auch die »neuen« Neoliberalen ein Mehr an ökonomischer Freiheit und einen Rückzug jener staatlichen Regierungspraktiken, die auf eine direkte Regulation und Steuerung des ökonomischen Geschehens abzielen. Da sich diese neuerliche neoliberale Konjunktur zum Zeitpunkt der Gouvernementalitäts-Vorlesung erst abzuzeichnen begann, beschäftigte sich Foucault schwerpunktmäßig mit der neoliberalen Programmatik, bevor sie vor allem im angelsächsischen Raum in den 1980er und 1990er Jahren in umfassenderer Form politisch realisiert wurde. Der von Foucault behandelte Zeitabschnitt, der von den 1920er Jahren bis zum Ende der 1970er Jahre reicht, wird heute nicht selten als Phase des »Proto-Neoliberalismus« bezeichnet und von den späteren Formen des »roll-back-« beziehungsweise »roll-out-Neoliberalismus« abgegrenzt (Peck/Tickell 2003). Jener Flügel des »Proto-Neoliberalismus«, der in den Theorien von Ludwig von Mises und den Ordoliberalen wurzelt (Gertenbach 2007), lässt sich Foucault zufolge vom klassischen Liberalismus in mindestens zwei wesentlichen Punkten unterscheiden. Erstens transformiert sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Vorstellung des Verhältnisses von Staat und Markt: Zwar fungiert sowohl im klassischen Liberalismus als auch im Proto-Neoliberalismus der Markt beziehungsweise die ökonomische Nützlichkeit als Verifikationsinstanz und Maßstab der »richtigen Regierung« (Foucault 2004b: 55). Aber im Neoliberalismus begrenzt sich die politische Regierung nicht mehr, um der Eigengesetzlichkeit der ökonomischen Prozesse genug Freiraum zu lassen und so den »Wohlstand der Nation« zu garantieren. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Staat und Markt unhintergehbar miteinander verflochten sind. Die ökonomisch-sozialen Wirkungen des Marktes werden als eigentliches politisches Ziel bestimmt. Der Markt wird somit als Legitimationsinstanz für den Staat eingesetzt.4 Zweitens wendet sich der deutsche Neoliberalismus gegen die »naturalistische Naivität« des klassischen Laissez-Faire-Prinzips. Ein funktionierender Markt stellt sich nicht von selbst her, sobald die staatliche Regierung auf die ökonomische Lenkung verzichtet – vielmehr müssen die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit einer Wettbewerbsbeziehung zwischen den ökonomischen Akteuren aktiv geschaffen werden. Demnach wird der ökonomische Dirigismus nicht einfach aufgegeben. An seine Stelle tritt vielmehr ein verstärkter gesellschaftlicher oder »biopolitisch-soziologischer« Interventionismus, der das ökonomische Handeln nunmehr indirekt steuern soll. Foucault unterscheidet zwischen verschiedenen neoliberalen Programmen, die sich in unmittelbarer Korrespondenz zu den divergierenden historischen Dispositiven entfalten. So grenzt Foucault mindestens drei

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Spielarten des Neoliberalismus voneinander ab: den deutschen Ordoliberalismus, den amerikanischen Anarchokapitalismus und den französischen Neoliberalismus, der sich erst in der 1970er Jahren auszubilden begann. Nach dieser Logik wäre zudem auch noch ein spezifisch britischer Neoliberalismus in Form des Thatcherismus zu berücksichtigen, der von Foucault jedoch noch vernachlässigt wird. Mit seinem Aufstieg beschäftigten sich zu dieser Zeit in hellsichtiger Weise, was dessen späteren Erfolg betrifft, Stuart Hall und die um ihn versammelte Forschergruppe (Hall/Critcher/Jefferson/Clarke/Robert 1978). Die theoretischen Fundamente des deutschen Ordoliberalismus entwickelten sich bereits in der Weimarer Republik, sie setzten sich jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg in kritischer Absetzung gegen den Nationalsozialismus und die planwirtschaftliche Nachkriegswirtschaft der Besatzungsmächte durch. Den Durchbruch der neoliberalen Gouvernementalität in Deutschland in Gestalt der »Sozialen Marktwirtschaft« führt Foucault dabei nicht auf wirtschaftliche Zwänge zurück, sondern auf die politische Krise aufgrund der fehlenden Legitimität für eine Neubegründung des deutschen Staates nach 1945 (vgl. Foucault 2004b: 149).5 Nach Foucault war die entscheidende Argumentation, die die Ordoliberalen legitimatorisch ins Feld führten, dass sie den Nationalsozialismus nicht auf den kapitalistischen Rationalismus rückbezogen – wie es etwa die Frankfurter Schule tat – sondern im Gegenteil als das Produkt einer Gesellschaft darstellten, die die liberale Marktwirtschaft nicht akzeptiert hatte. Der Nationalsozialismus sei die notwendige Konsequenz aus einer Verschmelzung sich gegenseitig implizierender antiliberaler Wirtschaftspolitiken, nämlich einer protektionistischen Politik, des Staatssozialismus Bismarck’schen Typs, einer zentralistischen Planwirtschaft und eines keynesianischen Dirigismus. Indem es den Ordoliberalen auf diese Weise gelang, die institutionelle Absicherung der wirtschaftlichen Freiheit als die einzig wirksame anti-totalitäre Strategie zu propagieren, wurde es laut Foucault möglich, eine neue politische Souveränität zu begründen, deren Hauptaufgabe es sein sollte, diesen institutionellen Rahmen bereitzustellen (vgl. Foucault 2004b: 121ff., 156ff.).6 Der Neoliberalismus in den USA wird von Foucault als eine kritische Reaktion auf die interventionistische Politik des New Deal und des Keynesianismus interpretiert. In den USA traf das neoliberale Denken auf geringere gesellschaftliche und politische Barrieren, da dem Liberalismus hier – ähnlich wie später dem Ordoliberalismus in der BRD – von vornherein eine staatsbegründende Funktion zukam und er sich nicht einer bereits ausgebildeten Staatsräson gegenübergestellt sah. Das hatte zur Folge, dass der Neoliberalismus in den USA nicht nur auf einer wirtschaftlichen und politischen Entscheidung der politischen Elite und ihrer Berater beruhte, sondern von vornherein über eine breitere Basis verfügte und auch auf taktisch-operativer Unternehmensebene verhandelt wurde (vgl. Foucault

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246 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig 2004b: 304). Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der stärkeren Krisenanfälligkeit der nicht-koordinierten Marktökonomien scheint es daher nicht verwunderlich, dass sich in den USA die in der Tradition von Hayek entwickelte radikale sozialpolitische Vision der Neoliberalen, die auf eine Privatisierung von Sozialleistungen abzielt, rascher durchsetzen konnte. Foucault beobachtete jedoch Ende der 1970er Jahre, dass diese Form des »Anarchokapitalismus« auch in den europäischen Ländern Europas an Einfluss gewinnen konnte (vgl. Foucault 2004b: 306). Demnach kommt es in den 1970er Jahren zu einem europäischen Reimport der US-amerikanisch gewendeten neoliberalen Programme, die zunächst in Großbritannien in Gestalt des Thatcherismus Einzug hielten und in den 1980er und 1990er Jahren auf Länder mit einer starken Tradition der koordinierten Marktökonomie, wie Deutschland und Frankreich, übergriffen. Beispielsweise ist die Verallgemeinerung der ökonomischen Form des Marktes, die auf nicht-ökonomische Felder und Institutionen ausgedehnt wird, ein Vorgang, der Foucault zufolge erst von den Vertretern der amerikanischen Variante des Neoliberalismus gefordert wurde (vgl. ebd.: 336ff.). Demgegenüber haben die heutigen governmentaliy studies festgestellt, dass eine Ökonomisierung des Sozialen auch im europäischen Raum stattfindet. Ein Beispiel dafür ist die Anwendung der Theorie des Humankapitals, die in ihren Grundzügen bereits in den 1950er Jahren von Ökonomen der Chicagoer Schule entwickelt wurde, und nun mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zu einer der wichtigsten Leitlinien für die europäische Hochschulreform in den 1990er Jahren avancierte. Foucault ist grundsätzlich in seiner Diagnose des Neoliberalismus als hybrider und ambivalenter Gouvernementalität zuzustimmen. Die differenzierende Perspektive Foucaults könnte noch an analytischer Schärfe gewinnen, wenn sie mit anderen Differenzierungstheorien verknüpft würde. Als ein allgemeiner theoretischer Ansatz ließe sich hier etwa Shmuel N. Eisenstadts (2002) Theorie der Multiple Modernities anführen. Im Gegensatz zu den klassischen Modernisierungstheorien wird die »Moderne« nicht als eine Universalstruktur interpretiert, sondern auf die kulturelle Variation der lokal spezifischen Modernen zurückgeführt.7 In diesem Zusammenhang erscheinen jedoch solche Theorien noch einschlägiger, die sich auf die Heterogenität des gegenwärtigen Kapitalismus konzentrieren. Einige Richtungen dieser Literatur unterscheiden zwischen Spielarten des Kapitalismus: So differenzieren etwa Peter Hall und David Soskice (2001) in Varieties of Capitalism koordinierte und nicht-koordinierte Marktökonomien. Johan Galtung (1996) grenzt den angelsächsischen Kapitalismus, den er als blauen Kapitalismus bezeichnet, von dem rosaroten Kapitalismus ab, für den u.a. Deutschland steht (vgl. auch Wuggenig 2003). Von Michel Albert (1993) wiederum wurde die Formel vom »Rheinischen Kapitalismus« geprägt. Ein anderer Teil der differenztheoretischen Literatur

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verfolgt hingegen eine diachronische Perspektive. So unterteilen Peck und Tickel (2003) den Prozess der Implementierung des neoliberalen Programms in zwei Hauptphasen: In der radikalen Periode des »roll-back« wird das alte Staatssystem abgebaut und dereguliert, während im darauffolgenden »roll-out« neue Staatsstrukturen aufgebaut werden, wobei durchaus auch auf autoritäre Mittel zurückgegriffen wird. Nach Bob Jessop (2002) lassen sich die Formen des Neoliberalismus auch hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Grade und Reichweiten analysieren, er differenziert demnach zwischen einer oberflächlichen Anpassung der Politik an das neoliberale Paradigma, einem Regimewandel im Sinne einer Veränderung der Akkumulations- und Regulationsprinzipien und einer radikalen Systemtransformation, wie sie in manchen der ehemals sozialistischen Länder erfolgte, die unter Einfluss des angelsächsischen Neoliberalismus in kapitalistische Gesellschaften verwandelt wurden. Ferner lassen sich Koalitionsbildungen, Synthesen beziehungsweise Neuartikulationen vormals separierter Elemente identifizieren, wie etwa im Falle von Liberalismus und Konservativismus in Großbritannien (Hall 1985) oder von Thatcherismus und Labour in Gestalt von New Labour.

1.2 Neoliberale Interventionen Schon für den klassischen Liberalismus diagnostizierte Foucault (2004b) eine eigentümliche Zweischneidigkeit des ökonomischen Freiheitsdispositivs:8 Auf der einen Seite galt das freie Spiel der ökonomischen Prozesse als konstitutiv für die wirtschaftliche Stärkung des Nationalstaats. Eine »gute Regierung« bemaß sich somit nicht mehr an der juridischen Legitimität ihrer Handlungen, sondern daran, dass sie sich soweit wie nötig beschränkte, um die positiven Effekte eines sich selbst regulierenden Marktes wirken zu lassen. Andererseits mussten auch die Bedingungen dafür hergestellt werden, dass sich die natürlichen Mechanismen des Marktes entfalten konnten – d.h. dass die politische Regierung Vorkehrungen und Sicherheitsmaßnahmen treffen musste, um eventuelle Gefahren, die die ökonomischen Prozesse empfindlich stören würden, abwenden zu können. Sie musste beispielsweise dafür sorgen, dass sich keine marktzerstörerischen Monopole bildeten und immer ausreichend kompetente und qualifizierte Arbeiter für die Produktion zur Verfügung standen. Darüber hinaus hatte die politische Regierung zu bestimmen und zu kontrollieren, in welchem Maße und bis zu welchem Punkt das individuelle Interesse des tauschenden Homo oeconomicus keine Gefahr für das Interesse der gesamten Bevölkerung darstellte, oder umgekehrt dort zu intervenieren, wo das kollektive Interesse das individuelle Interesse zu stark beeinträchtigte.9 »Kurz, allen diesen Forderungen – dafür sorgen, dass die Mechanik der Interessen keine Gefahren für die Individuen und für die Gesamtheit erzeugt – müssen Si-

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248 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig cherheitsstrategien entsprechen, die gewissermaßen die Kehrseite und die Bedingung des Liberalismus sind.« (Ebd.: 100)

Neben diesem Sicherheitsdispositiv war laut Foucault eine weitere Konsequenz der liberalen Regierungskunst die Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung und des Zwangs, d.h. die Einrichtung von Disziplinarverfahren, um das Verhalten der Individuen nach den Erfordernissen der ökonomischen Mechanismen des Tausches zu formen. Schließlich wurde paradoxerweise Ende des 19. und im Verlaufe des 20. Jahrhunderts eine ökonomische Steuerung quasi durch die Hintertür wieder eingeführt, um bestimmte Freiheiten und Sicherheiten – wie etwa die des Konsums oder der Beschäftigung – aufrechterhalten zu können. Die Ausweitung dieses »Sicherheitsdispositivs« und seiner Kontroll- und Überwachungsmechanismen führen laut Foucault jedoch letztlich in eine Krise beziehungsweise ein Krisenbewusstsein der Gouvernementalität, da so neue Unfreiheiten geschaffen werden (vgl. auch Lemke 2004). An solchen Krisen setzen die Neoliberalen an. Genau wie der klassische Liberalismus gehen auch sie von der heilenden und ordnenden Wirkung der sich frei entfaltenden marktförmigen Prozesse aus. Foucault zufolge stellen sie jedoch nicht mehr den Tausch von Äquivalenten, sondern den Wettbewerb als strukturellen Kern der Marktförmigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Darüber hinaus verabschiedet sich der Neoliberalismus von der Annahme, dass sich der Tauschprozess quasi natürlich und von selbst ausbildet. In der deutschen Variante des Neoliberalismus wird das klassisch-liberale Ideal des Laissez-Faire durch die explizite Forderung nach einer aktiven Politik ersetzt, deren Aufgabe es sein soll, die Bedingungen des freien Wettbewerbs herzustellen. Auch diesem freiheitserzeugenden Dispositiv ist somit eine grundsätzliche Ambiguität inhärent: »[…] sosehr das Eingreifen der Regierung auf der Ebene der wirtschaftlichen Prozesse zurückhaltend sein soll, dieses Eingreifen im Gegensatz dazu massiv sein soll, sobald es um die Gesamtheit von technischen, wissenschaftlichen, rechtlichen, demographischen, vereinfachend gesagt, gesellschaftlichen Gegebenheiten geht, die nun immer mehr zum Gegenstand des Eingreifens der Regierung werden.« (Foucault 2004b: 201)

Als eine »Regierung der Gesellschaft« zielt die neoliberale Gouvernementalität darauf ab, die Gesellschaft bis in ihre kleinsten Einheiten so zu strukturieren, dass auf ökonomischer Ebene ein Wettbewerb möglich wird. Dem neoliberalen Programm zufolge wird diese Wettbewerbsorientierung erst dadurch realisierbar, dass jeder einzelne Akteur eine unternehmensförmige Subjektivität annimmt und sein Handeln einem ökonomischen Kalkül unterstellt.10 In dieser Forderung eines aktiven und rationalen un-

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ternehmerischen Selbst unterscheidet sich die neoliberale Gouvernementalität grundsätzlich von den disziplinären Technologien, die dem passiven Subjekt zwecks industriekapitalistischer Produktivitätssteigerung bestimmte Verhaltensweisen und Bewegungsabläufe direkt vorschreiben und jeden Verstoß sanktionieren. In einem abstrakteren Bezugssystem, das die Dichotomie von Markt und Hierarchie in den Mittelpunkt der Analyse stellt, wird der Neoliberalismus häufig als ein Versuch charakterisiert, die Hierarchie beziehungsweise den Staat zugunsten des Marktes zurückzudrängen (vgl. z.B. Bourdieu 1998). Demgegenüber wurde in der neuen sozialwissenschaftlichen Literatur neben Markt und Hierarchie auch die Koordinationsform des Netzwerks beziehungsweise eines Systems reflexiver Selbstorganisation als analytische Kategorie eingeführt (Powell 1990). Solche netzförmigen Organisationen und Steuerungsmodelle werden als das eigentliche Novum des gegenwärtigen Kapitalismus verstanden, wobei die einzelnen theoretischen Ansätze sehr unterschiedliche Aspekte dieser neuartigen Struktur betonen. Während sich Luc Boltanski und Eve Chiapello (1999) in erster Linie mit dem neuen Rechtfertigungssystem (cité) des Kapitalismus beschäftigen, das sich der Projektarbeit beziehungsweise Netzwerkmetapher bedient, lenken die governmentality studies in Abgrenzung zu objektivistischen Makrotheorien die Mikrodimension der unternehmerischen Subjektivierungspraktiken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie von einer tendenziellen Hegemonialisierung des Flexibilisierungsimperativs ausgehen, die die autoritären, hierarchischen, paternalistischen beziehungsweise industriellen Herrschaftsformen oder Rechtfertigungsfiguren verdrängt. Aber zeigen die realen Erfahrungen mit dem Neoliberalismus nicht auch, dass autoritäre Führungspraktiken keineswegs aussterben, sondern die neoliberalen Führungspraktiken begleiten und sogar im Begriff sind, wieder zu erstarken? Zweifellos lässt sich die neoliberale Freisetzung des Subjekts in einigen Feldern beobachten, aber das Beispiel der deutschen Hochschulreform zeigt, dass in anderen Bereichen disziplinarisch durchgegriffen wird und hierarchische beziehungsweise autoritäre Formen der Steuerung wieder an Boden gewinnen. So verwendete im Übrigen auch Stuart Hall zur Kennzeichnung des Thatcherismus die Formel »freier Markt, starker Staat«. Dabei ging er sogar so weit, die neoliberale anti-etatistische Rede als einen leeren Diskurs zu deuten, als eine ideologische Selbstdarstellung, die die eigentlichen staatszentralistischen und dirigistischen Regierungspraktiken rhetorisch verdeckt (vgl. Hall 1985: 535). In der britischen Literatur wird diese Variante des Neoliberalismus, aber auch der spätere »dritte Weg« des Blairismus als »autoritärer Populismus« bezeichnet (ebd.; Jessop 2003). Das extremste Beispiel für die Verbindung von neoliberalen und autoritären Technologien

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250 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig ist bisher wohl die chilenische Regierungsform der 1970er Jahre – die Verflechtung von importiertem US-Neoliberalismus und Pinochet-Diktatur (Fourcade-Gourinchas/Babb 2002). Unter Berufung auf das Foucault’sche Paradox, dass allen freiheitserzeugenden Dispositiven ein Zwangscharakter inhärent sei, ließe sich die analytische Aufmerksamkeit auf eben diese autoritären Elemente der neoliberalen Gouvernementalität lenken, die nicht allein auf den »zwanglosen Zwang« des unternehmerischen Imperativs reduziert werden können, sondern auch Praktiken der Unterwerfung beinhalten.

1.3 Biopolitische Freiheitserzeugung Gegenüber den klassischen biopolitischen Strategien der sozialstaatlichen Systeme im 19. Jahrhundert, die in erster Linie die Gesundheit der Bevölkerung und die Qualität und Reproduktion der körperlichen Arbeitskraft im Blick hatte, um die nationale industrielle Produktion abzusichern, zeichnet sich Mitte des 20. Jahrhunderts ein qualitativer Wandel ab. Die »Soziale Marktwirtschaft« in Deutschland, die auf wichtigen Annahmen des ordoliberalen Programms beruht, stützte sich laut Foucault auf soziologisch-handlungstheoretische Analysen, um ihre gesellschaftsregulativen Ziele, d.h. vor allem den Mechanismus des Wettbewerbs, zu erreichen. Wie Foucault (2004b: 207) herausstellt, war in diesem Zusammenhang sogar von einem »soziologischen Liberalismus« die Rede. Die politischen Technologien dieser »soziologischen Regierung« richteten sich dementsprechend als »Vitalpolitik« (Rüstow) auf die Gesellschaft und das Leben der einzelnen Individuen, um den »unternehmerischen Geist« als prinzipielles Selbst- und Weltverhältnis des Subjekts zu implementieren und somit den Markt und den Wettbewerb als formierende Kraft der Gesellschaft einzusetzen. Im US-amerikanischen Neoliberalismus bildete sich seit den 1950er Jahren eine spezifische Variante dieser subjektivierenden Biopolitik aus: die Kalkulation des individuellen Humankapitals sowohl auf physischer als auch auf kognitiver Ebene (Bröckling 2003b). Im Gegensatz zum neueren Biopolitik-Diskurs, der sich vornehmlich mit den postfordistischen Gesundheitsideologien und der Manipulation des genetischen Erbguts beschäftigt, stehen hierbei nicht nur die gesundheitliche Absicherung oder Optimierung des genetischen Erbguts im Vordergrund der persönlichen Überlegungen. Vielmehr spielen ökonomisch kalkulierte Investitionsentscheidungen in die Aus- und Weiterbildung eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu den klassischen ökonomischen Theorien, die den Produktionsfaktor Arbeit als »Arbeitskraft« oder »Arbeitszeit« bewerteten, fassen die Humankapital-Theoretiker Jacob Mincer, Theodore Schultz und Gary Becker Arbeit als ein Kapital auf, über das das einzelne Individuum durch Erziehung etc. verfügt und das es durch Investitionsentscheidungen in die eige-

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ne Bildung und den Erwerb von Kompetenzen weiter ausbauen kann.11 Dabei wird das Individuum als ein Unternehmer seiner selbst, als rationales und aktives Wirtschaftssubjekt angerufen – es wird dazu angehalten, seine knappen Ressourcen unter ökonomischen Gesichtspunkten, d.h. unter Berücksichtigung von zu erwartenden Kosten und Nutzen auf alternative Zwecke zu verteilen (vgl. Foucault 2004b: 310f.). Über diese Mikroebene hinausgehend vertreten die Verfechter der Humankapitaltheorie die These, dass die Investition in Bildung und andere Formen des Humankapitals, wie etwa Migration (vgl. Becker 1993: 245ff.), zu einer gesteigerten Produktivität und einem Wirtschaftswachstum auf der Makroebene führt.12 Dass die angenommenen Beziehungen zwischen Bildungsinvestitionen und Wirtschaftswachstum im Westen schwach beziehungsweise überhaupt fraglich sind, haben indes die soziologischen Vertreter der »Credential Society«-These gezeigt (vgl. Collins 1988: 174ff.; 2002; Mudge 2003), was im Übrigen auch durch neuere OECD-Daten gestützt wird (vgl. The Economist, 24.1.2004: 26). Dennoch konnte die Humankapitaltheorie in den 1980er und 1990er Jahren über Konzepte wie »Wissensökonomie« und »Wissensgesellschaft« und schließlich durch Verbindung mit dem Kreativitätskonzept (von Osten 2003; Raunig/Wuggenig 2007) popularisiert werden.13 In den Kontext einer verstärkten (bio-)politischen Förderung der Wissensökonomie14 sind auch Aspekte der europäischen Hochschulreform einzuordnen, die seitens der EU-Kommission mit dem Ziel verbunden wurde, »die [europäische] Union zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« (European Commission 2003: 1) zu machen, wie die nahezu sprichwörtlich gewordene programmatische Formulierung lautet.

