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German Pages 481 Year 2019
Christian Kabemba Ndala
Möglichkeit und Relevanz einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung
Christian Kabemba Ndala
Möglichkeit und Relevanz einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung Kritische Lektüre von Charles Taylor aus der Perspektive von Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie der Fremdheit
Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Vorgelegt von: Christian Kabemba Ndala, Universität Konstanz Geisteswissenschaftliche Sektion Fachbereich Philosophie Konstanz, Februar 2016.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
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Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, für ihre Liebe und Offenheit, und allen Menschen, die wie sie das Zusammenleben tragen und bereichern.
Vorwort Das vorliegende Buch entstand im Rahmen meines Promotionsstudiums am Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz. Die Idee zu dem behandelten Thema entstammt einem Bedürfnis, über einen bestimmten Aspekt des menschlichen Miteinanders nachzudenken. Aus diesem Bedürfnis heraus formulierte ich eine Fragestellung, entwickelte diese und schrieb die Ergebnisse meines Nachdenkens, den Vorschriften des wissenschaftlichen Arbeitens folgend, nieder. Es ist also meine Arbeit. Aber was heißt ‚meine‘, wenn meine Reflexion mit anderen Reflexionen begonnen und sich in Auseinandersetzung mit ihnen entwickelt hat; wenn die Arbeit – so wie sie ist – nur durch die Beiträge von anderen zustande kommen konnte? Ich nutze also diesen Anlass, um mich bei allen zu bedanken, die in ganz verschiedenen Formen zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Peter Stemmer für die Betreuung und die unterstützende Begleitung. Mit ihm danke ich auch Herrn Prof. em. Dr. Bernhard Waldenfels, der immer bereit war, meine Fragen über sein Denken persönlich und freundlich zu beantworten. Ich bedanke mich auch bei Herrn Prof. Dr. Raúl Fornet-Betancourt für seine wichtige Rückmeldung und Herrn Prof. Bernard Gagnon für die Literatur über Taylor und den lehrreichen Austausch während meines Aufenthalts an der Université du Québec (Rimouski). Ich danke auch Herrn Prof. Dr. Thomas G. Kirsch und Frau apl. Prof. Dr. Monika KirloskarSteinbach für ihre Kommentare. Danke gebührt auch Herrn Prof. Dr. Marc-Polycarpe Matsumakia Mutombo, Herrn Prof. em. Dr. Marcel Ntumba Tshiamalenga, Herrn Prof. Dr. Kaza Ntima und Herrn Prof. Dr. Dieter Teichert für ihre Unterstützung besonders in den Anfangszeiten meiner Arbeit. Sonja Ndala, die zur Lektüre, Korrektur und Bereicherung der Arbeit beigetragen hat, danke ich von ganzem Herzen. Auch Dr. Thomas Domjahn und Anne Mone Sahnwaldt, die die Arbeit oder Teile von ihr gelesen und kommentiert haben, spreche ich herzlich meinen Dank aus. Gedankt sei auch der TeilnehmerInnen des Doktorandenkolloquiums, Carlos Kalonji und Mike Nsunda Yuna für die interessanten Diskussionen über die vielfältigen Fragen nach dem Wesen des menschlichen Zusammenlebens. Durch ihre finanziellen Förderungen haben der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und die FAZIT-Stiftung wesentlich zu Realisierung dieses Projekts beigetragen. Daher bedanke ich bei ihnen, sowie beim Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz, der eine Forschungsreise nach Québec und den Druck der Arbeit finanziert hat. Des Weiteren danke ich Frau Dr. Sabina Pieperhoff und Frau Waltraud Weigel für ihre mitmenschliche Zuwendung. Dies gilt auch meiner ganzen Familie und allen Personen, die hier nicht namentlich erwähnt sind. Danke Joséphine, Werner und Monique für alles. Konstanz, September 2018 Christian Kabemba Ndala
Inhalt Einleitung ...................................................................................................................................... 11 TEIL 1 Taylors sozialphilosophisches Konzept ...................................................................... 20 1. Anthropologische Grundlage........................................................................................... 21 1.1 Grundlegende Annahme und Kritik an der Erkenntnistheorie ........................... 23 1.2 Hermeneutische Richtschnur ................................................................................... 33 1.2.1 Zu einem neuartigen Begriff des Menschen und der Vernunft ................... 33 1.2.2 Die Infragestellung durch die Psychoanalyse ................................................. 54 2. Identität und Moral als Taylors zentrales Thema ......................................................... 60 2.1 Die Grammatik des menschlichen Handelns: starke Wertung ............................ 61 2.2 Diagnose und Auseinandersetzung mit der Moderne........................................... 75 2.3 Unbehagliche Eigenschaften der Moderne ............................................................. 82 TEIL II Taylors Diskussion prozeduraler Theorien ............................................................... 99 3. Taylors Auseinandersetzung mit dem Liberalismus ................................................... 100 3.1 Beschreibung der dreistufigen Kritik ..................................................................... 100 3.2 Atomistische Auffassung des Menschen - instrumentelle Vorstellung sozialer Institutionen und Praktiken – Neutralitätsprinzip ....................................... 102 4. Taylors Auseinandersetzung mit Habermas’ Diskursethik ....................................... 132 4.1 Kritische Besprechung der Diskursethik von Habermas .................................... 133 4.1.1 Mit Kant und gegen Kant ................................................................................ 133 4.1.2 Habermas’ Gesellschaftstheorie unter der Lupe Taylors ............................ 138 4.1.3 Die „anthropologische Herausforderung“ .................................................... 144 4.1.4 Die Vernunft und ihr anderes. Das Problem der Ethiken der Inartikuliertheit .......................................................................................................... 149 4.2 Der theoretische Vorgriff der Verfahrensethik auf eine substantielle Basis ..... 159 4.2.1 Kritik an der Unterscheidung zwischen moralischen und klinischen Fragen – Zur Entflechtung der Motive der Verfahrensethik ................................ 159 4.2.2 Das Kohärenzproblem der Verfahrensethik. Einige Beispiele. .................. 167 4.2.3 Muss eine kritische Ethik prozedural und explizit sein? ............................. 172
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5. Die Herausforderung des kulturellen Pluralismus...................................................... 178 5.1 Die universalistisch-ethnozentristische Perspektive ........................................... 179 5.1.1 Historischer Überblick – zivilisatorischer – wissenschaftlicher Ethnozentrismus ........................................................................................................ 179 5.1.2 Ethnozentrismus und Humanismus ............................................................. 187 5.2 Kampf um die Identität ........................................................................................... 190 5.2.1 Die Frage nach dem Recht auf die Differenz und nach dem Relativismus ................................................................................................................ 190 5.2.2 Taylors kontextualistische Perspektive ......................................................... 194 5.2.2.1 Explikative Theorie und Selbstverständnis der Subjekte – Horizontverschmelzung ....................................................................................... 192 5.2.2.2 Ambivalenzen bei Taylor: Kultur und Wertbegriff ............................ 203 5.3 Werte: Methodologischer Zugang – Deskriptiver und normativer Sinn von Werten – Einige Positionen zur normativen Relevanz der Wertstandards ............. 228 5.4 Taylors moralischer Realismus – Kritik am „Naturalismus“ ............................. 241 TEIL III Eine phänomenologisch orientierte Theorie der Interkulturalität als Interkorporeität – Die Herausforderung des Fremden ................................................... 256 Ausgangspunkt – Das Beispiel von Sophie Scholl ................................................................. 257 6. Paradigmenwechsel: Die Interkulturalität ernst meinen - sagen – nehmen ........... 265 6.1 „Kommst du aus einem Baum“? Eine afrikanisch-phänomenologische Sicht................................................................................................................................... 265 6.2 Das Selbst unter der Fremderfahrung – die Identität als „bei-sich-mit-Anderen-sein“ ........................................................................................... 269 6.3 Leiblickeit, Gefühle, Verschränkung ..................................................................... 281 6.3.1 Interdisziplinäre Sicht ..................................................................................... 281 6.3.2 Phänomenologische Herangehensweise an den moralischen Phänomenbereich ...................................................................................................... 296 7. Fünf Thesen zur Interkulturalität als Verflechtung und zum Umdenken .............. 304 Eine einleitende Überlegung – interkulturelle Philosophie ....................................... 304 7.1 These 1 Zu Zurückweisung von Schematisierungen .......................................... 308 7.2 These 2 Identitäten – Instrumentalisierung von Unterschieden und Kritik – Meriam Ibrahims Fall und die Frage nach einer umfassenden Zugehörigkeit ................................................................................................................... 340 7.3 These 3 Interkulturelle Kritik als anti-ideologische Position – Kritik an Victor Hugo ...................................................................................................... 360
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7.4 These 4: Der Kontextualismus im relativen Sinn, absoluten Sinn und radikalen Sinn. ................................................................................................................. 381 7.5 These 5 Fremdwahrnehmung. Kritik an der Moderne und Förderung von Vielstimmigkeit in der Geschichtserzählung ....................................................... 391 8. Ausblick: empirische Studien und ethische Diskussionsfelder ................................. 416 8.1 Einige gemeinsame Wertvorstellungen – empirische Plausibilisierung ........... 416 8.2 Interkulturalität von unten: Dialog – Menschenrechte – Erziehung ................. 419 Schluss ......................................................................................................................................... 434 Bibliographie .............................................................................................................................. 441 Charles Taylor ....................................................................................................................... 441 Monographien und Sammelbände................................................................................ 441 Sonstige Schriften ............................................................................................................ 438 Weitere Literatur .................................................................................................................. 442
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Einleitung Die Motivation zu dem vorliegenden Thema ist in der Praxis zu suchen. Genauer gesagt, entspringt es den theoretischen und praktischen Problemen, die sich mit einigen Kulturtheorien verbinden. Um dem bestehenden kulturellen Pluralismus gerecht zu werden, vertreten diese Theorien die Ansicht, „die Vielfalt der Kulturen bringe per se auch eine Vielfalt der Werte mit sich“. Dies bedeutet zweierlei1: (i) „Alle Werte sind kulturspezifisch“, denn sie bleiben an die Kultur gebunden, aus der sie ursprünglich stammen bzw. der sie angehören (Welche aber sind dies?); (ii) „Die Kulturkritik ist kulturzentrisch“, und somit fällt jede Kritik aus einem anderem Kulturraum unter den Verdacht der Unstatthaftigkeit (Worin aber bestehen die Grenzen zwischen den Kulturen?). Eine phänomenologisch orientierte Theorie der Interkulturalität, wie sie hier vorgelegt wird, die vom Schlüsselbegriff der Leiblichkeit ausgeht, erweist sich als bedeutsam und praktikabel. Herausgestellt werden fundamentale Verbundenheiten, die sich diesseits des Gegensatzes Universalismus - Partikularismus befinden und in der Menschheitsgeschichte angesichts von Sklaverei, kolonialer Ausbeutung, Kriegen und anderen Katastrophen eine Schlüsselrolle gespielt haben. Die Betrachtung bzw. Behandlung des Interkulturellen als Interkorporellen ist nicht nur realistisch (und schützt vor dem Verlust der Bodenhaftung in der Debatte), da Kulturen keine physikalischen oder lebendigen Entitäten sind, die aufeinandertreffen, sondern sie dient auch der Förderung von Gerechtigkeit bzw. wahrer Solidarität. Die vorliegende Untersuchung entwickelt das Problem des Universalismus und Partikularismus ausgehend von der Philosophie des Kanadiers Charles Taylor und findet einen Lösungsansatz für dessen Spannungen im phänomenologischen Denken von Bernhard Waldenfels mit Bezügen zur afrikanischen Philosophie. Der hier unternommene interpretatorische Versuch, Grundlinien und Spannungen von Taylors Denken herauszufiltern und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, hat in seiner Methodik grundlegende Züge mit R.G. Collingwoods Idee von Frage und Antwort und Aufforderung gemein, die Frage zu bestimmen, auf die ein philosophischer Autor seine Feststellung als Antwort gedacht hat.2 Was Taylor angeht, erweist sich sein Denken als eine Kritik an der vorherrschenden Tendenz in der modernen Denkweise, das naturwissen-
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Diese Darstellung findet sich unter anderem bei Amartya Sen, Gregor Paul und Thomas Göller. H. G. Gadamer, Einleitung, in R.G. Collingwood, Denken: eine Autobiographie. Stuttgart, 1955, S. XI. Ebenda, S. 73f.
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schaftliche Paradigma auch zum Verstehen der menschlichen Existenz bzw. seiner Handlungen zu privilegieren und daher die Rolle von meanings in der menschlichen Existenz als Täuschungen abzutun. Der Einfluss dieser Tendenz ist für ihn so groß, dass selbst diejenigen Autoren, die eine Unterscheidung zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem geisteswissenschaftlichen Paradigm annehmen, der Rolle von meanings in der menschlichen Existenz in ihren Sozial- und Moraltheorien keine wichtige Rolle zuschreiben. In Reaktion auf diese Situation besteht der therapeutische Anspruch von Taylors Projekt darin, die Betrachtung von menschlichen Wesen als subjects of significance zu entfalten und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen und zu verbreiten. Der Gang der Überlegungen entfaltet sich im Ausgang von einer spannungsvollen Dynamik in Charles Taylors Denken: Der erste Teil widmet sich Taylors sozialphilosophischem Konzept. Es geht zunächst darum, Taylors philosophische Anthropologie vorzustellen, aus der sich die theoretischen Grundvoraussetzungen seiner Moralphilosophie ergeben (KAPITEL 1). Es wird dargestellt, wie Taylor versucht, durch die Infragestellung der erkenntnistheoretischen Tradition einige der bedeutendsten moralischen Leitvorstellungen der Moderne zu Fall zu bringen. Taylors radikale Kritik an der herkömmlichen Erkenntnistheorie, die er als „isolationistisch-subjektzentriert“ begreift, basiert auf der Tatsache, dass sie Wissen bloß als inneres Bild einer äußeren Wirklichkeit definiert, statt als eine leibliche Auseinandersetzung mit der Welt selbst. Das Neue, was diese alternative Sichtweise mit sich bringt, besteht darin, dass das, was im cartesianischen Vorgehen nur als „späte Folgerung“ einer Schlusskette oder als Addendum erscheint, zur einer unhintergehbaren Komponente unserer Ursituation bzw. Uridentität wird. Infolgedessen bezeichnet Taylor als „Skandal der Philosophie“ in Anlehnung an Heidegger den sinnlosen Versuch, die Gewissheit der Außenwelt zu einem Problem zu machen, d.h. sie in Frage zu stellen und sogar eine Vorrangstellung der neutralen Auffassung der Dinge gegenüber ihrem Wert zu beanspruchen. Taylors Gegenüberstellung einer durch das cartesianische Cogito (das entkörperlichte und bindungslose Ego) illustrierten desengagierten Perspektive mit einer entgegengesetzten engagierten Perspektive wird hier eingehend dargestellt. Seine Bevorzugung der zweiten Perspektive, in der auch die Leiblichkeit des Menschen wiedergewonnen wird, erlangt ihre Relevanz dadurch, dass er auf ihrer Basis den Grundstein für sein ganzes Denken legen kann. Die Grundidee ist, dass der menschliche Handelnde als leibliches Wesen nicht umhinkann, sich im Lichte von starken Wertung zu verstehen und dass Bedeutungen (meanings) eine konstitutive (inescapeable) Komponente menschlicher Existenz darstellen. Dies wird im Kontext einer Untersuchung der engen Verknüpfung von Identität und Moral nachgewiesen (KAPITEL 2). In der Betonung des unentrinnbaren Charakters der Vorstelllungen des Guten im menschlichen Leben manifestiert sich Taylors Unzufriedenheit mit den Versuchen, in der Moral allein universelle menschliche Bedürfnisse und Interesse zu ermitteln, um eine sichere Basis einer von allen akzeptierten moralischen Ordnung, d.h. einer Moral der gleichen Achtung zu schaffen. Wie sollte man ohne jeglichen Verweis auf Vorstellungen des Guten den bio-
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logisch verankerten Ansprüchen eindeutige praktische Handlungsanweisungen entnehmen? In dieser Frage verdeutlicht sich der Grund von Taylors Misstrauens gegenüber solchen „biologischen Überlegungen“, und zwar, dass eine Moraltheorie, die vollständig sein bzw. die menschliche Identität treffend bestimmen will, auf das, wie Taylor sagt, „Metabiologische“ nicht verzichten kann. Untersucht wird anschließend Taylors Erkundung von ‚particular meanings‘ der Moderne, weil sie beispielhaft demonstriert, wie die individuelle und die kollektive Identität sowie die Welt des Sozialen unweigerlich auf eine substantielle Basis angewiesen sind. Taylor legt eine weitreichende Diagnose der Moderne vor, die Licht auf einige ihrer unbehaglichen Eigenschaften (Individualismus, Vorrang der instrumentellen Vernunft und Freiheitsverlust) wirft. Er befürwortet ihre kulturalistische Deutung (als Kristallisierung von spezifischen und historischen Selbstinterpretationen) und versucht sie mit ihren eigenen Ressourcen zu retten. Seine Diagnose der Moderne ist ein Anlass, sich mit einigen „mächtigen und vorherrschenden moralischen Einstellungen“ aus dieser Epoche auseinanderzusetzen. Die Diagnose erweist sich allerdings als so komplex, dass sie an verschiedenen Stellen approximativ bleibt. Es scheint, dass bei Taylor das Interesse, die kulturelle Grundlage moderner Eigenschaften zu verdeutlichen, mehr Gewicht hat als die Idee, die Moraltheorien, denen er entgegentritt einzeln zu erläutern. Indem er ihre Gemeinsamkeiten betrachtet – weniger ihre Unterschiede –, behandelt er sie alle unter dem Begriff „Ethiken der Inartikuliertheit“. Ethiken der Inartikuliertheit sind alle Ethiken, die es ablehnen, die den menschlichen Handlungen zugrundeliegenden Vorstellungen des Guten zu artikulieren, und darin ihre Glaubenswürdigkeit verspielen bzw. untergraben. All dies bedeutet, dass man an Taylors große Diagnose mit angemessenen Erwartungen und mit einem Bewusstsein für die bevorstehenden Aufgaben herangehen sollte. Da das vorliegende Buch moralphilosophisch ausgerichtet ist, wird die Aufgabe übernommen, wird ein besondere Akzent auf die Bedeutung und der Rolle der starken Wertung gelegt werden, auch wenn der Begriff – wie auch von Taylor angenommen – den moralischen Bereich überstiegt. Die Annahme der unvermeidlichen Einbettung des Menschen in Bedeutungshorizonte veranlasst Taylor zu intensiven Auseinandersetzungen mit dem prozeduralen Liberalismus und der Verfahrensethik. Letztere, die offensichtlich zu Taylors Überlegungen zur Moderne gehört, bildet den Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit. Gegen den prozeduralen Liberalismus betont Taylor in einer umfangreichen sozialen These, dass das menschliche Wesen auf die soziale Matrix angewiesen ist, die immer schon einen moralischen Raum – eine substantielle Gestaltung – bereitstellt (KAPITEL 3). Zu berücksichtigen sind daher die Bedingungen der Selbstverwirklichung und der Hintergrund des Rechts, weil diese voraussetzungsreich dadurch sind, dass sie Behauptungen von bestimmten Werten darstellen und daher in Bedeutungshorizonten eingebunden sind. Taylors Darstellung seiner eigenen Position als nicht-prozeduralistischer Liberalismus illustriert, dass es innerhalb des Liberalismus ein breites Spektrum an Varianten gibt und ist ein expliziter Ausdruck seines Verständnisses der Moderne. Auch Verschiebungen bzw. Bemühungen um die Erneuerung des
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‚Alten‘, Stellungnahmen zu den ‚Neuen‘ (wie steht Taylor z.B. zu Rawls ‚überlappenden Konsens‘ usw.) werden betrachtet. In Bezug auf die Moderne sind Taylor und Habermas sich einig bei der Zurückweisung der heuristischen Hypothese eines ungebundenen Selbst bzw. jeder atomistischen Auffassung der Gesellschaft und bei der Darstellung der „dialogischen“ Gestaltung der menschlichen Identität als unverzichtbaren Ausgangspunkt. Sie entwickeln aber zwei verschiedene Alternativen dazu. Dabei geraten sie in einer intensiven und lehrreichen Auseinandersetzung aneinander, die für die Thematik von besonderer Bedeutung ist. Sie wird daher genau und eingehend rekonstruiert und mit vielen Beispielen verdeutlicht. Von Taylors ausgehend, erklärt sich diese Auseinandersetzung aus den Grundannahmen seiner philosophischen Anthropologie. Eine Ethik, zu deren Grundlagen der reine Formalismus und die Macht der Verständigungsprozesse gehören, kann nicht zufriedenstellend sein für eine Ethik, die aus der Anthropologie hervorgeht. Es wird gezeigt, inwiefern laut Taylor die Verfahrensethik trotz ihrer Rhetorik nicht umhinkann, auf eine substantielle Basis zurückzugreifen und genötigt ist, diese anzunehmen, will sie sich dem Vorwurf der Unzulänglichkeit entziehen (KAPITEL 4). Dies ist eine Aufforderung, den weiten Umfang des moralischen Phänomenbereichs zu berücksichtigen. Daher untermauert Taylor die Rede von Unumgänglichkeit der starken Wertungen mit dem Argument der „anthropologischen Herausforderung“, um Habermas zu zeigen, dass dieser „die spezifische Natur und Logik des Moralischen“ missversteht, und die von ihm geforderte Abstinenz in Bezug auf Vorstellungen des Guten nicht durchzuhalten ist. Es wird im vorliegenden Buch viel Wert gelegt auf diesen Begriff der starken Wertungen bzw. des Menschen als stark wertendes Wesen; daher besteht die Verpflichtung, ihn von kulturalistischen Akzenten zu schützen bzw. zu befreien. Da Taylor in einem weiteren Schritt die meanings bzw. Werte und Vorstellungen vom Guten als ethnisch-kulturell geschaffen und daher auch als kulturell verschieden darstellt, entwickeln sich in seinem Denken nicht ohne Spannung eine kulturelle bzw. kulturalistische Bestimmung der Moral; diese hegt ein prinzipielles Misstrauen gegenüber allgemeingültigen Beurteilungen. Die beiden Perspektiven, die hier in Konfrontation geraten, werden jeweils vorgestellt: die universalistisch-ethnozentrische Perspektive und die partikularistische, d.h. die ethnisch-kulturelle Perspektive (KAPITEL 5). In der ersten, die den universalistischen Anspruch am ausgeprägtesten entwickelt, stellt sich – wie mit Rückblick auf die Geschichte und die Krise in den Sozialwissenschaften gezeigt wird – das Problem der Anerkennung der Identität der Anderen bzw. der fremden Kulturen. In der zweiten Perspektive spitzt sich dieses Problem zu, weil die Rede von einem Recht auf Differenz ein antagonistisches Verständnis des Verhältnisses zwischen Universalität und Partikularität mit sich bringt. Es ist wichtig, deutlich zu erkennen, wie sich die Positionen, insbesondere Taylors Position, um die Begriffe der Kultur und der Werte kristallisieren bzw. welche Ambivalenzen bestehen und wieso sie entstehen. Die abschließende Analyse des Wertbegriffs
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zielt darauf ab, den Weg zu einer Verteidigung der moralischen Beurteilung aus interkultureller Sicht zu ebnen. Dies dient der Zurückweisung der Gleichsetzung von Pluralismus der Kulturen mit dem Wertepluralismus (axiologischen Pluralismus), bzw. der Abgrenzung von kulturalistischen Bestimmungen der Moral. Daher interessiert hier primär eine normativer statt ein deskriptiver Wertbegriff. Inwiefern kann die universalistisch-ethnozentrische Perspektive ohne einen Rückgang auf den Relativismus in Frage gestellt werden? Es bedarf einer Überlegung, die zwischen den kontextuellen und universellen Gesichtspunkten, unter denen das menschliche Verhalten betrachtet und problematisiert werden kann, vermittelt und keine von beiden überbetont. Im dritten und letzten Teil wird darauf durch die Verdeutlichung der zentralen Bedeutung der Leiblichkeit geantwortet. Dies ist der Sinn der Rede von Interkulturalität von unten als einer phänomenologisch orientierten Theorie der Interkulturalität. Wir werden hier den Paradigmenwechsel um die Vorsilbe inter, der die Phänomenologie in Einklang mit dem afrikanischen Denken der Einheit – Pensée de l´unité (nicht Einheitlichkeit) – einleitet, hervorheben (KAPITEL 6). Das Grundkonzept steht hier fest: Die Phänomenologie ist – mit Waldenfels gesprochen – eine Philosophie der Erfahrung: Man geht von der Erfahrung aus und entwickelt Konzepte, die man immer an der Erfahrung korrigiert. Sie fundiert nicht, sondern zeigt (siehe seinen Aufsatz „Faire voir par les mots: Mit den Worten sehen lassen). Als ein aufzeigendes Sprechen geht die Phänomenologie den Dingen auf den Grund. Den Leib als Schnittstelle oder Ort der Verschränkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Partikularen und dem Universellen, kurzum, als spezifischer Standpunkt moralischer Beurteilung miteinzubeziehen, ist keine intellektuelle These, sondern eine Lehre aus der menschlichen Grunderfahrung. Eine Grunderfahrung, von der man infolge des cartesianischen Dualismus den Blick lange Zeit abgewendet hat. Anhand von konkreten Beispielen wird die Schlüsselrolle des Leibes verdeutlicht und die durch ihn entstandenen Verbundenheiten, welche sich diesseits des Gegensatzes bzw. der Debatte Universalismus Partikularismus befinden, ins rechte Licht gerückt. Mit Blick auf neurowissenschaftliche Studien (wie D. Golemans Emotionale Intelligenz, C. Keysers´ Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen, A. Damasios Descartes´ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn usw.) wird die Schlüsselrolle des Leibes (bzw. der Gefühle) untermauert bzw. die Überwindung der Dichotomie Gefühle und Vernunft in der Überwindung der gespaltenen Freiheitsvision bzw. der dichotomischen Rassenordnung, der nennenswerten Figuren der Epoche der Lumieres und ihre Nachfolger nicht entkamen. Die Leitfigur der Verschränkung erweist sich als aufschlussreich, wenn die Leiblichkeit des Menschseins und die Werterfahrung in den Mittelpunkt rücken. Von dieser Perspektive aus öffnet sich die Möglichkeit von Mit- und Nachgefühl, von Perspektivenwechsel, Solidarität, und dem Menschlichen bzw. „allgemeinen Menschlichen“ zu sprechen. Darin besteht eine Basis, von der aus jede überzogene Auffassung von Unvergleichbarkeit zurück-
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gewiesen werden kann. Dadurch kann man auch verständlich machen, dass kulturelle Spezifitäten zwar beachtenswert und schützenswert sind, aber nicht den „allerletzten Horizont“ moralischer Beurteilungen bilden. Ist der Sieg von Nelson Mandela gleichzusetzen mit dem Sieg eines kulturspezifischen Wertes oder handelt es sich vielmehr um einen Sieg der Menschlichkeit (Amartya Sen)? Durch solche Beispiele wie auch die von den Missionaren Francisco José de Jaca et Epiphane de Moirans im Zeitalter des Sklavenhandels, von den Geschwistern Scholl in der NS-Zeit, von Meriam Ibrahim im heutigen Sudan usw. wird auf die Verbundenheit zwischen den Menschen als leiblichen Wesen hingewiesen und gezeigt werden, dass die Berücksichtigung des kulturellen Pluralismus keinesfalls die allgemeingültige moralische Beurteilung ausschließt, sondern als Korrektiv der universalistischen, aber ethnozentrisch geprägten Perspektive dient. Die Wiedereinführung von Gefühlen (Osterhammel) in die Politik lässt sich – selbstverständlich ohne hier eine monokausale Erklärung zu befürworten – als eine bedeutsame Vorwärtsbewegung für die Menschheit ansehen. Gefühle sind hier keine bloße Sache des privaten Raumes. Der Leib bestätigt sich als Ort des Partikularen und des Universellen. Die vor dem Hintergrund des Leibes phänomenologisch erarbeitete Zwischenposition, setzt neue Töne und schafft den Raum für eine relevante Diskussion über die Interkulturalität und Werterfahrung. Auch wenn wir Taylors Begriff der starken Wertung für wichtig halten und darauf keineswegs verzichten wollen, ist erkennbar, dass er sich bei der Überwindung von Ambivalenzen angesichts der Frage nach den Grenzen kultureller bzw. sozialer Ordnungen schwertut, weil er das Motiv des Fremden und das Fremde als Außerordentliches zu wenig berücksichtigt. Die Zugehörigkeit zu diesen Ordnungen ist nicht umfassend. Bei der Nicht-Berücksichtigung der radikalen Fremdheit (Waldenfels), die die unüberwindbare Fremdheit im eigenen Haus bedeutet und die alltäglichen und strukturellen Formen der Fremdheit übersteigt, ist es schwierig dem alle Ordnungen in der Art eines Schattens begleitenden Außerhalb (das hors d´ordre) gerecht zu werden. Die Porosität der Ordnungen bedeutet hier, dass die Inklusion dieses Außen zum Scheitern verurteilt ist. Keine Ordnung kann sich umfassen. Fremdes als Außer-ordentliches ist „ein Über-hinaus", ein „Mehr". Es bringt fremde Ansprüche mit sich. Will man darauf antworten, muss man es entschlossen ablehnen, Partikularität gegen Universalität bzw. Eigenes gegen Fremdes, Vernunft gegen Gefühle, Tatsachen gegen Normen auszuspielen. Der Verzicht, Werte als kulturimmanente Dinge und par excellence voneinander verschieden zu verstehen, dieser Betrachtungsweise. Die Betrachtung des Interkulturellen als des Interkorporellen (des Zwischenleiblichen) wiederspiegelnd, werden fünf Thesen formuliert (KAPITEL 7). Diese Thesen enthalten sowohl eine negative Komponente (Zurückweisung der Schematisierungen, ideologischen und verengten Ansichten) als auch eine positive Komponente (Forderungen von Gerechtigkeit, Solidarität, Vielstimmigkeit in der Geschichtserzählung usw.). Sie sagen nicht nur etwas über die Relevanz der interkulturellen Kritik, sondern bringen auch die Forderung nach einem Umdenken mit sich. Die Abgründe der internationalen Politik, bedeutsame
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Ausschnitte der Menschheitsgeschichte (z.B. Sklaverei, koloniale Ausbeutung, politische Diktatur usw.) werden erkundet und in diesem Zuge die Bedeutung des Leibes als Schnittstelle in Vorwärtsbewegungen aufgezeigt. Wir werden in diesem Rahmen Reden und Handeln von verschiedenen Akteuren aus dem politischen und intellektuellen Bereich (wie Victor Hugo, Voltaire usw.) betrachten – mit dem Anliegen, der Dimension der Machtinteressen nachzuspüren und einen anti-ideologisch orientierten, angemessenen und lehrreichen Rahmen des interkulturellen Dialogs zu fördern. Vor dem Hintergrund der grundlegenden Fremderfahrung – bzw. mit Blick auf die geschichtliche Dimension der Bildung der Moderne – kann man auch besser sehen, inwiefern z.B. Taylors Konzept der Rettung der Moderne mehr an Relevanz gewinnen würde, indem er dank der Fremdheit dem „Zirkel der kollektiven Selbstbezüglichkeit“ (Waldenfels) entgehen kann, der aus jeglicher scharfen Grenzziehung zwischen Innen und Außen resultiert. Betrachtet man all dies, kann die Frage nach der Rezeption der Aufklärer im Kontext der Interkulturalität nicht vermieden werden: Sicher ist ihr Bild bei den Völkern, die mit dem Imperialismus konfrontiert waren und sind, nicht schmeichelhaft. Zwar haben sie wichtige Impulse zur Philosophie beigetragen – auch das darf nicht vergessen werden –, aber sie haben deren Bedeutung durch ihre ambivalenten Positionen gleichzeitig relativiert und setzen sich der Kritik aus. Bezüglich der Art der Begegnungen zwischen den Völkern, die hier stattgefunden haben, stellen sich vielen Fragen. All dies spricht für das Motto Philosophie bzw. Philosophiegeschichte im Plural, das Ernstnehmen von verschiedenen Epistemologien in der Welt und angesichts der zahlreichen Krisen (Armut, Flüchtlinge, Umwelt, Menschenrechte, globale Politik usw.) für die Berücksichtigung unter anderem der Standpunkte der Löwen entsprechend dem afrikanischen Sprichwort: „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiter die Jäger verherrlichen.“ Die Überlegungen werden abschließend durch gegenwärtige empirische Studien untermauert, die einige weltweite Gemeinsamkeiten in Wertenfrage nahelegen und daher die Rede von einem eingeschränkten Universalismus begründen; sie werden anschließend mit Blick auf Anwendungsfelder wie Menschenrechte, interkulturelle Erziehung und Politik in ihrer Relevanz vertieft (KAPITEL 8). Man kann nicht die gleichen Vorgehensweisen in zwei Kulturen erwarten, von denen die eine dem Individualismus und dem Besitztum mehr Gewicht gewährt bzw. den Menschen mehr als Besitzer darstellt, und die andere das „êtreavec/das mit-sein“, also, die Beziehung zu einer Grundkategorie macht und in diesem Zusammenhang das Verb ‚haben‘ gar nicht kennt (x haben = mit x sein in Bantu-Sprachen im Kongo) bzw. den Menschen in der Umwelt mehr als Verwalter begreift. Die Entwicklungsfrage stellt sich hier grundsätzlich als eine Frage nach den Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen und zur Umwelt. Der Wert des Menschen wird nicht an dem, was er hat, gemessen, sondern an seinem Wissen und an den Beziehungen, die er entwickelt und pflegt. In diesem Kontext ist eine Frage wie die der Beerdigung zwar eine familiäre Angelegenheit, aber auch eine gesellschaftliche. Den anderen wird ein bestimmtes Recht (bzw. eine ‚empfundene‘ Pflicht) auf die Beteiligung an der Beerdigung zuerkannt. Der Verstorbene
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ist auch ‚ihr Verwandter‘; daher kommen sie frei und spontan, um ihn zu würdigen. In dieser Tradition, in der die Beziehung zu anderen eine Grundkategorie ist und alle Menschen ‚Bandeko‘ (Brüder) sind, wird der Mensch grundsätzlich als ein ‚Muntu wa Bende‘ verstanden, d.h. ein Wesen des ‚Anderen‘, ein Wesen, das dem ‚Anderen‘ (bzw. Gott) gehört. Ich sollte daher auf den Menschen achten; ich kann und darf nicht über sein Leben als ein persönliches Gut verfügen bzw. ihn behandeln wie ich möchte, denn er gehört mir nicht; und diese Aufforderung gilt unabhängig von der ethnischen bzw. nationalen Identität des Menschen; in diesem Zusammenhang ist der Fremde ein ‚mwenyi‘ (ein Gast, der meine Freundlichkeit von vornherein verdient). Ihm wird ein Platz sowie Rechte zugesprochen, bevor er in Form der Person auftritt. Der Fremde ist jemand, auf den man immer schon wartet. Man kann z.B. auch nicht erwarten, dass in einer Gesellschaft, in der die Eheschließung zugleich eine tiefe Bindung von zwei Familien bedeutet und der traditionellen Eheschließung im Vergleich zur standesamtlichen Eheschließung eine entscheidende Bedeutung zukommt, das Leben so gestaltet und die Konflikte so geregelt werden wie in einer Gesellschaft, in der sie einen Vertrag zwischen zwei Personen bedeutet. Rechte und Pflichten werden hier kontextuell gefasst. Man kann ebenso nicht erwarten, dass die Erziehung, dass die Führung des Lebens und die Lösung von Konflikten in einer Gesellschaft, in der die Verstaatlichung der Familie sehr stark ist, ähnlich sind wie in einer Gesellschaft, in der erweiterte Familien und bestimmte Personen mit anerkannten Rollen wie der Beratung ein großes Gewicht haben. In einem Fall trägt der Anspruch auf Rechte zur Verstärkung von autoritären Eingriffen bei, im anderen Fall bewahren bzw. begrenzen Lebensweisen vor autoritären Eingriffen und gewährleisten der Familie ihre Autonomie. Wir stehen vor einer ganzen Palette von Unterschieden, ja von diversen feinen Akzentuierungen und Gewichtungen, die das Bild der Welt bunt machen. Aber Unterschiede bedeuten nicht, dass wir in absolut unterschiedlichen Welten leben und untergraben nicht die universalistischen Ansprüche: „Nicht nur an einer gewissen Konturierung des Eigenen ist festzuhalten, sondern auch an einer gewissen Form von Universalisierung, die sich über den Stand des Eigenen erhebt.“ (Waldenfels) Aus einer Perspektive, in der die (Universalität nicht ausschließende) Kontextualität (das Eingebundensein). bzw. die Pluralität grundsätzlich gewahrt und aufgewertet wird, erweist sich der interkulturelle Dialog als Chance zur Bereicherung des Verständnisses der Menschenrechte, der Herausforderungen der Welt und des Zusammenlebens. Dies impliziert die Verabschiedung vom Bild einer aufgesplitterten Welt, also von deutlichen Grenzlinien zwischen Menschen, Dingen, Bereichen. (Am Beispiel von F. Capra Herausstellung des Zusammenhangs der modernen Physik und der östlichen Philosophie bzw. mystisch angelegten Traditionen zeigt sich, dass das Denken über die Fremdheit, das die Dichotomie von Inklusion und Exklusion zurückweist in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Forschungsstand steht). Dies betont auch die Relevanz von Forschungen über Traditionen wie Maat (altägyptisches Konzept der Weltordnung, Gerechtigkeit usw.), von Inkas und anderen, die Förderung von vergleichenden Forschungen über Mythen, die Licht auf den einen
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oder anderen Aspekt des Lebens werfen. Es ermöglicht, der beständigen Herausforderung gewachsen zu sein, zu erkennen, wie alles zusammenhält. Das Denken über die Fremdheit ist auch eine Aufforderung von Initiativen in Bildungseinrichtungen, die die einen oder anderen dazu einzuladen, ihre ‚partielle Fremdheit‘ vorzustellen bzw. zu würdigen, sowie eine Infragestellung von Bildungskonzepten und Schulbüchern. Hier wird sich klar zeigen, inwiefern – mit Waldenfels gesprochen – Ethos und Politik im Fremden ihre entscheidende Bewährungsprobe finden. Wird die genuine und ursprüngliche Verflechtung zwischen dem Eigenen und dem Fremden verstanden, d.h. erkennt man, dass man keinen festen, das Eigensein garantierenden Boden diesseits der Verflechtung wird finden können, dann werden wichtige Bedingungen für einen beginnenden kritischen Austausch, kurzum, ein lehrreiches interkulturelles Zusammenleben erfüllt.
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TEIL 1 Taylors sozialphilosophisches Konzept „Ich denke, also bin ich ist ein Satz eines Intellektuellen, der Zahnschmerzen unterschätzt. Ich fühle, also bin ich ist eine Wahrheit von größerer Gültigkeit und betrifft jedes lebende Wesen.“ (M. Kundera, Die Unsterbilichkeit. München/ Wien, 1990, S.249.) „Wenn ‚der Mensch‘ (eine Abstraktion!) das Maß der Dinge ist, so ist er eben nicht Herr über die Richtigkeit der Maßanwendung. Wenn ich nach einem Maßsystem messe, so kann ich den Zahlenwert nicht mehr beliebig verändern – oder ich messe nicht mehr, sondern phantasiere. Ähnlich: Farbskalen, Tonsysteme (falscher Ton), Raumnetze, Zeitordnungen. Um es sehr simpel zu sagen: es liegt an mir, ob ich messe; es liegt nicht an mir, wie lang etwas ist.“ „Tradition als das Bergende. Keine Gründe sind erforderlich (man begründet seine Mutter oder seinen Geburtsort nicht) […].“ (B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch. Paderborn/München, 2008, S. 38 und 44.)
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1. Anthropologische Grundlage Es ist bekannt, dass für Kant alle Fragen der Philosophie auf die Frage nach dem Menschen zurückgeführt werden können. Er erläutert diese Ansicht folgendermaßen: „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung lässt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich so die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“3 Mit dieser Aussage, die den Menschen zum Mittelpunkt der ganzen kritischen Philosophie Kants macht, wird die philosophische Anthropologie als Grunddisziplin der Philosophie inthronisiert. Genauso wie Kant beschreibt Taylor in Philosophical Papers seine Arbeit als einen Beitrag zur philosophischen Anthropologie. Das zentrale Anliegen des gesamten Spektrums seiner Bemühungen lässt sich auf die philosophische Anthropologie zurückführen. Rosa spricht daher von einem „monomanischen“ Analysefokus bei Taylor und sieht den Ankerpunkt des philosophischen Werks, „um den seine politischen wie seine epistemologischen, sprachtheoretischen oder kulturanalytischen Überlegungen letztlich kreisen und von dem aus sie erst adäquat zu verstehen sind, in der Frage nach der Weltbeziehung des Menschen und a fortiori des modernen Menschen, nach der Art und Weise seines In-die-Welt-gestelltSeins“.4 Für den kanadischen „Monomanen“ ist unbestreitbar, „dass die Art der Weltbeziehung historisch und kulturell variabel ist, dass ‚wir’ moderne Menschen auf eine andere Weise in der Welt und der Welt gegenüber stehen als Menschen mit einer mittelalterlichen, alt-griechischen oder ‚indigenen’ Welterfahrung“.5 Taylor erwähnt Unterschiede nicht nur aus der Tatsache, dass man in zeitlich verschiedenen Welten leben kann, sondern auch aus der Tatsache, dass man sich auf die Welt jeweils anders bezieht. Taylors Entwicklungen der philosophischen Anthropologie bei (inter)kulturellen Fragen werden in den letzten Kapiteln im Mittelpunkt stehen. Zunächst ist wichtig, die große Bedeutung der Weltbeziehung und Welterfahrung6 des Menschen in seinem Denken zur Kenntnis zu nehmen. Dies ist einfach, wenn man klarstellt, welche Position Taylor in seiner philosophischen Anthropologie anprangert.
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I. Kant, Gesammelte Schriften. Bd. 9, Berlin, 1923, S. 25. H. Rosa, „Is There Anybody Out There? Stumme und resonante Weltbeziehungen – Charles Taylor monomanischer Analysefokus“, in M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, Berlin, 2011, S. 15. Ebenda, S. 16. Auch Taylors Interesse an religiösen Erfahrungen in Ein säkulares Zeitalter ist angesiedelt im Grundrahmen seiner Reflexion über die Weltbeziehung und Welterfahrung. Er geht in diesem Buch der schon in vorigen Publikationen entworfenen Frage nach der Spezifik der religiösen Erfahrungen nach und erörtert die verschiedenen Formen des Erlebens, „die eine Rolle spielen,
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Taylors Kritik ist gegen jeden Versuch gerichtet, die Naturwissenschaften als Forschungsparadigma bei der Bestimmung der Vorgehensweise der human sciences zu betrachten, z.B. in seiner Kritik am Behaviorismus. Dies kann man als einen Grundzug der Rede von philosophical anthropology im angelsächsischen Sprachraum betrachten: Signalisiert wird primär eine Unzufriedenheit mit philosophischen Ansätzen, „die, etwa, in der Philosophie des Geistes oder der Moralphilosophie, methodisch an den empirischen Naturwissenschaften orientiert sind“.7 Der Grund aus dem heraus Taylor auf der klassischen Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften beharrt, besteht darin, dass er letztere als grundsätzlich auf einer hermeneutischen Dimension basiert sieht, d.h. sie sind auf eine spezifische Vorgehensweise angewiesen, die auf den besonderen Status ihres Forschungsgegenstands (und zwar des Menschen) angepasst ist. Taylor betont diesen besonderen Status, indem er den menschlichen Handelnden (human agent) als ein „subjects of significance“ oder ein self-interpretating animal darstellt: „[W]ho and what we are is partly constituted by our self-understandings and self-descriptions, by our aspirations, desires, aversions, admirations, and the like.“8 Bei der Betonung der Idee, das menschliche Wesen sei ein „subjects of significance“, legt Taylor einen Grundstein, dessen Tragweite in diesem Buch aufgezeigt werden wird. Darin sieht er das, was das menschliche Wesen im Unterschied zu Tieren spezifisch auszeichnet, und zwar: Der Mensch ist ein Wesen, für das Dinge in einer charakteristischen Weise bedeutungsvoll sind. Dies illustriert sich besonders an seinen Erfahrungen von Stolz und Scham, Liebe und Neid, moralisch Gutem und Üblem. Für Taylor widersetzen sich diese Erfahrungen jedem Versuch, den Mensch als ein desengagiertes Selbst bzw. ein mit einer kalkulatorischer Vernunft (calculative reason) ausgestattetes Selbst darzustellen.9 Mit Blick auf diese
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wenn man sein Leben auf die eine oder andere Weise begreift, also auf die innere Erfahrung des Lebens als gläubiger oder ungläubiger Mensch.“ (C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt/ M., 1999, S. 18). Er steht im Zusammenhang mit seiner Antwort auf von Skinner erwähnte Humes Idee, „der Tod Gottes gibt uns die Gelegenheit, vielleicht sogar die Pflicht, den Wert unserer Menschheit vollständiger als je zuvor zu bejahen.“ (Q. Skinner, „Moderne und Entzauberung“, in DZPh, 44(1996)4, S. 619; ders., „Modernity and disenchantment: some historical reflections“, in J. Tully (Hg.), Philosophy in Age of Pluralism. The Philosophy of Charles Taylor in question, Cambridge, 1994, S. 47). Diesbezüglich stellt Taylor die Frage: „what kind of affirmation can one make? I don´t want to prejudge this. I have a hunch that there is a scale of affirmation of humanity by Gold which cannot be matched by humans rejecting God.“ (C. Taylor, „Reply and rearticulation“, in J. Tully (Hg.), Philosophy in Age of Pluralism, a.a.O., S. 226.) N. Roughley, „Anthropologie und Moral: Philosophische Perspektiven“, in M. Endreß, N. Roughley, Anthropologie und Moral, Würzburg, 2000, S. 18. C. Taylor, „Self-Interpreting Animals“, in ders., Philosophical Paper. Bd. 1, Cambridge, 1985, S. 47. Ebenda, S. 97f. Die anthropologische Fragestellung hat zwar eine Vorgeschichte, aber sie ist – wie D. Jörke betont – erst nach dem Ersten Weltkrieg intensiv behandelt. Für ihn kann die
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starken Behauptungen ist es gerechtfertigt, die Grundzüge von Taylors Anthropologie als Schlüssel zum Verständnis seines Denkens zu betrachten. Im folgenden Abschnitt muss zunächst auf die anthropologische Stellung des Erkenntnissubjekts in Taylors Philosophie bzw. die Kritik an der „isolationistisch-subjektzentrierte Erkenntnistheorie“10 eingegangen werden.
1.1 Grundlegende Annahme und Kritik an der Erkenntnistheorie Taylors Sicht der Anthropologie Im Vorausgehenden hat sich ergeben, dass sich der Ankerpunkt der Philosophie Taylors in der Frage nach der Weltbeziehung oder in der Tatsache des In-die-Welt-gestellt-Seins des Menschen verorten lässt. Die Art und Weise dieser Welterfahrung ist für ihn nicht zuerst auf die Reflexion angewiesen, d.h. nicht eine Sache der kognitiven Auffassungen, sondern auf ein verkörpertes Weltverständnis und Weltempfinden.11 Das vorreflexive Moment ist ausschlaggebend in Taylors philosophischer Anthropologie, die „motiviert ist von der Furcht vor oder vom Kampf gegen eine Welterfahrung, Welthaltung und Weltbeziehung, in der sich das handelnde Subjekt als abgetrennt und isoliert von einer Welt erfährt, die ihm als indifferent, stumm oder feindlich gegenübertritt und zu der es nur instrumentell oder kausal in Beziehung steht [...]“.12 Diesem Modell setzt er eine engaged view entgegen. Darunter versteht er – wie Laitinen erkärt – das Folgende:
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Veröffentlichung von Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) als eine Initialzundüng betrachtet werden. Anschließend daran wurden zahlreiche Abhandlungen bezüglich der Frage nach dem, was den Mensch zum Menschen macht, veröffentlicht. (D. Jörke, „Szenen einer heimlichen Liebe: Anthropologiekritik bei Horkheimer, Habermas und Foucault“, in D. Jörke, B. Ladwig (Hg.), Politische Anthropologie, Baden-Baden, 2009, S. 87. Der Ausdruck stammt von T. Rentsch. Obwohl er Taylors Descartes-Kritik, genau, Kritik des buffered self (d.h. „des in sich gefestigten, sich rein über die innerweltliche Identität verstehenden modernen Ich bzw. Selbst“) für zutreffend hält, fragt er sich, „ob ein solches gepanzertes Selbst, wie es in den erkenntnistheoretischen Konstruktionen von Descartes und Locke als punktuelles Zentrum von Wahrnehmung, Erfahrung und Denken auftritt, in der Tat in der Breite der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung der Moderne eine ebensolche Rolle spielte und spielt.“ (T. Rentsch, „Wie ist Transzendenz zu denken?“, in M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, a.a.O., S. 576.) H. Rosa, „Is There Anybody Out There?“, a.a.O., S. 16. In dieser Perspektive spricht Bernahrd Waldenfels von einem „responsiven Handeln“. Dank einer überwältigenden Leistung hat er – wie wir zeigen werden – in seiner Philosophie diesen Begriff der Responsivität in jeder Hinsicht und ausführlich entwickelt. Ebenda, S. 18.
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„In living their lives, humans orient actively towards the world and participate in practices and engage in various meaningful activities, encountering demands and realizing values.“13 Der Begriff des engaged view ist von zentraler Bedeutung und bedarf daher, dass das Augenmerk auf ihn immer gerichtet wird, will man Taylors philosophische Anthropologie und ihre Anwendung in seinen epistemologischen, sprachtheoretischen, politischen und kulturanalystischen Ansätzen verstehen.14 Für ihn sind die Menschen tief und unentrinnbar in die Welt verstrickt (d.h. engagiert oder beteiligt), so dass der Zugang zu sich selbst, oder die Selbstbeobachtung, aber auch die Selbstkenntnis ohne diese Weltbeziehung – also ihre Grundvoraussetzung – nicht möglich sind. Davon ausgehend, schreibt er sich ein therapeutisches Ziel zu: auf Typen von disengagement (disengaged view) in der Philosophie hinzuweisen und zu ihrer Überwindung beizutragen. Die Aufgabe seiner philosophischen Anthropologie besteht also darin, „auf dem Weg einer Kritik der neuzeitlichen Philosophie die Grundzüge eines neuen Verständnisses der Existenzform des Menschen zu gewinnen“.15 An dieser Aufgabe orientiert sich seine Kritik der Erkenntnistheorie.
Die Erkenntnistheorie im Visier Kritik an der erkenntnistheoretischen Tradition, die sich nach konventionellem Verständnis in ihrer spezifisch modernen Variante mit den Werken Descartes’ eröffnet, ist nicht neu. Viele Stimmen haben längst dagegen aufbegehrt. Es bleibt jedoch weiterhin notwendig, zu verdeutlichen, was genau man da eigentlich zurückweisen möchte. In Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie ist Richard Rorty der Meinung, das Herzstück der modernen Erkenntnistheorie habe in dem Glauben bestanden, dass eine Grundlegung der Wissenschaften notwendig sei.16 Die positiven Wissenschaften bedurften zu ihrer Vervollkommnung einer strengen Disziplin, die imstande war, ihre Wahrheitsansprüche zu überprüfen. Damit eine wissenschaftliche Aussage als gültig angenommen werden konnte, mussten ihre Befunde diesem strengen erkenntnistheoretischen Test standhalten.
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A. Laitinen, Strong Evaluation without Moral sources. Berlin, 2008, S. 2. Entsprechend dieser Lesart, die unter anderem bei Honneth und Rosa zu finden ist, wird die Struktur der vorliegenden Überlegungen aufgebaut werden. A. Honneth, „Nachwort“, in C. Taylor, Negative Freiheit, Frankfurt/M., 1988, S. 296. Eine ausführliche Diskussion über die erkenntnistheoretische Tradition und ihre Dekonstruktion führen Dreyfus und Taylor in Die Wiedergewinnung des Realismus. Berlin, 2016 (engl. Version Retrieving Realism. Cambridge, 2015). R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt/M., 2003, S.150.
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„Erkenntnistheorie wollte endgültig klarstellen, was einen Erkenntnisanspruch erst rechtens gültig machte und auf welchen Validitätsgrad überhaupt letzten Endes Anspruch erhoben werden konnte.“17 Im Unterschied zu Rortys Ansicht behauptet Taylor, das Herzstück der alten Erkenntnistheorie bestehe nicht im foundationalism, sondern in einer bestimmten Auffassung des Wissens, die diese Tradition erst ermöglicht hat. „Auf eine einfache Formel gebracht, würde diese Auffassung lauten, dass Erkenntnis als korrekte Abbildung [a representational model of knowledge] einer unabhängigen Realität anzusehen sei. In ihrer ursprünglichen Form betrachtete sie Wissen als inneres Bild einer äußeren Wirklichkeit“.18 Diese Ansicht ist nach Taylor nicht zutreffend. Mit Dreyfus betrachtet er sie als einen wirksamen „gewaltigen Irrtum“, der „auf vielen Gebieten unheilvolle Auswirkungen auf Theorie und Praxis nach sich gezogen hat“19. Aber wieso ist das ein Irrtum? Erkenntnis besteht nicht bloß in der Form von Ideen im Geist bzw. in der Form von inneren Repräsentationen der äußeren Wirklichkeit. Sie bedeutet mehr. Und dies zeigt Taylor mittels einer vierstufigen These, die z.B. die Vorrangstellung der Erkenntnis des Ichs und seiner Zustände gegenüber der Erkenntnis der äußeren Realität und anderer Menschen ablehnt. Dies ist die Grundidee der Kontakttheorie, die Taylor und Dreyfus in Kap. 4 ihres Buches Die Wiedergewinnung des Realismus ausführlich erläutern. Beide Autoren beschäftigen sich nicht nur damit, um die vermittlungsgebundene Theorie zu hinterfragen (Lässt sich die Realität tatsächlich ausschließlich repräsentational erfassen?), sondern auch die Vorrangstellung des Individuums im Erkenntnisprozess zurückzuweisen. Daher berufen sie sich wesentlich auf die Ressourcen der phänomenologischen Tradition. Wir werden auf die Erörterung dieser These mit Bezug auf Heidegger und Merleau-Ponty später zurückkommen. An dieser Stelle genügt es, das Augenmerk auf das Besondere dieser These zu richten. Wie bereits erwähnt wurde, besteht es darin, dass der „Primat des Individuellen, des Neutralen und des Innerpsychischen als Ort der Gewissheit“20 zunichte gemacht wird: – Repräsentationen haben – betont Taylor – Sinn nur vor dem Hintergrund der „fortwährenden, von uns als körperlichen, sozialen und kulturellen Wesen ausgeübten Tätigkeit
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C. Taylor, „Zur Überwindung der Erkenntnistheorie“, in M. Benedikt, R. Burger (Hg.), Die Krise der Phänomenologie und die Pragmatik des Wissenschaftsfortschritts, Wien, 1986, S. 150. Ebenda, S.151. Als Beleg weist Taylor auf Descartes’ Brief an Gibieuf vom 19. Januar 1642 hin, in dem er sich erklärt als vergewissert, dass er von etwas außerhalb seiner Selbst keine Kenntnis haben könnte als nur durch die Vermittlung der Ideen, die er in seinem Geist gehabt hat. H. Dreyfus, C. Taylor, Die Wiedergewinnung des Realismus, a.a.O., S. 12. C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 933.
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des Meisterns der Welt“.21 Für ihn besteht eher das Wissen oder unser Verständnis der Welt in der leiblichen Auseinandersetzung mit der Welt selbst. Man kann also das Subjekt von der Welt nicht trennen. – Taylor missbilligt die erkenntnistheoretische Tradition aus einen weiteren Grund: Sie lässt die Tatsache außer Acht, dass wir an der Tätigkeit des Meisterns der Welt primär nicht als (isolierte) Individuen beteiligt sind, sondern als (gebundene) Akteure, die ihre Rolle im Rahmen des sozialen Handelns spielen. 22 Im Unterschied zu Descartes’ erkenntnistheoretischen Bild, das dem individuellen Geist Vorzug gibt, wird betont, dass unsere Erkenntnisse zum Großteil geteilt oder gemeinsam sind. – Die Dinge, mit denen wir es in dieser Tätigkeit zu tun haben, sind zuallererst „nicht Objekte, sondern ‚Pragmata’, wie Heidegger sagt, also Dinge, die im Brennpunkt unserer Handlungen stehen und daher für uns Relevanz, Sinn und Bedeutung haben“23. – Einige dieser Bedeutungen besitzen einen höheren Rang und formen unser ganzes Leben, „die Gesamtheit dessen, was für uns Bedeutung hat“.24 Wenn wir das cartesianische Vorgehen in Meditationen über die Grundlagen der Philosophie im Lichte dieser Hinweise betrachten, zeigt sich eine Umkehrung der Prioritäten. Was Descartes als späte Folgerung oder Supplement darstellt, erweist sich, so Taylor, nun als eine wichtige und unhintergehbare Komponente unserer Ursituation. Daher ist es sinnlos, sie zum Gegenstand eines Streits zu machen. Jeder Versuch, sie in Frage zu stellen, sei es auch, um sie später zu behaupten, bedeutet, dass man ihren unhintergehbaren Charakter nicht berücksichtigt oder gut verstanden hat. „Der ‚Skandal der Philosophie’ ist nicht die Unfähigkeit, zur Gewissheit der Außenwelt zu gelangen, sondern, wie Heidegger in Sein und Zeit sagt, die Tatsache, dass das überhaupt für ein Problem gehalten wird. Erkenntnis haben wir nur als Handelnde, die sich mit einer Welt auseinandersetzen, deren Infragestellung sinnlos ist, da wir uns ja mit ihr auseinandersetzen. Eine Vorrangstellung der neutralen Auffassung der Dinge gegenüber ihrem Wert gibt es ebensowenig wie eine Vorrangstellung des individuellen Ichgefühls gegenüber dem Gesellschaftlichen. Unsere Uridentität ist die eines neuen Mitspielers, der in ein altes Spiel eingeführt wird.“25
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C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 932. Eine ausführliche Diskussion über die erkenntnistheoretische Tradition und ihre Dekonstruktion führen Dreyfus und Taylor in Die Wiedergewinnung des Realismus. Ebenda Ebenda Ebenda Ebenda, S. 932f.
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Hier liegt der Grund, aus dem die Kritik der Erkenntnistheorie wichtig bei Taylor ist. An vielen Stellen seiner Schriften betont er, dass die Auseinandersetzung mit Descartes’ erkenntnistheoretischem Bild eine wichtige und dringende, aber auch umfassende Aufgabe ist.26 Er untermauert diese Überzeugung dadurch, dass er in Anlehnung an Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, §115) daran erinnert, wie wir von einem Bild „gefangen gehalten“ werden können. Die Auswirkungen sind erheblich, weil das Bild unsere Erfahrung, unser Denken, unsere Deutungen strukturiert und steuert. Durch die Auseinandersetzung mit Descartes’ erkenntnistheoretischen Bild bzw. mit einem wichtigen Aspekt der kulturellen Grundlagen der Moderne ist Taylor der Ansicht, dass er einen großen Schritt in Richtung der Lösung seiner Debatte mit den einflussreichen modernen Moraltheorien gemacht hat. Ihm zufolge hat sich das Abbildmodell durch die neuen Ideale der Wissenschaft und neuen Ansichten über die Vorzüglichkeit des Denkens gefestigt, die sich zur gleichen Zeit entwickeln. Zum Beispiel erwachsen für Descartes, der als Urheber des modernen Begriffs von Gewissheit angesehen werden kann, Wissenschaft und wahres Wissen nicht schlicht aus einer Übereinstimmung zwischen den Ideen im Kopf und der Außenwirklichkeit. „Wenn das Objekt meiner Grübeleien durch Zufall mit den realen Ereignissen in der Welt übereinstimmt, verleiht mir dies noch keine Kenntnis von ihnen. Die Übereinstimmung muss durch eine adäquate Methode erfolgen, die wohlbegründete Übereinstimmung schafft. Wissenschaft verlangt Gewissheit, und diese kann allein auf jener unleugbaren Klarheit aufbauen, die Descartes ‚évidence’ nannte.“27 Daher lautet der Einleitungssatz der zweiten Règles pour la direction de l’esprit: „Toute science est une connaissance certaine et évidente.“28 („Alles Wissen besteht in einer sicheren und klaren Erkenntnis“) Was diese Perspektive auszeichnet, ist ihre reflexive Wende: Gewissheit ist etwas, das der Geist für sich selbst erbringen kann. Sie entspringt nicht dem schlichten Vertrauen in die opinions, sondern deren Begründung. Daraus folgt, dass der Denkende durch die korrekte Ordnung der Gedanken Sicherheit für sich selbst erzeugen kann. Taylor sieht eine unauflösbare Verknüpfung zwischen der vom Abbildungsparadigma geprägten Erkenntnistheorie und dieser reflexiven Wende und versucht, die Motivation dahinter ausfindig zu machen: „Das Ideal selbstgegebener Gewissheit ist ein ständiger Ansporn, Kenntnisse der Art zu erstellen, dass unser Denken über die Wirklichkeit von seinen Objekten unterschieden und an sich selbst untersucht werden kann. Und dieser Ansporn hat sich, weit über die Zeit jener Denkform hinaus, die ihn genährt hatte, wach und wirksam erhalten. Es scheint sogar, dass 26 27 28
Zum Beispiel in C. Taylor, „Zur Überwindung der Erkenntnistheorie“, a.a.O., S. 151, 156. Ebenda, S. 152. R. Descartes, Règles pour la direction de l’esprit. Paris, 2003, S. 5.
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in manchen Kreisen ein geradezu hemmungsloses Vertrauen Platz gegriffen hat, die Bestimmung formaler Beziehungen als gangbaren Weg zum Erreichen der Klarheit und Gewissheit über unser Denken zu betrachten, sei es im Gebrauch und Missbrauch der Theorie rationaler Wahl für ethische Probleme, sei es in der großen Popularität der vorhin erwähnten Verstandesmodelle nach dem Computervorbild.“29 Um Taylors Ansicht besser zu verstehen, empfiehlt es sich, drei zusammengehörige Begriffe zu untersuchen, die seiner Ansicht nach historisch eng mit dem erkenntnistheoretischen Modell verwandt sind: Ein desengagiertes Subjekt - eine punktuelle Ich-Perspektive - eine atomistische Konstruktion der Gesellschaft. Unter einem desengagierten Subjekt versteht Taylor ein Subjekt, das die Welt entzaubert, den Kosmos neutralisiert und über ihn eine instrumentelle Kontrolle übt; ein solches Subjekt nimmt die Perspektive eines außenstehenden, unbeteiligten Beobachters an und sieht sich als unabhängig sogar von seinen Mitmenschen und eigenem Körper an.30 Dieses Modell des Desengagements oder der allgemeinen Distanzierung ist in der neuzeitlichen Tradition zwar nicht unangefochten geblieben, aber es war von einer ungeheuren Eindringlichkeit. Denn es spielt eine große Rolle „in der angesehensten und imponierendsten Form des Erkenntnisstrebens der neuzeitlichen Zivilisation […], nämlich in der Naturwissenschaft […]. Es geschieht leicht, dass man von dem auf naturwissenschaftlichen Erfolgen basierenden Prestige der desengagierten Einstellung und dem ihr anhaftenden Gefühl der moralischen Überlegenheit ausgeht und (oft stillschweigend und nur halb bewusst) den ungerechtfertigten Schluss zieht, dies sei in allen erkenntnisrelevanten Hinsichten die richtige Einstellung“. 31 Das desengagierte Subjekt zeichnet sich auch durch den Anspruch auf Klarheit und Deutlichkeit seiner Erkenntnis aus; für Descartes gibt es einen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Kontrolle. Problematisch bleibt aber, so Taylor, die Tatsache, dass dieses Subjekt, das einen derartigen Anspruch erhebt, seine tiefen Bindungen dabei übersieht. „Der erste [Begriff] gilt dem Bilde eines idealiter freischwebenden Subjektes, d.h. eines freien und rationalen dahingehend, dass es sich gänzlich unterscheiden von seiner natürlichen und sozialen Umwelt versteht, so dass seine Identität nicht mehr definiert zu werden braucht in Termini, deren Bezeichnetes außerhalb seiner in den genannten Welten liegt.“32 Dieser Begriff lässt sich im klassischen Dualismus ansiedeln, der eine eindeutige Trennung zwischen dem Körper und dem Geist behauptet. Eine nähere Betrachtung von Descartes’ Meditationen über die Grundlagen der Philosophie soll uns in zwei Schritten tiefe Einblicke
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C. Taylor, „Zur Überwindung der Erkenntnistheorie“, a.a.O., S. 153f. C. Taylor, Quellen des Selbst. Frankfurt/M., 1994, S. 272f. (Im Weiteren verweisen wir auf dieses Werk abkürzend mit QS). Auch I. Breuer, Charles Taylor. Zur Einführung. Hamburg, 2000, S. 71. C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 486. C. Taylor, „Zur Überwindung der Erkenntnistheorie“, a.a.O., S. 155.
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in diesem Dualismus gewähren.33 Descartes’ Mediationen bilden den locus classicus der spezifisch neuzeitlichen Problemstellung des Selbstverhältnisses, mit dem sich Taylor intensiv auseinandersetzt.
A. Die Vorgehensweise der cartesianischen Metaphysik besteht darin, vom Gewissesten, Sichersten auszugehen. Daher verzichtet Descartes bei der Suche nach sicherem Wissen auf den Rekurs auf Gott (dessen Existenz noch zu beweisen ist) und den Rekurs auf die äußere Welt bzw. den Körper (denn noch ist auch deren Existenz ungewiss – die Existenz der Sinneswelt wird erst in der 6. Meditation abgeleitet). Infolgedessen bleibt nur die Interiorität (meine Subjektivität), als Ort, an dem die Täuschungsmöglichkeit ausgeschlossen ist, denn solange ich denke, muss ich etwas sein. Ich kann nicht zweifeln, dass ich zweifle. Ich kann nicht zweifeln, dass ich es bin, der zweifelt. Zweifeln (und selbst sich irren) heißt in anderen Worten: denken. Und es ist unmöglich zu denken, ohne gleichzeitig zu existieren. Descartes’ Vorgehensweise beim Aufbau eines sicheren Fundaments der Metaphysik lässt sich also auf das folgende Schema bringen: i. hyperbolischer Zweifel ii. Bewusstsein des Zweifels iii. Bewusstsein, dass Denken und Existieren augenblickliche Gewissheiten sind. „Ich bin, ich existiere“ ist die neue Version der Formel „Ich denke, also bin ich“ („Cogito ergo sum“), die sich in Discours de la Méthode findet. Diese Änderung hat Descartes eingeführt, um den falschen Eindruck zu vermeiden, dass es sich aufgrund des „also“ um den Schluss eines Syllogismus oder Räsonnements, und nicht um eine Intuition, eine evidente und unmittelbare Erkenntnis oder eine einfache Inspektion des Geistes handelt.
B. Nun macht Descartes das Cogito zum ersten Prinzip der Philosophie. „Ich existiere“ ist eine Aussage über eine metaphysische Notwendigkeit: – Der böse Geist wird nie bewirken können, dass ich nicht sei, solange ich denke, ich sei etwas. Solange ich denke, muss ich meine Existenz für unzweifelhaft halten, sonst würde das, wenn ich an meiner Existenz weiter zweifle, während ich denke, heißen, dass Néant, das Nichtsein denken kann. Es ist also unmöglich, dass ich nicht existiere, während ich denke.
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Siehe R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg, 1977.