2. Hochschulreform und Bologna-Prozess Im Zuge der Verbreitung des Diskurses der »wissensbasierten Ökonomie« haben auch die Universitäten eine neue Form von Aufmerksamkeit erfahren. In Deutschland wurden Argumente, die auf die Rolle der Universitäten für die Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit verweisen, von politischer Seite ab Mitte der 1990er Jahre forciert. Dies erscheint kaum zufällig. Einerseits stand ein weitreichender Wechsel des wissenschaftlichen Personals im folgenden Jahrzehnt bevor. Andererseits zeichnete sich zu dieser Zeit auch bereits klar ab, dass die Wiedervereinigung und die Versuche einer ökonomischen Expansion in den Osten nicht mit einem wirtschaftlichen Aufschwung, wie er aufgrund der Öffnung von neuen Märkten vielfach erwartet wurde, sondern vielmehr mit einer krisenhaften ökonomischen Situation einhergehen würden. Die politischen Forderungen nach einer umfassenden Reform der deutschen Universitäten verblie-

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252 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig ben zunächst in dem programmatischen Rahmen des ordoliberalen Programms, wurden aber angesichts eines dominanter werdenden Globalisierungsdiskurses bald um die Komponente der »Internationalisierung« ergänzt, die als ein spezifisches Merkmal des neuen im Vergleich zum älteren Neoliberalismus gelten kann. Dass die angelsächsischen Spielarten des Neoliberalismus in Deutschland an Einfluss gewannen, zeigten nicht nur die neuen politischen Programme, die sich eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Individuen, Institutionen und der Volkswirtschaft zum Ziel setzten. In der letzten Phase der konservativen Regierung erfolgten auch eine Abkehr von dem bis dahin beliebten niederländischen Referenzmodell und der offene Übergang zur Orientierung an den konkurrenzfähiger erscheinenden angelsächsischen Modellen der Humankapitalproduktion im Hochschulbereich (vgl. Wuggenig 2001: 103ff.). Zugleich erfolgten auch die entscheidenden Weichenstellungen für die Einleitung des Bologna-Prozesses, der im Wesentlichen von einer deutsch-französischen Koalition auf Ministerebene initiiert wurde. In der maßgeblichen hochschulpolitischen Schrift des letzten Bundesministers für Bildung und Forschung der konservativen Regierung ist zu lesen: »Ziel der Reform des deutschen Hochschulsystems ist es, durch Deregulierung, durch Leistungsorientierung und durch die Schaffung von Leistungsanreizen Wettbewerb und Differenzierung zu ermöglichen sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen für das 21. Jahrhundert zu sichern. […] Das deutsche Hochschulsystem muß aus internen Gründen der Effizienz, des Wettbewerbs und der Selbststeuerung nach Leistungskriterien strukturell und inhaltlich reformiert werden. […] Nach zwei Weltkriegen haben sich die Hochschulsysteme anderer Länder vielfach an dem angelsächsischen Modell mit der inhaltlich wie zeitlich klar gegliederten Abfolge ›Bachelor‹, ›Master‹, ›PhD‹ ausgerichtet; es ist heute das dominierende Modell. […] Es ist unumgänglich, daß sich deutsche Hochschulen im Angebot und in der Anerkennung von Studiengängen und bei vorausgesetzten bzw. von ihnen verliehenen Abschlüssen stärker international orientieren und sich dem im Ausland vorherrschenden System öffnen und annähern.« (Rüttgers 1996)

Außerdem wird die brain drain-Bilanz als Symptom von Wettbewerbsschwäche ins Spiel gebracht: »Insbesondere ist die Zahl Studierender aus den zurzeit wirtschaftlich besonders dynamischen Regionen der Welt in den letzten zwanzig Jahren kaum angestiegen und sogar zurückgegangen.« (Ebd.) Diese und ähnliche Formulierungen und Appelle, die von politischer Seite vorgebracht wurden, spiegelten zu einem guten Teil Einschätzungen und Forderungen der Wirtschaftsverbände wieder (Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft 1996).15 Realpolitisch gesehen dienten sie dazu, die Verankerung der Bachelor- und Masterabschlüsse nach angelsächsischem

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Vorbild in der Novelle des Hochschulrahmengesetzes von 1998 vorzubereiten. Die entscheidende Bedeutung dieser Novelle als ein Schritt in ein anderes System wurde zu dieser Zeit kaum wahrgenommen, da die Einführung neuer Abschlüsse nur probeweise neben dem herkömmlichen System vorgesehen war. Die Formulierungen aus dem politischen Raum verwiesen prospektiv zudem auf den 1998 mit der Sorbonne Deklaration in Gang gesetzten »Bologna-Prozess«, der auf der Grundlage solcher Überlegungen und ihrer Verallgemeinerung auf europäischer Ebene maßgeblich von deutscher Seite auf den Weg gebracht wurde.16 In Verbindung mit anderen Dokumenten (Witte 2006b) nahmen sie eines der Kernelemente des Bologna-Prozesses vorweg, nämlich die Einführung der angelsächsischen Struktur von Studienprogrammen mit zwei Hauptzyklen. Über den Umweg der europäischen Politik erfuhr der in Deutschland bereits in Gang gesetzte Reformprozess in Richtung gestufter Abschlüsse und einer vertikalen Differenzierung des Feldes der höheren Bildung auf diese Weise eine legitimatorische und institutionelle Abstützung. Ein genuin transnationales Ziel des Bologna-Prozesses ist vor allem in der Absicht zu sehen, über ein der Idee nach harmonisiertes Modell mit zwei (beziehungsweise drei) Zyklen die innereuropäische Mobilität zu fördern.17 Außerdem sollte neben der Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes auch eine selektive Wanderung vor allem aus den Schwellenländern in die EU im Rahmen der Systemkonkurrenz mit den USA herbeigeführt werden. Dass der »Mobilität« ein solches Gewicht beigemessen wurde, lässt sich sowohl auf die neoliberale Humankapitaltheorie Chicagoer Provenienz zurückführen, die – wie bereits angedeutet – Mobilität als entscheidenden Faktor des Wirtschaftswachstums charakterisieren. Dies lässt sich aber auch mit solchen Theorien in Verbindung bringen, die die notwendigen Bedingungen für kapitalistische Märkte beziehungsweise deren Hemmnisse analysieren und die Ausweitung von Mobilität als wichtige funktionale Voraussetzung für die Ausbreitung dieses ökonomischen und gesellschaftlichen Modells identifizieren. Aus der Makro-Sicht der neoweberianischen Kapitalismustheorie lässt sich der Bologna-Prozess im Wesentlichen als ein Versuch identifizieren, in einer der drei Triaden der Weltökonomie Mobilitätshindernisse für den Produktionsfaktor (hochqualifizierte) Arbeit zu beseitigen. Die Mobilität der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit und die Beseitigung ihrer Hindernisse zählen zu den konstitutiven Merkmalen einer kapitalistischen Ökonomie (Collins 1999). Von daher war kaum überraschend, dass die EU-Kommission, die von den politischen Initiatoren des Bologna-Prozesses anfangs nicht miteinbezogen wurde, bald eine Konvergenz mit den eigenen hochschulpolitischen Zielen feststellte und den Bologna-Prozess explizit mit jener »Lissabon Strategie« der Wirtschaftspolitik in Verbindung brachte, die als eine der zentralen Indizien ihrer neoliberalen Orientierung gilt.18 Wie bereits mehrfach betont, ist den governmentality studies das Ver-

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254 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig dienst zuzuschreiben, die Aufmerksamkeit auf die »sanften« Formen der Steuerung gelenkt zu haben, die mit neoliberalen Programmen einhergehen können. So wurde in überzeugender Weise dargelegt, dass vor allem in den dominanten Diskursen der neueren Managementliteratur Formen der direkten Unterwerfung und der hierarchischen Weisungsgebundenheit zugunsten von Selbststeuerungsmodellen der verantwortlichen, umsichtigen und rationalen Individuen an Bedeutung verloren. Diese neuen Organisationsformen zielen nicht nur auf eine »Individualisierung« des Einzelnen ab, sondern ebenso auf Autonomie und Wettbewerbsorientierung kollektiver Subjekte, nicht nur von Wirtschaftsunternehmen, sondern auch von Universitäten, Museen oder Krankenhäusern. »Im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität signalisieren Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit nicht die Grenze des Regierungshandelns, sondern sind selbst Instrument und Vehikel, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den andern zu verändern.« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 30)

Es stellt sich allerdings die Frage, welcher Stellenwert solchen in dieser Passage hervorgehobenen Technologien in realen Transformationsprozessen, die sich an neoliberalen Programmen orientieren, tatsächlich zukommt. So würde eine Fallstudie über die Hochschulreform beziehungsweise die Implementierung des Bologna-Prozesses in Deutschland, die sich an den Prinzipien einer neoliberalen Gouvernementalität bemisst, folgende paradoxe Aspekte zu berücksichtigen haben: a) top-down-Prozesse Die deutsche Hochschulreform ist auf allen ihren Ebenen durch einen klassischen top-down-Prozess gekennzeichnet. Es handelt sich um eine auf staatlicher Ebene beziehungsweise im politischen Feld unter Druck des wirtschaftlichen Feldes konzipierte »Revolution von oben«, die im analytischen Bezugsrahmen von Markt, Hierarchie und Netzwerk beziehungsweise Selbstorganisation eindeutig dem hierarchischen Steuerungsmodus zuzuordnen wäre. Dies gilt sowohl für die Makroebene – transnationale Vereinbarungen werden auf nationaler und subnationaler Ebene implementiert oder zumindest in maßgeblicher Weise zur Legitimation und Persuasion eingesetzt – als auch für niedrigere Ebenen. In den einzelnen Hochschulen werden typischerweise die Leitungsebenen gestärkt, wobei die über die Studentenrevolte durchgesetzte Form der ständischen Gruppenpartizipation nicht außer Kraft gesetzt, aber in ihren Einflussmöglichkeiten stark beschnitten wird. b) Verringerung individueller Autonomie Sieht man vom Leitungspersonal ab, implizieren diese neuen Rahmenbedingungen bereits erhebliche Autonomieverluste auf individueller Ebene.

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Sie werden von führenden Vertretern des Reformdiskurses sogar explizit und offensiv verteidigt. Das von der Bertelsmann-Stiftung eingerichtete Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) übt als Repräsentant der Zivilgesellschaft z.B. einen maßgeblichen diskursiven, zum Teil aber auch realpolitischen Einfluss in Form von Politikberatung und organisatorischer Beteiligung an Veränderungsprozessen aus. Dies entspricht dem aus den angelsächsischen Ländern bekannten Muster der starken Beteiligung von in der »Zivilgesellschaft« angesiedelten privaten und semi-privaten think tanks – die nicht unter dem Stigma leiden, staatliche Institutionen zu sein – an neoliberalen Reformprozessen beziehungsweise deren Legitimation. Zwar betont das CHE im Sinne der auf kollektive Akteure ausgeweiteten Individualisierungsthese der governmentality studies die institutionelle Autonomie der Universitäten, deren Freiheit nicht positiv, sondern negativ im Sinne einer Befreiung von staatlichen Reglementierungen definiert wird – unter Ausklammerung der neuen Abhängigkeiten von Akteuren des ökonomischen Feldes, die ihren Einfluss nun in Hochschulräten und über Partnerschaften von Hochschulen und Unternehmen geltend machen. Demgegenüber erscheint die bisherige Autonomie des einzelnen Wissenschaftlers jedoch als zu weitreichend, nämlich als Ausdruck eines »ausufernden akademischen Individualismus«. Aus ähnlichen Gründen wird auch die in der Vergangenheit erkämpfte »Gruppen-Partizipation«, d.h. die Beteiligung an Entscheidungen über kollektive Aushandlungsprozesse in Gremien, zugunsten hierarchischer Steuerungsmodi problematisiert (vgl. Müller-Böling 2000: 35ff.). c) Negation des Marktes Einer liberalen wie neoliberalen Logik würde es an sich entsprechen, das Schicksal relevanter Neuerungen dem »Markt« zu überlassen. Ein Kernstück der Hochschulreform, nämlich die Einführung der gestuften Studiengänge, wurde jedoch nur anfangs als Option betrachtet, die sich der Konkurrenz mit traditionellen Studiengängen und einer Bewährung am Markt zu stellen habe. Mittlerweile wird sie in vielen deutschen Bundesländern den Hochschulen von staatlicher Seite mit der gleichzeitigen Auflage, die traditionellen Angebote einzustellen, aufgezwungen. Man könnte dies als Ausdruck des Patriarchalismus eines neo-etatistischen Systems betrachten oder auch auf die ordoliberale Tradition in Deutschland mit ihrer geringeren Distanz gegenüber dem Staat zurückführen. Bereits Stuart Hall machte am Beispiel der »leeren Diskurse« des Thatcherismus jedoch darauf aufmerksam, dass eine forcierte Marktrhetorik mit einer Verstärkung von autoritären staatlichen Eingriffen einhergehen kann. Insbesondere sind solche »neo-etatistischen« Züge in der Phase des »role-outs«, d.h. des Aufbaus neuer Strukturen zu beobachten. Empfehlungen, den Markt zu ignorieren, findet man in expliziter Form etwa auch in Schriften des CHE: »Die genaue Verortung der neuen Abschlüsse kann aber nicht dem Markt

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256 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig überlassen werden, sondern bedarf eines höheren Grades gemeinsamer Planung der Studiengänge zwischen Hochschulen und potenziellen Abnehmern.« (CHE 2003b: 4; vgl. auch CHE 2003a) Angesichts der in zweifacher Hinsicht schwachen Marktakzeptanz der BA-Studiengänge, sowohl hinsichtlich der Nachfrage von Studienbewerbern, die dort, wo es noch Alternativen gibt, nach wie vor bescheiden ist, als auch bezüglich der Akzeptanz von entsprechenden Absolventen in der Wirtschaft, werden diese Studiengänge in vielen deutschen Ländern Studierenden und Lehrenden unter Missachtung der rhetorisch ansonsten gerne ins Feld geführten Logik von Markt und Wettbewerb aufgezwungen. d) Bürokratisierung Die Hochschulreform führt ungeachtet der Rhetorik von Flexibilität und Bürokratieabbau in vielen Hinsichten zu einer Ausweitung bürokratischer Koordinations- und Kontrollformen. Bereits von Proponenten der Reform, wie dem CHE, wird unterstrichen, dass der zu erwartende Aufwand für Studienorganisation und -verwaltung im neuen, modularisierten System so hoch sein wird, dass er sich ohne eine voll elektronisierte Studien- und Prüfungsverwaltung nicht realisieren lässt (vgl. CHE 2003b: 9). Entsprechend der Logik des Humankapitalkonzepts, das die quantitative Erfassung von Investitionen in Bildungsprozesse impliziert, ist das Curriculum nach Maßgabe des geschätzten Arbeitsaufwandes in quantifizierbare Elemente (Module) zu zerlegen. Das Credit-Point-System wird dabei im Hinblick auf eine potenzielle Steigerung von Mobilität gerechtfertigt, da eine derartige Quantifizierung internationale Vergleichbarkeit erzeuge. Darüber hinaus bringt der Akkreditierungszwang, wie er speziell im deutschen System mit seiner begrenzten Zahl von Akkreditierungsagenturen eingeführt wurde, einen weiteren aufwendigen bürokratischen Überprüfungsprozess von »Mindestqualität« mit sich. Dafür sind typischerweise ex ante Planungen für fünf Jahre zu entwickeln, die bereits von der vorgesehenen Zeitspanne her an Planungskonzepte aus dem bürokratischen Sozialismus (Fünf-Jahres-Pläne) erinnern. Die staatlichen Kontrollen der Programme werden im Übrigen durch Einführung des Akkreditierungswesens keineswegs abgeschafft. Die bürokratische Kontrolle wird gegenüber der früheren Inputsteuerung vielmehr verdoppelt, da sie von staatlicher Seite und – mit den Akkreditierungsagenturen – nun zusätzlich auch von privater oder semistaatlicher Seite erfolgt. Als Kehrseite des Kontraktmanagements mit Zielvereinbarungen ist in Kauf zu nehmen, dass die Zielerreichung nun genau zu kontrollieren und zu evaluieren ist. Was die Studienprogramme selbst betrifft, so werden die neuen modularisierten Strukturen von Studierenden wie von Lehrenden vielfach als festgelegt und verschult wahrgenommen. Das System steigert gewissermaßen noch seinen Charakter als »triviale Maschine« (von Förster). Hinzu kommen – angesichts der national durchaus sehr unterschiedlichen Interpretationen des Bologna-Prozesses (Witte

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2006a; 2006b) – speziell in Deutschland bürokratische Hürden für den Übergang vom Bachelor zum Master. Sie schränken die Entscheidungsbeziehungsweise Wahlfreiheit gegenüber Länge beziehungsweise Niveau der eigenen Ausbildung in der Hochschule im Vergleich zu Diplom- und Magisterprogrammen entscheidend ein. Gegenüber der Situation unter keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen wurde die Selbstbestimmung von Studierenden wie von Lehrenden durch neue Rahmenvorgaben, stärkere Festlegungen auf bestimmte, zu wiederholende Inhalte (Module) und insbesondere durch die neuen bürokratischen Kontrolltechniken der Audit Society (Power 1997) wie der Evaluation sogar weiter beschränkt. Nicht zufällig verweigerten sich die Kunsthochschulen – also der Hochschultyp, in denen jene »Künstlerkritik« im Sinne von Boltanski/Chiapello (1999) beheimatet ist, die sich durch Orientierung an Autonomie und durch anti-bürokratische Attitüden auszeichnet – entschieden gegenüber zentralen Aspekten der Hochschulreform in Deutschland (Wuggenig 2004). Allein diese Beispiele, die den erhöhten Kontrollaufwand und die individuellen Restriktionen in dem neuen Hochschulsystem keinesfalls erschöpfend beschreiben, offenbaren, dass der am Humankapitalkonzept und der Vorstellung von der wissensbasierten Ökonomie ausgerichtete real existierende Neoliberalismus in Deutschland auf organisatorischer Ebene nur im Einzelfall einem durch Netzförmigkeit und Selbststeuerung geprägten System entspricht, in dem selbständige Unternehmenssubjekte über ihre Investitionen entscheiden können. Zwar hat sich der europäische Wirtschafts- und Regierungsraum zum Ziel gesetzt, seine »Humanressourcen« durch eine Förderung des »unternehmerischen Geistes« besser zu nutzen. Aber im höheren Bildungswesen, das diese Subjektivierungsweisen vermitteln soll, scheinen diese Selbststeuerungsmodelle nicht zu greifen, sondern ganz im Gegenteil durch ein erhöhtes Aufkommen an Zwangsapparaten in ein disziplinarisches Korsett gedrückt zu werden. Dieses Phänomen ließe sich mit dem Foucault’schen Theorieinstrumentarium als der paradoxale Effekt eines freiheitserzeugenden Dispositivs beschreiben. Allerdings lässt sich feststellen, dass diese Gouvernementalität kaum etwas mit jenem US-amerikanischen System der höheren Bildung zu tun hat, das als ein normativer Bezugspunkt insbesondere für den deutschen Reformprozess angesehen werden kann. Dies legt den Schluss nahe, dass die Orientierung an der Theorie des Humankapitals und an der Ökonomisierung nicht-ökonomischer Felder, die eine entscheidende Wende des deutschen Ordoliberalismus zur amerikanischen Variante des Neoliberalismus markiert, in traditionell koordinierten Marktökonomien nicht mit vergleichbaren Effekten implementierbar ist. Der real existierende Neoliberalismus weist viele Gesichter auf. Als Herrschaftsform bedient er sich der Freiheit und der reflexiven Selbstorganisation, aber auch autoritärer Interventionen und büro-

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258 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig kratischer Strukturen. Das Beispiel der Hochschulreform in Deutschland zeigt, dass er solche traditionell mit der »cité industrielle« (Boltanski/Chiapello 1999; 2002) verbundenen hierarchischen Formen von Kontrolle und Steuerung im Vergleich zum keynesianischen Wohlfahrtsstaat durchaus noch steigern kann.

Anmerkungen 1 | Das Thema der Moderne ist als Auseinandersetzung mit dem modernen Subjekt, den modernen Wissensregimen und den Macht- und Regierungstechnologien im gesamten Werk Foucaults präsent. In Überwachen und Strafen ([1975] 1976) hat Foucault den Begriff der modernen »Disziplinarmacht« in Abgrenzung zur souveränen Macht entwickelt. Der Subjektivierungsprozess wird hier als der Effekt einer steten Überwachungs- und Sanktionierungsmaschinerie konzipiert. Nach Thomas Lemke zeichnet das Projekt der Genealogie der Mikrophysik der Macht somit »eine Subjektivität, die produziert wird, um unterdrückt zu werden: die Formierung eines ›Gehorsamssubjekts‹« (Lemke 1997: 116). In seinen Überlegungen zur gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung des Subjekts ergänzt Foucault die Theorie der Disziplin später um das Konzept der Bevölkerung und der biopolitischen Regulierung (Foucault [1976] 1977 und [1997] 1999). Ende der 1970er Jahre nimmt Foucault schließlich die Freiheit des Subjekts in den Blick, die sich nunmehr als Voraussetzung und Ziel der Regierungstechnologien und der liberalen Gouvernementalität erweist (Foucault [1982] 1994; 2004a; 2004b). 2 | So können Butler (vgl. 2004: 53f.) zufolge die Inhaftierungs- und Verhörmethoden, die auf Guantánamo eingesetzt werden, und die dadurch verursachte Entrechtlichung und Prekarisierung von Leben als Praktiken und Wirkungen einer souveränen Gewalt angesehen werden. 3 | Der »Nobelpreis« für Wirtschaftswissenschaften ging 1974 an Friedrich von Hayek, 1976 an Milton Friedman und 1979 an den Humankapital-Theoretiker Theodore Schultz. 4 | »Mit anderen Worten, anstatt eine Freiheit des Marktes zu akzeptieren, die durch den Staat definiert und in gewisser Weise unter staatlicher Aufsicht aufrechterhalten wird – was gewissermaßen die Ursprungsformel des Liberalismus war: Schaffen wir einen Raum wirtschaftlicher Freiheit, begrenzen wir ihn, und lassen wir ihn durch einen Staat begrenzen, der ihn überwacht. Nun sagen die Ordoliberalen, muß man die Formel umdrehen und die Freiheit des Marktes als Organisations- und Regulationsprinzip einrichten, und zwar vom Beginn seiner Existenz an bis zur letzten Form seiner Interventionen. Anders ausgedrückt, es soll sich vielmehr um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter Aufsicht des Staates.« (Foucault 2004b: 168, vgl. auch 127ff.) 5 | »Das Problem [, das sich 1945 für Deutschland stellte,] war folgendes: Angenommen […] es gibt einen Staat zu schaffen. Wie kann man diesen zukünftigen Staat gewissermaßen im voraus legitimieren? Wie kann man ihn auf der Grundlage einer wirtschaftlichen Freiheit akzeptierbar machen, die zugleich seine Begrenzung gewährleistet und seine Existenz ermöglicht?« (Foucault 2004b: 149) 6 | »Tatsächlich erzeugt im zeitgenössischen Deutschland die Wirtschaft, die Wirtschaftsentwicklung, das Wirtschaftswachstum Souveränität, politische Souverä-

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Das unternehmerische Selbst? | 259 nität durch die Institutionen und das institutionelle Spiel, das diese Wirtschaft gerade in Gang hält. Die Wirtschaft erzeugt Legitimität für den Staat, der ihr Garant ist. Mit anderen Worten – […] die Wirtschaft schafft das öffentliche Recht. […] wir haben also eine Genese, eine ständige Genealogie des Staates im Ausgang von der Institution der Wirtschaft.« (Foucault 2004b: 124) 7 | In Das Hybride Subjekt hat Andreas Reckwitz (2006) dieses partikularistische Konzept poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch gewendet und auf die innere Heterogenität der westlichen Moderne rückbezogen. Damit wird die These der multiple modernities über einen interkulturellen Vergleich hinausgehend für die Analyse der intrakulturellen Divergenzen der westlichen, europäischen Kultur fruchtbar gemacht, um die westlichen kulturellen Muster auf ihre immanente Polysemie hin zu befragen. In diesem Sinne grenzt sich Reckwitz von der Annahme eines generalisierbaren Modells moderner westlicher Subjektivität ab und weist nach, dass verschiedene konfligierende Subjektkulturen – wie etwa das rationaldisziplinarische und das expressiv-ästhetische Subjektideal – in unmittelbarer Konkurrenz zueinander stehen. 8 | »In groben Zügen ist also die Handlungsfreiheit im liberalen System, in der liberalen Regierungskunst eingeschlossen, sie ist gefordert, man braucht sie, und sie dient als regulierender Faktor, aber sie muß auch hergestellt und organisiert werden. Die Freiheit ist im System des Liberalismus also nichts Gegebenes, sie ist nicht ein vollkommen fertiges Gebiet, das man zu achten hätte […]. Die Freiheit ist etwas, das in jedem Augenblick hergestellt wird. Der Liberalismus akzeptiert nicht einfach die Freiheit. Der Liberalismus nimmt sich vor, sie in jedem Augenblick herzustellen, sie entstehen zu lassen und sie zu produzieren mit der Gesamtheit von Zwängen, Problemen und Kosten, die diese Herstellung mit sich bringt.« (Foucault 2004b: 99) 9 | Zum historischen Ursprung einer kollektiven Risikoverteilung hinsichtlich der Arbeitsunfälle in der industriellen Produktion und der Geburt des wohlfahrtsstaatlichen Versicherungssystems siehe Ewald (1993). 10 | »Der Ordoliberalismus entwirft also eine Wettbewerbsmarktwirtschaft, die von einem sozialen Interventionismus begleitet wird, der eine Erneuerung im Umfeld der Neubewertung der Unternehmenseinheit als grundlegenden Wirtschaftsakteur impliziert.« (Foucault 2004b: 248) 11 | Diese Theorie ist nicht mit der Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu zu verwechseln, der den Begriff des kulturellen Kapitals in erster Linie heranzieht, um die soziale Vererbung von Kompetenzen, Geschmack, Präferenzen etc. und damit die Reproduktion des Systems der sozialen Ungleichheit nachzuweisen (Bourdieu 2004). 12 | »Im Ausgang von dieser theoretischen und historischen Analyse kann man also die Prinzipien einer Wachstumspolitik erkennen, die sich nicht mehr bloß am Problem der materiellen Investitionen des physischen Kapitals einerseits und an der Zahl der Arbeiter andererseits orientiert, sondern einer Wachstumspolitik, die sich sehr genau auf eines derjenigen Dinge konzentriert, die der Westen gerade am leichtesten verändern kann, und die in der Modifikationen des Niveaus und der Investitionsform in Humankapital besteht. Man sieht, daß die Wirtschaftspolitik, aber auch die Sozialpolitik, die Kulturpolitik und die Bildungspolitik aller entwickelten Länder sich nach dieser Seite hin orientieren.« (Foucault 2004b: 323) 13 | »The term ›knowledge-based economy‹ results from a fuller recognition of the role of knowledge and technology in economic growth. Knowledge as em-

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260 | Sophia Prinz/Ulf Wuggenig bodied in human beings (as ›human capital‹) and in technology, has always been central to economic development. But only over the last few years has its relative importance been recognised, just as that importance is growing.« (OECD 1996). Im neuen britischen Neoliberalismus hat das Konzept der wissensbasierten Ökonomie einen besonderen Stellenwert, wie etwa die folgende Passage aus einem vielzitierten Weißbuch der New Labour-Regierung deutlich macht: »Our success depends on how well we exploit our most valuable assets: our knowledge, skills, and creativity. These are the key to designing highvalue goods and services and advanced business practices. They are at the heart of a modern knowledge driven economy.« (Blair 1998) 14 | »The OECD in the mid-1980s sponsored and repositioned this latest form of human capital theory as a rationale worthy of underpinning the policy wisdom it dispensed on national projects of education and training in the context of the new capitalism. This could perhaps be described in terms of Foucault’s idea of bio-power, a bio-politics in which the valuation of the subject is understood in terms of an individual embodiment of performance capacity, and the population in terms of the summation of the collective incarnation of human capital. This capitalisation of the self opens the door for the extension of the enterprise ethic to the subject; individuals are encouraged to understand themselves as entrepreneurs and their lives as enterprise. Investment and decisions around education, training and skill acquisition become rational choices, consumption options, in the game of maximising returns in a labour market. Under the influence of neoliberal governmentality, education becomes configures around twin concerns of human capital accumulation and the extension of the enterprise form of the self, clearly incorporating the ›learning self‹.« (Doherty 2006; vgl. auch OECD 1996) 15 | Die 1996 seitens der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft formulierten Leitsätze, die der Politik als Forderungen übersandt wurden, umfassten stichwortartig zusammengefasst u.a. die »Orientierung an Kundenwünschen – von Gesellschaft, Studierenden und Unternehmen«, »Wettbewerb«, »Evaluation«, »Profile« und Freiheit der Auswahl von Studierenden gemäss dem Profil, »effizientes Hochschulmanagement«, mehr Kompetenzen für die Hochschulleitung, »Finanzautonomie«, »kaufmännisches Rechnungswesen« statt Kameralistik, »Kostenbeiträge für alle Studenten«, und Ausbau und »Zusammenarbeit von Hochschulen und Wirtschaft«. Auch die Umorientierung auf die angelsächsische Zwei-Zyklen-Struktur wird bereits gefordert, wenn zu dieser Zeit noch als Option, wie sie dann in der Novelle zum Hochschulrahmengesetz 1998 verankert wird: »Nicht zuletzt sollte das deutsche Hochschulwesen im Sinne einer internationalen Kompatibilität geöffnet werden, indem den Hochschulen die Möglichkeit eingeräumt wird, auch ohne eine gesonderte Vereinbarung mit einer ausländischen Hochschule ergänzend zum Diplom einen Master-Abschluß (z.B. Master of Arts, Master of Science u.a.) zu vergeben.« (Vgl. Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft 1996) Das politische Feld in Deutschland orientierte die Hochschulreform des letzten Jahrzehnts im Wesentlichen an solchen Forderungen aus dem ökonomischen Feld, ein Symptom für den Verlust seiner Autonomie. 16 | Dies geht aus der Studie von Ravinet (2005) hervor, in der die entscheidende Rolle des französischen (Claude Allègre) und des deutschen Bildungsministers (Jürgen Rüttgers) für das Zustandekommen der Sorbonne Deklaration des Jahres 1998, die den Bologna-Prozess einleitete, nachgewiesen wird (vgl. auch Witte 2006a). 17 | Die Ziele der Bologna-Erklärung aus dem Jahre 1999 lauten in verknapp-

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Das unternehmerische Selbst? | 261 ter Form: 1. Europaweites Studiensystem leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse, inkl. eines Diplomzusatzes (diploma supplement), 2. europaweite Gliederung des Studiensystems in zwei Hauptzyklen (undergraduate und graduate), 3. Einführung eines Leistungspunktsystems ähnlich dem ECTS, das den Erwerb von Punkten (credits) in- und außerhalb des Hochschulsystems ermöglicht, 4. Beseitigung von Hindernissen, die der Freizügigkeit von Studierenden, Lehr-, Forschungsund Verwaltungspersonal im Wege stehen, 5. Förderung der europäischen Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung durch vergleichbare Kriterien und Methoden, 6. Förderung der »europäischen Dimension« durch europäische Curricula-Inhalte, Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, gemeinsame Abschlüsse. In Prag kamen 2001 noch hinzu: 7. die Anerkennung lebenslangen Lernens, 8. die Einbeziehung von Studierenden und Hochschulen in den Prozess und 9. die Erhöhung der Attraktivität des europäischen Hochschulraumes für Studierende aus Europa und der ganzen Welt. Zum Bologna-Prozess vgl. Keller (2004), Witte (2006a; 2006b). 18 | So z.B. in einem speziell der Zukunft der europäischen Universitäten gewidmeten Dokument der EU-Kommission, in dem es heißt: »The European Union therefore needs a healthy and flourishing university world. Europe needs excellence in its universities, to optimise the processes which underpin the knowledge society and meet the target, set out by the European Council in Lisbon, of becoming the most competitive and dynamic knowledge-based economy in the world, capable of sustainable economic growth with more and better jobs and greater social cohesion.« (European Commission 2003: 1) 2001 wurde die EU-Kommission förmlich in den Reformprozess integriert und 2003 wird im Berliner Kommuniqué des Bologna-Prozesses bereits auf die Lissabon-Beschlüsse des Europäischen Rates verwiesen.

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Im Schatten des Homo oeconomicus. Subjektmodelle »am Lebensende« zwischen Einwilligungs(un)fähigkeit und Ökonomisierung Stefanie Graefe

Die praktisch weltweit erfolgreiche Durchsetzung des neoliberalen Gesellschaftsprojektes verdankt sich – so eine zentrale Erkenntnis der Debatte um Gouvernementalität, wie sie im Anschluss an Foucaults Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität (2004) am Collège de France aus den Jahren 1977 bis 1979 geführt wird – entscheidend einem ganz bestimmten Konzept davon, wie Menschen, aber auch private und staatliche Institutionen, Städte und sogar Staaten handeln. Gemeint ist das Konzept des »Unternehmers seiner selbst«.1 Dieses lässt sich mit Foucault als Neufassung des in der klassisch liberalen Theorie noch nicht als Unternehmer, sondern als Tauschpartner konzipierten Homo oeconomicus verstehen (vgl. ebd.: 314). Der Homo oeconomicus liefert ein »Raster, Schema und Modell« (ebd.: 368), das der neoliberalen Neufassung gemäß nicht nur auf jeden ökonomischen, sondern auch auf jeden sozialen Akteur anwendbar ist. Jedes subjektive Verhalten kann demzufolge als Gegenstand ökonomischer Analyse gedacht werden (ebd.: 269). Dennoch ist die neoliberale Theorie selbst keine Subjekttheorie: »Man faßt das Subjekt nur insofern auf, als es ein Homo oeconomicus ist, was nicht bedeutet, daß das ganze Subjekt als Homo oeconomicus betrachtet wird.« (Ebd.: 349) Das theoretische Problemfeld, das Foucault mit der Analyse neoliberalen Denkens in seinen Gouvernementalitäts-Vorlesungen aufgespannt hat, bestimmt heute großflächig die politische Realität. Die konkrete Erfahrung neoliberaler Hegemonie lehrt uns täglich, dass alles und alle als ökonomisch handelnde Subjekte zu denken, anzusprechen und zum Handeln zu bewegen, also: zu regieren sind. In dem Maße, in dem Männer und Frauen, Alte und Junge, Arme und Reiche, Stadt- und Landbewohnerinnen, Ar-

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268 | Stefanie Graefe beiter, Angestellte, Freiberufler, Erwerbslose und Rentnerinnen selbstverantwortliche »Unternehmer« sein oder wenigstens werden wollen sollen, werden sie eingepasst in ein Set von Regierungstechniken, deren gemeinsamer Fluchtpunkt »die Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship bildet« (Bröckling 2002: 9) – und das Raster des Homo oeconomicus fungiert offenbar recht effektiv als alltagswirksame Quasi-Anthropologie. Elementare Glaubenssätze dieser Ausund Zurichtung der Lebensführung finden sich in einer inzwischen schier uferlosen Fülle von Ratgebern zur Selbstvermarktung und -optimierung, die Erfolgs-, Kunden- und Leistungsorientierung, Innovation und immer wieder Nonkonformismus predigen. Selbstverantwortlich und kreativ lebenslang an sich zu arbeiten, ist diesen Glaubenssätzen zufolge eine notwendige Investition ins eigene Humankapital; nur so lasse sich persönlicher Erfolg auf dem in allen Bereichen des sozialen Lebens regierenden »Markt« sichern. Der Unternehmer seiner selbst ist aber mehr als ein Verkaufsschlager aus der Rubrik »Lebenshilfe«, so eine zentrale Erkenntnis der aktuellen Gouvernementalitätsdebatte. Er steht für eine – wenn nicht gar die – gegenwärtig hegemoniale Form der Subjektivierung (vgl. Lemke/Bröckling/ Krasmann 2000: 29f.). Was aber heißt in diesem Zusammenhang »Subjektivierung«? Diese Frage ist nicht Thema der Gouvernementalitätsvorlesungen; Foucault kommt später auf sie zurück, wenn er in einer Art »unausgesprochenen Berufung« (Charim 2002: 13) auf die Ideologietheorie Louis Althussers von einer »Machtform« spricht, »die aus Individuen Subjekte macht«, was heißt: »vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein« (Foucault [1982] 1994: 246f.). Damit ruft Foucault die dem Begriff »Subjekt« und dem theoretischen Problem der Subjektivierung eingeschriebene Spannung aus »Ermächtigung« und »Unterwerfung« zwar auf. Er entwickelt sie jedoch nicht systematisch weiter (vgl. Opitz 2004: 80), sondern wendet sich den historisch konkreten Kämpfen um und gegen Subjektivierung zu, wie sie sich im Zuge des Aufstiegs der abendländischen »Pastoralmacht« seit dem 16. Jahrhundert entfaltet haben, sowie historisch konkreten Formen der Lebensführung und der Selbstverhältnisse. Althussers Konzeption der »Anrufung« bietet eine Möglichkeit, die subjekttheoretische Perspektive auf die von Foucault untersuchten Subjektivierungsweisen zu schärfen. Insofern ist der Vorschlag produktiv, die Art und Weise, wie aus Menschen »Unternehmer ihrer selbst« werden, in Anlehnung an Althusser als »Anrufung« zu verstehen (Bröckling 2002: 7; Opitz 2004: 148ff.) und damit beide Perspektiven auf den Prozess der Subjektivierung zu verbinden. Diesem Vorschlag zufolge produzieren neoliberale Regierungstechnologien eine »Rationalität des Unternehmerischen«, die Formen der Selbst-

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führung mit Formen der Regierung anderer verbindet (Opitz 2004: 150) und in deren Rahmen Menschen als Subjekte eines unternehmerischen, marktkonformen Lebens angerufen werden. Die neoliberale »Ökonomisierung des Sozialen« (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000) setzt sich demnach als Ökonomisierung des Selbst ins Werk: Menschen, Unternehmen und Institutionen werden als ökonomisch handelnde Subjekte konzipiert. Versteht man die Unternehmerin ihrer selbst jedoch als einen gegenwärtig hegemonialen Modus von Subjektivierung, so führt das über die Begriffe »Raster, Schema und Modell« (Foucault 2004: 368) hinaus: Während ein »Raster« ein zweidimensionales Gebilde ist, das einem Objekt lediglich auf- oder angelegt werden kann, schreibt sich die Figur des selbstunternehmerischen Subjektes, sofern sie Subjektivierungsmodus ist, in die Individuen ein, gelangt unter ihre Haut, wird sozusagen »Fleisch«. Insofern lässt sich die Überschrift für Foucaults 1978/1979er Vorlesung – Die Geburt der Biopolitik – auch so verstehen: Wenn Biopolitik, wie Foucault gezeigt hat, »leben machen und sterben lassen« (Foucault [1997] 1999: 284) ist, dann versteht der Neoliberalismus »leben zu machen«, indem er Individuen als Subjekte einer ökonomischen Lebensführung anruft und damit das Leben ebenso in seiner sozial-produktiven wie in seiner biologischreproduktiven Dimension zum Gegenstand ökonomischer Kalkulation und regulierender Vorsorge macht. Wenn die Figur des unternehmerischen Selbst jedoch derart umfassend »leben macht«, dann müssen ihre Spuren auch in solchen Ansprachen zu finden sein, die nicht – wie die Selbstmanagement-Ratgeber beispielsweise – ganz explizit eben dieses Unternehmertum zum Thema haben. »Das Unternehmerische« muss dann vielmehr latent auch dort vorhanden und mobilisierbar sein, wo von ihm explizit keine Rede ist. Von dieser Überlegung ausgehend möchte ich im Folgenden den Vorschlag, die Unternehmerin ihrer selbst als Modus von Anrufung zu denken, aufgreifen und ihm in zwei Schritten weiter nachgehen. Dazu werde ich zunächst auf Althussers 1970 entwickelte Konzeption eingehen und überlegen, inwiefern sich diese auf die gegenwärtige Erfahrung neoliberaler Gouvernementalität übertragen lässt. Im Anschluss möchte ich die Reichweite der Figur des unternehmerischen Subjekts von ihren Rändern her befragen, nämlich dort, wo das Prinzip des ökonomischen »leben machen« übergeht in eine Gouvernementalität des »sterben lassen« – am Beispiel der im aktuellen Diskurs um die Legalisierung von Sterbehilfe in Deutschland zentralen Figur der »autonomen Patientin am Lebensende«. Dabei interessiert mich vor allem, inwiefern sich auch hier Elemente einer »Ökonomisierung des Selbst« finden lassen.