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– Das Ich wird ausschließlich als denkende Substanz gekennzeichnet. Nur durch das Urteilsvermögen kann ein Ding identifiziert werden. Die Konsequenz daraus: Nicht „ich sehe x“, sondern „ich urteile, dass ich x sehe“. Das Urteilsvermögen wohnt meinem Geist inne (Intellektion). Hier entsteht die Philosophie des Subjekts, in der allein das Subjekt die Erkenntnis begründet. Indem das Kriterium der Korrespondenz durch das Kriterium der Evidenz ersetzt wird, verabschiedet man sich von der klassischen Definition der Wahrheit als adaequatio intellectus et rei. In diesem Zusammenhang betont Descartes in der 3. Meditation: „All das ist wahr, was ich ganz klar und deutlich erkenne.“ Das ist die Gewissheit von sich selbst als Paradigma aller zukünftigen Gewissheiten.34 Der dualistische Kontext ist zwar überholt, aber der Begriff des „desengagierten Subjekts“ besteht fort so Taylor, „in der zeitgenössischen Forderung nach einer neutralen, objektiven Wissenschaft vom Menschlichen Leben und Handeln“35 Mit diesem ersten Begriff gelangen wir auf den Hintergrund der vielen von Taylor geführten Diskussionen. Der zweite Begriff ist der des „desengagierten Subjekts“ bildet die Grundlage, auf die der Begriff einer „punktuellen Ich-Perspektive “ aufbaut. Mit diesem zweiten Begriff geht es um die Perspektive eines Ich, „das sich idealiter als freies und rationales in der Lage sieht, diese Welten seiner Behandlung zu unterziehen – und sogar in deren eigentümliches Gepräge einzugreifen, instrumentalistisch gesehen in der Lage ist, als Subjekt die Welten zu verändern und neuzuordnen, um die Wohlfahrt der eigenen Spezies und anderer, die Subjekten analog oder gleich angesehen werden, besser zu gewährleisten“.36 Dieser Begriff ist, Taylors Meinung nach, im Ausstrahlungsbereich der Ideale der Selbstbeherrschung und Selbstvervollkommnung einzuordnen, denen in der Ideenwelt des 17. Jh. eine zentrale Stellung zukam. Bis heute ist diese Konzeption eines vereinzelten Selbst einflussreich geblieben, wirkt 34
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Descartes schließt trotz seiner dualistischen These nicht aus, dass die bloße Materie (res extensa) und die denkende Substanz aufeinander faktisch wirken. Um dies zu erklären, greift er auf das Argument der göttlichen Existenz zurück. Damit sieht er sich verpflichtet, die Existenz Gottes zu beweisen. Zu merken ist, dass sein Beweis (der Beweis durch die Kausalität der Idee) nur in Bezug auf die Behauptung vom mir als endlichem Wesen sinnvoll ist. Im Gegensatz zu den Scholastikern, die von der Welt zu Gott ausgingen (kosmologischer Beweis: Sie berücksichtigen z.B. eine bestimmte Ordnung, die es in der Natur oder Welt liegt, um die Existenz Gottes zu deduzieren, siehe z.B. den 5. Beweis von Thomas von Aquin), zieht Descartes nur die Ideen in Betracht, die dem Geist innewohnen und „images des choses“ sind: - Ich habe eine Idee von einer unendlichen objektiven Realität. - Ich bin endlich und kann nicht die Ursache dieser Idee sein (d.h. die Reduzierung jeder Idee auf eine Idee meines Selbst wird dadurch ausgeschlossen). - Die Ursache ist außerhalb von mir und unendlich. - Das „Néant“ kann gar nicht die Ursache sein, weil es nicht ist. ‚ - Die Ursache ist ein unendliches Wesen – Gott – das tatsächlich existiert. C. Taylor, „Zur Überwindung der Erkenntnistheorie“, a.a.O., S. 155. Ebenda
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sie doch „in der ungeheuerlichen Kraft, die instrumentelle Vernunft und Engineering-Modelle in unserer heutigen Sozialpolitik, Medizin, Psychiatrie und Politik im Allgemeinen haben“37 fort. Die beiden ersten Begriffe kristallisieren sich in einem Gesellschaftsbegriff, genau gesagt, in einer atomistischen Konstruktion der Gesellschaft. Hier wird die Gesellschaft „in Termini individueller, individualistischer Vorhaben“ erklärt.38 Selbst wenn Taylor die frühe Gestalt dieses dritten Begriffs in den Theorien zum Contrat Social im 17. Jahrhundert einordnet, betont er, dass er ganz und gar in vielartige assumptions des zeitgenössischen Liberalismus und mainstream der Sozialwissenschaft eingewoben ist (siehe Teil II). Für ihn prägen diese drei zusammengehörigen Begriffe, die, historisch gesehen, eng mit dem erkenntnistheoretischen Modell verwandt sind, das moderne Denken stark. Damit bekommt die Frage, wieso man bei der Erläuterung von Taylors Denken mit der Erkenntnistheorie anfangen sollte, eine erhellende Antwort. Diese drückt Taylor selbst in deutlichen Worten aus: „Es ist nicht notwendig, diese Ideen noch weiter auseinanderzulegen, um nachzuweisen, dass die erkenntnistheoretische Tradition verknüpft ist mit manchen der bedeutsamsten moralischen und geistigen Leitvorstellungen unserer Zivilisation, ebenso aber auch mit manchen der kontroversiellsten [„the most controversial“] und strittigsten. Diese herauszufordern, heißt früher oder später gegen die Kraft der Tradition selbst angehen zu müssen, welche mit diesen Ideen in einem Verhältnis wechselseitiger Unterstützung steht. Die Überwindung oder Kritik dieser Leitvorstellungen bedeutet, es mit der Erkenntnistheorie selbst zu tun zu bekommen.“39 Sich mit der Erkenntnistheorie auseinanderzusetzen bedeutet für Taylor, sie in ihrer breiten Bedeutung zu betrachten, und zwar als umfassendes Konstrukt des abbildungstheoretischen Wissensschemas. Unabhängig davon, ob diese Darstellung Taylors triftig ist oder nicht, ist das Ziel unserer Vorgehensweise an dieser Stelle zunächst rein rekonstruktiv:
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Ebenda. Claus Zittel betont, dass nicht Descartes, sondern Clerselier der Erfinder des cartesianischen „esprit mécanique“ ist. Anders gesagt wird bestritten „die Vorstellung unter Philosophen und Wissenschaftshistorikern, dass sich mit der Naturphilosophie Descartes’ im 17 Jahrhundert eine neue Art der Naturerklärung etabliert habe, die sämtliche Phänomene strikt physikalistisch deutete und ein neues ‚mechanistisches Weltbild’ kreierte. […] Dieser ‚mechanistischen Philosophie’ wurde, so meine These, jedoch weniger durch Descartes’ Schriften, sondern durch posthum angefertigte Abbildungen der Weg gebahnt.“ (C. Zittel, „Menschenbilder – Maschinenbilder. Ein Bilderstreit um Descartes’ De l´homme“, in DZPh, Bd. 56, 5(2008), S. 709.) Ebenda. In Anlehnung an Isaiah Berlin stellt Taylor den Expressivismus als einen interessanten Versuch zur Überwindung der atomistischen Tendenz der Aufklärung dar. (C. Taylor, Hegel and Modern Society. Cambridge, 1979, S. 3.) Ebenda., S.155f.
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nämlich die Grundzüge seines Denkens zu begreifen, die man in der späteren Auseinandersetzung nicht aus dem Blick verlieren sollte. Die obige Darstellung verdeutlicht, dass Taylor versucht, ein sozialphilosophisches Konzept zu entwickeln, das in einem tiefen und angemessenen Begriff des menschlichen Handelnden wurzelt. Diese Betrachtungsweise versteht Taylor als Gegenkonzeption zu demjenigen Begriff des Menschen, den er der modernen Erkenntnistheorie zugrundeliegen sieht. Anregungen für seinen Ansatz findet er bei verschiedenen kritischen Stimmen, die sich aus einem Unbehagen an den moralischen und geistigen Konsequenzen der Erkenntnistheorie herleiten. So bezieht er sich auf Hegels berühmte Attacke in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, die davon spricht, dass das, was sich „Furcht vor dem Irrtum“ nennt, „eher als Furcht vor der Wahrheit zu erkennen gibt“.40 Hegel führt diese Haltung darauf zurück, dass gewisse Eitelkeiten nur die Befriedigung des abstrakten Ich und die Zurückgezogenheit im Für-sich-Sein suchen. Eine weitere kritische Stimme finden wir bei Heidegger. Dieser analysiert das Entstehen des modernen erkenntnistheoretischen Standpunktes als Stufe einer Entwicklung, die auf die Beherrschung der Welt aus ist und die in der heutigen technologischen Gesellschaft kulminiert. Taylor weist auch auf die verheerende Kritik des späten Wittgenstein an der Erkenntnistheorie hin, selbst wenn dieser sich gehütet hatte, Äußerungen über deren moralische Konsequenzen zu machen. Merleau-Ponty beschäftigt sich im 3. Teil von Phänomenologie der Wahrnehmung mit den politischen Implikationen des Problems.41 Aus dieser philosophiegeschichtlichen Entwicklung zieht Taylor folgenden Schluss: „[D]er neue moralische Durchblick wird gesucht durch eine Wende im modernen Wissenskonzept; es wird also nicht schlechthin ein Dissidententum dokumentiert im Hinblick auf die anthropologischen Annahmen, die mit jener Konzeption verbunden sind, sondern es wird nachgewiesen, wie unbegründet diese Annahmen sind, und zwar deshalb, weil sie auf einem unhaltbaren Wissensparadigma aufgebaut sind.“42 Ein neuartiges Wissensparadigma bieten die vier oben erwähnten Autoren – Hegel, Wittgenstein, Heidegger und Merleau-Ponty –, die Taylor für die bedeutendsten und einflussreichsten Kritiker der Erkenntnistheorie hält und für Begründer nachhaltig wirkender Formen kritischen Vorgehens. Bei ihnen – besonders bei Heidegger und MerleauPonty – findet Taylor Argumente, um den Bruch mit der erkenntnistheoretischen Tradition zu vertiefen. Dies soll im folgenden Abschnitt verdeutlicht werden.
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W. F. Hegel, Werke, Bd. 3, Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M., 1969-1971, S. 69. Siehe M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, 1974, Teil 3, Kapitel 3. C. Taylor, „Zur Überwindung der Erkenntnistheorie“, a.a.O., S. 156.
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1.2 Hermeneutische Richtschnur 1.2.1 Zu einem neuartigen Begriff des Menschen und der Vernunft Im vorigen Abschnitt sollte deutlich geworden sein, dass für Taylor drei zentrale Begriffe aus den anthropologischen Gesichtspunkten mit der erkenntnistheoretischen Tradition der Moderne verbunden sind, nämlich: das desengagierte Subjekt, das punktuelle Ich und die atomistische Konstruktion der Gesellschaft. Taylor bezeichnet dies als „anthropologische Maximen“ oder „anthropologische Glaubensartikel“ („anthropological beliefs“) und versucht sie, ausgehend von Heidegger und Merleau-Ponty, zurückzuweisen. Diesem Zweck dienen vor allem zwei alternative Begriffe des Menschen: der Mensch als Sprachwesen und der Mensch als leiblich Handelnder. Erläuterung des Wesens der Sprache Von vornherein ist zu bemerken, dass sich in Taylors Denken mehrere Traditionen zusammenschließen. Hier wird die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die sprachtheoretische Tradition gelenkt. „Taylor ist im Kontext der anglo-amerikanischen Philosophie der Häretiker, der es wagt, die Sprache gegen die Analytische Kirche zu denken, die in den Philosophie-Departments des Vereinigten Staaten und der Vereinigten Königreichs die absolute Macht innehat, gegen den Strich also einer mächtigen Orthodoxie bis hin zu deren letzten Entwicklungen bei Quine. Eine solche Untat ist sonst nur in Departments for Comparative Literature und anderen exotischen Einrichtungen geduldet, die jeder anständige amerikanische Philosoph als Orte schlimmster Ausschweifungen betrachtet. Dem analytischen Dogma stellt Taylor eine von Herder, Hamann und Humboldt inspirierte Sprachtheorie entgegen, die er auch die Theorie des Dreifachen H, ‚triple H theory’, nennt. Heidegger (das vierte H) hätte diese Theorie fortgesetzt und Wittgenstein wäre ein ‚honorary member’ beim Dreifachen H. Gegenüber der repräsentationistischen (designativen), instrumentalistischen, verdinglichten [...] und solipsistischen analytischen Sprachtheorie vertritt Taylor eine expressiv-energetische und dialogische Sprachkonzeption. Das erste der beiden sprachtheoretischen Grundmomente, die Taylor bei den drei Hs ausfindig macht, ist die primäre Lokalisierung der Sprache im Gespräch, welches ein Handeln, Sprechen, energeia ist und das einen öffentlichen Raum, den Raum des Wir, schafft. Das zweite Grundmoment besteht darin, Sprache nicht als Zeichen zu verstehen, als Sache und Instrument, das die transzendierende Welt bezeichnet und beschreibt, sondern als kognitive Aktivität, die Realität überhaupt erst konstituiert (ausdrückt) und eine Welt neuer Gedanken schafft: ‚new thoughts’.“43
43
J. Trabant, „Habermas liest Humboldt“, in DZPh., 41 (1993) 4, S. 639f.
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Wie noch zu sehen sein wird, finden wir bei Taylor Nachwirkungen und Einflüsse der hier dargestellten sprachtheoretischen Tradition, nämlich der Theorie Humboldts über die welterschließende Funktion der Sprache. Diese Theorie besagt, dass wir nur im Medium der Sprache Zugang zur Wirklichkeit haben, „dass also selbst der einfachste Akt der Wahrnehmung schon im Medium der Sprache geschieht, dass wir, seit wir eine Sprache haben – und wir haben eine Sprache, seit wir überhaupt Menschen sind – grundsätzlich niemals die Wirklichkeit in ihrer Nacktheit erblicken können“.44 Diese Ansicht vertritt auch Scheler, wenn er behauptet: „Es wäre ein großer Irrtum, zu meinen, dass das Werkzeug der Mitteilung, die Sprache, nur die Bedeutung und Funktion habe, Erlebnisse, die bereits wahrgenommen sind, mitzuteilen. Faktisch reicht der Einfluss erheblich viel weiter. Die Wortbedeutungen für seelische Tatbestände, die wir durch Tradition aufnehmen, haben vielmehr eine weithin bestimmende Kraft für das, was wir an eigenen und fremden Erlebnissen wahrnehmen.“45 Die Theorie der sprachlichen Welterschließung zeigt deutlich, dass die Sprache kein Instrument zur Bezeichnung einer Realität darstellt, sondern ein Medium der sozialen Praxis und des Erlebens, der Gestaltgebung von Ich und Gruppenidentitäten ist. Und die Sprache ist nicht nur eine Sache von konventionellen Zeichen, sondern eine Aktivität, die im gemeinschaftlichen Raum des Wir eine neue Realität „überhaupt erst konstituiert“. Bei der Betonung dieser Ansicht in seiner Philosophie hat Taylor auch in Gadamer eine wichtige Stütze gefunden. Letzterer eröffnet seine Überlegungen über das Wesen der Sprache mit einem bemerkenswerten Kommentar: Man hat „im philosophischen Denken des Abendlandes das Wesen der Sprache keineswegs in den Mittelpunkt gestellt“.46 Aufgrund dieses Fehlers begnügte man sich mit einer instrumentellen Vorstellung der Sprache, d.h. der Sprache als eines ausgezeichneten Ausdrucksfelds oder eines Instruments zum Ausdruck des Denkens. Thomas Hobbes ist einer der Autoren, auf die dieser Vorwurf meistens gerichtet wird.47 44
45 46
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O. F. Bollnow, „Sprache und Erziehung“, in Bildung und Erziehung, Heft 3/1965, S. 217. Bollnow richtet sich nach einer Passage von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), 2. Aufl., Darmstadt, 1954, S. 240. M. Scheler, Abhandlungen und Aufsätze. 2. Band, Leipzig, 1915, S. 148. H. Gadamer, Gesammelte Werke, Band 2, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Tübingen, 1986, S. 147. Apel zufolge erscheinen die Defizite des instrumentellen Gebrauchs der Sprache (theory of rational agreements by use of language for fixation of ends), wenn es darum geht, die Fragen zu beantworten, ‚Was ist wahr?’, ‚Wer hat Recht?’, ‚Wieso ist ein angenommener Vertrag/Übereinkommen weiter zu respektieren?’ Seiner Meinung nach wird zur Beantwortung dieser Fragen ein Motiv benötigt. Und dies kann nicht selbst wiederum mit dem Vertrag begründet werden. Anderseits veranlasst das instrumentelle Verständnis der Sprache nicht, „unmoralische“ Verträge (z.B. einen Mafia-Vertrag) zu missbilligen. Daher beruft sich Apel auf die kommunikative Rationalität. (K.-O. Apel, The Response of Discourse Ethics. Leuven, 2001. S. 15.)
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„On the classical designative view, language is an assemblage of separable words, instruments of thought that lie, as it were, transparently to hand and can be used to marshal ideas. This was the principal function of language for Hobbes, Locke, and Condillac. […] The aspiration to be in no degree whatever a prisoner of language, so dear to hobbes and Locke, is unrealizable. […] Language can´t be seen as a set of instruments, ready to hand, of words to which meanings have been attached. The crucial feature of language is now that it is a form of activity in which, through expression, reflection is realized.“48 Was in der instrumentellen Vorstellung der Sprache („language as a finished product, a set of tools forged for future use“) aus dem Blick gerät, ist, so Gadamer, die Grundtatsache, dass die Sprache eigentlich die „wahrhafte Mitte des menschlichen Seins“ ist und den Bereich „menschlichen Miteinanderseins“ ausfüllt. „Dass unsere Sprache Einfluss auf unser Denken hat, wird niemand leugnen. Wir denken in Worten. Denken heißt, sich etwas denken. Und sich etwas denken heißt, sich etwas sagen.“49 Für Gadamer sind diese Wahrheit und ihre erheblichen theoretischen Folgerungen aufgrund der vorherrschenden Interpretation der aristotelischen Definition des Menschen als Lebewesen, das Logos hat, im Schatten geblieben. „In der Tradition des Abendlandes wurde diese Definition in der Form kanonisch, dass der Mensch das animal rationale, das vernünftige Lebewesen, d.h. durch die Fähigkeit des Denkens von den übrigen Tieren unterschieden sei. Man hat das griechische Wort Logos im Sinne von Vernunft bzw. Denken wiedergegeben. In Wahrheit heißt das Wort auch und vorwiegend: Sprache.“50 Davon ausgehend, empfiehlt Gadamer die schlichte Aussage: „der Mensch ist das Lebewesen, das Sprache hat.“51 Mit dieser Aussage gewinnt die Sprache an Bedeutung und rückt in den Mittelpunkt der Philosophie. Infolgedessen kommt das Rätsel, das die Sprache dem menschlichen Denken aufgibt, in den Blick. Worin besteht denn dieses Rätsel? Die Antwort von Gadamer lautet: „Das eigentliche Rätsel der Sprache ist aber dies, dass wir das [auf die Sprache von einer distanzierten Metaebene aus zu reflektieren] in Wahrheit nie ganz können. Alles Denken über Sprache ist vielmehr von der Sprache schon immer wieder eingeholt worden. Nur in einer Sprache können wir denken, und eben dieses Einwohnen unseres Denkens in einer 48 49 50
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C. Taylor, „The importance of Herder“, in ders., Philosophical Arguments. Cambridge, 1995, S. 96f. H.G. Gadamer, Gesammelte Werke, a.a.O., S. 200. Ebenda, S. 146; vgl. C. Taylor, „Replik“, in M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann, Unerfüllte Moderne?, a.a.O., S. 857. Ebenda
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Sprache ist das tiefe Rätsel, das die Sprache dem Denken stellt. Die Sprache ist nicht eines der Mittel, durch die sich das Bewusstsein mit der Welt vermittelt. Sie stellt nicht neben dem Zeichen und dem Werkzeug – die beide gewiss auch zur Wesensauszeichnung des Menschen gehören – ein drittes Instrument dar. Die Sprache ist überhaupt kein Instrument, kein Werkzeug. Denn zum Wesen des Werkzeuges gehört, dass wir seinen Gebrauch beherrschen, und das heißt, es zur Hand nehmen und aus der Hand legen, wenn es seinen Dienst getan hat. Das ist nicht dasselbe, wie wenn wir die bereitliegenden Worte einer Sprache in den Mund nehmen und mit ihrem Gebrauchtsein zurücksinken lassen in den allgemeinen Wortvorrat, über den wir verfügen. Eine solche Analogie ist deshalb falsch, weil wir uns niemals als Bewusstsein der Welt gegenüber finden und in einem gleichsam sprachlosen Zustand nach dem Werkzeug der Verständigung greifen. Wir sind vielmehr in allem Wissen von uns selbst und allem Wissen von der Welt immer schon von der Sprache umgriffen, die unsere eigene ist. Wir wachsen auf, wir lernen die Welt kennen, wir lernen die Menschen kennen und am Ende uns selbst, indem wir sprechen lernen. Sprechen lernen heißt nicht: zur Bezeichnung der uns vertrauten und bekannten Welt in den Gebrauch eines schon vorhandenen Werkzeuges eingeführt werden, sondern es heißt, die Vertrautheit und Erkenntnis der Welt selbst, und wie sie uns begegnet, erwerben […]. In Wahrheit sind wir immer schon in der Sprache ebenso zu Hause wie in der Welt. Wieder finde ich bei Aristoteles die weiseste Beschreibung des Vorgangs, wie man sprechen lernt. Die aristotelische Beschreibung des Vorgangs meint allerdings gar nicht das Sprechenlernen, sondern das Denken, d.h. den Erwerb allgemeiner Begriffe.“52 Dieses Zitat gibt Anlass zu zwei Hinweisen: 1. Gadamers Zitat verdeutlicht die universelle Dimension der Hermeneutik. Diese reduzierte sich damals auf ein Studienfach, das sich einzig mit den Fragen der Methode, d.h. mit einer regelrechten Interpretation der Texte beschäftigte. Aber sobald verstanden wurde, dass die Hermeneutik über die Sphäre der Texte hinausgeht und die gesamte menschliche Erfahrung umfasst, hat sie einen universellen Charakter angenommen. Von ihrer textuellen Dimension ist sie zu ihrer existentiellen Dimension übergegangen. Durch den neuen Status der Hermeneutik wurde ersichtlich, dass jedes menschliche Verhältnis zur Welt eine Dimension der Interpretation enthält (oder weitgehend eine Frage der Interpretation ist). Die Berücksichtigung der hermeneutischen Dimension menschlicher Existenz hat daher erhebliche Konsequenzen für die Philosophie. Dies hat Heidegger in seiner Kritik an der traditionellen Subjektphilosophie und seiner Erläuterung von Verstehen als einem fundamentalen Existential deutlich gezeigt. Das ‚Ich’ ist keine von der Welt isoliert analysierbare Substanz (und als solche nicht einmal denkbar), sondern das Bewusstsein als Ich konstituiert sich gerade erst durch seinen Bezug auf die Welt und andere (‚Du’).
52
Ebenda, S. 148.
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Diese Beziehungen müssen für uns Bedeutungen haben. Daher ist das Verstehen als Verstehen dieses Beziehungsgeflechts die Basis dafür, dass der Mensch (bzw. das ‚Ich’) überhaupt existieren kann. Kurzum das Verstehen ist Heidegger zufolge ein „Grundmodus des Seins des Daseins“53, eine fundamentale Kategorie des menschlichen Daseins. Sprache, Denken und Welt überlappen sich, so dass es keine neutrale Wahrnehmung oder Erfahrung geben kann. Damit gerät Descartes’ unerschütterliches Fundament ins Wanken. Wenn wir immer schon in der Sprache ebenso zu Hause sind wie in der Welt, wie kann dann noch der Solipsismus zum Beweis der Existenz des Cogito taugen? Das Problem mit dem Solipsismus besteht nämlich in der Nicht-Berücksichtigung der Bedeutung der Sprache und damit ihres Verhältnisses zur Welt. Denn als unbezweifelbar gilt ihr nur die eigene Existenz als denkendes Wesen und das Vorhandensein der eigenen mentalen Zustände und Akte. Das sei der „archimedische Punkt aller Erkenntnis und Erfahrung“.54 Die Aufgabe bestehe darin, von dieser Basis her zu begründen, dass die äußere Welt existiert, dass das denkende Wesen einen Körper hat und dass es andere denkende Wesen gibt. Wie Franz von Kutschera zu Recht bemerkt hat, haben die Argumente Descartes’ für die Legitimität einer solchen Vorgehensweise schon die meisten seiner Zeitgenossen nicht überzeugt. Dennoch ist die Art seiner Fragestellung immer noch prägend in gegenwärtigen philosophischen Diskussionen.55 Es ist im Gegensatz zu Descartes zu betonen, dass das Denken mit einer Voraussetzung beginnt, die – wie Gert Scobel sagt – „alles andere logisch, inhaltlich und strukturell trägt“. „Kein Gedanke beginnt wirklich mit dem Anfang. Das Denken beginnt mit anderen Gedanken und macht seinen Anfang nicht, wie die Mythologien behaupten, mit dem Anfang der Welt oder mit dem Allerersten, das entstanden ist. Im Denken sind wir, wie Schiffsteller, immer angewiesen auf andere und anderes, und sei es auch ‚nur’ auf die Sprache und die Gedanken, die in ihr liegen, bevor wir mit dem Denken beginnen. Denken ist immer nachdenken, weil es, wenn wir zu denken beginnen, bereits begonnen hat. Nach-denken kommt insofern immer zu spät. Deshalb heißt es auch nach-denken: ihm gehen Erfahrungen voraus. Gedanken erscheinen im Rudel, nie einzeln. Sie sind viele.“56
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M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), 15. Aufl., Tübingen, 1979, S. 143. Die Metapher des archimedischen Punktes verweist auf einen Dreh- und Angelpunkt und bezeichnet in der Philosophie ein absolutes Fundament, eine sichere und klare, absolut unbezweifelbare Wahrheit – im vorliegenden Fall von Descartes, die unbezweifelbare Wahrheit des Cogito. Hans Albert hält den Rekurs auf einen archimedischen Punkt in der herkömmlichen Erkenntnistheorie für eine Täuschung. (H. Albert, Traktat über kritische Vernunft. J.C.B. Mohr, Tübingen, 1969, S. 13f.) Siehe F. von Kutschera, Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit. Berlin, 1998, S. 79. G. Scobel Warum wir philosophieren müssen: Die Erfahrung des Denkens. Frankfurt/M., 2012, S. 269f.
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Der Fehler des cartesianischen Ansatzes besteht in der Erkenntnistheorie unter anderem in dem Umstand, dass sie das Erkenntnissubjekt von der Welt losbindet. Denn sie vermittelt die Idee, dass sich die Selbstkenntnis aus nichts anderem ergibt als aus einer Selbstreflexion. „This [representational, foundationalist] epistemology has supressed all recognition of the background. It conceives our knowledge of the world as consisting of particulate, explicit representations. This means that we not only project our own background backward, but also render this error invisible by repressing all awareness of backgrounds as such.“57 Taylors Kritik schliesst sich an die Kritik an, die Hegel in seinem Buch Phänomenologie des Geistes an Kants Epistemologie ausgeübt hat: „[A]ny critique of knowledge itself presupposes knowledge or, at the very least, a framework within which knowledge is constituted. For example, the Kantian project itself, which purported to establish a set of apodictic criteria by which all knowledge claims could be evaluated, was based upon a tacit picture of the epistemological arena and an ontology that comprised a mental subject receiving sense impressions emanating from physical objects. Hegel´s argument applies to any epistemology that seeks to identify some ultimate foundation for knowledge. A clear and monumental implication of Hegel’s analysis is that all epistemology since Descartes is grievously flawed.“58 Um diesen beschränkten Blick zu überwinden, muss man erkennen, dass jede erkenntnistheoretische Reflexion immer schon voraussetzt, was sie zu begründen versucht. Erkenntnistheorie ist so kein voraussetzungsloses Beginnen, sondern eine Reflexion auf das, was wir im Denken, Erfahren und Sprechen immer schon tun.“59 Taylor bezieht sich auf Heidegger, dessen Überlegungen verdeutlichen, dass die Bedingung für unsere Auffassung des Universums als Ensemble von Dingen vorgängig in unserem praktischen Umgang mit der Welt beruht, in unserer Beschäftigung mit den Dingen, in ihrem Ergreifen durch uns. Sie betonen die Bedeutung des frameworks in der Erkenntnistheorie. Jede Erkenntnis entsteht immer schon vor einem framework. Heideggers und Gadamers hermeneutische Philosophie zeichnet sich als antifoundational, im Sinne, dass keine ultimate grounding von Erkenntnis außerhalb der Geschichte und Kultur überhaupt möglich ist.60 Der Wandel, der sich durch die hermeneutische Orientierung vollzieht, gibt 57
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C. Taylor, „Modernity and the Rise of the Public Sphere“, in The Tanner Lectures on Human Values, 14 (1993), S. 258. S. B. Messer et al., „Introduction to Hermeneutics“, in ders. (Hg.), Hermeneutics and psychological theory, New Brunswick, 1988, S. 4. F. von Kutschera, Die Teile der philosophie, a.a.O., 1998, S. 80. S. B. Messer et al., „Introduction to Hermeneutics“, a.a.O., S. 5f. Die hermeneutischen Ansätze weisen die Tendenz zurück, Methoden und Kriterien aus Naturwissenschaften als normativ für alle Denkarten zu betrachten. (Ebenda, S. 2f.)
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nach Taylor Anlass dazu, die ganze moderne erkenntnistheoretische Tradition bezüglich der Konstitution des Wissens als missraten anzusehen: „Wissen besteht nicht aus inneren Bildern der äußeren Wirklichkeit, sondern gründet in ganz etwas anderem […]. Unsere Überlegungen zu den Bedingungen von Intentionalität zeigen uns, dass diese ‚zunächst und zumeist’ unser In-der-Welt-Sein als Handelnd-existierende inkludieren. Das aber zerstört eine Konzeption des Handelnden, dessen Idealbild nach einem Modell totalen Desengagements gebildet ist. Der Versuch, es zu realisieren, wäre destruktiv. Wir können den Hintergrund, von dem aus wir zu einem Gegenstand für uns hindenken, nicht verwandeln.“61 Vom Standpunkt der Hermeneutik aus gesehen, sind die Weltausschnitte (bzw. der soziokultureller Rahmen) für das Erkenntnis- oder Handlungssubjekt nicht etwas Zusätzliches, sondern bilden die Möglichkeitsbedingung unserer Erkenntnis (unseres Denkens, Sprechens, Verstehens). Traditionen bzw. der soziokulturelle Rahmen können nicht vor uns hingestellt werden, wie Gegenstände der Welt. Waldenfels bringt diesen Gedanken in einer prägnanten Weise zum Ausdruck: „Tradition als das Bergende. Keine Gründe sind erforderlich (man begründet seine Mutter oder seinen Geburtsort nicht), kein Relativismus, denn wir gehören dieser Tradition mit Haut und Haaren an (die eigene Leibgestalt ist auch nicht relativismus-verdächtig).“62 Diese bahnbrechende Idee (die dann von Gadamer wesentlich entfaltet wurde) unterscheidet sich völlig von Descartes’ Suche nach einem unbezweifelbaren Fundament der Erkenntnis, die sich auf einen methodischen Solipsismus stützt. Waldenfels illustriert seine Kritik
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C. Taylor, „Zur Überwindung der Erkenntnistheorie“, a.a.O. S.159. B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch. Paderborn/München, 2008, S. 44. Diese Ansicht verdeutlicht Siegfried Wiedenhofer, indem er die theoretische Grundstruktur des soziokulturellen Rahmens unter den Begriffen der Kategorialität und Transzendentalität zum Ausdruck bringt: Dem soziokulturellen Rahmen kommt der Begriff der Kategorialität zu, wenn man diese als Gegenstand einzelwissenschaftlicher Forschung. Von Transzendentalität wird aber geredet, denn der soziokulturelle Rahmen und die Traditionen erweisen sich als Möglichkeitsbedingung oder als Selbstverwirklichungsbedingung. „Sie sind sozusagen vielmehr hinter unserem Rücken wirksam, indem sie uns in einer bestimmten Weise sprechen, verstehen, kommunizieren, handeln, glauben, denken und erfahren lassen, mit einem Wort, indem sie uns die Welt in einer bestimmten Weise eröffnen (religiös, wissenschaftlich, ethisch, ästhetisch, ökonomisch, technologisch usw.)“. (S. Wiedenhofer., „Von der Grammatik religiöser Symbolsysteme religiöser Traditionsprozesse“, in G. Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien, 2001, S. 179. Siehe auch R. Schäffler, Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung, Freiburg/München, 1995.)
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am transzendentalen Subjekt am Beispiel des Paradoxes der Kreation weiter: „Wir schaffen etwas, das uns in Bann schlägt. Wir schaffen etwas, aber nicht seine Gesetzlichkeit. Und woher kommt diese Frage? Sie ‚entsteht mit‘, ein Bedeutungsüberschuss, der unser Machen überstiegt […]. Die ganze Rede vom ‚transzendentalen Ego‘ hat Verwirrung gestiftet, König ohne Reich […].“63 Dieses Paradox der Kreation übersehen wir oft, weil wir dazu tendieren, Erfinden als eine „freie Tätigkeit“ zu verstehen. Im Grunde genommen ist Erfinden, betont er, vielmehr vielfach motiviert durch Bedürfnisse, Interesse, Fragen usw. Sein primärer Ausgangspunkt entgeht uns. Er illustriert das dadurch, dass es bei den Griechen nur das Verb euriskein gibt, wenn es die Rede von erfinden und finden ist. Erfinden und finden sind voraussetzungsreich. „Wenn ‚der Mensch‘ (eine Abstraktion!) das Maß der Dinge ist, so ist er eben nicht Herr über die Richtigkeit der Maßanwendung. Wenn ich nach einem Maßsystem messe, so kann ich den Zahlenwert nicht mehr beliebig verändern – oder ich messe nicht mehr, sondern phantasiere. Ähnlich: Farbskalen, Tonsysteme (falscher Ton), Raumnetze, Zeitordnungen. Um es sehr simpel zu sagen: es liegt an mir, ob ich messe; es liegt nicht an mir, wie lang etwas ist.“64 Wir können nicht umhin, von den Voraussetzungen, von der Geschichte des Erfindens oder dem Kontext der Erfindung (bzw. der Entdeckung oder der Handlung bzw. des Denkens) zu sprechen. Darin besteht auch der Grund, aus dem Descartes’ Philosophie – mit Taylor und Dreyfus gesprochen – umfassend zu „korrigieren“ ist. 2. Die enge Verbindung zwischen Menschen und Sprache veranlasst, auf eine enge Verbindung zwischen dem Menschen und den Mitmenschen (den anderen) zu pochen. Gadamer sowie Taylor rücken die Sprache in den Mittelpunkt der Gesellschaftstheorie und stehen deshalb meilenweit entfernt von Descartes, der das Bewusstsein des einzelnen zum Maßstab der Erkenntnis gemacht hat. Damit wird das ‚Ich’ der Erkenntnis, des homo philosophicus der klassischen Erkenntnistheorie unumstößlich abgewiesen. Was wird mit diesem Wandel des Blicks gewonnen? Genau dies: Wenn die Sprache in den Mittelpunkt rückt, gerät die Idee des grundsätzlich intersubjektiven Charakters der menschlichen Seinsweise ins rechte Licht. Dies kann in zwei Schritten verdeutlicht werden: In Bezug auf die Überwindung des bewusstseinstheoretischen Paradigmas und in Bezug auf die Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas. (i) Die Überwindung des bewusstseinstheoretischen Paradigmas: Aus der sprachphilosophischen Neuorientierung ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung: Die Bezogenheit auf die Welt. „Nur in einer Sprache können wir denken“ (Gadamer). Und denken ist immer denken an. Dies ist eine Grundlehre des Begriffs der Intentionalität in der Phänomenologie. 63 64
Ebenda, S. 45f. Ebenda, S. 38.
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Durch diesen Begriff vollzieht sich die Überwindung des cartesiansischen Paradigmas. Während Intentionalität in der Alltagssprache die Bedeutung von Absichtlichkeit hat, bezeichnet der Ausdruck in der philosophischen Sprache den „mentalen Zustand des Bezugs auf etwas“. Intentionalität ist ein Begriff von Brentano, der bei Husserl die Bedeutung von Bezogenheit des Bewusstseins erhält: „Bewusstsein von“, das Bewusstsein ist ein Bewusstsein von etwas,65 das „Bewusstsein [ist] nach außen gerichtet“ („ conscience tournée vers le dehors“), ein dem cogitandum zugewandtes oder tendiertes cogitatio, sagt Ricoeur. 66 Waldenfels erklärt die Intentionalität (anders genannt die noetisch-noematische Korrelation oder die noetisch-noematische Grundstruktur des intentionalen Bewusstseins) folgendermaßen: „der intentionale Akt [wird], sei es eine Wahrnehmung, eine praktische Entscheidung, seien es Liebe und Hass, Freude und Trauer, bestimmt als ein Erlebnis, das sich von sich aus so oder so auf etwas bezieht“.67 Das Bewusstsein ist immer auf einen Gegenstand gerichtet, so dass man sagen kann: Die Rede von Cogito ist auch schon die Rede von Cogitatum, das Vorstellen ist ein „bewusster Bezug“ auf Gegenstände (als sein Korrelat). Mit der Intentionalität wird Abstand vom Cartesianismus deutlich genommen. Dies erläutert Waldenfels wie folgt: „[...] Intentionalität besagt, dass all unsere Erlebnisakte in sich selbst auf wiederholbare Sinngestalten ausgerichtet sind. Es steht uns keine fertige Wirklichkeit gegenüber, die sich in unserem Geist lediglich reproduziert und abbildet. Welt und Bewusstsein vereinen sich zu einem konstituierenden Geschehen, das Husserl als ‚welterfahrendes Leben’ bezeichnet. Die klassische Unterscheidung von äußerer Erfahrung, die uns mit einer physischen Wirklichkeit konfrontiert, und einer inneren Erfahrung, die sich in der Bilderkammer eines psychischen Innenraums einnistet, wird hiermit unterlaufen. Einen reinen ‚inneren Menschen’ gibt es ebensowenig wie eine reine Außenwelt.“68 65
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67 68
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologische Philosophie. Hamburg, 2009, S.200f.. Vgl. G. Stamer, Jürgen Habermas –oder: „Umbrisches Gespräch über das Elend der Verfahrensrationalität“. Berlin, 2007, S. 36. P. Ricoeur, A l´école de la Phénoménologie. Paris, 1986, S. 158f.; ders., „Kant et Husserl“, in KantStudien, 46(1954-1955), S. 60f. P. Ricoeur weist darauf hin, dass das Husserlsche Denken in Frankreich vor allem durch das Thema der Intentionalität entdeckt wurde. (P. Ricoeur Réflexion faite. Autobiographie intellectuelle. Paris, 1995, S. 17f.) B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie. München, 1992, S. 16. B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt/M., 1980, S. 12. „Entscheidend ist hierbei, dass das ‚Wie’ oder ‚Als’, sei es die räumliche Abschattung, der zeitliche Aspekt, die Modalität (wirklich, möglich usf.), der kognitive (‚doxische’) oder praktische Charakter, weder ein objektives Merkmal, also Teil des gemeinten ‚Was’ ist noch auch reeller Bestandteil eines Erlebnisaktes oder -zustandes. Damit unterläuft Husserls Lehre von der Intentionalität des neuzeitlichen Dualismus von Innen und Außen, von immanentem Erleben und transzendenter Wirklichkeit. Indem jemand etwas erlebt oder erfährt, ist er in sich selbst bei anderem, ist er außer sich, überschreitet er sich.“ (B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, a.a.O., S. 16.)
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Das Intentionale prädominiert das Reflexive (das reflexive Bewusstsein), das „Gerichtetsein“ die „Selbstherrschaft“ (Descartes). Denn wir können in einem reflexiven Prozess nicht ohne einen Horizont von „notwendig Mitgemeintem“ (Husserliana I, 62) auskommen. Die Bezogenheit des Bewusstseins ist philosophisch folgenreich. Ferner weist Husserl in seiner Theorie der Gegenstandkonstitution darauf, dass das Objekt seinen Sinn durch das Subjekt bekommt. Der Sinn des Objekts wird also vom Subjekt verliehen. Allerdings berücksichtigt er dabei nicht, dass sich das Sinn-Verleihen sprachlich vollzieht und eine Intersubjektivität (eine Sprachgemeinschaft) voraussetzt. Daher wird sein „Subjekt-Objekt-Schema“ als monologisch bezeichnet. Damit bricht er im Vergleich z.B. zu Gadamer und Taylor nicht völlig mit dem homo philosophicus der klassischen Erkenntnistheorie. Die sprechphilosophische Neuorientierung führt zur Verabschiedung des monologischen „Subjekt-Objekt-Schemas“ (der Perspektive der einzelnen Subjekte). Habermas hält die Ablösung des Bewusstseinsparadigmas, also den Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur Intersubjektivität, für „die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche.“69 (ii) Die Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas: Die sprach-, oder besser, sprechphilosophische Neuorientierung verweist auf die Ursprünglichkeit der Gemeinschaft (siehe auch den Punkt 4.1.2). Sprechen ist immer sprechen innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Das ist die Bedeutung des Subjekt-Intersubjektivität-Objekt-Schemas. Michail Bachtin hat zur Durchsetzung die Lehre dieses Schemas viel beigetragen. Soboleva erläutert seinen Gedanken wie folgt: „Dieses Schema impliziert, dass es […] keine subjektive ‚reine Wahrnehmung’ gibt, vielmehr erscheint der Gegenstand dem Subjekt durch das Prisma einer sprachlichen und damit intersubjektiven Darstellung. [...]. Die Intentionalität muss nun nicht nur bloß im Sinne der Gerichtetheit des Bewusstseins verstanden werden, sondern als sprachlicher Bezug auf einen Gegenstand, als eine propositionale, gehaltvolle Einstellung: Das Wort oder die Äußerung ist auf einen Gegenstand gerichtet, um ihn in Worten zu fassen, wörtlich auszudrücken.“70
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J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt/M., 1985, S. 134. M. Soboleva, „Von der Phänomenologie zur Sprachphilosophie,“ in DZPh 56 (2008) 1, S. 24. An dieser Stelle behauptet Gadamer: „Wir sind in allem unserem Denken und Erkennen immer schon voreingenommen durch die sprachliche Weltauslegung, in die hineinwachsen in der Welt aufwachsen heißt. Insofern ist die Sprache die eigentliche Spur unserer Endlichkeit. Sie ist immer schon über uns hinweg. Das Bewusstsein des einzelnen ist nicht der Maßstab, an dem ihr Sein gemessen werden kann. Ja, es gibt überhaupt kein einzelnes Bewusstsein, in dem die Sprache, die es spricht, wirklich da ist. […].“ (H. G. Gadamer, Gesammelte Werke, a.a.O., S. 150). Zur Illustrierung kann Wittgensteins berühmte Aussage in seinem Werk Philosophische Untersuchungen dienen: „eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“ (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, in J. Schulte (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Frankfurt/M., 2001, §19.)
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Anders gesagt, die Konstituierung des Gegenstands ist auf die Tatsache angewiesen, dass der Mensch im Prozess intensiver Wechselwirkung mit dem „bereits Gesagten“ oder „Bekannten“ vom Gegenstand dialogisch eingestellt ist. Was in Husserls Phänomenologie nicht in den Blick kommt, ist genau diese „bereits vorhandene sprachliche Auffassung“. Husserl lässt die Tatsache außer Acht, dass sich der Prozess der Konstitution71 eines Gegenstandes innerhalb eines sprachartikulierten Raums vollzieht. Im Gegensatz dazu muss auf eine unvermeidliche Verwurzelung des Menschen in der Sprache oder auf die Rolle der Sprache im Aufbau des Selbst hingewiesen werden. Von der Sprache-Perspektive heraus zeigt, dass die Einheit des Menschen nicht von seiner ursprünglichen Bindung (Zugehörigkeit) an den anderen zu trennen ist. Taylors Denken illustriert, dass die Überwindung der erkenntnistheoretischen Tradition beträchtliche Konsequenzen hat, und, wie sich durch die Erläuterung des Wesens der Sprache die Anthropologie in die Ethik der menschlichen Beziehungen verwandelt. Daraus erklärt sich, wieso Taylor diese Aufgabe vorrangig erfüllen will. Der nächste Schritt in diesem Zusammenhang besteht darin, die leibliche Dimension des menschlichen Handelnden zu erläutern. Der Mensch als ein leiblich Handelnder Die Bedeutung von Taylors Begriff des Menschen als eines leiblich Handelnden lässt sich am besten anhand seiner eigenen biographischen Schilderungen zum geistigen Klima der Universitätsphilosophie zu Beginn seiner philosophischen Tätigkeit nachvollziehen, die er selbst als prägende Erfahrung für seine philosophische Laufbahn beschrieben hat.72 Am Anfang seines Studiums war er enttäuscht von der Tatsache, dass die damalige vorherrschende analytische Philosophie in Oxford weit entfernt von dem Leben war. Ihr radikaler Empirismus war außerstande, die von ihm als philosophisch wichtig betrachteten Probleme in den Blick zu bekommen. So verfügte Gilbert Ryle zwar über Kenntnisse der Phänomenologie (er hatte Husserl in Deutschland kennengelernt) und er hatte sogar die erste englische Zusammenfassung von Sein und Zeit verfasst, als selbst der Name Heidegger im angelsächsischen Raum noch gänzlich unbekannt war. Doch letztlich blieb er ganz der analytischen Philosophie verpflichtet, ohne seine Kenntnisse der kontinentalen Tradition in irgendeiner Weise zu
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Konstitution ist laut Waldenfels sogar zu hinterfragen. „Was heißt hier Konstitution? Einfaches Beispiel: ‚Die Birke vor meinem Bochumer Fenster steht links von dem Ahorn.’ Die Gültigkeit, Wahrheit dieses Satzes hängt nicht von mir ab – wird also auch nicht von mir konstituiert, d.h. ich kann nicht sagen: ‚...steht rechts … oder vor ...’, ohne den Tatsachen zu widersprechen – und doch: Dieser Satz hat einen inneren Bezug zu meinem Standort – und außerdem: die ‚Bildung’ dieses Satzes könnte auch ausbleiben. […] ‚Die Birke …’ - ich bilde den Satz, der in keiner langue bereits liegt – aber ich bilde nicht die Regeln, nach denen er gebildet wird – höchstens Umbildung durch abweichendes Sprechen.“ (B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch, a.a.O., S. 28f.). Siehe C. Taylor „De l´anthropologie philosophique à la politique de la reconnaissance“, Gespräch mit P. Lara, in G. Laforest, P. Lara (Hg.), Charles Taylor et l´interprétation de l´identité moderne, Paris, 1998, S. 353f.
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nutzen. Taylor kritisiert diese Einseitigkeit und diesen Mangel an Flexibilität und will der philosophischen Orientierung der Universität entkommen. Alternative Denkweisen bzw. -strömungen spielen daher eine herausragende Rolle in seiner Philosophie. Tragfähige Alternativen sieht er in der Philosophie des späten Wittgenstein und in der Phänomenologie. „Both Heidegger and Wittgenstein had to struggle to recover an understanding of the agent as engaged, as embened in a culture, a form of life, a ‚world’of involvements, ultimately understand the agent as embodied.“73 Man kann also Taylors Wechsel zur kontinentalen Tradition als Reaktion auf die einseitige Ausrichtung der Oxforder Analytischen Philosophie verstehen. Bei Wittgenstein findet Taylor die Idee, der Handelnde sei immer in einer Gemeinschaft verankert – und zwar schon allein dadurch, dass jeder sprachliche Akt innerhalb gemeinsamer Sprachspiele und Lebensformen stattfindet. Dass sich der Handelnde immer auf ein Netzwerk von Sprachspielen stützt, macht eine Privatsprache unmöglich. Damit wird eine cartesianische Methode, die glaubt, sich in eine Art solipsistischer Basis zurückziehen zu können, unmöglich. Bei Heidegger entlehnt Taylor die Idee der Endlichkeit (finitude) des Daseins und setzt sie in seinen Begriff des engagierten Subjekts um. Anders gesagt, Taylor übernimmt von der Phänomenologie das phänomenologische Argument, dass der Handelnde ein leiblich Handelnder, also ein an seine Körperlichkeit gebundener Handelnder ist. Das Neue besteht hier nicht nur darin, dass Taylor dem entkörperten Cogito den Begriff des verkörperten Subjekts entgegenstellt, sondern auch darin, dass er letzteren im starken Sinne versteht, d.h. nicht bloß im Rahmen einer kausalen Beziehung: „In saying that the subject is essentially embodied, we are not just saying that our being a subject is causally dependent on certain bodily features: for instance, that you couldn´t see if the eyes were covered, or think if you were under severe bodily stress, or be conscious at all if the brain were damaged. The thesis is not concerned with such empirically obvious truisms. Rather the claim is that our manner of being as subjects is in essential respects that of embodied agents. It is a claim about the nature of our experience and thought, and of all those functions which are ours qua subject, rather than about the empirically necessary conditions of these functions. To say we are essentially embodied agents is to say that is essential to our experience and thought that they be those of embodied beings.“74 Die Idee, derzufolge unsere Erfahrung durch unsere Sinne unausweichlich konstituiert ist, gehört zu einer strengen Deutung der Seinsweise des Menschen und seiner Erfahrung. Diese Deutung entleiht Taylor offensichtlich von Merleau-Ponty, der seinem Buch Expla-
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C. Taylor, „Lichtung or Lebensform“, in ders., Philosophical Arguments. London, 1995, S. 61. C. Taylor, Transcendental Arguments“, in ders., Philosophical Arguments, a.a.O., S. 22.
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nation of Behavior als ein wesentlicher Bezugspunkt diente. Es ist das Verdienst von Merleau-Ponty, die These, derzufolge das menschliche Subjekt ein leiblich Handelndes ist, höchst überzeugend vertreten und in ihren Verästelungen auf bisher unübertroffene Weise erforscht zu haben. Dies mag denjenigen überraschen, der in dieser These bzw. in der Behauptung von Menschen als einem in einer Umwelt verankerten und engagierten Wesen, eine triviale Selbstverständlichkeit oder sogar eine Aussage über eine nicht beachtenswerte Tatsache sieht. Eine solche Überraschung ist nach Taylor durchaus berechtigt, wenn man daran bedenkt, „dass das moderne Denken meistens alles daran setzt, diese Binsenwahrheiten entweder gar nicht anzuerkennen oder sie mit allerlei Strategien sorgsam zu umgehen. Deshalb müssen die Implikationen der obigen Sätze ausdrücklich entfaltet werden.“75 Hier erkennt man, dass sich Taylor in seinem Kampf gegen die „vorherrschende rationalistische Denkrichtung“ nicht nur mit den Haupttheorien der modernen Philosophie auseinandersetzt, sondern auch mit der ganzen Sichtweise, die den sens commun der modernen Zivilisation prägt. Er steht hier in Übereinstimmung mit Norbert Elias in seiner Analyse von sozialen und geistigen Umwälzungen im Zeitalter Descartes’: „Entsprechend den veränderten gesellschaftlichen Lebensformen, und besonders im Zusammenhang mit der wachsenden Zurückhaltung der Gefühle, die nun gefördert wurde, mit der stärkeren Notwendigkeit, zu beobachten und zu denken, ehe man handelte, in bezug auf physische Objekte nicht weniger als auf Menschen, akzentuierte sich im Bewusstsein der einzelnen Menschen ihre Existenz als Einzelne, von allen anderen Menschen und Dingen Losgelöste und erhielt einen höheren Wert. Der Akt der Loslösung in der Beobachtung anderer und seiner selbst verfestigte sich gewissermaßen zu einer stehenden Haltung und erweckte, derart verfestigt, in dem Beobachtenden die Vorstellung von sich selbst als einem losgelöst und unabhängig von allen anderen Existierenden. Der Akt der Detachierung im Beobachten und Denken verdichtete sich im Erleben der Menschen zur Vorstellung eines universellen Detachiertseins des Einzelmenschen. [...] Das Grundproblem der philosophischen Erkenntnistheorie entsprach dieser Form des menschlichen Selbstbewusstseins. Es nahm seinen Ausgang von der Absolutisierung des zeitweiligen Loslösens und Sich-Gegenüberstellens, das zu den Akten des Erkennens und der Wissenssuche auf der Stufe, die wir ‚wissenschaftlich’ nennen, gehört. Es beruhte auf der Vorstellung eines erkennenden Subjekts, das, gewissermaßen losgelöst und durch eine tiefe Kluft getrennt, der Welt der zu erkennenden Objekte gegenübersteht.“76 In diesem Zusammenhang wird verständlich, wieso Taylor nicht direkt der Frage nach den objektiven Ansprüchen nachgeht, sondern sich zunächst intensiv mit der Frage nach dem menschlichen Wesen bzw. leiblichen Selbst auseinandersetzt. Das ist eine wichtige theoretische Voraussetzung der Ethik Taylors, die im Blick bleiben soll. Taylor, der in Anlehnung 75
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C. Taylor, „Leibliches Handeln“, in A. Métraux, B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken. München, 1986, S.194. N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt/Main, 1987, S. 147f.
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an Heidegger gelernt hat, dass wir uns in der Welt nicht „wie z.B. Wasser in einem Glas“, befinden, versucht den vollen Sinngehalt des Begriffs der ‚Bedeutung’ zu erschließen. Er betont, dass wir eine Person nicht charakterisieren, ohne bestimmte Bereiche der Umwelt eben dieser Person miteinzubeziehen. Es geht um Bereiche, die für diese Person Bedeutung haben. Aber die Rede von „Bedeutung“ kann hierbei irreführend sein. „Er wird nicht als Term der Linguistik verwendet, also nicht zur Bezeichnung einer Bedeutung, die in irgendeiner Weise an einen Träger gebunden ist (wie man von ‚der Bedeutung’ einer musikalischen Passage oder eines Bildes sprechen mag). Der Ausdruck bezieht sich eher – wie sein Gebrauch in der Alltagssprache nahelegt – auf die Tatsache, dass Ausschnitte der Welt für uns nichtgleichgültig sind.“77 Man kann eine Person nicht beschreiben, ohne diese Weltausschnitte und deren Sinn für die Person in Betracht zu ziehen. Ohne Bezugnahme auf die Umwelt und die Bedeutung derselben für das Subjekt können wir dieses Subjekt gar nicht beschreiben. Die mit der Person verbundene Welt erstreckt sich dabei nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. So gehören dazu – erwähnt Taylor – z.B. Beleidigung in der Vergangenheit und andere prägende Ereignisse. Genauso wie aus der oben verdeutlichten Intentionalitätsperspektive zeigt sich aus der Leibperspektive, dass Descartes den Fehler begeht, von einem entkörperlichten und bindungslosen Ego auszugehen. Kutschera verdeutlicht diesen Fehler an diesem Punkt folgendermaßen: „Wir gehören selbst zur Welt, wir existieren in ihr und greifen handelnd in ihre Abläufe ein. Beides prägt unsere Konzeption von Welt und Erfahrung von Anfang an. Die Tatsache, dass wir uns unter den Gegenständen unserer Erfahrung befinden, ist überhaupt schon Vorbedingung dafür, dass wir die Natur beschreiben können, also nichts, was man in späteren Schritten der Überlegung hinzufügen könnte. Die Möglichkeit auf Dinge, Orte und Daten zu referieren hängt daran, dass wir mit dem Wort ‚hier’ den Ort anzeigen können, an dem wir uns gerade befinden, und mit ‚dies’ ein Objekt, auf das wir hinweisen. Beide Möglichkeiten hätte eine körperlose cartesische Seele nicht […]. Wir können [...] auf konkrete Dinge und Ereignisse referieren, weil wir selbst in Raum und Zeit existieren, weil wir selbst zur Welt gehören, über die wir reden; weil wir keine cartesische Seele sind, sondern Personen mit Leib und Seele […]. Die reale Existenz der Welt ergibt sich damit schon aus unserer eigenen Existenz: Können wir nicht bezweifeln, dass wir selbst existieren und müssen wir uns als in der Natur existierend begreifen, so können wir auch deren Existenz nicht bezweifeln.“78
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C. Taylor, „Leibliches Handeln“, a.a.O., S. 194f. Er bezieht sich auf Heideggers Ansicht in Sein und Zeit: „Das Subjekt befindet sich nicht so in der Welt, wie ein selbstständig beschreibbarer Gegenstand in einem anderen Gegenstand enthalten ist – wie z.B. Wasser in einem Glas. Vielmehr befindet sich das Subjekt in einer Welt, die für es ein Feld von Bedeutungen ist, weil es eben nur dank derselben zum Subjekt geworden ist, das es tatsächlich ist.“ (S. 195f.) F. von Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a.O., S. 84f.
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Die Schwierigkeit der erkenntnistheoretischen Tradition, der tiefen Verbindung des Menschen mit seiner Umwelt gerecht zu werden, gründet in der nachlässigen Behandlung des Leibbegriffs. Der klassische Dualismus, so Annette Barkhaus, isoliert durch seine rationalistische Vorgehensweise einen einzelnen Aspekt des Menschseins und erklärt ihn zu dessen Wesentlichen.79 Diese Einseitigkeit lässt sich nur durch eine Rehabilitierung des Leibes beseitigen. Was genau soll man aber darunter verstehen, wenn Taylor das Subjekt als ein leibliches handelndes bezeichnet? Sicher nicht, dass das Subjekt in der Tat einen Körper hat oder das es kausal von bestimmten körperlichen Zuständen abhängig ist. Vielmehr meint Taylor, dass die „Seinsweise der Subjekte in wesentlichen Aspekten die von leiblich Handelnden ist“.80 Dies möchte er aufweisen - nicht beweisen, denn letzteres ist seiner Meinung nach unmöglich. Aufgewiesen werden kann es aber am Beispiel der Wahrnehmung. „Die Wahrnehmung ist für uns als Subjekte wesentlich. Ein Subjekt sein heißt, sich einer Welt bewusst sein oder eine Welt haben. Ich kann mir dieser Welt in unterschiedlicher Weise bewusst sein. So kann ich eine Situation in Indien oder in Äthiopien abwägen, mich der angenehmen Ferien des vergangenen Sommers erinnern, das zweite thermodynamische Gesetz ins Auge fassen und so weiter. Indes, diesen Tätigkeiten liegt jeweils die Wahrnehmung der Welt aus der von mir eingenommen Perspektive zugrunde.“81 Mit der zuletzt genannten „Wahrnehmung der Welt“ verbindet Taylor drei Thesen: Erstens ist die Welt immer da. Ich kann jede Wirklichkeit nur in Begriffen der wahrgenommenen Welt verständlich machen. Zweitens geht die Wahrnehmung allen anderen Weisen, sich der Welt bewusst zu werden, voraus. Dadurch ist sie „grundlegend“, die „erste Öffnung“ hin zur Welt, der „unaufhebbare Hintergrund“ aller Tätigkeiten. Drittens ist die Wahrnehmung der Welt auf unsere Leiblichkeit angewiesen, d.h. sie ist „wesentlich die eines leiblich Handelnden, der sich mit ihr auseinandersetzt“. 82 Das Wort „wesentlich“ versteht Taylor in Zusammenhang mit dem, was er weiter oben über den Ausdruck „Bedeutung“ gesagt hat (d.h. „Ausschnitte der Welt sind für uns nicht-gleichgültig“). Die Welt und das Subjekt sind eng verbunden. Dies kann durch Folgendes verdeutlicht werden: Das Wahrnehmungsfeld besitzt Orientierungen, z.B. ein Oben und ein Unten. Durch diese Orientierungen wird es wesentlich zum Wahrnehmungsfeld eines leiblich Handelnden.
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A. Barkhaus (Hg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt/M, 1996, S. 15. C. Taylor, „Leibliches Handeln“, a.a.O., S. 196. Ebenda Ebenda, S. 197.
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„Oben und unten sind nicht einfach auf meinen Leib bezogen; oben ist nicht dort, wo mein Kopf, und unten nicht dort, wo meine Füße sind. Ich kann ja liegen oder mich bücken oder mich auf den Kopf stellen – und in all diesen Fällen ist oben nicht die Richtung, in die die Stellung des Kopfes weist […]. Vielmehr beziehen sich oben und unten darauf, wie man sich im Feld bewegt und wie man darin handelt. Denn die Dimension oben/unten hat Bedeutung für mich als einen leiblich Handelnden, der in einem Schwerefeld Tätigkeiten ausübt.“83 Diese leibliche Tiefendimension der Auseinandersetzung mit der Welt wird in Descartes’ Philosophie außer Acht gelassen. Da Taylor der Meinung ist, dass die cartesianische Auffassung auf eine Verkürzung hinausläuft, ruft er den Kern des Begriffs „Zur-Welt-sein“ (Merleau-Ponty) in Erinnerung, der besagt, die Wahrnehmung sei essentiell die eines Handelnden, der sich mit der Welt auseinandersetzt und selbst in ihr tätig wird.84 Er verstärkt diese Idee durch den Verweis auf Merleau-Pontys Begriff von ‚corps propre’ (eigenen Körpers). Dieser Begriff besagt, dass mein Körper nicht nur ein Ding ist, sondern auch die Bedingung meiner Erfahrung. Er nimmt an meiner Wahrnehmung der Welt aktiv teil. Damit möchte Merleau-Ponty den Intellektualismus – die Reduktion der Existenz auf das Denken – zurückweisen. Der Intellektualismus ist naiv, weil er den Hintergrund der Wahrnehmung, das primordiale und ursprüngliche Verhältnis zwischen uns und der Welt aus den Augen verliert. Die Wahrnehmung hat eine „dimension sensible“ und impliziert eine Artikulation von „Rezeptivität und Aktivität“.85 Taylor meint nichts anderes, wenn er in Zusammenhang mit dem Verständnis der Wahrnehmung als Tätigkeit eines in der Welt leiblich Handelnden das Folgende behauptet: „Was ich wahrnehme, ist eine Welt, in die ich vorgängig schon verstrickt bin, die mich umhüllt, von der ich ein Teil bin, in der ich situiert bin [...]. Das Verstricktsein in die Welt bildet den Rahmen jedweden Wahrnehmens. Wie könnte ich also je Zweifel an der Existenz der Welt haben und glauben, dass meine Wahrnehmungen immer falsch sind? Ich kann zumindest daran nicht zweifeln, dass ich von der Welt umgeben bin. Ich bin ein Teil der Welt, ich nehme sie als ein in ihr Situierter wahr: ich habe einen Leib und genieße deshalb sozusagen eine permanente Mitgliedschaft unter den Dingen der Welt, die mich umgeben. Ich verstehe sie von innen heraus, weil ich eines von ihnen bin. Diese Bilder müssen gleichsam
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Ebenda, S. 197f. Ebenda, S. 201. Siehe M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., Kapitel 4, 5 und 6; ders., Le primat de la perception et ses conséquences philosophiques. Paris, 1996, S. 67. Wenn MerleauPonty in diesem Zusammenhang von „monde vécu“ (Lebenswelt) spricht, meint er die Welt, in der wir durch unsere Körper sind, die wir mit (durch) unseren Körpern wahrnehmen, weil der Wahrnehmende kein „akosmisches Subjekt“ ist.
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beim Wort genommen werden, damit wir von der traditionellen Erkenntnistheorie loskommen, der zufolge ich die Dinge von außen wahrnehme, weil sie in mir Empfindungen auslösen [...]. Der sehende und berührende Leib ist wesentlich ein sichtbarer und berührbarer Leib. Oder umgekehrt: das Subjekt, von dem die traditionelle Erkenntnistheorie spricht, ist notgedrungen entweltlicht, akosmisch.“86 In Reaktion auf die Verkürzung der Ansicht Descartes’ bezeichnet Waldenfels den Körper – genauso wie die Sprache und die Zeit – als ein „Grundphänomen“, d.h. „ein Phänomen, das an der Konstitution anderer Phänomene immerzu beteiligt ist. […] Das Phänomen des Leibes eröffnet keinen bloßen Gegenstandsbereich, sondern der Leib selber wirkt zurück auf die Zugangsweise, in der uns dieses oder jenes begegnet“.87 Wir erkennen z.B. nur deshalb, weil der Körper uns schon zuvor vertraut mit der Welt gemacht hat. Daher betont William James: „The ‚I think’ which Kant said must be able to accompany all my objects, is the ‚I breathe’ which actually does accompany them.“88 Der Dualismus Körper-Geist ist zwar obsolet geworden, aber er hat seine Spuren, so Taylor, in der zeitgenössischen Forderung nach einer neutralen, objektiven Wissenschaft vom menschlichen Leben und Handeln hinterlassen. Daher macht es immer Sinne, seine Bedeutung und Rolle hervorzuheben. Eine nachlässige Behandlung des Körperbegriffs macht – wie in der erkenntnistheoretischen Tradition erläutert – nicht nur das Verhältnis zur Umwelt problematisch, sondern auch das Verhältnis zum Mitmenschen. Deshalb bedeutet für Taylor die Rehabilitierung des Körperbegriffs auch die Rehabilitierung der Mitmenschen, mit denen wir viel gemeinsam haben. Kutschera verdeutlicht diese Ansicht auf überzeugende Weise: „Wir begreifen uns selbst daher immer schon als Glied einer personalen Gemeinschaft und setzen voraus, dass es andere Menschen gibt. Das ‚Ich’ ist nicht ursprünglicher als das ‚Du’.“89 All dies zeigt, dass der cartesianische Solipsismus als methodischer Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie unbrauchbar ist. Sein Akt der Loslösung bedeutet – mit Elias gesprochen –, dass ein einzelnes ‚Ich’ in seinem Gehäuse an all das tritt, was ‚draußen’ ist (also Dinge genauso wie Personen) gewissermaßen erst im Nachhinein, wie an etwas Unbekanntes und Fremdes heran.
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C. Taylor, „Leibliches Handeln“, a.a.O., S. 208. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst. Frankfurt/M, 2000, S. 9. W. James, Essays in radical Empiricism. Cambridge, 1976, S. 19. F. von Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a.O., S. 86.
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„Und dieses ‚Ich’ der Erkenntnis, der homo philosophicus der klassischen Erkenntnistheorie, war, genau betrachtet, ein Erwachsener, der nie ein Kind gewesen. Das Problem war, wie ein ‚vernünftiger’ Mensch, ein Mensch, der die Denkapparatur eines Erwachsenen besitzt, Wissen und Erkenntnis von der Welt gewinnen könne. Für die Zwecke der Erkenntnistheorie abstrahierte man von der Beobachtung, dass jeder Erwachsene einmal ein Kind war; sie wurde als unwesentlich für die Probleme des Wissenserwerbs beiseitegestellt. Das Problem war, wie ein vernunftbegabter, erwachsener Einzelmensch hier und jetzt Kenntnis der Dinge ‚draußen’ gewinnen könne. Der Begriff der Entwicklung stand als gesellschaftliches Denkmittel den Philosophenschulen des Erkenntnisstreits etwa bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts noch kaum zur Verfügung oder bestenfalls nur in einer rohen und elementaren Form. Er war ein Beziehungsbegriff, der sich noch nicht recht entwickelt hatte.“90 Die Opposition zwischen dem Begriff eines desengagierten Subjekts (Descartes) und dem eines engagierten Subjekts (Taylor) bestimmt den Grundton eines Großteils von Taylors Arbeiten. Die gesamte Philosophie Taylors versteht sich als ein Kampf gegen den Begriff eines desengagierten Subjekts oder einer äußerst ichbezogene Einstellung und seine theoretischen und praktischen Konsequenzen – wie wir in Teil II über die Politik- und Ethiktheorien sehen werden. Unter „engagement“ versteht Taylor das Folgende: „the world of the agent is shaped by one´s form of life, or history, or bodily existence.“91 Diese Idee, die wir durch den phänomenologischen Ausdruck „in-der-Welt-sein“ erläutert haben, impliziert für Taylor, dass das Subjekt die Welt nicht objektivieren (bzw. die Dinge nur mechanistisch sehen) und die angestrebte Perspektive eines außenstehenden Beobachters nicht annehmen kann, weil die Welt bis in sein Innerstes eindringt. Aus diesem Grund „muss jeder Begriff des Subjekts als einer Monade oder als einer reinen Inwendigkeit ohne Bezug zur Welt letztlich als bloße Chimäre zurückgewiesen werden“.92 Merleau-Ponty legt dar, wie unsere Weltbeteiligung sich wesentlich leiblich manifestiert und inwiefern diese Leiblichkeit den Ausgangspunkt eines gerichteten Handelns oder Begehrens bildet, das von uns nie vollkommen unter die Kontrolle persönlicher Souveränität gebracht werden kann. Seine Behauptung, das Subjekt betätige sich in der Welt, weist auf einen konstitutiven Zusammenhang zwischen dem leiblich Handelnden und dem Wahrnehmungsfeld hin.93 Dieser Zusammenhang ist konstitutiv und nicht bloß korrelativ, denn sonst könnten wir kein Subjekt mit einem so-und-so artikulierten Feld werden.94 Anschließend an diese Ansicht Merleau-Pontys sind drei Anmerkungen vonnöten: 90 91 92 93
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N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, a.a.O., S. 155. C. Taylor, „Lichtung or Lebensform“, a.a.O., S. 62. C. Taylor, „Leibliches Handeln“, a.a.O., S. 202. Die Annahme, das Subjekt sei tätig in der Welt und betätige sich in der Welt, kommt auch zum Ausdruck in Heideggers Sein und Zeit §12-18, in dem Heidegger die Analyse des In-der-WeltSeins entwickelt. C. Taylor, „Leibliches Handeln“, a.a.O., S. 202.
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– Diese Annahme bestätigt Taylors obige Erläuterungen der These der subjektiven Leiblichkeit. Wir können über das Subjekt nichts aussagen, wenn wir zugleich nicht auch seine Welt beschreiben. Dies wird von Merleau-Ponty angeführt, wenn er sagt, dass wir in der Welt immer schon verwurzelt sind, „weil unablässlich, wie Wellen, die am Strande ein Wrack umspülen, die Welt die Subjektivität überströmt und umgibt“.95 Oder wenn er betont: „Ich fasse die Welt […], weil ich in der Welt situiert bin, sie mich umfasst.“96 – Diese Annahme bildet, wie Taylor selbst hervorhebt, den Rahmen für seine Identitätsdiskussion.97 Das Subjekt verkörpert Lebensformen, hält Umgang mit der Welt und wird eben dadurch bewusst und selbstbewusst. – Diese Annahme begründet Taylors Kritik an dem der Ethnologie zugrundeliegendem Ethnozentrismus, insofern er nicht berücksichtigt, dass und wie sich andere soziale Akteure mit der Welt auseinandersetzen. Aber diese Annahme kündigt auch schon den Standpunkt an, von dem aus Spannungen in Taylors eigenem Denken herrühren und Schwierigkeiten erwachsen, die Verschränkung zwischen der Partikularität und der Universalität zu verdeutlichen (damit wird sich der dritte Teil beschäftigen). Angesichts der Bedeutung, die Taylor dem Begriff der Leiblichkeit bzw. der Situationsgebundenheit zuschreibt, stellt sich abschließend die Frage, wieso Taylor hier keinen Bezug auf den Pragmatismus z.B. von C. Peirce nimmt.98 Denn zu der Leiblichkeit und der Situationsgebundenheit der menschlichen Erfahrung findet er wohl Argumente bei MerleauPonty und Heidegger, aber er hätte , betont Joas, bei Mead und Dewey in Experience and Nature noch wichtigere Stützen gefunden: „Auffallend ist nicht, dass Taylor eine Tradition ignoriert, aus der Gegenargumente zu seinem Denken entspringen könnten, sondern dass er eine Denkrichtung links liegen lässt, aus der er Unterstützung für seine Position, ja Inspiration für sich selbst hätte beziehen können.“99
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M. Merleau-Ponty, Philosophie der Wahrnehmung. Berlin, 1966, S. 244. Ebenda, S. 464. C. Taylor, „Leibliches Handeln“, a.a.O., S. 211. H.. Joas, „Ein Pragmatist wider Willen?“, in DZPh. 44(1996), S. 664. Ebenda, S. 668. Auch M. Kühnlein hat Taylor kritisiert, den amerikanischen Pragmatismus außer Acht gelassen zu haben (M. Kühnlein, Religion als Quelle, a.a.O., S. 172). Taylor hat in Ein säkulares Zeitalter versucht, diese Lücke durch Anknüpfung an William James´ pragmatische Religionsphilosophie zu schließen. Für Nagl ist das nicht genügend, denn Taylor interessiert sich nicht nur für einen der Hauptrepräsentanten des amerikanischen Pragmatismus, sondern auch bei letzterem nur für einige seiner Überlegungen, so dass er „sich eine große Reihe interessanter Anknüpfungs- und Differenzpunkte entgehen“ lässt. (L. Nagl, „‚The Jamesian open space’. Charles Taylor und der Pragmatismus“, in M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, a.a.O., S. 127).
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Allerdings stellt diese pointierte Bemerkung die Stichhaltigkeit von Taylors Kritik am Cartesianismus nicht in Frage. Wichtig an der vorliegenden Stelle ist zunächst die Feststellung, dass Taylor zur Erkenntnis hinführen will, dass und welche Teile des modernen erkenntnistheoretischen Projekts illusionär sind – analog zu Husserls Aufforderung in der Krisis der europäischen Wissenschaften. Daher rührt sein Versuch, alternative Auffassungen von Vernunft zu entwickeln.100 Taylors Kritik am cartesianischen Ideal veranlasst auch die Kritik am Begriff einer „desengagierten Vernunft“, d.h. eine Vernunft, die den Anspruch erhebt, eine distanzierte Kontrolle auf Bewegungen des Körpers und Leidenschaften der Seele auszuüben. Hier heißt „Rationalität, dass man bestimmten Vorschriften entsprechend denkt. Ausschlaggebend für das Urteil sind jetzt Eigenschaften der Denktätigkeit, nicht mehr die inhaltlichen Überzeugungen, die daraus hervorgehen“.101 Diese Ausscheidung von inhaltlichen Überzeugungen versteht Taylor auch Ausscheidung von moralischen Horizonten oder der substantiellen Basis der Moral. Darin sieht er unter anderem die Gefahr, dass der Mensch als ein ungebundenes Cogito seiner Umwelt jegliche normative Kraft zu entziehen, oder dass er durch die desengagierte Haltung kalkulierender Vernunft die Bejahung der Stimme der Natur in seinem Inneren erschwert bzw. unmöglich macht. Es ist zu betonen, dass sich Taylors Plädoyer für einen erweiterten Begriff der Vernunft aus expressivistisch-romantischen Quellen speist. Der romantische Expressivismus verweist für ihn auf die Idee, dass sich der Mensch durch die Artikulation seiner inneren Stimme gewissermaßen selbst verwirkliche. Er ist quasi die Emanation der natürlichen Stimmen des Inneren.102 Er zählt, so Taylor, neben aufklärerischen Strömungen als eine wichtige Quelle der neuzeitlichen Identität und verdient es daher, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Taylor stellt seine Entwicklung und seine Relevanz wie folgt dar: „Der romantische Expressivismus entsteht aus dem Protest gegen das Aufklärungsideal der desengagierten instrumentellen Vernunft und die daraus hervorgehenden Formen des sittlichen und gesellschaftlichen Lebens: gegen eindimensionalen Hedonismus und Atomismus.
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Dieser Versuch nähert sich dem Nietzsches an, der ebenfalls eine Möglichkeit zur Kritik an der Erkenntnistheorie eröffnet. Nietzsches Kritik bringt uns, so Taylor, wichtige Einsichten: Kein Paradigma ist ganz frei von Verzerrung, irgendetwas wird immer unterdrückt. Taylors Versuch unterscheidet sich jedoch von dem Nietzsches, insofern er letztlich auf eine tiefere und gültigere Einsicht von uns selbst abzielt. In Nietzsches Kritik werden alle Wahrheitsansprüche denunziert; sie seien betrügerisch und verwechselten einen Akt der Macht mit einer Offenbarung der Wahrheit. QS, S. 284. C. Taylor, Hegel. Frankfurt/M., 1978, S. 33.
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Dieser Protest wird während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts in verschiedenen Formen fortgesetzt und gewinnt immer mehr an Bedeutung, indes die Gesellschaft durch den kapitalistischen Industrialismus immer stärker in atomistischer und instrumenteller Richtung umgemodelt wird. Der Vorwurf gegen diese Daseinsweise besagt, dass sie das menschliche Leben fragmentiert: Sie teilt es in unverbundene Einzelbereiche wie Vernunft und Gefühl; sie scheidet uns von der Natur; und sie trennt uns voneinander. […] Überdies wird diese Daseinsweise beschuldigt, sie vermindere oder verhindere die Sinngebung. Das Leben werde eindimensional als Streben nach homogener Lust gestehen, ohne dass eine mit höherer Bedeutung ausgestattete Zielsetzung hervorsteche. Daneben gibt es aber noch eine dritte Kritik, die expliziter politisch formuliert ist und darauf hinausläuft, dass der Atomismus – also ein Zustand, in dem jeder die eigenen Absichten individualistisch definiert und nur aus instrumentellen Gründen an der Gesellschaft festhält – die eigentliche Basis des Zusammenhalts zersetzt, den eine freie, partizipatorische Gesellschaft braucht, um am Leben zu bleiben.“103 In diesem langen Zitat wird geklagt über eine „eine äußerst ichbezogene Einstellung, derzufolge die Selbstverwirklichung der wichtigste Wert im Leben ist“.104 Taylor setzt sich mit dieser Einstellung an vielen Stellen seiner Werke auseinander. Dies ist z.B. dort der Fall, wo er – wie wir im Kap.3 sehen werden – über die negative Freiheit spricht.105 Weil dieser Begriff oft als die Abwesenheit äußerer Hemmnisse verstanden wird, bildet er einen Nährboden für die ichbezogene Einstellung, in der das Soziale wie auch das Gefühl der Verantwortung für den anderen keinen Ort mehr haben. Taylor begreift diese ichbezogene Einstellung als eine heruntergekommene Form der Innerlichkeit. Daher weist er ein bestimmtes Menschenbild zurück, das den Menschen als eine reine Subjektivität darstellt, die einerseits frei von kulturellen Verankerungen und gemeinsamen Bedeutungen (shared meanings) und anderseits über keine innere Tiefe verfügt, da sie aus kaltem und rationalem Kalkül handelt. Damit reagiert er auch gegen den Begriff einer abstrakten oder instrumentellen Vernunft. Sein Ziel besteht darin, eine die tiefen Quellen der die Identität des Selbst artikulierende Vernunft geltend zu machen. Diese Anmerkung gibt uns einen wichtigen Aspekt der noch zu erläuternden Ethik Taylors an die Hand, nämlich die Artikulationsfähigkeit. Für ihn sind Menschen ausgestattet mit einem Sinn (oder mit innerer Tiefe) für das, was richtig und falsch ist, sodass die Ethik mit einer „inneren Stimme“ spricht. Darin liegt der Grund, dass Taylor der kalkulierenden und prozeduralen Vernunft die artikulierende Vernunft vorzieht. Dieser Vorzug begründet sich in seinem Verständnis der Philosophie selbst:
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QS, S. 721f. C. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt/M., 1995, S. 65. Siehe QS, S.118-144. Auch I. Breuer, Charles Taylor, a.a.O., S. 119f.
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„Philosophy is an activity which essentially involves, among other things the redescritpion of what we are doing, thinking, believing, assuming, in such a way that we bring our reasons to light more perspicuously, or else make the alternatives more apparent, or in some way or other are better enabled to take a justified stand to our action, thought, belief, assumption. Philosophy involves a great deal of circulation of what is initially inarticulated.“106 Demzufolge hat die Vernunft in Taylors Denken eine hermeneutische Funktion, die darin besteht Gründe zu artikulieren. Genauer gesagt hat die Vernunft, nach Taylors Ansicht, den Hintergrund zu artikulieren, von dem aus wir handeln oder von dem aus wir zu einem Gegenstand für uns hindenken. Interpretieren heißt hier also enthüllen, was der Hintergrund in sich birgt. Von diesem Standpunkt aus kritisiert Taylor einige moralphilosophische Ansätze, unter anderem die Habermassche Verfahrensethik. Da diese Diskussion mit Habermas und damit auch die Erläuterung des Begriffs der Artikuliertheit einen Teil der zweiten Kapitels bildet kann der vorliegende Abschnitt mit Taylors kritischem Urteil abgeschlossen werden: Für ihn ist die Habermassche Ethik untauglich, weil sie ablehnt, den Hintergrund des menschlichen Handelns zu artikulieren bzw. „ganz ohne das Gute auskommen will“.107 Sie wird erst dann überzeugend sein, wenn sie den Mut entwickelt, sich über ihre Vorstellungen des Guten klar zu werden und diese öffentlich zu bekunden, kurzum, wenn sie die hermeneutische Funktion der Vernunft dementsprechend übernimmt. Wie angekündigt schließen wir das vorliegende Kapitel mit einer kurzen Erläuterung von einigen Grundlinien zur Überwindung der erkenntnistheoretischen Tradition in der Psychoanalyse ab.
1.2.2 Die Infragestellung durch die Psychoanalyse Vom Standpunkt der Psychoanalyse aus impliziert die Überwindung von Zweifeln über die Existenz des Cogito nicht unbedingt die Überwindung der Selbsttäuschung bei der Frage nach seinem Wesen. Das bedeutet: Die Klarheit der Aussage ‚ich bin’ liefert keine Wahrheitsgarantie bei Fragen der Art von ‚wer ich bin’: „[D]ie Möglichkeit, dass ich mich bei jeder ontischen Aussage, die ich über mich mache, täuschen kann, ist der Gewissheit des Ich denke koextensiv.“108 In dieser Hinsicht empfiehlt sich, auf das Cogito selbst die zuvor auf die Sache angewandte Evidenzkritik anzuwenden:
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C. Taylor, „Philosophy and its history“, in R. Rorty et al. (Hg.), Philosophy in history. Essays on the historiography of philosophy, Cambridge, 1984, S. 18. QS, S. 867. P. Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt/M, 1969, S. 431.
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„Auch das Cogito ist eine präsumierte Gewissheit; auch es kann sich über sich selbst täuschen, und niemand weiß, wie weit. Die entschiedene Gewissheit des ‚Ich bin’ umschließt die nicht entschiedene Frage über die mögliche Reichweite der Selbsttäuschung. In diesen Spalt (diese Nicht-Koinzidenz der Gewissheit des ‚Ich bin’ und der Möglichkeit der Selbsttäuschung) wird eine gewisse Problematik des Unbewussten sich einschieben können.“109 Dies führt uns in die Nähe des Freudschen Unbewussten, das den Gegenstand seiner Analytik bildet. Ziel der Analytik Freuds war es, an bestimmten Vorstellungen über das Subjekt – z.B. es sei der freie Wille (ein Trugbild, so Freud) – zu rütteln und das Unbewusste zum Gegenstand der Hermeneutik zu machen. In den Augen Descartes’ sind die Dinge zweifelhaft, weil sie nicht so sind, wie sie erscheinen. Er zweifelt aber nicht daran, dass das Bewusstsein so ist, wie es sich selbst erscheint. Die Psychoanalyse dagegen wurzelt in einem tiefgehenden Zweifel am Bewusstsein. An diesem Punkt formuliert Freud, der mit Nietzsche und Marx als Vorkämpfer des Argwohns, als Entlarver jeder Art von Verschleierung gilt, eine deutliche Aufforderung: „Du vertraust darauf, dass du alles erfährst, was in deiner Seele vorgeht, wenn es nur wichtig genug ist, weil dein Bewusstsein es dir dann meldet. Und wenn du von etwas in deiner Seele keine Nachricht bekommen hast, nimmst du zuversichtlich an, es sei nicht in ihr enthalten. Ja, du gehst so weit, dass du ‚seelisch’ für identisch hältst mit ‚bewusst’, d.h. dir bekannt, trotz der augenscheinlichsten Beweise, dass in deinem Seelenleben beständig viel mehr vor sich gehen muss, als deinem Bewusstsein bekannt werden kann. Lass dich doch in diesem einen Punkt belehren! [...] Du benimmst dich wie ein absoluter Herrscher, der es sich an den Informationen seiner obersten Hofämter genügen lässt und nicht zum Volk herabsteigt, um dessen Stimme zu hören. Geh in dich, in deine Tiefen, und lerne dich erst kennen, dann wirst du verstehen, warum du krank werden musst, und vielleicht vermeiden krank zu werden.“110 Mit dieser Kritik wird das cartesianische sichere Erkenntnisfundament erschüttert. Freud rückt ein neues Problem in den Vordergrund, nämlich das Problem des Bewusstseins als Lüge. In seiner Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse kommentiert Freud drei wichtige Revolutionen: (a) nicht die Erde und der Mensch sind Mittelpunkt der Welt (Kopernikus); (b) der Mensch ist nicht die herausgehobene Krone der Schöpfung, sondern ein hochentwickeltes Säugetier (Darwin);
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Ebenda, S. 387. S. Freud, „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, in Gesammelte Werke XII, Frankfurt/M., 1999, S.12.
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(c) dem Menschen wird der freie Willen abgesprochen, um ihn stattdessen in all seinem Denken und Tun zum Sklaven seiner Sexualtriebe zu erklären (Freud). Der Mensch, der bereits zur Kenntnis nahm, dass er weder der Herr des Weltalls noch der Herr des Lebendigen ist, erfährt nun, dass er nicht einmal Herr seiner eigenen Psyche ist. Das Unbewusste ist folglich der Schlüsselbergriff der Psychoanalyse. Sein Auftritt bewirkt eine Entthronung des Bewusstseins: Um sich zu finden, musste es sich verlieren, d.h. es gewinnt sich, belehrt und geklärt, zurück, nachdem es seinen Narzissmus der Prüfung ausgeliefert hat. Wenn der reflexive Akt keine Garantie mehr liefert, dass das, was das Cogito über sich selbst äußert, wahr ist, wie kann es nun zur Wahrheit über sich gelangen? Als Antwort weist Freud auf die Interpretation (den hermeneutischen Weg) hin. Das Cogito gewinnt nicht länger durch einen reflexiven Akt an Klarheit über sich, sondern durch einen Prozess der Interpretation. Dem ersten Weg, der kurz ist, wird ein anderer, langer Weg entgegengesetzt. Lang deshalb, weil das Cogito zu sich selbst auf dem Umweg über die anderen gelangt. Ricoeur erläutert diese hermeneutische Aufgabe folgendermaßen: „Es gibt eine Gewissheit des unmittelbaren Bewusstseins; diese Gewissheit entspricht aber nicht einem wahren Wissen von sich selbst. [...] Es gibt eine unmittelbare Gewissheit des Bewusstseins, und diese Gewissheit hält jedem Zweifel stand. Es ist dies jene Gewissheit, die Descartes in den Prinzipien111 artikuliert: ‚Unter Denken verstehe ich alles, was derart in uns geschieht, dass wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewusst sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Einbilden, sondern auch das Wahrnehmen hier zum Denken...’ Doch wenn diese Gewissheit zwar als Gewissheit unbezwinglich ist, kann sie in ihrer Eigenschaft als Wahrheit dennoch bezweifelt werden. Wir sind uns heute im klaren darüber, dass das intentionale Leben, in seiner ganzen Dichte genommen, noch einen anderen Sinn impliziert als nur den unmittelbaren. Die fernste, die allgemeinste, ja, wie man zugeben muss, auch die abstrakteste Möglichkeit des Unbewussten, findet ihren Ort in diesem ursprünglichen Zwischenraum, der sich zwischen die Gewissheit und das wahre Wissen des Bewusstseins einschiebt. Das wahre Wissen ist nicht vorgegeben; man muss es erobern, man kann es nur auffinden: Das Selbst gewinnt seine Adäquation mit sich selbst, die man als das Selbstbewusstsein im starken Sinn des Wortes bezeichnen könnte, nicht schon am Anfang, sondern erst am Ziel.“112 Kurz gesagt, das Cogito weiß, dass es ist, aber (noch) nicht, wer es ist. Will es an wahren Wissen über sich gewinnen, dann muss es mangels der Klarheit und Evidenz den langen Weg der Interpretation nehmen. In dieser Hinsicht stellt sich das Bewusstsein als Aufgabe dar, d.h. das Bewusst-sein wird zum Bewusst-werden. Zu betonen ist, dass mit den Grenzen
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R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie. 6. Aufl., Hamburg, 1955, Teil I, Absatz 9. P. Ricoeur, Hermeneutik und Psychoanalyse. München, 1974, S. 11f.
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des reflexiven Prozesses die Notwendigkeit des Rekurses auf eine (entziffernde) Hermeneutik begründet wird. Mit Freud, aber auch mit Nietzsche und Marx, also den drei Meistern des Zweifelns am Verstehen, ist eine neue Hermeneutik entstanden: „Descartes triumphiert über den Zweifel am Ding durch die Evidenz des Bewusstseins. Sie hingegen triumphieren über den Zweifel am Bewusstsein durch die Exegese des Sinns. Mit ihnen ist das Verstehen eine Hermeneutik geworden: den Sinn suchen heißt von nun an nicht mehr, das Bewusstsein des Sinns buchstabieren, sondern seine Äußerungen entziffern.“113 Die Vorgehensweise dieser Hermeneutik wird folgendermaßen dargestellt: „[…] Wenn das Bewusstsein nicht so ist, wie es zu sein glaubt, muss eine neue Beziehung zwischen dem Manifesten und dem Latenten hergestellt werden; diese neue Beziehung würde derjenigen entsprechen, die das Bewusstsein zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit des Dings hergestellt hatte. Die Grundkategorie des Bewusstseins ist für alle drei die Beziehung verborgen/offen oder, wenn man lieber will, Verschleierung/Entlarvung. […] Alle drei versuchen auf verschiedene Wege, ihre ‚bewussten’ Entschlüsselungsmethoden mit der ‚unbewussten’ Verschlüsselungsarbeit zur Deckung zu bringen, die sie dem Willen zur Macht, dem gesellschaftlichen Sein, der unbewussten Psyche zuschreiben.“114 Das Vorausgehende zeigt, dass und wie die Psychoanalyse eine folgenreiche Kritik am reflexiven Bewusstsein übt. Ihre Auffassung des Subjekts fußt auf der Grundüberzeugung, dass dieses niemals das ist, was es glaubt, zu sein. Die Hervorhebung der Tiefenebene des Bewusstseins und die Untersuchung des Prozesses der Bewusstwerdung gehören zu den vielfältigen Versuchen, das moderne Erkenntnissubjekt in Frage zu stellen. Daher versuchen Autoren wie Taylor, Ricoeur und Waldenfels einen verstärkten Austausch zwischen Philosophie und Psychoanalyse anzustoßen. Denn aus einem solchen Austausch ergibt sich die Erkenntnis – so betonen sie –, dass unser Selbstverständnis erneuert bzw. geändert werden muss. Die von der Psychoanalyse eingeleitete Infragestellung trägt nicht nur zur Erneuerung des Verständnisses des Erkenntnissubjekt bei, sondern auch zur Überwindung der Tendenz, die Geisteswissenschaften an die Naturwissenschaften methodisch zu orientieren. Auf diesen zweiten Aspekt muss nun das Augenmerk gelenkt werden. Ricoeur und Taylor stimmen miteinander in der (zuerst von Ricoeur in Die Interpretation formulierten) These überein, dass die Psychoanalyse im Kern zugleich eine Energetik und
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Ebenda, S. 69. Ebenda
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eine Hermeneutik ist.115 Ersteres bezeichnet eine Theorie über die psychischen Kräfte – d.h. eine Art der Kausalerklärung; mit dem Zweiten ist eine Theorie über den Sinn bzw. eine Interpretation des Sinnes von Verhaltensweisen gemeint. Die zwei Aspekte sind unauflöslich miteinander verbunden, so dass jeder Versuch, sie zu trennen, die psychoanalytische Theorie verzerrt. Dieser Standpunkt ist in die von beiden Autoren vertretene These eingeordnet, dass die Geisteswissenschaften per se anders angelegt sind als die Naturwissenschaften. Als Wissenschaften, die durch das Bestreben ausgezeichnet sind, Klarheit über menschliche Verhaltensweisen zu erlangen, müssen die Geisteswissenschaften eine adäquate Vorgehensweise verfolgen, die sie von anderen Wissenschaften unterscheidet. Ricoeur und Taylor zufolge fügt sich z.B. die Psychoanalyse nicht in die von den Anhängern des logischen Empirismus extrahierten Muster der Wissenschaften ein. Dies rührt daher, dass das menschliche Verhalten in der Psychoanalyse nicht nach seinen physischen Charakteristiken bestimmt wird, sondern nach dem Sinn, den es für den Patienten enthält. Anders gesagt, hat es schon eine intentionale Dimension.116 Ohne diese greift die Interpretation ins Leere. Es ist eben diese intentionale Dimension, die in der empiristischen Strömung ausgeklammert wird, denn diese versucht, die Bewegungen des Organismus als Daten der Psychologie betrachten. Dies entspricht der zugrundeliegenden Logik des Empirismus: Die Suche nach sicherer Kenntnis gleicht der Suche nach Grunddaten, die frei von jeder subjektiven Prägung und damit intersubjektiv gültig sein sollen. Dass die Psychoanalyse diese Bedingung nicht erfüllen kann, ist leicht verständlich. Sie hat mit Phänomenen zu tun, die im starken Sinne subjektiv sind, denn was diese Phänomene ausmacht, ist genau der Sinn, den sie für die Subjekte haben. Man betrachte z.B. einen Psychoanalytiker, der versucht, einen über seine Ängste berichtenden Patienten zu verstehen. Er wird auf seine eigenen Angst-Erfahrungen zurückgreifen müssen (denn nur aus eigener Erfahrung weiß er, was Angst bedeutet). Daraus schließen Ricoeur und Taylor, dass die Psychoanalyse keine rein objektive Beobachtungswissenschaft sein kann. Aber es ist sinnvoll, die hier angesprochene Dimension des Sinns genau zu begutachten. Was bedeutet die Aussage, dass das Verhalten durch seinen Sinn gekennzeichnet ist? Taylor führt zwei Punkte an: Das menschliche Verhalten hat einen sens (Sinn), indem es auf Ziele ausgerichtet ist. Der Begriff vom sens ist nach Taylor an dieser Stelle angemessen aufgrund seiner vielfältigen Bedeutungen in der französischen Sprache (sens im Sinne von direction/ Richtung und signification/Bedeutung): Das Ziel gibt der Handlung sowohl die Richtung vor als auch das Kriterium, das es ermöglicht, sie als mehr oder weniger sinnvoll zu bewerten. Unser alltägliches Verhalten hat einen sens auf dieser Stufe genauso wie das Verhalten von Tieren. Es gibt aber eine andere Ebene von sens, das nur Menschen betrifft. Denn für den Menschen
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Siehe C. Taylor, „Force et sens, les deux dimensions irréductibles d´une science de l´homme“, in G.B. Madison et al. (Hg.), Sens et existence, Paris, 1975, S. 124-137; ders., „Interpretation and the Sciences of Man“, in The Review of Metaphysics, Bd. 25, 1(September 1971), S. 3-51. C. Taylor, „Force et sens“, a.a.O., S. 126.
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sind seine Verhaltensweisen und seine Wünsche und Emotionen intentionale Gegenstände, d.h. sie werden unter gewissen Konzepten oder durch gewisse Bilder, kurzum, anhand gewisser Bedeutungen betrachtet. Daher beschäftigt sich die Psychoanalyse nicht nur damit, die das Verhalten beeinflussenden psychischen Kräfte oder Triebe zu verstehen, sondern auch den intentionalen Sinn zu begreifen. 117 Es ist genau diese enge Verbindung zwischen Verhalten und intentionalen Sinn, die Taylor in seiner philosophischen Anthropologie hervorhebt. Der intentionale Sinn bezieht sich auf das, was hier als sens der zweite Ebene dargestellt wird: „Den Sinn eines Verhaltens zu begreifen, heißt nicht nur den angestrebten Zweck zu bestimmen, sondern seine intentionale Dimension, d.h. das, was es für den Handelnden heißt, zu verdeutlichen.“118 Fassen wir zusammen: Im vorliegenden Kapitel wurde Taylors Kritik an der erkenntnistheoretischen Tradition, bzw. präziser dem Abbildmodell der Erkenntnis dargestellt. Diese Kritik ist für Taylor von Bedeutung, insofern das Abbildmodell der Erkenntnis mit bestimmten moralischen und kulturellen Leitvorstellungen der Moderne verbunden ist. Das viel diskutierte Paradebeispiel bildet das cartesianische Cogito. Seine Grenzen sind durch eine Analyse vom phänomenologischen und psychoanalytischen Standpunkt aus ersichtlich geworden. Diese Analyse hat in der Aufforderung gemündet, aus der überkommenen Erkenntnistheorie cartesianischer Provenienz auszuscheren und eine alternative, ganzheitliche Auffassung des Menschen und seines Handelns zu entwickeln. Diese Alternative ist für Taylor eine Konzeption des Menschen als leiblich handelndes Wesen, d.h. ein in bestimmten Bedeutungshorizonten verankertes und engagiertes Subjekt. Damit tritt eine wichtige Grundvoraussetzung der Ethik Taylors zutage. Anders ausgedrückt: Die anthropologische Grundlage gibt Taylor einen Anstoß zur Entwicklung seiner moralischen Theorie. Im Kapitel 5 wird deutlich werden, wie diese anthropologische Grundlage in einer kulturalitischen Bestimmung der Moral bei Taylor mündet und ihn trotz aller anti-relativistischen Selbstverortung in die Nähe einer ablehnenden Haltung gegenüber der Möglichkeit kulturübergreifender moralischer Beurteilungen rückt. Hier genügt es zu betonen, dass Taylor einen großartigen Beitrag zu einigen zentralen Debatten der gegenwärtigen Philosophie leistet. In seiner philosophischen Anthropologie hat er den Boden für eine relevante soziale, politische und moralische Theorie bereitet. „Charles Taylor’s reputation as a leading philosopher of his generation is based on his contributions to a wide range of fields. He has written influentially on the limits of mechanistic approaches to the study of human behaviour, on the role of interpretation and cross-cultural
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R. Wollheim liefert im Kapitel V seines Buches über Freud eine erleuchtende Erläuterung des komplexen Verhältnisses zwischen Symptomen, Affekten, Wünschen und Glauben (R. Wollheim, Sigmund Freud. Cambridge, 1981). C. Taylor, „Force et sens“, a.a.O., S. 129. Siehe die Kritik an der herkömmlichen Ethnologie (Kap. 5 im vorliegenden Buch); sie würde Praktiken in fremden Kulturen durch verzerrende Schemata missverstehen, statt sich zu bemühen, ihren richtigen Sinn zu begreifen.
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judgement in social science, on the contemporary relevance of Germanic Romantic philosophy, and on the connection between the self and broadly speaking ‚moral’ concerns. Taylor is also chief protagonist in the debate between liberals and communitarians in political theory, he is an influential figure in contemporary discussions of multiculturalism and democracy, and he has developed an original and provocative diagnosis of the maladies of the modern age.“119 Aufgrund seiner vielfältigen Beteiligung an zahlreichen Debatten seiner Zeit ist Taylor einer
dieser Autoren, die es, wenn man ihr Denken untersucht, ermöglichen, sich ein Gesamtbild der Hauptmerkmale einer Epoche zu verschaffen. Dies wird deutlich im nächsten Kapitel über Taylors moralische Theorie.
2. Identität und Moral als Taylors zentrales Thema Taylors Moraltheorie stellt sich selbst als eine korrigierende Alternative dar. Daher muss man, um sie besser zu verstehen, von vornherein klären, mit welchen moralischen Vorstellungen er sich kritisch auseinandersetzt. Eine große Schwierigkeit in der Erfüllung dieser Aufgabe besteht darin, dass Taylor eine komplexe Theorie entwickelt, die an verschiedenen Stellen approximativ bleibt. Einen Grund dafür sieht Steinfath zu Recht in der Tatsache, dass er vielmehr interessiert ist, den „allgemeinen kulturellen Hintergrund“ moderner Ideen (Individuum, Gesellschaft) zu verdeutlichen, statt einzelne Moraltheorien zu rekonstruieren.120 Dieser wichtige Hinweis sollte nicht aus dem Blick geraten, wenn man an Taylors Erläuterungen der modernen moralischen Ordnung mit angemessenen Erwartungen herangehen will. In seiner Moraltheorie ist Taylor konfrontiert mit moralischen Vorstellungen, die der mächtigen Strömung der Aufklärung entstammen. Er wirft ihnen vor, die enge Verbindung zwischen Person und Moral bzw. das Eingebettetsein des Individuums in einen Gemeinschafts- und Wertehorizont außer Acht zu lassen, d.h. dass sie Moral betreiben ohne die Frage zu berücksichtigen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Damit tragen sie zu einer Verarmung des Verständnisses der Moral bei. Um dies zu korrigieren, bezieht er seinerseits die Moral auf einen reichen Begriff des Menschen als ein leiblich handelndes Wesen, d.h. ein verankertes, affektives und stark wertendes Wesen. Damit wird der Gegenstand des vorliegenden Kapitels geschildert.
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N. H. Smith, Charles Taylor. Meaning, Morals and Modernity. Cambridge, 2002, S. 1. H. Steinfath, „Subtraktionsgeschichten und Transzendenz“, in M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, a.a.O., S. 600, Anm. 2.
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2.1 Die Grammatik des menschlichen Handelns: starke Wertung Durch die Darstellung des Menschen als selbstinterpretierendes Tier und strong evaluator rückt Taylor den Begriff des Guten in den Mittelpunkt. Für Taylor bildet das Gute eine dichte Komponente, auf die jede Moraltheorie, die vollständig sein will, nicht verzichten kann.121 Daher tritt er biologischen Überlegungen wie der von Steinfath dargestellten entgegen, die versuchen, universelle menschliche Bedürfnisse und Interessen zu ermitteln, um so eine sichere Basis einer von allen akzeptierten moralischen Ordnung, kurzum, einer Moral der gleichen Achtung zu schaffen. Für ihn kann man auf das „Metabiologische“ nicht verzichten, wenn man die menschliche Identität nicht verzerrend bestimmen will. Ohne Verweis auf Vorstellungen des Guten entnehmen wir den biologisch verankerten Ansprüchen „keine eindeutige praktische Handlungsanweisungen“. 122 Dies scheint eine interessante Ansicht zu sein. Allerdings hüten sich viele Autoren aus verschiedenen Gründen diesen Pfad zu beschreiten. Steinfath z.B. geht diesen Weg nicht, weil er von einem Standpunkt aus argumentiert, von dem aus gesehen die überkommenen metaphysischen und religiösen Auffassungen passé sind. Sein Ansatz basiert laut eigener Aussage wesentlich auf den durch Kant geprägten Ethiken und teilweise auf der kontraktualistischen Tradition.123 Wenn wir die Moral der gleichen Achtung zum Modell nehmen, stimmen wir zu, wechselseitigen und allgemeinen Forderungen und bestimmten Regeln nachzukommen. „Wir glauben, einander bestimmte Dinge zu schulden bzw. ein Anrecht auf sie zu haben, und dort, wo unser Verhalten die Belange anderer berührt, sollten wir es ihnen gegenüber rechtfertigen können. Die nötige Rechtfertigung muss, so meine ich, aus einer für eine Moral wechselseitiger und allgemeiner Erwartungen und Forderungen spezifischen Wir-Perspektive heraus erfolgen.“124 Kant hat diese Wir-Perspektive durch die Forderung von verallgemeinerungsfähigen Grundsätzen gekennzeichnet. Steinfath zufolge ist sie von zwei säkularen Interpretationen der moralischen Ordnung zu unterscheiden: Einerseits, hebt sie sich von der durch Hobbes eröffneten Tradition ab, in der die Rechtfertigung nicht aus einer unparteiischen Wir-Perspektive erfolgt, sondern aus einem singulären Ich-Pol. Hier wird der Focus auf die Frage gelegt, „worauf sich Akteure, die aus der Perspektive der ersten Person Singular klug ihre Interessen durchzusetzen versuchen, im sozialen Kontext rationalerweise einigen müssen. Die Interessen der anderen gehen lediglich als weitere Daten in das Kalkül des Einzelnen
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C. Taylor, „Replik“, a.a.O., S. 823. Ebenda H. Steinfath, „Subtraktionsgeschichten und Transzendenz“, a.a.O., S. 600. Ebenda
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ein. Der soziale Zusammenhalt soll sich selbstläufig durch das Ineinandergreifen konvergierender Einzelinteressen ergeben.“ 125 Anderseits, hebt sich die kantianisch verstandene Wir-Perspektive von dem utilitaristisch-konsequentialistischen Ansatz ab, in dem die Rechtfertigung aus einem übergeordneten Standpunkt hervorgeht. Der Standpunkt des Einzelnen untersteht dem der Mehrheit bzw. des Gemeinwohls in jeder Hinsicht. Taylor interessieren nicht die Differenzen, sondern die Gemeinsamkeiten dieser drei Auffassungen der modernen moralischen Ordnung. Er behandelt sie in Quellen des Selbst unter der Bezeichnung „Ethiken der Inartikuliertheit“ und in Ein säkulares Zeitalter als „Ethik der Freiheit und des wechselseitigen Vorteils“ (oder der wohltätigen Ordnung), in Zusammenhang mit der der „ausgrenzende Humanismus“ (gemeint, der die Bezüge auf die Transzendenz zurückdrängenden Humanismus) 126 entsteht. Die vorliegenden Überlegungen fokussieren auf die in dem ersten genannten monumentalen Werk angeführten Gründe: Die oben erwähnten Ethiken lehnten es ab, die den menschlichen Handlungen zugrundeliegenden Vorstellungen des Guten zu artikulieren und verspielten damit ihre Glaubwürdigkeit. In Anbetracht der zentralen Bedeutung der Vorstellungen des Guten in der menschlichen Identität sieht Taylor sie als dürftig an. Daher lehnt er die biologischen Überlegungen (Steinfath) ab und stellt den Bezug auf das Metabiologische als unerlässlich dar. Dieser Bezug zeige sich zwar nicht deutlich im Fall vom Recht auf Leben, wenn man es exemplarisch als ein „biologisch verankerten Anspruch“ verstehen will; aber es werde offensichtlich, wenn wir Rechte wie das Recht auf Freiheit betrachten: Albertas verliert – so Taylors Beispiel – zu Recht die Revision des Urteils gegen ihn trotz seines Verweis auf die Canadian Charter of Rights gegen ein Bußgeld wegen nichtangeschnallten Fahrens. Dass seine freie Entscheidung, ein Risiko für das eigene Leben einzugehen und sein Tun nicht dem staatlichen Paternalismus zu unterwerfen, nicht ohne weiteres akzeptiert werden kann, ist offenkundig. Wir stellen dieser freien Entscheidung das ganze Gewicht gegenüber, das wir in der Gesellschaft dem menschlichen Leben beimessen. „Die ganze Vorstellung eines Rechts, dem eigenen Gewissen zu folgen – also einer Forderung die unserer Identität so wesentlich ist, dass ihre Verweigerung unsere moralische Integrität schädigen würde –, ist paradigmatisch metabiologisch. Um jedoch in dieser Weise abwägen zu können, greifen wir (oftmals implizit) auf Vorstellungen dessen zurück, was im menschlichen Leben wirklich bedeutsam ist, worin unsere wichtigen Ziele bestehen und was wirklich schädigende Entbehrungen wären. Das ist die Achillesferse all der neukantianischen Konzepte, die das Rechte dem Gute vorziehen möchten.“127
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Ebenda, S. 601. C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 420. Siehe auch H. Steinfath, „Subtraktionsgeschichten und Transzendenz“, a.a.O., S. 602. Ebenda, S. 824.
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In Reaktion auf diese Ansicht betont Taylor den transzendentalen Charakter des Guten. Dies besagt, dass (i) jede individuelle oder kollektive Selbstinterpretation nur unter der Voraussetzung einer Vorstellung vom Guten möglich ist, und (ii) Rechte zweifellos innerhalb eines Kontextes der Behauptung des Guten gefordert und ausgeübt werden. „Das Behaupten eines Rechts ist daher mehr als das Gebieten einer Unterlassung. Ihm ist ein begrifflicher Hintergrund wesentlich, eine Vorstellung vom moralischen Wert bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten, ohne die es keinen Sinn machte, dieses Recht zu behaupten.“128 Taylor weist hier deutlich auf die Unmöglichkeit hin, ohne jeglichen (wenn auch nur impliziten) Rekurs auf das Gute über das Recht Stellung zu nehmen. Damit ist das Gute der Schlüssel, mit dem Taylor zur Verringerung der Probleme der modernen Moral, genauer, der Ethiken der Inartikuliertheit beitragen will. Für ihn können „reduktionistisch rationalistische Begründungen des Rechten nicht funktionieren, wenn sie nicht an (metabiologisch zu verstehende) ‚dichte’ Vorstellungen des Guten anknüpfen“.129 Es muss betont werden, dass Taylors Kritik die moderne Moral in ihren Grundlagen trifft. Steinfath hat Recht, wenn er behauptet, dass Taylors skeptische Überlegungen mehr auf die Einnahme des Standpunktes der modernen Moral selbst bezogen sind als auf die Prinzipien und Ausführungen, die daraus intersubjektiv gewonnen werden: „Warum sollen wir uns überhaupt als Mitglieder einer Moralgemeinschaft der gleichen Achtung aller verstehen?“130 Allerdings will Steinfath Taylor auf diesen Weg nicht weiter verfolgen, weil er befürchtet, metaphysische und religiöse Annahme in die Moral einzuführen. Auf die Unmöglichkeit eines Zurücks zur Vormoderne pochend, findet er es sinnvoll für die Moral, Zuflucht in einem formalen Gerüst zu suchen. Das ist der Weg, den er als Antwort auf die Frage, was sich nach dem Abschied von metaphysischen und religiösen Bezügen noch moralisch rechtfertigen lässt erörtert und bevorzugt. Für Taylor ist dieser Weg, auf dem Prinzipien formal (Kant, Habermas) zu gewinnen sind, ohne dichte Annahmen aussichtslos. „Wir können diese Prinzipien auf die wirkliche Welt nicht anwenden, ohne Annahmen über das Gute hinzuzuziehen (was oft implizit, fraglos und damit verworren bleibt).“131 Taylors Idee des Menschen als selbstinterpretierenden Tieres und strong evaluator zeigt deutlich, dass die theoretischen Grundlagen seiner Ethik in seinem Verständnis der menschlichen Person bzw. seiner philosophischen Anthropologie zu suchen sind.
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C. Taylor, „Atomismus“, a.a.O., S. 83f. Ebenda, S. 826. H. Steinfath, „Substraktionsgeschichten und Transzendenz“, a.a.O., S. 607. Siehe ausführliche Erläuterungen im Abschnitt 4.1.3 C. Taylor, „Replik“, a.a.O., S. 827.
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„The central idea is that the human relation to the world, to oneself and to others is not neutral but value-laden, infiltrated by strong values. Strong evaluations, evaluations based on qualitative distinctions concerning the worth of different options, are integral to human life, to being a person and to forming a practical identity. “132 Taylor gehört folglich zu den Autoren, die davon überzeugt sind, dass es keine genuine Ethik geben kann, wenn man von allen Annahmen darüber, was das Wesen eines Menschen ausmacht, absieht. „No society can continue to exist without a compelling vision of man“, betont Weiland in dieser Hinsicht. 133 Denn, wie auch Schnädelbach konstatiert, „[...] in der reflektierenden Hinsicht können wir uns als die anthropologisch Reflektierenden niemals abhandenkommen; wir haben immer schon ein Bild von uns als Antwort auf die Frage, wer wir sind, und selbst wenn wir uns für ‚antiquiert’ und weltgeschichtlich überholt halten, ist das auch eine Antwort. Wir sind niemals ohne eine Vorstellung unserer Identität, die wir in allem, was wir denken, erkennen und tun, auch zugrundelegen; sie zu klären, zu entwickeln und immer wieder kritisch zu überprüfen, bleibt eine ständige Aufgabe der Philosophie, die durch keine Entwicklung der Wissenschaften von Menschen überholt werden kann“. 134 Taylor entwickelt in dieser Hinsicht die Begriffe des Menschen als selbstinterpretierendes Tieres und als strong evaluator – wie gesagt – aus der Besorgnis, die der Nicht-Berücksichtigung der Spezifität der menschlichen Handlungen in manchen geisteswissenschaftlichen Theorien entstammt. Wenn die Moderne die Sprache der starken Wertungen in Verruf bringt, entsteht, so Taylor, die Gefahr, dass sie zu einer problematischen Lebensform wird, in der es für die Individuen schwer ist, ein stabiles Selbstverhältnis und damit die Basis für ein gelingendes Leben zu erreichen. Wie das Selbstverständnis und das Verständnis des Guten bzw. das Weltverhältnis aus seiner Sicht verbunden sind, muss genauer verdeutlicht werden. Den Menschen als selbstinterpretierendes Tier zu verstehen bildet – wie gesagt – eine der Grundannahme der philosophischen Anthropologie Taylors. Wie ist das zu verstehen? Das menschliche Handeln zeichnet sich durch die Intentionalität aus, so dass es nur durch Interpretation von Motiven oder real reasons zugänglich ist. Mit dieser Grundannahme schließt sich Taylor an eine Tradition an, die die Spezifität der Geisteswissenschaften hervorheben und damit missglückte Versuche beseitigen will, die eine Tiefendimension
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A. Laitinen, Strong Evaluation without Moral Sources, a.a.O., S. 3. Siehe auch A. Honneth, „Nachwort“, in C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 310. Eine „anthropologische Beladenheit“ der Ethik – mit Hartmuth Rosa gesprochen – ist unvermeidlich. (H. Rosa, Individuelle Identität, a.a.O., S. 61f.) J. S Weiland, „Some Remarks on the quest for man“, in J. van Nispen, D. Tiemersma (Hg.), The Quest for Man, Assen/Maastricht, 1991, S. 2. H. Schnädelbach, „Die Philosophie und die Wissenschaften vom Menschen“, in C. Bellut et al. (Hg.), Mensch und Moderne, Würzburg, 1989, S. 38.
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(die Intentionalität) der menschlichen Verfassung verfehlen. Diese Tradition verstößt gegen das Paradigma der Klarheit und Objektivität, weil sie deutlich und vehement ablehnt, kausale und objektive Zusammenhänge als das Kerngebiet der Geisteswissenschaften zu betrachten. „Human beings are self-interpreting animals. This is a widely echoing theme of contemporary philosophy. It is central to a thesis about the sciences of man, and what differentiates them from the sciences of nature, which passes through Dilthey and is very strong in the late twentieth. It is one of the basic ideas of Heidegger’s philosophy, early and late. Partly through his influence, it has been made the starting point for a new skein of connected conceptions of man, self-understanding and history, of which the most prominenent protagonist has been Gadamer.“135 Das neue Verständnis des menschlichen Wesens als selbstinterpretierendem Tier betont, dass der Mensch ein lebendiger Handelnder ist, der die eigene Situation bzw. die Realität immer schon in Form gewisser Bedeutungen erfährt. Taylor versteht diese Grundannahme in einem starken Sinne, d.h. es gibt für ihn keine personale Identität und keine soziale Realität, die der Selbstinterpretation vorausgehen könnten.136 „[T]he claim is that our interpretation of ourselves and our experience is constitutive of what we are, and therefore cannot be considered as merely a view on reality, separable from reality, nor as an epiphenomenon which can be by-passed in our understanding of reality.“137 Taylors Ansicht kann durch Teicherts Erläuterung von zwei Versionen des Personenbegriffs erklärt werden: „(a) Personen bilden Repräsentationen und Wissen über die Welt, über andere Personen und über sich selbst; (b) Personen sind konstituiert durch Repräsentationen über die Welt, über andere Personen und über sich selbst. Der entscheidende Unterschied zwischen (a) und (b) liegt offensichtlich in der Tatsache, dass in (b) Repräsentieren und Wissen über Welt, die anderen und sich selbst Konstitutionsmomente der Person sind, während in (a) lediglich gesagt ist, dass Personen diese Repräsentationen und das entsprechende Wissen bilden. (b) ist also grundlegend von (a) unterschieden und stärker, denn nach (b) konstituiert sich eine Person P durch Repräsentationen und Wissen von P.“138
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C. Taylor, „Self-interpreting animals “, a.a.O., S. 45. H.-R. Reuter, „Das Gute, das höchste Gut und die Güter. Fundamentalethische Überlegungen im Anschluss an Friedrich Schleiermacher und Charles Taylor“, in H.-R. Reuter, T. Meireis (Hg.), Das Gute und die Güter. Studien zur Güterethik. Berlin, 2007, S. 31. C. Taylor, „Self-interpreting animals“, a.a.O., S. 47. D. Teichert, „Zwei Begriffe personaler Identität“, in J. Kanzian et al. (Hg.), Personen, Wien, 2003, S. 255.
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Taylors Behauptung, dass der Mensch ein Tier ist, aber ein Tier, das (sich) interpretiert und von seinen Selbstinterpretationen konstituiert ist, entspricht also der zweiten Version (b) des Personbegriffs in Teicherts Analyse. Aus dieser Sicht sind Selbstinterpretationen bzw. Selbstrepräsentationen keine bloßen und willkürlichen Konstrukte. Es gibt einen reflexiven Aspekt der Personen, der, Teichert zufolge, besonders betont werden kann, wenn der Begriff personaler Identität nicht bloß durch den der Rolle ersetzt wird. Bei Taylor ist dieser reflexive Aspekt deutlich, weil die Richtung des Selbstinterpretationsprozesses durch starke Wertungen gewiesen wird. Das selbstinterpretierende Tier kann nicht umhin, sich in seinem Handeln an starken Wertungen zu orientieren und seine Handlung dadurch zu bewerten. Es ist ein Wesen, das die in seinen intuitiven moralischen Vorstellungen verankerten Gründe liefern oder artikulieren kann. Mit dem Begriff der starken Wertungen berühren wir ein spezifisches Merkmal des Menschseins. Darin besteht den Belang des Essays What is human agency?. Taylors Zweck in diesem Essay verdeutlicht sich schon im Titel. Es geht darum, zu untersuchen, was der Begriff eines Selbst (eines verantwortlich Handelnden) beinhaltet, d.h. er möchte die Eigenschaften herausfiltern, die wir dem Menschen (im Gegensatz zum Tier) als human agent zusprechen. Als Leitfaden für diese Kartographie des Selbst übernimmt er einen Grundgedanken von Harry Frankfurt in Freedom of the will and the concept of a person, basierend auf der Unterscheidung zwischen Wünschen erster Ordnung und Wünschen zweiter Ordnung. Von letzteren ist die Rede, wenn Person p einen Wunsch hat, dessen Gegenstand darin besteht, einen bestimmten Wunsch (erster Ordnung) zu haben. Die Relevanz einer solchen Unterscheidung besteht, Frankfurt zufolge, in den differenzierten Charakterisierungsmöglichkeiten des menschlichen Handelns, die sie ermöglicht: „Human beings are not alone in having desires and motives, or in making choices. They share these things with members of certain other species, some of which even appear to engage in deliberation and to make decisions based on prior thought. It seems to be peculiarly characteristic of humans, however, that they are able to form [...] second order desires […].“139 Diesbezüglich behauptet Taylor, dass nicht das Haben von Wünschen an sich den Menschen vom Tier unterscheidet, sondern seine Fähigkeit, Wünsche zu bewerten, manche als wünschenswert und andere als nicht wünschenswert zu beurteilen (Frankfurt selbst spricht von „self-evaluation“ bzw. zu Deutsch: „reflektierender Selbstbewertung“). Er schlägt eine weitere Unterscheidung vor, damit man besser begreift, was genau die obige Art von Tätigkeit (reflektierende Selbstbewertung) umfasst. Ihm zufolge gibt es zwei Arten der Bewertung von Wünschen. 140 Diese Forderung nach einer weiteren Differenzierung (die mich weiter unten noch einmal beschäftigen wird) wird verständlich, wenn man beachtet, 139
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H. Frankfurt, „Freedom of the will and the concept of a person“, in Journal of Philosophy, 68, 1 (Jan. 1971), S. 6. Zitiert auch in C. Taylor, Human Agency and Language, a.a.O., S. 15. C. Taylor Was ist menschliches Handeln? in ders., Negative Freiheit, a.a.O., S. 10.
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dass die reflektierende Selbstbewertung helfen kann, eine günstigere von zwei Handlungen zu bestimmen bzw. deren Kompatibilität auszuloten, oder zu bestimmen, wie die größte Befriedigung erzielt werden kann bzw. welches von zwei gewünschten Objekten attraktiver ist. In diesen Fällen jedoch, so stellt Taylor fest, fehlt eine qualitative Bewertung der Wünsche, „die beispielsweise dann vorliegt, wenn ich es unterlasse, aus einem gegebenen Motiv heraus zu handeln – etwas aus einem Groll heraus oder aus Neid – weil ich dieses Motiv für niedrig und unwürdig erachte. In einem solchen Falle werden unsere Wünsche nach Kategorien eingeteilt wie: höher oder niedriger, tugendhaft oder lasterhaft, mehr oder weniger befriedigend, mehr oder weniger verfeinert, tief oder oberflächlich, edel oder unwürdig. Sie werden als zu qualitativ verschiedenen Lebensweisen zugehörig eingestuft wie: fragmentiert oder integriert, entfremdet oder frei, heilig oder bloß menschlich, mutig oder kleinmütig usw.“141 Im Zuge dieser Erläuterung bringt Taylor zwei Begriffe ins Spiel nämlich die schwache Wertung und die starke Wertung.142 Schwache Wertungen betreffen die oben angeführten ersten Fälle, in denen wir uns evaluativ mit den möglichen Ergebnissen unserer Handlungen beschäftigen. Starke Wertungen dagegen kommen in den zweiten Fällen zum Tragen, wenn wir uns evaluativ mit der Beschaffenheit unserer Motivationen befassen. Weil starke Wertung sich auf den qualitativen Wert unterschiedlicher Wünsche bezieht, müssen zur Verdeutlichung dieser Tatsache Beispiele genannt werden, die
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Ebenda, S. 10f. Taylor weist darauf hin, dass „[...] languages of strong evaluation do not have to be exclusively ethical [...] they can also be aesthetic and other kinds as well“ (What is human agency, a.a.O., S. 24, Fußnote 7). Dieser Hinweis fehlt leider in der deutschen Übersetzung. Es ist sinnvoll, an dieser Stelle die kleine, aber wichtige Frage anzuführen, ob für Taylor starke Wertungen bewusst artikulierte Urteile darstellen müssen. Die Frage entspringt dem ursprünglichen Entwurf Taylors und wurde von Weinstock zum Ausdruck gebracht. Darauf reagierend, nimmt Taylor einige wichtige Präzisierungen vor: „[A] quick word about ‚strong evaluation’. I think this is something like a human universal, present in all but what we would clearly judge as very damaged human beings. But this is because I don’t define it in quite the way that Weinstock suggests. I don’t consider it a condition of acting out of a strong evaluation that one has articulated and critically reflected on ones’ framework. Clearly this would be too narrow entry conditions. I mean simply that one is operating with a sense that some desires, goals, aspirations are qualitatively higher than others […]. My mistake was in using the word ‚evaluation’, with its overtones of reflection and deliberate opting for one alternative rather than another.“ (C. Taylor, „Reply and Re-Articulation“, in Philosophy in an Age of Pluralism. The Philosophy of Charles Taylor in Question, S. 249). Davon ausgehend ist die Theorie starker Wertungen nicht normativ zu verstehen, sondern anthropologisch-deskriptiv. In diesem Sinne „besagt die These, es sei konstitutiv für menschliches Handeln, dass man sein Leben innerhalb eines derart durch starke qualitative Unterscheidungen geprägten Horizonts führt. Ein Überschreiten dieser Grenzen wäre gleichbedeutend mit dem Verlassen eines Daseins, das nach unseren Begriffen noch das einer integralen, also unversehrten Person ist.“ (QS, S. 55).
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deutlicher als die obigen oder auch das folgende sind: Jemand zögert angesichts der Alternative, im Süden oder im Norden Urlaub zu machen. Im Süden wäre der Urlaub wegen des üppigen tropischen Landes eher belebend, im Norden wegen der gewaltigen Schönheit der Wildnis eher entspannend. Die Alternativen sind qualitativ verschieden, indem sie hinsichtlich ihrer Erwünschtheit unterschiedliche Charakterisierungen aufweisen. Jedoch fehlt in diesem Beispiel eine Unterscheidung der Wünsche im Hinblick auf Werte. Aus diesem Grund meint Taylor, dass es sich dabei nicht um starke Wertung handelt. Nichts Wertvolles kommt ins Spiel, das sich auf die Entscheidung für den Süden oder den Norden auswirkte. Es handelt sich vielmehr um Spaß („just because ‚I feel like it’“).143 Im Hinblick auf diese Erläuterung lässt sich behaupten, dass Taylor einen Schritt weiter geht als Frankfurt. Denn das, was Frankfurt als ‚Wollen zweiter Stufe’ bezeichnet hat, kann auch auf der Grundlage schwacher Wertungen geortet werden. („Ein Wollen zweiter Stufe liegt vor, wenn ich möchte, dass bestimmte Wünsche erster Stufe mich zum Handeln veranlassen.“144) Dies liegt an dem Umstand, dass in diesem Wollen kein qualitativer Unterschied (unwürdig, niedrig usw.) bezüglich des Wertes der Motivationen besteht. Taylor bringt die folgenden Kriterien ins Spiel, um zwischen schwachen Wertungen und starken Wertungen zu unterscheiden: Um von einer schwachen Wertung zu sprechen, ist es hinreichend, dass etwas gewünscht wird, damit es als gut beurteilt wird. Starke Wertungen hingegen erfordern eine Verwendung von ‚gut’ (oder eines anderen evaluativen Ausdrucks), dessen Bedeutung sich nicht im subjektiven Gewünschtsein erschöpft. Sie vermitteln den Sinn, dass x etwas ist, „das man spüren sollte, dass jemandem, der da nichts davon verspürt, etwas fehlt, dass er einem Gegenstand gegenüber unempfänglich ist, der wirklich Bewunderung verlangt. Das ist etwas völlig anderes als die Vorliebe, die man z.B. für den Geschmack von Speiseeis haben kann […]. Einer liebt Erdbeereis, der andere Vanilleeis. Es wäre absurd, dem jeweils anderen vorzuwerfen, etwas Entscheidendes nicht zu sehen“.145 Taylor warnt vor dem Fehler, zu glauben, dass starke Wertungen nur auf bloße Gefühle verweisen, die kein Gegenstück in der objektiven Wirklichkeit haben. Dieser Punkt wird noch klarer, wenn man den folgenden Aspekt in Taylors Argumentation betrachtet: Die Unterlassung der Verfolgung eines Wunschs geschieht in der schwachen Wertung nur aufgrund seiner kontingenten Unvereinbarkeit mit einer stärker angestrebten Alternative, z.B. in dem Fall, dass ich später zum Mittagessen gehe, obwohl ich jetzt hungrig bin, denn später kann ich nach dem Mittagessen auch noch schwimmen gehen. Im Gegensatz dazu erfolgt die Unterlassung bei starken Wertungen nicht deshalb, weil die Handlung mit einem anderen Ziel kollidieren würde:
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C. Taylor, Was ist menschliches Handeln?, a.a.O. S. 12. Ebenda, S. 13. C. Taylor, „Replik“, a.a.O., S. 835.
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„So unterlasse ich eine feige Tat, die für mich gleichwohl sehr verlockend wäre, aber nicht weil diese Tat im Augenblick eine andere angestrebte Handlung unmöglich machen würde, so wie das sofortige Einnehmen des Mittagessens mich daran hindern würde, schwimmen zu gehen, sondern ich unterlasse sie vielmehr deshalb, weil es eine gemeine Tat wäre.“146 Daraus folgt, so Taylor, dass starke Wertungen eine Sprache wertender Unterscheidungen erzeugen, die den Menschen im Gegensatz zum Tier charakterisieren. Wegen diesen Unterscheidungen müssen die Alternativen im Falle starker Wertungen kontrastiv beschrieben werden, während dies nicht unbedingt auf schwache Wertungen zutrifft, in denen der zurückgewiesene Wunsch wegen eines kontingenten oder zufälligen Konflikts mit einem anderen Ziel zurückgewiesen wird. Die Ansicht, dass wir als stark wertende Wesen die Sprache des qualitativen Kontrastes gebrauchen (und nicht aufgeben können), wird von Taylor dadurch bekräftigt, dass die Menschen über etwas verfügen, das oft mit der Metaphorik des Tiefen zum Ausdruck gebracht wird. Mittels dieser Metaphorik können sie ihre Motivation auf einer tieferen Ebene beschreiben und ihre Wünsche in einer weiteren Dimension betrachten. „Während ein Nachdenken darüber, was wir als den stärkeren Wunsch empfinden – was alles ist, was ein bloß abwägendes Subjekt beim Bewerten von Motivationen tun kann –, uns weiter an der Oberfläche festhält, führt ein Nachdenken darüber, welche Art von Wesen wir sind, uns direkt ins Zentrum unserer Existenz als Handelnde. Starke Wertung ist nicht nur eine Bedingung dafür, Präferenzen artikulieren zu können, sondern beinhaltet auch Fragen der Lebensqualität, der Art von Existenz, die wir führen und führen wollen. In diesem Sinne ist sie tiefer. Und dies ist es, was dem üblichen Gebrauch der Metapher der Tiefe in Bezug auf Menschen zugrunde liegt. Jemand ist nach unserer Auffassung oberflächlich, wenn wir feststellen, dass er unsensibel ist, ohne Bewusstsein von oder ohne Interesse an den Fragen, die die Qualität seines Lebens betreffen und die uns grundlegend oder wesentlich erscheinen. Er lebt oberflächlich, weil er bemüht ist, Wünsche zu befriedigen, ohne die ‚tieferen’ Fragen zu berühren, was diese Wünsche bezüglich der Lebensweisen ausdrücken und bestätigen […]. Der totale Utilitarist wäre ein unglaublich oberflächlicher Charakter, und wir können anhand der Bedeutung, die erklärte Utilitaristen der Tiefe zusprechen, überprüfen, in welchem Maße sie selbst ihre Ideologie leben.“147 Laut Taylor gehört es zum Wesen des Menschen diese tieferen Fragen aufzuwerfen. Der Mensch rekurriert zur Erfüllung dieser Aufgabe auf ein Wertungsvokabular, durch das er die Erwünschtheit oder die Überlegenheit einer Alternative gegenüber einer anderen artikulieren kann. Es ist das Vokabular von ‚höher’ und ‚niedriger, von ‚edel’ und ‚gemein’. Zur Illustrierung kann man sich verschiedene Ausdrücke vor Augen führen, die wir gebrau-
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C. Taylor, Was ist menschliches Handeln?, a.a.O., S. 14f. Ebenda, S. 24.
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chen, wenn ein Verhalten unser tiefstes Entsetzen hervorruft, etwa Kidnapping, Folter, Kindesmissbrauch: „Das ist unmenschlich“, „Ist das noch ein Mensch?“ usw. In der Regel drücken derartige Reaktionen ein Interesse an Fragen aus, die den Wert des Lebens betreffen. Es zeigt sich, dass ein Handelnder, der völlig bar der Fähigkeit wäre, Wünsche zu bewerten, der über keinen noch so minimalen Grad an Reflexionsfähigkeit verfügte, von uns als jemand betrachtet würde, dem ein entscheidender Teil des Hintergrunds dessen abgeht, was wir als ‚the exercise of will’ beschreiben. Diesbezüglich hat Taylor stets die Darstellung des Meursault, der Schlüsselfigur von Albert Camus’ L’Étranger (sein berühmter Roman über die Geschichte eines introvertierten bzw. gleichgültigen Geistes) als unangemessen kritisiert. Denn Albert Camus versucht dort einen Menschen darzustellen, der völlig unfähig zur qualitativen Reflexion ist und sein Leben, die Ereignisse um ihn herum, seine Begegnungen mit anderen und der Welt mit einem äußerst kalten und undifferenzierten Blick betrachtet. Meursault zeigt eine emotionale Kälte und eine ungewöhnliche Gleichgültigkeit gegenüber allen und jedem. Dies führt letztlich zu seiner völligen Entfremdung. Ein derartig gleichgültiger Mensch existiert aus der Sicht Taylors nicht. Das Bild eines Menschen, der sich keinen Gedanken über seine eigenen Handlungen macht, sich um nichts und niemanden kümmert, kein Innenleben hat und nichts für bedeutungsvoll oder wertvoll hält, erscheint ihm als äußerst unplausibel. Daher kritisiert er Camus’ Versuch in L’Étranger eine solche Figur zu entwerfen als nicht überzeugend: „Ich habe noch nie diese Hauptfigur überzeugend gefunden. Camus hat von ihr gesprochen, als ob sie eine Art von negativem Christus sei. Aber meinerseits habe ich noch nie jemanden getroffen, der so lebt, es sei denn einen pathologischen Fall. Albert Camus hat ein völlig ungebundenes Wesen dargestellt. Das ist kein überzeugendes menschliches Leben.“148 Im größeren Kontext beruht Taylors Kritik natürlich auf seiner Unzufriedenheit mit der Tendenz des Existentialismus an sich, die entscheidenden Bestandteile des Menschseins, z.B. starke Wertungen, Bedeutungshorizonte, den positiven Umgang mit den anderen, kurzum, die moralische Topographie in Frage zu stellen, oder radikaler: in Verruf zu bringen. Taylors Unzufriedenheit verhält sich proportional zu der Bedeutung, die er der moralischen Topographie zuschreibt. „My main thesis is: that the self exists essentially in moral space by means of a master image, a spatial one. And that is what I invoke as well in speaking of a ‚moral topography’ of the self. This manner of speaking might seem fanciful or arbitrary, but it is not. At least, the image is not mine, but is anchored in moral consciousness itself. I mean by this not just that 148
M. Ancelovici, F. Dupuis-Déri, „Entretien avec Charles Taylor“, in ders. (Hg.), L´Archipel identitaire. Montréal, 1997, S. 34 (freie Übersetzung). Siehe auch die ähnliche Kritik in Erik H. Erikson, Jugend und Krise. Psychodynamik im sozialen Wandel. Stuttgart, 1970, S. 97; W. Pabst, „Un héros absurde. Meursault et ses ancêtres“, in Lettres Romanes, 45, 1991, S.198.
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spatial images frequently occur in moral language – think of Plato describing the eye of the soul looking toward the Ideas, or of salvation as in heaven, or of the truth as ‚within us’ – but that our most basic and inescapable languages of the self incorporate spatial terms, most centrally within/without and above/below, not to speak of the topographical construal of the unconscious, our sense of inner depths, the devaluing of some feelings as superficial, and so on. My thesis is that this inherent spatiality of the self is essentially linked to a moral topography, a sense of where moral sources lie.”149 Durch die Betonung der Verknüpfung zwischen dem Selbst und einem moralischen Raum wirkt die Rolle des letzteren ins rechte Licht gerückt: „Moral topographies provide the context in relation to which we can distinguish what we essentially are. They provide a principle of ordering the self. And in one very important sense of the term, where we consider the self to be what we truly are, our essence, they furnish the indispensable context for our having such a thing as a self at all.“150 Dieser entscheidende Teil des Menschseins gerät allerdings aufgrund der Überbetonung des Begriffs des Selbstseins im Existentialismus ins Hintertreffen.151 Taylor erkennt darin eine große Gefahr, denn in seinen Augen greift die moralische Topographie so tief, dass ihre Nichtberücksichtigung eine schwere Identitätskrise (vgl. die Absurdität in der existentialistischen Philosophie). „The argument is not a moral argument, it is a transcendental argument showing that humann agency presupposes strong evaluations.“ 152 Julia Kristevas Ausdruck der „malady of ideality“ (zur Bezeichnung des Bedürfnisses der Jugend nach Idealen) ist hier relevant: „The ‚malady of ideality’ represents a pre-religious and pre-political form of belief. It symptomises the need for a shared ideal which helps to shape the life of the psyche. Since the demand is absolute, it can easily topple to its opposite – frustration, boredom, depression, destructive rage, vandalism – known variations of nihilism which are nothing less than appeals to ideal [...]. Modern society, when viewed against these different ways of ‚containing’ adolescence, not only
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C. Taylor, „The Moral Topography of the self“, in S. B. Messer et al. (Hg.), Hermeneutics and psychological theory, New Brunswick, 1988, S. 300. Ebenda, S. 302. Dem Begriff des Selbstseins entsprechend ist die Auseinandersetzung des Einzelnen mit seiner Situation eine Notwendigkeit. Dazu sagt Kutschera: „Jeder muss sich dabei selbst orientieren, er kann sich seine Lebensziele nicht von anderen vorgeben lassen. Daher ist diese Reflexion primär eine Aktivität des einzelnen.“ (F. von Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a.O., S. 27.) A, Latinein, Strong Evaluation without Moral Sources, a.a.O., S. 104.