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Eine einfache Wendung um 180 Grad Die ideologische Anrufung, wie Althusser sie beschreibt, ist ein Sprechakt2, der die Macht hat, Identität(en) zu stiften und gesellschaftliche Plätze zuzuweisen: Qua Anrufung erkennt das Individuum, wer es und zugleich wo der soziale Ort ist, an dem es »sich wissen« und von dem aus es handeln kann. Althusser beschreibt den Vorgang der Anrufung in einer paradigmatischen Szene. Ein Polizist ruft auf der Straße: »He, Sie da!« Das angesprochene Individuum wendet sich um und erkennt damit an, dass der Anruf ihm gilt, dass es ansprechbar ist, dass es existiert: »Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt.« (Althusser 1977: 143) Das Individuum wird also im Moment einer »freiwilligen« Unterwerfung unter die Autorität des Gesetzes Subjekt.3 Allerdings betont Althusser, dass die zeitliche Abfolge Anrufung-Umwendung-Subjektivierung trügt; tatsächlich sei die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte ein und dasselbe: »Die Individuen sind immer-schon Subjekte.« (Ebd.: 144) Die paradoxe Zeitlichkeit des Subjektivierungsprozesses bewirkt, dass der zugewiesene soziale Ort vom angerufenen Subjekt »immer-schon« (ebd.) eingenommen ist und zugleich im Moment der Anrufung als »immer-schon« eingenommener Platz erst hervorgebracht wird. Dabei verläuft der Prozess der Anrufung nicht einseitig. Althusser führt am Beispiel der Benennung von Petrus durch Gott aus, dass zwischen SUBJEKT (Gott) und Subjekt (Petrus) ein spiegelbildliches Verhältnis existiert. Beide sind aufeinander angewiesen: das Subjekt, das erst durch die Unterwerfung durch das SUBJEKT handlungsfähig wird, und das SUBJEKT, das seinerseits erst durch die Unterwerfung des Subjektes als SUBJEKT erkennbar wird. Diese spiegelhafte Verdoppelung ist konstitutiv für die Ideologie und gewährleistet ihre Funktionsweise (Althusser 1977: 147). Indem das Individuum die anrufende Instanz und damit sich selbst als Subjekt anerkennt, verkennt es zugleich die Prozeduren seiner Konstitution (ausführlich dazu Charim 2002: 149ff.). In diesem Sinne wird ihm einerseits »ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen« (Foucault [1982] 1994: 246), und andererseits affirmiert es selbst dieses Gesetz und garantiert so seine Fortdauer. Ideologie ist in dieser Perspektive keine verzerrte Repräsentation von Wirklichkeit, sondern eine doppelte Möglichkeitsbedingung: Sie ermöglicht und erzwingt subjektives Handeln ebenso wie die Re-/Produktion gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse – eine Möglichkeitsbedingung, die sich, wie sich mit Foucault sagen lässt, erst in der Gegenwart voll entfaltet, nämlich in der »gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen« im gouvernementalen Staat (ebd.: 250). Anrufung ist also ein Vorgang, der die Umwendung des angesprochenen Individuums, genauer gesagt: seine Bereitschaft zur Umwendung eben-

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so voraussetzt wie er sie immer wieder neu hervorbringt. Umgekehrt wäre eine Anrufung ohne Umwendung ein »Raster«, das Individuen zwar aufoder angelegt, das aber eben nicht »Fleisch«, sprich: Subjekt wird. Die Anrufungsszene, die Althusser beschreibt, lebt also davon, dass der Ruf auf der Seite der Subjekte einen »Willen zum Werden« aktiviert, der der Szene ebenso wenig als ursprüngliche Essenz vorausgeht, wie er umgekehrt ihr bloßer Effekt ist: Macht der Anrufung und Bereitschaft zur Umwendung bedingen einander. Wenn im Kontext neoliberaler Gouvernementalität die ständigen Aufforderungen, ein unternehmerisches Selbst zu sein, also den Platz der »Stimme des Gesetzes« bei Althusser einnehmen, so ist zu klären, in welcher Weise sich »das Subjekt« umwendet, um den Ruf anzunehmen. Althussers Modell der Anrufung ist eine Allegorie auf den prinzipiellen Vorgang der Subjektkonstitution (vgl. Butler 2001: 101) unabhängig von seiner jeweiligen historischen Konkretion: Die Ideologie »hat keine Geschichte« (Althusser 1977: 140). Verwendet man dieses Modell nun für die Beschreibung konkreter, zeiträumlich begrenzter Formen der Subjektformung, so muss das allegorische Setting diesen angepasst werden und die prinzipielle, quasi »technische« Bedingung, wonach Anrufung ohne Umwendung nicht denkbar ist, muss als konkrete Anfälligkeit von Menschen, sich in dieser oder jener Form als Subjekte anrufen zu lassen, gedacht werden. Bei Althusser ertönt der subjektivierende Ruf aus dem Mund eines Staatsbeamten als Vertreter des Gesetzes in der einen Szene, aus dem des allmächtigen Gottes in der anderen. Damit bringt er das Register von Gehorsam, Schuld und Disziplin ins Spiel, dessen Decodierung doch offenbar eine grundlegende Bedingung der Wirksamkeit neoliberaler Gouvernementalität ist: »Der ›Unternehmer seiner selbst‹ löst das Disziplinarindividuum ab, den innengeleiteten Charakter, der […] sein Handeln nach Wertorientierungen und Moralvorstellungen ausrichten muss, eingezwungen in das Korsett von Identität und Gewissen(-sbissen).« (Krasmann 1999: 113)

Ein »gutes Subjekt« (vgl. Althusser 1977: 148)4 ist im Kontext neoliberaler Gouvernementalität also nicht passiv-gehorsam, sondern umfassend aktiv(iert) und willens, die Grenzen des Üblichen zu überwinden: »Entscheidend ist das Moment der Differenz zu dem, was bereits existiert.« (Bröckling 2004: 142) Demnach liegt die paradoxe Struktur des neoliberalen Selbst darin, dass es seine Konformität mit dem hegemonialen Ruf aus seiner unverwechselbaren Individualität und damit aus der Verweigerung von Konformität bezieht. Anders Althussers allegorisches Subjekt: Es gehorcht – nicht minder paradox –, um die ihm »immer-schon« aufgeladene, deshalb letztlich nie abzutragende Schuld der Abweichung zu erleichtern; es wird handlungsfähig, indem es zwischen dem Begehren nach Anerken-

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272 | Stefanie Graefe nung (von Identität, Zugehörigkeit und Kohärenz) und der Angst vor Verurteilung (durch das Gesetz) hin- und herpendelt. Begehren und Angst sind demnach in Althussers Modell die zentralen Kanäle, durch die sich die Macht der Anrufung mit der subjektiven Bereitschaft zur Umwendung verbindet (vgl. Butler 2001: 101ff.). Wenn nun das unternehmerische Selbst des Neoliberalismus ein Subjektivierungsangebot im Sinne Althussers ist, dann muss sich das von Althusser beschriebene Doppelspiel aus Angst und Begehren aus dem Register Schuld/Gesetz lösen und in das Register Individualität/Originalität übersetzen lassen. Welche Formen also nimmt die Bereitschaft, sich als Subjekt anrufen zu lassen, im Rahmen gegenwärtiger Gouvernementalität an?

Die Angst, nur man selbst zu sein Der französische Soziologe Alain Ehrenberg geht davon aus, dass die Differenz zwischen einer auf »Schuld/Gehorsam« und einer auf »Erfüllung/Individualität« basierenden Konzeption des Selbst der Differenz zwischen der französischen und der US-amerikanischen psychoanalytischen Tradition entspricht, wobei Letztere vor allem darauf abziele, »den Menschen zu ermöglichen, sich aus sich selbst heraus zu verbessern« (Ehrenberg 2004: 260). Dabei ist die nationale Herkunft der Konzeptionen weniger von Belang als die Unterscheidung selbst, die zugleich eine historische Verschiebung markiert. So sicherten sich die Institutionen der Disziplinargesellschaft durch die Implementierung von »Schuld« Zugriff auf das Ungezähmte und Triebhafte, wobei sie auf das »Wissen« der Subjekte um ihre eigene »Schuldigkeit« zurückgriffen: »Um den Menschen mit seinen Konflikten kümmerte sich ein Außen, das höher stand als er selbst, er war einem Gesetz und einer strengen Hierarchie unterworfen, sein Körper durch Disziplin gezähmt. Der Begriff Gesetz verweist auf die Bedingung der Freiheit und auf soziale Kontrolle. Er sorgt dafür, dass im Subjekt wie in der Gesellschaft Ordnung herrscht. Eine Kultur des Verbots und des Gehorsams zielt auf Hemmung, sie macht es möglich, die persönlichen Ambitionen der breiten Masse im Zaum zu halten.« (Ebd.: 261)

Gerade die »persönlichen Ambitionen« aber bilden einen zentralen Ankerpunkt neoliberaler Gouvernementalität – oder, so Ehrenberg: Individuen werden in einer Gesellschaft der »persönlichen Initiative und der psychischen Befreiung« gezwungen, um jeden Preis zu handeln und sich dabei auf ihre inneren Antriebe zu stützen (Ehrenberg 2004: 266). Sie wollen wissen, was möglich ist; ob es »erlaubt« oder »verboten« ist, interessiert dabei vergleichsweise wenig. Soviel Tatkraft hat ihren Preis: Es ist das depressive und »erschöpfte Selbst«, an dem nach Ehrenberg im »Zeitalter der

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Person« gelitten wird (ebd.: 269); eine Erschöpfung, die ironischerweise darauf zurückgeht, dass das ganze Spiel der Möglichkeiten un-erschöpflich bleibt und das Individuum deshalb an der Aufgabe, alle Chancen der Selbst-Realisierung zu nutzen, scheitern muss. Das erschöpfte Selbst zeigt sich also auf der Rückseite des Imperativs zur permanenten Selbstoptimierung, es ist der »Schatten«, den das unternehmerische Selbst wirft. Und tatsächlich ist die Depression in westlichen Industriestaaten inzwischen zur zweithäufigsten Krankheit (nach HerzKreislauferkrankungen) avanciert (BMBF 2001). Das Bewusstsein des Individuums, »nur es selbst […] und nie genügend mit Identität angefüllt, nie genug in Aktion zu sein« (Ehrenberg 2004: 265), geht auf eine Gouvernementalität zurück, die sich durch eine paradoxe Verbindung aus einem Rückgang von Zwängen mit einem permanenten Zwang zur Ermöglichung auszeichnet. In Bezug auf Althussers Straßenszene lässt sich mit Ehrenberg sagen: Weniger die Angst und die Sehnsucht, (nicht) zu gehorchen, als vielmehr Angst und Sehnsucht, (nur) man selbst zu sein, erhöhen im Rahmen gegenwärtiger Gouvernementalität die Bereitschaft, ein unternehmerisches Selbst zu werden.

Patientenautonomie zwischen Standard- und Optimalvariante Den Spuren dieser Bereitschaft möchte ich entlang einer Äußerung nachgehen, die aus einem Kontext stammt, der der gouvernementalen Zurichtung im Sinne des unternehmerischen Selbst zunächst eher unverdächtig ist: der Debatte um »Patientenautonomie am Lebensende«. Seit dem Jahr 2004 liegt diesbezüglich eine Empfehlung in Form eines Berichts vor, den die von der rot-grünen Bundesregierung einberufene interdisziplinäre Expertenkommission Patientenautonomie am Lebensende erstellt hat. Auf der Grundlage dieser Empfehlung bereitet das Bundesjustizministerium derzeit (Frühjahr 2006) eine gesetzliche Regelung zu Patientenverfügungen und Betreuungsvollmachten vor. Im Kern geht es in dem Referentenentwurf darum, das sich bislang noch in einer rechtlichen Grauzone befindliche Instrument der Patientenverfügung rechtsverbindlich zu machen und den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen beziehungsweise die bewusste Inkaufnahme einer Lebensverkürzung (sogenannte »passive« bzw. »indirekte« Sterbehilfe) nicht nur für »ethisch und rechtlich zulässig« zu erklären, sondern für »geboten«, sofern ein ausdrücklicher oder mutmaßlicher Patientenwille erkennbar ist (AG Patientenautonomie 2004: 13). Eine Patientenverfügung soll ermöglichen, dass potenzielle Patienten noch in »gesunden Tagen« präventiv für Situationen, in denen sie möglicherweise nicht mehr »einwilligungsfähig« sind, über gewünschte und nicht gewünschte medizinische Maßnahmen, inklusive den teilweisen oder

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274 | Stefanie Graefe umfassenden Behandlungs- und Versorgungsabbruch entscheiden; eine Entscheidung, der die behandelnde Ärztin – sind Patientenverfügungen einmal rechtsverbindlich – in jedem Fall Folge zu leisten hat. Es geht dabei keineswegs nur um Sterbesituationen, sondern ausdrücklich auch um Situationen, in denen »das Grundleiden […] noch keinen irreversiblen (unumkehrbaren) tödlichen Verlauf angenommen hat« (AG Patientenautonomie 2004: 9f.), etwa im Falle einer »Nicht-Einwilligungsfähigkeit« durch Wachkoma oder Demenzerkrankung. Das Vorliegen einer Patientenverfügung und die darin implizierte Möglichkeit, bestimmte medizinische Behandlungen inklusive der Basisversorgung »abzuwählen«, wird dabei als Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Patientinnen verstanden. Durch diese Fokussierung auf die Subjektivität verliert das ärztliche Ethos, Leben unter allen Umständen zu erhalten, normativ wie juridisch an Bedeutung. Nicht mehr die Maxime der Lebenserhaltung, sondern die Orientierung an dem dokumentierten oder »mutmaßlichen« Willen der Betroffenen soll zukünftig für die ärztliche Entscheidung über Fortsetzung oder Abbruch von medizinischer Behandlung und/oder pflegerischer Versorgung maßgeblich sein – ausdrücklich und insbesondere auch, wenn diese Entscheidung zum Tod des Patienten führt. Damit öffnet der vorliegende Vorschlag, auch wenn er nicht auf eine Legalisierung der sogenannten »aktiven Sterbehilfe« zielt, im Hinblick auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) und das sich daraus ableitende Tötungsverbot einen Bereich der Ausnahme, der durch die individuelle und »autonome« Entscheidung des Patienten konstituiert wird. »Auf allgemeine Wertvorstellungen darf […] nicht zurückgegriffen werden«, empfiehlt die AG Patientenautonomie am Lebensende im letzten Satz ihres Berichts (AG Patientenautonomie 2004: 54). Der Abschied von »allgemeinen Wertvorstellungen« (hier: der Vorrangigkeit des Lebensrechtes) wird als Bedingung für die Stärkung der »Patientenautonomie« konzipiert: Statt überindividueller Norm bildet nun die Subjektivität der Betroffenen den Maßstab für die ärztliche Entscheidung über Leben und Tod. Dieser Verschiebung von »Wertvorstellungen« korrespondiert eine in den 1980er Jahren einsetzende Verschiebung der Rechtsprechung: Sterbehilfe wird seitdem in diversen Gerichtsurteilen nicht mehr als strafrechtliches, sondern als zivilrechtliches Problem aufgeworfen (ausführlich dazu Tolmein 2004). Im Rahmen dieser Verschiebung und »Entkriminalisierung« fungiert das Konzept Patientenverfügung als wichtiger Katalysator.5 Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie eindeutig Patientenverfügungen Ärzten Entscheidungshilfen in Situationen tatsächlicher Nicht-Einwilligungsfähigkeit geben können. Ausführlich befasst sich der Bericht deshalb mit dem Problem, wie der »mutmaßliche Wille« im Falle einer nicht vorhandenen, uneindeutigen oder auf die konkrete Situation nicht anzuwen-

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denden Verfügung zu ermitteln sei. Das Dilemma besteht darin, dass der Zuschnitt auf die je individuellen Wünsche der Patientin umso schwieriger wird, je standardisierter Patientenverfügungen sind. Überlässt man aber die konkrete Ausformulierung des eigenen »Willens« den Formulierungskapazitäten medizinischer Laien, stellt sich die Frage nach der Aussagekraft der Patientenverfügung. Inzwischen liegt – ausgehend wiederum von dem Bericht der Expertenkommission – ein Vorschlag für eine vereinheitlichte Patientenverfügung vor, der als »Konsensmodell« in die inzwischen unübersichtliche Menge an Angeboten diverser Verbände eine Schneise schlagen und den diesbezüglichen »Wildwuchs« beenden soll. Dieser Vorschlag umfasst zwei Varianten: die »Ankreuzvariante« mit Ja-Nein-Optionen sowie die »Standard-Variante einer Patientenverfügung« in Dokumentenform mit Ja-Nein-Optionen plus Textbausteinen (HVD 2006). Als »Optimal-Variante« gilt zwar eine »individuell-konkrete Patientenverfügung« im selbst formulierten Fließtext, die »situationsbezogene Abwägungen und Wertvorstellungen schlüssig und widerspruchsfrei als integralen Bestandteil enthält« (ebd.: 4). Doch aufgrund der oben beschriebenen Schwierigkeiten werden sich die meisten Anwender wohl für Variante eins oder zwei entscheiden. Auch für die »Standard-Variante« wird deshalb eine Ergänzung um »Zusatzangaben und Wertvorstellungen auf einem Zusatzblatt« empfohlen, und Textvorschläge werden als Erstellungshilfe angeboten. Diese Zusatzangaben sollen, dem Vorschlag der Expertenkommission gemäß, die Ermittlung des »mutmaßlichen Willens« der betreffenden Person in Bezug auf Weiterbehandlung oder Behandlungs- beziehungsweise Versorgungsabbruch erleichtern. Die folgende Äußerung stammt aus dem Bericht der Expertenkommission; sie wird dort als Textbeispiel für eine »Zusatzangabe« über die eigenen »Wertvorstellungen« aufgeführt. Die Sprecherin ist »Lieselotte Beispiel«, geboren 1926, eine fiktive Person, die erklärt: »Als Interpretationshilfe zu meiner Patientenverfügung habe ich eine Darstellung meiner allgemeinen Wertvorstellungen beigelegt. […] Meine Wertvorstellungen: Ich gehe nun auf meinen 80. Geburtstag zu und habe ein abwechslungsreiches Leben geführt. Meine Kinder und Enkel sind alle schon im Beruf und weggezogen, aber ich bin sehr stolz auf sie. […] Körperliche Beschwernisse und Untätigkeit zu ertragen, wie nach meiner Operation, fällt mir schwer, aber ich kann es aushalten. Ich kann auch fremde Hilfe annehmen. Unerträglich ist mir aber die Vorstellung, geistig nicht mehr fit und dann auf Hilfe angewiesen zu sein. Ich habe bei meiner Freundin gesehen, wie sie sich mit ihrer Demenz verändert hat. So möchte ich nicht leben. […] Wenn ich einmal so verwirrt bin, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin, wo ich bin und Familie und Freunde nicht mehr erkenne, so soll es dann auch nicht mehr lange dauern, bis ich sterbe. Daher möchte ich dann keine Behandlung und keine Maschinen, die mein Sterben nur hinauszögern. Die ganzen Schläuche und die ganzen Apparate machen mir Angst, und ich möchte auch nicht mehr vom Not-

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276 | Stefanie Graefe arzt reanimiert werden, weil es doch auch mal gut sein soll, wenn mein Herz zu schlagen aufgehört hat.« (AG Patientenautonomie 2004: 38)

Lieselotte Beispiel artikuliert hier die Sorge darum, »geistig nicht mehr fit«, »auf Hilfe angewiesen« und »verwirrt« zu sein. Ausgehend von ihrer Beobachtung der Demenzkrankheit ihrer Freundin weiß sie, dass sie »so nicht leben möchte«. Der Textbaustein lässt an dieser Stelle offen, welche konkrete ärztliche Entscheidung im Falle welcher Diagnose Lieselotte Beispiels Aussage, »die ganzen Apparate machen mir Angst« beziehungsweise »keine Behandlung und keine Maschinen« erleichtern soll. Die fiktive Äußerung Lieselotte Beispiels lässt sich deshalb als performativer Sprechakt verstehen, der – auf einer ersten Ebene – den Nutzern von Patientenverfügungen vor allem verdeutlichen soll, dass es hier »wirklich« um ihre Individualität (ihre Sprache, ihre Ängste, ihre Entscheidungen) geht. Auf einer zweiten, vielleicht wichtigeren Ebene, bekräftigt dieser Sprechakt außerdem die Möglichkeit der vollständigen Ermittlung von Individualität – ob mit Ankreuz- oder Optimal-Variante: Kein Zweifel besteht offenbar darüber, dass »Lieselotte Beispiel« hier »widerspruchsfrei« artikuliert, was sie »will«, und sicher scheint zudem, dass dieser »Wille« auch durch existenzielle Erfahrungen wie Wachkoma, Demenz oder Sterben nicht ins Wanken gerät.

Der Wille zur Entscheidung Wenn es sich bei der Patientenverfügung um eine Anrufung handelt, was für ein Subjekt wird dann hier angerufen? Zunächst: ein vorausschauend planendes, ein Lebensqualitäten gegen Lebenszeiten abwägendes und ein risikofreudiges Subjekt. Patientenverfügungen erfordern »die Bereitschaft das Risiko zu tragen, entweder durch einen Behandlungsverzicht unter Umständen auf ein Weiterleben zu verzichten oder für eine Chance, weiter zu leben, auch Abhängigkeit und Fremdbestimmung in Kauf zu nehmen« (AG Patientenautonomie 2004: 21).

»Abhängigkeit und Fremdbestimmung« bilden hier also das Gegenstück der Bereitschaft zum Risiko. Das Subjekt der Patientenverfügung ist außerdem ein zukünftig zwar möglicherweise nicht einwilligungsfähiges Subjekt, das dennoch nicht nur einen Willen hat, sondern vor allem auch willens ist, existenzielle Entscheidungen zu fällen. Materielle Zwänge spielen in der Logik der Konstruktion ebenso wenig eine Rolle wie der Gehorsam einem offen oder heimlich geltenden »Gesetz« gegenüber. Tatsächlich nimmt dieses – ideale – Subjekt der Patientenverfügung vielmehr umgekehrt das Gesetz für die Wahrung seiner Interessen in Anspruch. Lieselotte

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Beispiel ist, mit anderen Worten, eine selbstbewusste Person, die die medizinische »Last des Möglichen« (Ehrenberg 2004: 275) als Chance begreift und für sich selbst das Recht reklamiert, aus allen Optionen auch den willentlich herbeigeführten und ärztlich-richterlich assistierten Tod wählen zu können. Aus dem Patientensubjekt, das sich geduldig-gehorsam der Autorität der Medizin fügt, wird ein selbstbewusst, präventiv und rational planendes Subjekt, das auch den eigenen Tod vorausschauend »managt«. Zugleich spricht aus Lieselotte Beispiels Worten aber auch Angst – Angst vor dem Verwirrtsein, vor dem auf Hilfe-angewiesen-Sein, kurz: Angst davor, das eigene Leben nicht mehr selbständig regulieren zu können, vor Abhängigkeit von anderen. Die Patientenverfügung empfiehlt sich als Angebot, diese Angst zu bewältigen, indem sie die Maxime der »persönlichen Initiative« (Ehrenberg 2004: 272) auch in Situationen hinein verlängert, in denen die Kategorien »Initiative«, aber auch »Autonomie« und »Souveränität« äußerst prekär werden. Vom Unternehmerischen beziehungsweise von Ökonomie im engeren Sinne6 findet sich in der Äußerung von Lieselotte Beispiel ebenso wenig eine Spur wie im ganzen Bericht der Expertenkommission Patientenautonomie am Lebensende. Gleichwohl wird dieser Vorschlag vorgelegt in einer Zeit, in der nicht zufällig davon die Rede ist, dass sich die Kategorie »Patient« grundlegend verändert hat: Aus Patienten seien längst »Kunden« geworden, deren »Unersättlichkeit« es in Grenzen zu halten gelte (vgl. Kühn 2003: 95). Den Hintergrund dafür bildet die Umstrukturierung des Gesundheitswesens seit Anfang der 1980er Jahre, die sich grob als Verschiebung vom Prinzip solidarischer Risikoteilung zum Prinzip Eigenverantwortung verstehen lässt. Dies führt nicht zuletzt zu einer »Veränderung der gesellschaftlichen Alltagsmoral« (PROKLA-Redaktion 2003: 362): Krankheit, Versehrtheit und Pflegebedürftigkeit werden zunehmend als individuelle Risiken verstanden, die individuell-präventiv zu regulieren sind. Während Krankenhäuser und Patienten im ökonomisierten Gesundheitswesen als rational handelnde Marktteilnehmer erscheinen, die ihr gegenwärtiges und zukünftiges Handeln vorausschauend entlang standardisierter Parameter kalkulieren, ist auf der anderen Seite von »Pflegenotstand« beziehungsweise einer »kalkulierte[n] Unterversorgung« (Feyerabend 2004) Pflegebedürftiger in Altenpflegeheimen und Privathaushalten die Rede. Während die Arbeitsbelastung des Pflegepersonals in Einrichtungen einerseits kontinuierlich steigt, ist die Diskrepanz zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung und den Kosten für einen Platz im Pflegeheim andererseits durch die Rente der Patienten oftmals nicht zu decken, weshalb der größte Teil der rund zwei Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause und überwiegend oder ganz von Angehörigen versorgt wird. Für die pflegenden Angehörigen ist diese Situation oft ebenso in finanzieller wie in emotionaler Hinsicht belastend – und diese Belastung wird durch den mit der neoliberalen Reorganisation des Sozialen ein-

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278 | Stefanie Graefe hergehenden Abbau sozialer Sicherungen für Alter, Krankheit, Erwerbslosigkeit zukünftig noch steigen. Das in dem Angebot der Patientenverfügung implizierte Versprechen, auch noch am Ende des Lebens ganz »man selbst« sein zu dürfen, wird dem Individuum vom Staat also vor dem Hintergrund der sukzessiven Demontage des Solidaritätsprinzips und damit einer weitgehend verlässlichen Struktur sozialer Ver- und Absicherung gegeben. Und vor eben diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was Lieselotte Beispiel angesichts der erwartbaren Lebensverhältnisse der weniger wohlhabenden zukünftigen Alten, Kranken, Demenzkranken und deren Angehörigen genau meint, wenn sie insistiert: »So möchte ich nicht leben« (s.o.; Hervorh. S.G). Was die Einstellungen von Ärzten und Pflegekräften angeht, belegt eine Untersuchung, dass die »Berufszufriedenheit der Befragten und die erlebte Vorsorge von PatientInnen am eigenen Arbeitsplatz« die zwei bedeutsamen Variablen bei der Entscheidungsfindung für oder gegen aktive Sterbehilfe sind, das heißt: Je höher die Zufriedenheit und je besser die Patientenversorgung, umso weniger wird aktive Sterbehilfe befürwortet (Böttger-Kessler 2006). Allerdings trägt auch das Vorliegen einer Patientenverfügung dazu bei, dass die aktive Tötung des betreffenden Patienten eher befürwortet wird. Belegt ist auch, dass die Verbetrieblichung der Krankenhäuser zwangsläufig die Notwendigkeit einer »Patientenselektion« nach ökonomischen Kriterien provoziert, die von den Akteuren gegen Berufsethos und individuelle Handlungsorientierungen abgewogen werden muss (Kuhlmann 1998). Und in eben dem Maße, in dem ökonomisch motivierte Entscheidungen über Patientinnen getroffen werden, schwindet das Potenzial von »Patientenautonomie« (vgl. Kühn 2003: 94). Die Korrelation dieser Faktoren zum angestrebten Ziel der Stärkung des individuellen Selbstbestimmungsrechts am Lebensende wird in den vorliegenden Vorschlägen zur Legalisierung von Patientenverfügung und Sterbehilfe dennoch nicht thematisiert. Das im Angebot Patientenverfügung implizierte Versprechen, »Autonomie« sichern zu können, ohne sozioökonomische »Zwänge« thematisieren zu müssen, reduziert die Komplexität des sozialen Subjektes »Patient« vielmehr auf den Moment und auf die Option der individuellen Entscheidung. Wird die Dimension der Ökonomisierung und ihrer sozialen Konsequenzen derart ausgeblendet oder lediglich auf die Möglichkeit der Artikulation »subjektiver Ängste« verwiesen, dann lässt sich dies als stillschweigende Adressierung eines rationalen Selbst verstehen, dessen »Entrepreneurship« sich gerade in dem Schweigen über die Option der Prekarisierung zeigt. Anders gesagt: Die Thematisierung einer vom Ökonomischen unberührten »Patientenautonomie« ist ein performativer Sprechakt, insofern hier die Trennbarkeit der »ethischen« von der »ökonomischen« Dimension postuliert und re-/produziert wird. Aus dieser Sicht lässt sich die Aussage von Lieselotte Beispiel auch als eine – wenngleich unbeabsichtigte – faktische Bearbeitung der neolibe-

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ralen Demontage sozialer Rechte (hier: auf umfassende Gesundheitsversorgung, abgesichertes Altwerden, ausreichende Pflege) deuten. Das ideale Subjekt der Patientenverfügung ist also paradox: Es bringt gegen den Staat und dessen kodifizierte »allgemeine Wertvorstellungen« seine unverwechselbare Individualität ins Spiel, verlangt aber nach einem Gesetz, das dieses Spiel juridisch fixiert. Es folgt der Stimme seines ganz und gar »eigenen Willens«, die aber spricht in Ankreuzoptionen, Textbausteinen und Standardformulierungen. Es ist einerseits flexibel – Patientenverfügungen sollen, so die Empfehlung, regelmäßig erneuert werden, um die Aktualität der jeweils angegebenen Wünsche zu gewährleisten – und verfügt andererseits über eine Art unveränderlichen Subjektkern, der garantiert, dass auch die denkbar existenziellste Veränderung, die Menschen üblicherweise erleben, nämlich der Übergang vom Leben zum Tod, an dem zuvor »widerspruchsfrei« dokumentierten »Willen« nicht rüttelt. Diese letzte Paradoxie bietet zugleich den Punkt, an dem sich Subjekt, (»mutmaßlicher«) Wille und Ökonomisierung leicht ineinander verhaken. So blendet die Diskussion um Patientenverfügungen aus, dass auch ein schwer Kranker zwei Tage vor seinem Tod eine Qualität in seinem Leben sehen kann, die er, als er noch gesund war, nicht für möglich gehalten hätte (vgl. Böttger-Kessler 2006: 2). Und gleichzeitig setzt das »Gerede von Rentnerschwemme, Soziallasten und Kosten […] alle unter Druck, die alt, krank und gebrechlich sind. Sollte Sterbehilfe legal werden, wird man sich rechtfertigen müssen – auch gegenüber der Allgemeinheit, da Pflege nun mal teuer ist.« (Ebd.)

Das unternehmerische Selbst als prekäre, umkämpfte Figur Wo Motivation, Entscheidungsfreudigkeit und maximales empowerment als Parameter besonders gelungenen Subjektseins gelten, wo die Angst, am Imperativ der Ermöglichung zu scheitern, Depressionen verursacht, da verkörpern vielleicht besonders Komapatienten, Demenzkranke und sonstige »Nicht-Einwilligungsfähige« das bedrohliche »Andere« (vgl. GeikenWeigt/Gundert-Buch/Rudhof/Sander 2005: 27). Bedrohlich ist es vor allem deshalb, weil es Teil des möglichen eigenen zukünftigen Selbst ist: Der Schatten des rationalen Entscheidungssubjekts, der Schatten des unternehmerischen Subjekts sitzt diesem direkt unter der Haut, und jedes alltägliche Versagen an den ständig steigenden Anforderungen, souveränes Marktsubjekt zu sein und zu bleiben, erinnert daran. Eine präventive Verfügung des Behandlungs- und Versorgungsabbruchs birgt also nicht nur das Versprechen auf Regulierbarkeit ganz konkreter Ängste – vor »Apparatemedizin«, »Übertherapiertwerden«, unnötigen Schmerzen einerseits, vor pflegerischer Unterversorgung oder über-

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280 | Stefanie Graefe mäßiger Belastung von Angehörigen andererseits. Die Patientenverfügung verspricht auch, dass dieser Schatten, dieses »Anderssein«, d.h. das Versagen der eigenen Steuerungs-, Entscheidungs- und damit auch der Marktfähigkeit, wenigstens da, wo es vollständig manifest wird, handhabbar gemacht werden kann und nicht bloß erlitten werden muss. Auf diese Weise unterstützt die im Konzept Patientenautonomie gezogene Grenze zwischen den idealerweise autonomen »Einwilligungsfähigen« und den »Nicht-Einwilligungsfähigen« performativ nicht nur die »Exklusion bestimmter Menschengruppen, allen voran Behinderter und schwerst Kranker«, sondern zugleich die »ideologische Formierung der Inkludierten« (Lettow 2003: 131) – eine Formierung, die beständige Selbstaktivierung als Mittel empfiehlt, um die Angst davor, »auf den Status eines Menschen zurückzufallen« (ebd.: 132) und »nur noch man selbst zu sein«, zu bändigen. Möglichkeiten, »nur noch Mensch« zu sein oder »bis an den Rand der vollständigen Suspension des Subjektstatus« (Opitz 2006: 52) geführt zu werden, gibt es im Zeitalter neoliberaler Hegemonie viele; alt, pflegebedürftig und teuer zu sein, ist nur eine davon. In jenem Bereich, der einstmals »das Soziale« hieß, lässt sich vielmehr eine flexible Suspension sozialer Rechte beobachten, die z.B. illegalisierte Arbeitsmigranten, ALG-IIEmpfängerinnen, integrationsunwillige Einwanderer und Niedriglohnarbeiterinnen betrifft und die als auf Dauer gestellter, »niedrigschwelliger Ausnahmezustand« (Diefenbach 2006) verstanden werden kann. Doch nicht erst da, wo Menschen bereits de facto soziale Rechte aberkannt wurden, sondern auch da, wo man fürchten muss, dass dies irgendwann geschieht, also im Alltag, im Inneren der neoliberalen Normalität, wirkt die Drohung mit dem »nackten Leben« (Agamben 2002). Zwischen der Sorge, das alltägliche Überleben nicht oder nur noch unzureichend sichern zu können und der Sorge, »nur man selbst zu sein«, gibt es zahlreiche Schnittstellen, ohne dass die eine umstandslos in der anderen aufgehen würde. Insofern könnte man zwar mit Ehrenberg annehmen, die »gesellschaftlichen Zwänge« seien zu Gunsten der »psychischen Zwänge« zurückgegangen (Ehrenberg 2004: 271) – tatsächlich aber ist wohl eher davon auszugehen, dass beide Typen von Zwängen »immer-schon« (Althusser 1977: 144) miteinander in Beziehung stehen; eine Beziehung, die sich nunmehr jedoch dadurch auszeichnet, dass sie in einem perfekten Zirkelschluss stets das einzelne und vereinzelte Subjekt als ihren Ausgangs- und Fluchtpunkt re-/produziert. Ist also die Stimme, die uns auffordert, lebenslang unternehmerisch an uns und anderen tätig zu sein, die eines »allmächtigen« SUBJEKTES? Spätestens an dieser Frage wird es notwendig, Althussers Modell der Anrufung gegen den Strich zu lesen. Zum einen in der Erinnerung daran, dass eine Anrufung, wie alle Sprechakte, der Gefahr zu scheitern ausgesetzt ist (Austin 1998; Butler 2001): Jede sprachliche Äußerung ist durch die stets

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virulente, unendliche Menge des (Noch-)Nicht-Gesagten ein riskantes und fragiles Unternehmen; besonders, was die Dauer ihrer Wirksamkeit betrifft. Mitnichten ist also gesagt, dass eine Anrufung exakt vorhersehbare Effekte produziert. Missverständnisse, Einsprüche und Widerstände jeder Art können das Sichtbarwerden dieser strukturellen Fragilität des Anrufungsaktes zusätzlich beschleunigen. Zum anderen ist jede Anrufung auf die bereitwillige Umwendung der angerufenen Subjekte angewiesen. In diesem Sinne ist Freiheit auf Seiten der Subjekte die strukturelle Voraussetzung für Subjektivierung, operiert Macht »auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat«, sofern diese »zum Handeln fähig sind« (Foucault [1982] 1994: 255). »Handeln« unterscheidet sich von »Dressur« nicht nur in Bezug auf den Typus des Verhaltens – Handeln als Entscheidung zwischen verschiedenen Optionen, Dressur als monotone Übung –, sondern auch darin, dass es konstitutiv die Möglichkeit der nur zögerlichen, halbherzigen und eben auch die der verweigerten Folgsamkeit hegemonialen Aufforderungen gegenüber einschließt. Viel spricht deshalb dafür, dass Subjektivität weniger in dem Ruf selbst, als vielmehr in der Kluft zwischen Anrufung und Subjekt entsteht, eine Kluft, die nicht zuletzt auch in der »Unfähigkeit« der Anrufung »zur Bestimmung des konstitutiven Feldes des Menschlichen« (Butler 2001: 121) begründet liegt. Oder, wie Ehrenberg sagt: Die »Zwänge und die Freiheiten verändern« sich zwar, »das Irreduzible« aber verschwindet nicht (Ehrenberg 2004: 277). Konkret heißt das am hier diskutierten Beispiel: Ein Sprechakt, der, wie die rechtlich verbindliche Patientenverfügung, vorgibt, das ganze Möglichkeitsfeld »Lebensende« zu umfassen und zu regulieren, ist fraglos dazu geeignet, »neue Formen juridischer Normativität« (Feyerabend 2000) und damit neue Restriktionen, Anreize und »Notwendigkeiten« zu produzieren. Dabei offeriert die (Selbst-)Adressierung potenziell zukünftiger Nicht-Einwilligungsfähiger als autonome Patientensubjekte nicht zuletzt auch die Möglichkeit einer sprachlich-juridischen Regulierung jener neoliberalen Ökonomisierung des Sozialen, die im Interesse eines kleineren Teils der Gesellschaft einen größer werdenden »überflüssig« macht. Allerdings kann kaum davon ausgegangen werden, dass diese Adressierung bruchlos greift. Nicht nur die Erfahrung, dass es oft gerade die Todkranken sind, die – bei ausreichender und umfassender Schmerzversorgung – keineswegs »euthanasiert« werden wollen; auch die Tatsache, dass sich professionell Pflegende verschiedentlich der Anordnung, Behandlung und/oder Versorgung einzustellen, widersetzen (Winter 2005) – und schließlich auch die Kontroversen um Sterbehilfe, Patientenselektion, »Altersrationierung« etc. selbst verweisen eher auf ein vielfach umkämpftes und von Bruchlinien durchzogenes Terrain als auf ein homogenes Feld der Erfahrung. Eine hegemoniale »Adressierung« ist also nicht dasselbe wie die Pro-

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282 | Stefanie Graefe duktion von Subjektivität – was die Angelegenheit nicht weniger gefährlich macht, denn die hegemoniale (ökonomische, juridische, diskursive) Re-/ Produktion eines derartig mächtigen »Rasters, Schemas oder Modells« (Foucault 2004: 368) wie das des präventiv-rational handelnden Marktsubjektes ist ein überaus schlagkräftiger Einsatz für die Sicherung neoliberaler Hegemonie, ein Einsatz, der zudem auf Seiten der Subjekte potenziell Angst produziert. Diese Angst kann sich im Kontext gegenwärtiger Gouvernementalität zum Beispiel in der Sorge äußern, zur vollständigen Selbstverwirklichung nicht wirklich befähigt zu sein; sie kann ihre hemmende Kraft aber auch aus der realistisch gegebenen Möglichkeit beziehungsweise Erfahrung der Prekarisierung der eigenen Arbeits- und Lebensverhältnisse beziehen.7 Unbestritten handelt es sich bei der Unternehmerin ihrer selbst um ein sehr verbreitetes, befriedendes wie zugleich Angst produzierendes, gerade deshalb aber auch umstrittenes und umkämpftes Subjektmodell beziehungsweise »gesellschaftliches Leitbild« (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 30). Die Bereitschaft der Subjekte, sich von diesem Modell ansprechen zu lassen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, macht also nicht das Ganze ihrer Subjektivität aus. Ebenso wenig resultiert diese Bereitschaft ausschließlich aus Angst. Genauer gesagt: In Ängsten zeigen sich immer auch Formen des Begehrens – zum Beispiel nach subjektiver Handlungsautonomie, die sich in juridisch-formalisierten Standardisierungen nicht erschöpft, oder nach einer grundlegenden Sicherung der Lebensverhältnisse, die nicht nur bei entsprechender Gegenleistung oder Bezahlung gewährt wird, sondern bedingungslos ist und bleibt – auch in Fällen, in denen die Subjekte nach herrschenden Maßstäben völlig »unproduktiv« geworden sind. Ängste und Begehren sind also nicht bloß ein Spiegelbild der herrschenden »Politik der allgemeinen Verunsicherung« (Dieckmann 2006: 61), sondern weisen zugleich über diese hinaus. Auf der Seite der Subjekte stellt sich – anders als im Falle der eingängigen Logik der hegemonialen Beschwörungen – das Problem also viel uneindeutiger dar. Ob hier der »Ruf«, sich lebenslang hoch motiviert selbst zu vermarkten und sich konsequenterweise bei Versagen aller Marktfähigkeit kostengünstig selbst zu entsorgen, tatsächlich schon im Zentrum der subjektiven Sehnsüchte, Ängste und Träume eingeschrieben ist oder ob sich nicht ebenso gut Indizien, wie beispielsweise Guillaume Paoli von den Glücklichen Arbeitslosen feststellt, für einen »tendenziellen Fall der Motivationsrate« (die tageszeitung, 6./7.05. 2006) finden lassen, ist noch offen. Deshalb wäre die Frage nach der »Gültigkeit der Anwendbarkeit dieses Rasters des Homo oeconomicus« (Foucault 2004: 368) auch von dieser Seite aus zu stellen; wäre die Aufmerksamkeit also auch auf solche Erfahrungen von Subjektivität zu richten, die – aller neoliberalen Quasi-Anthropologie zum Trotz – in diesem Raster keinen Platz haben können und wollen.

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Anmerkungen 1 | Ich verwende sowohl generalisierte Maskulina als auch generalisierte Feminina zur Bezeichnung einer Menge von Menschen, deren Geschlecht für den konkreten Zusammenhang keine Rolle spielt. In diesem Sinne bezeichnet »die Unternehmerin ihrer selbst« dasselbe wie »der Unternehmer seiner selbst«; »Patientinnen« dasselbe wie »Patienten«. 2 | »Sprechakt« ist hier in einem weiten Sinne gemeint und bedeutet nicht zwingend, dass gesprochen wird; auch Institutionen, bürokratische Verfahren, Anordnungen sozialer Räume, unausgesprochene (z.B. überlieferte) Erwartungen o.Ä. können »anrufen«. 3 | Der komplexe Begriff der »Freiwilligkeit« bei Althusser lässt sich in folgendem Imperativ veranschaulichen: »Mach die Gesten der Unterwerfung und Du wirst glauben, ein Subjekt zu sein – denn das Subjekt wurde als jenes freiwillige Subjekt definiert, das nicht unterworfen wird, sondern sich (freiwillig) unterwirft.« (Charim 2002: 160) 4 | Althusser spricht hier davon, dass die Subjekte im Allgemeinen »ganz von alleine funktionieren« – mit Ausnahme der »›schlechten Subjekte‹«, die gelegentlich das Eingreifen des Staatsapparates provozierten. 5 | Ein Meilenstein innerhalb dieser Entwicklung ist das 1994 am Bundesgerichtshof gefällte »Kemptener Urteil«. Der BGH hob hier zwei Verurteilungen nach § 213 StGB (minderschwerer Fall von Totschlag) wegen Einstellung der künstlichen Ernährung gegen Sohn und Arzt einer Patientin auf. Dabei verwies er auf den »mutmaßlichen Willen« der Patientin, den das Gericht aufgrund von Aussagen des Sohnes über frühere mündliche Äußerungen der Patientin als bekannt voraussetzte. Die Aufhebung der Urteile wurde auf der Grundlage eines Analogieschlusses ausgehend von § 1904 Betreuungsrecht, der die Einwilligung von Patienten in bestimmte ärztliche Maßnahmen vorschreibt, gefällt. Aus früheren Äußerungen der Patientin, für den Fall der Nicht-Entscheidungsfähigkeit keine »lebensverlängernden« Maßnahmen zu wollen, wurde von diesem Analogie-Schluss ausgehend auf die NichtEinwilligung in die künstliche Ernährung geschlossen. Dies ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen wird »Ernährung« in dieser Begründung zur abwählbaren und potenziell zustimmungspflichtigen medizinischen »Behandlung«. Zum anderen hat der Kemptener Fall »durch seine Behandlung vor dem BGH dem Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung so ein praktisch bedeutsames, ganz neues Anwendungsgebiet für Fälle der Sterbehilfe eröffnet« (Tolmein 2004: 55). 6 | Foucault unterscheidet zwei Bedeutungen von Ökonomie: Ökonomie »im Sinne der politischen Ökonomie und im Sinne der Beschränkung, der Selbstbegrenzung, der Genügsamkeit der Regierung« (Foucault 2004: 372). Beide Dimensionen von Ökonomie – die Ökonomie der Produktionsweisen, Ökonomie des rationalen Handelns – kreuzen sich in der Figur des unternehmerischen Selbst und auch in der hier diskutierten Figur des präventiv handelnden autonomen Patientensubjekts; in diesem Fall ist jedoch nur Letztere explizit sichtbar. 7 | Nichts davon ist historisch wirklich völlig neu; das fordistische Versprechen auf umfassende Sicherheit aller regulierbaren Lebensverhältnisse (bei gleichzeitiger Disziplinierung des Alltags, der sozialen Beziehungen und der Selbstverhältnisse) war vielmehr »aus internationaler und historischer Perspektive eine Ausnahme« (Diefenbach 2006: 55). Neu ist wohl eher, dass das Scheitern vollständig als persönliches Versagen beziehungsweise »Unwilligkeit« gedeutet werden soll.