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has invented nothing new but, through a complete inability to comprehend the structuring need for ideality, abets the destruction of family bonds and the weakening of authority.“153 Einleuchtend ist auch Marcel Gauchets Analyse von psychopathologischen Erscheinungen vor dem Hintergrund der Hypothese des abstrakten Prinzips der Selbstgenügsamkeit des Subjekts. Die Spannung, die diese Hypothese auslöst, erklärt sich dadurch, dass die Individuen „theoretisch“ als unabhängig betrachtet werden, während sie „psychisch“ zur Unabhängigkeit unfähig sind. Und je mehr die Theorien ihre Unabhängigkeit betonen, desto klarer zeigt die Erfahrung, dass sie psychisch zur Unabhängigkeit unfähig sind. 154 Diese Ansichten aus unterschiedlichen Perspektiven bekräftigen die Idee, dass die Rede vom Menschen nicht von der Rede von seinen Ressourcen zu trennen ist. Dies bringt uns auf die Rede von starken Wertungen zurück, weil wir als potentielle starke Wertende geboren sind und die Anderen, die Gesellschaft, zur Aktualisierung unserer zentralen Potentiale benötigen.155 Taylors soziale These (siehe Kap. 3) ist mit seiner philosophischen Anthropologie und Ethik eng verbunden. Für Taylor besitzt der Mensch die starken Wertungen aufgrund seines Wesens; und bestimmte seiner Eigenschaften sind nur aufgrund von ihnen möglich. Die Verknüpfung von unserer Identität mit bestimmten Wertungen, die sie definieren, ist untrennbar.156 Dies bedeutet, dass wenn man uns diese Wertungen wegnimmt, wir nicht länger wir selbst sein können. Damit meint Taylor nicht, „dass wir in dem trivialen Sinne anders wären, dass wir andere Eigenschaften hätten als die, die wir jetzt haben – dies wäre tatsächlich nach jeder noch so kleinen Veränderung der Fall –, sondern dass wir in diesem Fall insgesamt die Möglichkeit verlieren würden, ein Handelnder zu sein, der wertet. Unsere Existenz als Personen und damit unsere Fähigkeit, als Personen an bestimmten Wertungen festzuhalten, würde außerhalb des Horizonts dieser wesentlichen Wertungen unmöglich, wir würden als Personen zerbrechen, wären unfähig, Personen im vollen Sinne zu sein“.157 Das Vorausgehende verdeutlicht den Unterschied zwischen Taylors Position und dem Existentialismus. Dazu fügt Taylor als weiteren Punkt den Begriff der Verantwortlichkeit ein. Personen werden
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J. Kristeva, „My motto is diversity“ in Centre d´Analyse et de Prévision (Hg.), Diversity and Culture/Diversité et culture, Collection Penser l’Europe, Edition bilingue, Paris, 2007, S. 21.Siehe auch J. Kristeva, Cet incroyable besoin de croire. Paris, 2007, S. 34f. M. Gauchet, La démocratie contre elle-même. Paris, 2002, S. 253f. Kristevas und Gauchets Ansichten, die aus unterschiedlichen Perspektiven geäußert werden, können Taylors Besorgnis verständlich machen und seine Position untermauern. Ihnen gebührt das Verdienst, den Grundbau der Individuation und damit die Präkonditionen der Freiheit zu verdeutlichen. A, Latinein, Strong Evaluation without Moral Sources, a.a.O., S. 109. In Bezug auf die moralische Grundlage der Person behauptet J. Sugarman: „not only are persons at the center of moral inquiry, but also, as Taylor’s work reveals, moral inquiry is at the center of personhood“. („Persons and Moral Agency“, in Theory and Psychology of Education Society, Bd. 15, 6(2005), S. 809.) C. Taylor, C. Taylor, Was ist menschliches Handeln?, a.a.O., S. 36f.
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für verantwortlich in einem Sinne gehalten, in dem Tiere dies nicht sein können. Und diese Tatsache führt die Rede von der Fähigkeit weiter, Wünsche zu bewerten: „Es gibt ein Verständnis von Verantwortlichkeit, das bereits im Begriff des Willens impliziert ist. Jemand, der zur Bewertung von Wünschen imstande ist, kann unter Umständen feststellen, dass das Ergebnis einer solchen Wertung im Gegensatz steht zu einem sehr dringenden Wunsch. Wir könnten es in der Tat für ein wesentliches Charakteristikum der Fähigkeit, Wünsche zu bewerten, halten, dass jemand in der Lage ist, den wichtigeren Wunsch von dem zu unterscheiden, der den stärksten Druck ausübt.“158 Man darf Taylor hier nicht den Gedanken unterstellen, dass er mit Theorien einverstanden ist, die eine radikale Form der Entscheidungsfreiheit oder der freien Wählbarkeit von Werten vertreten. Der Begriff der Verantwortlichkeit hat bei ihm wenig gemein mit seiner Verwendung im existentialistischen Sinn bzw. im Sinn der Vorstellung radikaler Wahl. Denn Taylor seziert die Verantwortlichkeiten des Menschen mit Hilfe des Schlüsselbegriffs der Wünsche zweiter Stufe. „Unsere Wertungen sind nicht gewählt. Im Gegenteil, sie sind Artikulationen unserer Auffassung davon, was wertvoll ist, höher, ausgeglichener oder befriedigender usw. Als Artikulationen jedoch bieten sie uns einen anderen Ansatzpunkt für den Begriff der Verantwortung. […] [H]ierzu stellen Artikulationen Versuche dar, etwas zu formulieren, das anfangs unvollständig, konfus oder schlecht formuliert ist.“159 Verantwortlichkeit im Existentialismus hingegen bedeutet eine absurde Wahl, d.h. eine Wahl, die nicht auf Gründen basiert. Eine Manifestation dieser fehlgeleiteten Vorstellung findet Taylor in Jean-Paul Sartres Werk Das Sein und das Nichts, von dem er explizit Abstand nimmt: „Das Subjekt radikaler Wahl ist eine weitere Manifestation jener immer wiederkehrenden Figur, die unsere Kultur zu realisieren trachtet – das entkörperlichte Ego, das Subjekt, das alles Sein objektivieren kann, einschließlich seines eigenen Seins, und das in radikaler Freiheit wählen kann. Aber dieses Versprechen des totalen Selbstbesitzes bedeutet in Wahrheit den totalen Selbstverlust.“160 Wir verstehen jetzt Taylors Entscheidung, seine moralischen Überlegungen mit den anthropologischen Fragen (Was heißt ein Mensch zu sein? Was ist menschliches Handeln?) zu 158
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Ebenda, S. 27f. Mit diesem Begriff der Verantwortlichkeit verdeutlicht er seine Ethik der Artikulation, die ihre Güter in den wertenden Prozessen der Selbstinterpretation immer wieder neu überprüft und verständlich macht. (M. Kühnlein, Religion als Quelle des Selbst. Tübingen, 2008, S. 109f.) Ebenda, S. 38f. Ebenda
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eröffnen besser. Dies ist für ihn ein Weg, um verzerrte Bilder des Menschen in der Moral zu vermeiden oder zu überwinden. Wie lassen sich die bisherigen Erläuterungen in groben Zügen darstellen? Wir haben gesehen, dass Menschen sich von Tieren in puncto der Handlungsfähigkeit und -bewertung fundamental unterscheiden: – Sie interpretieren sich selbst und die Welt, und sie sind konstituiert durch ihre Selbstinterpretationen; – sie haben beim Handeln ein Bewusstsein von sich selbst (ihrer Identität) und ihrer Umwelt; – sie bewerten ihre eigenen Wünsche und die der anderen und verfügen dabei über ein kontrastives Wertungsvokabular; – sie legen ihren Handlungen Bedeutungen bei (und bringen ihre entsprechenden Wünsche in eine hierarchische Rangordnung). All diese Ideen sind durch den Begriff der starken Wertungen vermittelt. Taylor spricht von starken Wertungen als transzendentalen Bedingungen des Subjekts, durch die seine personale Identität definiert, sein Handeln und seine Repräsentationen geleitet und seine Sprache geprägt werden.161 In dieser Hinsicht fasst Ricoeur Taylors Begriff der starken Wertung unter den folgenden drei Merkmalen zusammen162: (1) Diese Art von Wertung ist „tief“, da sie nicht wie Neigungen und Reaktionen raschen Wandlungen unterliegt. (2) Diese Art von Wertung ist „universell“. Dieses Merkmal bezieht sich auf ihren Anspruch, von allen geteilt zu werden, also auf ihre prinzipielle Mitteilbarkeit. Dies zeigt sich dadurch, dass moralische Handelnde nicht nur an ihren Überzeugungen hängen, sondern sie auch der Zustimmung der anderen unterwerfen. (3) Diese Art von Wertung ist „wirkmächtig“ aufgrund ihrer Fähigkeit zu motivieren, und im Gegensatz zu bloßen (objektiven) Feststellungen, die keine persönliche oder gemeinsame Beteiligung implizieren. In diesem Zusammenhang lässt sich Taylors Ausdruck der „moral sources“, der auf Anlass der Frage „Was treibt zum Handeln an?“ gegeben wird, im Sinne von starken Motivationen verstehen. Abschließend kann gesagt werden, dass dem Begriff der starken Wertung eine zentrale Bedeutung in Taylors moralischer und politischer Theorie zukommt. Dies wird im Rahmen seiner Debatte mit dem Liberalismus (Kap. 3) und der Habermasschen Verfahrensethik (Kap. 4) ausführlich gezeigt werden, zunächst aber im allgemeinen Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Moderne. Denn trotz seiner Kritik an der Moderne und genauer an der Aufklärung basiert sein Lösungsentwurf auf der Wiedergewinnung der Vorstellungen des Guten (bzw. der moralischen Quellen) der Moderne. Diese paradox anmutende Situation fordert Erläuterung. 161 162
QS, S. 63. Siehe auch H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 104. P. Ricoeur, „Le fondamental et l´historique: note sur Sources of the Self de Charles Taylor“, in G. Laforest, P. Lara (Hg.), Charles Taylor et l´interprétation de l´identité moderne, S. 20f. Taylors Kulturtheorie stellt dieses universelle Merkmal der starken Wertung in Frage stellt (Kap. 5).
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2.2 Diagnose und Auseinandersetzung mit der Moderne Über die Moderne wurde und wird ausführlich diskutiert. Die Diskussion betrifft nicht zuletzt die Frage, ob die Moderne positiv oder negativ bewertet werden soll. So wird man – je nachdem, ob man ihren Befreiungs- oder Entwurzelungscharakter, ihre Freiheits- oder Desintegrationsdimension betonen möchte – die Moderne ganz unterschiedlich bewerten. 163 Man vergleiche etwa Habermas’ Versuch, das Projekt der Moderne zu verteidigen, mit MacIntyres Aufruf zu einer „Rückkehr zu Aristoteles“. Von besonderer Natur ist die – letztlich in einer Form des Nihilismus mündende – radikale Aufklärungskritik Nietzsches. Er stellt sich als ein Gegenaufklärer dar und der Aufklärung vorwarf, auf den Denkschemata christlicher Moral weiter angewiesen zu bleiben. Sich von diesen Denkschemata zu befreien bedeutet für ihn, wahrhaft freies und aufgeklärtes Denken jenseits von Gut und Böse zu suchen. Nietzsches Kritik versteht sich auch als Ablehnung von dem vernunftbetonten Universalismus der Aufklärer. In diesem Zusammenhang hat diese Kritik eine Tradition eröffnet, an die sich die (sogenannte) Postmoderne anschließt. Hier melden sich zahlreiche Autoren unterschiedlichster Provenienz zu Wort, deren Gemeinsamkeit in der Leitidee besteht, die Moderne sei kein einzigartiges und normativ überlegenes Projekt, sondern eine historische Konstellation unter anderen. Ein Blick auf Foucaults Werke mag in dieser Hinsicht illustrativ sein (z.B. Wahnsinn und Gesellschaft: eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft; Überwachen und Strafen; Dispositive der Macht. Über die Sexualität, Wissen und Wahrheit usw.). Ziel der Überlegungen Foucaults ist es, die einseitig positive Beschreibung der Moderne als Befreiungsbewegung infrage zu stellen. Der Schwerpunkt seiner Werke liegt daher in der „Darstellung der fortschreitenden Disziplinierung der Individuen und ihrer Körper in Institutionen wie Gefängnissen, Krankenhäusern und Kasernen, der ‚Biopolitik’ und ihrer Kontrolle bzw. der administrativ-technologischen Verwaltung von Zeugung, Krankheit und Tod [...]“.164 Waldenfels dagegen vermeidet eine Erörterung des Für und Wider der Moderne und unterzieht das Projekt der Moderne einer phänomenologischen Prüfung, die von zwei Fragekomplexen ausgeht: der Rolle des neuzeitlichen Subjekts und den Ambitionen der neuzeitlichen Vernunft. 165 Dass das Projekt der Moderne gewaltige Probleme mit sich 163 164
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H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 308f. Ebenda, S. 311. Siehe auch E. Erdmann, R. Forst, A. Honneth, Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt/M., 1990. B. Waldenfels, Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Essen, 2001, S. 7. Dazu sagt Waldenfels: „Es könnte sein, dass das, was wir die Neuzeit oder Moderne nennen, von Anfang an auf einen unhaltbaren Kompromiss hinauslief. Vielleicht hat man versucht, den neuen Wein einer mächtig erwachenden Subjektivität und einer von Kontingenz gezeichneten Vernunft in die alten Schläuche einer allumfassenden Welt-, Lebens- und Geschichtsordnung zu leiten. Dies wäre ein vergebliches Unterfangen. Das sogenannte Projekt der Moderne muss scheitern, solange es darauf abzieht, mit dem Eigenen zu beginnen und beim Ganzen zu enden;
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bringt, ist auch die Überzeugung von Taylor. Wie geht er mit dieser Situation um? Einerseits versteht er die Moderne als ein einzigartiges und vielseitiges Projekt, an dem es festzuhalten gilt. Anderseits behauptet er, dass sich dieses Projekt der Kritik aussetzt, wenn es – und dies ist, so Taylor, heutzutage die mächtige Tendenz – nur auf die aufklärerische Strömung reduziert wird. Hier versucht er die Idee zu plausibilisieren, die Moderne sei vielfältig gestaltet. Die Berechtigung der Widerstandsbewegungen gegen die Moderne betont Taylor in Sources of the Self als Bekämpfung einer herrschenden Monokultur der Rationalität und in A Secular Age als Restauration des Religiösen als einer unwiderlegbaren Quelle des Selbst.166 Taylor interpretiert und erkennt in manchen heutigen Einstellungen, Praktiken, Tendenzen usw. ein gewisses Bedürfnis nach dem Religiösen, so dass er
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auch der bloße Durchgang durch das Fremde ändert daran wenig. Es entstehen Zwittergestalten wie die einer europäischen Vernunft, die ihr Idiom als Weltsprache ausgibt. Idiome bleiben Idiome, mögen sie noch so weitläufig und aufnahmebereit auftreten.“ (Ebenda). Durch diese phänomenologische Prüfung entdeckt Waldenfels Risse, „die in den offiziellen Baupläne nicht verzeichnet sind“. (Ebenda, S. 9.) J. Goldstein, „Säkularisierung als Vorsehung“, in M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.), a.a.O., S. 639. Es ist nicht unplausibel hinter Taylors Kritik am „engen Subjektivismus“ (der „Immanenz“, der Zurückweisung jedes transzendenten Horizont) eine religiöse Motivation herauszulesen. Dies deutet er selbst bei Symposien zu Ehren von Josef Pieper: „[I]ch bewundere die Arbeit des Philosophen Pieper, mit welcher mich eine tiefe Affinität verbindet. Er hat eine Idee der Philosophie formuliert, die die Grundintention meiner oft wirren und unabgeschlossenen Gedanken einfängt: die Idee, Philosophie „aus dem Kontrapunkt (...) der christlichen Theologie“ zu betreiben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Offenbarung die Prämissen liefert, von denen die Philosophie ausgeht – ein sehr verbreitetes falsches Verständnis der Natur heutiger christlicher Philosophie, sowohl unter Gläubigen als auch unter Nichtgläubigen. Die Philosophie muss ihren eigenen Weg gehen, als ein Gespräch, dass sich prinzipiell an jeden wenden kann, von welchem Punkt auch immer er selbst ausgeht. Aber man argumentiert in Reaktion auf, inspiriert durch offenbarte Wahrheit. Und dies bringt neue Gedanken in das Gespräch, die man außerhalb dieser kontrapunktischen Beziehung nie gehabt hätte; auch wenn diese – wie alle philosophischen Ideen – aus eigener Kraft ihren Weg machen müssen, im ewigen Gespräch der Menschheit. Neben Pieper sind für mich Bakhtin und Ricoeur Denker des 20. Jahrhunderts, die die Philosophie in dieser Art verwandelt haben.“ (C. Taylor, „Geschlossene Weltstrukturen in der Moderne“, in H. Fechtrup u.a., Wissen und Weisheit. Zwei Symposien zu Ehren von Josef Pieper (1904-1997), 2005, S. 137.). Diese Äußerung Taylors kann im Zusammenhang mit seiner Suche nach „Rettungsankern“ gegen den Sinnverlust bzw. Verlust von Gesamtbedeutung, die Orientierungskrise in der Moderne gelesen werden. Eine theistische Betrachtung des menschlichen Lebens sieht er als eine vielversprechende Antwort darauf. Mit dem „engen Subjektivismus“ hingegen verwehrt sich das moderne Subjekt die Perspektive, aus der es einen tiefen Sinn für sein Leben gewinnen kann: „That is why adopting a stripped-down secular outlook, without any religious dimension or radical hope in history […] involves its ‚mutilation’. It involves stifling the response in us to some of the deepest and most powerful spiritual aspirations that humans habe conceived. This, too, is a heavy price to pay.“ (SoS, S. 520.)
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behaupten kann: „Wir sind nicht unbedingt so ‚modern’, wie wir glauben“.167 Aber wichtig für das Anliegen im vorliegenden Buch ist es zu sehen, dass Taylor im Unterschied zu radikalen Kritikern vom Schlage Nietzsches an der Moderne als moralischem und zukunftsweisendem Projekt festhält. In diesem Zusammenhang entbehrt der Vorwurf Quentin Skinners, Taylor übe eine rein negative und destruktive Kritik an der Moderne, jeglicher Grundlagen.168 Taylor ist einer der Autoren, die das Ausmaß und die Wirkungskraft dieses Projekt betonen und eine entsprechende, gründliche Untersuchung fordern. Die vielfältigen bzw. gegensätzlichen Ansätze, die dieses Projekt hervorrufen, zeigen letzten Endes nur, wie wichtig es ist. Das Projekt der Freiheit und der wohltätigen Ordnung ist „von so zentraler Bedeutung für unsere Zivilisation, dass sich alle möglichen Standpunkte im Verhältnis zu ihm definieren, und zwar entweder wie der Marxismus und sonstige Ableger der Aufklärung, indem sie das Projekt bejahen und zugleich uminterpretieren, oder wie die vielfältigen Nachkommen der romantischen Rebellion, indem sie das Projekt kritisieren und dadurch andere Möglichkeiten erschließen wollen“.169 Dass die Moderne eine „einzigartige Verbindung von Größe und Gefahr“170 schafft, ist eine Ansicht, auf die sich Taylor bezieht, um seinen Rettungsversuch zu begründen. Auf die Frage, wie die Moderne zu retten ist, verweist er auf die hermeneutische Funktion der Vernunft, d.h. die moralischen Quellen (die motivierenden und handlungsleitenden Vorstellungen des Guten) der Moderne zu artikulieren. Es ist mit Rosa zu bemerken, dass Taylors Analyse der Moderne – wie ich in zweiten Teil zeigen werde – zwar für viele politische und moralische Fragen einleuchtend sein kann, sie sich aber als etwas kühn und provokativ erweist, weil sie dem Verankertsein des Individuums in einer moralischen Landkarte ein Gewicht zuschreibt, das die vorherrschende Sensibilität der Moderne stört: „Zum einen kann Taylors Analyse der Moderne als Anwendung und Test für seine philosophische Anthropologie verstanden werden. Insbesondere drängt sich hier die Frage auf, ob eine Theorie, für die das Eingebettetsein des Individuums in einen festen Gemeinschaftsund Wertehorizont konstitutiv ist, nicht zwei Jahrhunderte zu spät kommt, weil die Neuzeit sich gerade auszeichnet durch die Relativierung aller Horizonte, durch die Distanzierung von Traditionen und Gemeinschaften und durch die damit einhergehende Herausbildung liberaler Gesellschaften, die auf eine gemeinsame ‚Landkarte des Guten’ verzichten und stattdessen mit der bloßen Festlegung von Rechten vorlieb nehmen […]. Zum anderen aber lassen sich aus seiner Analyse und Rekonstruktion des neuzeitlichen Selbst und der für dieses konstitutiven moralischen Landkarte eine Reihe von Erkenntnissen gewinnen, die für die Beantwortung konkreter politischer Fragen entscheidende Impulse zu geben vermögen
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C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 910. Q. Skinner, „Who are ‚We’? Ambiguities of the Modern Self“, in Inquiry, Bd. 34, 2(1991), S. 141. C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 458. QS, S. 8.
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und damit die praktische Dimension der Taylorschen Identitätskonzeption im Hinblick auf zeitgenössische soziale Problemstellungen verdeutlichen.“171 Anschließend an den zweiten Aspekt des Zitats (der Erkenntnisgewinn angesichts der praktischen Probleme) ist zu betonen, dass Taylors Auseinandersetzung mit der Moderne ohne Zweifel erlaubt, den Hintergrund der Herausbildung bzw. Ausarbeitung der Grundzüge seiner moralischen Theorie (z.B. seine Ablehnung von Universalismus – dem Einheitsprinzip der Aufklärung) herauszstellen. Wir müssen hier Taylors Betonung von geschichtsphilosophischen Status der Moderne beachten. Dies bildet die Eigenart seiner Zugangsweise zu Thema „moderne Identität“, d.h. „das Gefüge von Interpretationen, die der modernen Kultur eingesenkt sind und die Art und Weise definieren, in der wir zunächst einmal gar nicht umhinkönnen, uns selbst zu verstehen und zu beurteilen und über unser Leben nachzudenken“. 172 Zur Verdeutlichung seiner Weise mit dieser Identität umzugehen, unterscheidet Taylor zwei Theorien der Moderne (nämlich der kulturellen und der akulturellen Moderne): „[A] ‚cultural’ theory of modernity is one that characterizes the transformations which have issued in the modern West mainly in terms of the rise of a new culture. The contemporary Atlantic world is seen as a culture (or group of cultures) among others, with its own specific understandings, e.g., of person, nature, the good, to be contrasted to all others, including its own predecessor civilization (with which it obviously also has a lot in common.) By contrast, an ‚acultural’ theory is one that describes these transformations in terms of some cultureneutral operation. By this I mean an operation which is not defined in terms of the specific cultures which it carries us from and to, but is rather seen as of a type which any traditional culture could undergo. An example of an acultural type of theory, indeed a paradigm case, would be one which conceives of modernity as the growth of reason, defined in various ways: e.g., as the growth of scientific consciousness, or the development of a secular outlook, or the rise of instrumental rationality, or an ever-clearer distinction between fact-finding and evaluation. Or else modernity might be accounted for in terms of social, as well as intellectual changes: the transformations, including the intellectual ones are seen as coming about as a result of increased mobility, concentration of populations, industrialization, or the like.
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H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 317. Das Ausmaß, in dem sich bei Taylor die von Rosa genannte praktische Dimension an die theoretischen Untersuchungen anschließt, verdeutlicht sich in seinen Stellungnahmen zu konkreten Problemen seiner kanadischen Heimat. Dies zeigt z.B. schon der Titel seines Buches Reconciling the Solitudes. Essays on Canandian Federalism and Nationalism (Montreal, 1993). Der Herausgeber Guy Laforest behauptet in dieser Hinsicht: „Because Charles Taylor in his philosophical progression is first and foremost interested in the dilemmas of modernity – in the diversity and paradoxes of the quest for identity inherent in it – his view of the Canada-Quebec crisis gains much in originality.“ (S. 58.) C. Taylor, „Humanismus und moderne Identität“, in K. Michalski (Hg.), Der Mensch in den modernen Wissenschaften. Castelgandolfo-Gespräche 1983, Stuttgart, 1985, S. 117-170, hier, S. 122.
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In all these cases, modernity is conceived as a set of transformations which any and every culture can go through – and which all will probably be forced to undergo.“173 Der Grund, aus dem Taylor die kulturalistische Theorie der Moderne befürwortet, liegt schon in seiner philosophischen Anthropologie: Menschen sind verankerte Wesen. Als solche verweisen sie auf Selbst- und Weltinterpretationen, die für sie konstitutiv und spezifisch sind. Zur Illustrierung: Will man die Rede von Freiheit in der westlichen Moderne verstehen, muss man berücksichtigen, wie sie sich in diesem Kontext in ihren relevanten Entwicklungen verwirklicht, in den betroffenen Gesellschaften verkörpert und die Identität der betroffenen Menschen definiert, kurzum, muss man ihre entstehungsgeschichtliche Darstellung geben. „Die neue Formen des Erlebens der Welt und der Conditio humane bestehen zum Beispiel darin, dass man sich als autonomes Subjekt begreift, als Jemand, der verschiedene Wahlmöglichkeiten genießt, als ein Bürger unter anderen, der einen souveränen Volk angehört und potentiell die Geschichte mitlenken kann. Diese und andere Formen sind aber nur verständlich, wenn man sie im Zusammenhang der großen kulturellen Veränderungen sieht, also im Kontext der durch die westliche Moderne hervorgebrachten neuen Vorstellungen vom Selbst, von unserer Handlungsfähigkeit, der Zeit und der Gesellschaft.“174 Mit der Betonung der Relevanz einer entstehungsgeschichtlichen Darstellung erklärt sich die historische Perspektive seines Buches Sources of the self. The Making of the Modern Identity (1989), das mit A Secular Age (2009) ein monumentales Werk bildet. Taylor unternimmt es hier, „die Wurzeln des Selbst- und Weltverständnisses im modernen Westen freizulegen und die wichtigsten Entwicklungen dieses Verständnis nachzuzeichnen“.175 Er will zeigen: „how our present self-understandings grew.“176 Das Interesse an der historischen Perspektive knüpft an die hegelianische Auffassung von Philosophie an, derzufolge Philosophie und Geschichte der Philosophie zwei Seiten derselben Medaille sind. Man kann die erste nicht ohne die zweite betreiben, denn ein Verständnis vieler Probleme oder Fragen benötigt eine genetische Sichtweise. Genau darin besteht, so Taylor, das Verdienst der kulturalistischen Theorie der Moderne. Sie ermöglicht eine geeignete Darstellung des Porträts der „modernen Identität“: „Unser gegenwärtiger Zustand ist das Ergebnis von aufeinanderfolgenden Transformationen, indem jede Generation sich auf ihre Weise das Erbe der Vergangenheit angeeignet hat.
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C. Taylor, „inwardness and the Culture of Modernity“, in A. Honneth et al. (Hg.), Zwischenbetrachtungen: im Prozess der Aufklärung, Frankfurt/M, 1989, S. 601. C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 957. H. Steinfath, „Subtraktionsgeschichten und Transzendenz“, a.a.O., S. 599. C. Taylor, Modern Social Imaginaries, a.a.O., S. 64.
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Ein tieferes Verständnis der Interpretationen zu gewinnen, die unser Leben bestimmen, bedeutet zwangsläufig, eine historische Perspektive einzunehmen.“177 Die kulturalistische Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Selbstverständnisse und spezifische Weltinterpretationen berücksichtigt und damit versucht, die (im Kap. 5 zu erläuternde) doppelte Gefahr des Universalismus (bzw. der vermeintlich kulturneutralen Perspektive) und des Ethnozentrismus zu vermeiden: „[A] better understanding of our Western modernity should enable us better to recognize the alternative modernities which are developing in other parts of the world, to free them from the distorting grid of a bogus universality, and us from our ethnocentric prison. “178 Nach dieser wichtigen Anmerkung ist das Augenmerk – mit H. Rosa gesprochen – auf Taylors provokative und anspruchsvolle Diagnose der Moderne zu richten. Der Begriff der Moderne kommt bei ihm vor allem dann zur Sprache, wenn er sich mit einigen „unbehaglichen Eigenschaften der Moderne“ (z.B. Freiheit, Gleichheit, Beherrschung der Natur, Autonomie, demokratische Selbstbestimmung) auseinandersetzt. In dieser Hinsicht zielt seine Diagnose der Moderne auf die Darstellung der „Krankheiten der Moderne“ ab. Er beginnt mit einer Darstellung der in verschiedenen Theorien der Moderne geäußerten These, dass die Moderne einer spezifischen Form der Gefahr ausgesetzt sei. Spezifisch sei diese insofern, als sich in ihren Verlaufsformen von den Gefahren, die vormoderne Kulturen durchlaufen haben, radikal unterscheidet. Die Rede ist von der Gefahr der Hypertrophie, die sich in diesem Falle dann ergibt, wenn man über das hinausgegangen ist, was man eigentlich werden wollte. In allen Bereichen, die einen Bruch mit traditionellen Gesellschaftsordnungen bezeichnen, ergibt sich der Eindruck, man sei über die Grenzen hinausgegangen und an den Rande der Selbstzerstörung geraten. „What is special about our case is that we see the breakdown coming about in a particular way. We see it coming through hypertrophy, through our becoming too much what we have been. This kind of fear is perhaps definitive of the modern age, the fear that the very things that define our break with earlier ‚traditional’ societies - our affirmation of freedom, equality, radical new beginnings, control over nature, democratic self-rule – will somehow be carried beyond feasible limits and will undo us.“179
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C. Taylor, „Humanismus und moderne Identität“, a.a.o., S. 122. C. Taylor, „inwardness and the Culture of Modernity“, a.a.O., S. 623. Zu diesem Punkt fügt Taylor hinzu: „It should be evident that the dominant theories of modernity over the last two centuries have been of the acultural sort.“ (C. Taylor, „Modernity and the Rise of the Public Sphere“, a.a.O., S. 207.) C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 60.
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Die Rede von einer Gefahr der Hypertrophie ist in zahlreichen Theorien der Moderne verbreitet. Einige dieser Theorien betonen, dass die moderne Gesellschaft zur Zersplitterung verurteilt ist, weil sie jeden Bezug auf transzendente Instanzen verloren hat, die die Ziele bzw. das Gute bestimmen konnte. Damit sind z.B. die althergebrachten Ordnungsvorstellungen, derzufolge Menschen in die umfassende Ordnung des Universums eingegliedert werden. Dass diese althergebrachten Ordnungsvorstellungen zerstört wurden, bedeutete für viele einen schrecklichen Verlust, zumindest aber einen bedauerlichen Verfall. Die moderne Welt leidet, so ist der Tenor, unter dem Fehlen des Bezugs auf eine transzendente Instanz mit normativen Status. Ein Widerhall dieser Vorstellung kommt für Taylor von Seiten der katholischen Kirche, die in verschiedenen Enzykliken des Papstes zu einer (neuen) Verbindung zwischen Fides und Ratio aufruft. Dass sich die Rede des Papstes von der modernen Idee des Menschen (in ihrer radikalen Form) als einem freien und selbstbestimmenden Wesen unterscheidet, ist unschwer zu erkennen.180 Man denke nur an das Votum Benedikts XVI. für ein fruchtbares Miteinander von Vernunft und Glauben. Ihm zufolge bildet die Betrachtung des Menschen als ein Geschöpf Gottes die Grundlage jeder rationalen Gemeinschaftsstiftung. Dies bedeutet, dass es „vorpolitische moralische Grundlagen“ gibt, die die (Welt-)Gesellschaft zusammenhalten.181 Daher wird der Verzicht auf den Bezug auf eine transzendente Instanz bemängelt. Die meisten Theorien der Moderne, die mit dem Begriff der Hypertrophie arbeiten, sehen deren spezifisches ‚Zuviel’ entweder in der Überbetonung individueller Freiheit oder – und im krassen Gegensatz dazu – in der Überbetonung der Gleichheit. Die Überbetonung von individuellen Freiheiten soll demzufolge zu einer Schwächung der sozialen Bande führen: „[T]he modern exaltation of individual freedom ends up eroding the loyalties and allegiances to the wider community which any society needs to survive.“182
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Diese neue Vorstellung von menschlichen Wesen wurde bekanntlich von der sozialen Vertragstheorie vertreten. Siehe z.B. P. Stemmer, „Moralische Rechte als soziale Artefakte“, In DZPh, 50 (2002) 5, 673-691. In diesem Aufsatz erläutert Peter Stemmer eine seiner Grundidee, moralische Rechte seien nicht vorgegebene und vorgefundene objektive Rechte, sie seien vielmehr von Menschen hervorgebrachte Artefakte. (S. 675.) Siehe J. Habermas, J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Freiburg, 2005, S. 39-60; D. Horster, Jürgen Habermas und der Papst. Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat. Bielefeld, 2006. C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 61. Laut anderen Theorien dagegen, besteht die Hypertrophie nicht in einem Zuviel an individueller Freiheit: Nicht letztere, sondern im Gegenteil, „the insistence on political equality and mass participation that puts impossible demands on modern societies and leads to their downfall.” (ebenda). Taylor bezieht sich hier auf Schumpeters Buch Capitalism, Socialism, Democracy (New York, 1950).
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Mit den Umweltbewegungen (Herrschaft über die Natur) kommt für Taylor eine weitere Form von Hypertrophie zur Sprache: Indem die modernen Gesellschaften auf ein Wachstum um jeden Preis zielen, bringen sie sich selbst an den Rand des Untergangs. Die Liste der Aspekte, bei denen von Hypertrophie geredet wird, ließe sich beliebig erweitern. Es empfiehlt sich an dieser Stelle, zu sehen, wie sich Taylors eigene Diagnose der Moderne dazu verhält. Taylor ist kritisch gegenüber allen umfassenden Versuchen, die Moderne auf Hypertrophien irgendeiner Art zu reduzieren. Seine Diagnose weicht von den obigen Hypertrophie-Diagnosen dergestalt ab, dass die bestehende Gefahr nicht im Sinne eines „zu viel“ oder „zu schnell“ (in terms of ‚too much’ or ‚too fast’) verstanden wird, sondern in Bezug auf unsere Fähigkeit, Vorstellungen des Guten wie Freiheit, Gleichheit usw. authentisch umzusetzen (Kap. 3).183 Wichtig ist zu bemerken, dass der Ton von Taylors Diagnose der Moderne frei von pessimistischen Zügen ist. Es liegt Taylor fern, ein Hinausgehen aus der Moderne – etwa eine Postmoderne – zu befürworten. Im Hinblick auf die Vorteile, die die Moderne mit sich bringt, weist er auf die Aufgabe hin, die Moderne zu „retten“, statt Abschied von ihr zu nehmen (Dies ist der Fall im Antirationalismus der Postmoderne, die sich durch den – alle Vernunft zum Schweigen bringenden – Relativismus und den radikalen Antimodernismus auszeichnet). Daher ist eine Diagnose notwendig, die wichtige Züge der Moderne adäquat darstellt. Eine adäquate Darstellung muss für Taylor insbesondere die in der Moderne dominanten Vorstellungen des Guten, Begriffe der menschlichen Selbstverwirklichung (‚human fulfilment’), der menschlichen Vorzüglichkeit (‚human excellence’) und ihre mögliche Verzerrung ins rechte Licht zu bringen. Denn diese Konzeptionen konstituieren genau das, was er „moderne Identität“ nennt. Es stellt sich hier die Frage: welche sind die Bedrohungen oder Verzerrungsgefahren, denen sich die moderne Identität gegenübergestellt sieht?
2.3 Unbehagliche Eigenschaften der Moderne Die moderne Identität ist für Taylor konfrontiert mit drei Verzerrungsgefahren, und zwar: der Individualismus, der Vorrang der instrumentellen Vernunft und der Freiheitsverlust. Diese sind näher zu erörtern. Das Prinzip der Autonomie steht zweifelsohne im Kern der modernen Identität. Um seine große Bedeutung zu fassen, reicht es nicht zu erwähnen, wie es durch Rechtssysteme übernommen, gewährleistet und geschützt wird, sondern muss man auch verstehen, was für Brüche es in Bezug auf vergangene Selbst- und Weltbilder bewirkt hat: „Wir leben heute in einer Welt, in der die Menschen das Recht haben, ihr eigenes Lebensmuster selbstständig zu wählen, ihrem eigenen Gewissen folgend zu entscheiden, welche
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Ebenda, S. 63.
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Überzeugungen sie vertreten wollen, und die Form der Lebensführung in zahllosen Hinsichten zu bestimmen, über die ihre Vorfahren keine Kontrolle hatten. Außerdem ist es generell so, dass diese Rechtsansprüche von unseren Rechtssystemen verteidigt werden. Prinzipiell werden die Menschen nicht mehr den Forderungen vermeintlich heiliger und einem höheren Jenseits angehöriger Ordnungen geopfert [...]. Früher sahen sich die Menschen als Bestandteil einer umfassenden Ordnung. In manchen Fällen handelte es sich dabei um eine kosmische Ordnung, eine ‚große Kette der Wesen’, in der die Menschen neben Engeln, Himmelskörpern und den übrigen irdischen Geschöpfen die ihnen angemessene Stellung einnahmen. Diese hierarchische Ordnung des Universums spiegelte sich in den Hierarchien der menschlichen Gesellschaft. Oft waren die Menschen an einem bestimmten Ort eingesperrt und nach Gebühr an eine Aufgabe und an einen Rang gebunden, aus denen auszubrechen kaum denkbar war. Die moderne Freiheit kam dadurch zustande, dass derartige Ordnungsgefüge in Misskredit gebracht wurden.“184 Die hierarchische Anordnung mit ihrer entsprechenden Verteilung der Aufgaben ist im neuzeitlichen Ordnungsbegriff grundlos geworden. Trotz zahlreicher Veränderungen in der Auffassung dieser neuzeitlichen Ordnung hat Taylor versucht, ihre Hauptmerkmale folgendermaßen zusammenzufassen: – Man geht von Individuen aus und versteht die Gesellschaft als eine Einrichtung um der Individuen willen, bzw. die „politische Gesellschaft als Werkzeug“ für etwas, das ihr vorausgeht.185 – Die so verstandene politische Gesellschaft garantiert für die Individuen die wechselseitige Achtung und das gegenseitige Entgegenkommen als gewinnbringenden Austausch. „Alle Differenzierungen innerhalb einer solchen Gesellschaft müssen mit Hilfe dieses Telos gerechtfertigt werden. Keine hierarchische oder sonstige Gesellschaftsform ist an und für sich gut.“186 Es wird also nicht auf die höchsten Tugenden abgezielt, sondern es geht einfach darum für die Individuen als freien Handelnden Existenzbedingungen zu schaffen.
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C. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O., S. 8f. „[D]ifferent classes and functions correspond to different links in the chain of being. Each is necessary for the other and for the whole, and according to the order of things. Once this view is swept aside, the basic justification of hierarchy disappears. All self-determining subjects are alike in this crucial respect. There is no further valid ground for hierarchy as an unquestionable unchanging order of precedence.“ (C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 72; siehe auch ders., „Nationalism and Modernity“, in Dilemmas and Connections, a.a.O., S. 86-89). C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 293. Ebenda
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– Im Rahmen dieser neuen Perspektive, die von Individuen ausgeht (Merkmal 1) lässt sich der Dienst der Gesellschaft wesentlich als Verteidigung der Rechte des Individuums verstehen. „Freiheit ist ein für diese Rechte ausschlaggebender Faktor. Ein Beleg für die Wichtigkeit der Freiheit ist die Forderung, die politische Gesellschaft müsse auf die Zustimmung derjenigen gründen, die durch sie gebunden sind.“187 Taylor hat sich in seinen Werken intensiv mit dieser Idee der neuzeitlichen Ordnung befasst, weil er sie als grundlegend ansieht. Sie tritt zwar zunächst als Theorie auf, aber sie trägt maßgeblich zur Prägung der sozialen Vorstellungsschemata bei. Unter soziale Vorstellungsschemata versteht Taylor „Vorstellungen, die sich die Menschen von ihrer sozialen Existenz machen oder sowie von der Art ihres Zusammenseins, von den Abläufen im Verhältnis zwischen ihnen und ihren Mitmenschen, von den normalerweise erfüllten Erwartungen sowie von den tieferen normativen Begriffen und Bildern, die diesen Erwartungen zugrunde liegen“.188 Bloße theoretische Entwürfe sind sie nicht, denn sie betreffen nicht nur eine Elite oder einer kleinen Minderheit, sondern sie sind gemeinsam und reichen bis zu einer umfassenderen und tieferen Ebene, d.h. sie äußern sich in Bildern, Geschichten, usw. und beeinflussen die gemeinsame Sichtweise und die sozialen Praktiken. Bei der Erörterung der ausschlaggebenden Merkmale der neuzeitlichen Vorstellung der moralischen Ordnung stellt Taylor fest, dass die Hervorhebung der Freiheit überdeterminiert war. Diese Tatsache muss ihm zufolge auf den historischen Kontext der Zurückweisung der hierarchischen Ordnung zurückgeführt werden, den er hier schildert. All dies betrachtend kann gesagt werden, dass der Vorgang der Individualisierung zwei Gesichter hat. Auf der einen Seite steht die individuelle Freiheit als das Grundprinzip, um das die Gesellschaft gestaltet werden muss. Menschen werden als Wesen angesehen, die ihren Zweck in sich selbst tragen; ihre Freiheit besteht unter anderem darin, dass sie keiner prä-existierenden Ordnung Loyalität schulden, sondern nur den von ihnen im Einvernehmen geschaffenen Strukturen und Vorschriften. Dazu kommt, dass dieses Verständnis von Freiheit auch das Verständnis dessen veränderte, was die menschliche Natur selbst einfordert. Anders als in der traditionellen Moral, werden nicht länger höherwertige Aktivitäten (z.B. die Kontemplation) von den Zwängen der Befriedigung gewöhnlicher Bedürfnisse unterschieden.189 Auf der anderen Seite bringt das Prinzip der Autonomie die Sorge mit sich, in einer extremen Selbstbezogenheit und damit Verflachung des Sinns zu münden. Darauf weisen Autoren hin, die eine Art heroische Dimension des Lebens verteidigen möchten. Ihnen zufolge geht diese Dimension verloren, da dem Menschen das Gefühl für einen höheren Zweck (etwas, wofür es sich zu sterben lohnt) fehle. Das einzige, wonach letzte Menschen streben, ist, so Nietzsche, ein „erbärmliches Behagen“.190 Für Taylor hängt dieser Verlust mit der 187 188 189 190
Ebenda, S. 294. Ebenda, S. 295. „Siehe Erläuterungen in C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 69f. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 15.
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Tatsache zusammen, dass Menschen den umfassenderen Blick verloren und ihr individuelles Leben in den Mittelpunkt gerückt haben. Diese Situation droht, mit Tocqueville gesprochen, den Einzelnen auf sich selbst zurückzuwerfen und „ihn gänzlich in die Einsamkeit seines eigenen Herzens einzusperren.“191 Taylors Besorgnis erklärt sich aus einer starken Tendenz der modernen Kultur, den Standpunkt des Selbst überzubetonen, so dass die Tatsache in Vergessenheit gerät, dass das Selbstverständnis, die Selbstbeschreibung, die Selbstbeobachtung, die Selbsterkenntnis crucial references (Verhältnisse zu Anderen, der Welt, Vorstellungen des Guten) voraussetzen: „The very idea of individuals who might become aware of themselves and then only subsequently, or at least independently determine what importance others have for them and what they will accept as good belongs to post-Cartesian, foundationalist fantasy. Once we recognize that our explicit thoughts can only be entertained against a background sense of who and where we are in the world and among others and in moral space, we can see that we can never be without some relation to the crucial reference points [...]: world, others, time, the good. This relation can, indeed, be transformed as we move from one age or culture to another, but it cannot just fall away. We cannot be without some sense of our moral situation, some sense of our connectedness to others.“192 Für Taylor wirkt sich die Nicht-Berücksichtigung vom Verhältnis des Individuums zu den Anderen und höheren Zwecken, Werten bzw. Idealen störend auf seine Identität aus: „The question is ‚Who am I?’ The answer points to certain values, certain allegiances, a certain community perhaps, outside of which I could not function as a fully human subject. Of course, I might be able to go on living as an organism outside any values, allegiance, or even community. But what is peculiar to a human subject is the ability to ask and answer questions about what really matters, what is of the highest value, what is truly significant, what is most moving, most beautiful, and so on. The conception of identity is the view that outside the horizon provided by some master value or some allegiance or some community membership, I would be crucially crippled, would become unable to ask and answer these questions effectively, and would thus be unable to function as a full human subject […]. I may come to realize that belonging to a given culture is part of my identity, because outside of the reference points of this culture I could not begin to put to myself, let alone answer,
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A. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart, 1962, S. 240. C. Taylor, „Modernity and the Rise of the Public Sphere“, a.a.O., S. 258.
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those questions of ultimate significance that are peculiarly in the repertory of the human subject. So this culture helps to identify me.“193 Taylor hält an der Idee fest, dass zur Bildung und Erhaltung stabiler Identitäten höhere Zwecke, Werte bzw. Ideale unentbehrlich sind, will man nicht eher der Krise huldigen. Verflachung, Verengung, abnorme Selbstbezogenheit sind es, die den Individualismus zu einer beunruhigenden Eigenschaft moderner Kultur machen. Angesichts dieser Problemlage empfiehlt Taylor eine interdisziplinäre Arbeit. Die Relevanz der Interdisziplinarität für die Philosophie besteht darin, dass man nicht über den Menschen reden soll, ohne sich zuvor zu fragen: Wie bildet sich der Mensch aus? Welches sind seine Ressourcen? Wie entfalten sie sich? Wovon lebt er? Genau in Bezug auf diese Fragen entstehen für Taylor sowie die obigen zitierten Autoren (Kristeva und Gauchet) Probleme, weil die modernen Gesellschaften nicht nur nicht allzu geeignete Antworten darauf bieten oder sie nicht erfinden, sondern auch die Rolle der höheren Zwecke bzw. Idealen und der sozial-kulturellen Matrix im Grundbau der Individuation nicht dementsprechend zu begreifen scheinen. Im Hinblick darauf drängt sich eine Frage auf: Warum tendiert die Moderne in weiten Teilen dazu, eine Gegenströmung zu dem normalen Entwicklungsprozess des Individuums zu sein? Einen einleuchtenden Entwurf der Antwort finden wir bei Michael Theunissen, wenn er das Problem der Moderne betont: „Indem der Modernismus [die Moderne] sich von der Möglichkeit distanziert, Selbstverwirklichung als Menschenwerdung aufzufassen, entfernt er sich zugleich von der Idee eines solch kommunikativen Selbstwerdens.“194 Angesichts dieser wichtigen Bemerkung empfiehlt sich, unter der Selbstverwirklichung nicht die Verwirklichung der je eigenen Individualität oder Vereinzelung zu verstehen, sondern die Humanisierung des Individuums bzw. die Verwirklichung des Menschen mit seinen Mitmenschen oder die Verwirklichung des Menschen in seinen Bindungen. Darin besteht für Taylor die Bedingung einer gelingenden personalen Identität: „[D]ie eigene Identität kann ich nur vor dem Hintergrund von Dingen definieren, auf die es ankommt. Wollte ich jedoch die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und überhaupt alles ausklammern, was ich nicht in meinen eigenen Inneren 193
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C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 45. Diese Ansicht kann durch folgende Äußerung von Lee Dorian, dem ehemaligen Sänger der ‚Death-Metal’ Band ‚Napalm Death’, illustriert werden: „Ich bin jetzt 27. Black Sabbath lernte ich kennen, als ich so ungefähr 15 war. (Heavy) Metal mochte ich früher eigentlich nie so recht, ich war mehr Punk-orientiert [...]. Das erste Mal, das ich mich musikalisch mit etwas identifiziert habe, also nicht nur die Musik gemocht habe, sondern so einen Vibe gespürt habe, geglaubt habe, da sei eine höhere Wahrheit zu finden, etwas, das dem Leben Sinn gibt, das war bei diesen Crass-Sachen – anarchistische Punkkommunen, Hippies, Freaks und großartige Musik zwischen Discharge, Antisect und eben Crass.“ (R. Müller, „Cathedral. Im Würgegriff der Zeit“, in Metal Hammer, Heft 11/1995, S. 116f. Zitiert nach H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 393.) M. Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewusstseins. Berlin, 1982, S. 6.
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vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes195 oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist. Die Authentizität196 ist keine Widersacherin der Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst, sondern sie setzt solche Forderungen voraus.“197 Taylors Ansicht, die ein rein subjektivistisches Verständnis von Authentizität vertreibt, findet Unterstützung bei Bernhard Waldenfels, der sich für ein „Nicht-egologisches Bewusstseinsfeld“ einsetzt oder gegen einen „egozentrischen Aufbau des Bewusstseinsfeldes“ angeht:
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Für den Sinnverlust der modernen Gesellschaften sucht Taylor nach Lösungen. Die Berufung auf den Glauben ist eine davon. Die Signifikanz des menschlichen Lebens soll, so Taylor, theistisch erklärt werden und nicht in unserer gegenwärtigen Art und Weise, die nicht theistisch ist, den Kosmos gar nicht, und den Menschen nur in seiner Immanenz in Anspruch nimmt (QS, S. 600). Diese Vorstellung von Immanenz bezeichnet Taylor als ‚engen Subjektivismus’. Authentizität wird bei Taylor in The Ethics of Authencity zu einem zentralen Kennzeichen gelingender Identität erhoben und bedeutet: „mit sich im Einklang zu sein“, „Treue zu sich selbst“. In Anlehnung an Herder definiert Taylor Authentizität als eine Lebensweise, in der ich versuche, meine Identität bzw. „das Besondere meiner Individualität“ nicht einfach von anderen zu adoptieren, sondern als „eigene originelle Daseinsweise“ auszubilden (siehe C. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O., S. 57). Eine authentische Person ist diejenige, für die ein sinnvolles Leben eine Selbstfindung erfordert. Sie handelt als Individuum auf Basis eigener Überzeugung. Bedeutet dies, dass sie ihre eigene Identität in „Verschlossenheit“ und „im Alleingang“ entwickelt? Die Antwort ist nein. „Die Entdeckung der eigenen Identität heißt nicht, dass ich als isoliertes Wesen sie entschlüssele, sondern gemeint ist, dass ich sie durch den teils offen geführten, teils verinnerlichten Dialog mit anderen aushandele. Aus diesem Grund verleiht die Entwicklung eines Ideals der innerlich erzeugten Identität der Anerkennung neue und maßgebliche Bedeutung. Meine eigene Identität ist entscheidend abhängig von meinen dialogischen Beziehungen zu anderen.“ (Ebenda). Die Authentizität setzt soziale Bedingungen und einen Werthorizont voraus. Ziel von Taylors Ausführungen über die Authentizität ist unter anderem zu zeigen, dass das Individuum in einer demokratischen Gesellschaftsordnung um seine Identität mehr kämpfen muss. In früheren Gesellschaftsordnungen war die Identität durch die soziale Stellung und die damit einhergehende Rolle im Wesentlichen bestimmt. Die neue Situation wirft das Problem der Anerkennung in zugespitzter Form auf. Man muss sich selbst dafür einsetzen. Identität und Anerkennung sind in der Gegenwart eng verbunden. C. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O., S. 51.
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„Statt Selbsterhaltung als Grundbewegung vielmehr Selbstbildung durch Identifikation, durch Symbiose, Bindung und Ablösung – Geburt des Selbst. Je suis un autre. Spiegelphasen. Autarkie ist ein verzwungenes Ideal, wenn es am Anfang steht. Was Egoismus heißt, wäre eine misslungene Identifizierung.“198 Dank der verbesserten Auffassung von Selbstverwirklichung eröffnet sich ein Weg zur Überwindung der Verflachung (des Verblassens der Zwecke), Verengung, abnormen Selbstbezogenheit, die den Individualismus zu einer beunruhigenden Eigenschaft moderner Kultur machen. Beunruhigend ist aber auch der übermäßige Einfluss der instrumentellen Vernunft199. Denn sie macht die kommerzielle, kapitalistische und schließlich bürokratische Lebensweise bzw. Wurzellosigkeit des Subjekts zum wesentlichen Grundzug der modernen Gesellschaften. Gauchet meint nichts anderes, wenn er die Tatsache moniert, dass die soziale Bindung in einer instrumentellen Gesellschaft mehr eine Folge als eine Verantwortung ist: „Das liberale Individuum, das im Recht ist, seine soziale Verankerung zu ‚ignorieren’, ist ein Produkt der zugespitzten Bürokratisierung, die die Arbeit an seiner Stelle leistet. Davon ausgehend kann man vom kulturellen Triumph des Marktmodells in unseren Gesellschaften reden. Die implizite Produktion der sozialen Bindung durch den Staat ermöglicht, dass die explizite Bindung lediglich als ein globaler Effekt der Aggregation von Handlungen erlebt wird, in der jeder nur seine Vorteile und Interesse berücksichtigt. Für die entbundenen Individuen ist die soziale Bindung eine Folge, aber keine Verantwortung. Das, was zuerst ein nur für den Bereich der Wirtschaft geeignetes Modell war, ist nun im Begriff bis in alle anderen Bereiche zu reichen.“200 Aus dem Vorausgehenden zeigt sich, dass ein besseres Verständnis des Individualismus fordert, dass man seinen Zusammenhang mit der Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft in den modernen Gesellschaften betrachtet. Die Produktivitätsmaxime befindet sich dabei im Einklang mit der der Moderne entspringenden Konzeption der Autonomie. Damit meint Taylor, dass die fortwährende Akkumulierung von Gütern, die mit der Produktionsdynamik einhergeht, auf eine instrumentelle Auffassung der Dinge in unserer Umwelt angewiesen ist. Und die instrumentelle Auffassung ist in Bezug auf den Menschen selbst zugleich als eine „declaration of independence from the nature“ zu verstehen.201 Denn nicht
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B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch, a.a.O., S. 31. Unter instrumentelle Vernunft wird folgendes verstanden: „die Art von Rationalität, auf die wir uns stützen, wenn wir die ökonomische Anwendung der Mittel zu einem gegebenen Zweck berechnen. Das Maß des Erfolgs ist hierbei die maximale Effizienz, also das günstigste Verhältnis zwischen Kosten und Produktivität.“ (C. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O., S.11) M. Gauchet, La démocratie, a.a.O., S. 246. Übersetzung von CN. C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 76.
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die vermeintliche Ordnung der Dinge erlegt den Menschen ihre Zwecke auf. In dieser Hinsicht besteht der herausgehobene Status des Menschen in seiner Macht, die Dinge zu dominieren, statt von ihnen dominiert zu werden. Der modernen Identität liegt also eine Idee zugrunde, die Freiheit und Effektivität verknüpft, zugrunde. In dieser Verbindung liegt aber auch, so Taylor, die potentielle Schwachstelle moderner Gesellschaft. Sobald der Akkumulationsmodus nicht mehr als Beleg von Freiheit und Effektivität erscheint, sondern zum Ausdruck purer Genusssucht verkommt, tritt eine Vertrauenskrise auf. Denn die Gesellschaft erscheint als nunmehr rein materialistisch. Um auf diese Bedrohung aufmerksam zu machen, wirft Taylor folgende Fragen auf: „Why should the mobile private space we travel in become ever more rapid and high-powered? Why must labour-saving mechanization continue without stop, even up to electric toothbrushes and similar absurdities? This could never be justified intellectually, but somehow the implication is that more and more powerful accoutrements mean more of the fulfilment that they are meant to make possible. The commodities become ‚fetishized’ – in a non-Marxist sense, endowed magically with the properties of the life they subserve, as though a faster car might actually make my family life more intense and harmonious.“202 Lässt sich aber Taylor auf eine (blinde) Verurteilung der instrumentellen Vernunft ein? Die Antwort ist nein. Denn Taylor betont deutlich und wiederholt die Vorteile, die die instrumentelle Vernunft mit sich bringt. Zur Illustrierung erwähnt er, dass die Konsumgesellschaft so gestaltet ist, dass sie manchen Bestrebungen der modernen Subjekte durchaus gerecht wird. So ermöglicht sie, dass sich die Konsumenten einen privaten Bereich zwecks der Führung eines autonomen Lebens einrichten. Besorgniserregend ist dagegen die Tatsache, dass diese Vernunft dazu tendiert, unser Leben zu beherrschen, d.h. dass sich das ganze menschliche Leben an den Kriterien der instrumentellen Vernunft (Effizienz, maximale Produktionssteigerung, Kosten-Nutzen-Betrachtung) orientiert. Taylor macht mit Vehemenz klar, dass sich das Gewicht, das man der instrumentellen Vernunft beizumessen geneigt ist, überaus schädlich auswirken kann. Es wird schwierig für den modernen Menschen, weiter an seine Machtkontrolle zu glauben. Die Kehrseiten der Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft erschüttern ihn und machen ihn tief betroffen.“203 Um seine Erläuterung der Kehrseite der Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft zu bereichern und zu verdeutlichen, hat Taylor in seinem Buch Quellen des Selbst Kritiken in zwei Bereichen eingeordnet: 1. Experiential consequences (Bereich der Erfahrung): Es handelt sich hier um ein Sinnvakuum, mit dem das menschliche Leben konfrontiert ist. Dies kann bewirkt werden, indem die von der instrumentellen Gesellschaft gebotenen und verherrlichten Bilder dazu führen, tiefere Sinngehalte auszuschließen oder schwer erkennbar zu machen. Daraus folgt, dass 202 203
C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 80. Ebenda, S. 80f.
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die instrumentelle Haltung gegenüber den eigenen Gefühlen unser Inneres spaltet und einen Keil zwischen ‚reason’ und ‚sense’ treibt. Eine von der instrumentellen Vernunft geleitete Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, „in deren kaufmännisch, kapitalistisch und schließlich bürokratisch verfasster Existenzweise sich etwa eine utilitaristische Einstellung zu den Werten eingebürgert hat“ tendiert dazu, „das Leben seiner Fülle, seiner Tiefe oder seines Sinns zu berauben“.204 Diese Situation führt dazu, dass im Bereich der Erfahrung heldenmütige Handlungen und ehrwürdige Lebensziele, d.h. „Dinge, für die es sich lohnt, in den Tod zu gehen“, nicht mehr berücksichtigt werden. 2. Public consequences (Bereich der Öffentlichkeit): Hier ist die Rede davon, dass die desengagierte, instrumentelle Lebensweise die öffentliche Freiheit, also die Einrichtungen und Verfahrensweise der Selbstregierung, gefährdet (oder tendenziell zunichtemacht). Taylor erkennt eine Variante dieses Vorwurfs in Tocquevilles Vorstellung, dass „die zersplitterte, instrumentelle Gesellschaft sowohl den Willen zur Aufrechterhaltung dieser Freiheit schwächt als auch zugleich die lokalen Ausgangspunkte der Selbstregierung untergräbt, von denen die Freiheit entscheidend abhängig ist“.205 Auch auf die marxistische Kritik an der Erzeugung ungleicher Machtverhältnisse oder auf die gegenwärtige Debatte um die ökologische Verantwortungslosigkeit206, die die Zukunft des Menschengeschlechts und die Umwelt in großer Gefahr bringt, kann hier das Augenmerk gelenkt werden. Taylor zufolge wird auch das Familienleben einer Krise ausgesetzt, indem die Einrichtungen der Industriegesellschaft die Mobilität der Subjekte erhöht.207 Die Steigerung von Konzentration und Mobilität in der modernen Gesellschaft führt dazu, dass sich Menschen von der Regierung entfremden. Damit verbindet sich ein weiteres Kennzeichen der unbehaglichen Situation der Moderne: Der Freiheitsverlust. Um diesen Aspekt des Freiheitsverlusts in seiner Bedeutung für Taylor angemessen zu verstehen, muss verdeutlicht werden, wie wichtig es ihm ist, die intellektuelle Tradition mit gegenwärtigen Problemen zu verknüpfen. Dies erschien ihm bereits in frühen Jahren als eine dringende Aufgabe, nachdem er von Oxford in sein Heimatland Kanada zurückgekehrt und der sozialdemokratischen Partei NPD beigetreten war. Diese neue Erfahrung hatte ihn aufmerksam gemacht auf die Diskrepanz zwischen den Aussagen der Politikwissenschaft und Philosophie und der Realität des politischen Lebens. Zum Beispiel schien das, was er den Studenten
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QS, S. 863. Dieser Vorwurf wurde schon von Tocqueville, Kierkegaard und Nietzsche geäußert. QS, S. 866. Zur ökologischen Verantwortungslosigkeit trägt auch, Taylor zufolge, die atomistische Einstellung des modernen Individuums bei. (siehe QS, S. 872f.) C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 83f. „A modern economy is by definition one undergoing growth and change. As such it requires a population that is mobile, both occupationally and geographically. […] The modern division of labor is multiform but shallow. That is, it is taken for granted that people can be retrained or at least that their children can.“ (C. Taylor, „Nationalism and Modernity“, in Dilemmas and Connections, a.a.O., S. 83)
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über Demokratie und Freiheit lehrte, in keinem Zusammenhang mit seinen eigenen Erfahrungen als Aktivist zu stehen. Dies war aber nur ein Aspekt eines allgemein in der nordamerikanischen Welt vorherrschenden Klimas. Wichtigen Fragen, wie der Frage nach der Identität wurde nur wenig Platz eingeräumt. Es wurde Taylor zufolge nichts zur Verschlechterung der Demokratie in großen bürokratisierten Gesellschaften gesagt, während Studien über bedeutende Autoren und Grundprinzipien Konjunktur hatten.208 Um dieses Defizit zu beheben, versuchte Taylor, neue Themen ins Spiel zu bringen – insbesondere das Problem des schleichenden Niedergangs der Demokratie. Dafür bezog er sich maßgeblich auf Tocqueville, einen Autor, der (ebenso wie Max Weber) nach Taylor eine Art blinden Fleck der Universitäten in Amerika bildete. Zwar wurde er nicht ignoriert, war aber allenfalls oberflächlich bekannt. Es bedurfte einer richtiggehenden Revolution, um an den Universitäten ein echtes Interesse an seinem Denken zu wecken. In diesem Zuge entwickelte sich ein neues Interesse an den bisher kaum berücksichtigen Facetten des Schicksals der Demokratie. In diesen Rahmen (das Schicksal der Demokratie) ist Taylors Rede von einem Freiheitsverlust angesiedelt. Der Freiheitsverlust wird hier als eine Folgeerscheinung des Individualismus und der instrumentellen Vernunft bzw. der Technisierung der Lebenswelt angesehen. Dies zeigt sich dadurch, „dass die Einrichtungen und Strukturen der industriell und technisch ausgerichteten Gesellschaft unsere Entscheidungsfreiheit stark einschränken und dass sie die Gesellschaften ebenso wie die Einzelpersonen dazu nötigen, der instrumentellen Vernunft ein Gewicht beizumessen, das wir ihr bei ernsten moralischen Beratungen niemals zubilligen würden und das sich sogar überaus schädlich auswirken kann“.209 Zur Illustrierung nennt Taylor unsere Erfahrung der eingeschränkten Freiheit bzw. der Ohnmacht, wo es darum z.B. angesichts der lebensbedrohenden Umweltkatastrophen wie die Ausdünnung der Ozonschicht geht, verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Gewaltige Schwierigkeiten, die diese Erfahrung auszeichnen, belegen, wie die instrumentelle Vernunft, sofern sie im Mittelpunkt des Aufbaus der Gesellschaft steht, „sowohl den Individuen als auch der Gruppe viel von ihrer Freiheit nimmt“. 210 Angesichts der Darstellung Taylors von mo-
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C. Taylor, „De l´anthropologie philosophique à la politique de la reconnaissance“ (Gespräch mit P. Lara), in G. Laforest, P. Lara, Charles Taylor, a.a.O., S. 352. C. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O., S. 15. Honneth ist der Ansicht, dass Taylor diesem zentralen Motiv (den unbehaglichen Eigenschaften der Moderne) seines Werkes in späteren Schriften nicht nachgegangen ist, und hat daher unlängst versucht, „unter politisch und theoretisch veränderten Bedingungen“ eine Alternative der Kritik der kapitalistischen Marktwirtschaft zu formulieren (Siehe A. Honneth, „Markt und Moral“, in M. Kühnlein, M. LutzBachmann (Hg.), Unerfüllte moderne?, a.a.O., S. 78. Ebenda, S. 15f.. Als ein weiteres Beispiel verweist Taylor auf den Umstand, wie schwer ein individueller Lebensstil durchzuhalten ist, wenn er in einem oder mehreren Aspekten dem als „normal“ vorausgesetztem widerstrebt. Manche modernen Gesellschaften sind zum Beispiel so
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dernen Gesellschaften liegt Castoriadis richtig, wenn er das zunehmende capitalist imaginary als „the central social imaginary of our times, which shapes the regime, its orientations, values, what it is worth living and dying for, the thrust of society, even its affects, and the individuals“.211 Zahlreiche Beispiele (Ölkrieg im Irak, Handy und Coltankrieg im Kongo usw.) illustrieren, wie wirkungsvoll der Markt die Politik der Regierung und das Leben der Individuen bestimmt bzw. gravierende Krisen auslöst. Wieviele Menschen sind bereit, den Luxus ihres Lebensstils zu überdenken, damit die Menschenmassen in anderen Teilen der Welt nicht weiter den Preis ihres Konsums, unter anderem mit ihrem Leben, bezahlen? Wieviele Menschen haben noch die Sicherheit, oder zumindest das Geühl, dass sie durch ihr (individuelles oder kollektives) Handeln eine Verbesserung bzw. eine Änderung des Gesichts der Gesellschaft bewirken können? Wieviele glauben noch an die Autonomie und die Demokratie (bzw. an deren Wirkung), die auch als Merkmale der modernen Gesellschaften betrachtet werden? Auf seiner Seite stellt Habermas fest, dass die zeitgenössische Erfahrung des Freiheitsund Sinnverlustes aus der Herrschaft sinnloser Mechanismen entstammt. Es genügt zu sehen, wie der Markt und der bürokratisierte Staat durch Steuerungsmechanismen ihre Zwecke erreichen, ohne, dass die Individuen noch die Möglichkeit haben, frei und zwanglos zu handeln und somit ihr soziales Leben mit einem Sinn auszustatten. Habermas hat den springenden Punkt deutlich zusammengefasst: „Der dynamische Zusammenhang, zu dem Wissenschaft, Technik, Industrie, Militär und Verwaltung heute verflochten sind, strukturiert sich über den Köpfen der Menschen. Der technische Fortschritt folgt seiner Richtung ohne Direktiven von außen oder von unten, er wird gleichsam zu einem Naturprozess.“212 Aber wo die bürgerliche Gesellschaft die Freiheit verliert, wird auch die Legitimationsbasis der Gesellschaften gebrochen. Im politischen Bereich taucht dieses Problem auf, weil das politisch administrative System die Steuerungsfunktionen einer Wirtschaft übernimmt und sie in andere Bereiche der Gesellschaft umsetzt. Demzufolge werden seine Entscheidungen unabhängig von den Motiven der Bürger, so dass eine Frontstellung zwischen ihm und der demokratischen Willensbildung der Bürger entsteht. Daher erlebt für Habermas die spätkapitalistischen Gesellschaften heutzutage nicht nur eine intellektuelle Verdrängung des Gesprächscharakters des sozialen Lebens, sondern auch eine reale Verdrängung von Verständigungsprozessen (Diese sind nicht mehr frei und zwanglos). Als Lösungsentwurf stellt
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angelegt, dass das Individuum ohne Auto nicht zurechtkommt. Der Verweigerer sieht sich in einer Zwangssituation, weil der öffentliche Verkehr zugunsten des Privatautos abgebaut oder vernachlässigt wird (S. 16). Capra verdeutlicht den Freiheitsverlust am Beispiel der Weltwirtschaft. F. Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Bern, 1985, S. 245. C. Castoriadis, Figures of the Thinkable. Stanford, 2007, S. 137. J. Habermas, Theorie und Praxis. Frankfurt/M., 1978, S. 343.
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er eine kommunikative Ethik, die einen hinreichenden Konsens nur für verallgemeinerungsfähige Interessen abzielt.213 Aus dem Vorausgehenden zeigt sich, dass sowohl Taylor als auch Habermas die zunehmende Rolle des Staates, die Vertiefung der Anonymität, die Zuspitzung des Desinteresses am Staatswesen und die Verflachung des Lebens bekämpfen. In diesem Zusammenhang bringt Taylor den Begriff der Verfremdung (alienation) an: Es kommt zur Verfremdung, wenn das öffentliche Erlebnis, zu dem man gehört, an Bedeutung einbüßt. Daraus resultiert ein tief empfundenes Unbehagen: Die öffentlichen Institutionen stellen den Bürgern und Bürgerinnen Bilder ihrer selbst vor, die ihr tiefes und authentisches Selbstverständnis leugnen und erschüttern.214 Taylor deutet ein Paradox der Moderne an. Einerseits beinhaltet das neue Verständnis von Freiheit die herausragende Bedeutung der Gleichheit, insofern die Verabschiedung der traditionellen Ordnungen oder Hierarchie festgesetzt und dem freien Individuum ein großes Gewicht beigemessen wird. Anderseits scheint ein Individuum aufzutauchen, dass über keine politische Kontrolle verfügt, dessen „staatsbürgerliche Würde“ daher von „Einrichtungen und Strukturen der industriell und technisch ausgerichteten Gesellschaften“ gefährdet wird. Wie sieht nun Taylors Rettungsversuch (exercise in retrieval) des Projekts der Moderne aus? Am Anfang der Moderne stand eine radikale Infragestellung. Der Wegfall der traditionellen Ordnungen macht die Aufgabe dringlich, Lösungsentwürfe oder neue Bezugspunkte zu finden. Aber die Schwierigkeit besteht darin, dass man nicht mehr weiß, was moralisch ist (und somit was die Gesellschaft zusammenhält). Waldenfels verdeutlicht diese Problemlage folgendermaßen: „[D]ie neuzeitliche Zerklüftung und Zersetzung der kosmischen, sozialen und religiösen Ordnungen reißt ein Vakuum auf. Mit dem Bröckeln des Schlußsteins wird das Ganze brüchig, und wo das Ganze brüchig ist, entsteht das bescheidenere Bedürfnis, wenigstens einen Grundstein zu legen, der ein sicheres Fundament verspricht. Schwindet die Gesamtordnung,
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Siehe J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt/M., 1973. Wir beziehen uns auch auf die erhellende Zusammenfassung von Habermas’ Anliegen bei U. Bermbach „Die Kernfrage aller Reform“, in Die Zeit, Nr. 23, 31. Mai 1974, S. 1-3. Siehe C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 284; ders., Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O., S. 281f. Es entsteht eine Umwälzung der gesamten Gesellschaft: „Eine Gesellschaft, in der die Menschen zu Individuen werden, die ‚in die Einsamkeit ihres eigenen Herzen eingesperrt sind’, ist so beschaffen, dass nur wenige den Wunsch haben, sich aktiv an der Selbstregierung zu beteiligen. Sie werden lieber zu Hause bleiben und die Genugtuungen des Privatlebens genießen, solange die jeweils herrschende Regierung die für diese Genugtuungen erforderliche Mittel hervorbringt und sie umfassend verteilt.“ (S. 16)
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so bleibt doch der Rückzug auf eine Grundordnung. Was wir neuzeitlich als Moral bezeichnen, gehört zu den Versuchen, das entstehende Ordnungsvakuum zu füllen.“215 Beispielsweise für diesen Versuchen kann Hobbes erwähnt werden, „der alle Moral aus einer naturwüchsigen Amoral hervorgehen lässt“.216 Im Gegensatz zu Hobbes oder Nietzsche ist Taylor der Ansicht, dass das, was die Neuzeit auszeichnet, nicht der Abschied von Vorstellungen des Guten ist, sondern ihre Mutation. Anders gesagt, gründet sich das Problem der Moderne nicht im Wegfall von Vorstellungen des Guten, denn die modernen Gesellschaften verweisen auf Vorstellungen des Menschen und des Guten, die in ihren Bräuchen, Praktiken und Institutionen verkörpert sind. Taylor betont, „dass unsere Vorstellung von der guten Gesellschaft sich bis zu dem Punkt entwickelt hat, an dem Freiheit und Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder zu Wesensmerkmalen geworden sind“.217 In diesem Zusammenhang wäre es unzulänglich, den Übergang zur Moderne nur „in terms of a loss of traditional beliefs and allegiances“ zu betrachten.218 Gegen diese kurzsichtige Betrachtung betont Taylor: „Western modernity is in part based on an original moral outlook.“219 Er bezeichnet die Moderne daher als „an epoch without precedent“220 und pflegt darauf aufmerksam zu machen, dass „today we have to start from somewhere other than where our ancestors did“221. Werden die Tragweite und das Reichtum dieser eigenartigen moralischen Perspektive gefasst und hervorgehoben, dann eröffnet sich der Weg zur Lösung der Probleme, die die Moderne mit sich selbst bringt. Dies bedeutet für Taylor, dass die moderne Identität eine Komplexität darstellt, die auch Elementen zur Lösung ihrer eigenen inhärenten Konflikte enthält. „Modern history [...] is made up of movements and counter-movements in which typically modern dangers have bred typically modern defences. In this domain, the famous line form Hölderlin, often quoted by Heidegger, seems to hold true: Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“222 Angesichts der Hypertrophie, der unbehaglichen Eigenschaften der Moderne, bestehen die rettenden Kräfte innerhalb der Moderne selbst. Sie sind also weder in der Vergangenheit, noch in einer antimodernen Haltung zu suchen, sondern in dieser vielfältigen Moderne selbst. Die Komplexität der Moderne vorausgesetzt formuliert Taylor die These, 215 216 217 218 219 220 221
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B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral. Frankfurt/M., 1986, S. 16. Ebenda, S. 17. C. Taylor, „Replik“, a.a.O., S. 826. C. Taylor: „Modernity and the Rise of the Public Sphere“, a.a.O., S. 208. Ebenda, S. 213. C. Taylor, Modern Social Imaginaries. Durham and London, 2004, S. 48. Taylor stimmt an dieser Stelle Murdochs Analyse zu. (C. Taylor, „Iris Murdoch and Moral Philosophy“, in ders., Dilemmas and Connections. Selected Essays. Cambridge, Massachussets and London, 2011, S. 15.) C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 109f.
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dass der richtige Weg weder dem von den vorbehaltlosen Verfechtern empfohlenen noch dem von den rücksichtslosen Verächtern befürworteten Kurs entspricht. Taylor bleibt sich dessen bewusst, dass keine Einigkeit über die Lösung besteht, und die Aufgabe, die Moderne zu retten, keine Leichtigkeit ist. Allerdings will er Lösungsentwürfen nicht zustimmen, die aus einer mangelhaften Diagnose erfolgen. Daher lehnt er Ansätze ab, die z.B. eine Lösung vor allem in der Auseinandersetzung moderner Gesellschaften mit Kulturen sehen, die nicht oder kaum vom westlichen Individualismus und der westlichen Wissenschaft kontaminiert sind. 223 Kann man aber davon ausgehen, dass eine deutliche Grenzlinie zwischen dem Innen und dem Außen gezogen werden kann, ohne sich der Gefahr aussetzen, damit das, was Waldenfels „den Zirkel der kollektiven Selbstbezüglichkeit“ nennt (Kap. 7.5), zu fördern? Lässt sich aus interkultureller Sicht eine wahre Selbstinfragestellung ohne ‚Außen‘ vorstellen? Stellt der Westen eine Entität ohne das Fremde als das Außer-ordentliche dar? Taylor hält fest daran: „Western modernity might be powered by its own positive visions of the good. [...] It screens out whatever there might be of a spefic moral direction to Western modernity […]“.224 Für ihn ist es nur nötig, die Ressourcen innerhalb der Moderne selbst zu artikulieren, d.h. auf die oben erläuterte hermeneutische Funktion der Vernunft oder Arbeit der Befreiung zurückzugreifen. Daher fördert er ein Vorgehen, „bei dem unsere stärksten Bestrebungen im Sinne der Hypergüter [hypergoods] keine Selbstverstümmelung als Preis verlangen. Ein solcher Ausgleich [reconciliation] ist meines Erachtens möglich; eine unerläßliche Bedingung ist jedoch die, dass wir uns die Möglichkeit verschaffen, den Gesamtbereich der Güter anzuerkennen, denen wir unbedingt die Treue halten müssen“. 225 Durch die Betonung der Artikulierung nimmt Taylor die vorherrschende Form der Moralphilosophie, die jeder Artikulierung der Vorstellungen des Guten vermeidet, in Angriff: „Sofern es gelingt, uns durch artikuliertes Verhalten [articulacy] zu öffnen und die verkrampften Verdrängungshaltungen zu lockern, so liegt das zum Teil daran, dass wir damit die Möglichkeiten erhalten, den Gesamtbereich der Güter, nach denen wir uns im Leben richten, anzuerkennen. Ferner liegt es daran, dass uns damit unsere Moralquellen erschlossen werden, so dass ihre Kraft in unser Leben einströmen kann. Die verkrampften Formulierungen der vorherrschenden Philosophie stellen bereits Verneinungen dar, durch die eine Art von Gut einer anderen aufgeopfert wird, wobei sie allerdings in einer logischen Form erstarrt sind, die es unmöglich macht, sie auch nur in Frage zu stellen. Artikuliertheit ist eine entscheidend wichtige Bedingung des versöhnlichen Ausgleichs.“226
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Siehe Q. Skinner, „Moderne und Entzauberung“, a.a.O., S. 617. C. Taylor, A Secular Age. Cambridge, 2007, S. 571. QS, S. 204. Ebenda
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Die Aufgabe der Artikulierung läuft für Taylor darauf hinaus, zu zeigen, dass die Moralquellen der modernen Identität „reicher fließen, als ihre Verächter zugeben, während die verkümmerte philosophische Sprache ihrer eifrigsten Verfechter bewirkt, dass diese Fülle der Gehalte unsichtbar bleibt. Es ist dringend erforderlich, die Neuzeit vor ihren besonders vorbehaltlosen Befürwortern zu schützen [...]“.227 Die Aufgabe der Artikulierung nimmt bei Taylor die Form eines historischen Unterfangens an. In dieser Hinsicht behauptet er: „[T]he kind of redescription we need in order to be in a better position to take a justified stand frequently requires that we recover previous formulations, precisely the ones we need to give an account of the origins of our present thoughts, beliefs, assumptions, actions.“228 Aber ohne auf die Frage nach Fremdheit (das Motiv des Fremden) einzugehen, die sich schon bei der Erwähnung des Begriff der origins stellt, ohne nachzudenken, ob man überhaupt „ganz und gar bei sich“ sein kann, setzt Taylor bekräftigend seine Überlegungen fort: „In order to understand properly what we are about, we have to understand how we got where we are. We have to regress to the last perspicuous disclosure, which in the case of philosophical issues will be a formulation. That is why doing philosophy, at least if it involves such creative redescriptions, is inseparable from doing the history of philosophy.“229 In seinem Hauptwerk Sources of the self. The Making of the Modern Identity hat er sich dieser Aufgabe ergeben, die Entwicklung der modernen Einstellungen nachzuzeichnen bzw. eine entstehungsgeschichtliche Darstellung gewaltiger Veränderungen der Vorstellungen des Guten zu liefern. Nicht nur die Lehren der Philosophen werden hier berücksichtigt, sondern auch „bedeutende Ungesagte“, die zahlreiche Haltungen in der modernen Zivilisation prägen. Geschichte bedeutet für Taylor also auch „Mentalitäten“. All dies zu untersuchen soll einem neuen Selbstverständnis und den „tiefsten moralischen Bindungen“ der Moderne Impulse geben.230 Diese Aufgabe der Artikulierung versteht Taylor auch als eine Arbeit der Befreiung angesichts der Tatsache, dass die Vorstellungen des Guten nicht immer explizit zutage treten. Sie können unserem Blick entgehen, einfach weil sie im Hintergrund der sozialen Praktiken unartikuliert (inarticulate) bleiben. Taylors intuitive Gedanke „ist einfach der, dass wir in unserer Kultur geneigt sind, den Geist zu ersticken. […] Wir haben so viele Güter aus unserer offiziellen Geschichte hinausin-
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Ebenda, S. 10. C. Taylor, „Philosophy and its history“, in R. Rorty, Q. Skinner, et al. (Hg.), Philosophy in History. Essays in the Historiography of Philosophy, Cambridge, 1984, S. 17-30, hier S. 18. Ebenda, S. 28. QS, S. 200.
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terpretiert und ihre Kraft derart tief unter Schichten philosophischer Vernünftelei begraben, dass sie in Gefahr sind zu ersticken. Da dies unsere Güter, unsere menschlichen Güter sind, sind eigentlich wir es, die da ersticken. Die Absicht dieses Buches war eine der Rückgewinnung. Es sollte der Versuch gemacht werden, verschüttete Güter durch Neuartikulierung wiederzuentdecken und so dafür zu sorgen, dass diese Quellen erneut Kraft verleihen“.231 Wir unterlassen hier, Taylors entstehungsgeschichtliche Darstellung der Vorstellungen des Guten der Moderne zu erörtern.232 Wichtig ist die These, die in ihrem Hintergrund steht, verständlich zu machen, und zwar die der Unentrinnbarkeit der Vorstellungen des Guten. Selbst die Verneinung eines Guten ist nur unter der Voraussetzung eines anderen möglich, weil der menschliche Handelnde wesentlich ein wertendes Wesen (strong evaluator) ist. Dieser These entspricht die Tatsache, dass Taylor prinzipiell von deren Mutation oder Wandel der Vorstellungen des Guten ausgeht, und nicht von ihrem Verschwinden. Pointiert formuliert, in dem Zuge, in dem sich die Moderne von einer Art von Gütern verabschiedet hat, hat sie angefangen, das Gewicht auf andere Güter zu legen. „We need, partly, new trails because we have changed. We have grown into a different civilization from our medieval and even early modern forebears. We moderns may differ among ourselves as to what has happened in this phenomenon we call ‚modernity’, but it
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QS, S. 898f. .Taylors entwicklungsgeschichtlichen Darstellung der moralischen Quellen der Moderne ist nicht im Ganze zuzustimmen, z.B. wenn er sie in drei Bereiche teilt: „Am Anfang steht die theistische Grundlegung der Normen; darauf folgt eine zweite Fundierung, in deren Mittelpunkt ein Naturalismus der desengagierten Vernunft steht, der heutzutage szientistische Formen annimmt; ferner gibt es eine dritte Gruppe von Ansichten, die ihre Quellen im Expressivismus der Romantik oder in einer der modernen Nachfolgeanschauungen findet.“ (QS, S. 856). Die Grenzen und Zusammenhänge sind komplexer als Taylor es vorlegt. Daher versucht er – die Kritiken berücksichtigend – im Nachhinein Verbesserungen vorzunehmen. „Ich gestehe, dass ich beim Schreiben von Quellen des Selbst die großen Analysen von Denkern wie Weber in meiner Reichweite hatte. Ich habe seine Analysen, die einen Teil der Realität streichen, wieder aufgenommen […]. Mir ist jetzt mehr bewusst, dass deutsch-protestantische Autoren wie Hegel und Weber glaubten, der Protestantismus sei das Christentum. […]. Ich habe nun vor, von verschiedenen Formen des Katholizismus aber auch des Protestantismus zu sprechen, weil es große Unterschiede zwischen Lutheranern und Calvinisten gibt und so weiter.“ „Religion et modernité : un aller-retour“, Gespräch mit A. Robitaille und D. Tanguay, in Argument, Bd. 1, 5(automne 2002-hiver 2003), http://www.revueargument.ca/upload/ARTICLE/216.pdf, abgerufen am 18.12.2014.
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seems agreed by all that something important has changed. It is as though an earthquake has shifted the fields, and we can no longer entert he forest in the same way.“233 Der Wandel zur Moderne involviert also aus Taylors Sicht einen gewaltigen Wandel des Selbstverständnisses, der durch eine Neubestimmung der Vorstellungen des Guten gekennzeichnet ist. Diese Neubestimmung beinhaltet auch neue Weise für Individuen und Kollektive, sich selbst zu beschreiben. Darum ist auch der moderne Mensch nicht dem Nihilismus verfallen – er erlebt zwar ein Verschütten der Vorstellungen des Guten allenfalls, diese wirken jedoch im Verborgenen weiter. Mit dieser Erläuterung versteht sich Taylors Kritik an dem anthropozentrisch verkürzten Wertebewusstsein in der aufklärerischen Strömung: „Das ist es, was verdrängt worden ist von diesen seltsamen verkrampften Theorien der modernen Moralphilosophie, die den paradoxen Effekt haben, uns sprachlos zu machen im Hinblick auf einige der wichtigsten Fragestellungen im Bereich des Moralischen. Von den stärksten metaphysischen, erkenntnistheoretischen und moralischen Ideen der Neuzeit getrieben, beschränken diese Theorien unseren Gesichtswinkel auf die Determinanten des Handelns, und anschließend fassen sie unser Verständnis dieser Determinanten noch enger, indem sie die praktische Vernunft ausschließlich prozedural definieren. Den Vorrang der Moral hüllen sie völlig in Dunkel, indem sie es nicht mit etwas Substantiellem, sondern mit einer Form des vernünftigen Denkens gleichsetzen, um das sie eine feste Grenze ziehen. Sodann werden sie dazu bewogen, diese Grenze umso ingrimmiger zu verteidigen, als dies ihre einzige Möglichkeit ist, den Hypergütern gerecht werden, die ihre Triebfedern sind, obwohl sie sie nicht anerkennen können.“234 Diese Moraltheorien verwickeln sich Taylors Meinung nach in einen Widerspruch, indem sie das explizit leugnen, was sie implizit voraussetzen, nämlich eine substantielle Basis der Moral. Taylors „organizing idea“ ist, so N. Smith, dass die menschliche Realität durch „layers of meaning“ strukturiert ist.235 Dies bedeutet, dass jede Beschreibung des menschlichen Handelnden als Wesen ohne einen „minimalen Grad an Reflexionsfähigkeit“ – um Taylors Ausdruck zu verwenden –, einer theoretischen Verstümmelung des Handelnden gleichkommt. Denn sie entzieht letzterem einen entscheidenden Teil seines Wesens. Taylor hat philosophische anthropologische Grundlagen gelegt, auf denen sein ethisches und politisches Denken basieren wird, und um die und ihre sich in verschiedenen Bereichen entfaltenden Implikationen sich die Diskussion im Folgenden drehen wird.
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C. Taylor, „Iris Murdoch and Moral Philosophy“, in Dilemmas and Connections, a.a.O., S. 15. Taylor stimmt hier Murdochs Rede von „Our general awareness of good, or goodness, is with us unreflectively all the time“ zu, wenn auch er ihrer Aussage über Gott widerspricht. QS, S. 173. N. H. Smith, Charles Taylor, a.a.O., S. 2f.
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TEIL II Taylors Diskussion prozeduraler Theorien „Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde in strenger Rücksicht auf den Anderen, mit dem gesprochen wird, erhält...“ (F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Ein Buch für freie Geister (1878), KSA 2, §374, S. 267)
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Bereits in der Rede von einer philosophischen Anthropologie schlägt sich ein Grundzug von Taylors Philosophie nieder, der ihn in Konflikt mit einigen gegenwärtigen Politikund Moraltheorien bringen musste. Taylor will mit dieser Redeweise verdeutlichen, dass menschliche Wesen in Bedeutungsrahmen verankert sind, innerhalb deren sie sich selbst sowie die Anderen und die Welt verstehen (interpretieren). Sich selbst in einem Bedeutungsrahmen zu verstehen, bedeutet hier, in der Lage zu sein, seinem Leben einen Sinn zu verleihen. Daraus folgt für Taylor, dass man nicht von Menschen reden kann, ohne Rücksicht auf den jeweiligen Sinn zu nehmen, den sie ihrem Leben verleihen. Es kann zudem ohne Bezug auf (gemeinsame) Rahmen auch die Rede von einem Sinn nicht geben. Identität, Sinn und Rahmen sind unentwirrbar verbunden. Taylor zufolge ist die conditio humana so angelegt, dass der Mensch immer schon in Bedeutungshorizonten steht. Dem Menschen steht daher die Alternative, ob er ein interpretierendes und stark wertendes Wesen sein will oder nicht, nicht zu Verfügung. Wie wir später sehen werden, sind bei Taylor die Begriffe Wollen, Wünsche, Entscheidungsfreiheit usw. sekundäre Phänomene im Verhältnis zu dieser conditio humana. Damit zeigt sich, wie bedeutsam, ja grundsätzlich das anthropologische Argument bei Taylor ist. Dies ist anhand seiner Auseinandersetzung mit dem prozeduralen Liberalismus (Kapitel 3) und der Verfahrensethik (Kapitel 4) zu verdeutlichen.
3. Taylors Auseinandersetzung mit dem Liberalismus
3.1 Beschreibung der dreistufigen Kritik Taylors Kritik am prozeduralem Liberalismus speist sich aus der kommunitaristischen Idee: Der prozedurale Liberalismus ist sich nicht im Klaren über seine eigenen moralischen Vorstellungen vom Guten; durch eine solche Ignoranz oder Verschleierungstaktik befördere er eine moralische Verarmung und eine Fragmentierung der Gesellschaft. Methodisch betrachtet ist die Stoßrichtung der Kritik Taylors dreifach236: Erstens gegen den Atomismus oder die atomistische Auffassung des Menschen (die anthropologische Ebene), zweitens gegen die instrumentelle Vorstellung sozialer Institutionen und Praktiken bzw. gegen den ungesunden Gegensatz zwischen Freiheit und Zugehörigkeit (die normative Ebene), drittens gegen das Neutralitätsprinzip (die soziologische Ebene). Diese einzelnen Stufen der Kritik Taylors beziehen sich gemeinsam auf die Idee, Moral und Identität verbunden sind. Wie wir sehen werden, macht bei Taylor eine Hypothese wie Rawls’ Urzustand gar keinen Sinn. Denn das, was dabei ausgeklammert wird, ist gerade das Wesentliche, der Ausgangspunkt alles Menschlichen. Eine Theorie, die Identität, Sinn und einen (gemeinsamen) 236
Siehe A. Berten et al. (Hg.), Libéraux et communautariens. Paris, 1997a.a.O., S. 17f.
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Rahmen eng verbindet, versteht eine solche Hypothese nicht. Diesen Schluss legt Taylor selbst in seiner Rezeption von Michael Sandels Werk Liberalism and the Limits of Justice und den dadurch ausgelösten Reaktionen nahe. Sandels Werk erschien als eine kritische Antwort auf A Theory of Justice von John Rawls. Dieser, so lautet der Vorwurf Sandels, habe partikulare und soziale Werte übersehen und stelle daher ein „ungebundenes Selbst“ dar:237 Viele wiederum kritische Reaktionen auf Sandels Kritik haben die Idee zum Ausdruck gebracht, es sei irrelevant, der Debatte über die Gerechtigkeit Fragen über Identität und Gemeinschaft aufzudrängen. Diese Idee betrachtet Taylor als grundlegend falsch. Deshalb betont er: „Meine These ist jedoch im Gegensatz dazu, dass diese Fragen höchst relevant sind und dass die einzige Alternative dazu, sie zu diskutieren, darin besteht, sich auf implizite und nicht untersuchte Begriffe von Identität und Gemeinschaft zu stützen. Mehr noch: Da die unhinterfragten Begriffe in der angelsächsischen philosophischen Kultur sehr stark dazu tendieren, mit atomistischen Vorurteilen infiziert zu sein, tendieren ihre impliziten Annahmen – nach meiner holistischen Einstellung – dazu, falsch zu sein.“238 Die einzelnen Stufen dieser Kritik sollen nun erläutert werden.
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„Er [Sandel] behauptet, dass Rawls’ egalitaristisches Differenzprinzip, das die Eigenschaften der Individuen als Teil der gemeinschaftlich besessenen Ressourcen für das Wohl der Gesamtgesellschaft ansieht, ein hohes Maß an Solidarität unter den Beteiligten voraussetzt. Dieser Sinn gegenseitiger Verpflichtung könne nur von gebunden Individuen aufrechterhalten werden, die einen starken Gemeinschaftssinn teilten. Doch die Vertragsschließenden sind als gegenseitig indifferent bestimmt. Hier wird wiederum deutlich, dass der Kern des Arguments, ob richtig oder falsch, darauf abzielt, die Alternativen einer wichtigen Entscheidung zu bestimmen. Sandels Punkt stellt uns die Frage, ob egalitäre Umverteilung, die Rawls vorschlägt, in einer Gesellschaft möglich ist, die nicht solidarisch durch einen starken Gemeinschaftssinn verbunden ist, und ob umgekehrt eine starke Gemeinschaft dieser Art um ein gemeinsames Verständnis geschmiedet werden kann, das Gerechtigkeit als erste Tugend des sozialen Lebens ansieht, oder ob nicht andere Güter in der Bestimmung des Gemeinschaftslebens vorhanden sein müssen.“ (C. Taylor, „Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus“, in A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M., 1993, S. 107). Ebenda, S. 108.
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3.2 Atomistische Auffassung des Menschen – instrumentelle Vorstellung sozialer Institutionen und Praktiken – Neutralitätsprinzip Moderne bedeutet, so Touraine, nicht den Ersatz der Gemeinschaft durch das Individuum, sondern die Trennung zwischen der Sphäre der Gemeinschaft (a) und der des Individuums (b). Anders gesagt, es geht nicht um den Übergang von (a) nach (b), sondern um den Übergang der Fusion von (a) und (b) zur Trennung von (a) und (b). Und diese Trennung vollzieht sich, seiner Meinung nach, nicht am Anfang der Neuzeit, sondern am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Frage, die sich nun stellt – darin besteht das zentrale Thema der zeitgenössischen Soziologie –, lautet: Inwiefern lassen sich die getrennten Sphären zusammenbringen?239 Die Schwierigkeit bzw. die Herausforderung besteht hier darin, die Autonomie zu fördern, ohne die soziale Basis (oder die sozialen Bindungen) zu untergraben. Mit dieser Frage hat sich Taylor beschäftigt. Und seine Bemühungen haben zur Formulierung einer sozialen These geführt. Zwei wichtigen Bemerkungen sind von vornherein zu betonen: (a) In der Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus folgt der Trennpunkt zwischen den Kontrahenten mehr aus der Betonung, die jeder in die Diskussion einbringt, und aus der Wahl der Klassiker. Was Taylor anbelangt, beruft er sich nicht auf Hobbes, Locke und Kant, sondern z.B. auf Aristoteles, den romantischen Expressivismus, Hegel, Tocqueville usw. Diese Bemerkung soll im Blick behalten werden, wenn man „[d]ie anfangs amerikanische Debatte zwischen liberalen und kommunitaristischen politischen Theorien […] als Disput zwischen rückwärtsgewandten Traditionalisten und freiheitlich gesinnten Freunden des Fortschritts“ 240 nicht darstellen will. Die Debatte weist auf eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Autoren hin, die auch aus ihrer unterschiedlichen Art und Weise herrührt, sich auf die philosophische Tradition zu berufen. (b) Die Behauptung, dass Taylor den Atomismus beanstandet, darf keineswegs dahingehend missverstanden werden, dass er sich dem Liberalismus im Allgemeinen entgegenstellt. Der Atomismus deckt sich nicht mit dem Liberalismus oder der ganzen liberalen Tradition. Aus diesem Grund betont Taylor die Unterscheidung zwischen dem prozeduralen Liberalismus und dem Liberalismus der Diversität (‚deep-diversity’), zu dem er sich bekennt.241 Dies zeigt, dass Taylors Arbeiten – so Figal – „Einsichten [eröffnen], die aus den 239
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A. Touraine, „Identité et modernité“, in M. Elbaz, et al. (Hg.), Les frontières de l’identité: modernité et postmodernisme au Québec, Paris, 1996, S. 12f. D. Lüddecke, „Zuverlässiger Navigationshelfer. Ein Denker für das Zeitalter des Pluralismus: Zur Verleihung des Kyoto-Preises an den kanadischen Philosophen Charles Taylor“, in Süddeutsche Zeitung, Montag, 10. November 2008, S. 12. C. Taylor, „Atomismus“, in B. Brink, W. Reijen (Hg.), Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt/M., 1995, S. 98; ders., Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 155-186. Siehe auch M. Redhead, Charles Taylor: Thinking and Living Deep Diversity. Maeyland, 2002. Trotz dieser Unterscheidung zwischen dem prozeduralen Liberalismus und dem Liberalismus der Diversität hält W. Reese-Schäfer Taylors nichtprozeduralistischen Liberalismus für eine vorliberale Position. Er
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vertraut gewordenen Bahnen der Debatte über ‚Liberalismus und Kommunitarismus’ hinausführen“.242 Taylors Versuch, seine Position als einen ‚nichtprozeduralen Liberalismus‘, d.h. als eine Variante innerhalb des liberalen Denkens zu definieren bzw. Abstand vom prozeduralen Liberalismus zu nehmen, nähert sich aber offensichtlich wieder den Fragestellungen der Kommunitaristen an, die sich auf die Bedingungen eines funktionierenden Gemeinwesens, die Einbindung des Individuums in einen Horizont des Sozialen, die „Re-Ethisierung des öffentlichen Raums“ beziehen.243 In dieser Hinsicht wird verständlich, dass Taylor, obwohl er sich nicht als Kommunitarist bezeichnet, im weiteren Fortgang seiner Überlegungen keinen Hehl aus seiner Vorliebe für die kommunitaristische Position macht und deswegen den Kommunitaristen zugeordnet wird.244 Die kommunitaristische Position hat er sogar mit einem philosophischen Hintergrund ausgestattet. Zeigen lässt sich dies an seiner Kritik des in der liberalistischen Theorie vorherrschenden Menschenbildes. Hauptsächlich richtet sich sein Blick dabei auf die allgemeine atomistisch geprägte Denkweise, die die modernen Gesellschaften kennzeichnet. Unter dem Atomismus versteht Taylor die Ansicht, das Individuum entwickele seine Ziele und Zwecke allein aus sich selbst heraus.245 Eine solche Ansicht bewirkt – behauptet er – eine Korrosion des sozialen Lebens. Um seine Position zu verdeutlichen, empfiehlt es sich seine oben durchgeführte Unterscheidung zwischen dem prozeduralen Liberalismus und dem Liberalismus der Diversität (deep-diversity) vor Augen zu führen. Sie folgt aus seiner festen Überzeugung, derzufolge die
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argumentiert folgendermaßen: Die Grundvoraussetzung von Modernität ist, „dass es ein sicheres Bewusstsein der Rangordnung von Gütern nicht mehr gibt und dass die Debatte über solche Rangordnungen, wenn sie nicht durch liberale Prozeduren in Bahnen gelenkt wird, aufgrund ihrer Unlösbarkeit in Wertkonflikte und Bürgerkriege führt, sofern sie nur intensiv und ernsthaft genug geführt wird“. (W. Reese-Schäfer, „Einige kritische Bemerkungen zu Charles Taylors Ontologie der Moralität und des modernen Selbst“, in DZPh, 44(1996), S. 631). Auch Habermas sieht die Dinge anders als Taylor und betont, dass der moderne Liberalismus einen ‚prozeduralistischen Kern’ hat (Siehe seinen Beitrag in C. Taylor, Multikulturalismus und Politik der Anerkennung, Frankfurt/M., 1993, S. 150). G. Figal,,Hermeneutische Modernität“, in DZPh 44(1996), S. 656. I. Breuer, Charles Taylor, a,a,O., S. 9. Die „Re-Ethisierung des öffentlichen Raums“ bezeichnet hier die Ablehnung, Ethik oder Moral (Taylor macht keinen Unterschied dazwischen) in das subjektive Ermessen des Einzelnen zu stellen. Kommunitarische Argumentationen haben ihren Ursprung in den viel diskutierten Themen der politischen Philosophie: Unterschied antiker und moderner Freiheitsvorstellung, negativer und positiver Freiheit; Gegensatz von Republikanimsus und Demokratie, von Gemeinschaft und Gesellschaft, von Patriotismus und Universalismus. (W. Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus. Frankfurt/M., 1994, S. 11.) C. Taylor., „Atomism“, in Philosophical Papers, Bd. 2, Cambridge University 1985, S. 187-210. Siehe auch K. Malowitz, Freiheit in Gemeinschaft. Selbstverwirklichung und Selbstregierung in der politischen Philosophie des Kommunitarismus. Hamburg, 2007, S. 136f.
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moderne Identität komplex und vielfältig angelegt ist. In diesem Zusammenhang kann die übertriebene Entwicklung einiger ihrer Züge zur Zerstörung anderer führen. Diese Gefahr „unilateraler Betonung“ sieht Taylor genau dann aufsteigen, wenn man die Moderne mit dem prozeduralen Liberalismus gleichsetzt oder aber die Moderne nur unter der Grundposition des prozeduralen Liberalismus versteht. Diese Grundposition lautet wie folgt: Es sollen jedem die gleichen Rechte und Chancen sichergestellt werden und gleichzeitig ein Spielraum für verschiedene Lebensweise und religiöse Überzeugungen freigehalten. Die Gerechtigkeit bildet das Grundthema und die Respektierung individueller Rechte und Freiheiten wird stark betont.246 Mit dieser Grundposition ist Taylor aber unzufrieden, denn ihm zufolge ist der vollständige Ausschluss einer gesellschaftlich getragenen Konzeption des Guten durch den prozeduralen Liberalismus nicht möglich.247 Nicht die Freiheit des Menschen habe, so Sandel in Liberalism and the Limits of Justice, die höchste Priorität innerhalb der Gesellschaft, sondern das Gute des Menschen und der Gemeinschaft, in welcher er lebt. Bestritten wird von Kommunitaristen die Idee, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit bzw. die Sicherung und Bewahrung individueller Rechte grundlegend sind. Auf Freiheit kommt man in der kommunitaristischen Tradition und bei Taylor gewöhnlich in der Weise zu sprechen, dass man zwei Freiheitsbegriffe einander gegenüberstellt: die negative Freiheit und die positive Freiheit. Die eine wird als Abwesenheit von Hindernissen oder Zwängen verstanden, und die andere als Möglichkeit zum Handeln. Mehr als mit einer bloß begrifflichen Unterscheidung haben wir es hier mit zwei rivalisierenden Deutungen politischer Ordnung zu tun. Der Liberalismus fordert Taylor zufolge hauptsächlich die negative Freiheit und dadurch eine starke Begrenzung der Ansprüche des Staates, während die
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C. Taylor, „Aneinander vorbei“, a.a. O., S. 109. Im Begriff individueller Rechte oder subjektiver Rechte werden die Eigentümlichkeit wie auch die zentrale Rolle der modernen Auffassung betont, „derzufolge Individuen als Träger von Rechten angesehen werden sollten, die in einem gewissen Sinne als Eigenschaften der Person betrachtet werden können“. (Q. Skinner, „Moderne und Entzauberung: einige historische Reflexionen“, in DZPh, 44 (1996), S. 611). Zwei konkurrierenden Meinungen liegen hier vor: Die erste betont, dass sich Moralphilosophen der Antike und des mittelalterlichen Europas mit der Frage „Was steht uns an Rechten zu?“ zwar beschäftigten, aber über kein Vokabular zur Artikulation des Vorschlags verfügten, „wonach dasjenige, was uns rechtmäßig zusteht, seinerseits als unser Recht bezeichnet werden kann“. Diese Konzeption ist in den europäischen politischen Diskurs erst während des späten Mittelalters eingegangen. Im Gegensatz dazu weist die zweite Meinung darauf hin, dass sich diese Konzeption noch früher zurückführen lässt. (Brian Tierny, „Origins of natural rights language: text and contexts, 1150-1250“, in History of Political Thought, 10(1989), S. 615-646. Auch Michel Villey, „La genèse du droit subjectif chez Guillaume d´Occam“, in Archives de Philosophie du droit, 9(1964), S. 97127). Wichtig, aber jenseits dieses Meinungskontrasts ist, zu beachten, dass das 17. Jahrhundert den Zeitpunkt bildet, an dem der Begriff subjektiver Rechte seine moralische Hegemonie gewann. Ebenda, S. 111.
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kommunitaristische Betrachtungsweise die positive Freiheit vorzieht und dem Staat einer tragende Rolle bzw. eine weitreichende Befugnis bei der Beförderung und Durchsetzung von gemeinsamen Vorstellungen des Guten zuschreibt. Taylor, dessen Hoffnung es ist, „die Freiheiten und Fragwürdigkeiten, die Chancen und das Unbehagen der Moderne in eine wie immer vorläufige Balance zu bringen“, 248 findet starke Worte, um die Herrschaft negativer Freiheit im politischen Liberalismus anzuprangern: „[O]ne-sided understanding of freedom as residing just in the experience of breaking away, of being on our own, a kind of social and historical atomism.“249 Darin erkennt Taylor erhebliche negative Auswirkungen: „Eine Gesellschaft, die sich konsequent auf atomisierte, voneinander isolierte und ihrem Eigeninteresse folgende Individuen stützen will, untergräbt dadurch ihre eigenen Grundlagen.“250 Für Taylor kann die Freiheit nicht allein, wie bei Hobbes, die Abwesenheit äußerer Hindernisse bedeuten; denn es kann auch innere Hindernisse geben (Groll, Angstgefühle, usw.), die vom Subjekt selbst gar nicht adäquat ermessen werden können. Eine Zielsetzung kann also größtenteils von Verwirrung, Fehleinschätzungen, falschem Erfassen, Illusion und verzerrter Wahrnehmung geprägt sein. Infolgedessen kann man sagen, dass das Subjekt in diesen Umständen nicht wirklich frei ist oder zumindest eine beschränkte Freiheit hat. „Freiheit kann nicht einfach in der Abwesenheit äußerer Hindernisse bestehen, denn es kann ebenso innere Hindernisse geben. Ebensowenig müssen die inneren Hindernisse auf diejenigen beschränkt sein, die das Subjekt als solche identifiziert, so dass es selbst der oberste Richter bleibt, denn es kann sich gründlich täuschen über seine Zwecke und über
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D. Lüddecke, „Zuverlässiger Navigationshelfer.“, a.a.O., S. 12. Der Autor schreibt weiter: „Der synthetisierende Denkstil Hegels fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden. Er pflanzte sich zwar nicht in der Sprache, die bei Taylor durchweg durchsichtig und argumentativ bleibt, wohl aber in der philosophischen Reflexion einer Moderne fort, die in ihren eigenen Traditionen Möglichkeiten der Versöhnung bergen sollte. Allerdings spendet keine List der Vernunft die rheinische Zuversicht, dass es noch immer gutgehen werde. Taylor rät uns, mehr Sorge zu tragen für die sozialen Sinnbedingungen unserer Werte.“ (Ebenda) C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 88. Die Freiheit bildet eine gewaltige Frage, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann. Siehe I. Berlin, „Two concepts of liberty“, in ders., Four Essays on Liberty, Oxford, 1969, S. 118-172. C. Taylor, „What´s wrong with negative liberty“, in ders. Philosophical Papers, Bd. 2., a.a.O., S. 211-229. W. Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus, a.a.O., S.7. Für Barber ist die Politik von liberalen Standpunkt aus „Klugheit im Dienste des homo oeconomicus“ – des einsamen Suchers nach materiellem Glück, körperlicher Sicherheit und anderen Vorteilen – und die Demokratie „nichts anderes als eine Vorrichtung, die genutzt, reguliert, angepasst oder fallen gelassen wird, je nach dem ob sie den liberalen Zwecken, denen sie als Mittel dient, entgegenkommt oder nicht“. (B. Barber, Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen. Berlin, 1994, S. 56.)
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das, was es zurückweisen möchte. Und wenn dem so ist, dann ist es in geringerem Maße imstande, im relevanten Sinne frei zu sein. Daher können wir weder die die Nichtkorrigierbarkeit der Urteile des Subjekts über seine Freiheit aufrechthalten, noch können wir […] jede Außenbeurteilung ausschließen.“251 Eine Freiheit – mit Waldenfels gesprochen – „die sich einzig durch das Wovon der Freiheit definiert, tendiert zur subjektiven Willkür und zur politischen Anarchie“.252 Eine Freiheitsvorstellung, die mit einer zunehmenden Ichbezogenenheit einhergeht, kann nur destruktiv auf die Institutionen auswirken. Gegen diese Ansicht formuliert Taylor seine soziale These, die in die Richtung der von Ratzinger dargestellten katholischen Auffassung geht. Ratzinger erläuterte diese Auffassung mit folgenden Worten: „Christlicher Glaube geht nicht vom atomisierten einzelnen aus, sondern kommt von dem Wissen, dass es den bloß einzelnen nicht gibt, dass der Mensch vielmehr er selbst ist allein in der Verspannung ins Ganze: in die Menschheit, in die Geschichte, in den Kosmos, wie es ihm als ‚Geist in Leib’ geziemt und wesentlich ist.“ 253 Für Taylor führt die überzogene Ichbezogenheit in die Leugnung normativer Forderungen, die außerhalb des Selbst ihren Ursprung haben. Damit werden die bedeutungsstiftenden Faktoren (z.B. Natur, Gesellschaft, Geschichte, Gott), die das Leben des Einzelnen sinnvoll machen, verneint. „Es ist ein Individualismus, der nur wenige von außen kommenden moralischen Forderungen oder Verpflichtungen gegenüber anderen Personen gelten lässt.“254 Dieser Individualismus bringt mit sich eine vermessene Ansicht über die Autonomie bzw. einen verwirrenden Begriff der Unabhängigkeit. Dies zeigt sich an seiner Darstellung vom Menschen als jemandem, „der sich zumindest potentiell selbst zurechtfindet in den Geweben des sprachlichen Austauschs, die ihn zunächst geprägt haben, woraufhin er seine Unabhängigkeit von ihnen erklärt oder sie zumindest neutralisiert. Es wird so hingestellt, als wäre die Dimension des sprachlichen Austauschs nur für die Genese der Individualität von Bedeutung, ähnlich den Spielzeugrädern im Kindergarten, die dort zurückgelassen werden und für die Erwachsene keine Rolle mehr spielen“.255 In der Suche nach einem Freiheitsbegriff, der den lebenswichtigen Bindungen des Menschen gerecht werden kann, stößt Taylor auf das Hegelsche „Beisichsein im Anderssein“ vor. Aber
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C. Taylor, „Der Irrtum der negativen Freiheit“, in ders., Negative Freiheit?, a.a.O., S. 143. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 101. J. Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. München, 1968, S. 176. Wenn sich kein Mensch vom Nullpunkt aus neu entwerfen kann, dann empfiehlt es sich das ‚Cogito ergo sum’ in ein ‚Cogitor ergo sum’ umzuwandeln. „Ich werde gedacht, also bin ich“, so lautet die prägnante Formel Franz von Baaders (zitiert in J. Ratzinger, a.a.O., S. 176). Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ratzingers-Baaders Ansichten und dem schwarzafrikanischen Menschenbild hat Bénézet Bujo deutlich ausgeführt (B. Bujo, Wider den Universalanspruch westlicher Moral. Grundlagen afrikanischer Ethik. Freiburg, 2000, S. 18f.). C. Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, a.a.O., S. 65. QS, S. 74.
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es geht Taylor, so Kühnlein, „keineswegs um den sittlichkeitsabgefederten Abbau von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, sondern um den blinden Fleck transzendentalphilosophisch-humanistischer Begründungsstrategien, welche uns zwar in ein Wissen von Freiheit einzusetzen vermögen, doch zugleich die Bedingungen der Freiheitsverwirklichung nicht in ihre Selbstreflexionen miteinbeziehen. Diese bindungslose Definition von Autonomie ist somit der tragende Grund für Taylors Überzeugung, dass Freiheit sich nicht im atomistischen Selbstbezug verwirklicht. Wohlwollen ist selbstgenügsamkeitsüberbietend“.256 Für Taylor ist es sehr wichtig, zur Überwindung des Atomismus die Debatte über das Wesen des menschlichen Handelnden zu öffnen („we have to open up questions about the nature of the subject and the conditions of human agency“257 oder „It is clear that we can only join this issue by opening up questions about the nature of man“.258). Damit ist auch eng verbunden die vom Ernst-Wolfgang Böckenfördes Paradox (die liberale Demokratie lebe von Voraussetzungen, die sie „selbst nicht garantieren kann“) entstandene Debatte. Vorländer schreibt dazu: „Der Liberalismus mit seiner auf Recht und Institutionen basierenden politischen Herrschaftsform ist auf moralische und wertmäßige Kontexte angewiesen, wie sie von Traditionen, gemeinsamen Wertvorstellungen oder einer Zivilreligion gestiftet sind. Das Paradoxe am Liberalismus als der Grundlagenphilosophie moderner Demokratie besteht nun genau darin, dass der Liberalismus jene Größen von Tradition, Transzendenz und sozialen Gewohnheiten zerstört hat, die für das Fortbestehen und die Stabilität liberaler Gesellschaften eigentlich notwendig sind.“259 256
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M. Kühnlein, Relgion als Quelle des Selbst, a.a.O., S. 64. Taylor spricht von einer zu meisternden Herausforderung: „Seen in this way, the principal challenge to contemporary Western liberal societies like our own seems to concern their nature as citizen republics. More broadly, we might say that the ‚community’ dimensions of modern life, both family and state, are under threat in face of ‚atomist’ perspectives.“ (C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 88f.) C. Taylor, Human Agency, a.a.O., Bd. 2, S. 209f. Taylors Forderung, sich von vornherein Klarheit über die Anthropologie zu verschaffen kann als Forderung verstanden werden, die Frage zu beantworten, wovon wir Menschen leben. Ein Text der katholischen Liturgie beantwortet diese Frage so: „Wir brauchen Nahrung, ein Dach über dem Kopf, wir brauchen Kleidung – das ist selbstverständlich. Aber unsere Bedürfnisse gehen weiter. Wir brauchen Arbeit, die uns befriedigt und glücklich macht. Wir brauchen Menschen, die uns zuhören, die sich mit uns freuen und uns, wenn nötig, trösten. Wir brauchen Freundschaft und Liebe. Wir brauchen – manchmal – Vergebung. Wir brauchen ein Ziel für unser Leben.“ (Liturgischer Text von 18. Sonntag im Jahreskreis/B). C. Taylor, „Atomism“, a.a.O., S. 210. Taylor betont dies, um zu zeigen, wie unzulänglich die Idee von einem Zustand der Natur ist. Alles spricht, laut ihm, für die Vorstellung eines freien Menschen, der Träger der Rechte ist, aber diese Identität nur dank seiner Beziehung zu einer entwickelten liberalen Zivilisation annehmen kann. Daher muss er sich um die Erhaltung dieser sozialen Beziehung kümmern. H. Vorländer, „Der ambivalente Liberalismus. Oder: was hält die liberale Demokratie zusammen?“, in Zeitschrift für Politik, 42, 3(1995), S. 253.
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Genau in dieser Hinsicht hat Barber die liberale Demokratie als eine „magere“ Theorie der Demokratie bezeichnet, d.h. sie „geht von Prämissen über die menschliche Natur, das Wissen und die Politik aus, die zwar aufrichtig liberal, ihrem Wesen nach aber nicht demokratisch sind. Ihre Auffassung vom Individuum und seinen privaten Interessen untergräbt jene demokratischen Verfahren, von denen sowohl die Individuen als auch ihre Interessen abhängen. Liberale Demokratie wird sich so gesehen nie sehr weit von Ambrose Bierces zynischer Definition entfernen können, Politik sei ‚die Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten zum persönlichen Nutzen’“.260 Freiheitliche Werte und Rechte seien an sich zwar edel, aber werden wegen fragwürdiger Prämissen über die menschliche Natur in Zweifel gebracht. Mit dieser Kritik steht Barber in eindeutiger Übereinstimmung mit Taylors Kritik am prozeduralen Liberalismus. Taylors soziale These basiert auf der Überzeugung, dass „der Mensch außerhalb einer Sprachgemeinschaft und einer gemeinsamen Auseinandersetzung über Gut und Böse, gerecht und ungerecht nicht einmal ein moralisches Subjekt […] sein kann […]; denn was der Mensch aus der Gesellschaft gewinnt, ist nicht Unterstützung bei der Verwirklichung seines jeweiligen Guten, sondern die Möglichkeit überhaupt, ein Handelnder zu sein, der dieses Gute anstrebt“.261 Die Bedingungen der Verwirklichung des Individuums sind, Taylor zufolge, das Gute und die Gemeinschaft. Diesen Bedingungen muss, nach Taylors Meinung, jede soziale und politische Theorie gerecht werden. Taylor verleiht ihnen einen transzendentalen Charakter, indem er sie als Möglichkeitsbedingungen der Selbstverwirklichung des Individuums ansieht. Dieser Charakter besagt, dass wir in die Definition des Subjekts die 260
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B. Barber, Starke Demokratie, a.a.O., S. 32. Barber moniert, dass die Politik auf eine „Raubtierhaltung“ reduiziert wird und behauptet, „der Liberalismus hat der Demokratie, wenn überhaupt, dann einen schlechten Dienst erwiesen“. (S. 13); er hat „das wenige an Demokratie, dessen wir uns in der westlichen Welt erfreuten“. (S. 9). Reese-Schäfer fasst Barbers Kritik am Liberalismus wie folgt zusammen: „Der erkenntnistheoretische Rahmen des Liberalismus ist cartesianisch, das heißt, er beruht auf der Annahme, dass es einen unabhängigen Ausgangspunkt gibt, von dem die Begriffe, Werte, Ziele und Standards des politischen Lebens deduktiv abgeleitet werden können. Nach der liberalen Vertragstheorie ist man deshalb Bürger, weil man irgendwann einmal einigen abstrakten Wahrheiten zugestimmt hat. Nach Barbers kommunitarischer Gegenposition ist man Bürger eines bestimmten Staates mit einer bestimmten Geschichte und teilt deshalb mit anderen einige gemeinsame Wertvorstellungen.“ (W. Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus, a.a.O., S. 90) Dewey behauptet in dieser Hinsicht: „Der Grundgedanke der Demokratie als einer Lebensform lässt sich […] als die Notwendigkeit beschreiben, dass jeder mündige Mensch jene Werte mitprägen muss, die das Zusammenleben der Menschen bestimmen. Und dies ist sowohl für die allgemeine gesellschaftliche Wohlfahrt wie auch für die vollständige Entfaltung der Menschen als Individuen notwendig.“ (J. Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik (J. Oelkers, Hg.), Weinheim, 2004, S. 121f.) C. Taylor, „Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit“, in ders., Negative Freiheit, a.a.O., S. 150..
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wirklichen Bedingungen aufnehmen müssen, unter denen es zustande kommt. Die Anderen, die diesen Entstehungsprozess bilden, sind für das Subjekt konstitutiv. Diese Ansicht bringt uns in die Nähe von Descombes Charakterisierung des grundlegenden Axioms der Phänomenologie. Diesem zufolge müssen wir „in die Definition des Gegenstandes die wirklichen Bedingungen, unter denen er mir gegeben ist, aufnehmen. So wie die Reise zum Ferienhaus zu den Ferien dazugehört, so gehört der Weg zum Objekt mit zum Objekt“.262 Autoren (vor allem Descartes, siehe Kap. 1), die annehmen, dass die wirklichen Bedingungen ausgeklammert werden können, vertreten also die Meinung, dass die Ferien erst bei Ankunft im Ferienhaus anfangen. Aber das ist aber kurzsichtig. Auch der Weg zum Ferienhaus, also, die wirklichen Bedingungen der Selbstverwirklichung müssen mit einbezogen werden. Natürlich könnte man theoretische Kunstgriffe gebrauchen und dabei so tun, als ob die wirklichen Bedingungen nicht vorhanden wären. Es ist zu bemerken, dass genau diese „Alsob-Strategie“ (Fiktion) von Taylor abgelehnt wird.263 Denn es macht keinen Sinn, das in Klammern zu setzen, was für das Subjekt konstitutiv ist. Die wirklichen Bedingungen sind für das Subjekt konstitutiv oder nicht. Wenn ja, dann sind sie in der Begründungstheorie durchaus zu berücksichtigen. Daher ist von Taylors Standpunkt aus Rawls’ Hypothese des Urzustands unverständlich.264 Zur Begründung seiner Theorie der Gerechtigkeit hat letzterer die Hypothese des Urzustands formuliert, welche die wirklichen Bedingungen des Subjekts auslässt. Dies ist für Taylor nicht nachvollziehbar, weil diese Bedingungen konstitutiv für das Subjekt sind. Er stellt in Frage jeden Versuch, eine Theorie der Gerechtigkeit von dem Standpunkt eines Einzelgängers zu entwickeln und betont die Unhintergehbarkeit des
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V. Descombes, Das Selbst und das Andere. Frankfurt am Main, 1981, S. 79. Rawls hat zwar in seinen Erwiderungen betont, dass die Idee des „Urzustands“ als begründungstheoretischen Kunstgriff zu betrachten ist, damit die Distanz des moralischen Subjekts zu lebensweltlichen Interessen und Zwängen gesichert wird. Dazu sagt Bienfait: „Die Fiktion des ‚unparteilichen Selbst’ als Bestandteil der Begründungstheorie fokussiert die Fähigkeit der Akteure, einen allgemeinen, selbstdistanzierten Standpunkt einzunehmen, ohne deshalb die soziokulturelle Verworbenheit des Subjekts abzustreiten oder auszuschließen. Wenn diese Konzepte in kommunitarischer Manier als Anthropologie der körper- und kulturlosen Subjektivität gelesen werden, dann kommt dies einer unzulässigen Vermengung von konstitutions- und begründungstheoretischen Argumenten gleich.“ (A. Bienfait, Im Gehäuse der Zugehörigkeit. Eine kritische Bestandsaufnahme des Mainstream-Multikulturalismus. Wiesbaden, 2006, S. 14.) Mark Hunyadi verdeutlicht Taylors Ansicht folgendermaßen: „In der Auseinandersetzung mit den Liberalen (hauptsächlich mit Rawls) argumentiert Taylor, dass die implizite Ontologie, auf der diese Theorien der Gerechtigkeit basieren, ist höchst unrealistisch. Für ihn ist die Fiktion eines einsamen Subjekts, der bereits mit Rechten vor jeder Vergesellschaftung gewappnet und ausgelöst von jeder konkreten Situation ist, ist eine falsche heuristische Annahme, die zu auch falschen normativen Positionen führt“. (M. Hunyadi, „Je suis ce que je me raconte. L’impuissance du modèle narratif“, in J. Lenoble et N. Dewandre (Hg.), L’Europe au soir du siècle, a.a.O., S. 68f., freie Übersetzung von CN.)
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Bedeutungsrahmens bzw. die „dialogische“ Gestaltung der menschlichen Identität. Habermas, der wie Rawls die Aufgabe, die Grundannahmen des politischen Liberalismus verteidigen will, stimmt Taylors Ablehnung von der Hypothese des Urzustands offensichtlich überein. Er bezweifelt die Relevanz dieser Hypothese, weil sie eine atomistische Auffassung der Gesellschaft zulässt. Daher schließt er gerade die Hypothese des Urzustands aus: „I doubt whether every aspect of the original position is designed to clarify and secure the standpoint of impartial judgement of deontological principles of justice.“265 Habermas stimmt hierbei Sandels Kritik an Rawls zu, derzufolge Rawls’ Konstruktion des Urzustandes mit dem vertragstheoretischen Erbe des Atomismus belastet ist. „Rawls rechnet mit vereinzelten, unabhängigen Personen, die vor aller Vergesellschaftung über Fähigkeiten zur zweckrationalen Wahrnehmung ihrer Interessen verfügen und, in diesem monologischen Rahmen, ihre Ziele autonom setzen. Deshalb muss Rawls die Grundvereinbarungen eher als einen Akt freien Willens, weniger als argumentativ erzieltes Einverständnis deuten und die Vision der gerechten Gesellschaft auf das Kantische Problem der Vereinbarkeit der Willkürfreiheit eines jeden mit der Willkürlichkeit aller zuschneiden.“266
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J. Habermas, „Reconciliation Through the Public use of Reason: Remarks on John Rawls’s Political Liberalism“, in The Journal of Philosophy, Vol. XCII, 3(1995), S. 110. Erst innerhalb des demokratischen Diskurses kann Habermas zufolge entschieden werden, was – über die gleichen Kommunikations- und Teilhaberecht hinaus – jeweils als liberales Grundrecht gelten soll. Es ist Habermas jedoch bewusst, dass seine Meinungsverschiedenheit mit John Rawls nur ein „Familienzwist“ ist – nämlich innerhalb der neukantianischen Familie. Zwischen beiden Begründungsstrategien gibt es sowohl Affinitäten als auch gegenseitige Abgrenzungen und Relativierungen. „Rawls sieht in den demokratischen Partizipationsrechten einen besonderen Ausdruck der liberalen Grundrechte, die als Maßstab jeder Form demokratischer Partizipation vorgeordnet bleiben; Habermas sieht demgegenüber in der gleichberechtigten Teilnahme aller am demokratischen Diskurs das fundamentale Legitimitäts- oder ‚Gerechtigkeits’- Prinzip moderner Gesellschaften, das allen besonderen Ausformulierung liberaler Grundrechte vorgeordnet bleibt.“ (A. Wellmer, „Bedingungen einer demokratischen Kultur“, a.a.O., S. 179). Doch richten sich beide auf den Umgang mit dem „epochalen Bruch“ mit substantiell fixierten Formen des Gemeinschaftslebens, der die Moderne von der Vormoderne trennt. J. Habermas, „Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?“, in W. Kuhlmann, Moralität und Sittlichkeit, a.a.O., S. 35, Anm. 14. Allerdings macht Habermas Sandel darauf aufmerksam, dass sein, aus teleologischer Perspektive beschriebener objektiver Begriff von Gemeinschaft von totalitären, d.h. zwanghaft integrierten Gesellschaften deutlich unterschieden werden muss. In diesem Zusammenhang „müsste der normative Gehalt zentraler Begriffe wie Gemeinschaft, institutionelle Verkörperung, intersubjektives Selbstverständnis usw. sorgfältig expliziert werden“. (S. 36) Er weist auch darin hin: „Der Fehler des geschichtlichsphilosophischen Denkens liegt darin, die Gesellschaft als ein Subjekt im großen
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Fundamental sind für Habermas nicht liberale Grundrechte wie bei Rawls, sondern demokratische Kommunikations- und Teilhaberechte.267 Wir können hier schon vorwegnehmen, dass diese Rede von konstitutiven Bedingungen in Taylors Kritik an der Hypothese des Urzustands in der Diskussion kultureller Fragen eine wichtige Rolle spielt. In Einklang mit Taylors Ansicht betont Waldenfels z.B., dass eine Kultur keine „zusätzliche Umhüllung“ für das Subjekt bzw. das Erkenntnissubjekt oder Handlungssubjekt ist. Man funktioniert, so Taylor, als Individuum nur unter der Voraussetzung seines soziokulturellen Rahmens. Um z.B. seine politischen Rechte auszuüben, muss sich der Mensch mit den Orientierungspunkten der Gesellschaft vertraut machen. „Thus the thesis just sketched about the social conditions of freedom is based on the notion, first, that developed freedom requires a certain understanding of self, one in which the aspirations to autonomy and self-direction become conceivable; and second, that this self-understanding is not something we can sustain on our own, but that our identity is always partly defined in conversation with others or through the common understanding which underlies the practices of our society. The thesis is that the identity of the autonomous, self determining individual requires a social matrix, one for instance which through a series of practices recognizes the right to autonomous decision and which calls for the individual having a voice in deliberation about public action.“268 Die Rede von Entscheidungsfreiheit ist nur unter der Voraussetzung sozialer Bedingungen der Selbstverwirklichung sinnvoll. Denn die Bedeutungshorizonte (horizons of significance) bilden den Hintergrund, vor dem Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen der Individuen überhaupt erst einen Sinn ergeben, da sie dem Individuuum zum einen verschiedene Werteoptionen und Lebensweisen zur Auswahl geben, zum anderen dabei behilflich sind, wenn es darum geht, die Lebensweisen zu bewerten und in eine Rangfolge zu bringen.269 Die Rede
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vorzustellen, um dann das moralisch zurechungsfähige Handeln einer Avantgarde mit der moralischen Maßstäben entwachsenen Praxis dieses höherstufigen Subjekts der Gesellschaft zu identifizieren. Der intersubjektivitätstheoretische Ansatz der Diskursethik bricht mit den Prämissen der Bewusstseinsphilosophie; er rechnet allenfalls mit der höherstufigen Intersubjektivität von Öffentlichkeiten, in denen sich Kommunikationen zu gesamtgesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen verdichten.“ (S. 29.) A. Wellmer, „Bedingungen einer demokratischen Kultur“, a.a.O., S. 179. Auch J. Habermas, „Ist der Herzschlag der Revolution zum Stillstand gekommen? Volkssouveränität als Verfahren“, in Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Die Ideen von 1789, Forum für Philosophie, Frankfurt/M, 1989, S. 16. C. Taylor, „Atomism“, in ders. Philosophical Papers, Bd. 2, a.a.O., S. 209. S. Brauer, „Authentizität in zwischenmenschlicher Begegnung: Charles Taylor und Martin Buber im Vergleich“, in U. Hagel et al., Der Andere. Ein alltäglicher Begriff in philosophischer Perspektive, Leipzig, 2002, S. 59.
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von Freiheit impliziert bei Taylor, dass man gleichzeitig über Fähigkeit, freie Entscheidungen zu treffen, zu reden und somit über die Bedingung der Entfaltung dieser Fähigkeit. Eine solche Fähigkeit ist zu ihrer Entfaltung auf die Gemeinschaft, das soziale Wissen usw. angewiesen. „The connection I want to establish here can be made following the earlier discussion on the background of rights. If we cannot ascribe natural rights without affirming the worth of certain human capacities, and if this affirmation has other normative consequences (i.e., that we should foster and nurture these capacities in ourselves and others), then any proof that these capacities can only develop in society or in a society of a certain kind is a proof that we ought to belong to or sustain society or this kind of society. But then, provided a social (i.e., an anti-atomist) thesis of the right kind can be true, an assertion of the primacy of rights is impossible; for to assert the rights in question is to affirm the capacities, and granted the social thesis is true concerning these capacities, this commits us to an obligation to belong. This will be as fundamental as the assertion of rights, because it will be inseparable from it. So that it would be incoherent to try to assert the rights, while denying the obligation or giving it the status of optional extra which we may or may not contract; this assertion is what the primacy doctrine makes.“270 Für Taylor ist es nicht nur wichtig zu betonen, dass die Verwirklichung individueller Rechte soziale Bedingungen voraussetzt, sondern auch zu zeigen, dass es ungerecht wäre, die Grundlagen – die sozialen Bedingungen – dieser Rechte für die Anderen nicht aufrechtzuerhalten, insofern nämlich die Ausübung von individuellen Rechten (z.B. das Recht auf den Besitz eigener moralischer Überzeugungen) ein menschliches Gut ist. Denn wenn diese Grundlage verfällt, wird niemand in Zukunft seine individuellen Rechte ausüben können. Es genügt daher nicht, sich als freies Individuum anzusehen, um wirklich frei zu leben. Vielmehr wird die Einbindung in einem Kontext gefordert, in dem Menschen der Freiheit Bewunderung und Achtung zollen. Denn die Idee der Freiheit ist keine (private/persönliche) Erfindung des Einzelnen. Er verdankt sie vielmehr einer Art von politischer Gesellschaft (oder der Dynamik sozialer Bewegungen), aus der er erwächst. „I am arguing that the free individual of the West is only what he is by virtue of the whole society and civilization which brought him to be and which nourishes him; that our families can only form us up to this capacity and these aspirations because they are set in this civilization; […] And I want to claim finally that all this creates a significant obligation to belong for whoever would affirm the value of this freedom [...].“271
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C. Taylor, „Atomism“, a.a.O., S. 197f. C. Taylor, „Political Philosophy“, in ders., Philosophical Papers, Bd. 2, a.a.O., S. 206. Siehe ähnliche Ansicht in B. Barber, Starke Demokratie, a.a.O., S. 33.
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Allerdings ist Taylors Betonung der Zugehörigkeit (bzw. seine Rede von obligation by nature to belong to society) nur sinnvoll, wenn sie frei von fundamentalistischen Deutungen ist, die die Zugehörigkeit zu einem Eingesperrtsein in einen sozio-kulturellen Raum oder in eine Gruppe machen. Problematisch erscheint an dieser Stelle, dass Taylor mögliche Fälle außer Acht lässt, in denen die kollektive Identität die Freiheit des Individuums gefährdet. Was, wenn ein Einzelner seinen Zugehörigkeitsraum verlassen möchte? Ist ein Übergang ausgeschlossen? Es ist überdies anzumerken, dass die Rede von Zugehörigkeit eine Täuschung verbergen kann, nämlich die, zu denken, dass der Mensch nur eine einzige Zugehörigkeit hat; aber selbst wenn dem Individuum die Pluralität seiner Zugehörigkeit letzten Endes zugestanden würde, wäre es – mit Amartya Sen gesprochen – immer noch eine Täuschung zu denken, dass ihm die Entscheidungsfreiheit nicht zusteht, die Rangfolge der Gruppen, denen er angehört, zu entscheiden, und an der Ausbildung seiner Identitäten teilzunehmen. Zudem bringt die Rede von Zugehörigkeit zu einem soziokulturellen Rahmen Risiken mit sich, nämlich zu glauben, dass sich Identität in einer bloßen Entdeckung des Ortes, an dem man steht, erschöpft. Dieses Risiko hat Amartya Sen erkannt, wenn er auf den Fehler vieler kommunitaristischen Denker hinweisen, die zu der Ansicht tendieren, „eine dominierende gemeinschaftliche Identität sei lediglich eine Sache der Selbsterkenntnis, nicht aber der Wahl. Es fällt jedoch schwer zu glauben, dass ein Mensch wirklich keine Wahl hat, zu entscheiden, welche relative Bedeutung er den verschiedenen Gruppen beimisst, denen er angehört, und dass er seine Identitäten lediglich zu ‚entdecken‘ braucht, so als handele es sich um ein rein natürliches Phänomen (wie etwa bei der Feststellung ob es Tag oder Nacht ist). In Wirklichkeit treffen wir alle – und sei es auch nur stillschweigend – ständig Entscheidungen über die Prioritäten, die wir unseren verschiedenen Zugehörigkeiten und Mitgliedschaften beimessen. Die Freiheit über unsere Loyalitäten und die Rangfolge der Gruppen, denen wir angehören, selbst zu entscheiden, ist eine besonders wichtige Freiheit, die anzuerkennen, zu schätzen und zu verteidigen wir allen Grund haben“.272 Es muss daher betont werden, dass zur Identität auch die Fähigkeit des Subjekts gehört, eine kritische Position gegenüber seinem soziokulturellen Rahmen einzunehmen. Da sind einige Probleme, auf die Taylors Stellungnahme bei näherer Betrachtung stößt oder stoßen könnte. Diese Probleme und die entsprechenden kritischen Bemerkungen werden im Kap. 7.2 am Beispiel des Falls der sudanesischen Meriam Ibrahim als eine wichtige Menschenrechtsfrage ausführlich behandelt werden. An dieser Stelle genügt es auf Wellmers Erläuterung der Bedeutung der kritischen Haltung gegenüber den soziokulturellen Rahmen hinzuweisen:
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A. Sen, Die Identitätsfalle, a.a.O., S. 21. Sen räumt natürlich ein, dass die Entscheidungsfreiheit durch Zwänge eingeschränkt werden kann. „Eine Wahl wird immer innerhalb der Grenzen dessen getroffen, was wir für machbar halten […]. Dass jeder Käufer Entscheidungen treffen muss, heißt nicht, dass es keinen Budgetzwang gibt, sondern nur, dass Entscheidungen innerhalb des jeweiligen Budgetzwangs zu treffen sind.“ (Ebenda)
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„Nun bin ich zwar mit Charles Taylor der Meinung, dass der kommunitarische Hinweis auf den sozialen Charakter des individuellen Selbst nicht folgenlos bleiben kann für das Verständnis der liberalen Grund- und Freiheitsrechte – der ‚ontologische’ Aspekt des Problems ist nicht unabhängig von seinem ‚advokatorischen’; gleichwohl meine ich, dass Walzers 273 Auflösung der Kontroverse zunächst einmal in die richtige Richtung weist. Das liberale Selbst, so sagte er, sei ein post-soziales, kein vor-soziales Selbst; postsozial aber ist das liberale Selbst natürlich nicht im Sinne einer Unabhängigkeit von sozial geprägten Identitäten, Lebensformen und Traditionen, sondern im Sinne einer reflexiven Distanz zu allen partikularen Identitäten, Lebensformen und Traditionen.“274 Während wir den Stellenwert dieser kritischen Bemerkungen hervorheben, müssen wir sehen, dass Taylor offensichtlich nicht mit der Gefahr der Unterdrückung des Individuums beschäftigt ist, sondern der des Untergangs des Kollektivs. Und dieses Anliegen fehlt nicht die Relevanz. „Nicht die Berücksichtigung der Willkürfreiheit des einzelnen, sondern der Schutz der Integrität von Gemeinschaftsbeziehungen macht daher das Grundproblem einer zeitgenössischen Ethik aus.“275 Von Taylors Perspektive aus darf die Rede von Rechten des Einzelnen nicht zu dem Irrtum verleiten, dass diesen Rechten ein unbedingter Vorrang
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M. Walzer, „The Communitarian Critique of Liberalism“, in Political Theory, Bd. 18, 1(Februar 1990), S. 14. A. Wellmer, „Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen“, in M. Brumlik, H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M, 1993, S. 177. Unter den ontologischen und den advokatorischen Aspekten versteht Taylor Folgendes: Ontologische Fragen beziehen sich auf die Faktoren oder Begriffe (z.B. Atomismus oder Holismus), die als bestimmend betrachtet werden, um eine Erklärung von sozialen Leben bieten zu können. Sie strukturieren das „Feld der Möglichkeiten“ und lassen uns „Wahlmöglichkeiten, die wir mit normativen, abwägenden Argumenten entscheiden müssen“. (C. Taylor, „Aneinander vorbei...“, a.a.O., S. 105). Advokatorische Fragen oder Fragen der Parteinahme „beziehen sich auf den moralischen Standpunkt oder die Politik, die man vertritt“ (S. 104). Diese sehr verschiedenen Fragen sind in der Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus nicht zu vermischen: „Eine ontologische Position heißt nicht, für etwas Bestimmtes [einen konkreten Typ der Gesellschaft oder eine konkrete Politik] einzutreten; doch hilft sie gleichzeitig dabei, die Optionen zu definieren, für die man sinnvollerweise eintreten kann. Letzteres erklärt, inwiefern ontologische Thesen weit davon entfernt sind, unschuldig zu sein. Deine ontologische Auffassung kann, wenn sie wahr ist, zeigen, dass die von deinem Nachbarn bevorzugte Gesellschaftsordnung unmöglich ist und einen Preis zu zahlen hat, mit dem er oder sie nicht gerechnet hat. Dies sollte jedoch nicht zu der Auffassung verleiten, dass die ontologische Auffassung mit der Parteinahme für eine Alternative gleichbedeutend ist“ (Ebenda, S. 105). Da das Ontologische „die Ebene ist, auf der wir uns mit wichtigen Fragen bezüglich der realen Möglichkeiten, die uns offenstehen, konfrontiert sehen, ist sein Niedergang in der Gesellschaftstheorie ein wirkliches Unglück“. (Ebenda, S. 108.) A. Honneth, „Nachwort“, in C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 311.)