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Müssen wir die Gesellschaft verteidigen? Gouvernementalität, Zivilgesellschaft und politischer Aktivismus im Anschluss an Foucault Mathieu Potte-Bonneville

Die Perspektiven, die Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität für die Analyse der Zivilgesellschaft* eröffnet, will ich in diesem Beitrag am Beispiel der Debatten untersuchen, die zwei politische Ereignisse der jüngsten Zeit flankierten: das französische Referendum zum Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) im Mai 2005 und die sogenannte Orangene Revolution in der Ukraine Ende 2004. Foucault hat seine Konzepte stets in enger Beziehung zu den Krisen und Widersprüchen entwickelt, die den historischen Kontext seiner Arbeit markierten. Will man die aktuelle Relevanz seiner Arbeit erfassen, muss man folglich in die Gegenwart eintauchen. Diesbezüglich liefern die Paradoxien, die in aktuellen Auseinandersetzungen um die Frage der Zivilgesellschaft sowohl im Westen wie im Osten Europas auftauchen, eine ausgezeichnete Möglichkeit des Zugangs zur »Analyse des Begriffs der ›bürgerlichen Gesellschaft‹«, die Foucault in der letzten Sitzung seiner unter der Überschrift Die Geburt der Biopolitik (2004) veröffentlichten Vorlesungsreihe von 1978/1979 vorgelegt hat. * | Der englische Begriff »civil society« umfasst die Bedeutungen der deutschen Begriffe »Zivilgesellschaft« (im Sinne einer dem Staatsapparat entgegengesetzten aktiven Öffentlichkeit), »Bürgergesellschaft« (im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung, die vom demokratischen Engagement ihrer Mitglieder lebt) und »bürgerliche Gesellschaft« (als analytischer Terminus der politischen Theorie). Weil jedoch die konnotative Differenz zwischen »Bürgergesellschaft« und »Zivilgesellschaft« in aktuellen medialen und politischen Diskursen zunehmend verschwimmt und »bürgerliche Gesellschaft« in diesen i.d.R. gar nicht vorkommt, wird im Folgenden im Sinne der englischen Verwendungsweise von »Zivilgesellschaft«

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Volk oder Gesellschaft? In den Monaten vor dem Referendum für die europäische Verfassung konzentrierte sich die Diskussion in Frankreich – die dann letztlich zur Ablehnung des Vertrags seitens der französischen Wähler führte – vor allem auf die sogenannten liberalen (libéral) Dimensionen des Vertrags. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass das Wort »libéral« im Französischen nicht exakt dem englischen Begriff »liberal« entspricht. Libéralisme ruft nicht nur die philosophische Tradition des politischen Liberalismus von John Locke bis John Rawls auf, sondern auch die Apologeten der freien Marktwirtschaft von Adam Smith bis zu gegenwärtigen neoliberalen und RationalChoice-Theoretikern. Anders als in Großbritannien und den USA, wo auch John Maynard Keynes oder John Kenneth Galbraith als liberale Ökonomen gelten, bezeichnet man in Frankreich vorrangig die Anhänger von Friedrich von Hayek und Milton Friedman als économistes libéraux. Das semantische Feld des libéralisme ist also mit dem des Liberalismus keineswegs deckungsgleich, und dies ist gerade im Kontext der Debatte über den VVE nicht unwichtig. Denn auf beiden Seiten der Kontroverse – jedenfalls innerhalb des linken politischen Spektrums – bezog man sich argumentativ auf den liberalen (libéral) Charakter des Vertrags. Die Unvereinbarkeit der Positionen lässt sich vor diesem Hintergrund durch die unterschiedliche Bedeutung erklären, die dem Begriff libéralisme jeweils zugeschrieben wurde. So verstanden die Gegner des VVE diesen als Versuch, die Prinzipien des ökonomischen libéralisme endgültig zu institutionalisieren. Sie argumentierten, der Vertrag würde jegliche soziale Aktivität als kommerzielle definieren und auf diese Weise den Regeln des freien Marktes und dem Imperativ der Profitabilität unterwerfen. Eine entlang dieser Prinzipien aufgebaute Verfassung würde, so die Kritiker des VVE, unweigerlich zu einer Auslöschung der für den europäischen Wohlfahrtsstaat grundlegenden sozialen Sicherungssysteme führen. Mit anderen Worten, der Vertrag liefere eine legale Basis für die Zerstörung des nichtkommerziellen Sektors der Gesellschaft, welcher bis dato der Kontrolle und dem Management nationaler Regierungen unterlag. (Der Logik des Wohlfahrtsstaates gemäß sollte dieser Sektor allen Bürgern den gleichen Zugang zu bestimmten Dienstleistungen garantieren, die für so unabdingbar gehalten wurden, dass sie nicht in Begriffen ökonomischer Rationalität gemessen werden können, sondern einen Bereich jenseits marktwirtschaftlicher Konkurrenz definieren.) Demgegenüber weigerten sich die Befürworter des VVE, wiewohl sie den liberalen (libéral) Charakter des umstrittenen Textes anerkannten, diedie Rede sein, mit Ausnahme der direkten Bezüge auf anderslautende Textstellen; Anm. d. Übersetzerin.

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sen ausschließlich als Werkzeug des Marktfundamentalismus zu begreifen. Ihrer Auffassung nach impliziere der Vertrag die Stärkung von Bürgerinitiativen durch eine Reihe verfassungsmäßig vorgeschriebener Instrumente und Rechte, was es europäischen Wählern ermögliche, die Politik der EU-Mitgliedsstaaten und -institutionen anzufechten. Eben dies belegte aus Sicht der Befürworter den liberalen (libéral) und liberalen Charakter des Dokumentes. Liberalen wie linken Verteidigern des VVE zufolge hatte der Vertrag also genau dasselbe Ziel wie seine linken Kritiker: die Infragestellung der Hegemonie des Shareholder-Kapitalismus. Nur gingen die Befürworter der europäischen Verfassung davon aus, dass man dieses Ziel am besten erreicht, indem man die im Vertrag implizierten Möglichkeiten des politischen Liberalismus nutzt. Diese Strategie versprach ihrer Meinung nach mehr Erfolg als die Flucht hinter die Mauern des Nationalstaates – von dem schließlich schon Marx wusste, dass er letztlich ein nur armseliges Bollwerk gegen transnationale ökonomische Interessen bietet. Die Kontroverse über die Interpretation des liberalen Charakters des VVE drehte sich jedoch nicht nur um die Inhalte des Vertragstextes. Unterstützer und Gegner des Vertrags stritten zum einen darüber, was dieser bedeutet und wie er zu gebrauchen sei, zum anderen aber auch – und dies ist noch wichtiger – über den Typus von Kollektivität, für beziehungsweise gegen den gestimmt werden sollte. Anders gesagt: Die Frage war nicht nur, ob die Wähler mit dem, was der VVE festlegte, übereinstimmten. Es ging auch darum, ob sie sich selbst in dem im Vertrag konstruierten kollektiven Gebilde wiedererkannten. Auch an diesem Punkt trafen zwei Positionen aufeinander. Die erste betonte den verfassungsmäßigen Charakter des Textes, also die Tatsache, dass eine Verfassung ein »Volk« erfordert – ein Kollektivsubjekt, das einheitlich genug ist, um einen politischen Körper bilden und sich selbst als Agenten des eigenen Schicksals einsetzen zu können. Da nun jedoch die Bedingungen, unter denen der VVE entstanden war, diesen Erfordernissen nicht genügte – die Entwurfskommission hatte den Text in einer Serie technokratischer und zwielichtiger Prozeduren ausgearbeitet, die vor allem dazu dienten, europäische Interessen mit denen der einzelnen Mitgliedsnationen auszubalancieren –, waren die Vertreter dieser ersten Position der Auffassung, der Vertrag sei keineswegs dazu geeignet, eine wirkliche europäische Bürgerschaft hervorzubringen. Die Anhänger der zweiten Position stützten sich demgegenüber auf die hybride Natur des Projektes. Sie betonten, dass der VVE ebenso sehr ein Vertrag wie eine Verfassung und folglich ein Instrument sei, das durch die Rechtsprechung reinterpretiert und reformiert werden könne. Hier wurde der VVE also nicht als Ausdruck des mit einer Stimme sprechenden Volkes konzipiert, sondern sowohl als Rahmen wie auch als Ergebnis einer Vielzahl von Strategien, die sich innerhalb einer Gesellschaft entwickeln, deren Mitglieder notwendigerweise widerstreitende Interessen haben. (Entsprechend haben Mitglieder solcher Gesellschaften ein pragmatisches Verhältnis zum Recht:

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290 | Mathieu Potte-Bonneville Es bietet die Möglichkeit, die eigenen Interessen zu stärken und Konflikte zu regeln. Aus der Perspektive eines »Volkes« wird das Recht vorrangig als Medium der Selbstrepräsentation verstanden.) Die Differenz der beiden Positionen zum Referendum zeigte sich schließlich auch darin, wie ihre Vertreter den Akt der Stimmabgabe selbst auffassten. Auf der einen Seite hielten diejenigen, aus deren Sicht der VVE den Standards einer wirklichen Verfassung nicht genügte, die Ablehnung des VVE für eine Art Gründungsakt eines zukünftigen europäischen politischen Körpers. Ihrer Meinung nach eröffnete das Referendum die Option auf einen rechtmäßigen institutionellen Prozess, der es einem »Europa der Völker« erlauben würde, sich selbst ins Leben zu rufen – nämlich genau durch die Ablehnung des VVE. Auf der anderen Seite forderten diejenigen, die das Potenzial eines verbesserungsfähigen Vertrags betonten, strategischem Denken Priorität einzuräumen vor dem Anliegen, sich selbst auszudrücken und der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen. Kurz, während die einen glaubten, mit ihrem Votum dem Willen des Volkes Ausdruck zu verleihen, eine auf ökonomischem libéralisme basierende Verfassung zurückzuweisen, wollten die anderen ihrer Gesellschaft mit ihrem Votum einen Vertrag sichern, der aus der Perspektive des politischen Liberalismus als nützliches Instrument erschien. Daraus ergab sich auf beiden Seiten die Schwierigkeit, die Aussagen der jeweiligen Gegenseite auch nur zu hören. Anders gesagt: Die Debatte um den VVE offenbarte eine tiefe Spaltung auf Seiten der Linken; eine Spaltung in Bezug auf die Möglichkeit – beziehungsweise umgekehrt das Risiko –, die sozialen Beziehungen, in denen sich ein politischer Körper als freies Subjekt in Form eines protektionistischen nationalen oder europäischen Staates etabliert, durch die instrumentelle Beziehung zwischen einer transnationalen Zivilgesellschaft und einem Arsenal rechtlicher Instrumente zu ersetzen, das als trojanisches Pferd für die Realisierung gesellschaftlicher Projekte genutzt werden kann.

Imperiale Geopolitik oder transnationaler Protest? In der Ukraine hätten die Präsidentschaftswahlen von 2004 eigentlich zum Sieg des von der russischen Regierung unterstützten Kandidaten Viktor Janukowitsch führen sollen. Doch die Empörung über den Wahlbetrug und die unermüdliche Entschlossenheit der Demonstranten auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew provozierten am Ende Neuwahlen, die Viktor Juschtschenko an die Macht brachten. Maßgeblich beteiligt an diesen Ereignissen war eine studentische Aktivistengruppe namens Pora (»Es wird Zeit«), die auf allen Bühnen der inzwischen allgemein sogenannten Orangenen Revolution eine entscheidende Rolle spielte. Die Aktivitäten dieser Gruppe waren in dreierlei Hinsicht bemerkenswert. Pora verfolgte erstens das Ziel, die Wahlen bereits vor ihrer Durchführung zu diskreditieren. (In

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dieser Hinsicht erwies sich Poras Strategie als außerordentlich geschickt: Zwar wollten die Aktivisten die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die Wahl wegen Wahlbetrug scheitern würde. Doch ihr Ziel war weder schlicht eine Verschiebung der Wahlen, noch wollten sie lediglich den Wahlprozess beobachten, um dann am Wahlabend festzustellen, dass das Wahlergebnis tatsächlich gefälscht war. Ihr Anliegen war vielmehr – und zwar aus Respekt vor der Demokratie –, den Wahlkampf seinen Lauf nehmen zu lassen, während sie gleichzeitig das Bewusstsein der Wähler in Bezug auf die Manipulation der Wahlen schärfen und sie auf diese Weise motivieren wollten, das absehbare Wahlergebnis anzuzweifeln – wiederum aus Respekt vor der Demokratie.) Infolge des Wahlbetrugs entschied sich Pora zweitens für eine strikt gewaltlose Strategie und trug so zur Entstehung einer pazifistischen Opposition gegen die Macht bei. Drittens: Nachdem sich die Regierung den Protestierenden ergeben und mit der Ausrufung von Neuwahlen einverstanden erklärt hatte, verwandelte sich Pora nicht in eine politische Partei. Stattdessen entschied die Gruppe, einstweilig die Rolle einer »Wachhund«-Organisation zu übernehmen, die von jetzt an die neue Regierung ins Visier nahm. In Bezug auf das Thema dieses Essays ist besonders interessant, wie unterschiedlich politische Beobachter die Aktivitäten von Pora bewerteten – eine Unterschiedlichkeit, der zudem zwei Typen von Einschätzungen über die Orangene Revolution korrespondierten. Pora war bekanntlich keine isolierte Gruppe; ihre Gründer waren vielmehr Teil eines Netzwerkes verschiedener ost- und zentraleuropäischer Aktivistengruppen (wie z.B. Zubr in Weißrussland, Mjaft in Albanien und Kmara! in Georgien), alle von Otpor inspiriert, einer serbischen Studierendengruppe, die im Zusammenhang mit dem Sturz von Slobodan Milosevic eine entscheidende Rolle gespielt hatte (Mangeot 2005). Diese Gruppen tauschten untereinander Informationen aus und verfolgten dasselbe Ziel: die Fallstricke der in Zentralund Osteuropa von Regimen der »Starken Hand« eingerichteten Demokratien zu nutzen, um diese Regime mit gewaltfreien Mitteln zu überwinden. In den Monaten, die auf die Orangene Revolution folgten, wiesen manche Beobachter darauf hin, dass private Stiftungen und Institute aus den USA das Netzwerk um Pora, Otpor und die von Otpor inspirierten Gruppen großzügig unterstützten und finanzierten – namentlich das George Soros’ Open Society Institute (OSI) und die Albert Einstein Institution (AEI). (Die AEI wurde 1983 von dem Harvard-Wissenschaftler Gene Sharp mit dem Ziel gegründet, gewaltfreie Formen des Widerstands zu entwickeln. Es wird gegenwärtig von Robert Helvey geleitet, einem pensionierten Oberst der US-Streitkräfte.) Diese Institutionen galten in den entsprechenden Kommentaren als eigentliche Anstifter der Bewegung, aus der das Netzwerk hervorgegangen war, und die Bewertung dieser Bewegung erfolgte dementsprechend aus geopolitischer Perspektive (etwa Genté/Rouy 2005). Aus dieser Sicht verfolgten Gruppen wie Otpor und Pora kein anderes Ziel

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292 | Mathieu Potte-Bonneville als die Etablierung US-freundlicher Regierungen in Zentral- und Osteuropa – Regierungen also, die ihr Land aus der russischen Einflusssphäre befreien wollten und für die liberale Demokratien und offene Märkte unumstößliche Gebote waren. Die Aktivistengruppen verkörperten demnach eine Art pazifistischer Mitteleuropa*-Version der Operation Gladio im Italien der 1950er und 1960er Jahre – ein imperialistisches Manöver, orchestriert von den USA. Ein zweiter Typ der Bewertung des Otpor/Pora-Netzwerkes richtete den Fokus weniger auf die Frage der Finanzierung als vielmehr auf zeitliche Zusammenhänge. Aus der Perspektive von Vertretern dieser weniger zynischen Sicht kann man Pora und ihre Verbündeten nur dann als Werkzeug US-amerikanischer Strategien brandmarken, wenn man ausblendet, dass der erzwungene Rücktritt von Milosevic lediglich ein Jahr nach den großen Demonstrationen gegen die Welthandelsorganisation WTO in Seattle erfolgte. Ein entscheidendes Moment für die in Seattle aufbrandende radikale Kritik an neoliberaler Globalisierung und US-Hegemonie war die sogenannte Teamsters and Turtles-Allianz** zwischen Gewerkschaften und NGO-Aktivisten, die sich als Vorbotin der Partnerschaft zwischen Otpor und der serbischen Bergarbeiter-Gewerkschaft ein Jahr später verstehen ließ. Und die Orangene Revolution in der Ukraine verlief parallel zu den massiven Demonstrationen in Großbritannien und Spanien gegen den Eintritt der jeweiligen Regierungen in den Irakkrieg. (Der Anführer der albanischen Otpor-Variante Mjaft betonte immer wieder, dass seine Gruppe sich bei ihren Aktivitäten gegen die albanische Regierung von den Arbeiten Michael Moores inspirieren ließ.)1 Mit Pora und Otpor sympathisierende politische Beobachter verstanden diese Gruppen also nicht als Werkzeuge imperialer Strategien, sondern als Ausdruck einer echten und weit verbreiteten Unzufriedenheit mit Regimen, die in der Bevölkerung über keinerlei Rückhalt verfügten. Diese in jeder der fraglichen Gesellschaften existierende Unzufriedenheit hatte schließlich Protestbewegungen genährt, die nationale Grenzen quer zu geostrategischen Kalkülen überschritten. Außerdem sind Otpor, Pora und die anderen miteinander vernetzten Gruppen den Bewegungen, aus denen sie hervorgegangen sind, treu geblieben. Insofern lassen sich ihre Aktivitäten weder auf die Ebene nationalstaatlicher Politik noch auf die Ebene der Beziehung zwischen Staaten reduzieren.

* | Deutsch im Original; Anm. d. Übersetzerin. ** | Während teamsters Mitglieder der legendären US-Transportarbeitergewerkschaft sind, protestierten als Schildkröten (turtles) verkleidete Demonstranten in Seattle gegen das weltweite Artensterben; Anm. d. Übersetzerin.

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Was ist Zivilgesellschaft? Beide Debatten – die über den Nutzen des VVE und die über den Charakter der Orangenen Revolution – verhandeln dieselbe Frage. Welche politische Bedeutung kann »Gesellschaft« zugeschrieben werden, wenn diese nicht mehr den traditionellen politischen Grundsätzen entspricht: das Volk als Souverän, der Staat als Institution, die Regierung als vom Staat eingesetzte Instanz und die internationalen Beziehungen als Handlungsdomäne von Regierungen? Die französische Debatte warf außerdem die Frage auf, wie eine »Europäische Zivilgesellschaft« innerhalb der Europäischen Union gefasst werden kann – als Katalysator einer massiven Entpolitisierung, die den europäischen Raum auf die Rolle einer gigantischen Freihandelszone reduziert oder als Plattform für eine Politik der Autonomie, die den Bürgern diverse nützliche Rechtsinstrumente zur Verfügung stellt? In der zweiten hier erwähnten Debatte stand die Frage nach dem Charakter einer internationalen, die Grenzen der zentral- und osteuropäischen Staaten überschreitenden Zivilgesellschaft zur Diskussion: Ist diese bloßes Werkzeug US-amerikanischer Außenpolitik in der Region oder manifestiert sich hier eine neue Handlungsfähigkeit – nämlich in der Weigerung, die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten davon abhängig zu machen, dass sie nicht von der einen oder anderen Großmacht für deren eigene Interessen instrumentalisiert werden kann? Bemerkenswerterweise waren die Positionen von Unterstützern und Kritikern der Zivilgesellschaft in den beiden Debatten einander in zumindest einer Hinsicht entgegengesetzt. Während die Verteidiger der Zivilgesellschaft in der Debatte über den VVE einer instrumentellen Logik folgten (politisches Handeln wird den in Begriffen von Mitteln und Zielen gefassten strategischen Anliegen untergeordnet) und ihre Kontrahenten eine expressive Logik bevorzugten (Bürgerinitiativen werden als Ausdruck eines Anspruchs interpretiert), verhielt es sich im Falle der Kontroverse über die Orangene und andere »samtene« Revolutionen genau umgekehrt. Diese Spiegelbildlichkeit der Positionen zeigt – und das ist meine zentrale These –, dass sowohl die Definition der Zivilgesellschaft als auch die Kategorien, in denen sie eingeklagt oder kritisiert wird, im Grunde nichts anderes sind als Funktionen des spezifischen historischen Kontextes, in dem die Debatten situiert sind.

»Müssen wir die Gesellschaft verteidigen?« Auf Michel Foucault bin ich in diesem Essay bislang noch nicht eingegangen. Doch die Beschreibung der Debatten um den VVE und um die Orangene Revolution lässt sich auch als eine Interpretation des Titels In Verteidigung der Gesellschaft (Foucault [1997] 1999) verstehen, mit dem Foucault

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294 | Mathieu Potte-Bonneville seine Vorlesungsreihe am Collège de France 1975/1976 überschrieb; eine Interpretation, die uns zudem hilft, die eigenartige Ironie dieser Überschrift zu verstehen. Foucaults Vorlesung changiert zwischen zwei Hauptthemen: Zum einen wirft sie die genealogische Frage auf, wie es dem modernen Staat gelingt, sein Handeln im Namen des Imperativs der »Verteidigung der Gesellschaft« zu legitimieren. Zum anderen ging es Foucault darum, die Existenz eines bestimmten Diskurses archäologisch nachzuweisen: der Diskurs des »Rassenkampfes«, der durch moderne politische Konzepte wie Souveränität, Gemeinwohl oder -interesse unterdrückt worden war. Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts artikulierte der Diskurs des »Rassenkampfes« die Weigerung bestimmter Mitglieder der Gesellschaft, sich mit der sie unterwerfenden Macht zu identifizieren. So lässt sich das Statement »Man muss die Gesellschaft verteidigen« auf zwei entgegengesetzte Weisen verstehen – sozusagen mit oder ohne Anführungszeichen. Zum einen als Denunziation eines Vorwands, insofern der Staat im Namen der »Sorge« die Kontrolle über die Individuen unter seiner Regie festschreibt – mit anderen Worten, die Denunziation einer Formel, mit der der Staat seine Tyrannei der Fürsorge zum Ausdruck bringt. Zum anderen als echte Forderung, die darauf abzielt, die Gesellschaft vor einer Macht zu schützen, der sie nicht unterworfen sein will. Die Ambivalenz und Ironie, mit der Foucault hier »Gesellschaft« thematisiert, findet in den skizzierten heutigen Debatten offenbar einen Widerhall. Sowohl die Kontroverse um den VVE als auch die Diskussion um die Orangene Revolution zeigen, dass (Zivil-)Gesellschaft sowohl als Medium verstanden werden kann, mit dessen Hilfe sich die Hegemonie neoliberaler Globalisierung und des US-amerikanischen Imperialismus am Leben erhält, wie auch als Potenzial einer doppelten Widerständigkeit – wider die Staatsmacht und wider die Herrschaft des Marktes. Eben hier liegt der heuristische Gewinn einer Relektüre Foucaults im aktuellen Kontext. Im Folgenden werde ich Foucaults Werk in drei aufeinanderfolgenden Schritten aufgreifen. Zunächst werde ich zeigen, inwiefern seine Arbeiten, insbesondere Überwachen und Strafen (Foucault [1975] 1976), eine Dekonstruktion des philosophischen Konzeptes der Zivilgesellschaft vornehmen. Zweitens werde ich auf die historische und kritische Rekonstruktion der Zivilgesellschaft eingehen, wie sie Foucault im Rahmen seiner Vorlesung über liberale und neoliberale Gouvernementalität quer zum Diskurs der politischen Philosophie vornimmt. Drittens werde ich deutlich machen, dass die Idee der Zivilgesellschaft aus Foucaults Sicht untrennbar verbunden ist mit Formen politischer Mobilisierung, die sich in seinen eigenen aktivistischen Interventionen manifestieren und in den gesammelten Schriften Dits et Ecrits (Foucault [1994] 2001-2005) zur Sprache kommen.