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gegenüber den Ansprüchen der Gemeinschaft gebühre, als ob die Rede von Rechten nicht selbst „voraussetzungsreich“ wäre. Die Rechte des Individuums in den Vordergrund zu stellen, ohne gleichzeitig ihre Bedingungen (bzw. die Entfaltung des Individuums) zu berücksichtigen, wäre so paradox, wie wenn man jemanden anbieten würde, ihn im Tiefkühlschrank zu verstecken, um ihn dem Blick derer zu entziehen, die seine Freiheit bedrohen.276 Mit dieser bildhaften Analogie werden die lebensnotwendigen Bedingungen der Selbstverwirklichung bzw. der Ausübung von Freiheiten betont; andernfalls missversteht man, so Taylor, was es bedeutet frei zu sein oder ein Recht zu behaupten. Ein Recht impliziert die Behauptung des Werts277 einer bestimmten Kapazität (capacities) – aber diese Kapazität benötigt zu ihrer Entfaltung einen sozio-kulturellen Raum. Bienfait erläutert diesen Punkt wie folgt: „Für Taylor, der, wie alle Kommunitaristen, im Gegensatz dazu eine soziale Konzeption des Menschen vertritt und die gesellschaftliche Gebundenheit der menschlichen Identität betont, sind Rechte und Freiheiten voraussetzungsreich. Sie beruhen auf der Gebundenheit und Zugehörigkeit der Person zu einer bestimmten Gruppe. Rechte und Freiheiten entstehen nicht aus dem Nichts heraus, und sie sind auch kein Produkt exzentrischer Selbsterschaffung. Vielmehr sind es immer regulierte und normierte, also gesellschaftlich geprägte Rechte und Freiheiten, eingebunden in ein dichtes Netz aus nie ganz durchsichtigen Praktiken unter dem Horizont geschichtlicher Möglichkeiten und kulturell vorgegebener Sinnvorstellungen. Ohne diesen kulturellen Werthorizont, so Taylor, wüsste der Einzelne weder was Freiheit noch was Würde realiter bedeuten.“278 Die Gemeinschaft liegt der Ausübung des Freiheitsrechtes zugrunde. Daher hält Taylor für fragwürdig das Verständnis von diesem Recht in der prozeduralen Theorie, die dem Individuum das Vorrecht zuerkennt, Entscheidungen selbstherrlich und von einem reinen Standpunkt aus zu treffen. Er betont immer wieder, dass einige Verhaltensweisen außerhalb gewisser Bedingungen nicht möglich wären.279 Eine authentische Selbstverwirklichung unterscheidet sich daher von einer „isoliert verlaufenden Selbstkonstruktion“. Einleuchtend ist hier die Formel Bourdieus: „le savoir appartient à la communauté“ (Das Wissen gehört der Gemeinschaft).280Für Taylor müssten diejenigen, die sich ernsthaft mit dieser
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C. Taylor, „Atomism“, a.a.O., S. 199. „[…] We assert this right [right to life] because human life has a certain worth.“ (Ebenda) A. Bienfait, Im Gehäuse der Zugehörigkeit, a.a.O., S. 14. Siehe C. Taylor, „The Validity of Transcendental Arguments“, in ders., Philosophical Arguments, a.a.O., S. 20-33. P. Bourdieu, Le sens pratique. Paris, 1980, S. 117. Zur Betonung von grundlegenden Status der sozialen Welt weist Waldenfels darauf hin, dass „alles Verstehen auf eine Verständigung bezogen ist, die bereits von einem Wir ausgeht“. (B. Waldenfels, „Verstehen und Verständigung. Zur Sozialphilosophie von A. Schutz“, in W. Sprondel, R. Grathoff, (Hg.), A. Schutz und die Idee des
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Frage beschäftigen, einsehen, dass sie nicht umhinkönnen, den transzendentalen Charakter des Guten und der Gemeinschaft anzunehmen. Eine solche Argumentationsweise hat W. Reese-Schäfer als normative Phänomenologie bezeichnet: „Taylor treibt die Deskription nämlich immer bis zu dem Punkt, an dem Voraussetzungen und Implikationen sichtbar werden, die, wenn man lange genug auf ihnen insistiert, normative Qualitäten gewinnen.“281 Von diesem Standpunkt aus lässt sich z.B. die These von Nozick über die Rechte des Individuums in Frage. In seinem Buch Anarchy, State, and Utopia vertritt Nozick die These, der Einzelne habe bestimmte Rechte, denen ein unbedingter Vorrang vor den Ansprüchen der Gemeinschaft gebührt. 282 Nur ungebunden könne der Mensch als Rechtsperson seinem Freiheitsdrang folgen. Diese Auffassung hält Taylor für unzulänglich, weil die Rechte nicht bedingungslos gelten. Aus Taylors Sicht macht es keinen Sinn, die Rechte des Individuums zu betonen, ohne gleichzeitig deren notwendige Bedingungen zu berücksichtigen. Er plädiert für einen nicht gespaltenen Ausgangspunkt, denn ohne das Gute und die Gemeinschaft kann es auch die Rede vom Individuum nicht geben.283 Die ultraliberale Auffassung der Rechte bzw. der Freiheit stoßt auf ihre Grenzen. Es ist daher relevant, sich für Renauts
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Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart, 1979, S. 11). Das Verstehen „eröffnet nicht erst den Zugang zu den Andern, sondern ist von vornherein in einen sozialen Kontext eingebettet“. (S. 7) Waldenfels behauptet, dass er durch diesen erneuerten Begriff des Verstehens den „egozentrischen Aufbau der sozialen Welt ins Lot bringen“ will. W. Reese-Schäfer, „Einige kritische Bemerkungen...“, a.a.O., S. 623. „Die Menschen haben Rechte, und einiges darf ihnen kein Mensch und keine Gruppe antun (ohne ihre Rechte zu verletzen). Diese Rechte sind so gewichtig und weitreichend, dass sie die Frage aufwerfen, was der Staat und seine Bediensteten überhaupt tun dürfen. Wieviel Raum lassen die Rechte des einzelnen für den Staat?“ (R. Nozick, Anarchy, State, and Utopia. New York, 1974, S. IX). Dieses Vorwort bestimmt die Stoßrichtung des gesamten Buches, das die Rechte des Individuums allem voranstellt und für einen absoluten Schutz des Eigentums argumentiert. Allerdings muss erwähnt werden, dass Nozick später die republikanisch-kommunitaristische Ansicht und damit eine moralphilosophische Theorie des Guten angenommen hat. (Siehe R. Nozick, The Examined Life. Philosophical Meditations, New York, 1989. Dt. Version: Vom richtigen, guten und glücklichen Leben. München-Wien, 1991) Da sind für Taylor die intersubjektiven und sozialen Bedingungen von Selbstverwirklichung. Dazu fügt er die Fähigkeit hinzu, das Leben als eine Geschichte zu erfassen oder das eigene Leben im Sinne einer narrativen Darstellung zu begreifen: „Um zu empfinden, wer wir sind, brauchen wir eine Vorstellung davon, wie wir es geworden sind und wohin wir unterwegs sind.“ (QS, S. 94). Das Fehlen dieser Vorstellung sorgt, so Taylor, für eine Identitätskrise als eine zugespitzte Form der Desorientierung, eine akute Form von Orientierungsverlust. Die Frage „Wo sind wir?“ ist daher von der Frage „Wohin gehen wir?“ nicht gänzlich zu dissoziieren.
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Reihe von Begriffsunterscheidungen (Humanismus/Individualismus, Autonomie/Unabhängigkeit) zu interessieren: „While the notion of autonomy is perfectly compatible with the idea of persons submitting to laws or norms as long as these are freely accepted [...], the ideal of independence can no longer tolerate such a limitation of the self; on the contrary, it aims at the pure and simple affirmation of the self as a value. The self-establishing normativity of autonomy thus tends to give way to simple ‚self-regard’. Correspondingly, consensus based on shared norms tends to be replaced by a split between the public and the private, with the valorization of private happiness and the parallel desertion of the public space so well described by Tocqueville. Having distinguished in this way between humanism (understood as the valorization of autonomy) and individualism (as the valorization of independence), it now becomes possible to formulate a new hypothesis about the historical development of subjectivity as a philosophical concept.“284 Der Individualismus entwürdigt die Autonomie und hat dadurch schwere Folgen für das politische Leben. Wenn wir unsere Beziehung zu Mitmenschen nur aus dem Gesichtspunkt unserer Rechte (Was steht uns „rechtmäßig“ zu?) und der negativen Pflichten, d.h. Unterlassungspflichten ansehen, erschweren wir das Zusammenleben. Problematisch in Nozicks Ansicht ist also nicht nur der Freiheitsbegriff, sondern auch die instrumentelle Vorstellung sozialer Institutionen bzw. der Gesellschaft. Beide Punkte hängen zusammen: „Da das freie Individuum seine Identität nur innerhalb einer Gesellschaft oder Kultur einer bestimmten Art aufrechterhalten kann, muss es um die Gestalt dieser Gesellschaft/Kultur als Ganzes besorgt sein. Es kann sich nicht, dem Nozick entworfenen libertär-anarchistischen Modell gemäß, ausschließlich mit seinen individuellen Vorlieben befassen und nur um die aus solchen Vorlieben hervorgehenden Zusammenschlüsse kümmern und dabei den Mutterboden außer Acht lassen, der darüber entscheidet, welche Möglichkeiten, nach seinem Belieben eine Wahl zu treffen, überhaupt zur Verfügung stehen und welche nicht, ob es reichhaltige oder magere Alternativen gibt. Für das freie Individuum ist wichtig, dass bestimmte Tätigkeiten und Institutionen in der Gesellschaft florieren. Es ist sogar wichtig, wie es um die moralische Einstellung der gesamten Gesellschaft bestellt ist [...], weil Freiheit
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A. Renaut, The Era of the Individual. New Jersey, 1997, S. 19. Siehe z.B. Dumonts Verständnis des Begriffs des Menschen in der Moderne: „[M]an taken as an autonomous being independently of any social or political attachement.“ (L. Dumont, Essays on Individualism: Modern Ideology in Anthropological Perspective. Chicago, 1986, S. 73). Daraus zieht Renaut den Schluss: „By virtue of this, autonomy would have to imply absolute independence: the need of the human being (as in the case of substance for Descartes) only for itself in order to exist. Hence in various places Dumont is apt to liken autonomy-as-independence to self-suffciency [...].“ (A. Renaut, The Era of the Individual, a.a.O., S. 38.)
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und individuelle Verschiedenheit nur in einer Gesellschaft florieren können, wo deren Wert allgemein anerkannt wird.“285 Die Auffassung Taylors klingt wie eine Warnung davor, den Ast, auf dem man sitzt, abzusägen, „denn was der Mensch aus der Gesellschaft gewinnt, ist nicht Unterstützung bei der Verwirklichung seines jeweiligen Guten, sondern die Möglichkeit überhaupt, ein Handelnder zu sein, der dieses Gute anstrebt“.286Eine reichhaltigere Freiheit zu verwirklichen, bedeutet daher für ihn die Vorstellung der Selbstgenügsamkeit des Individuums (Nozick) zu überwinden und die Gestalt der Gesellschaft mitbestimmen. Es ist zu merken, dass der vom Taylor im politischen Bereich hervorgehobene Begriff vom „beteiligten Subjekt“ äquivalent zu dem ‚engagierten Subjekts’ in seiner Anthropologie ist. Die Relevanz dieses Begriffs in der Politik ist ihm zufolge sehr groß. Daher bekämpft er die Trennung von Privatem und Öffentlichem und damit das Verlassen der öffentlichen Sphäre287. Taylors Kritik am prozeduralistischen Liberalismus wird nicht durch Oberflächenphänomene ausgelöst, sondern betrifft etwas, das für die Gestaltung der Moderne symptomatisch ist, und zwar die Schwierigkeit der Förderung eines Bewusstseins sozialer Zugehörigkeit und sinnstiftender kollektiver Identitäten. Das Vorausgehende läuft in Hinblick auf die Kritik Taylors am prozeduralistischen Liberalismus – zur Verteidigung der Moderne (denn beide sind für Taylor nicht deckungsgleich) – auf die folgenden Programmpunkte hinaus: Sowohl das liberale Menschenbild als auch das liberale Verständnis von sozialen Institutionen sind zu hinterfragen Dies unternahm Taylor mittels des Rekurses auf das Webersche Konzept der Idealtypen. Diese Methode besteht darin, die soziale Realität mit Hilfe von
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C. Taylor, „Atomismus“, a.a.O., S. 100f. Taylor nennt die Hypothese des Naturzustands eine Absurdität. Auch Ricoeur kritisiert diese Hypothese: „So setzen manche Naturrechtstheorien ein vollständiges Subjekt voraus, das bereits im Harnisch der Rechte steckt, bevor es die Gesellschaft betritt. Hieraus ergibt sich, dass die Teilnahme dieses Subjektes am Leben der Gemeinschaft prinzipiell kontingent und widerruflich ist und dass das Individuum – da man gemäß dieser Hypothese die Person so nennen muss – berechtigt ist, vom Staat den Schutz seiner außerhalb des Staates konstituierten Rechten zu erwarten, ohne dass ihm die innere Verpflichtung obläge, an den mit der Vervollkommnung des sozialen Bandes verknüpften Pflichten mitzuwirken. Diese Hypothese eines Rechtssubjektes, das vor jeder gesellschaftlichen Bindung konstituiert ist, lässt sich nur widerlegen, wenn man ihre Wurzeln kappt. Nun besteht aber die Wurzel in der Verkennung der Vermittlungsrolle des Anderen zwischen Fähigkeit und Durchführung.“ (P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer. München, 1996, S. 221.) C Taylor, „Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit“, in ders., Negative Freiheit, a.a.O., S. 150. Zur Bedeutung der öffentlichen Sphäre in den sich als frei darstellenden Gesellschaften siehe C. Taylor, Modern Social Imaginaries, a.a.O., S. 83-99. Es ist zu bemerken, dass Taylor dabei die Bedeutung des privaten Lebens in den modernen Gesellschaften nicht ignoriert oder bekämpft (S. 172.)
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Idealtypen zu ordnen und zu erfassen. Dabei stellt der Sozialwissenschaftler Hauptzüge dieser Realität heraus und überzeichnet sie absichtlich.288 Ausgehend davon hat Taylor zur Bekämpfung der Ausbreitung eines konsumorientierten und entpolitisierten individuellen Lebensstils und zur Verdeutlichung der Relevanz der Bürgerbeteiligung in einer liberalen Demokratie zwei Verständnisse von Institutionen, nämlich das instrumentelle und das identifikatorische289 bzw. das rights model und das participatory model der Gesellschaft festgesetzt. Gesellschaften unterscheiden sich voneinander je nach dem Institutionen-Verständnis, auf dem sie beruhen. Die Ansicht, staatliche Institutionen seien „superserviceinstitution“, ist eng verbunden mit der atomistischen Denkweise, die besonders in der englischsprachigen Welt zur Formierung eines unreflektierten common sense geführt hat. In 288
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Das idealtypische Verfahren als Methode in der Soziologie geht auf Max Weber zurück. Er versteht den Idealtypus als eine Utopie; in dieser Hinsicht nähert es sich zwar der Wirklichkeit an, aber deckt sich mit ihr nicht miteinander. Der Soziologe versucht nicht die soziale Realität abzubilden, sondern davon zu abstrahieren und je nach Erkenntnisinteresse einen oder einige Gesichtspunkte zu steigern. (M. Weber, „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1985, S. 190f.) Diesbezüglich merkt Taylor an: „We regularly come accross ways in which the modern social imaginaries, no longer defined as ideal types but as actually lived by this or that population, are full of ideological and false consciousness.“ (C. Taylor, Modern Social Imaginaries, a.a.O., S. 183.) „The family and service stations represent the two extreme paradigms. Let us take service stations first. Ask anybody in our society to specify their meaning; it will always be defined in utilitarian and instrumental terms. These institutions have a well defined function; namely, to provide a certain service. We use them without giving the matter too much thought, and often even without any human contact with those who work in them. […] Let us now take the family. [T]he different roles and norms connected with the family do not define external behaviour only, as is the case with service stations. As the years go by, the identity of each of the participants crystallizes in the relationship between husband and wife, between parents and children. These are exchanges that shape each of those who enter into them. It follows that to accept a certain norm of family life is to recognize a certain form of identity as valid. […] I take on by that very token a certain definition of myself.“ (C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 121f.). Einerseits ist das Handeln kollektiv, doch sein Sinn bleibt ein individueller; anderseits ist es gemeinschaftlich. (C. Taylor, „Aneinander vorbei...“, a.a.O., S. 112.). In diesem Zusammenhang In derselben Perspektive unterscheidet auch Dworkin zwischen einer statistischen kollektiven Handlung (une action collective statistique) und einer gemeinschaftlichen kollektiven Handlung (sie ist kollektiv im tieferen Sinne). Letztere unterteilt er noch in einer gemeinschaftlichen integrierten Handlung (A1) und einer monolithisch-gemeinschaftlichen Handlung (A2). Die erste erkennt die Rolle des Individuums, die zweite verkennt sie. Für Dworkin bezieht sich das beste Verständnis der Demokratie auf. (R. Dworkin, „Deux conceptions de la démocratie“, in J. Lenoble, N. Dewandre (Hg.), L’Europe au soir du siècle, identité et démocratie, Paris, Esprit, 1992, S. 111-135.). Dworkins Überlegungen bereichern in einer hervorragenden Weise Taylors Plädoyer für eine Variante von Liberalismus, der mehr als nur prozeduralistisch ist.
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Einklang mit seiner anthropologischen Grundlage befürwortet Taylor das zweite Verständnis. Denn hier identifiziert sich der Mensch mit den Institutionen; er betrachtet sie nicht bloß als Mittel für ausschließlich persönliche und private Zwecke (Gefahr der Desintegration).290 Natürlich entgeht Taylor nicht, dass ein moderner Staat unter anderem ein kollektives Instrument zur Förderung individueller Ziele ist. Er gibt sogar unumwunden zu, dass die liberale Theorie in diesem Punkt bis zu einem gewissen Grad richtig ist. Aber wichtiger für ihn ist es, zu verhindern, dass der Staat nur auf eine rein instrumentelle Rolle reduziert wird. 291 Die Bürger sollen die Wir-Perspektive übernehmen, damit die Institutionen der Freiheit wirksam bleiben. Habermas stimmt Taylor in gewisser Hinsicht zu: „Obwohl das Ganzheitsmodell eines Gemeinwesens [d.h. ein kommunitarisch-ethisches Verständnis der Staatsbürgerolle, eine auf Aristoteles zurückgreifende republikanische Tradition der Staatslehre], dem die Staatsbürger mit Haut und Haaren einverleibt sind, in vielen Hinsichten der modernen Politik unangemessen ist, hat es gegenüber dem Organisationsmodell [d.h. ein individualistisch-instrumentalistisches Verständnis der Staatsbürgerolle, von Locke ausgehende liberale Tradition des Naturrechts], wonach die einzelnen isoliert dem Staatsapparat gegenüberstehen und nur über eine funktional spezifizierte Mitgliedschaftsbeziehung mit ihm verknüpft sind, einen Vorzug: Es macht klar, dass politische Autonomie ein Selbstzweck ist, den niemand für sich allein, in der privaten Verfolgung je eigener Interessen, sondern nur alle gemeinsam auf dem Wege einer intersubjektiv geteilten Praxis verwirklichen können. Die Rechtsstellung des Staatsbürgers konstituiert sich durch ein Netz egalitärer Beziehungen reziproker Anerkennung. Sie mutet jedem die Teilnehmerperspektiven der ersten Person Plural zu – nicht nur die Beobachterperspektive eines am je eigenen Erfolg orientierten Beobachters oder Aktors.“292
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Daher bildet der Patriotismus ein wichtiges Thema bei Taylor. Ausgehend von einer republikanisch-humanistischen Tradition versucht er die Idee geltend zu machen, dass jede politische Gesellschaft von ihren Mitgliedern Opfer fordert und ihnen Disziplin abverlangt. Taylor sieht seine Argumentation als historisch begründet an. Er behauptet, dass die atomistische Sichtweise nicht in der Lage ist, den Patriotismus, auf den die Entstehung vieler moderner Gesellschaften angewiesen ist, zu erklären. Mit dieser Rede von patriotischer Identifikation, auf die er pocht, setzt er sich aber der Kritik aus, derzufolge der republikanische Patriotismus für eine Menge von Übeln verantwortlich ist. Dies leugnet Taylor nicht. Aber er besteht trotzdem darauf, dass der Patriotismus eine Kraft in der modernen Gesellschaft bleibt und bei der Aufrechterhaltung gegenwärtiger liberaler Regime eine wesentliche Rolle spielt. (C. Taylor, Aneinander vorbei.“, a.a.O. S. 121.) Ebenda, S. 133. Siehe ausführliche Präsentation in C. Taylor, Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie. Frankfurt, 2001. J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft. St. Gallen, 1991, S. 14.
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Taylor nennt als Beispiel den Skandal von Watergate, um zu zeigen, dass die Fähigkeit der Entrüstung der Bevölkerung sich von Quellen (gemeinsamer Identität und Geschichte bzw. bestimmten Idealen) ernährt, die der am Kalkulieren der langfristigen Interessen der Einzelnen orientierte Atomismus nicht fasst.293 Die vorliegende Diskussion hat für Taylor nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Interesse. Durch sein Plädoyer für eine Alternative zum prozeduralistischen Liberalismus will er den besonderen Status von Quebec verteidigen. Quebec ist eine Gesellschaft, die durch moralische und politische Prinzipien vereinigt und durch eine ethnische und historische Zugehörigkeit gebildet wird. Taylor sieht diese zwei Formen der Kohäsion als kompatibel an.294 Wenn man den Stellenwert von Quebec in Taylors Anliegen berücksichtigt, kann man schnell erkennen, wieso er auch Zweifel an der Relevanz des Neutralitätsprinzips, auf das der prozeduralistische Liberalismus pocht, äußert. Der prozeduralistische Liberalismus ist gekennzeichnet durch die Forderung, dass der Staat gegenüber den Vorstellungen vom guten Leben der Bürger neutral sein muss. Das Neutralitätsprinzip ist eine logische Folge aus dem der Gleichheit bzw. Nichtdiskriminierung. Vielen liberalen Autoren zufolge würde das Prinzip der Gleichheit gefährdet, wenn der Staat für die eine oder andere Konzeption des guten Lebens eintritt. Deshalb sollte eine liberale Gesellschaft nicht auf einer bestimmten Auffassung des guten Lebens gründen. In 293 294
C. Taylor, Aneinander vorbei..“, a.a.O., S. 120f. C. Taylor, „Les sources de l´identité moderne“, in M. Elbaz et al. (Hg.), Les frontières de l´identité. Modernité et postmodernisme au Québec, Sainte-Foy-Paris, 1996, S. 360, 363. Quebec verbindet mit dem Anspruch auf Anerkennung seiner Identität die Verteidigung seiner ethnisch-kulturellen Bestimmungen. Zu diesem zählt z.B. seine Sprache (und zwar Französisch gegenüber der Dominanz des Englischen). Und weil er die Identifikation mit einer geschichtlichen Gemeinschaft für eine entscheidende Bedingung partizipatorischer Politik hält, ist Taylor der Ansicht, dass Provinzen in Kanada wichtige Ebenen (level) bilden und stark berücksichtigt werden müssen. Taylor hat im Blick die schmerzhaften Erfahrungen der Missachtung bzw. Nicht-Anerkennung, die Quebec lange Zeit erdulden musste. Er ist daher sehr empfänglich für den Anspruch der Quebecer auf Anerkennung ihrer Identität („the acceptance of ourselves by others in our identity.“ (C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O.,1993, S. 190) und ist offensichtlich der Meinung, dass es dabei keineswegs um eine nebensächliche oder sekundäre Frage geht, sondern um eine Frage, die das menschliche Wesen selbst betrifft („Our identity is what defines us as human agents; it is ‚who’ we are.“ (Ebenda, S. 190)). Daher muss man sich voll dafür einsetzen, um von den Anderen anerkannt zu werden. Die Forderung nach Anerkennung gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn wir ihren moralischen Sinn betrachten: Wir alle nehmen an, dass jeder anerkannt werden muss („what is the moral background that people appeal to in demanding recognition? It is some sense of a universal principle that everyone should be recognized.“ (Ebenda, S. 191)). „[...] I just want to note that a sense of equality is a lot easier to maintain where the people are homogeneous. For once the people are rather obviously composed of two distinct groups – be it on racial, cultural, religious, or other grounds – a question cannot but arise. […]“ (C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 189.)
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diesem Zusammenhang liegt im Kern einer liberalen Gesellschaft nicht eine Ethik des Guten, sondern eine Ethik des Gerechten. Grundlegende Prinzipien einer solchen Ethik beziehen sich darauf, „wie die Gesellschaft die miteinander konkurrierenden Ansprüche von Individuen beantwortet und entscheiden sollte [...]. Dabei sind die Verfahren der Entscheidung das Wesentliche, weshalb ich diese Art von Liberalismus ‚prozeduralistisch’ nenne“.295 Taylor lehnt diese Zurückweisung der gesellschaftlich geteilten Vorstellungen vom Guten vehement ab. Um aufzuzeigen, wie problematisch dieses Modell des Liberalismus sein könnte, wirft er die Frage auf, wie lebensfähig eine Gesellschaft wäre, wenn sie wirklich diese Kriterien erfüllte. Für Taylor stößt das Modell des prozeduralen Liberalismus auf große Schwierigkeiten. Es ist kaum möglich, sich eine demokratische liberale Gesellschaft ohne jede Identifikationsdimension durch bestimmte Vorstellungen vom Guten (also ohne eine allgemein anerkannte Definition des guten Lebens) vorzustellen. Deswegen erweist sich das Neutralitätsprinzip als unrealistisch. „Neutral as total principle seems to me here a formula for paralysis; or else for hypocrisy, if one tried to occlude the real reasons. It is at this point that it begins to appear more than costly; in truth, inapplicable.“296 Der prozeduralistische Liberalismus unterlässt es Taylor zufolge, den Schwerpunkt auf die Rolle der gemeinsam geteilten Vorstellungen vom Guten als eines wichtigen Bausteins zu legen. Er „setzt sich die Gesellschaft aus Individuen mit Lebensplänen zusammen, die auf ihren Konzeptionen des Guten beruhen, jedoch ohne eine gemeinsam geteilte Konzeption, für die die Gesellschaft selbst eintritt“.297 Dies wird als ein begrenzter Überblick über die Realität. Auch von Seiten der bekanntesten Vertreter des Liberalismus, z.B. von Charles Larmore, wurde der Begriff der Neutralität infrage gestellt. Ihm zufolge ist der Begriff der Neutralität irreführend. Denn dieser suggeriert zu Unrecht, dass der Liberalismus auf keine moralischen Vorstellungen verweist, oder dass er gegenüber der Moral neutral ist. In Wahrheit 295
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C. Taylor, „Aneinander vorbei...“, a.a.O., S. 109f. Taylor bezieht sich hier auf die von Ronald Dworkin in seinem Artikel ‚Liberalism’ gelieferte Darstellung von Liberalismus. Dworkin sieht eine liberale Gesellschaft als nur auf prozeduralen Regeln (siehe R. Dworkin, „Liberalism“, in Stuart Hampshire (Hg.), Public and Private Morality, Cambridge, 1978). Im Unterschied dazu vertritt Taylor die Überzeugung, „dass eine demokratische liberale Gesellschaft eine allgemein anerkannte Definition des guten Lebens benötigt“. (Ebenda, S. 104.) C. Taylor, „Reply and re-articulation“, in J. Tully (Hg.), Philosophy in age of pluralism, a.a.O., S. 253. „[…] I just want to say that single-principle neutral liberalism can’t suffice. That it has to allow for other goods with which it will have to compose, and put some water in its wine, on pain of our forgoing other very important things. Or perhaps the case might be put more strongly; perhaps the integral realisation only of this principle verges on the impossible.“ (Ebenda, S. 250.) C. Taylor, „Aneinander vorbei..“, a.a.O. S. 118.
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versucht der Liberalismus nur, so Larmore, eine gewisse Neutralität gegenüber verschiedenen umstrittenen Vorstellungen vom Guten herauszustellen. Vorausgesetzt bleibt aber die Tatsache, dass der liberale Staat im Zusammenhang mit einer Grundmoral oder einer gemeinsamen Moral verfährt. Neutrale Prinzipien bedeuten infolgedessen, Prinzipien, die sich ohne Bezug auf umstrittene Vorstellungen vom Guten begründen lassen. Die Auffassung des Neutralitätsprinzips als Inexistenz von moralischen Inhalten ist für Larmore nicht nachvollziehbar und von der Realität entfernt. Andernfalls wäre es nicht möglich, der Rolle des Staats (moralische) Grenzen zu setzen oder daran Kritik zu üben.298 Sowohl in der Moral als auch in anderen Bereichen geht die (liberale) Argumentation nie vom Nullpunkt aus; sie kommt per definitionem zu spät. Wir stützen uns, so Larmore, auf Überzeugungen, die wir uns (zuvor) zueigen gemacht haben und für die wir bis dato keinen Grund zum Bezweifeln hatten. Wenn man sich Klarheit über die moralische Epistemologie verschafft, sieht man zweifelsohne ein, dass wir immer schon in eine elementare Moral eingewilligt haben. Daraus schließt Larmore, dass der Skeptizismus nicht die einzige (geschweige denn die beste) Art ist, die (liberale) Neutralität zu begreifen. Larmore (sowie Dworkin) räumt den Vorstellungen des Guten einen Platz ein und plädiert sogar für eine liberale Theorie des Guten. Eine ähnliche Ansicht finden wir auch bei Rawls. Er nimmt – wie die Entwicklung (bzw. Korrekturen, Umformungen, Präzisierungen usw.) seiner Gerechtigkeitstheorie in der Zeitspanne von 1971 über 1985 bis 1989 zeigt – an, dass die soziale Bindung einer politischen Gemeinschaft auf einer gemeinsamen Vorstellung des Guten basiert und die soziale Kooperation nur vor dem Hintergrund der öffentlichen Vorstellung vom Guten und von gewissen Idealen möglich ist. Er versucht, wie auch Taylor zugesteht, die grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien zu artikulieren, und stellt seine Theorie folgendermaßen dar: „Die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness ist nur mit gewichtigen Einschränkungen im prozeduralen Sinne neutral. Ihre Gerechtigkeitsgrundsätze sind eindeutig substantiell und repräsentieren weit mehr als bloß prozedurale Werte. Das gleiche gilt für die im Urzustand dargestellten politischen Konzeptionen der Person und der Gesellschaft.“299
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C. Larmore, The Morals of Modernity. Cambridge, 1996, S. 125f. Siehe auch seinen Aufsatz „Du libéralisme politique“, in A. Berten et al. (Hg.), Libéraux et communautariens, a.a.O., 1997, S. 144f. Es zeigt sich, dass die moralischen Prinzipien von Larmores politischen Liberalismus – nämlich der rationale Dialog und der gleiche Respekt – mit der Behauptung des unvermeidlichen Zugriffs auf eine substantielle moralische Position vereinbar sind. Denn bei ihm setzt die Rede von liberaler Neutralität voraus, dass diejenigen, die damit beschäftigt sind, Prinzipien politischer Assoziation zu finden, schon über ein gemeinsames Leben bzw. Vorstellungen vom Guten verfügen, bevor sie beschließen, ihr politisches Leben den liberalen Prinzipien gemäß zu gestalten. J. Rawls, Politischer Liberalismus. Frankfurt/M., 1998, S. 288. Auch Dworkin hat in der Weiterentwicklung seines Denkens versucht, die Vorstellungen des Guten in Rechts- oder Gerechtigkeitsfragen zu würdigen. Er hat in seinem Werk Law’s Empire (1986) die Idee vorgelegt, das
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Dass Rawls’ liberales Modell in moralischen Quellen bzw. vorhandenen substantiellen Gerechtigkeitsüberzeugungen („substantive principles of justice“) fußt, zeigt sich auch deutlich in The Law of Peoples: „These liberalisms contain substantive principles of justice, and hence cover more than procedural justice“.300 Wils sieht darin einen Beweis gegen die Vorstellung, die Theorie Rawls’ sei eine typische Illustrierung „für einen bloßen Prozeduralismus und für eine leere Verfahrensethik“, und betont, dass das liberale Modell in der Rawlsschen Erweiterung der Gerechtigkeitskonzeption „ein erhebliches Spektrum gehaltvoller moralischer Überzeugungen nicht nur nicht ausschließt, sondern diese geradezu unterstellt. Formulierungen wie ‚general good‘ und ‚perfectionism values‘ jedenfalls signalisieren substantiellere Voraussetzungen als jene, die von einer bloßen Verfahrensethik akzeptiert werden.“301 Dies zeigt, dass Rawls, weil er auch von einer moralischen Natur des Menschen/der Völker ausgeht, mit Taylor302 große Gemeinsamkeiten aufweist. Wir sollten daher die Vorstellung abwehren, dass alle Vertreter des Liberalismus von Taylors Kritik getroffen oder gleichermaßen betroffen sind. Die Frontlinien sind nicht vereinfachen. An dieser Stelle empfiehlt es sich im Auge zu behalten, dass signifikante Unterschiede in der Auffassung des Liberalismus zwischen seinen Vertretern bzw. zwischen der nordamerikanischen Welt und den kontinentaleuropäischen Ländern bestehen. Reese-Schäfer betont, „dass in den USA eine differenzierte Kritik formuliert worden ist, die einen stark individualistisch akzentuierte Liberalismus traf, wie es ihn in Kontinentaleuropa und besonders in Deutschland nicht gegeben hat“.303 Die Stellungen der Kontrahenten in der Debatte Liberalismus vs. Kommunitarismus lassen sich nicht scharf voneinander abgrenzen und auch nicht unveränderlich fixieren.304 Es gibt zwischen ihnen (auch zwischen Autoren vermeintlich derselben Familie) Komplexität, Positionsverschiebungen, Verbesserungsansätze und Neuformulierungen, die zu berücksichtigen sind.
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Recht sei ein interpretatives Konzept. Er lehnt grundsätzlich vehement ab, das Gute und das Gerechte aufzupalten. J. Rawls, The Law of Peoples. Cambridge Mass./London, 1999,. S. 14. Dt. Version: Das Recht der Völker. Berlin – New York, 2002, S. 17. J-P. Wils, „Die hermeneutische Signatur der kommunitaristischen Liberalismuskritik“, in M. Kühnlein (Hg.), Kommuniatismus und Religion, Berlin, 2010, S. 19. Siehe z.B. C. Taylors Essay „No Community, No Democracy“, Part II, in The Responsive Community, Winter 2003/04, S. 15-25. W. Reese-Schäfer, „Kommunitarisches Denken als Glaubensakt“, in M. Kühnlein (Hg.), Kommunitarismus und Religion, a.a.O., S. 105. Ein schlichtes Schema Kommunitaristen gegen Liberale bzw. Universalisten hilft nicht zu einem besseren Verständnis der Stellungen. In dieser Hinsicht weichen wir leicht von der Darstellung Agathe Bienfaits ab, die die Universalisten Taylor gegenüberstellt (siehe Fußnote 3 in A. Bienfait, Im Gehäuse der Zugehörigkeit, a.a.O., S. 14). Eine solche Darstellung ist – wie oben gezeigt – nuancierungsbedürftig. Natürlich stimmen wir anderen Aspekten ihrer Kritik an Taylor zu, z.B.
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Die Diskussion um das Neutralitätsprinzip illustriert dies. Für Taylor erschwert die Förderung vom Neutralitätsprinzip im Sinne von Verbannung der Vorstellungen des Guten die Anerkennung von Gesellschaften, die ihre Besonderheiten bewahren wollen. Daher versucht er das Augenmerk auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu legen. Er hinterfragt hier das Neutralitätsprinzip als These, derzufolge der Zusammenhalt einer Gesellschaft nur auf Gerechtigkeitsprinzipien angewiesen sein kann. Was, eine Gesellschaft zusammenhält, geht für ihn über die Verfahrensgerechtigkeit hinaus. Eine ähnliche Diskussion wurde in Deutschland durch die Aussage des Bundesverfassungsgerichts über den Zusammenhang von Christentum und demokratischem Rechtsstaat ausgelöst. Das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16.05.1995 lautet: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“305 Dieses Urteil, das das Christentum positiv würdigt und seine Prägekraft unterstreicht, weist die Idee zurück, dass ein Rechtsstaat keine religiös-weltanschauliche Bezüge haben kann. Es fordert allerdings nicht bestimmte „Glaubenswahrheiten“ zu bejahen, sondern die „Wirkung der Prägekraft“ des Christentums anzuerkennen.306 Dieses Urteil hebt die Idee hervor, dass das Neutralitätsprinzip Gegenstand einer sich im Bedeutungsrahmen vollziehenden Interpretation ist. Für Taylor öffnet die Berücksichtigung des Anspruchs auf Anerkennung der Identität natürlich die Tür für die Förderung von ethnisch-kulturellen Bestimmungen und zeigt die Grenzen des Neutralitätsprinzips. Denn eine Gesellschaft, die um ihren besonderen Status kämpft, greift
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der Kritik an der „Vorstellung homogener, in sich integrierter sowie nach außen eindeutig abgrenzbarer kultureller Kollektive“. (Ebenda, S. 19.) BVerfGE 93, I, 22. S. Huster, „Kultur im Verfassungsstaat“, in Kultur und Wissenschaft. Berichte, Diskussionen, hg von Veereinigungen der Deutschen Staatsrechtslehrer, Berlin, 65(2006), S. 51. Auf die Frage, ob der freiheitliche Staat Leistungen religiöser Gruppen für das (demokratische) Gemeinwesen unterstützen soll, betont Böckenförde, dass „offene, übergreifende Neutralität“ nicht die Anerkennung und die Förderung von bestimmten bedeutsamen Diensten (wie Caritas, Schule) der Religionsgemeinschaften gar nicht ausschließt. Er sieht darin keine „Privilegierung“ bzw. Verlertzung der Gleichbehandlung, sondern einen „Ausgleich für spezielle Dienste“. (U. Ruh, „‚Religionsfreiheit ist nicht teilbar‘. Ein Gespräch mit Ernst-Wolfgang Böckenförde“, in Herder Korrespondenz 58, 6/2004, S. 290.)
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in Fragen nach der Definition des guten Lebens ein. „Eine Gesellschaft wie Quebec kann nicht anders, als sich der Verteidigung und Förderung der französischen Kultur und Sprache widmen, selbst wenn dies eine Beschränkung individueller Freiheiten mit sich bringt.“307 Es kann sich hier fragen, inwiefern Taylor der Immigration bzw. der Fremdheit bewusst wird. Wie wir sehen werden, hat Taylor seine Ansicht überdacht. Es genugt an dieser Stelle zunächst, die Ambivalenz sener Position zu sehen. Er möchte zwar die kommunitaristische und die liberale Linien versöhnen, aber sein Versuch bleibt mit einer unaufgelösten Spannung behaftet, nämlich der Spannung zwischen den gemeinsamen Vorstellungen des Guten und den individuellen Freiheiten.308 Eine ähnliche unaufgelöste Spannung sieht Habermas auch in Michael Walzers Behauptung, derzufolge das Recht auf Immigration seine Grenze an dem Recht eines politischen Gemeinwesens findet; denn Letzteres muss die Integrität seiner Lebensform bewahren.309 Darauf reagiert Habermas folgendermaßen: „Dieses Argument lässt allerdings zwei gegensätzliche Lesarten zu: In der kommunitaristischen Lesart soll es dem liberalen Recht auf Einwanderung zusätzliche normative Beschränkungen auferlegen. Zu den funktionalen Beschränkungen, die sich aus den Reproduktionsbedingungen des administrativen und ökonomischen Systems ergeben, treten Beschränkungen hinzu, die die ethnisch-kulturelle Substanz der jeweiligen Lebensform sichern. Damit gewinnt das Argument den partikularistischen Sinn, wonach die Staatsbürgerschaft zwar nicht mit nationaler Identität, aber mit bestimmten historisch ausgeprägten kulturellen Identitäten verschränkt ist.“310 Im Gegensatz zu Walzer betont Habermas: „Die Identität des politischen Gemeinwesens, die auch durch Immigration nicht angetastet werden darf, hängt primär an den in der politischen Kultur verankerten Rechtsprinzipien und nicht an einer besonderen ethnisch-kulturellen Lebensform im Ganzen. Deshalb muss von neuen Staatsbürgern die Bereitschaft erwartet werden, dass sie sich auf die politische Kultur ihrer neuen Heimat einlassen, ohne deshalb die kulturelle Lebensform ihrer Herkunft aufgeben zu müssen. Die geförderte politische Akkulturation erstreckt sich auf das Ganze ihrer Sozialisation [...]. Allein eine demokratische Staatsbürgerschaft, die sich nicht partikularistisch abschließt, kann im Übrigen den Weg bereiten für einen Weltbürgerstatus, der heute schon in weltweiten politischen Kommunikationen Gestalt annimmt.“311
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C. Taylor, „Aneinander vorbei...“, a.a.O. S. 130. Siehe sein Interview in M. Ancelovici, F. Dupuis-Déri, „Entretien avec Charles Taylor“, a.a.O., S. 27. Siehe M. Walzer, Spheres of Justice. New York, 1983, S. 31-63. J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, a.a.O., S. 32. Ebenda, S. 32f.
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Der Unterschied zwischen Habermas und Taylor (und Walzer) ist deutlich: Wo Letzterer vom Standpunkt Quebecs die patriotische Identifikation mit ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten verknüpft, argumentiert Habermas mit Blick auf die Ereignisse Deutschlands und Osteuropas für eine demokratische Staatsbürgerschaft. Aus den historischen Erfahrungen in Europa zieht er die Forderung eines aufgeklärten Umgangs mit der eigenen Geschichte: „Gesellschaften, wie die unseren, die zugleich funktional differenziert und kulturell heterogen sind, haben kein Gemeinwohl außer einem Rechtssystem, das freie Bürger gleich behandelt und ihre Konflikte gerecht regelt. Nur ein Verfassungspatriotismus wäre heute möglich.“312 Der Unterschied zwischen Habermas und Taylor geht noch weiter. Angesichts des Faktums der Heterogenität zitiert auch Habermas, wie Taylor, das Beispiel der Vereinigten Staaten, aber mit einem anderen Zweck, nämlich zur Zurückweisung des kommunitaristisch-ethischen Verständnisses: „Nun zeigen die Beispiele multikultureller Gesellschaften wie der Schweiz und der USA, dass sich eine politische Kultur, in der die Verfassungsgrundsätze Wurzeln schlagen können, keineswegs auf eine allen Staatsbürgern gemeinsame ethnische, sprachliche und kulturelle Herkunft stützen muss. Eine liberale politische Kultur bildet nur den gemeinsamen Nenner eines Verfassungspatriotismus, der gleichzeitig den Sinn für die Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärft. [...] Es bleibt dabei: Die demokratische Staatsbürgerschaft braucht nicht in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein; unangesehen der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen, verlangt sie aber die Sozialisation aller Staatsbürger in einer gemeinsamen politischen Kultur.“313 Aus dem Gesagten folgt, dass Habermas in Übereinstimmung mit Taylor der Meinung ist, dass eine gemeinsame Basis für den Zusammenhalt einer Gesellschaft entscheidend ist. Aber im Gegensatz zu ihm hält er daran fest, dass diese gemeinsame Basis eher in einer gemeinsamen politischen Kultur besteht als in ethnisch-kulturellen Gemeinschaften. Angesichts des Wandels der Bedeutung vom Begriff „Nation“, der sich nicht mehr als Abstammungsgemeinschaft, sondern als eine Nation von Staatsbürgern zu begreifen ist, empfiehlt er den Begriff Verfassungspatriotismus. „Die Staatsbürgernation findet ihre Identität nicht in ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten, sondern in der Praxis von Bürgern, die ihre demokratischen Teilnahme- und Kommunikationsrechte aktiv ausüben. Hier löst sich die republikanische Komponente der Staatsbürgerschaft
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J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtstaats. Frankfurt/M., 1992, S. 642. J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, a.a.O., S. 15f.
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vollends von der Zugehörigkeit zu einer vorpolitischen, durch Abstammung, geteilte Tradition und gemeinsame Sprache integrierten Gemeinschaft.“314 Es ist zu erkennen, dass sich Taylor und Habermas darin unterscheiden, worauf sie die Betonung legen. Während Habermas auf die universelle Dimension bzw. auf die Gerechtigkeit und die Freiheit Wert legt, tendiert Taylor dazu, die Partikularität zu betonen, d.h. er fokussiert sich auf die Geschichtlichkeit der kollektiven Identität, also auf die Tatsache, dass sich bestimmte Menschen um ein bestimmtes Projekt vereinigen, welches andere Menschen (außerhalb dieser Gruppe oder Gemeinschaft) nicht unbedingt einschließt. Unter diesem Aspekt reicht die Übereinstimmung über die politischen Prinzipien (wie die Freiheit) nicht zur Gewährleistung eines gelungenen gemeinsamen demokratischen Lebens.315 Es muss hinzukommen, dass die Mehrheit der Leute glaubt, dass dieses gemeinsame Projekt (d.h. das demokratische Leben) ihre Selbstbehauptung ermöglicht. Dieses Gefühl ist, so Taylor, zwar undurchschaubar, aber unentbehrlich.316 Taylors politisches Denken hat sich in den letzten Jahren verschoben. Nachdem er die kommunitaristische Perspektive in zahlreichen Schriften entschieden verteidigt hat, zeigt sich seit 1995 bei näherer Betrachtung seiner Schriften, dass er nun dazu tendiert, das Neutralitätsprinzip zu akzeptieren.317 Zu betonen ist, dass es hier um die ‚politische Neutralität‘ geht; diese hat mit der Neutralität im epistemologischen Sinne, von der die Rede ist, wenn er sich mit der Vogelperspektive in den Sozialwissenschaften auseinandersetzt (Kap. 5), nichts zu tun. Das Neutralitätsprinzip ist eine Formulierung der demokratischen Forderung nach einer pluralistischen Gesellschaft;318 der Staat muss gegenüber den umfassenden Lehren neutral sein und keine, um Staat aller sein zu können.319 Taylors Position verschiebt 314
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Ebenda, S. 9. Dem Habermasschen Begriff des Verfassungspatriotismus als einem Ausdruck der Loyalität (Die Bürger sind gegenüber gemeinsamen politischen Prinzipien zur Loyalität verpflichtet) hat sich Taylor in seinem Gespräch mit Ancelovici und Dupuis-Déri offen gezeigt. Dieser Begriff soll für ihn – wie auch Habermas klarstellt – auch bedeuten, dass sich diese gemeinsamen Prinzipien in einem historischen Projekt eines bestimmten Volkes verkörpern. Infolgedessen können die Bürger stolz auf ihre Institutionen als Verwirklichung gemeinsamer politischer Prinzipien sein. (M. Ancelovici und F. Dupuis-Déri, „Entretien avec C. Taylor“, a.a.O., S. 27.) Siehe dazu auch D. Hoffer, Jürgen Habermas und der Papst. Bielefeld, 2006, S. 45. M. Ancelovici und F. Dupuis-Déri, „Entretien avec C. Taylor“, a.a.O., S. 26f. Gagnon hat die Natur und die Bedeutung dieser Verschiebungen im Denken von Taylor ausführlich untersucht. (B. Gagnon, „Du communautraisme à la neutralité libérale: un tournant radical dans la pensée politique de Charles Taylor“, in Politique et Sociétés, Bd. 31, 1(2012), S. 127-147.) Darauf nehmen wir hier Bezug. C. Taylor, „Democracy, Inclusive and Exclusive“, in R. Madsen et al. (Hg.), Meaning and Modernity. Religion, Polity and Selfy, Berkeley, 2002, S. 190. G. Bouchard, C. Taylor, Building The Future. A Time for Reconciliation. Report. Quebec, 2008, S. 134f., https://www.mce.gouv.qc.ca/publications/CCPARDC/rapport-final-integral-en.pdf, abgerufen am 11.10.2012.
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sich in dieser Debatte. Mehr und mehr tendiert er z.B. dazu, „jede religiöse Aufladung der staatlichen Identität zu vermeiden“. 320 In Laïcité et liberté de conscience (2010, deutsche Ausgabe: Laizität und Gewissensfreiheit, 2011) basieren Taylor und Jocelyn ihre Thesen auf Postulate, die im Gegensatz zu Taylors früheren Ansichten über die Nicht-Neutralität des Staates und die Bedeutung der historischen und nationalen Identitäten stehen. Dieses Buch ist eine Weiterentwicklung des 7. Kapitels aus dem „Report: Building the Future. A Time for Reconciliation“, das sich auf die laizistische Form (d.h. Neutralität gegenüber den religiösen Lehren, Überzeugungen und Praktiken) der Regierung von Quebec bezieht.321 Außerdem zeigt Taylor mehr Offenheit für eine Ethnien-übergreifende Auffassung der politischen Identität322 und mehr Sensibilität für die Gefahren einer vereinheitlichenden gemeinsamen Identität und somit auf die Bedeutung der Grundrechte des Individuums323. Er scheint die Kultur und die Tradition nicht mehr für eine Quelle der politischen Kohäsion zu halten, denn Vorstellungen des Guten sind abhängig von Individuen und Gruppen und nicht mehr vom Politischen und Staat.324 In seinem Interview mit der deutschen Zeitung Die Zeit macht er das sogar klar: „Ja. Aber wichtiger scheint mir zu sein, dass Kanadas demokratische Staatsidee normativ in der Zukunft statt in der Vergangenheit verankert ist. Kanada wird von der Idee eines künftigen Gemeinwesens getragen und empfindet dies als Erneuerung der eigenen Geschichte als Einwanderungsland: ‚Canada is back!‘ lautete der Slogan von Premierminster Justin Trudeau. Mir scheint diese Verankerung in der offenen Zukunft gewinnender zu sein als das Beharren auf einer erstarrten Vergangenheit, die nicht wiederkehrt und die sich unter den Bedingungen der modernen Mobilität in der Weltgesellschaft nicht erhalten lässt.“325
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L. Klevesath, W. Reese-Schäfer, „Eine moralische Überlastung von Religion“, in M. Kühnlein, Unerfüllte Moderne?, a.a.O., S. 473. Die von Gérard Bouchard und Charles Taylor geleitete Kommission (daher Bouchard-Taylor Kommission genannt) hatte den Auftrag von der Regierung der Provinz Quebec bekommen, Praktiken zur Anpassung an die kulturelle Diversität („Accommodation Practices Related to Cultural Differences“) zu untersuchen, Probleme zu analysieren und nach einer umfassenden Befragung sinnvolle Empfehlungen für die Zukunft abzufassen. Siehe C. Taylor, „Nation culturelle, nation politique“, in M. Venne (Hg.), Penser la nation québecoise, Montréal, S. 37-48. Siehe C. Taylor, „Les sources de l´identité moderne“, a.a.O., S. 361. Siehe C. Taylor,„Culture of Democracy and Efficacity“, in Public Culture, Bd. 19, 1(2007), S. 117-150. C. Taylor, In der Zukunft ankern, Gespräch aus Zeit, Nr. 27/2016, https://www.zeit.de/2016/ 27/charles-taylor-zuwanderung-aengste/seite-3, abgerufen am 11.01.2017.
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Er schrieb schon in Modes of secularism326, dass er im Rawlsschen Begriff des „überlappenden Konsens“ eine interessante Auffassung sieht, wie man mit der Realität des Pluralismus umgehen soll. In A säkulares Zeitalter betont er wieder: „Die Gerechtigkeit verlangt, dass eine moderne Demokratie zu verschiedenen Glaubenspositionen den glichen Abstand hält. Die Sprache einiger öffentlicher Einrichtungen, wie zum Beispiel der Gerichte, muss von Prämissen frei, die von dieser oder jener Glaubensrichtung hergenommen sind. Unsere Köhäsion beruht auf einer politischen Ethik, auf der Demokratie und den Menschenrechten, die sich im wesentlichen auf die moderne moralische Ordnung stützen, die aus jeweils unterschiedlichen gründen von verschiedenen religiösen und areligiösen Gemeinschaften anerkannt wird. Wir leben in einer Welt, die, um mit John Rawls zu sprechen, von einem ‚überlappenden Konsens’ geprägt ist.“327 Er bezieht sich wieder deutlich sowohl auf Rawls als auch auf Maritain in seinem Aufsatz „Conditions of an Unforced Consensus on Human Rights “328. „What would it mean to come to a genuine, unforced international consensus on human rights? I suppose it would be something like what Rawls describes in his Political Liberalism as ‚overlapping consensus’. That is, different groups, countries, religious communities, and civilizations, although holding incompatible fundamental views on theology, metaphysics, human nature, and so one, would come to an agreement on certain norms that ought to
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Siehe C. Taylor, „Modes of Secularism“, in R. Bhargava (Hg.), Secularism and its Critics, Delhi, 1998, S. 35-53. C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 890. Es fragt sich aber, ob Taylors Versuch, die Besonderheit des auf einer theistischen Grundlagen bezogenen Motivation moralischen Handelns zu betonen, den Rechtsstaat nicht zum Schutz diese Moralquelle gegenüber anderen Moralquellen zwingt und somit sein gegenwärtiges Ansatz des Neutralitätsprinzips gefährdet (Siehe L. Klevesath, W. Reese-Schäfer, „Eine moralische Überlastung von Religion“, a.a.O., S. 473f.). Im QS vertritt er schon die Idee, „[d]ie Kraft der naturalistischen Quellen mag noch so groß sein, das Potential einer bestimmten theistischen Perspektive ist unvergleichlich viel größer.“ (S. 894). Diese Idee tritt auch in den Vordergrund viele Jahren später, wenn er im Vergleich zum säkularen Humanismus die durch Gott inspirierte selbstlose Liebe als den Weg preist, der zu„einer sehr viel stärkeren und wirksameren Heilung führen kann“. (Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 1166.) C. Taylor, „Conditions of an Unforced Consensus on Human Rights“, in ders., Dilemmas and Connections, a.a.O., S. 105-123; auch ders., „A World Consensus on Human Rights?“, in Dissent, Bd. 43, 3(1996), S. 15-21. Taylor fügt dazu hin: „The problem is that a really diverse democracy can’t revert to a civil religion, or antireligion, however comforting this might be, without betraying its own principles. We are condemned to live an overlapping consensus.“ (C. Taylor, „Why We Need a Radical Redefinition of Secularism“, in J. Butler et al. (Hg.), The Power of Religion in the Public Sphere, NewYork, 2011, S.34.)
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govern human behavior. Each would have its own way of justifying this from out of its profound background conception. We would agree on the norms while disagreeing on why they were the right norms, and we would be content to live in this consensus, undisturbed by the differences of profound underlying belief. The idea was already expressed in 1949 by Jacques Maritain […].“329 Als Auslöser dieser Verschiebungen im Denken von Taylor sieht Gagnon die Volksabstimmung des Jahres 1995, bei der die Gegner des Souveränitätsprojekts (oder Unabhängigkeitsprojekts) von Quebec siegten.330 Bei der Kampagne argumentierte Taylor vehement gegen dieses Projekt, das für ihm ein Projekt der alteingesessenen Quebecer war, die nicht die neue Entwicklungen der Gesellschaft in Richtung des Pluralismus berücksichtigen wollten.331 Der ethnische Charakter dieses Projekts war für ihn unakzeptabel. Auch den liberalen Nationalismus, der seit 1960 in Quebec auftrat, betrachtet er als nicht angemessen angesichts der neuen, durch die massive Präsenz von Immigranten geprägten Situation. All dies brachte ihn dazu, einen neuen und positiven Blick auf das Neutralitätsprinzip in einem pluralistischen Kontext und auf den Begriff des „überlappenden Konsensus“ zu werfen. Eine dezidierte Klarstellung zu diesen angedeuteten Verschiebungen in seinem Denken hat Taylor allerdings selbst nie abgegeben. Wir bleiben hier – mit Gagnon gesprochen – auf disparate Stellungnahmen in Interviews und Aufsätzen angewiesen, die nicht einfach in Zusammenhang zu bringen sind. Es bleibt auch unklar, ob er auf die früheren Positionen tatsachlich verzichtet und an was er sich weiter hält. Positiv ist es aber, dass er in viele Debatten involviert ist und daher die Stärke und die Schwäche seiner Philosophie erfahren kann. Besonders in der vielseitigen Debatte mit Habermas, die für unser zentrales Anliegen besonders interessant ist, zeigt sich welche seiner Ansichten dürftig sind bzw. waren und welche ihre Stichhaltigkeit beweisen. Honneth beschreibt das Verhältnis zwischen Habermas und Taylor sowie ihre unterschiedlichen Richtungen mit folgenden Worten: „Beide Alternativen stimmen in der Kritik des ethischen Atomismus so weit überein, dass sie es gemeinsam als die primäre Aufgabe einer zeitgenössischen Ethik ansehen, den intersubjektiven Lebenszusammenhang kommunikativ aufeinander angewiesener Subjekte unter Schutz zu stellen; während jedoch der erste Lösungsansatz dieses intersubjektivitätstheoretische Grundmotiv durch das kantische Mittel der Formalisierung in ein universal rechtfertigungsfähiges Prinzip verwandeln will, verzichtet der zweite Lösungsansatz auf jeden universalistischen Begründungsanspruch, indem er dasselbe Motiv hermeneutisch als 329 330 331
Ebenda, S. 105. B. Gagnon, „Du communautraisme à la neutralité libérale“, a.a.O., S. 138. C. Taylor, „Les ethnies dans une société ‚normale‘. Le modèle des nationalistes québecois doit être revu“, in La Presse, 21 und 22, 1995, S. B3; „Deep Diversity and the Future of Canada“, in Transactions of the Royal Society Canada, Bd. 7, 1996, S. 29-35; „Sharing Identity Space“, in John Trent (Hg.), Québec-Canada: What Is the Path Ahead?, Ottawa, 1996, S. 121-224.
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das sittliche Element eines historisch bereits eingespielten Traditionszusammenhangs zu begreifen versucht. Taylor entscheidet sich gegen die Alternative eines intersubjektivitätstheoretischen Prozeduralismus mit Argumenten, die wiederum seiner Konzeption der menschlichen Person entstammen: Weil wir als menschliche Wesen gar nichts anders können, als uns stets schon im Lichte von starken Wertungen selbst zu verstehen, ist für uns jene exzentrische Position prinzipiell nicht erreichbar, von der aus wir kulturübergreifend eine bestimmte Prozedur normativ auszeichnen könnten; vielmehr ist jede Auszeichnung dieser Art ihrerseits immer schon in ein übergreifendes Verständnis des richtigen Lebens eingebunden, das dem normativen Traditionszusammenhang der besonderen Kultur entstammt, der wir selbst angehören.“332 Wenn auch beide in der Betrachtung der gesellschaftlichen Dimension als Grundlage im Aufbau des Subjekts einig sind, weisen sie auffällige Unterschiede auf. Im nächsten Kapitel wird besonders betrachtet werden, welches Argument Taylor angesichts der kommunikativen Prozedur der Begründung von Normen hervorhebt. Wir interessieren uns also besonders für einen Aspekt der Diskussion (die starke Wertung), der zu vorliegenden Überlegungen einen signifikanten Beitrag leistet.
4. Taylors Auseinandersetzung mit Habermas’ Diskursethik Aus den vorigen Ausführungen hat sich ergeben, dass sowohl Habermas als auch Taylor die These des Menschen als Wesen-mit-den-Anderen-in-der-Umwelt und damit die These der „dialogischen“ Gestaltung der menschlichen Identität für einen unvermeidlichen Ausgangspunkt halten. Aber beide unterscheiden sich voneinander in der Wahl der Basis des Gemeinschaftslebens. Im vorliegenden Kapitel wird die Konfrontation zwischen beiden, bzw. expliziter, zwischen Verfahrensethik (Habermas) und substantieller Ethik (Taylor) diskutiert werden. Aus dieser Konfrontation resultieren für uns interessante Überlegungen. Es wird sich herausstellen, dass (i) Habermas einen universalistischen Gesichtspunkt fördert, dessen reiner Formalismus eine gewisse Blindheit gegenüber der Bedeutung der Lebensformen aufweist, (ii) Taylor eine kontextualistische Betrachtungsweise vorzieht, die aber die moralische Beurteilung erschwert, und (iii) eine Kulturtheorie bzw. Interkulturalitätstheorie, die kontextbezogene und universelle Gesichtspunkte miteinander verknüpft, notwendig ist.333 Zunächst empfiehlt es sich, der Frage nachzugehen, inwiefern Habermas innerhalb der kantischen Tradition steht und auf Basis der kantischen Ethik seine eigene Diskursethik ausarbeitet.
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A. Honneth, Nachwort, in C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 312. Siehe auch J. Pélabay, „Jürgen Habermas et Charles Taylor: jugement interculturel et critique de la tradition“, in Tracés, Faut-il avoir peur du relativisme?, Revue de Sciences humaines, 12(2007), S. 122.
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4.1 Kritische Besprechung der Diskursethik von Habermas 4.1.1 Mit Kant und gegen Kant Zum Aufbau seiner Theorie der Gesellschaft ist es Habermas wichtig, definitiv Abschied von Theorien zu nehmen, in denen das einzelne Subjekt oder Bewusstsein den Ausgangspunkt bildet. Stamer kommentiert, dass solche Theorien mit der folgenden großen Schwierigkeit konfrontiert sind: „Jedes Ich bliebe gewissermaßern in seiner Fensterlosigkeit [daher eine monadische Subjektauffassung] verschlossen gegenüber den anderen, und wenn es das Fenster öffnen würde, blieben die anderen doch draußen.“334 Für Habermas spricht diese Tatsache gegen den „Grundbegriff eines privaten Bewusstseins, das erst nachträglich mit einem anderen Bewusstsein in Kontakt tritt“.335 Wenn man von einzelnen Ichs ausgeht, ist man mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Kluft zwischen diesen zu überwinden. Von Habermas’ Standpunkt aus muss – so Stamer – das Problem der Gesellschaft im Grunde gesellschaftlich sein: „Es muss nicht aus der Perspektive auf die Gesellschaft, sondern der Gesellschaft selbst angepackt werden. Wer beim einzelnen, erkennenden Subjekt beginnt, findet von dem Ausgangspunkt nicht mehr den Zugang zu der Einheit, als die die Gesellschaft gedacht werden muss. Die Gesellschaft könne nicht aus den Subjekten abgeleitet werden, von dort her käme man nur zur Konstruktion von der Art äußerlicher Verbindungen voneinander getrennter und sich gegeneinander abgrenzender Iche. Der Zusammenhang der einzelnen Subjekte wäre keine interne Einheit, sondern sie würden aneinanderstoßen wie Kugeln, die auf einem Haufen liegen. Sie bildeten eher ein Nebeneinander, aber keinen Zusammenschluss, der auch ihr Inneres einbezöge. Die Sprache, die nicht als individuelles Produkt angesehen werden könne, sondern in jeder Hinsicht eine gemeinschaftliche Hervorbringung sei, scheint dagegen genau den Ansatz zu bieten, der diesem Anspruch gerecht wird.“336 In diesem Zitat wird erläutert, was Habermas als eine Leistung der Kommunikationstheorien der Gesellschaft sieht. Kommunikationstheorien unternehmen es, das intersubjektive Verhältnis oder die vollständige Reziprozität der Subjekte, die von vornherein stattfindet, zu begründen. Habermas legt viel Wert auf die Idee der vollständigen Reziprozität und setzt sich für die Betonung der Verschränkung zwischen Individuum und Gesellschaft ein. Zum besseren Verständnis seines Einsatzes muss man im Blick haben, dass er die Folgerungen des linguistic turn in der Ethik ziehen will. Daher die Diskursethik.
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G. Stamer, Jürgen Habermas, a.a.O., S. 42. J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikaticven Handelns. Frankfurt/ M., 1995, S. 58. G. Stamer, Jürgen Habermas, a.a.O., S. 41.
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Der linguistic turn bringt die Auffassung mit sich, derzufolge der Denkende ein intersubjektives Wesen ist, d.h. ein mit den anderen verbundenes Subjekt. Der Denkende ist nie ein isolierter Einzelner. Zum Denken braucht er unvermeidlich die Sprache, die nicht privat ist. Als Voraussetzung des Denkens gilt also nicht nur die Existenz des Subjekts, sondern auch die einer Kommunikationsgemeinschaft. Darauf basiert Habermas’ Theorie, die auf Kant angewiesen und zugleich gegen ihn gerichtet ist, kurzum, eine Theorie, wie Wellmer sagt, die den Anspruch erhebt, Kants Ethik in sich „aufzuheben“. Als ein bei Kant geschulter Denker setzt sich Habermas für eine allgemeine normative Ethik im postmetaphysischen Kontext ein, deren Normen folgende Merkmale337 aufweisen: (a) diese Normen müssen gültig für alle Menschen sein. Hier werden die moralischen Normen als unbedingte universelle Sollsätze formuliert. Die Betonung des universalistischen Charakters gilt als Entgegnung auf den ethischen Relativismus; (b) diese Normen müssen vernünftig begründet werden. Damit ist gemeint, dass man nicht nur von jedem empirischen Standpunkt Abstand nimmt, weil moralische Prinzipien nicht aus der Erfahrung abzuleiten sind (in diesem Sinne sind sie a priori), sondern auch von jedem metaphysischen Standpunkt. Gefördert wird eine rein formale Ethik. Zur Betonung des formalistischen Charakters der Diskursethik sagt Habermas: „Die Diskursethik gibt keine inhaltlichen Orientierungen an, sondern eine voraussetzungsvolle Prozedur, die Unparteilichkeit der Urteilsbildung garantieren soll. Der praktische Diskurs ist ein Verfahren nicht zur Erzeugung gerechtfertigter Normen, sondern zur Prüfung der Gültigkeit hypothetisch erwogener Normen.“338 In dieser Darstellung der Diskursethik zeigt sich deutlich eine Intuition der Prinzipienethiken, die Werner wie folgt darstellt: „Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dass es sich bei der Diskursethik um eine Prinzipienethik im Sinne der Ethik Kants handelt. Prinzipienethiken des kantischen Typs sehen ihre Aufgabe zunächst in der Formulierung und Begründung eines einzigen Prinzips, des Moralprinzips. Dieses Moralprinzip sagt uns nicht unmittelbar, wie wir im Einzelfall oder in Situationen eines bestimmten Typs handeln sollen. Es ist keine einfache, ‚materiale’ Handlungsnorm, wie z.B.: ‚Du sollst nicht lügen! ’. Vielmehr gibt das Moralprinzip an, wodurch moralisch richtige Handlungsorientierungen sich überhaupt auszeichnen.“339 (c) diese Normen sind Handlungsnormen, d.h. sie sind notwendig für das menschliche Handeln und Zusammenleben. Der deontologische Charakter der Diskursethik zeigt sich 337
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Siehe J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt/M, 1991, S. 11f.; ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt 1983, S. 103. Ebenda, S. 132. M. H. Werner, Diskursethik als Maximenethik: von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorienterung. Würzburg, 2003, S. 157. Es ist zu bemerken, dass Kants Ansicht, derzufolge die Grundaufgabe der Prinzipienethik ist, das Moralprinzip zu formulieren und zu begründen, von Hegel stark kritisiert wurde. Die Auseinandersetzung zwischen beiden lässt sich wohl unter den Ausdrücken „Moralität und Sittlichkeit“ – wie es der Titel eines von Wolfgang Kuhlmann herausgegebenen Sammelbands bekannt gibt – verstehen.
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darin, dass nur die Richtigkeit von Normen und nicht die Fragen des gelungen Lebens berücksichtigt werden. (d) diese Normen oder die moralischen Aussagen haben einen wahrheitsanalogen Charakter. (Normative Geltungsansprüche lassen sich wie Wahrheitsansprüche behandeln.340) Sie haben einen kognitiven Gehalt, so dass sie begründet werden können. Im Anschluss an Kant betont Habermas: „Alle kognitivistischen Ethiken knüpfen [...] an jene Intuition an, die Kant im Kategorischen Imperativ ausgesprochen hat [...], dass nur die Normen als gültig akzeptiert werden, die einen allgemeinen Willen ausdrücken: sie müssen sich, wie Kant immer wieder formuliert, zum ‚allgemeinen Gesetz’ eignen.“341 Allerdings ersetzt Habermas den kategorischen Imperativ durch das Verfahren der moralischen Argumentation, in deren allgemeinen Strukturen er das Moralprinzip begründet sieht.342 Dies bedeutet, dass die oben angeführte Behauptung von Habermas, die Diskursethik sei eine Prinzipienethik kantischen Typs, nur ein Teil der Wahrheit ist. Ein anderer zeigt, dass Habermas ein Kritiker von Kant ist. Er distanziert sich von Kant, insofern er in seinem Versuch, allgemeine Strukturen zur Begründung des Moralprinzips herauszustellen, zu dem Schluss kommt, dass diese Strukturen Argumentationsstrukturen sind. Daher tritt das Verfahren an die Stelle des kategorischen Imperativs. Das Verfahren dient dazu, die Geltung der Normen zu sichern. Denn nur diejenigen Normen dürfen Geltung beanspruchen, „die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“ 343 Anders gesagt, gültig (oder zumutbar) sind nur diejenigen Normen, für die sich im Kreise der Betroffenen Einverständnis diskursiv erzielen lässt. Habermas bezeichnet diese Aussage als diskursethischer „Grundsatz D“. Dies gilt als sein „moralischer Gesichtspunkt“, d.h. als der Standpunkt der Unparteilichkeit, der allgemeinen Betrachtungsweise, kurzum, der Standpunkt, von dem aus man über den partikularistischen, individuellen oder auf Eigeninteresse fixierten Standpunkt hinausgeht, um die Interesse Anderer oder moralische Fragen zu betrachten. Für Habermas ist sein moralischer Gesichtspunkt dem Rawlsschen moralischen Gesichtspunkt (d.h. dem Urzustand) vorzuziehen. Denn die Grundvereinbarungen sind – wie im Fazit des vorigen Kapitels gezeigt – im Rawlsschen moralischen Gesichtspunkt weniger als argumentativ erzieltes Einverständnis zu verstehen. Für Habermas wandelt Rawls auf Kants Spuren, weil sein moralischer Gesichtspunkt einen monologischen Rahmen darstellt. 340 341
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H. Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung. Tübingen, 1993, S. 264. J. Habermas, Moralbewusstsein, a.a.O., S. 73. Er teilt mit Kant die Ansicht: „[W]as im moralischen Sinne gerechtfertigt ist, müssen alle vernünftigen Wesen wollen können.“ (J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a.a.O., S. 12.) Genau in diesem Punkt besteht der Kern der Kritik Taylors an Habermas. Er wirft ihm vor, die Moral auf eine Frage des Verfahrens zu reduzieren. Dem Verständnis des Menschen als eines „argumentierenden“ Wesens stellt er die Idee des Menschen als eines „artikulierenden“ Wesens entgegen. Dieser Einwand wird später näher ausgeführt werden. J. Habermas, Moralbewußtsein, a.a.O., S. 76, auch S. 103.
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Entsprechend seines Verständnisses der allgemeinen Strukturen zur Begründung des Moralprinzips stuft Habermas den kategorischen Imperativ zu einem Universalisierungsgrundsatz ‚U’ herab, der in praktischen Diskursen die Rolle einer Argumentationsregel übernimmt: „[B]ei gültigen Normen müssen Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“344 Im Vergleich mit Kants kategorischem Imperativ zeigt Habermas’ Universalisierungsgrundsatz folgende Differenzen auf: (i) Er verzichtet auf die Unterscheidung von zwei Reichen, nämlich dem des Intelligiblen und dem des Phänomenalen und auf eine kategoriale Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung. Habermas zufolge ist der Verzicht auf den Rigorismus der Kantischen Ethik notwendig; andernfalls wird das Sollen ohnmächtig gemacht. Es bleibt zu überprüfen, ob Habermas selbst die Verknüpfung von Vernunft und Sinnlichkeit erfolgreich herzustellen vermag. Vorwegnehmend können wir drauf hindeuten, dass jedenfalls Taylor daran zweifelt. (ii) Er erhebt den Anspruch, das von Kant auf ein Faktum der Vernunft zurückgeführtes (und damit ungelöstes) Begründungsproblem, zu lösen, indem ‚U’ aus allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen abgeleitet wird. (iii) Er überwindet den kantischen, bloß innerlichen, monologischen Ansatz, dass jeder Einzelne in foro interno seine Handlungsmaximen prüfen kann. „Im Singular des transzendentalen Bewusstseins sind die empirischen Iche vorverständigt und im vorhinein harmonisiert. Dagegen erwartet die Diskursethik eine Verständigung über die Verallgemeinerungsfähigkeit von Interessen nur als Ergebnis eines intersubjektiv veranstalten öffentlichen Diskurses.“345
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J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a.a.O., S.18. Damit setzt Habermas, so Wellmer, auf der Ebene der Normgerechtigkeit an und verfehlt das Problem der moralischen Geltung: „Im Grundsatz (U) wird ein universalistisches Moralprinzip mit einem demokratischen Legitimitätsprinzip auf undurchsichtige Weise ‚vermischt’, und zwar so, dass er am Ende weder als Moralprinzip noch als Legitimitätsprinzip überzeugen kann.“ (A. Wellmer, Ethik und Dialog. Frankfurt/ M., 1986, S. 55.). Erläuterungen von Unterschieden zwischen moralischen und Rechtsnormen bringt er auf S. 114-119. Diese Differenzierung ist wichtig: „Das berechtigte Anliegen der Diskursethik, das Recht gegen die moralische Gegenaufklärung an eine universalistische Moral zurückzubinden und hierdurch zugleich die Ethik Kants und das moderne Naturrecht in sich ‚aufzuheben’ – dieses Anliegen lässt sich nur verwirklichen, wenn wir nicht hinter bereits erreichte Problemdifferenzierungen zurückfallen.“ (Ebenda, S.122.) Ebenda, S. 24f.
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Dies heißt konkret: „Statt allen anderen eine Maxime, von der ich will, dass sie ein allgemeines Gesetz sei, als gültig vorzuschreiben, muss ich meine Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Universalitätsanspruchs allen anderen vorlegen.“346 In Übereinstimmung mit Habermas hat Apel die kantische Ethik wegen ihres monologischen Charakters als eine „überlastende Ethik“ bezeichnet. Damit ist eine Ethik gemeint, in der das Individuum alle Maximen allein überprüft und evaluiert. Dies wird daher als eine Überlastung oder ein „overtaxed individual Task“ angesehen. Alle diese Behauptungen führen dazu, die Diskursethik als eine kommunikationstheoretische Fassung des kategorischen Imperativs darzustellen. Dies zeigt, dass Habermas den linguistic turn rezipiert und seine Folgerungen (unter anderem die Lehre der Intersubjektivität) für die Ethik fruchtbar gemacht hat. Nur diskursiv kann ein vernünftiger Konsens erreicht werden. Moralische Fragen sind – so betont Habermas im Gegensatz zu Kant – erst innerhalb einer Wir-Perspektive relevant. Diese Ansicht steht in Zusammenhang mit der Tatsache, dass sich Habermas, wie schon erwähnt, als ein postmetaphysischer Denker darstellt. Von einem postmetaphysischen Standpunkt aus kann es nur eine kommunikative Ethik geben, deren Grundsatz lautet: „Erst die Verständigung aller Beteiligten verleiht einer Norm ihre intersubjektive Geltung“. Nur durch eine „intersubjektive Zustimmung“, d.h. durch die Einigung aller Beteiligter einem praktischen Diskurs kann eine Norm Geltung beanspruchen. Der in einem Diskurs mittels „des Zwanges des zwanglosen Argumentes“ erzielte Konsens ist also das Kriterium für die Wahrheit bzw. die Richtigkeit einer Norm.347 Zusammengefasst dient Habermas’ Berufung auf den linguistic turn als Ablehnung des Atomismus oder des Monologismus in der Ethik, d.h. Ablehnung von Theorien, die dazu tendieren, die Alterität (den Bezug auf die Anderen) als sekundär anzusehen. Darin stimmt er mit Taylor überein. Ihre Gemeinsamkeiten zeigen sich in ihrem Versuch, der Intersubjektivität eine zentrale Bedeutung zu verleihen und ihr so gerecht zu werden. Hieraus erklären sich Taylors rühmende Worte über den dialogischen Charakter der Ethik Habermas’: „Das von Habermas und Apel vertretene diskursethische Begründungsprogramm deutet die ganze moderne Tradition der Verfahrensethik um und ist sicherlich der interessanteste und glaubwürdigste Versuch innerhalb einer Tradition, die die Moderne mindestens seit Kant – meiner Meinung nach sogar noch früher – kennzeichnet. Darüber hinaus hat es eine Reihe von Unzulänglichkeiten älterer Theorieentwürfe überwunden, insbesondere den monologischen Charakter der Theorie Kants.“348
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J. Habermas, Moralbewusstsein, a.a.O., S. 77. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, a.a.O., S. 162f. C. Taylor, „Die Motive der Verfahrensethik“, in W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit, a.a.O., S. 101.
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Es empfiehlt sich daher zu zeigen, wie Taylor im Rahmen seiner Diskussion von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns die von ihm sogenannte sprachtheoretische Wende der Gesellschaftstheorie erläutert.349
4.1.2 Habermas’ Gesellschaftstheorie unter der Lupe Taylors Nach Taylor stützt sich die Struktur der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas auf zwei Ideen: – die Sprache ist nach dem Modell des Gesprächs zu verstehen – die Gesellschaft ist nach dem Modell der Sprache zu verstehen. Seine Reaktion darauf lässt sich in vier Ansätze unterteilen: 1. Der fundamentale Ansatz: „Sprache entwickelt und erneuert sich im Gespräch“ (S. 35). Sie entsteht im Gespräch und kann nur von und mit Gesprächspartnern gelernt werden. Niemand erfindet Ausdrücke ex nihilo. Immer wird die gemeinsame Überlieferung der Sprachgemeinschaft gebraucht, um eigene Pläne zu konzipieren und zu gestalten. Gegen die atomistische Fassung der Gesellschaft wendet Taylor ein: „Das selbstzentrierte Individuum setzt die Gemeinschaft voraus und folglich einen Rahmen von Gebräuchen und Normen, innerhalb dessen es handelt. Gesellschaftstheorie kann nicht ausschließlich den Individuen Rechnung tragen, sondern muss diesen Rahmen gemeinsamer Gebräuche und Normen in Betracht ziehen“ (S. 36). Habermas und Taylor haben die Ansicht gemein, dass die Gemeinschaft ursprünglich ist. Zur Illustrierung betont Taylor: „The crucial feature of human life is its fundamentally dialogical character. We become full human agents, capable of understanding ourselves, and hence of defining our identity, through our acquisition or rich human languages of expression. […] People do not acquire the languages needed for self-definition on their own. Rather, we are introduced to them through interaction with others who matter to us – what G. H. Mead called ‚significant others’. The genesis of the human mind is in this sense not monological, not something each person accomplishes on his or her own, but dialogical. [...] The monological ideal seriously underestimates the place of the dialogical in human life. It wants to confine it as much as possible to genesis.“350
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Ich beziehe mich in diesem Abschnitt auf C. Taylor, „Sprache und Gesellschaft,“ in A. Honneth, H. Joas, (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas´ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt, 1986, S. 35-51. Die im Folgenden in Klammern geschriebenen Zahlen im Haupttext beziehen sich auf die Seitenzahlen in diesem Aufsatz Taylors. C. Taylor, „The Politics of recognition“, a.a.O., S. 230.
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Diese Aussage führt zum zweiten Ansatz. 2. Die Komplementarität von Struktur und Praxis. Die Wechselwirkung zwischen beiden besteht in der Tatsache, dass die Sprache als Code Sprechakte regelt und daher immer vorausgesetzt wird, aber gleichzeitig die Sprachpraxis benötigt, um sich zu erneuern. Dieses S/P-Prinzip hatte Saussure in den Termini der Komplementarität zwischen ‚Langue’ und ‚Parole’ zum Ausdruck gebracht.351 Welche Konsequenzen hat dieses Prinzip für die Gesellschaftstheorie? Taylor fasst Habermas’ Position so zusammen: derjenige, der dieses Prinzip übersieht, kann den Primat der Gemeinschaft nur missdeuten: „Er muss diesen Primat im Rahmen einer Bewusstseinstheorie deuten: dann muss es so scheinen, als ob die Normen und Gebräuche einer Gesellschaft den Individuen im Laufe der Sozialisation einfach eingeprägt würden. Eine Theorie der Internalisierung soll erklären, wie das Bewusstsein des Individuums von der Gesellschaft so beeinflusst wird, dass ‚les représentations collectives‘ durch jedes einzelne Individuum hindurch wirken. Auf diese Weise aber bleibt man dem Subjekt-Objekt-Modell der klassischen Tradition der Erkenntnistheorie verhaftet.“ (S. 37) Wenn man die Dimension sprachlicher Verständigung vernachlässigt, setzt man sich bei der Erläuterung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft einem unbefriedigenden Dualismus aus. Das ist, so Habermas, der Fall bei Durkheim.352 Die Unplausibilität der These Durkheims manifestiert sich Habermas zufolge, wenn man bedenkt, wie stark die subjektiven Erlebnisse kulturell geprägt sind. Als Argument gegen Durkheim führt er z.B. die von Mead verteidigte Idee an, „dass sich die Identitätsbildung über das Medium sprachlicher Kommunikation vollzieht; und da sich die Subjektivität der eigenen Absichten, Wünsche und Gefühle diesem Medium keineswegs entzieht, müssen die Instanzen von ‚I’ und ‚Me’, Ich und Über-ich aus demselben Prozess der Vergesellschaftung hervorgehen. Mead bezieht in dieser Hinsicht eine überzeugende Gegenposition zu Durkheim: der Prozess der Vergesellschaftung ist zugleich einer der Individuierung. Mead begründet das mit der Verschiedenheit der positionsgebundenen Perspektiven, die Sprecher und Hörer einnehmen. Als Prinzip der Individuierung führt Mead nicht den Leib, sondern eine Perspektivenstruktur an, die mit den kommunikativen Rollen der ersten, zweiten und dritten Person gesetzt wird.“353
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Taylor weist darauf hin, dass diese Unterscheidung zwischen Langue und Parole auf Humboldts Begriff der Sprache als „speech activity“ und nicht als „work already done“, als energeia, und nicht als ergon zurückzuführen ist. „[Language] is created in speech, and is in fact being continuously recreated, extended, altered, reshaped. […] Reshaping it without dominating it, ir being able to oversee it, means that we never fully know what we are doing to it. In relation to language, we are both makers and made.“ (C. Taylor, „The importance of Herder“, a.a.O., S. 97.) J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Bd. 2, Frankfurt/M., 1981, S. 91. Mit diesem Beispiel ergänzen wir Taylors Interpretation von Habermas. Ebenda, S. 93. An anderer Stelle kritisiert Habermas Mead. Taylor weist darauf hin: 1. dass die Rede von einer dialogischen Natur der Sprache (the significance of D) auf Herder zurückgeht.
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Für Habermas muss – wie Taylor zusammenfasst – eine angemessene Sprechakttheorie sowohl Strukturen als auch Sprechakten berücksichtigen. Sie betrachtet die Gesellschaft als eine Struktur, um die Handlungen der Beteiligten dementsprechend zu erklären, und sie erklärt sie gleichzeitig aus der Perspektive der Handelnden (S. 38). 3. Das Hintergrundwissen. Die hier verteidigte Idee lautet: „Die Sprachpraxis bewegt sich, wie alle Praxis, nicht nur im Rahmen eines fertigen Codes, sondern speist sich immer aus Hintergrundwissen, dem Horizont unseres impliziten Know-hows und Vorverständnisses.“ (S. 38) Darauf ist die Möglichkeit der Bildung neuer Ausdrücke angewiesen. An dieser Stelle der Theorie Habermas’ zieht Taylor zwei wichtige Konsequenzen: (i) Die Bedeutung des Hintergrundwissens verdeutlicht das, was Taylor für die hermeneutische Dimension jeder adäquaten Gesellschaftstheorie hält: Die Handlungen der Beteiligten einer Lebensform erklären bedeutet Elemente ihres Hintergrundverständnisses zu berücksichtigen. (ii) Die Bedeutung des Hintergrundwissens bringt die modischen Versuche in Misskredit, Computermodelle zur Erklärung der Gesellschaft heranzuziehen. Denn ein Computerprogramm basiert auf einer vollständigen Formalisierung. Hingegen verweist eine wirkliche Handlung immer und notwendig auf ein Unformuliertes, „so dass eine Lebensform, die gänzlich aus formalen Verbindungen bestünde, unmöglich ist“. (S. 40) 4. Die Komplementarität von ‚Ich’ und ‚Wir’. Es ist eine Tatsache, dass ein Gespräch zu eröffnen die Partizipation an einem gemeinsamen Raum bedeutet. „Gewöhnlich bewege ich mich, ohne es zu bemerken, auf der Basis der gemeinsamen Praxis in jenem Raum; die Gemeinsamkeit dieses Raumes aber ist in meiner und deiner Tätigkeit fundiert; ich muss imstande sein, meinen individuellen Beitrag an diesem Raum wiederzufinden; sonst kann ich nicht mehr an ihm partizipieren.“ (S. 40f.) In Bezug auf diese zwei Aspekte verfügt unsere Sprache über zwei Arten von Verweisungsausdrücken, und zwar: Ortsbeschreibungen und deiktische Ausdrücke wie ‚hier’ und ‚da’, die sich nur aus der Perspektive des Sprechers verwenden lassen.
„If language must be seen primarly as activity, if it is what is constantly created and recreated in speech, then it becomes relevant to note that the primary locus of speech community. Hence Herder´s notion that the primary locus of a language was the Volk who carried it. Humboldt takes up the same insight. Language is shaped by speech, and so can grow up only in a speech community. The language I speak, the web I cannever fully dominate and oversee, can never be just my language; it is always our language; 2. dass dieses „significance of D“ allerdings auf zwei verschiedenen Weisen artikuliert wird: einerseits, die von Habermas und anderen Nachfolgern von Mead, und anderseits, die von Heidegger inspirierten Denker. (C. Taylor, „The importance of Herder“, a.a.O., S. 97.)
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An diesem Punkt der Komplementarität von ‚Ich’ und ‚Wir’ gibt es Unterschiede zwischen Habermas und Taylor. Habermas bezieht sich bei der Betonung der Komplementarität von Ich- und Wir-Perspektiven auf Humboldt. Von diesem ausgehend stellt er jede Sprachtheorie, die eine Priorität des Wir gegenüber dem Ich betont, in Frage. Von dieser Kritik ist, so Trabant, auch Taylor getroffen, weil er den durch den Dialog konstituierte Raum als „den Raum einer vorgängigen Gemeinschaft versteht, ein irgendwie gegebenes (und bloß nachträglich durch das Ich erschüttertes) Wir“..354 Gegen dieses „totalisierendes Sprachkonzept“ betont Habermas, dass der – für die Sprache in der Tat wesentliche – gemeinschaftliche Raum bei Humboldt eine „schwierige Errungenschaft und keine Gegebenheit“ ist.355 Humboldt hat explizit auf die Differenz und die Divergenz im Dialog hingewiesen: „Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.“356 In Bezug auf diese Tatsache der nicht vollkommenen Deckung von Gedanken und Gefühlen behauptet Habermas, der Dialog sei der Raum einer „gebrochenen Intersubjektivität“ zwischen Ich und Du. Demgegenüber versteht er die Verständigung als eine auf „gültiges Einverständnis abzielende Kommunikation“.357 Es fragt sich aber, ob er dabei dem Aspekt des Nicht-Verstehens der Humboldtschen Theorie gerecht wird. Für Trabant ist dies nicht der Fall. Denn Habermas’ „kommunikativ erzielter Konsens (Zu-Stimmung) verschärft die schwächere Humboldtsche Überein-Stimmung erheblich: „Wenn er einräumt, dass geglücktes Verstehen ‚das Auseinandergehen der individuell nuancierten Gedanken und Gefühle erlaubt’, so reduziert er das Humboldtsche Nicht-Verstehen auf eine leichte individuelle Abweichung, die die zugrunde liegende semantische Identität nicht gefährdet. Habermas glaubt also an einen kommunikativen Friedensschluss, den Humboldt nicht kennt: ‚Jedes Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen’. Obwohl also Habermas mit Humboldt gegen das rein irenische Modell Taylors die agonistischen Momente des Verstehens hervorhebt, hat doch der Umweg über Humboldt seine letztlich ebenfalls irenische Konzeption des Verstehens nicht wirklich ins Wanken gebracht.“358
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J. Trabant, „Habermas liest Humboldt“, in DZPh., 41 (1993) 4, S. 642. Daher ist Taylor mit der Schwierigkeit konfrontiert, näher auszuführen, wie das Individuum seine gemeinschaftlichen Bindungen einer kritischen Prüfung unterziehen kann. Habermas, „Entgegnung“, in A. Honneth, H. Joas, (Hg.), Kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 330f. Und auch J. Trabant, „Habermas liest Humboldt“, a.a.O., S. 642f. W. v. Humboldt, Werke. Bd. 3, S. 201, S. 228. J. Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns. Bd.1, 3. Auflage, Frankfurt/M., 1985, S. 525. J. Trabant, „Habermas liest Humboldt“, a.a.O.,S. 642f.
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Zusammengefasst ist Trabant der Ansicht, dass Habermas die Grenze des Verstehens nicht berücksichtigt wie sie von Humboldt einbezogen hat: „Habermas hat also Humboldt gelesen. Aber er hat ihn auf seine Weise benutzt – nicht um etwas zu lernen, sondern um seine eigene Theorie in Humboldt wiederzufinden. Er hat zu Recht die Theorie des Dialogs als den Teil des Humboldtschen Denkens, der seiner Theorie am meisten entspricht, hervorgehoben, dabei aber doch die Humboldtsche Radikalität der ‚gebrochenen Intersubjektivität’ entschärft […].“359 Kurz gesagt irrt Habermas in dem Glauben, dass Verständigung unbedingt eine Garantie für die Überwindung von Konflikten ist. Wäre dies möglich, dann müsste man von einer Form der Gewalt durch die Vernunft oder, im Anschluss an Waldenfels, von einer „Diktatur der Vernunft“ sprechen. Es gibt also bei Habermas eine Überschätzung der Rolle der rationalen Verständigung. Ihm gebührt zwar das Verdienst, den (kantischen) Monologismus in der Ethik zurückgewiesen zu haben, aber seine Vorstellung der Rolle der Vernunft ist vielen Kritiken ausgesetzt. Von diesem Problem wird nochmals die Rede im Teil 3 sein. Nun wollen wir uns mit dem gewichtigsten Diskrepanzpunkt zwischen Habermas und Taylor befassen, und zwar dem formalen Charakter der Basis rationaler Verständigung. Von seiner Konzeption der menschlichen Person aus beanstandet Taylor die formalistische Konzeptualisierung des universal rechtfertigungsfähigen Prinzips und dadurch die Habermassche Ablehnung der Suche nach Quellen, die dem Leben „Tiefe“, „Fülle“ und „Sinn“ (zurück)geben. Er charakterisiert Habermas’ Diskursethik unter den folgenden beiden Punkten: (i) Eine Moraltheorie, die versucht, die Ethik ohne jegliche Bezugnahme auf den Menschen als Ganzes zu rekonstruieren. Habermas spricht von Vernunftwesen, während Taylor von menschlichen Handelnden redet. Es gibt also zwischen beiden eine begriffliche Unterscheidung, die auf eine ernstzunehmende Spannung hindeutet. Taylor hält den menschlichen Handelnden für ein Wesen, das Gründe artikuliert. Und artikulieren ist nicht argumentieren. Denn bei der Artikulation geht es in Taylors Sicht darum, die tiefen Quellen des Selbst zum Ausdruck zu bringen. Für ihn kann Habermas diesem Punkt nicht gerecht werden, weil er nur die Funktion des Argumentierens berücksichtigt und betont. Diesbezüglich ist eine Bemerkung Rüdiger Bubner interessant:
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Ebenda, S. 650.
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„Sicher ist richtig, das derjenige, der argumentiert, sich im Argumentieren nicht von Argumentationsregeln verabschieden kann. Nicht richtig ist hingegen, dass wir immer schon argumentieren oder letztlich gar nicht anders können, als korrekt zu argumentieren.“360 Der Fokus nur auf das Argumentieren zu legen hilft nicht das menschliche Handel grundlegend zu erklären. (ii) Eine Moraltheorie, die es ablehnt (Taylor spricht von „Abneigung“), ihre Moralquellen aufzuzeigen (zu „bekunden“) oder womöglich sogar, die diese Quellen als notwendige Bedingung der Freiheit leugnet. Diese Abneigung oder Ablehnung, die „Güter“ zur Sprache zu bringen, folgt aus dem ethischen Intellektualismus, der – wie Schnädelbach prägnant formuliert hat – die Triftigkeit der Diskursethik fragwürdig macht: „Der ethische Intellektualismus der Diskursethiker scheint mir auf einer Inkonsistenz des tranzendental- oder formalprogramatischen Ansatzes insgesamt zu beruhen. Es ist mir unverständlich, wie man zugleich die Sprechakttheorie rezipieren und in der Normenbegründung einen reinen Kognitivismus vertreten kann.“361 Wie wir sehen werden, geht Habermas’ Versuch, bei der Normenbegründung einen reinen Kognitivismus zu vertreten, auf Kosten dessen, was Taylor als den Nährboden für jede Moraltheorie angeführt hat, und zwar der anthropologischen Grundlage. Für den kanadischen Philosoph wurzelt Habermas’ Haltung in der Tendenz der Aufklärung, sich angesichts der Vorstellungen des Guten unbehaglich zu fühlen. In diesem Rahmen versuchen die neuzeitlichen Ethiken, bloß formale Regeln zur Überprüfung von Handlungen zuzulassen. Diese Ethiken werden prozedural genannt, weil sie lediglich auf Prozeduren, also Verfahren, basieren, mit denen – kommentiert Breuer – „die Spielregeln des sozialen und politischen Zusammenlebens bestimmt werden“. 362 Infolgedessen ist eine solche Vorgehensweise in
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R. Bubner, „Moralität und Sittlichkeit – die Herkunft eines Gegensatzes“, in Kuhlmann, Moralität und Sittlichkeit, a.a.O., S. 79. Dazu fügt er hinzu: „Reine Vernunft bedeutet praktisch gesehen die ausdrückliche Unterwerfung eines Handelnden unter ein Prinzip, das nicht seines als eines Handelnden ist, sondern nur seines als eines Vernunftwesens überhaupt.“ (Ebenda, S. 69.) H. Schnädelbach, „Was ist Neoaristotelismus“, in W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit, a.a.O., S. 58. Für ihn scheinen Diskursethiker den Kognitivismus in der Normenbegründung zu weit getrieben zu haben. Aber die praktische Gültigkeit (d.h. die normative Kraft der Normen) bekommt man nur, wenn man sich an die aristotelische prohairesis („überlegtes Streben nach dem, was in unserer Macht steht“, die Wirkungssache der Handlung, Nik. Eth. 1113A 11-13, 1139a 30 ff.) erinnert (Ebenda, S. 57.) I. Breuer, Charles Taylor, a.a.O., S. 11.
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Taylors Sicht ein Neutralisierungsvorgang. Ihr setzt Taylor das versöhnliche Argument entgegen: Die Moderne ist – wie seine Diagnose gezeigt hat – reich an Vorstellungen des Guten, die man nur zu artikulieren braucht.363 Darum ging es im Punkt 1.2.2 über einen neuen Begriff der Vernunft bzw. die hermeneutische Funktion der Vernunft. Damit treffen wir den Kern der von Taylor so genannten „anthropologischen Herausforderung“. Statt zu versuchen, an dieser Herausforderung vorbeizugehen, muss jede Moraltheorie sie beachten und meistern. Das ist ein wichtiger Punkt, den Taylor der Diskursethik nahelegt.
4.1.3 Die „anthropologische Herausforderung“ Aus dem Vorausgehenden hat sich gezeigt, dass Taylor die Rolle der Vorstellungen des Guten (bzw. der substantiellen Basis) in der Moral für unverzichtbar hält. Um die Bedeutung dieser Rolle zu verdeutlichen, wirft er die folgenden „radikalen Fragen“ oder „Eröffnungsfragen“ (les questions du pourquoi inaugural364) auf: Warum sollen die Individuen hinsichtlich ihrer künftigen Position die Hypothese des „Schleier des Unwissens“ akzeptieren (als Frage an Rawls)? Oder auch: Warum sollen sich Menschen dazu verpflichtet fühlen, in eine herrschaftsfreie Diskussion einzusteigen (als Frage an Habermas)? „Als Handelnder kann ich immer die Frage stellen, warum ich eigentlich nach einer bestimmten Norm (rational) verfahren soll? Warum soll dies eine Norm sein, der ich mich nicht verweigern kann? Dies ist eine Frage, auf die man nicht anders als mit, wie ich sage, ‚starke Wertungen’ antworten kann. So beantwortet Kant sie mit seinem Begriff eines vernünftigen Wesens, dem Würde zukommt. Also nimmt auch seine Ethik letztlich auf ein substantielles Konzept Bezug: wir sind vernünftige Wesen, und dieser Natur gemäß sollen wir handeln. Wir sollen Achtung haben vor der Vernunft sowohl in uns als auch in anderen. Habermas aber will sich auf eine reine Verfahrensethik beschränken. Seinem Grundprinzip zufolge erstreben wir rationale Verständigung. Wir sollen uns bemühen, nichtrationale
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QS, S. 8. Es ist interessant zu sehen, wie Arnsperger das Konzept von ‚trans-raisonnable’ hervorhebt und erläutert, ausgehend davon, dass die Eröffnungsfrage (la question du ‚pourquoi inaugural’. Freie Übersetzung) nicht aus der Ebene der Vernunft beantwortet werden kann. C. Arnsperger., „Le pluralisme au delà de la raison et du pouvoir. L’ancrage ‚transraisonnable’ de la raison libérale “, in RPL 98, 1(2000), S. 96f. In einer ähnlichen Richtung spricht Walfenfels von den Grenzen der Transzendentalphilosophie folgendermaßen: „Kant stellt die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen (Gültigkeit), und wo ist die Frage nach den Antriebkräften? Was treibt uns zu dieser oder jener Erkenntnis? Eine Abwehrmaßnahme gegen das Aufkommen dieser Frage: die Trennung von Geltung und Genesis. Doch was hier Genesis genannt wird, ist ein empirisches Vorkommnis und nicht das Auftreten der Erkenntnis selber.“ (B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch, a.a.O., S. 31.)
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Mechanismen der Handlungskoordinierung durch rationale Verständigungsformen zu ersetzen. Aber auch diese Aufforderung ist mit der Frage konfrontiert: warum soll ich dies erstreben? Gesetzt, eine solche Norm ist in der menschlichen Sprachsituation strukturell angelegt (Universalpragmatik); gesetzt, rationale Verständigung ist die angemessene Weise, Störungen in der Gemeinsamkeit eines ‚Wir’ zu überwinden (Theorie des kommunikativen Handelns) – ich habe aber auch andere Ziele, andere Interesse; warum also soll ich die rationale Verständigung vorziehen? Warum soll gerade dieses Ziel eine Sonderstellung einnehmen?“365 Diese Fragen können Taylor zufolge nur auf einer substantiellen Ebene beantwortet werden. Daher hält er die substantielle Ethik für grundlegender als die Verfahrensethik. Begründungsversuche, die eine Diskursethik aus der Struktur der menschlichen Sprechsituation herleiten, reichen nicht an diese radikalen Warum-Fragen heran. Der Habermassche Anspruch auf einen reinen Formalismus lässt die eigenen Vorstellungen des Guten und anthropologischen Annahmen der Diskursethik unberücksichtigt. Deshalb fordert Taylor ihn dazu auf, sich über seine eigenen Vorstellungen des Guten klar zu werden. Für Taylor überfordern die „Eröffnungsfragen“ die Positionen von Rawls und Habermas. Wenn letztere an Konsistenz und Kohärenz gewinnen wollen, müssen sie unbedingt den anthropologischen Gesichtspunkt, also die Motive bzw. die Kräfte, die die Menschen bewegen, berücksichtigen und eine Theorie menschlicher Motivationen enthalten. „Würden wir artikulieren, was diesen intuitiven Grundvorstellungen zugrunde liegt, so würden wir zunächst eine überaus ‚füllige’ Theorie des Guten darlegen. Die Behauptung, dies sei nicht ‚nötig’ um unsere Theorie der Gerechtigkeit zu entwickeln, stellt sich als höchst irreführend heraus. Um zu entscheiden, welche Gerechtigkeitsprinzipien angemessen sind, müssen wir uns auf unseren hier gegebenen Sinn für das Gute stützen, ohne dass wir ihn tatsächlich ausführlich darstellen. Aus Michael Sandels Kritik z.B., geht hervor, dass sich eine Gerechtigkeitstheorie, die von einer mageren Theorie des Guten ausgeht, als eine Theorie erweist, die ihre besonders fundamentalen Erkenntnisse gar nicht zur Sprache bringt.“366 Dies bedeutet, dass eine „magere Theorie des Guten“, wie sie Rawls in seiner Darstellung des Gerechtigkeitsbegriffs vorschlägt, Taylors Forderung nicht genügen kann. (Siehe J. Rawls, A Theory of Justice, Kapitel 7, Abschnitt 60). Denn die Gerechtigkeitsprinzipien, die Rawls daraus ableitet, sind – so Taylor – nur annehmbar, weil sie mit unseren Intuitionen im Einklang stehen. Berücksichtigt man allerdings, dass Taylor im Laufe der letzten Jahre dazu tendiert, den Rawlsschen Begriff des überlappenden Konsensus zu akzeptieren, kann man eine andere Lesart dieser Diskussion entwickeln. Problematisch für Taylor sollte dann 365 366
C. Taylor, „Sprache und Gesellschaft“, a.a.O., S. 45f. QS, S. 171.
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nicht mehr eine magere Theorie des Guten, sondern nur der Anspruch auf einen „reinen“ Formalismus (Habermas) sein. Darauf möchten wir uns hier beschränken. Habermas ist mit seiner Verteidigung des reinen Formalismus in einer schlechten Position in der Debatte mit Taylor. Er scheint es zu vermeiden, in die tieferen Gebiete seiner Position einzudringen. Frei nach Cassirer: Er „pflegt diese Tiefe zu leugnen, weil er fürchtet, sich in ihrer Dunkelheit zu verlieren“.367 Seine Haltung macht daher Taylors Kritik im Anschluss an Aristoteles und Nietzsche nachvollziehbar, dass die Verfahrensethiken, ihre Kenntnisse der menschlichen Natur nicht vertieft haben und somit „un rêve impossible“ (einen unerfüllbaren Traum) darstellen. Er besteht, wie im Teil I gezeigt, auf der Idee, die Moral sei von der Anthropologie (Identität) nicht zu trennen. Das ist es, was man unter Taylors Begriff der „anthropologischen Herausforderung“368 verstehen muss. Dieser Begriff zielt darauf ab, dass jede Moraltheorie auf die menschliche Natur Rücksicht nehmen muss. Deutlich formuliert: „erkennen wir zunächst verschiedene Lebenszwecke oder Tugenden an, unter denen die Vernünftigkeit, die Gerechtigkeit und die Wohltätigkeit eine zentrale Rolle spielen; und wir streben danach, sie alle in dem einen Leben, das wir haben, an der richtigen Stelle und in einem angemessenen Verhältnis zusammenzubringen. Weder faktisch noch prinzipiell können die Überlegungen, in denen wir diese Zwecke abwägen, rechtfertigen und ihr relatives Gewicht ermitteln, als ein Reflexionsvorgang vorgestellt werden, der Fragen der objektiven Wahrheit nicht direkt berührt. Im Gegenteil, unsere Überlegungen über die Zwecke, die wir anerkennen sollen, gehen untrennbar mit Betrachtungen darüber einher, was wir als Menschen sind. Daher sind Theorien der Moral eng mit Theorien der menschlichen Motivation verbunden; dieselben Begriffe tauchen in Untersuchungen beider Typen auf“.369 Taylor ist der Ansicht, dass jede Moraltheorie die Oberflächlichkeit des Intellektualismus vermeiden und ihre innere Verbindung mit einem Begriff des Menschen zugeben muss.370 Gelingt es der Habermasschen Theorie diesem Aspekt gerecht zu werden, dann würde sie, so Taylor, wesentlich an Überzeugungskraft gewinnen. Andernfalls bleibt sie inkonsequent und unzulänglich. Taylor erhebt diesen Vorwurf auch gegen ähnlich gelagerte moderne Moraltheorien. Dass die Unterlassung der anthropologischen Dimension in vielen modernen Moraltheorien zu einem kulturellen Merkmal geworden ist, ist für ihn eine bedauerliche Situation, die durch die disziplinäre Trennung zwischen Moralphilosophie und Psychologie bzw. Soziologie an den Universitäten begünstigt wird. Taylor hält diese 367
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Wir haben hier Cassirers Kritik an der Einstellung des strikten Positivismus gegenüber dem Kulturbegriff paraphrasiert (E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaft. Hamburg, 2011, S. 46.). C. Taylor, „Qu´est-ce qu´une philosophie morale réaliste?“, Gespräch mit Philippe Lara, a.a.O., S. 365-368. C. Taylor, „Sprache und Gesellschaft“, a.a.O., S. 49f. Siehe J. Pelabay, Charles Taylor, a.a.O., S. 334.
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Trennung aber für eine neuere Entwicklung und macht darauf aufmerksam, dass Kant sich der anthropologischen Dimension der Moral zweifelsohne bewusst war. Dies bestätigt auch Waldenfels mit der Kritik, dass die Frankfurter Kantianer Kant „ausgedünnt“ haben; sie haben ihn „auf sublime Weise konventionalisiert“.371 Die Tatsache, dass sie der anthropologischen Dimension keinen angemessenen Platz einräumen, wirkt sich auf ihr Verständnis der Moralität aus. Angesichts dieser Entwicklung warnt Waldenfels: „Eine Moralität, die sich der Legalität angleicht, schwächt das, was man zu Zeiten Kants moralisches Gefühl oder moralischen Sinn nannte, sie wirkt destruktiv.“372 Es wäre allerdings übertrieben Habermas vorzuwerfen, dass er die „anthropologische Herausforderung“ völlig ausgelassen hat. Denn er hat auf den Psychologe Lawrence Kohlberg Bezug genommen, um zu zeigen, dass sich beim Menschen tatsächlich eine Fähigkeit entwickelt, den Standpunkt des Anderen zu berücksichtigen (Dezentrierung). 373 Darin sieht Taylor ein Verdienst der Habermasschen Theorie. Aber sein moralischer Intellektualismus bzw. Anspruch auf einen Formalismus in der Moral hat verhindert, dass er weitere wichtige Ergebnisse in dieser Richtung erzielt. Dies macht seinen Moralbegriff wenig stichhaltig. Waldenfels untermauert Taylors Rede von einer anthropologischen Herausforderung bzw. die Kritik am reinen Formalismus, wenn er betont, dass die Moral in sich selbst keine Stütze findet: „Die Tatsache, dass die Moral selbst nicht nur rechtliche, sondern auch politische, ökonomische, ästhetische und religiöse Züge aufweist, hat zur Folge, dass die Moral selbst immerzu mehr und anderes ist als reine Moral. Dazu gehören ethische Impulse, die aus keinem Prinzip zu gewinnen sind. Die Quellen der Moral sind nicht selbst moralisch.“374 Wenn die Quellen der Moral nicht selbst moralisch sind, dann sind alle Versuche, die Lücken der Moral zu überwinden, zum Scheitern verurteilt. „Lückenlos sind nur künstliche Systeme, und auch diese nur bis zu einem gewissen Grad.“375
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B. Waldenfels, Vernunft im Zeichen des Fremden, a.a.O., S. 449. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 80. Habermas betrachtete es vor einigen Jahren als sinnvoll, das positive Recht aus dem „Blickwinkel einer Kompensation der Schwächen autonomer Moral“ zu verstehen. (J. Habermas, „Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?“, in Kritische Justiz 20/1, S. 14.) Siehe C. Taylor, „Qu’est-ce qu’une philosophie morale réaliste?“, a.a.O., S. 368. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 10f. Ebenda, S. 37.
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Dies bedeutet, dass eine rationale Moral mit fremden Kräften operiert, zu denen sie sich nicht offen bekennt. Aber sie verschwinden nicht, sondern manifestieren sich zwischendurch. Aus diesem Grund fordert Taylor Habermas auf, die der Verfahrensethik zugrundeliegenden Vorstellungen des Guten offen zu bekunden bzw. explizit zu formulieren. Taylor schreibt der anthropologischen Herausforderung so viel Bedeutung zu, dass das Ausmaß seiner Entrüstung über den Versuch an ihr vorbeizugehen groß ist. Ausgehend von Habermas’ Ablehnung, nach nicht rechtlichen Zügen der Moral zu suchen bzw. nach den Quellen, die dem Leben Tiefe, Fülle und Sinn (zurück)geben können und sie zur Sprache zu bringen, ordnet Taylor dessen Diskursethik in die Kategorie der „Ethiken der Inartikuliertheit“ ein. Gegen diese Ethiken betont er die Notwendigkeit, die Exteriorität und die Interiorität (d.h. entscheidende Identitätsressourcen, der Innenraum des Menschen) zu versöhnen. Damit haben wir den Schlüssel zum Verständnis seines Hauptwerks Die Quellen des Selbst. Nicht zufällig ist dieses Werk folgendermaßen gegliedert: a. Tendenz zu Supranaturalismus und Extrinzesismus (Platon); b. Interiorität (Augustinus); c. Säkularisierung und Entstehung eines tiefen Anthropozentrismus, Autonomisierung des Selbst und Zurückgezogenheit des Selbst auf Kosten der Quellen, aus denen sich sein Wesen speist (Descartes/Kant); d. Wiederanknüpfung an Quellen der Moral (Taylor).376 Es zeigt sich, dass Taylor darum bemüht ist, der Frage nach den Quellen der Moral Relevanz zu verleihen. Von seinem Standpunkt aus ist eine „in sich immanente Ethik“, d.h. eine Ethik ohne Triebkräfte nicht vertretbar.377 Von dieser Ansicht ist Habermas weit entfernt. Er berücksichtigt diese Triebkräfte nicht, weil er überzeugt ist, dass die Moral innerhalb ihrer selbst eine Stütze findet und den letzten Horizont abgibt. Der entscheidende Grund, warum die Moral diese erhebliche Rolle zugewiesen bekommt, liegt laut Waldenfels wohl tiefer, „nämlich in dem neuzeitlich-kantischen Gegensatz von Autonomie und Heteronomie. Dies ist der moralische Aspekt dessen, was Habermas als Moderne verteidigt. – Der Rubikon zu einer fragwürdigen Postmoderne wäre überschritten, wenn Anderes zugelassen
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Man kann Taylor zufolge die Forderungen, die die „modern civilisation“ mit sich bringt, besser verstehen, wenn man ihre Quellen verdeutlicht. Dies ist z.B. der Fall der Forderung weltweiter Fürsorge, der Anerkennung jedes Menschen, der (gerechten) Aufteilung von knappen Mitteln, der Gleichheit usw. In allen diesen Fällen steht der Mensch als ein einen bestimmten Wert oder eine bestimmte Würde tragendes Wesen im Zentrum. Daraus ergibt sich die dringende Aufgabe, Moralquellen herauszufinden, die ein derartiges Menschenbild generieren. Sonst könnte, betont Taylor, z.B. Nietzsches Meinung, dass die Forderung nach Gleichheit oder nach umfassendem Wohlwollen letztlich nur eine Form der Selbstverachtung ist, glaubwürdig erscheinen. Siehe D. Müller, „Les sources religieuses et l´éthique de l´action juste: Ancrage théonomique de l´agir juste“, in Laval théologique et philosophique, Bd. 58, 2(2002), S. 341–356.
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wird als bewegendes, tragendes, bezauberndes Moment, das nicht den selbsterlassenen Vernunftgesetzen gehorcht. Das hieße Selbstauslieferung an fremde Mächte, Verzicht auf das Prinzip der Subjektivität“.378 Fremde Mächte sind unter anderem die Gefühle. In Bezug auf sie sieht Taylor wie auch Waldenfels die Ethiken der Inartikuliertheit mit erheblichen Problemen konfrontiert. Dieser Punkt ist nun genauer zu betrachten.
4.1.4 Die Vernunft und ihr anderes. Das Problem der Ethiken der Inartikuliertheit Zur Einleitung des vorliegenden Punktes ist eine Bemerkung vonnöten: Diejenigen Autoren, die die Ethik mit Gefühlen verknüpfen, stimmen in der Idee überein, dass moralisches Verhalten zwar einen rationalen Charakterzug aufweist; aber dies bedeute nicht, dass die Moral ihren Ursprung in der reinen Vernunft hat. Bergson ist einer derjenigen, die diese Idee weitgehend ausgearbeitet haben. Nach Waldenfels „[finde sich] „[v]ieles, was heute diskutiert wird, schon bei ihm formuliert“.379 Deshalb möchten wir seine Rede zum besseren Verständnis von Taylors Kritik an Habermas vor Augen halten. Bergson hat in seinem Werk Les deux sources de la morale et de la religion den Intellektualismus in der Moralphilosophie heftig kritisiert und für inkonsequent erklärt. Denn letzterer versucht, aus der Feststellung des rationalen Charakters des moralischen Verhaltens, zu schließen, dass die Moral ihre Grundlage in der reinen Vernunft hat. Bergson lehnt eine solche Sichtweise ab und verweist auf Triebkräfte, die eine wichtige Quelle der Moral bilden: „The philosopher who considers that reason is self-sufficient and claims to demonstrate this, succeeds in his demonstration only if he tacitly reintroduces these forces; in fact they have crept back themselves, unbeknown to him, surreptitiously.“380 Bei dieser Kritik hat Bergson den Anspruch oder die Anmaßung der Philosophen im Blick, die Moral nach dem Vorbild der Logik zu begründen: „It is quite natural that we should meet with a pretension to found morality on a respect for logic among philosophers and scholars, who are accustomed to bow to logic in speculative matters, and are thus inclined to believe that in all matters, and for the whole of humanity, logic must be accepted as the sovereign authority. But because science must respect the logic of things and logic in general if it wants to succeed in its researches, because such is the interest of the scientist as a scientist, it is not to be concluded that we are obliged always to conform to logic in our conduct, as though such were the interest of man in general, or even
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B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch, a.a.O., S. 62. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 23, Anm. 5. H. Bergson, The two sources of morality and religion. Westport, 1974, S. 76f. Französisches Original: H. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion. Paris, 1934, S. 86. Wir werden im Fortgang des Textes die Seitenzahl des Originals in Klammern angeben.
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the interest of the scientist as man. Our admiration for the speculative function of the mind may be great; but when philosophers maintain that it should be sufficient to silence selfishness and passion, they prove to us – and this is a matter for congratulation – that they have never heard the voice of the one or the other very loud within themselves. So much for a morality claiming as its basis reason in the guise of pure form, without matter.“381 Einer solchen Kritik spiegelt sich – wie wir sehen werden – in Taylors Kritik am Naturalismus wider. Bergson zielt nicht, ebensowenig wie Taylor und Waldenfels, darauf ab, die Vernunft zu disqualifizieren, sondern wollen etwas Anderes ins Auge springen lassen, und zwar die Rolle gewisser aktiver Kräfte. Sie stellen also die Vermutung in den Raum, dass die Moral, trotz ihres Anspruchs auf der reinen Vernunft zu basieren, nicht selbstgenügsam ist.382 „[I]t is easy to see that no objective – […] not even the dual preoccupation of maintaining social cohesion and of furthering the progress of humanity – will impose itself peremptorily as a mere rational proposition. If certain really active forces, actually influencing our will, are already in possession, reason could and should intervene to co-ordinate their effects, but it could not contend with them, since one can always reason with reason, confront its arguments with others, or simply refuse all discussion and reply by a ‚sic volo, sic jubeo’. In truth, a system of ethics which imagines it is founding obligation on purely rational considerations, unwittingly reintroduces […] forces of a different order. That is exactly why it succeeds so easy. Real obligation is already there, and whatever reason impresses upon it assumes naturally an obligatory character. Society, with all that holds it together and drives it forward, is already there, and that is why reason can adopt as a principle of morality one or other of the ends towards which social man is striving; by building up a thoroughly consistent system of means destined to attain this end, reason will more or less rediscover morality, such as common sense conceives it, such as humanity in general practises, or claims to practice it. For each of these objectives, culled by reason from society, has been socialized and, by that very fact, impregnated with all the other aims to be found there.“383 Bergsons Idee, derzufolge man explizit oder implizit „forces of a different order“ in die Moral unweigerlich (wieder) einführt, hat Waldenfels durch die Entwicklung der prägnanten Ausdrücke der „unbezähmbaren, unüberwindbaren Fremdheit“, der „Schattenrisse der Moral“, des „Stachels des Fremden“ usw. zugestimmt.
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Ebenda, S. 78 (Frz. S. 87.). Eine ähnliche Kritik finden wir in F. von Kutschera, Die falsche Objektivität, a.a.O., 1993. „[T]here can be no question of founding morality on the cult of reason.“ (Ebenda, S. 80. (Frz. S. 89.)) Ebenda, S. 80 (Frz. 89f.).
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„Das Unvermögen der Moral, in sich selbst Halt zu finden, äußert sich in Anlehnungsversuchen und fremden Anleihen.“ 384 Anlehnungsversuche und fremde Anleihe sind unvermeidlich, da die Lücken der Moral unüberwindlich sind. Sie sind in jeder rein rationalen Vorgehensweise bzw. „einer Gesetzesmoral, die sich auf das reine Sollen kapriziert“385 zu erkennen. Taylor und Waldenfels haben in Bergson ihren Meister gefunden. Nun fragt sich, welche Rolle der Vernunft in Bergsons Sichtweise zugeteilt wird. Bergson nimmt an, dass es an der Vernunft liegt, die Kräfte, die auf unseren Willen tatsächlich wirken, zu koordinieren. Er bestreitet aber vehement die Idee, dass sie Verpflichtungen fundieren kann. Denn er hält letztere für eine Notwendigkeit des Lebens (nécessité de la vie,), so dass jeder rein rationale Begründungsversuch oder jede intellektuelle Rekonstruktion nicht grundlegend sein kann. Der Glaube, dass die Verpflichtung eine rein rationale Basis haben könne, rührt, so Bergson, von der Tatsache her, dass man den egoistischen Interessen rationale Argumente entgegensetzen kann (z.B. Es liege ganz im Interesse des Individuums für die Gemeinschaft zu arbeiten), um die Dimension des Gemeinnutzes einzubeziehen. Aber dieser Eindruck verschwindet, sobald man bedenkt, dass die Vernunft nur die von ihr selbst erzeugten Hindernisse überwindet. Für Bergson leistet die Vernunft einen Widerstand gegen die Kräfte, die uns antreiben, im Interesse des ganzen Menschengeschlechts zu handeln, indem sie Gründe für die Verfolgung von egoistischen Interessen liefert. Aber da sie sich dem Druck der Antriebkräfte nicht völlig entziehen kann, versucht sie in einer zweiten Bewegung die Spannung zwischen individuellen und allgemeinen Interessen zu überwinden und die Verflechtung von beiden zu beweisen. Genau in diesem Zusammenhang erscheinen die Verpflichtungen als von einer rein rationalen Vorgehensweise generiert. Dies ist aber ein Missverständnis, das Bergson zurückweisen will: „[T]he truth is that its demonstration seems successful only because it clears the way for something it does not mention, and which is the essential: a necessity that pertains to experience and feeling, one which some argument has thrust into background and which an opposing argument reinstates. What is therefore, strictly speaking, obligatory in obligation does not come from intelligence. The latter only supplies the element of hesitation in obligation. When it appears to be the basis of obligation, it is merely sustaining it in its resistance to a resistance, in the operation of inhibiting itself from inhibiting.“386 Diese Ablehnung des Versuchs, eine rein rationale Basis („Man sollte vernünftigerweise für das Gemeinwohl handeln“) für die Verpflichtung festzulegen, zieht sich wie ein roter Faden durch Taylors Moraltheorie. Und das ist einer der Grundzüge des Denkens von Bergson. 384 385 386
B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 11. Ebenda H. Bergson, The two sources, a.a.O., S. 84 (Frz. S. 94.)
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„[T]he truth is that such a basis would be very unsafe, and that obligation already existed in all its force; intelligence has merely hindered its own hindrance.“387 Anders gesagt, die rein rationale Vorgehensweise fundiert nur etwas, das sie eigentlich – wenn auch nicht ausdrücklich – voraussetzt. Sie entdeckt das wieder, was sie geleugnet hat. Dies ist für Bergson grundsätzlich wahr, selbst wenn viele Moraltheoretiker versuchen, die Rolle der Vernunft positiver (als ob sie etwas fundiert) und attraktiver zu gestalten: „And that is just what most moral philosophers have done, either because they were intellectuals and afraid of not according enough importance to intelligence, or rather because obligation appeared to them as an indivisible entity, defying analysis; on the contrary, if we see in it something approximate to a compulsion which may be thwarted by a resistance, we realize that the resistance has come from intelligence, the resistance to the resistance likewise, and that the compulsion which is the essential, has a different origin. In truth, no philosopher can avoid initially postulating this compulsion; but very often he postulates it implicitly, and not in words. We have postulated it and said so. We connect it, moreover, with a principle that it is impossible not to admit. For, to whatever school of philosophy you belong, you are bound to recognize that man is a living creature, that the evolution of life along its two main lines has been accomplished in the direction of social life, that association is the most general form of living activity, since life is organization, and that, this being so, we pass by imperceptible transitions from the relation between cells in an organism to the relation between individuals in society. We therefore confine ourselves to noting what is uncontroverted and incontrovertible. But, this being admitted, any theorising on obligation becomes unnecessary as well as futile: unnecessary because obligation is a necessity of life; ineffectual because the hypothesis presented can, at the utmost, afford justification in the eyes of intelligence, and very incomplete justification at that, for an obligation anterior to this intellectual reconstruction.“ 388 Für Bergson ist der Versuch, die Moral auf die reine Vernunft zu gründen kurzsichtig. Seine Kritik kann als Aufforderung verstanden werden, das reiche Gebiet, das die moralischen Theoretiker in ihrer gedanklichen Konstruktion kaum berücksichtigen, zu erkunden. Damit versteht sich Taylors Kritik an Habermas’ Versuch, die Ethik ohne jegliche Bezugnahme auf den Menschen als Ganzes zu rekonstruieren. Auf den Menschen als Ganzes Bezug zu nehmen bedeutet hier das Wesen des Menschen genauer zu berücksichtigen und sich aller Kräfte, die das menschliche Wesen antreiben, bewusst zu werden. Bergson betrachtet den „social pressure“ und den „impetus of love“ (l´élan d´amour) als einen Doppelursprung der Moral, die zum Aufbewahren der sozialen Gestalt menschlicher Gattung 387 388
Ebenda, S. 85 (Frz. S. 95.) Ebenda, S. 85f. (Frz. S. 95f.).
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beitragen.389 Die Entwicklungen des Gedankens Bergsons sind nicht immer klar, aber jedenfalls kann man in ihnen anregende Aussagen für Überlegungen über den Ursprung moralischer Verpflichtung sehen. Anknüpfend an der Rolle der Liebe, schreibt Stamer: „Ohne Liebe gibt es keine Moral. Wenn die Befähigung zum Allgemeinen mit der Liebe eine Verbindung eingeht, dann entsteht für mich die Voraussetzung der Moral, nämlich eine emotionale Bindung zu allen anderen Menschen, die auf diesem Planeten wohnen, Menschenliebe. Der ordre du coeur, von dem Pascal sprach, ist nicht ersetzbar. Alle Ethik, die dies vergisst, ist fade und eben nicht ethisch, sondern eher ein Programm der rationalen Ordnung. Ohne Einbeziehung der Liebe [...] in die Begründung der Ethik muss jede Ethik praktisch scheitern.“390 Es geht nicht darum, der Vernunft die Liebe entgegenzusetzen, sondern beide zusammenzuhalten: „Vernunft und Liebe sind die Grundkräfte, aus deren Vereinigung die Moral als besondere und eigenständige Dimension der menschlichen Existenz zu begründen ist.“391 Dies erinnert an Taylors Kritik am cartesischen Begriff der „desengagierten Vernunft“ (Kapitel I) als einer Vernunft, die eine Distanzierung bzw. eine distanzierte Kontrolle („une froide mise à distance de soi-à-soi“) von Triebkräften, Bewegungen des Körpers und Passions der Seele ausübt. Nicht ein cartesisches „cogito ergo sum“, sondern ein existentielles leibliches Selbst ist aus Taylors Gesichtspunkt entscheidend. Die Berücksichtigung der leiblichen Dimension des menschlichen Handelnden macht die Berücksichtigung der Triebkräfte, mit denen er in die Moral- oder Rechtsordnung gelangt, durchaus erforderlich. Die wichtige Rolle dieser Triebkräfte, die die Individuen in die Moral- oder Rechtsordnung einbringen, betrachtend, prangern Bergson und Taylor jede Theorie an, die die Entstehung dieser Ordnung nur durch den Bezug auf eine rationale Basis zu erklären versucht. Bergson betont, dass nicht nur untersucht werden muss, wie die Gesellschaft Individuen zu etwas zwingt, sondern auch wie letztere die Gesellschaft verändern.392 Aus welchen Ressourcen können Individuen die Gesellschaft beurteilen und sie zur Veränderung bringen? Bergsons Antwort lässt zwar weitere Fragen entstehen, aber sie hat zeigt, das die Moralgesetze nicht hinreichen, wenn wir das menschliche Handeln in der Gesellschaft betrachten.
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Ebenda, S. 87 (Frz. S. 98). Vgl. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 23. Anmerkung 5: Bergsons Kritik an Kant kann zwar vorgeworfen werden, dass sie auf unklaren lebensphilosophischen Voraussetzungen beruht; sie hat aber den Vorteil, die Frage nach dem Ursprung moralischer Verpflichtung prägnant formuliert zu haben. G. Stamer, Jürgen Habermas, a.a.O., S. 126f. Ebenda, S. 130. H. Bergson, The Two Sources, a.a..O., S. 91. (Frz. S. 102.)
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„If society is self-sufficient, it is the supreme authority. But if it is only one of the aspects of life, we can easily conceive that life, which has had to set down the human species at a certain point of its evolution, imparts a new impetus to exceptional individuals who have immersed themselves anew in it, so that they can help society further along its way. True, we shall have had to push on as far as the very principle of life. Everything is obscure if we confine ourselves to mere manifestations, whether they are all called indiscriminately social, or whether one examines, in social man, more particularly the feature of intelligence. All becomes clear, on the contrary, if we start by a quest beyond these manifestations for Life itself.“393 In dieser Beziehung hat Waldenfels die Grenzen der reinen Moral in einem Buch mit dem prägnanten Titel Schattenrisse der Moral ausführlich erläutert. Ausgehend von der Tatsache, dass Moralgesetze eine bloße Grundordnung bilden, die – wenn es um Begründung bzw. Beurteilung vom Handeln geht – „notwendige, aber keineswegs zureichende Gründe“ 394 anbietet , stellt er die Grundzüge seiner responsiven Ethik dar, die den Blick auf die „prägesetzlichen“ Verpflichtungen oder „pränormativen“ Erfahrungsansprüchen richtet und sich nicht nur der Frage zuwendet, „ob wir alles tun sollen, was wir tun können“, sondern die fragt „ob wir alles tun sollen, was wir laut Moral- und Rechtsordnung tun dürfen“.395 Auf seiner Seite versucht Taylor durch die Frage nach der Supererogation das Augenmerk auf Ansprüche zu legen, die über den engeren Bereich der moralischen Verpflichtungen hinausgehen. Unter diesem Begriff, der der christlichen Theologie entstammt und in Taylors moralphilosophischen Überlegungen von großer Bedeutung ist, wird eine gute Handlung verstanden, die über das hinausgeht, was moralisch verpflichtend ist (eine „Mehrleistung“). In den Pflichtethiken wird der Supererogation keine große Aufmerksamkeit zugewandt. Dies erklärt sich durch die Tatsache, dass für sie die Aufgabe der Moraltheorie nur darin besteht, den Inhalt der Pflicht festzulegen.
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Ebenda, S. 91. (Frz. S. 103.) B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 97. Er sieht seine Untersuchungen als aporetisch und als heuristisch an: „Die aporetische Seite betrifft die Abgründe und Seitenwege einer reinen Moral, die in ihrer Radikalität wohl oder übel ein Anderes der Moral hervortreten lässt; in den Begründungsversuchen kommt Unergründliches zum Vorschein. Den heuristischen Part übernimmt eine pathisch und responsiv angelegte Ethik; sie setzt der Moral keine Antimoral entgegen, die nur die Vorzeichen ändern würde, dafür lässt sie in der Moral die weißen Flächen einer Amoral hervortreten. Auch die Moral hat ihren blinden Fleck. Was uns widerfährt und uns zu antworten nötigt, ist älter und zugleich auch jünger als alle Gesetzsvorschriften, die bereits moralische Subjekte voraussetzen, älter und zugleich auch jünger als alle Verantwortlichkeit, die voraussetzt, dass wir jeweils wissen und wollen, was wir tun […], es geht um Ansprüche und Antriebe, die jede Zielordnung ebensosehr aufsprengen wie jede Gesetzesordnung.“ (Ebenda, S. 9.) Ebenda, S. 80.
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„Mit anderen Worten, die Moral betreffe das, was wir tun sollen; womit als ethisch belanglos sowohl das ausgeschlossen wird, was trotz mangelnder Verpflichtung zu tun gut ist (weshalb die Übererfüllung einer Pflicht für manche moderne Moralphilosophie ein erhebliches Problem darstellt), als auch das, was zu sein oder zu lieben gut (oder sogar pflichtgemäß) sein mag. In dieser Auffassung gibt es keinen Platz für den in der Tradition durchaus üblichen Begriff des Guten als Gegenstand unserer Liebe oder Loyalität.“.396 Für Taylor verhindert das vorherrschende Klima der Inartikuliertheit, dass man das Gute bejaht bzw. sich der tieferen Quellen der Selbstbestimmung bewusst wird. Dadurch wird auch verhindert, die Bedeutung der qualitativen Unterscheidungen in der Begründung bzw. Beurteilung der Handlung zu erfassen. Die Rolle der qualitativen Unterscheidungen besteht darin, Gründe zu liefern.397 Es geht nicht darum, äußerliche Gründe zu nennen, sondern Gründe die sich in unseren „intuitiven moralischen Vorstellungen“ verankert sind. „Damit wird im einzelnen dargelegt, wovon ich nur eine ungefähre Ahnung habe, wenn ich sehe, dass A richtig, X falsch oder Y wertvoll und erhaltenswert ist usw.“398 Ein Zeitungsartikel aus der Victorville Daily über den Fall von Nancy Daniels kann herangezogen werden, um Taylors Rede von qualitativen Unterscheidungen zu illustrieren. Nancy Daniels, eine bedürftige Mutter von drei Kindern in Kalifornien, hatte ihre Geldbörse (mit einer Summe von 1.000 Dollar) auf einem Parkplatz fallen lassen, als sie die Kinder ins Auto setzen wollte. Ein Obdachloser fand die Geldbörse und beschloss, sie zurückzugeben, obwohl er selbst damit rang, zur Anmietung einer Wohnung 700 Dollar zu sparen. Auf die Frage nach der Begründung seiner Handlung antwortete der Mann: „I just did what I thought was right. ... I know I’m homeless, but she has three kids. ... It seemed too important.“ Die Antwort des Obdachlosen verdeutlicht die Position von Taylors. Denn sie zeigt, dass das menschliche Wesen in der Auseinandersetzung mit der Welt in der Lage ist, zu sehen, dass eine Handlung richtig, falsch, wertvoll oder erhaltenswert usw. ist, und über die in seinen intuitiven moralischen Vorstellungen verankerten und zu artikulierenden Gründe verfügt. Das Beispiel von Nancy zeigt vor allem, dass das menschliche Wesen mit qualitativen Unterscheidungen ausgestattet und somit ein stark wertendes Wesen ist. Dank ihnen entgehen wir der Gefahr der Verflachung in unserem Leben. Daher müssen wir sie in den Mittelpunkt der Moralphilosophie rücken. Dies fordert dazu auf, dass man die gegenwärtige Tendenz, die Frage nach dem „guten Sein“ an den Rand zu drängen zugunsten der Frage nach dem „richtigen Tun“ hinterfragen muss. Es handelt nach Taylor um eine Restriktion in der Moral, die zu bekämpfen ist.
396 397 398
QS, S. 152. Ebenda, S. 146. Ebenda, S. 149.
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Man kann aber fragen, wieso Taylor an der Erweiterung des Bereichs der moralischen Phänomene festhält, obwohl die allgemeine Tendenz der Moderne anders ausgerichtet ist. Diese Frage beantwortet er, indem er seine Ansicht als das angebrachteste Verständnis unserer moralischen Erfahrungen darstellt. Die Inartikuliertheit bzw. die Auffassung der Moralität als nur Handeln aus Pflicht wirkt destruktiv für unsere moralische Denkweise und Sensibilität.399 Taylor bedauert, dass dies für manche modernen Moraltheorien nicht verständlich ist: „[These theories] have the paradoxical effect of making us inarticulate on some of the most important issues of morality. Impelled by the strongest metaphysical, epistemological, and moral ideas of the modern age, these theories narrow our focus to the determinants of action, and then restrict our understanding of these determinants still further by defining practical reason as exclusively procedural. They utterly mystify the priority of the moral by identifying it not with substance but with a form of reasoning, around which they draw a firm boundary. They then are led to defend this boundary all the more fiercely in that it is their only way of doing justice to the hypergoods which move them although they cannot acknowledge them. And from this frequently follows another of the strange cramps they put in moral thinking, the tendency to unify the moral domain around a single consideration or basic reason, e.g., happiness or the categorical imperative, thus cramming the tremendous variety of moral considerations into a Procrustes bed. And there are other cramps as well. The notion that morality is exclusively concerned with obligations has had a restricting and distorting effect on our moral thinking and sensibility. Williams shows how badly distorting this is, and how it fails to cope with all that aspect of our moral thinking which concerns aspirations to perfection, heroism, supererogation, and the like. Once more, in Procrustean fashion, this is either assimilated to a foreign mould or rejected. All this in answer to the question why it is necessary to belabour the obvious fact that qualitative distinctions have an inexpungable [sic!] place in our moral life and thinking. We have to fight uphill to rediscover the obvious, to counteract the layers of suppression of modern moral consciousness.“400 Von diesem Standpunkt aus kann man Taylors Abneigung gegen die von ihm so genannte atomistische Pflichtethik verstehen, in der nicht mehr der ganze Mensch moralisch ist, sondern nur noch seine Vernunft. Kühnlein erläutert dies wie folgt:
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400
W. Reese-Schäfer weist auf die Kehrseite der Aufforderung Taylors zur Artikuliertheit hin: „Wo Taylor in direkter Weise gegen den modernen liberalen Prozeduralismus argumentiert, steht Rhetorik gegen Rhetorik. Taylors Warnung vor den möglichen negativen Folgen der Inartikuliertheit von Grundgütern wird konterkariert durch die Warnung vor den möglichen konfliktproduzierenden Folgen ihrer Artikulation.“ (W. Reese-Schäfer, „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg...“, in DZPh. 44(1996), S. 633.) SoS, S. 89f.