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Die philosophische Inkonsistenz der Zivilgesellschaft Vorab möchte ich kurz darauf eingehen, auf welche Weise das Problem der Zivilgesellschaft in der Philosophie aufgeworfen wird. Drei grundlegenden Figuren dieses Konzeptes entsprechen dabei drei historische Momente: Die erste Figur findet sich in Aristoteles’ Politik (1981) und lebt später in der mittelalterlichen Philosophie wieder auf, insbesondere bei Thomas von Aquin. Die Zivilgesellschaft (politiké koinonia) hat hier zwei entscheidende Charakteristika. Negativ ist sie zu definieren als Gemeinschaft, die nicht auf den natürlichen oder privaten Beziehungen zwischen Verwandten und ebenso wenig auf den Formen der Kooperation basiert, die innerhalb einer Dorfgemeinschaft das Überleben der Bevölkerung sichern. Positiv lässt sich die Zivilgesellschaft definieren als Gemeinschaft, die durch das Streben nach dem »guten Leben« zusammengehalten wird. Insofern ist sie nicht auf ein System von Vertragsbeziehungen zu reduzieren, das entweder Handelszwecken oder der Abwehr von Feinden dient. Sie konstituiert sich vielmehr im Hinblick auf die Ziele, welche die individuellen Interessen der Gemeinschaftsmitglieder transzendieren. Weil diese Bürgerschaft (civility) vorrangig durch ein telos definiert ist, muss die politische Philosophie, deren Gegenstand die Zivilgesellschaft ist, auch die Frage nach dem Zweck der sozialen Existenz stellen. Anders ausgedrückt, die politische Philosophie, der diese erste Figur der Zivilgesellschaft entspricht, ist ein Diskurs über spezifische Zwecke, denn erst diese machen eine Gesellschaft wirklich »zivil«. Die zweite Figur der Zivilgesellschaft taucht in Machiavellis Der Fürst ([1513] 2001) auf und findet ihren vollen Ausdruck schließlich in den Arbeiten von Philosophen, die sich – von Hobbes bis Rousseau – mit Leo Strauss der Tradition des »modernen Naturrechts« zuordnen lassen. Die entscheidende Transformation des Konzeptes der Zivilgesellschaft liegt hier in der Rolle des Staates, der nunmehr die individuelle Mitgliedschaft in der Gesellschaft determiniert und zugleich neu formiert. Diese Mitgliedschaft weist drei Bedingungen auf: erstens eine Repräsentation des Individuums durch den Staat, die weniger durch einen Wahlvorgang als vielmehr juridisch definiert wird. Staatliche Entscheidungen sollen als eigene Entscheidungen anerkannt werden. Insofern der Staat den individuellen Willen repräsentiert, folgt daraus zweitens die Unterwerfung des Einzelnen unter den Staat. Drittens schließt diese Figur der Zivilgesellschaft (zumindest bei Rousseau) die Partizipation der Gesellschaftsmitglieder durch das Handeln des repräsentativen Staates ein, insofern dieser den Allgemeinwillen ausübt. Das dritte Moment innerhalb der Genealogie des Konzeptes der Zivilgesellschaft findet sich in der empiristischen Tradition von John Locke, David Hume und den schottischen Empiristen des 18. Jahrhunderts. Adam Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ([1767]

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296 | Mathieu Potte-Bonneville 1986) liefert die bekannteste Fassung dieser dritten Figur. Der zentrale Unterschied zu den zuvor skizzierten Konzepten liegt darin, dass die Existenz der Gesellschaft hier von der Institution der Souveränität getrennt und gleichzeitig eine unpolitische Beziehung als Basis der sozialen Existenz vorausgesetzt wird. Diese unpolitische Beziehung ist doppelt bestimmt, sie schließt einerseits den Austausch von Waren und Dienstleistungen sowie die Arbeitsteilung und andererseits Beziehungen der »Sympathie« zwischen den Individuen ein. Die Interaktionen der Individuen entspringen mithin einer Verbindung, die weder mit der Gemeinschaft des »guten Lebens« identisch noch unter eine autoritäre Souveränität subsumierbar ist. Vielmehr zeigt diese Verbindung, dass das Soziale nicht auf das Politische zu reduzieren ist. Anders gesagt: Sie resultiert aus der Tatsache, dass die unpolitische Dimension des Sozialen einerseits die gemeinsame Basis bildet, auf der politische Institutionen errichtet werden, wie andererseits die Grenze, die das Handlungsfeld dieser Institutionen beschränkt. Hier, in dieser dritten Figur, offenbart sich die volle Ambivalenz des Begriffs »Zivilgesellschaft«: Die politische Dimension der Gesellschaft beruht auf dem Faktum, dass die Gesellschaft weder in ihrem Ursprung noch als Ganze »zivil« ist. Diese drei Formen der Problematisierung des Konzeptes der Zivilgesellschaft durchziehen praktisch alle relevanten Debatten innerhalb der politischen Philosophie. Debatten, die über die Grenzen der Philosophie hinaus auch Politik beeinflussen – insbesondere, wenn sie Fragen aufwerfen wie die nach der Möglichkeit einer »zivilen« Form politischer Subjektivität, die individuelle Zwecke transzendiert. Sie fließen auch ein in Diskussionen über die Bedeutung des Rechts oder über das Verhältnis zwischen den Vorrechten des Staates und denen der sozialen Akteure. Und obwohl die hier gezeigten Figuren der Zivilgesellschaft heterogen sind und sich auf den ersten Blick gegenseitig ausschließen, lassen sie sich auch als drei Ebenen innerhalb ein- und derselben Figur verstehen. Hegel entwickelt in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts ([1821] 1997) diese dialektische Einheit der Zivilgesellschaft folgendermaßen: Er definiert den Staat als telos der politischen Gemeinschaft und versteht die Verwirklichung dieses teleologischen Prozesses als Entwicklung einer Ordnung des ökonomischen Austauschs, welche sich im Staat aufhebt und umgekehrt von diesem strukturiert wird. Im Gegensatz dazu zielen Foucaults Arbeiten weder darauf ab, sich für eines dieser drei Modelle zu entscheiden, noch darauf sie zu synthetisieren. Ihn interessiert vielmehr sie zu durchkreuzen. Seine Genealogie der Machtbeziehungen will also weniger eine neue politische Philosophie vorlegen, als vielmehr das traditionelle Verständnis politischer Philosophie unterlaufen. Diese subversive Perspektive zeigt sich besonders dort, wo Foucault in Überwachen und Strafen von der »Mikrophysik der Macht« spricht ([1975] 1976).

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Der deutlichste Bruch, den Foucaults Frage nach der Natur der Macht gegenüber der traditionellen politischen Philosophie vollzieht, betrifft den aristotelischen Diskurs über Zwecke. Wenn Foucault seine Reflexion über Macht um die bescheidene empirische Frage »Wie funktioniert sie?« anordnet – denn das ist die zentrale Frage in Foucaults »Mikrophysik« –, dann will er nicht vorab die Frage der Mittel problematisieren, um anschließend das Problem des Gemeinwohls aufzuwerfen und auf diese Weise wieder im üblichen philosophischen Kanon zu landen. Foucaults Perspektive betont vielmehr, dass Zwecke und Ziele, die sich eine politische Gemeinschaft setzt, keinen bestimmten Modus der Ausübung von Regierung festlegen. Anders gesagt: Dieselben Ziele können in völlig unterschiedliche gouvernementale Technologien münden und umgekehrt. Deshalb ist es unmöglich, die Zivilgesellschaft in aristotelischen Begriffen zu definieren, also durch die Ziele, die sie sich selbst setzt. Dementsprechend macht es aus Foucaults Perspektive auch wenig Sinn, moderne Zivilgesellschaften danach zu beurteilen, ob ihre Mitglieder zwischen Leben und »gutem Leben« differenzieren. (Aus diesem Grund lässt sich Foucaults Perspektive weder mit der leicht nostalgischen Kritik von Hannah Arendt und Leo Strauss versöhnen – die Klage über eine moderne Gesellschaft, die sich für das Gemeinwohl nicht mehr interessiert – noch mit Giorgio Agambens heideggerianischer Behauptung, die gegenwärtige Welt würde einen Prozess vollenden, der in der abendländischen Metaphysik bereits angelegt ist, nämlich den, alle Formen des Lebens auf »nacktes Leben« zu reduzieren.) Das Projekt einer Mikrophysik der Macht bricht auch mit der zweiten Figur der Zivilgesellschaft, die von der Institution einer souveränen Macht ausgeht. Eine Macht, die die ihr unterworfenen Individuen transzendiert und sich gleichzeitig selbst unterwirft, indem sie ihre Autorität als eine von der Autorisierung durch die Individuen abhängige Autorität präsentiert. Diesem juridischen Zuschnitt der Souveränität des Volkes stellt Foucault diverse Argumente gegenüber. Erstens betont er, dass die Autorität des Staates und die Herrschaft des Rechts bereits das Geordnetsein menschlicher Kollektive voraussetzen. Demnach erfordern Staat und Gesetz eine Ordnung des Sozialen, die sie nicht selbst produzieren können, weil sie einer anderen Art von Rationalität und Intervention entstammt. Zweitens geht Foucault davon aus, dass diese andere Art der Rationalität nicht als Repräsentation eines kollektiven Willens, sondern als Dressur und Disziplinierung von Körpern operiert. Insofern diese Form sozialer Regulierung auch Sprache einsetzt, handelt es sich jedoch nicht um einen expressiven Diskurs, sondern um einen der Handlung, des Protokolls und der Überwachung. Drittens meint Foucault, dass die technische Dressur der Körper nicht nur eine notwendige Voraussetzung für die Institution des Staates und die Herrschaft des Gesetzes liefert, sondern darüber hinaus auch als Wahrheit des Staates selbst erscheint. So spricht er von einem Prozess der »Verstaatlichung« (étatisation) der Disziplinen und versteht den Staat zu-

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298 | Mathieu Potte-Bonneville gleich als Effekt dieses Prozesses. Der Kult um den Staat als einzig denkbare Struktur, die in der Lage sei, soziale Entzweiung zu transzendieren, ist aus Foucaults Sicht folglich wenig überzeugend. Der Zweck des Staates liegt nicht darin, alle vor allen zu schützen oder darin, einen gemeinsamen Willen zum Ausdruck zu bringen. Der Zweck des Staates ist vielmehr, die Gesellschaft zu verteidigen als eine Realität, die bereits konstituiert und von Disziplinierung durchsetzt ist. Foucaults Perspektive auf Dressur- und Disziplinartechniken lassen ihn auch mit der dritten Figur der Zivilgesellschaft brechen, der zufolge Gesellschaft verstanden werden muss als ein die Individuen einendes System des Austauschs, dem eine der Institution des Staates vorausliegende Einheit und eine eigene Rationalität, die übermächtigen Regierungen entgegengesetzt werden kann, innewohnen. Foucault versteht die Disziplinartechniken, die er von den Formen der Souveränität unterscheidet, stattdessen als Machtbeziehungen, und er definiert Macht als Handeln auf mögliches Handeln. Deshalb sind aus seiner Perspektive Macht und soziale Existenz deckungsgleich, es gibt keine Gesellschaft ohne oder »vor der« Macht. Auch folgt er nicht der Kritik von Marx an der Hegel’schen Rechtsphilosophie, wonach Staat und politische Ordnung bloße Reflexe der Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft sind. Denn diese These setzt eine Vorgängigkeit der Produktionsverhältnisse gegenüber den Machtverhältnissen voraus, und Foucault will gerade im Gegenteil zeigen, dass die politische Konfiguration die Organisation der verstreuten Menge von Arbeitenden bedingt und auf diese Weise die Arbeitskraft überhaupt erst erzeugt. Kurz gesagt weist Foucault die Idee einer vorpolitischen Zivilgesellschaft zurück, weil aus seiner Sicht Gesellschaft immer schon durchdrungen ist von einem System des Befehlens und Gehorchens, so dass es unmöglich ist, eine vorpolitische Realität zu definieren, die den Maßstab für die Bewertung der Institutionen liefert. Das wichtigste Merkmal von Foucaults Genealogie ist somit ihr Skeptizismus. Ihre Perspektive zu übernehmen, erfordert deshalb vor allem, sich von drei allzu vertrauten Diskursen nicht länger in die Irre führen zu lassen. Der erste Diskurs benutzt die Reflexion über die Zivilgesellschaft als Mittel für die Beschwörung der Notwendigkeit einer Wiederentdeckung des »guten Lebens« in der Moderne beziehungsweise umgekehrt als Mittel zur Verteidigung des modernen Individualismus gegen postmoderne (und/oder neo-archaische) Identitätspolitiken. Der zweite Diskurs propagiert die Wiederherstellung der Transzendenz des Staates – in Opposition oder zumindest als Gegengewicht zu den zentrifugalen Kräften des Individualismus. Spiegelbildlich dazu fordert der dritte Diskurs die Freisetzung der Marktkräfte, die ungerechterweise von gouvernementalen Institutionen behindert würden. Kurz: Foucaults Genealogie meidet alle Diskurse, die die Zivilgesellschaft als philosophischen Topos voraussetzen.

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Die historische Entstehung der Zivilgesellschaft Die Erkenntnis, dass die Analyse der Mikrophysik der Macht es erlaubt, insbesondere in Bezug auf die Gegenüberstellung von Staat und Zivilgesellschaft den allzu vertrauten Topoi zu entgehen, reicht jedoch nicht aus. Die Genealogie muss darüber hinaus auch erklären, wie diese Gegenüberstellung entstanden ist und auf welche Weise es ihr gelungen ist, sich zwei Jahrhunderte lang als fixer obligatorischer Topos der politischen Philosophie zu halten. Anders gesagt, auch wenn Foucaults Perspektive das Konzept von Zivilgesellschaft als wie auch immer definierter essentieller – vorpolitischer oder vom Staat instituierter – Realität zurückweist, fasst sie das Konzept selbst als Artikulation eines zentralen historischen Problems auf, weshalb es zeitlich verortet und die Bedingungen seiner Formation analysiert werden müssen. Foucault widmet die letzten Sitzungen von Die Geburt der Biopolitik eben dieser Aufgabe. In einer für diese Vorlesungsreihe typischen abrupten Wendung geht er im Anschluss an eine ausgedehnte Diskussion neoliberaler Konzeptionen von Regierungskunst, wie sie ordoliberale Ökonomen im Deutschland der Nachkriegszeit und neoliberale Ökonomen der Chicagoer Schule entworfen haben, auf das Problem der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft ein. Aus Foucaults Sicht ist die bürgerliche Gesellschaft ein grundlegendes Element der im 18. Jahrhundert vorgenommenen Neudefinition moderner Gouvernementalität, die er in der Vorlesungsreihe entlang ihrer Hauptetappen nachzeichnet. Zunächst beschäftigt sich die Vorlesung von 1978/1979 ausführlich mit der Herausbildung verschiedener Modi des als »Regierungskunst« verstandenen Liberalismus. Schon seit 1977 hatte Foucault die Mikrophysik der Macht mehr und mehr durch die Analyse dessen, was er »Gouvernementalität« nannte, ersetzt. Der Zweck dieser Verschiebung liegt darin zu betonen, dass seine Machtanalytik nicht nur die lokalen Manifestationen der Macht in den Blick nimmt. Das Konzept der Gouvernementalität soll vielmehr zeigen, dass der Staat selbst analysiert werden kann und muss – allerdings vor allem im Hinblick auf die im Staat integrierten und kombinierten verschiedenen Formen der Machtausübung und weniger fixiert auf die rechtliche Begründung seiner Souveränität. Verortet man die liberale Theorie und Praxis, von ihrem Auftauchen im 18. Jahrhundert bis zu ihren aktuellen Varianten, in diesem analytischen Rahmen, dann lässt sich der Liberalismus nicht länger als Theorie begreifen, die vorrangig ökonomisch definiert ist, letztlich auf Adam Smiths Idee der »unsichtbaren Hand« basiert und von dort ausgehend bestimmte politische Konsequenzen und Präferenzen provoziert. Vielmehr erscheint der Liberalismus aus der Perspektive der Gouvernementalität zuallererst als praktische Kunst des Regierens, die als solche eine Matrix ökonomischer Konzepte konstituiert. Dementsprechend versteht Foucault den Liberalismus nicht als Doktrin, die

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300 | Mathieu Potte-Bonneville nach »weniger Regierung« im Namen der Selbstorganisation des Marktes ruft, sondern eben als eine Regierungskunst, was heißt, dass der Liberalismus nicht nur diese Selbstorganisation des Sozialen voraussetzt, sondern darüber hinaus das Ziel verfolgt, die Fähigkeit zur Selbstregierung zu steigern und zu erweitern. Versteht man den Liberalismus auf diese Weise, bleibt jedoch zu klären, wie diese Form des Regierens, mit deren Hilfe die Regierung ihr eigenes Eingreifen zu begrenzen sucht, innerhalb der Geschichte der Regierungskünste und -praktiken entstanden ist. Anders gesagt, worin liegt der Sinn dieser paradoxen Gouvernementalität und welche Gestalt nimmt sie an? Diese Fragen untersucht Foucault ausgehend von der Krise, die Ende des 17. Jahrhunderts jenes Regime der Gouvernementalität erfasste, das durch das französische Konzept des État de police und das deutsche Konzept der »Polizeiwissenschaft«* charakterisiert war. Dieses Regime basierte auf einer ausgedehnten gouvernementalen Intervention, nämlich der Kontrolle der vielfältigen Bereiche sozialer Aktivitäten. Es zielte darauf ab, menschliches Verhalten unter der Ägide einer zentralisierten Autorität auf jeder Ebene der Gesellschaft zu kontrollieren, um auf diese Weise das ökonomische und demographische Potenzial der Gesellschaft zu optimieren. Die Krise des »Polizei«-Regimes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war also Ergebnis einer Reihe ökonomischer Transformationen und kann nicht auf ihre repressive Dimension reduziert werden. So war es für Nationalregierungen zunehmend schwieriger geworden, den Preis und die Verfügbarkeit von Getreide zu kontrollieren. Daraus resultierte ein weiteres Problem, dem sich die gouvernementale Doktrin stellen musste: die strukturelle Instabilität von Souveränität in Bezug auf die Erfordernis, umfassende Kenntnis aller Vorgänge, die den ökonomischen Gesamtablauf determinieren, zu erlangen und angemessen darauf zu reagieren. Anders gesagt, die Instanzen der souveränen Macht erkannten plötzlich ihre Blindheit in Bezug auf eine Reihe von Prozessen, die sich in dem von ihnen selbst definierten Feld staatlicher Intervention vollzogen. Sie erkannten zudem, dass diese Blindheit zurückzuführen war auf die Diskrepanz zwischen den individuellen Entscheidungen der Untertanen – jeder einzelne handelte gemäß seiner ökonomischen Interessen – und den weitreichenden Wirkungen dieser Entscheidungen. Die für das Polizeiregime konstitutive »politische Anatomie des Details« sah sich grundlegend herausgefordert. Und diese Herausforderung entsprang nicht individuellen Forderungen nach Rechten – darauf war das Polizeiregime eingestellt –, sondern der auf Seiten der Regierungsinstanzen gewonnenen Erkenntnis, dass allgemeiner Wohlstand nur ausgehend von der Indifferenz der individuellen ökonomischen Akteure gegenüber den allgemeinen Konsequenzen ihres eigennützigen Gewinnstrebens erzielt werden konnte. Vor diesem Hintergrund, erklärt Foucault, * | Deutsch im Original; Anm. d. Übersetzerin.

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blieben dem auf Polizeitechniken basierenden Regime der Gouvernementalität zunächst nur zwei gleichermaßen fatale Optionen. Die eine Möglichkeit war, an der Konzeption von Souveränität als allmächtige und alles durchdringende Kompetenz festzuhalten – mit Ausnahme allerdings der ökonomischen Sphäre, die dann zu einem blinden Fleck und in Bezug auf die souveräne Macht zu einer »freien« Zone werden würde. Alternativ dazu hätte man die Beschränkung der souveränen Intervention in die ökonomische Sphäre auf die Überwachung des Verhaltens der individuellen Akteure und die daraus resultierenden allgemeinen Effekte ausrufen können – wodurch jedoch die Rolle der Souveränität in Bezug auf den Markt auf bloße Mess- und Kontrollfunktionen reduziert worden wäre. Nicht zufällig taucht das Konzept der Zivilgesellschaft an genau diesem Punkt auf, denn es bietet Regierungen einen Ausweg aus dem Dilemma, zwischen zwei gleichermaßen unbefriedigenden Alternativen wählen zu müssen und entweder bestimmte der Souveränität unterworfene Einflussbereiche preiszugeben oder aber souveräne Vorrechte zu beschneiden. Die Idee der Zivilgesellschaft bot die Möglichkeit, das Juridische und das Politische (der »zivile« Teil der Zivilgesellschaft) im Verhältnis zum Sozioökonomischen (der »gesellschaftliche« Teil der Zivilgesellschaft) zu reartikulieren, und liefert den Agenten der souveränen Macht somit einen neuen Modus der Intervention. Dieser beschneidet weder die Reichweite noch die Intensität von Souveränität, denn er basiert auf zwei Imperativen: dem Imperativ der Aufrechterhaltung der Herrschaft des Rechts auf der einen und dem Imperativ des Respekts gegenüber der Eigengesetzlichkeit ökonomischer Mechanismen auf der anderen Seite. »Nun, ich glaube«, erklärt Foucault, »daß der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, die Gesamtheit der Gegenstände oder Elemente, die man im Rahmen dieses Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehoben hat, daß all das insgesamt ein Versuch ist, die Frage zu beantworten, die ich gerade angesprochen habe: Wie soll man nach Rechtsregeln einen Raum der Souveränität regieren, der den Nachteil oder Vorteil hat, von Wirtschaftssubjekten bevölkert zu sein?« (2004: 405)

Foucault zufolge ist die bürgerliche beziehungsweise Zivilgesellschaft nicht als ein natürliches Phänomen zu denken, das den Institutionen der politischen Souveränität vorausliegt, sondern als spezifische Neudefinition von Gesellschaftlichkeit; eine Gesellschaftlichkeit, die gleichzeitig als politischer (ziviler) und unpolitischer (sozialer) Bereich konzipiert ist. Demnach ist die Zivilgesellschaft ein Konzept, das es Regierungen erlaubte, auch dann noch an ihrer »Kunst des Regierens« festzuhalten, als ihre Souveränität offenkundig durch die ökonomische Rationalität in Frage gestellt wurde.

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302 | Mathieu Potte-Bonneville Die in der Vorlesungsreihe nun folgende Darstellung könnte auf den ersten Blick so verstanden werden, dass die Erfindung der bürgerlichen beziehungsweise »Zivilgesellschaft« lediglich eine List der Macht war, die Regierungen nutzten, um den Regierten als Mitgliedern der Zivilgesellschaft scheinbar ein gewisses Maß an Autonomie zuzugestehen und auf diese Weise letztlich eine noch effektivere Unterwerfung zu erreichen. Doch eine solche Lesart würde Foucaults Denken aus verschiedenen Gründen nicht gerecht. Erstens entwirft er die Zivilgesellschaft in der letzten Sitzung von Die Geburt der Biopolitik als strategische Konstruktion und betont zugleich, dass diese Konstruktion eine Antwort auf eine reale Krise der frühen Regierungskunst war, welche diejenigen Instanzen bedrohte, die ihre Macht bislang auf diese Kunst gestützt hatten. Zweitens: Die Tatsache, dass der Begriff der Zivilgesellschaft einen Bereich definiert, der zum Teil vom Recht regiert wird und zum Teil ökonomischen Mechanismen unterworfen ist, wirft ein bestimmtes Problem neu auf, anstatt es zu lösen – das Problem nämlich, wie die dieser doppelten Bestimmung korrespondierenden heterogenen Formen von Subjektivität – Rechtssubjekt und Homo oeconomicus – zusammengebracht werden können. Foucault grenzt sich sowohl von der Auffassung ab, liberale bürgerliche Rechte dienten einzig der Durchsetzung herrschender ökonomischer Interessen, wie umgekehrt von der Annahme, diese Rechte lieferten den notwendigen und hinreichenden Schutz gegen das ausbeuterische Potenzial ökonomischer Macht. Ihm geht es vielmehr darum zu zeigen, dass beide Positionen – ebenso wie die reichhaltige Geschichte der Konflikte zwischen ihnen – ihren Ursprung in einer Krise der Gouvernementalität haben, aus der die moderne Konzeption der Zivilgesellschaft hervorgegangen ist. Drittens zeigt Foucault in seiner Analyse der Argumentation von Ferguson, dass die Rolle der ökonomischen Rationalität in der liberalen Definition der Zivilgesellschaft ebenso zentral wie ambivalent ist: So basiert die Zivilgesellschaft in Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft einerseits auf dem ökonomischen System des Tauschs und den daraus resultierenden Interessengegensätzen, andererseits jedoch wird sie von diesem unterlaufen. »Mit anderen Worten, die wirtschaftliche Bindung findet in der bürgerlichen Gesellschaft statt, ist nur durch [sie] möglich, zieht sie in gewisser Weise zusammen, löst sie aber von einer anderen Seite auch auf.« (Foucault 2004: 415) Viertens schließlich lässt sich Foucaults Argumentation nicht als Reduktion der Zivilgesellschaft auf eine List der Macht reduzieren, weil eine solche Sicht seiner grundlegenden Annahme zuwiderlaufen würde, wonach die Bedeutung eines Konzeptes nicht identisch ist mit der Machtstrategie, der es entstammt. Anders gesagt, selbst wenn die Idee der Zivilgesellschaft ursprünglich konstruiert worden war, um die Autonomie der Regierten im Moment der Krise des herrschenden Regimes zu minimieren – einmal in die Welt gesetzt, wurde sie zu einem nützlichen

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Werkzeug, mit dessen Hilfe die Regierten den sie unterwerfenden Modus des Regierens in Frage stellen konnten. Dementsprechend ist das Konzept der Zivilgesellschaft als Ergebnis einer ständigen Vermittlung zweier Modi des Regierens zu verstehen: des Modus, in dem Gesellschaft sich selbst regiert und des Modus, in dem sie regiert wird. Folglich berührt die mit dem Aufkommen der modernen Zivilgesellschaft einhergehende Transformation der Regierungskünste den zentralen Bezugspunkt von Regierung überhaupt: Im Zeitalter der Zivilgesellschaft basiert Regierung nicht länger auf der Weisheit des Souveräns, sondern auf »der Rationalität der Regierten, der Regierten als Wirtschaftssubjekte und allgemeiner als Interessensubjekte« (Foucault 2004: 428). Kurz: Das Konzept der Zivilgesellschaft ist Foucault zufolge weder eine List der Macht noch umgekehrt ausschließlich Produkt der Emanzipation und Widerständigkeit der Unterworfenen. Es markiert vielmehr eine umfassende Rekonfiguration von Machtbeziehungen.

Die Offenheit der Zivilgesellschaft – und ihr Einsatz An diesem Punkt sind wir bei dem interessantesten Aspekt von Foucaults Argumentation angelangt. Die folgende Passage macht dies besonders deutlich: »Die bürgerliche Gesellschaft ist keine ursprüngliche und unmittelbare Wirklichkeit. Die bürgerliche Gesellschaft ist etwas, das zur modernen Regierungstechnik gehört. Wenn man sagt, daß sie zu dieser Technik gehört, dann bedeutet das nicht, daß sie einfach und allein deren Produkt ist. Es bedeutet auch nicht, daß sie keine Realität hat. Die bürgerliche Gesellschaft ist wie der Wahnsinn, wie die Sexualität etwas, das ich Transaktionsrealitäten nenne, d.h., daß jene transaktionalen und vorübergehenden Gestalten gerade im Spiel sowohl der Machtverhältnisse als auch dessen, was diesen Verhältnissen entgeht, also gewissermaßen an der Schnittstelle der Regierenden und der Regierten entstehen. Diese Gestalten sind, obwohl sie nicht schon immer existiert haben, nicht weniger wirklich, und man kann sie die bürgerliche Gesellschaft oder den Wahnsinn usw. nennen.« (Foucault 2004: 406f.)

Der Vergleich mit anderen Untersuchungsobjekten Foucaults, Wahnsinn und Sexualität, ist hier in dreierlei Hinsicht erhellend. (Ganz davon abgesehen, dass Foucault selten so klar formuliert hat, welchen analytischen Status er Wahnsinn und Sexualität zuschreibt.) Erstens betont Foucault damit, dass die Geschichtlichkeit dieser Phänomene, ihr kontingenter und flüchtiger Charakter, sie mitnichten weniger »wirklich« oder wirksam sein lässt. Zweitens besteht er darauf, dass Figuren wie die Zivilgesellschaft, der Wahnsinn oder die Sexualität, insofern sie spezifischen Machtregimen in-

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304 | Mathieu Potte-Bonneville newohnen, keine stabile Bedeutung haben. Denn Macht ist aus der Perspektive Foucaults keine Institution, die ihre Wirkungen im Verborgenen ausarbeitet, sondern ein Netz aus Beziehungen und Konfrontationen. Drittens sind Zivilgesellschaft, Sexualität und Wahnsinn »Transaktionsrealitäten«, was impliziert, dass die »Transaktionen«, aus denen sie hervorgehen, nie ein für allemal abgeschlossen sind. Die Bedeutung dieser Gestalten entfaltet sich also in Relation zu den Formen ihres Gebrauchs – und diese Formen sind ihrerseits eine Funktion der veränderlichen Beziehungen zwischen denen, die regieren, und denen, die regiert werden. Dass die Anrufung von Zivilgesellschaft eine Funktion des Kontextes ist, in dem sie vorgenommen wird, heißt nicht, dass das Konzept der Zivilgesellschaft unausgereift wäre. Im Gegenteil, gerade die Tatsache, dass seine Bedeutung unbestimmt oder zumindest unterbestimmt ist, macht seinen politischen Gebrauchswert aus. Dank dieser Formbarkeit ist es nämlich durchaus auch im ursprünglich liberalen Sinne einsetzbar gegen Regime der Gouvernementalität, die sich hinter den Mechanismen des alten »Polizei"staates verschanzen. In diesem Sinne analysieren Agnes Horváth und Arpád Szakolczai das Wiederaufleben der Idee der Zivilgesellschaft im Diskurs zentral- und osteuropäischer Dissidenten in den 1980er Jahren. Ausgehend von Foucault betonen die beiden Autoren, dass die neue Karriere der Zivilgesellschaft in Dissidentenkreisen keine transhistorische Realität dieses Konzeptes bestätigt, sondern lediglich einen Diskurs reaktiviert, der »mit bestimmten und ziemlich kurzen Perioden im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte verbunden war« (Horváth/Szakolczai 1995). Gleichzeitig verteidigen sie ihre Perspektive gegen einen historizistischen Einwand, der auf die radikale Differenz zwischen der Figur des Despoten als Zielscheibe der Kritik des 18. Jahrhunderts und dem bürokratischen Staat der 1980er Jahre verweist. Horváth und Szakolczai unterstellen – trotz der offensichtlichen Verschiedenheit beider Regime – eine »funktionale Äquivalenz zwischen Westeuropa am Beginn des 19. Jahrhunderts und der aktuellen politischen Landschaft in Zentral- und Osteuropa […]; die gemeinsamen Mechanismen sind der Parteiapparat – der Apparat bolschewistischen Stils und derjenige, der in sogenannten absolutistischen Staaten zum entscheidenden Faktor wurde: die moderne Polizei« (ebd.).

Aus der Sicht der beiden Autoren lässt sich der militante Gebrauch der liberalen Konzeption der Zivilgesellschaft weniger mit dem Wesen des vorgeschlagenen politischen Modells oder dem institutionellen und ideologischen Status des angegriffenen Regimes erklären als vielmehr mit der Präsenz spezifischer Machtmechanismen. Andererseits zeigt Foucaults Perspektive, dass die Zivilgesellschaft und die gefeierte Autonomie ihrer Mitglieder auch ein formidables Instrument der Kontrolle und Beherrschung sein kann. Mit seiner Analyse neoliberaler Gouvernementalität entwirft er

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das ungewohnte Bild einer Regierungsform, die einerseits unermüdlich an ihrem eigenen Rückzug aus der Sphäre des Sozialen arbeitet und die die Regierten andererseits dazu auffordert, ihr gesamtes Verhalten und jeden Bereich ihrer Existenz den Regeln ökonomischer Rationalität und Konkurrenz zu unterwerfen. Zusammengefasst könnte man sagen, dass Foucaults radikaler Pragmatismus der Idee von der »offenen Gesellschaft« eine neue Bedeutung verleiht. Aus seiner Perspektive ist Gesellschaft vor allem offen für Interpretationen, insofern sie auf verschiedene Weisen und zu sehr unterschiedlichen Zwecken angerufen werden kann. Diese Definition verweist nicht nur auf eine Präferenz für solche Gesellschaften, die offen sind für Auseinandersetzungen um die Frage, was unter »Gesellschaft« verstanden wird – in zumindest dieser Hinsicht war Foucault auf jeden Fall ein Liberaler –, sondern impliziert zugleich, dass die Öffnung und Wiederöffnung der Gesellschaft eine fortwährende Aufgabe bleibt – und dass jede Anrufung des Konzeptes Zivilgesellschaft sich dieses erst aneignen muss. Foucaults eigene politische Aktivitäten waren paradigmatisch für diesen Prozess der Aneignung, weil sich in ihnen zwei verschiedene Logiken miteinander verbanden. Tatsächlich lassen sich zwei Typen von »Anliegen« identifizieren, denen sich Foucault als öffentlicher Intellektueller widmete. Auf der einen Seite sein internationales Engagement, angefangen bei den letzten Jahren des Franco-Regimes in Spanien über Iran zur Zeit der Revolten gegen den Schah bis zu den Folgen von Jaruzelskis Putsch in Polen – bei all diesen Ereignissen stand Foucault sehr klar auf der Seite der »Gesellschaft gegen den Staat«, was heißt, dass man aus einer Perspektive der Regierten in eine Konfrontation mit der Regierung geht – eine Konfrontation, die klarstellt, dass sich die Zivilgesellschaft im herrschenden Regime nicht mehr wiedererkennt. Eine solche Form des Aktivismus, mit dem die Regierten die von den Regierungen für sich in Anspruch genommene Legitimität der Souveränität in Frage stellen, zielt auf eine Art »politischen Streik«, denn er unterstreicht die Autonomie der Gesellschaft und konstituiert zugleich eine soziale und moralische Erfahrung, die in den Mechanismen der politischen Repräsentation nicht aufgeht. Doch auf der anderen Seite schließt Foucaults politischer Aktivismus auch die verschiedenen Momente seiner Parteinahme für die von der Gesellschaft Ausgestoßenen ein – Gefangene, »Irre«, Homosexuelle. Die Beziehung zwischen diesen beiden Typen von Aktivismus – einer, der sich im Namen der Gesellschaft gegen den Staat richtet, und einer, der die Gesellschaft im Namen der von ihr Marginalisierten und Ausgeschlossenen in Frage stellt – ist nicht gradlinig. Es ist, als hätte Foucault das altehrwürdige Paar Gesellschaft und Staat weiterbearbeitet, um sowohl das philosophische Zusammenspiel als auch die historische Solidarität zwischen beiden zu prüfen – und um daraus schließlich ein Element zu extrahieren, mit dem sich gegenwärtige soziopolitische Konfigurationen der Macht untersuchen und in Frage stel-

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306 | Mathieu Potte-Bonneville len lassen. Dabei ging es ihm nicht darum, Staat und Gesellschaft miteinander zu versöhnen. Foucault hat nie prophezeit, dass der Staat am Ende verschwinden oder die Gesellschaft mit sich selbst Frieden schließen würde. Wonach er gesucht hat, war vielmehr der gemeinsame Nenner dieser beiden Typen von Kämpfen – für und gegen die Gesellschaft sozusagen –, in die er abwechselnd involviert war. Ein gemeinsamer Nenner, den jeder politische Aktivismus für seine jeweiligen Ziele neu bestimmen muss und den man als unzivile Gesellschaftlichkeit bezeichnen könnte. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Stefanie Graefe

Anmerkung 1 | Vgl. www.mjaft.org; außerdem: Victor S., »Otpor, Zubr, Kmara, Pora, Mjaft: Eastern Europe’s Children of the Revolution or Front Groups for the CIA?«, in: The Apostate Windbag, Januar 1994; verfügbar unter: http://apostatewindbag. blogspot.com/2004/12/otpor-zubr-kmara-pora-mjaft-eastern.html.

Literatur Aristoteles (1981): Politik, Hamburg: Meiner. Ferguson, Adam ([1767] 1986): Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. und eingeleitet von Zwi Batscha und Hans Medick, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel ([1975] 1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1997] 1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de France (1975-1976), hg. von Mauro Bertani und Alessandro Fontana, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2004): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France (1978-1979), hg. von Michel Senellart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ([1994] 2001-2005): Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Genté, Régis/Rouy, Laurent (2005): »Dans l’ombre des revolutions spontanées«. In: Le Monde diplomatique, Januar. Hegel, Georg F. W. ([1821] 1997): Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Ludwig Siep, Berlin: Akademie. Horváth, Agnes/Szakolczai, Arpád (1995): »Du discours de la societé civile et de l’auto-élimination du parti«. In: Cultures & Conflits 17, S. 47-80. www.conflits.org/document328.html.

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Machiavelli, Niccolò ([1513] 2001): Der Fürst, Frankfurt a.M.: Insel. Mangeot, Philippe (2005): »Patte de velours«. In: Vacarme 31, S. 152-155.

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Autoren und Autorinnen

Anne Caldwell, Assistant Professor für Politische Wissenschaft an der University of Louisville. Forschungsschwerpunkte: Feministische Theorie, zeitgenössische politische Theorien. Aktuelle Forschungen zum Verhältnis zwischen neuen Formen der Souveränität und Menschenrechten sowie zur Philosophie Giorgio Agambens. Mitchell Dean, Professor für Soziologie und Leiter der Division of Society, Culture, Media and Philosophy an der Macquarie University, Sydney. Jüngere Veröffentlichungen: Governmentality. Power and Rule in Modern Societies (Sage 1999); Mitherausgeber des einzigen nationalen Sammelbandes zur Gouvernementalität: Governing Australia (Cambridge University Press 1998). Aktuelle Forschungen u.a. zu historischen Konzepten von Krieg und Frieden, Souveränität und liberaler Ausnahmepolitik sowie zur politischen Mythologie der Weltordnung. Petra Gehring, Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. Letzte Buchveröffentlichungen: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens (Campus 2006) und Michel Foucault – Die Philosophie im Archiv (Campus 2004). Forschungsschwerpunkte u.a.: klassische und nachklassische Phänomenologie, »poststrukturalistische« Theorien, Philosophie des Rechts und Theorien des Politischen, Wissenschaftstheorie der Lebenswissenschaften und Bio-Macht. Stefanie Graefe, lebt als freiberufliche Dozentin, Autorin und Lektorin in Hamburg. Ihre Untersuchung zur Debatte um Sterbehilfe aus biopolitischer Sicht erscheint im Herbst 2007 bei Campus. Jan-Otmar Hesse, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Wichtigste Veröffentlichungen: Im Netz der Kommuni-

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310 | Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« kation. Die Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung (Beck 2002), Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften (hg. gemeinsam mit Ralf Adelmann u.a., transcript 2006). Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Zurzeit arbeitet er an einer Habilitation zum Thema: Die Volkswirtschaftslehre der frühen Bundesrepublik. Strukturwandel und Semantik. Susanne Krasmann, Soziologin, Privatdozentin am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Jüngste Buchpublikation: Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert (hg. gemeinsam mit Jürgen Martschukat, erscheint bei transcript 2007). Forschungsschwerpunkte: Sicherheitsgesellschaften, Staat und Gewalt. Thomas Lemke, Privatdozent am Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal und Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Letzte Buchveröffentlichung: Gouvernementalität und Biopolitik (VS 2007). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Biopolitik, Organisationssoziologie, politische Theorie, Wissenschafts- und Techniksoziologie. Sven Opitz, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Universität Basel. Ausgewählte Veröffentlichungen: Gouvernementalität im Postfordismus – Macht, Wissen, Techniken des Selbst im Feld unternehmerischer Rationalität (Argument 2004). Forschungsschwerpunkte: Schnittstellen von poststrukturalistischer Theorie und Systemtheorie, soziale Inklusion/Exklusion, Sicherheitsdispositive, immaterielle Arbeit. Mathieu Potte-Bonneville, unterrichtet Philosophie in der Ile de France. Mit-Gründer und Mit-Herausgeber der Zeitschrift Vacarme. Jüngste Veröffentlichungen: Amorces (Les Prairies Ordinaires 2006) und Michel Foucault, l’inquiétude de l’histoire (Presses Universitaires de France 2004). Forschungsschwerpunkte: das Werk Michel Foucaults und politische Philosophie. Aktuelle Forschungen zum Begriff des politischen Sinns (sens politique) im Anschluss an Foucaults Kategorie des »Gebrauchs« (usage) im Spätwerk und ihre Beziehungen zu Bourdieu, Deleuze und Certeau. Sophia Prinz, Kulturwissenschaftlerin, Soziologin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie des FB Geschichte & Soziologie der Universität Konstanz. Magisterarbeit zu Michel Foucault im FB Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg 2004: Visuelle Stigmatisierung. Fotografie und Physiognomik als biopolitische Technologien der Normalisierung. Zurzeit arbeitet sie an einer Dissertation

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Autoren und Autorinnen | 311

zu Dispositiven der Sichtbarkeit in urbanen Handlungs- und Wahrnehmungsräumen. Martin Saar, Wissenschaftlicher Assistent am Arbeitsbereich politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Wichtigste Veröffentlichungen: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault (Campus 2007). Herausgeber u.a. von Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001 (gemeinsam mit Axel Honneth, Suhrkamp 2003). Forschungsschwerpunkte: politische Theorie und Sozialphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, politische Theorie des Poststrukturalismus, politische Theorie der frühen Neuzeit (von Machiavelli bis Spinoza), zeitgenössische Ästhetik/Verhältnis von Politik und Kunst. Kevin Stenson, Professor für Kriminologie und Co-Direktor des Crime and Conflict Research Centre an der Middlesex University, London. Veröffentlichungen u.a.: The Politics of Crime Control (hg. gemeinsam mit Dave Cowell, Sage), Crime Risk and Justice (hg. gemeinsam mit Richard Sullivan, Willan 2001). Forschungsschwerpunkte: Politik der Kriminalitätskontrolle, empirische Studien u.a. zur sozialen Kontrolle Jugendlicher in öffentlichen Räumen, Praktiken sozialer Arbeit, Kriminalität und Unsicherheit in armen Wohnvierteln, Polizei und ethnische Minderheiten sowie community policing und kommunale Sicherheit. Michael Volkmer, arbeitet als Lektor mit den Schwerpunkten Soziologie und Philosophie in Bielefeld. Ulf Wuggenig, Soziologe, Privatdozent. Mitglied der Leitung des Kunstraums der Universität Lüneburg, Direktor des Instituts für Kulturtheorie der Universität Lüneburg. Aktuelle Veröffentlichungen: Kritik der Kreativität (hg. gemeinsam mit Gerald Raunig, Turia+Kant 2007) und Publicum. Theorien der Öffentlichkeit (Turia+Kant 2005). Forschungsschwerpunkte: Sozialer Gebrauch von Kunst und Kultur, Kunst und Globalisierung, Struktur und Wandel von Feldern und Institutionen der Kunst und der höheren Bildung, kulturelle Übersetzung, visuelle Soziologie und Anthropologie u.a. im Rahmen der von der EU (Culture 2000) geförderten Projekte »transform« und »translate«.

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Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen Juni 2007, ca. 260 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen Mai 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

Markus Holzinger Die Einübung des Möglichkeitssinns Zur Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht

Juni 2007, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

März 2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

Juni 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Februar 2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität

Juni 2007, ca. 232 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Februar 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Anne Peters Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Zizek

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman

Mai 2007, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-655-7

Februar 2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe Januar 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4

Sacha-Roger Szabo Rausch und Rummel Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte 2006, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-566-6

Max Miller Dissens Zur Theorie diskursiven und systemischen Lernens 2006, 392 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-484-3

Martin Voss Symbolische Formen Grundlagen und Elemente einer Soziologie der Katastrophe

Amalia Barboza, Christoph Henning (Hg.) Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft 2006, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-502-4

Mark Hillebrand, Paula Krüger, Andrea Lilge, Karen Struve (Hg.) Willkürliche Grenzen Das Werk Pierre Bourdieus in interdisziplinärer Anwendung 2006, 256 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-540-6

Renate Grau Ästhetisches Engineering Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb 2006, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-529-1

2006, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-547-5

Heiner Keupp, Joachim Hohl (Hg.) Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne 2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-562-8

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