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„Taylor wirft einer atomistischen Pflichtethik vor, dass der von ihr generierte Begriff des Wohlwollens sich allein auf die Gesetzgebungskompetenz der menschlichen Vernunft bezieht. In dieser Funktion kann allerdings das Prinzip der gleichen Achtung nur negativen gestärkt werden […]. Moral reduziert sich auf ein Wohlwollen auf Verlangen, welches den Menschen nur noch partiell in Anspruch nimmt.“401 Zur Überwindung jeden Reduktionismus der Existenzform des Menschen macht Taylor aufmerksam auf die Frage „Was heißt es, ein menschlicher Handelnder zu sein?“ Das ist sogar die Kernfrage seines Opus magnum Quellen des Selbst. 402 Taylors philosophischer Anthropologie kommt, so Honneth, die Aufgabe zu, „auf dem Weg einer Kritik der neuzeitlichen Philosophie die Grundzüge eines neuen Verständnisses der Existenzform des Menschen zu gewinnen“.403 Nicht das Ich, das ständig berechnet und einen Gewinn erzielt, sondern das Selbst, ein „Wesen mit der Tiefe und Komplexität“404, entspricht Taylors Idee der menschlichen Person. Ideen wie die, der Mensch sei grundsätzlich ein stark Wertender oder der Mensch könne sich gar nicht außerhalb jedes Verhältnisses zum Guten stellen, gelten für Taylor als Binsenwahrheiten, deren Betonung erst durch bedauerliche Tendenzen der Moderne notwendig und dringend geworden ist. Im Unterschied zu Vertretern der rein rationalen Vorgehensweise, die sich einer überzogenen Vernunft überlassen, machen Taylor und Bergson sowie Waldenfels aufmerksam auf Phänomene, die dem moralischen Bereich angehören, ohne aber von der Vernunft generiert zu sein. Wir können diese Phänomene nicht nicht berücksichtigen, wenn wir den ganzen Mensch in Anspruch nehmen wollen. Daher sind die Prozeduren bzw. die formalen Normen für die drei Autoren – obgleich notwendig – nicht hinreichend für die Begründung der menschlichen Handlungen. Außerdem stellt für diese Autoren die Verknüpfung von ‚Sein’ und ‚Sollen’ kein Problem dar. Das moralische Sollen ist Taylor zufolge das Resultat vor allem unserer Identität, und nicht unserer Regeln. Zur Illustrierung dieser Ansicht von Taylor kann man Fälle des Elends in Betracht ziehen, die eine Empörung und Unterstützungen bzw. Hilfsaktionen weltweit
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M. Kühnlein, Religion als Quelle des Selbst, a.a.O., S. 61. In diesem Zusammenhang kann das Prinzip der gleichen Achtung nur negativ gestärkt werden. Demgegenüber spricht Tugendhat von einem Instrumentalisierungsverbot der praktischen Vernunft (Vorlesungen über Ethik, a.a.O., S. 80.). Zum Verhältnis zwischen Vernunft und Neigung, siehe auch die Kritik F. Schillers am Vernunftrigorismus der Kantischen Pflichtmoral („Über Armut und Würde“, in ders., Werke in drei Bänden und einem Ergänzungsband, 2. Band, 1793, S. 406-446, hier S. 424.). Hegel zufolge führt die Trennung von Vernunft und Neigung zu einer Entzweiung des moralischen Selbst („Der Geist des Christentums und sein Schicksal“, in: Werke, 1. Band, Frankfurt/M., 1986, S. 274-418, hier 323.) QS, S. 7. A. Honneth, „Nachwort“, in C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 296. QS, S. 63f.
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auslösen. Diese Reaktionen beruhen auf dem, was man unter Menschsein versteht. Unsere Selbstbeschreibungen liegen in Taylors Sicht unserem Handeln zugrunde. Wir müssen dies berücksichtigen, um jedem Intellektualismus in der Moraltheorie zu entkommen. Für Taylor befolgen Menschen Regeln nicht einfach, weil diese formuliert sind, sondern weil hinter ihnen Vorstellungen des Guten stecken, die sie schätzen. An diesem Punkt schließt sich Taylor – wie auch Descombes bemerkt – an Wittgensteins an, um jede mechanistische Deutung des menschlichen Verhaltens zurückzuweisen. Wollen wir verstehen, wie und warum Menschen einer Regel folgen, dann müssen wir nicht anhand einer Theorie zu erklären, wie die Regeln einen Einfluss bzw. eine Wirkung auf Menschen ausüben, sondern zur Kenntnis zu nehmen, dass Menschen absichtlich so handeln, dass ihre Handlungen mit Regeln, die sie befolgen möchten, übereinstimmen.405 Nicht die Regeln handeln durch die Menschen, sondern die Menschen handeln durch die Regeln. Daher ist bei Wittgenstein – wie Loppe betont – der Begriff des „Regelfolgens“ entscheidender als der der „Regel“.406 Regeln beziehen sich auf intentionale Handlungen und können nur von Wesen, d.h. grundsätzlich wertenden Wesen in Taylors Sprache, befolgt werden, die Handlungen als solche betrachten. Dies ist ein spezifisches Merkmal der Geisteswissenschaften, das von einer positivistischen Lesart nicht berücksichtigt wird. Es bildet bei Taylor ein Grundthema.407 Die Relevanz der vorausgehenden Ausführungen besteht darin, dass sie uns den großen Umfang des moralischen Bereichs bewusst machen und dadurch die übermäßige Rolle der Vernunft in Frage stellen. Nun ist es an der Zeit zu zeigen, inwiefern die Verfahrensethik aus Taylors Sicht unvermeidlich auf eine substantielle Basis angewiesen bleibt.
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Zitiert in V. Descombes, „Pourquoi les sciences morales ne sont-elles pas des sciences naturelles?“, in: Guy Laforest, Philippe Lara (Hg.), Charles Taylor, a.a.O., S. 77. In dieser Beziehung stellt Waldenfels z.B. die Frage, „ob nicht inmitten des moralischen oder auch des rechtlichen Handelns etwas auftaucht, was sich der klassischen Disjunktion entzieht und somit diesseits von Sein und Sollen seinen Ort hat“. (B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 21.). Siehe auch J. Pelabay, Charles Taylor, a.a.O., S. 334. T. Loppe, Bedeutungswissen und Wortgebrauch. Entwurf einer Semantik im Anschluss an Wittgenstin und Putnam. Tübingen, 2010, S. 115f. Aus der Perspektive von Wittgenstein sind die Regeln nicht als Gründe für Handlungsweisen zu betrachten. Diese Ansicht ist interessant für Taylor in seiner Förderung von qualitativen Unterscheidungen, deren Rolle darin besteht, Gründe zu liefern. In diesem Zusammenhang beruft sich Taylor auch auf Hegels Betonung der Rolle der „ethischen Substanz“. Hegel kritisiert die Tatsache, dass Kant nur die moralisch expliziten Regeln berücksichtigt, und die „ethische Substanz“ unberücksichtigt lässt. Dieser Vorgang ist problematisch, weil das Funktionieren des „moralischen Kodex“ vor allem dank der ethischen Substanz möglich ist. (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §135). Dem Hegelschen Denken hat Taylor zwei gewichtige Studien gewidmet, nämlich Hegel, Cambridge, 1975 und Hegel and Modern Society, Cambridge, 1979.
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4.2 Der theoretische Vorgriff der Verfahrensethik auf eine substantielle Basis 4.2.1 Kritik an der Unterscheidung zwischen moralischen und klinischen Fragen – Zur Entflechtung der Motive der Verfahrensethik Taylor hat durch die enge Verknüpfung der menschlichen Seinsweise (Identität) und des Guten einen Weg bewusst genommen, der ihn zur Konfrontation mit vorherrschenden Strömungen der gegenwärtigen Moralphilosophie führt. Gegen sie alle betont er, dass sie die Frage nach den Vorstellungen des Guten nicht überflüssig machen können. Besonders die Verfahrensethik, die, wegen ihres Anspruchs auf einen reinen Formalismus, diese Frage in sich aufheben will, macht er darauf aufmerksam, dass sie offensichtlich auf einem Selbstmissverständnis und Versäumnis beruht. Wie zeigt Taylor dies in der Habermasschen Verfahrensethik? Für ihn besteht der Fehler schon in der Entscheidung, die rationale Verständigung – wie Habermas in seiner Sprechakttheorie der Gesellschaft tut – auf eine bloß formale Rationalethik zu gründen. Der formalen Rationalethik zufolge „bestimmen [wir], was richtig ist, anhand des Verfahrens, mit dem wir entscheiden, was wir tun sollen. Dieses Verfahren ist es, das vernünftig sein soll. Rationalität als eine Vollkommenheit des Verfahrens (prozedurale Rationalität) […] ist dann der Grundbegriff“.408 Es gibt nach Taylor drei Gründe, die für die Verfahrensethik sprechen:409 (a) Sie entgeht den epistemologischen Problemen, mit denen man bei der Bestimmung des guten Lebens konfrontiert ist; (b) Sie stellt sich in Bezug auf eine radikal verstandene Freiheit offener als die substantielle Ethik dar; (c) Sie kann sich von Besonderheiten kultureller Lebensformen völlig befreien (Dies gilt für Habermas als eine spezifische Eigenschaft der formalen Ethik). Allerdings sieht Taylor die Habermassche Theorie mit Schwächen behaftet. Sie unterliegt einem äußerst starken Intellektualismus und kann somit – wie schon gezeigt – mit der unvermeidlichen Verknüpfung von Moral und Identität (bzw. der anthropologischen Dimension: „Warum ich eigentlich nach einer bestimmten Norm (rational) verfahren soll?“) nicht „konsequent“ umgehen. Es ist zu bemerken, dass sich Taylors Kritik von der von Honneth an Habermas zum Teil unterscheidet. Nicht der theoretische Vorgriff auf eine Lebensform, aber auf ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit wird von Honneth kritisiert. Für ihn macht die Diskursethik diesen Vorgriff „zwingend, im Hinblick auf das die strikte Unterscheidung von ‚formal’ und ‚inhaltlich’ selbst fragwürdig wird“.410 Aufgrund dieses theoretischen Vorgriffs auf ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit ist sie gegenüber den alternativen Gerechtigkeitskonzeptionen nicht
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C. Taylor, „Sprache und Gesellschaft“, a.a.O., S. 44. Ebenda, S. 45. A.Honneth, „Diskursethik und implizites Gerechtigkeitskonzept“, a.a.O., S. 183.
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neutral, „weil sie in ihren eigenen Grundbegriffen bereits bestimmte, vor allem rein verteilungstheoretische Ansätze ausschließt [...]“.411 Sowohl für Honneth als auch für Taylor ist der Anspruch auf Neutralität nicht vertretbar. Taylor wirft dieses Problem auf, wenn er die Frage beantwortet, in welcher Relation eine Theorie der Moral zur bestehenden Praxis steht. Dabei betont er: „Eine Theorie der Gerechtigkeit hat folglich von den Gütern und der Alltagspraxis auszugehen, die tatsächlich in einer gegebenen Gesellschaft vorhanden sind. Moraltheoretische Begründungsversuche können nicht unter Absehung von der bestehenden Praxis durchgeführt werden.“412 Taylors Kritik am Habermasschen reinen Formalismus bzw. Anspruch auf Neutralität impliziert auch die Ablehnung von Habermas’ Unterscheidung zwischen moralischen und klinischen Fragen. Unter klinische Fragen versteht Letzterer Fragen, die auf die Lebensführung bezogen sind: Wer will ich/wollen wir sein? Und er behält den Ausdruck moralische Fragen nur den Fragen vor, die anhand eines Kriteriums der allgemeinen rationalen Verständigung beantwortet und entschieden werden können. Einer solchen Aufteilung oder strikten Unterscheidung von Bereichen will Taylor nicht zustimmen, weil sie im Widerspruch zu unserem gewöhnlichen moralischen Bewusstsein steht und zur Verarmung der Moral führt. Waldenfels betrachtet diese Unterscheidung als eine „moralische Ausdünnung des Ethos“ und betont in Übereinstimmung mit Taylor: „Die moralische Ausdünnung des Ethos hat zur Folge, dass alles, was sich nicht prinzipiell rechtfertigen lässt, als empirisch abgetan und der Soziologie, der Psychologie oder der Psychotherapie überlassen wird. Hier tummeln sich dann Gefühle, Verhaltensweisen, Umgangsformen und Fehlleistungen jeder Art.“413 Wie Waldenfels ist auch Taylor sehr kritisch gegenüber diese Unterscheidung. Er findet es unangebracht, eine scharfe Grenzlinie zwischen den Bereichen zu ziehen, sonst würde der Moral ihre substantielle Basis genommen. „Der gesamte Versuch, eine scharfe Grenze zwischen Fragen der Gerechtigkeit und Fragen des guten Lebens zu ziehen, ist von vornherein falsch angelegt; es handelt sich dabei um die unglückliche Folge der Grundentscheidung für eine Verfahrensethik.“414 Um die Verarmung der Moral zu verhindern kämpft Taylor, wie im Teil 1 gesehen, um einen erweiterten Begriff der Vernunft, den er als die hermeneutische Vernunft bezeichnet. Dieser besteht darin, die Quellen, die dem Leben einen Sinn verleihen, zu artikulieren bzw. 411
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Ebenda, S. 189. Die Diskursethik bleibt aber bewundernswert, denn sie hat „positive Hinweise auf ein intersubjektivistisch erweitertes Gerechtigkeitskonzept, in dessen Zentrum die Idee einer egalitären Freiheit zur moralischen Stellungnahme steht“. (Ebenda) C. Taylor, „Die Motive einer Verfahrensethik“, a.a.O., S. 124. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 12. C. Taylor, „Sprache und Gesellschaft “, a.a.O., S. 48.
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die Gründe, aus denen wir so oder so handeln, zu verdeutlichen. Aus diesem Gesichtspunkt ermöglicht die Sprache nicht nur die Verständigung, wie es bei Habermas der Fall ist, sondern auch die Artikulation des substantiellen Gehalts des menschlichen Handelns. „Wenn wir die Friktionen in den Gemeinsamkeiten eines ‚Wir’ mit Hilfe des übergreifenden Hintergrundkonsenses beheben wollen, dann müssen wir versuchen, das Gute und intersubjektiv Bewährte in unserer Lebensform zu artikulieren […]. Eine Gesprächstheorie der Sprache hat sowohl in wissenschaftlicher als auch in politisch-moralischer Hinsicht enorme und heilsame Folgen für eine Gesellschaftstheorie. Aber der Gewinn wird zum Teil auch wieder verspielt durch die Entscheidung für eine Verfahrensethik und die damit verbundene Unterscheidung zwischen drei logisch unabhängigen Rationalitätsdimensionen. Dies bringt eine Verzerrung der praktischen Vernunft mit sich; insbesondere bleibt die zentrale Rolle verschleiert, die der Sprache als einer erschließenden Kraft zukommt […]. Im Gesamtbereich der praktischen Vernunft spielt die Sprache als ein Ausdrucksmedium eine unersetzliche Rolle: Wir bringen unsere moralischen Zwecke und unser Selbstverständnis als Menschen so zum Ausdruck, dass wir damit zugleich unsere Zwecke verstehen und rechtfertigen; wir artikulieren das implizite Verständnis, das den Hintergrund unserer gesellschaftlichen Normen, Gebräuche und Institutionen darstellt und eng mit unserem Verständnis moralischer Zwecke verknüpft ist.“415 Taylors Rede von impliziten (Selbst-)Verständnis, das zu artikulieren ist, verdeutlicht sich z.B. im Fall der Pflichtenkollisionen. Jeder Versuch, mit diesem Fall gut umzugehen, macht einen Vorgriff auf einen substantiellen Hintergrund. Anders gesagt, die Lösung von Pflichtenkollisionen kann nur im Lichte von starken Wertungen erfolgen. Daher empfiehlt es sich, diesen Hintergrund explizit zu machen oder ihn zu artikulieren. Taylor vollzieht gegen den Habermasschen Anspruch auf einen reinen Formalismus einen indirekten Beweis, der – wie Corradini erläutert – darin besteht, etwas „dialektisch“ zu beweisen, d.h. „zu zeigen, dass der Gegner genau die Position anzuerkennen gezwungen ist, die er explizit zurückweist“.416 Die Tatsache, dass es unmöglich ist, in einem rein deontologischen Bereich kohärent zu bleiben – wie der Fall der Pflichtenkollisionen zeigt –, untermauert Taylors These der Unumgänglichkeit der starken Wertungen. Davon ausgehend hält Taylor die substantielle Ethik (also, die
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Ebenda, S. 50f. Auf Taylors Kritik hat Habermas in denselben Band auch mit einem ausführlichen Rekurs auf Humboldt reagiert (Siehe J. Habermas, „Entgegnung“, in A. Honneth, H. Joas, (Hg.), Kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 328-337.). Die Kritik an Habermas’ Beitrag wurde schon mit Trabant erwähnt. A. Corradini, „Bemerkungen zu den Grundlagen der Ethik“, in: W. Lenzen (Hg.), Das weite Spektrum der analytischen Philosophie. Festschrift für Franz Kutschera. Berlin, 1997, S. 46. Die Autorin bezieht sich auf Aristoteles, Metaphysik Buch 4, und behauptet, dass der indirekte Beweis die folgende doppelte Idee veranlasst: Vom theoretischen Gesichtspunkt aus „müsse“ es objektive Werte geben; von der Werterfahrung aus „gebe“ es tatsächlich objektive Werte (Ebenda, S. 53f.).
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in Anlehnung an Aristoteles einen Begriff des guten Lebens einsetzende Ethik) für konsequenter und grundlegender als die Verfahrensethik. Er zeigt, dass die Verfahrensethik genötigt ist, die substantielle Basis anzuerkennen, die sie aber eindeutig ablehnt. Die Vorgehensweise, durch die Taylor Motive der Verfahrensethik herausstellt, muss näher betrachtet werden. Zum besseren Verständnis dieses Abschnitts werden die hier konkurrierenden Ansichten aus vorausgehenden Ausführungen folgendermaßen eingegliedert417: (i) Habermas’ Ansatz: Nur im Dialog kann geklärt werden, ob eine Norm allgemeingültig und konsensfähig ist. Das bedeutet, dass die Begründung von Normen die Durchführung eines realen Diskurses erfordert. Hier werden Argumente mit Geltungsanspruch formuliert. Zum Erreichen des Zieles des diskursiven Einverständnisses gibt es „Prozeduren“ als „Leistung der Vernunft“; diese gilt als einzig „anerkannte Autorität“.418 Damit wird die Berufung auf jede substantielle Basis ausgeschlossen. Denn Letztere kann potentiell zu Ideologien und bestimmten „totalitären Herrschaftsformen“ führen. All dies spricht für den Habermasschen Ansatz. (ii) Taylors Ansatz: a. Zustimmung: Taylor ist einverstanden mit Habermas’ Ansicht, dass bestimmte „totalitären Herrschaftsansprüchen“ auf die Berufung auf Vorstellungen des Guten zurückzuführen sind. Grauenhaften Unterdrückungen, unsägliches Elend usw. wurden in der Menschengeschichte unter anderem im Namen des Glaubens verursacht.419 b. Entgegnung: Er behauptet aber trotzdem, dass es ein Kardinalfehler ist, zu glauben, „ein Gut müsse ungültig sein, wenn es zu Leiden oder Zerstörung führt“.420 Daher lehnt er es ab, dem Ansatz Habermas’ im Kern zuzustimmen und formuliert seine Gegenthese folgendermaßen: „Als Gegenthese zu einer Verfahrensethik möchte ich vertreten, dass die Subsumtion des Guten unter das Richtige – ein wesentliches Merkmal der Verfahrensethik […] – letzten Endes unhaltbar ist. Dieser Gegenthese zufolge beruht jede Ethik auf einem Grundbegriff des Guten. Daraus folgt nun keineswegs, dass jeder verfahrensethische Ansatz zu verwerfen ist, sondern lediglich, dass er als Theorie der Moral die spezifische Natur und Logik des Moralischen missversteht.“421
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Wir beziehen uns hier wieder hauptsächlich auf C. Taylor, „Motive der Verfahrensethik“, a.a.O. J. Habermas, Moralbewusstsein, a.a.O., S. 53f. QS, S. 896. Q. Skinner weist darauf hin, dass Taylors Versuch, eine theistische Erklärung des menschlichen Lebens zu entwickeln und damit den die Moderne besonders prägenden Sinnverlust zu überwinden problematisch ist: „Die Institutionen, auf die er sich zu unserer Rettung vor dem Sinnverlust beruft, sind in den Augen vieler von ‚uns’ genau jene, die unsere Interesse am ehesten verraten sowie unsere Freiheiten bedrohen.“ (Q. Skinner, „Moderne und Entzauberung“, a.a.O., S. 614.) Ebenda, S. 897. C. Taylor, „Die Motive der Verfahrensethik“, a.a.O., S. 101.
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Das Moralische beruht für Taylor unvermeidlich auf einer substantiellen Basis. Daher plädiert er für eine Moraltheorie, deren Grundbegriff das Gute ist.422 c. Begründung: Die Verfahrensethik speist sich heimlich aus einem Begriff des Guten. Anders gesagt, sie setzt selbst implizite Vorannahmen über das Gute voraus, die ihrem Anspruch auf einen reinen Formalismus widersprechen. Für Taylor bezieht sich die Auseinandersetzung zwischen Verfahrens- und substantieller Ethik auf die Beziehung zwischen ethischen und metaethischen Fragen. „Die Subsumtion des Guten unter das Richtige impliziert eine metaethische Einstellung, da es dabei ja um eine Entscheidung über die Form einer ethischen Theorie geht. Konsequenterweise muss dann davon ausgegangen werden, dass sich metaethische Fragen unabhängig von Annahmen über das Gute entscheiden lassen. Wenn die Verfahrensethik einen Begriff des Guten annehmen müsste, um sich legitimieren zu können, geriete sie in einen Widerspruch, da sich dann der Vorrang des Richtigen vor dem Guten nicht mehr aufrechterhalten ließe.“423 Als Ausweg aus dieser Aporie schlägt Taylor eine Reformulierung der Verfahrensethik mittels einer „historisch-hermeneutischen Rekonstruktion“ ihrer Motive vor. Durch die Aufklärung ihrer verworrenen Motive würde die Verfahrensethik, so Taylor, einen bedeutenden Anteil ihrer Anziehungskraft zurückgewinnen. Zur Entflechtung dieser Motive der Verfahrensethik stützt sich Taylor auf MacIntyres Buch After Virtue, das er als einen der bedeutendsten Beiträge zur Diskussion über ethische Theoriebildung im angelsächsischen Kontext ansieht. Den Einstieg in das Thema findet Taylor in den historischen Voraussetzungen der Tatsachen/Werte-Dichotomie. Diese Dichotomie drückt sich in der Auffassung aus, ein ‚Sollen’ könne nicht aus einem ‚Sein’ abgeleitet werden. Taylor sieht darin keine zeitlose Wahrheit und stellt sie sogar in Frage, weil – betont er – die Zurückweisung des teleologischen Verständnisses vom Leben (in der Moral) überhaupt keinen gelungenen Versuch darstellt. „Ich behaupte also, dass alle Theorien, die der Frage nach dem Richtigen den Vorrang geben, in Wirklichkeit auf einer Idee des Guten beruhen, und zwar in zweierlei Hinsicht: a) dass es der Artikulation dieser Idee bedarf, um deren Motive zu verdeutlichen, und b) dass jeder Versuch, an einer Theorie des Richtigen ohne Untermauerung durch eine Theorie des Guten festzuhalten, zum Scheitern verurteilt ist.“424
422
423 424
Taylor entgeht nicht, dass eine solche Moraltheorie, die die Frage nach dem Stellenwert des Guten vorrangig macht, mit der Schwierigkeit konfrontiert ist, dass die von ihr vorausgesetzten metaphysischen Einstellungen die Annehmbarkeit heutzutage kaum finden. (Ebenda, S. 115.) Ebenda, S. 102. Ebenda, S. 119.
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Wenn wir der Logik des Telos und des Guten nicht entkommen können, dann kann letzten Endes zugestanden werden, „dass wir weitaus mehr ‚Aristoteliker’ sind, als wir es uns zugestehen wollen, und dass unsere Praxis in signifikanter Weise weniger auf bloßer radikaler Freiheit und Atomisierung beruht, als wir es wahrhaben wollen“.425 Taylor scheint hier nahezulegen, dass es eine bestimmte Diskrepanz zwischen dem, was in vielen Theorien behauptet wird, und dem, was/wie Menschen konkret leben, besteht. Das neue Verständnis von Freiheit426 und Vernunft führt z.B. zur Ablehnung, dass es einen durch die Natur vorgegebenen Begriff des Guten gibt. Aber es zeigt sich unbefriedigend, denn es bleibt mit der Inkohärenz behaftet, die sich aufzeigt, wenn die Frage nach dem motivationalen Kern einer regelgeleiteten Moraltheorie in den Mittelpunkt rückt. Die Rede von vernunftgeleitetem Handeln als Handeln, das man an rationalen Prozeduren oder selbstbestimmten Gesetzten orientiert, äußert deutlich die Entscheidung der Verabschiedung mit einer Ordnung der Natur. Bedeutet das aber, dass wir tatsächlich das Gute nicht mehr als Basis unseres Handelns haben? Taylor antwortet deutlich mit nein und verweist sofort auf die Achillesferse der prozeduralen Ansätze: „Die Unzulänglichkeit prozeduraler Theorieansätze ist eigentlich recht naheliegend. Sie wird offenbar, wenn man danach fragt, was die Grundlage der Hierarchie ist, die sie anerkennen, und was jede Moraltheorie muss, um das zu leisten, was ich ‚starke Wertung’ nenne. Weshalb soll es zwingend geboten sein, bestimmten, eine Sonderstellung einnehmenden Verfahren Folge zu leisten? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich nur aus einem bestimmten Verständnis des menschlichen Lebens und der menschlichen Vernunft, sie besteht aus einer positiven Explikation der conditio humana und folglich auch des Guten.“427
425 426
427
Ebenda, S. 112. Wie ist man auf diesen neuen (radikalen) Freiheitsbegriff gekommen? Taylor sieht seine UrZüge in der Mechanisierung des Weltbildes, d.h. einer völlig „neutralen Sicht der kosmologischen Ordnung“: „[D]iese Konzeption von Freiheit wird im Laufe der Zeit zunehmend auf den Menschen übertragen. Die uns vorgegebenen Zwecke sind nun nicht mehr durch die Natur der kosmologischen Ordnung, in die wir eingebunden sind, verbürgt, sondern eher durch die Natur unserer Verstandeskräfte. Diese verlangen, dass wir die Welt qua Objektivierung kontrollieren und sie den Anforderungen einer instrumentellen Vernunft unterwerfen [...]. Die Folgen sind nur allzu gut bekannt: Vernunft wird nicht mehr substantiell definiert, etwa im Bezugrahmen einer kosmologischen Ordnung, sondern formal; das Denken soll sich an Verfahren orientieren, speziell solchen, die eine Übereinstimmung von Mitteln und Zwecken einschließen [...]. Der Begriff der menschlichen Würde unterliegt ebenfalls einem Bedeutungswandel; es besteht keine Verpflichtung auf eine kosmologische Ordnung mehr, sondern es ist der Status des Subjekts als souveränes Vernunftwesen, der zu rationaler Kontrolle verpflichtet. Dies ist nicht einer Ordnung der Dinge geschuldet, sondern der eigenen Würde.“ (Ebenda, S. 106f.) Ebenda, S. 119.
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Diese Aussage Taylors bezieht sich auf die oben dargestellte „anthropologische Herausforderung“. Das ist der Punkt, an dem die Verfahrensethik wegen ihres Intellektualismus scheitert. Hier gewinnt die Realität die Oberhand über den Intellektualismus (die abstrakte Konstruktion) zurück. Die Verfahrensethik verlagert das Gute, sie entkommt ihm aber nicht. In diesem Zusammenhang lobt Taylor Kant, weil er durch die Darstellung des Menschen als Subjekts vernünftigen Handels und somit seiner Würde als höchstes Gute eine positive Explikation der conditio humana und des Guten anbietet. Nun muss betont werden, dass sich Taylors Angriff gegen die Verfahrensethik nicht nur auf die „Struktur einer Theorie der Moral“ – wie bisher betrachtet – bezieht, sondern auch auf die „Struktur des moralischen Verstehens bzw. Urteilens“. Hier greift er auf die aristotelische Idee zurück, „dass unsere moralische Urteilskraft niemals völlig explizit sein könne und auch nicht durch einen noch so umfangreichen Kanon von Regeln festzulegen sei. Die faktisch unendliche Vielfalt von Handlungssituationen bedeutet, dass wir nur dann tugendhaft leben können, wenn wir ein einsichtsvolles Verständnis dessen haben, was tugendhaftes Handeln in immer wieder neuen Zusammenhängen auszeichnet. Darauf bezieht sich der aristotelische Begriff der ‚phronesis’“.428 Laut Metzler Philosophie Lexikon ist Urteilskraft ein „besonderes Talent“, das ermöglicht, in neuen und unvorhersehbaren Verhältnissen zu handeln, eine „Entscheidungsinstanz über die Anwendung von Regeln [, die] nur von Fall zu Fall ‚geübt’ werden“ kann.429 Für Taylor lässt sich das Vorhandensein einer impliziten Urteilskraft z.B. an der Erfahrung erkennen, dass einige Erklärungen, die wir in Bezug auf die Frage „was richtig oder falsch an einer bestimmten Handlungsweise ist“ formulieren, zutreffender als andere sind. Denn sie sind in der einen oder anderen Weise auf ein vorgängig akzeptiertes Gut bezogen. Dabei bleibt eine Überführung der impliziten Urteilskraft in explizite Begründungen eine wichtige Aufgabe.430 Dieser Punkt rückt in den Fokus, wenn man sich auf Autoren bezieht, die die rationalistische Auffassung des Geistes angreifen. „Wittgenstein, Heidegger, Polanyi und andere haben das Argument stark gemacht, dass der Prozess der Explikation des impliziten Wissens prinzipiell offen ist. Regeln, mögen sie noch so weitreichend und detailliert sein, wenden sich nicht selbst an. Normen und Ideale bedürfen in jeweils neuen Kontextbedingungen immer zusätzlicher Deutungen.“431 Diese Ansicht wird bei den Kritikern in vieler Hinsichten entwickelt. Taylor hält sie für überzeugend und sieht dadurch die Stärke der aristotelischen Ethik für bestätigt. Aristoteles hat die Idee verteidigt, derzufolge wir nach rechter Einsicht – ortho logos – handeln sollten 428 429
430 431
Ebenda, S. 120. P. Prechtl, F.-P. Burkard (Hg.), Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart-Weimar, 1999, S. 622. C. Taylor, „Die Motive der Verfahrensethik“, a.a.O., S. 121. Ebenda
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(NE 1103 b32).432 Wir haben, jede bestimmte Handlungssituation, „die jeweilige Lage [zu] bedenken“ (NE 1104 a6f), weil unser Verhalten nicht genau im Voraus vorgeschrieben ist oder „mit mathematischer Genauigkeit“ regelgeleitet ist (NE 1104 a2). Hierbei sagt Müller „Der orthos Logos ist keine Handlungsanweisung, sondern Erkenntnisvollzug von ethisch reflektierenden Menschen, die die Tugend als vernunftbestimmtes Verhalten verstehen und dazu die Mitte zwischen Extremen zu finden und diese handelnd zu realisieren sich bemühen.“433 Aus der Idee, dass der Beurteilungsmaßstab in der Erfahrung liegt, folgt logischerweise bei Aristoteles, dass die Normen nicht überzeitlich, vorgefertigt, per se unbedingt sind, sondern auf jeweiligen Lebenszusammenhang bezogen. Diese Kontextbezogenheit der Ethik, die Taylor verteidigt, findet ihm zufolge in der an expliziten Regeln orientierten modernen Ethik kaum Gehör. Denn hier „Handlungsfreiheit ist durch rationale Verfahren verbürgt, deren Intention es ist, Irritationen und Unklarheiten durch Exaktheit und Explizitheit zu überwinden. Man denke nur an Descartes. Die gleiche Tendenz, die eine Pflichtethik gegen eine Güterethik durchsetzte, neigte auch dazu, eine regelgeleitete Ethik zu bevorzugen. Was noch dem Bereich der ‚phronesis’ überlassen blieb, schien gleichbedeutend mit Irrationalität. Rationale Kontrolle bemisst sich allein daran, ob dem Handeln exakte Kalkulation und universelle Prinzipien zugrunde liegen. Das Misstrauen richtete sich nicht nur deshalb gegen phronesis, weil sie sich nicht vollständig rational begreifen lässt, sondern auch weil sie, konsequent zu Ende gedacht, die Domäne blinder bzw. einschränkender Vorurteile sein könnte. Ein nicht explizites moralisches Bewusstsein muss Gefangener der vorhandenen Praxis bleiben, und jedes Zugeständnis in diesem Punkt läuft auf eine Festigung des status quo hinaus. Freiheit, Allgemeingültigkeit und eine kritische Einstellung machen explizite Regeln erforderlich“.434 Allerdings bleibt die moderne Freiheitsethik nach wie vor zum Nachdenken angeregt wegen ihres Versuchs, zwischen dem Deontologischen und dem Guten eine kategorische Scheidelinie zu ziehen. Immer wieder lautet Taylors entscheidende Frage: Was bewegt den Menschen im Sinne des Richtigen zu handeln? Wieder sind wir auf die Annahme eines vorgängig akzeptierten Guten zurückgeführt. Habermas sieht, was für Herausforderungen dahinter stecken, aber will diese anscheinend vermeiden, indem er eine solche Annahme einfach umgeht. Er behauptet:
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Wir beziehen uns hier auf Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzung von O. Gigon. München, 1991. W. E. Müller, Argumentationsmodelle der Ethik. Positionen philosophischer, katholischer und evangelischer Ethik. Stuttgart, 2003, S. 41. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, a.a.O., 1106 b36 bis 1107 a27. C. Taylor, „Die Motive der Verfahrensethik“, a.a.O., S. 121f. Für Taylor ist die Zurückweisung der phronesis im Rahmen eines allgemeineren Angriffs durch die rationalistische Konzeption des Geistes angesiedelt.
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„Die Philosophie soll uns, wie Taylor meint, von der unvergleichlichen Wichtigkeit der Orientierung am Guten überzeugen; sie soll uns für die verschüttete Dimension des Gutes sensibel machen und zum leidenschaftlichen Engagement für das Gute die Kraft geben. Eine Philosophie, die nachmetaphysisch denkt, kommt jedoch für das eine, die Schärfung des moralischen Sinnes, zu spät; und vom anderen, der Aufgabe, den moralischen Zynismus zu überwinden, wird sie überfordert.“435 Für Habermas kann die Philosophie angesichts des Faktums der Pluralität, das die Lebensentwürfe kennzeichnet, nur formalistisch vorgehen. Unserer Ansicht nach ist der Wille, mit diesem Faktum der Pluralität gut umzugehen, verständlich und positiv zu bewerten; die Wahl der formalistischen Herangehensweise zu diesem Zweck aber scheint nicht der richtige Weg zu sein. Denn die Entscheidung, die Ethik strikt an rein formalen Prinzipien zu orientieren, stiftet gravierende Probleme, statt einen Lösungsweg darzustellen. Taylor bestreitet nicht, dass die Verfahrensethik interessante Elemente enthält, er will aber, dass sie ihre substantielle Grundlage gewinnbringend offen formuliert. „Die Idee des Guten ist eine prinzipielle Grundvoraussetzung. Das bedeutet aber, dass vieles, was gerade zu den Voraussetzungen der Verfahrensethik gehört, bewahrt bleibt und zunehmend klarer ans Licht tritt, wenn es seiner verzerrten metaethischen Form entkleidet wird. Wenn wir erst einmal den der Diskursethik zugrunde liegenden Begriff des Guten näher betrachten, dann erweist sie sich meiner Meinung nach als besonders reichhaltig und überzeugend.“436 Eine Reformulierung der Verfahrensethik unter einem substantiellen Gesichtspunkt ist für Taylor erforderlich, weil es praktisch unmöglich ist, in einem rein formalistischen Bereich kohärent zu bleiben. Diese Ansicht ist durch einige Beispiele zu illustrieren.
4.2.2 Das Kohärenzproblem der Verfahrensethik. Einige Beispiele. Die vorausgehenden Überlegungen haben uns mit der Idee vertraut gemacht, dass sich Identitätsfragen und Moralfragen nicht scharf trennen lassen. Wie wir mit Schnädelbach gesehen haben, „sind [wir] niemals ohne eine Vorstellung unserer Identität“.437 Selbst ein Einwand der postmodernen Autoren ist auf ein Bild des Menschen (als Selbstschöpfung) bezogen. 438 Wecherer-Huldenfeld liefert uns eine einleuchtende Erklärung zu der engen Verknüpfung zwischen Moral und Identität in seiner Analyse der konfliktregelnden Normen:
435 436 437 438
J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a.a.O., S. 184. C. Taylor, „Die Motive der Verfahrensethik“, a.a.O., S. 133. H. Schnädelbach, „Die Philosophie und die Wissenschaften vom Menschen“, a.a.O., S. 38. H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 62.
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„Konfliktregelnde Normen (Gebote, Verbote, Ideale) artikulieren Handlungsmöglichkeiten, die ihrerseits Seinsmöglichkeiten, in denen sie gründen, entwerfen, d.h. sie legen Bezugsmöglichkeiten des Seins mit Anderen in der Offenheit der Welt auseinander. Die primäre Frage ist also nicht, was sollen oder müssen wir tun, sondern was können und dürfen wir sein. Oder besser: Wer bin ich selber und wer bist du selber?“439 Worauf soll man sich beziehen, um Entscheidungen über die wichtigen kollektiven Fragen zu treffen? Eine fruchtbare Auseinandersetzung mit strittigen Fragen – wie z.B. der Zukunft unseres Planeten, der Nachhaltigkeit, der Qualität des Lebens der Nachwelt – machen die Berufung auf Vorstellungen des Guten und unser menschliches Selbstbild unverzichtbar. Dass Prozeduren keine hinreichenden Ressourcen für die Beantwortung dieser Frage bilden, zeigt sich in der von Habermas vollgezogenen „Kehrtwende“ (Mutschler). Trotz seiner These vom „nachmetaphysischen Denken“ bzw. der Zustimmung aller als Bedingung der Gültigkeit einer moralischen Pflicht stimmt er in der Frage nach den Rechten der Tiere der Ansicht zu, unser Verhältnis zu Tieren wäre „von der Art einer inter-subjektiven Beziehung“.440 Damit bezieht er sich „plötzlich auf Philosophen wie Hans Jonas, die ihm doch jahrzehntelang als Inbegriff schlechter Metaphysiker gegolten hatten. Was ist hier geschehen? Die Metaphysikabstinenz ist offenbar nicht durchzuhalten und Mangels Klarheit über die eigenen metaphysischen Prämissen läuft Habermas unvermittelt ‚zum Gegner’ über, so ähnlich wie le Corbusier, der sein Programm der rein funktionalen ‚Wohnmaschinen’ zum Entsetzen seiner Anhänger plötzlich aufgab, als er die hochromantische, durchaus fromme, Kapelle in Ronchamp baute. Eine funktionale, antimetaphysisch eingestellte Moderne ist in sich unstabil“.441 Mutschler – sowie Taylor – macht uns darauf aufmerksam, dass Entwürfe wie der von Jonas trotzt ihrer Schwachstellen zeigen, dass die strikt an formalen Prinzipien orientierten Ethiken ein Ressourcen-Problem haben. Ihre Ressourcen sind knapp, um z.B. die oben erwähnten strittigen Fragen zufriedenstellend zu beantworten. Sie können zwar alltägliche Probleme lösen, aber sie sind ohnmächtig angesichts der Grenzprobleme kollektiver Existenz. Sie können letztere nicht beseitigen, ohne dass sie von inhaltlichen Gehalten (oder substantiellen moralischen Einstellungen) Gebrauch zu machen. Das ist – wie Taylor gezeigt hat – ein Kohärenzproblem. Ihr Anspruch, ohne inhaltliche Gehalte auszukommen, bleibt ein wunder Punkt, dessen Lösung eine Kehrtwende unvermeidlich macht.
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440
441
A. K. Wecherer-Huldenfeld, „Moral und persönliche Identität. Zur Genealogie der Moral in der Psychoanalyse Freuds“, in L. Honnefelder (Hg.), Sittliche Lebensform und praktische Vernunft, S. 200f. J. Habermas, „Die Herausforderung der ökologischen Ethik für eine anthropozentrische ansetzende Konzeption“, in A. Krebs (Hg.), Naturethik, Frankfurt, 1997, S. 97f. H.-D. Mutschler, „Gibt es Werte in der Natur?“, in Köchy, Kristian/ Norwig, Martin (Hg.), Umwelt-Handeln, Freiburg, 2006, S.13f.
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Weitere Fragen, bei denen sich die Schwachstellen des Formalismus zeigen, sind die strittigen Fragen des Klonens, der Euthanasie, der Xenotransplantation (Transplantation oder Übertragung von tierischen Geweben oder Organen auf Menschen usw.). Kann man sich hier bloß auf die Mehrheitsbasis oder die Beachtung von Regeln beziehen, um Entscheidungen zu treffen? Diese Frage mit einen ja zu beantworten wäre kurzsichtig und vereinfachend. Leider scheint Habermas dieser Vereinfachung nicht entkommen zu können, weil er, mit Göller gesprochen, die „Unbedingtheit einer Aussage“ nur mit kommunikativer Rationalität verbindet, als ob die „intersubjektive oder kommunikative Akzeptanz“ hinreichend oder die Gültigkeit mit den „Bedingungen der Akzeptanz“ gleichzusetzen wäre.442 Denn eine falsche Aussage – z.B. „Atomenergie sei ungefährlich“ (Göller) – ist sachlich betrachtet dadurch nicht gültig, dass sie von der Mehrheit vertreten wird. Dass der rationale Konsens kein Gültigkeits- bzw. Wahrheitskriterium ist, wurde inzwischen häufig belegt.443 Problematisch für den universalpragmatischen Ansatz von Habermas ist des Weiteren das Fehlen der Garantien, dass alle Beteiligten an der Diskussion über die richtigen Informationen – und dies im gleichen Maß – verfügen. Welches sind die Garantien, dass das Diskussionsverfahren frei von Druck, Manipulation, Einfluss der Lobby und ihrer Medien verläuft? Welches sind denn die Garantien, dass die öffentliche Debatte keine Ausrede bildet, um dem Publikum eine bestimmte Meinung aufzuzwingen? Kurz gefragt, welches sind die Garantien, dass der reine Prozeduralismus keinen heimlichen Dirigismus darstellt?444 442
443
444
Siehe T. Göller, Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis. Würzburg, 2000, S. 194f.; ders., „Sind Kulturen und kulturelle Realitätssichten inkommensurabel?“, a.a.O., S. 282f. Diese Kritik gilt an Habermaschen Definition der Wahrheit als Inhalt eines rationalen Konsenses. Siehe z.B. die Einwände von Wellmer: (i) Die Rationalität von Konsensen kann nicht formal charakterisiert werden; (ii) Rationalität und Wahrheit von Konsensen fallen nicht zusammen. Der rationale Konsens ist kein Wahrheitskriterium. Zum Verhältnis Rationalität, Wahrheit und Konsens sagt er: „Der Inhalt eines rationalen, eines begründeten Konsenses ist nicht notwendigerweise wahr, außer in dem folgenden Sinne: Solange nicht jemand kommt, der den Konsens in frage stellt, werden wir seinen Inhalt jedenfalls, mit Gründen, für wahr halten – sonst wäre es kein Konsens, in den wir einstimmen. Aber zu sagen: Da es ein rationaler Konsens ist, ist er wahr – ist falsch. Wir haben vielmehr eine Behauptung als gut begründet anerkannt – das heißt, wir halten sie mit Gründen für wahr. Aber man kann nicht sagen: Da wir sie alle mit Gründen für wahr halten, ist sie wahr. Dass wir sie mit guten Gründen für wahr halten, heißt, dass wir ihre Falschheit ausschließen: Aber es folgt daraus nicht, dass sie nicht falsch sein könnte.“ (A. Wellmer, Ethik und Dialog, a.a.O., S. 209.) Siehe P. Valadier, „La morale après l´individualisme“, in Projet, 271(Sept. 2002). Aus der Praxis wissen wir, dass das Individuum zu der Autonomie, die ihm die Theoretiker zuschreiben, ganz selten gelangt. Darauf begründen sich Paul Valadiers Bedenken, wenn er sagt: „In einer Welt, in der der Individualismus den Rückgriff auf geteilte Werte unnütz oder schwierig gemacht hat, kann der reine Prozeduralismus das Gesicht eines heimlichen Dirigismus annehmen.“ (Ebenda. Freie Übersetzung). Valadiers Bedenken sind nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass
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Nehmen wir zur Illustrierung die Frage nach der Xenotransplantation. Diese Frage hatte in Frankreich für großen Streit gesorgt, da das französische nationale Ethikkomitee für die Lebens- und Gesundheitswissenschaften durch die von ihm vorgeschlagene Debatte bzw. Meinungsumfrage anscheinend nicht interessiert war, herauszufinden, wie die Bürger zu diesem Thema standen, sondern die öffentliche Debatte zu vorausbestimmten Schlussfolgerungen zu führen.445 An diesem Beispiel zeigt sich, dass der reine Prozeduralismus eine Form der Diktatur in sich bergen kann. Waldenfels macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Gefahr eines Zwangs des Diskurses (Diktatur des Logos) dem kommunikativen Handeln inhärent ist. Dieser Zwang steht latent hinter der scheinbaren „Zwanglosigkeit zwingender Argumente“, die ihren Hintergrund und ihre Präferenzen verbergen.446 Diese Kritik deutet an, dass sich der Habermassche Gedanke – wie das im Kap. 7 sowie im Schlussteil des Buches mit der Rede von Menschenrechten zu dokumentieren ist – in seinem Anspruch einer totalen Transparenz einer Täuschung nähert. Wellmer fügt bekräftigend hinzu, dass die Rolle der Argumentation nicht überbewertet werden soll. Denn fragwürdige Deutungsmuster (z.B. hinsichtlich der Frauenrolle, der Kinderrechte usw.) werden meist nicht allein durch Argumentationen revidiert, sondern „unter dem Druck“ eines Kampfes um Anerkennung, „unter dem Einfluss“ neuer geschichtlichen Erfahrungen, kurzum, unter einem erneuerten Verständnis von unserer menschlichen Identität.447 Also, auch Druck und Einfluss – und nicht nur Argumentationen – haben die Änderung bewirkt.
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bestimmte einflussreiche Gruppen nicht nur das Publikum durch z.B. Medien ideologisch prägen, sondern auch Kontrolle auf politische Entscheidungsinstanzen ausüben können. Aus diesem Grund sprechen einige Autoren daher von einer „unsichtbaren Hand“, die die Prozedur zu vorausbestimmten Ergebnissen führen kann. Ein solches Problem kann sicher nicht beseitigt werden, wenn man nur auf das Diskussionsverfahren vertraut; Habermas scheint leider dieser Herausforderung nicht gewachsen zu sein, wenn er einfach behauptet: „[I]n Argumentationen müssen die Teilnehmer davon ausgehen, dass im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommen darf.“ (J. Habermas, „Moralität und Sittlichkeit“, in W. Kuhlmann, Moralität und sittlichkeit, a.a.O., S. 19.) Das französische nationale Ethikkomitee für die Lebens- und Gesundheitswissenschaften schlug die Ausführung einer öffentlichen Debatte über das Problem der Xenotransplantation und daran anschließend eine Meinungsumfrage vor. Die Bürger sollten dazu äußern, ob sie einverstanden sind, diese Übertragung von tierischen Organen zuzulassen und damit große Risiken von Virusepidemien einzugehen. Zeitgleich betonte das Komitee, dass die durch die Debatte zu erreichende völlige Transparenz über die Fortschritte der Forschungsarbeiten notwendig ist, damit die Idee der Xenotransplantation von der Mehrheit akzeptiert wird (Siehe P. Valadier, „La morale après l´individualisme“, a.a.O.). Das ist schon eine Stellungnahme, die die Neutralität oder die Unparteilichkeit des Komitees in Frage stellt. B. Waldenfels, Idiome des Denkens: Deutsch-französische Gedankengänge II. Frankfurt/M., 2005, S. 19. A. Wellmer, Ethik und Dialog, a.a.O., S. 125f.
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Alle diese Erläuterungen weisen auf die Unerlässlichlichkeit einer substantiellen Basis und damit die Notwendigkeit hin, über den Rahmen des reinen Formalismus hinauszugehen. Daher reagiert Taylor auf Habermas’ Sichtweise – wie Breuer wiedergibt – mit der Betonung der Unhintergehbarkeit der Vorstellungen des Guten bzw. der anthropologischen Annahmen: „Alle prozeduralen Ansätze argumentieren immer schon vor dem Hintergrund eines gewissen Horizonts des Guten, den zu erfassen sie allerdings unfähig sind. Sie sind nicht universal, sondern hermeneutisch, Elemente eines Traditionszusammenhangs, der von Vorstellungen des Guten der Moderne zehrt.“448 Habermas ist sich den großen Schwierigkeiten bewusst, mit denen seine Verfahrensethik konfrontiert ist und gesteht, dass es schwierig zu beantworten ist, „ob es überhaupt möglich ist, Begriffe wie universale Gerechtigkeit, normative Richtigkeit, moralischer Gesichtspunkt usw. unabhängig von der Vision eines guten Lebens, vom intuitiven Entwurf einer ausgezeichneten, aber eben konkreten Lebensform zu formulieren“. 449 All dies zeigt, dass die Frage nach dem Gutem und den anthropologischen Annahmen einen echten Stolperstein für die Verfahrensethik darstellt. Das Fehlen einer deutlichen Antwort von Habermas kann nur die von Rosa gezogene Schlussfolgerung bestätigen, „dass es keine praktische Philosophie und keine Ethik mehr geben kann, wenn von allen Annahmen darüber, was das Wesen eines Menschen ausmachen könnte und was infolgedessen gut oder schlecht, oder eine empfehlenswerte oder abzuratende Strategie des Handelns sein könnte, abgesehen sein soll“.450 Die Verfahrensethik weicht Taylor zufolge von dem ab, was wir lebensweltlich unter Moral oder Ethik verstehen, denn wir beziehen uns im konkreten Leben unvermeidlich auf das Gute. Daher können wir empört nicht nur über ein Handeln sein, das eine moralische Norm verletzt hat, sondern auch über das, das keine verletzt. Daher ist Waldenfels’ Frage, „ob wir alles tun sollen, was wir laut Moral- und Rechtsordnung tun dürfen“ (zu unterscheiden von der Frage: „ob wir alles tun sollen, was wir tun können“),451 großer Bedeutung. Darauf kommen wir im Kap. 6 zurück. 448 449 450
451
I. Breuer, Charles Taylor, a.a.O., S. 64. J. Habermas, „Moralität und Sittlichkeit“, in W. Kuhlmann, Moralität und Sittlichkeit, a.a.O., S. 26. H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 59. Tugendhat sagt nichts anderes, wenn er behauptet, dass „[d]ie moralischen Normen offensichtlich verbunden [sind] mit einer bestimmten Rede von ‚gut’ und ‚schlecht’“. (E. Tugendhat, „Zum Begriff und zur Begründung von Moral“, in C Bellut et al. (Hg.), Mensch und Moderne, 1989, S. 147f.). Deshalb „ist es charakteristisch für ein Handeln, das moralische Normen verletzt, dass es die moralischen Gefühle Empörung und Groll, Schuld und Scham hervorruft“. (Tugendhat, E., Philosophische Aufsätze, a.a.O., S. 317.). Der Versuch, die Moral ohne die Kategorien vom Guten zu begründen, wirft die Frage auf, „ob das, was [man] begründet überhaupt als Moral zu bezeichnen ist“ (E. Tugendhat, „Zum Begriff und zur Begründung von Moral“, a.a.O., S. 153.). B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 80.
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Nun ist zu fragen, ob Taylor durch die Kritik an der verfahrensethischen Theorie die kritischen Ansprüche der Vernunft an sich anzweifelt. Anders gesagt, es geht darum zu erläutern, ob Taylors substantielle Ethik der kritischen Prüfung ablehnend gegenübersteht. Diese Frage bezieht sich auf die verbreitete Dichotomie: Verfahrensethik (kritische Ansprüche) gegen Güterethik (Status quo bzw. unkritische Aufrechterhaltung von kulturellen Erscheinungsformen und Lebenspraktiken). Die Diskussion, die wir hier angehen, wird uns Stoff für unser zentrales Anliegen liefern.
4.2.3 Muss eine kritische Ethik prozedural und explizit sein? Muss eine kritische Ethik schlechterdings prozedural sein? Anders gesagt, muss man der Verfahrensethik beipflichten, um den kritischen Ansprüchen der Vernunft gerecht zu werden? Auf diese Frage antwortet Taylor verneinend. Dies tut er dadurch, dass er die Annahme einer intrinsischen Beziehung zwischen dem Revisionismus und der Verfahrensethik zurückweist, d.h. die Annahme „dass, die Entscheidung für den revisionistischen Standpunkt identisch mit einem Votum für die Verfahrensethik sei und dass die Suche nach expliziten Regeln im Gegensatz zu phronesis identisch sei mit der Ablehnung des status quo“.452 Der Revisionismus ist also nicht ausschließlich mit der Verfahrensethik verbunden. Mit Revisionismus ist bei Taylor eine auf Veränderung gerichtete Einstellung gemeint, die einen kritischen Abstand gegenüber gewohnten Wertsystemen und eingelebten kollektiven Praktiken einnehmen kann. 453 Taylors Ablehnung, die Befürwortung des Revisionismus mit der der Verfahrensethik gleichzusetzen, wird von der Entscheidung motiviert, die Abwertung der phronesis zu verhindern. Damit wird auch das Bild bekämpft, demzufolge die substantielle Ethik nur auf die unkritische Aufrechterhaltung des Bestehenden bedacht ist und den Universalitätsanspruch aufgibt. Habermas, bei dem ein solches Bild der substantiellen Ethik zu finden ist, begründet seine Ansicht folgendermaßen: „Wenn man demgegenüber der Aristotelischen Überzeugung treu bleiben will, dass das moralische Urteil an das Ethos vor Ort gebunden bleibt, muss man bereit sein, den emanzipatorischen Gehalt des moralischen Universalismus aufzugeben und schon die bloße Möglichkeit zu leugnen, jene strukturelle Gewalt, die in Verhältnisse latenter Ausbeutung und Repression eingelassen ist, einer moralisch unnachsichtigen Kritik zu unterziehen. Denn nur der Übergang zur posttraditionalen Ebene des moralischen Urteils befreit uns von den strukturellen Beschränkungen der vertrauten Diskurse und der eingelebten Praktiken.“454
452 453
454
C. Taylor, „Die Motive einer Verfahrensethik“, a.a.O., S. 127f. Siehe die Anmerkung von Wolfgang Barus, dem Übersetzer von Taylors Aufsatz „Die Motive einer Verfahrensethik“, a.a.O., S. 122. J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a.a.O., S. 90f. Siehe auch W. E. Connolly, Politics and Ambiguity. Madison, 1987.
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Gegen diese Ansicht betont Taylor, dass die Güterethik einen kritischen Standpunkt gegenüber den kulturellen Erscheinungsformen hat. Um dies zu zeigen, erwähnt er die Rolle der transzendierenden Güter. Transzendierend sind sie nicht in Bezug auf die Dinge der Welt, sondern in Bezug auf unsere Lebenspraktiken, für die sie kritische Maßstäbe für die Beurteilung bilden. „Unsere moralische Urteilskraft bewegt sich faktisch zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite werden wir innerhalb spezifischer Lebenspraktiken aufwachsen, denen diese Güter immanent sind und die in ihrem lebensweltlichen Bezug begründet und als deren zentraler Bestandteil ausgewiesen sind. Ein Beispiel wäre das Gebet in bezug auf das Gut der Frömmigkeit. Auf der anderen Seite transzendieren einige dieser Güter unsere Lebenspraktiken, deren Veränderung oder auch Ablehnung uns dadurch ermöglicht wird. So konnten die israelitischen Propheten einige bislang anerkannte Rituale außer Kraft setzen und den Menschen in Gottes Namen verkünden, dass die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, verabscheuungswürdig seien und dass sie reinen Herzens vor ihren Schöpfer treten sollten.“455 Damit zeigt sich, dass die Güterethik dem Universalitätsanspruch gerecht werden und der Kritik einen Platz einräumen kann. Es kann daher hier von einer universalistischen Güterethik gesprochen werden. Ob Taylor diese universalistische Perspektive mit den Mitteln seiner eigenen, stark partikularistisch geprägten Begrifflichkeit immer und konsequent verteidigt, werden wir später überprüfen. An diesem Punkt genügt es zu verstehen, warum Taylor von transzendierenden Gütern redet. Diese Rede ordnet sich in den Rahmen seines Versuchs ein, zu zeigen, dass eine praktische Philosophie in Anlehnung an Aristoteles im modernen Kontext vertretbar ist. Wie in den vorausgehenden Kapiteln gesehen, stellt sich Taylor als Verteidiger der Moderne, genauer, eines nicht-prozeduralistischen Liberalismus dar. Darin sieht er die Möglichkeit, die Scheidung zwischen dem Gerechten und dem Guten abzuwenden und unter modernen Bedingungen eine Güterethik wieder lebendig zu machen. Für Forst ist Taylors Arbeit daher ein „großangelegte[r] Versuch [...], die Konkurrenz zwischen dem Guten und dem Gerechten auf einer höchsten Stufe zugunsten des Vorrangs des Guten ‚aufzuheben’. Dies bedeutet nicht, dass die Prinzipien gleicher subjektiver Rechte und universalen Respekts an traditionsgebundenen Auffassungen des Guten ihre ‚Grenze’ finden […], sondern dass es bestimmte ‚transzendierende’ Güter [...] sind, die als Teil des Wertehorizonts moderner Subjekte die Achtung der Würde der Person fordern. Taylor versucht folglich nicht, ein ethisches Gut – ein Ideal des guten Lebens – gegen liberale Prinzipien auszuspielen, ihm geht es auf einer höheren, begründungslogischen Ebene um die Verteidigung moralischer Güter, die die Achtung einer Pluralität von ethischen Konzeptionen des Guten fordern“.456 Angesichts dieser Erläuterung wäre es falsch, Taylor als Gegner der Moderne darzustellen. Selbst Habermas weist eine solche Darstellung zurück: 455 456
C. Taylor, „Die Motive einer Verfahrensethik“, a.a.O., S. 128. R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt/M., 1994, S. 326.
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„Ch. Taylor ist weder im Ansatz Metaphysiker, noch im Ergebnis Antimodernist; aber seine katholische Skepsis gegenüber der Selbstgenügsamkeit einer prozeduralistischen und vollständig profan gewordenen Ethik lässt ihn am klassischen Anspruch der Philosophie festhalten. Er möchte über den Sinn eines erfüllten Lebens wenigstens in der Weise orientieren, dass er über ‚die moderne Identität’ aufklärt. Taylor geht es nicht nur um eine deskriptive Geistesgeschichte der in der Moderne zur Herrschaft gelangten Wertekonfiguration, sondern um die Rechtfertigung unseres in der Moderne unausweichlich gewordenen Selbstverständnisses. Diese Analyse verfährt keineswegs wertneutral, sie bringt vielmehr fundamentale Wertorientierungen zu Bewusstsein und versteht sich als eine Ethik des gegenwärtigen Zeitalters. Daraus erklärt sich der güterethische Ansatz: Güter sind etwas Objektives, das in der Spiegelung subjektiver Wertsetzungen und Präferenzen nicht aufgeht.“457 Die Tatsache, dass Taylor zur Beantwortung der Frage, ob die Güterethik einen kritischen Standpunkt gegenüber den kulturellen Erscheinungsformen hat, die Rolle der transzendierenden Güter hervorhebt, bedeutet keineswegs, dass er die Bedeutung der praktischen Handlungskontexte und partikularer Erfahrungen der Lebenswelt mindert. Seiner Ansicht nach zeichnet sich die Güterethik dadurch aus, dass sie beide Aspekte gleichzeitig berücksichtigt. Dies scheint aber in der Verfahrensethik wegen ihres Verständnisses der Freiheit und der Rolle der Vernunft nicht der Fall zu sein. Taylor erklärt dies in Bezug auf die Tatsache, dass das moderne Verständnis von Freiheit und Vernunft vielmehr auf die Allgemeinheit gerichtet ist. Es fördert somit „ein von praktischen Handlungskontexten weitgehend unabhängiges Denken, das bestrebt ist, sich so wenig wie möglich auf das implizite Wissen der Subjekte, die in praktischen Kontexten handeln, zu berufen, und das gleichzeitig bemüht ist, wo auch immer die Möglichkeit dazu besteht, explizite Kriterien anzugeben, die die Verständlichkeit und Unabhängigkeit des Diskurses von partikularen Erfahrungen der Lebenswelt und des kulturellen Hintergrundes gewährleisten sollen“458 Taylor sieht in dieser Sichtweise eine Missachtung der Eigenlogik der praktischen Vernunft. Um diese Kritik besser zu verstehen, müssen wir auf seine philosophische Anthropologie (siehe Kap. 1 und 2) zurückgreifen. Dort unterscheidet er deutlich die Herangehensweise der Naturwissenschaften von der der Geisteswissenschaften. Da sich letztere mit stark wertenden Wesen beschäftigen, folgt auch ihre Begründung der Handlung einer spezifischen Logik, in der die Verankerung der Handelnden in einem Kontext und ihre unvermeidliche Verbindung mit Vorstellungen des Guten für wichtig gehalten werden. Wird diese spezifische Logik nicht anerkannt, dann wird auch die praktische Vernunft missdeutet.
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J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a.a.O., S. 180f. C. Taylor, „Die Motive einer Verfahrensethik“, a.a.O., S. 129.
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„Es ist charakteristisch für die praktische Vernunft, dass sie an den Kontext eines impliziten Verständnisses des Guten gebunden ist, sei es, dass sie durch eine Praxis vermittelt ist, der dieses Gute immanent ist, oder durch Handlungsweisen, die für das Gute ursächlich und konstitutiv sind, oder durch die Beziehung zu paradigmatischen Modellen realer oder fiktiver Art. Der Irrtum des modernen Rationalismus besteht darin, anzunehmen, dass dieses Denken unausweichlich im status quo gefangen bleiben muss, dass unsere moralische Urteilskraft nur um den Preis einer Unabhängigkeit von praktischen Handlungskontexten kritisch sein kann. Mehr als alles andere hat das zu der von mir bekämpften Irritation beigetragen, eine kritische Ethik müsse prozedural und explizit sein. […] Wenn der autonome und möglichst kontextfreie Vernunftbegriff der Moderne der einzig zulässige sein soll, scheint praktisches Urteilen zunehmend unmöglich. Die Begründung, dass der Mensch Subjekt vernünftigen Handelns ist oder Abbild Gottes, folgt nicht der gleichen Logik wie der Beweis der kinetischen Wärmetheorie oder des Gravitationsgesetzes. Ein Zuwachs an praktischer Vernunft vollzieht sich im Rahmen eines Vorgriffs auf das Gute und beinhaltet die Überwindung früherer Verzerrungen und fragmentarischer Erkenntnisse.“459 Taylor zufolge soll man sich nicht auf das moderne Verständnis von Freiheit und Vernunft verpflichten, auch wenn es attraktiv erscheint. Jede Ethik, die sich von der Alltagspraxis distanziert und das Problem des Guten umgeht, erweist sich als trügerisch. Da die Verfahrensethik diesen Weg nimmt, ist sie zum Scheitern verurteilt. Mit dieser Schlussfolgerung schließt sich Taylor an MacIntyres These an, „dass das Projekt der Aufklärung, eine säkularisierte, unabhängige Moral zu begründen, gescheitert ist und eher die Prognose Nietzsches bestätigt. Rationale Fortschritte im Erkennen des Guten können mit dem propagierten, undurchführbaren Argumentationsmodell nicht erzielt werden, dieser Umstand mündet in eine skeptisch-hoffnungslose Einstellung“.460 Zusammengefasst, man kann sagen, dass Taylor in seiner Auseinandersetzung mit der Verfahrensethik nicht die kritische Funktion der Vernunft zurückweist, sondern die Idee, derzufolge diese Funktion nur von einem universalistisch-formalistischen Standpunkt aus entwickelt werden kann. Diese Zurückweisung versteht sich vor dem Hintergrund seiner Auffassung der praktischen Vernunft: „Ein angemessener Begriff praktischer Vernunft macht deutlich, dass die in einer Argumentation angeführten Güter als kontextgebundene eben auch den Kontext transzendierende Güter einschließen und dass die Form der Argumentation keineswegs nur umfassend sein
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Ebenda, S. 130. Als Beispiel des unvermeidlichen Vorgriffs auf das Gute nennt Taylor die Vision „des unabhängigen, freien und rationalen Handelns“ (Ebenda, S. 131.). Dies bildet eines der wichtigsten „transzendierenden Güter“, die die westliche Zivilisation gestaltet, tief geprägt haben und sie fortlaufend beleben. Ebenda, S. 131.
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muss, sondern auch höchst revisionistisch sein kann [...]. Praktische Vernunft wird [...] kontextabhängig sein, das heißt sie folgt nicht von praktischen Handlungszusammenhängen weitgehend unabhängigen formalen Prinzipien, sondern zeichnet sich durch eine extensive Explikation dessen, was Handlungskontexte implizieren, aus.“461 Taylors Auffassung der praktischen Vernunft betont die Bedeutung von Handlungskontexten, ohne dabei den revisionistischen Standpunkt in Zweifel zu ziehen. Die Vermittlung zwischen diesen beiden Prinzipien stellt eine schwierige Aufgabe dar. Wir sind „mit transzendierenden Gütern konfrontiert, die unsere respektvolle Zustimmung verlangen, und mit Handlungsweisen, deren immanente Güter wertvoll erscheinen; beide Bereiche sind prima facie durch eine beunruhigende Menge von Konflikten verbunden. Da die Möglichkeit einer Lösung a priori nicht besteht, müssen wir sie fallspezifisch herausarbeiten“.462 Taylor löst trotz seiner versöhnenden Bemühungen eine Spannung in seinen Überlegungen aus, weil er oft dazu tendiert, den kontextbezogenen Gesichtspunkt zum Nachteil der kritikorientierten Universalität überzubetonen. Die Aufgabe, diese Spannung zu überwinden, bildet da Ziel des nächsten und letzten Teils des Buches Uns liegt es jedoch fern, an dieser Stelle den Sieg Taylors gegen seine Gegner zu verkünden, obwohl wir seine These der Unhintergehbarkeit von Vorstellungen des Guten und anthropologischen Annahmen für zutreffend halten. Es müssen vielmehr nützliche Anstöße für das Anliegen gesammelt werden, die Spannung zwischen der universalistischen Moral und dem kulturellen Pluralismus zu überwinden. In diesem Sinne ist die Kritik am Formalismus der Diskursethik weniger als die Ablehnung des intersubjektivitätstheoretischen Paradigmas zu sehen. Sowie die Kritik an Taylors hermeneutischer Perspektive versteht sich weniger als eine Abwertung der Kontexte. Alle diese Kritiken gehören zu dem Anliegen, das Verhältnis zwischen Kontextualität und Universalität in der Moral besser und angemessener in Begriffe zu fassen. Daher wird der Fokus im Teil 3 auf die Fremdheit vor dem Hintergrund des Leibes als Grundphänomens bzw. als Ort der unwiderlegbaren Verbundenheiten, kurzum, als Schnittstelle des Partikularen und des Universellen gerichtet werden. Einen wichtigen Grund für diese verknüpfende Lesart finden wir in Figals einleuchtender Sichtweise, derzufolge „die Spannung zwischen ethischem Formalismus und hermeneutischer Lebensführung künstlich ist – ein Produkt eher der philosophischen Debatten als der Welt, in der man lebt und handelt. Bloße Prozeduren der Verständigung gibt es nicht – immer sind ‚inhaltliche’ Fragen im Spiel, und immer ist es deshalb unmöglich, zu allgemein verbindlichen Klärungen zu kommen. […] Es spricht vieles dafür, dass die Komplementarität von hermeneutischer Lebenspraxis und ethischem Formalismus ein Wesenszug der
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Ebenda Ebenda, S. 132.
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Moderne ist. Doch kommt eben alles darauf an, hier die Komplementarität zu sehen. Taylor hat dazu Entscheidendes beigetragen.“463 Taylor hat einen großen Beitrag zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen Kontextualität und Universalität geleistet, aber er hinterlässt eine ungelöste Spannung. Diese besteht, wie Beiner zeigt, in der Tatsache, dass Taylor, auf die Frage, wie man menschliche Handlungen begründen kann, mit dem Hinweis auf zwei mögliche Begründungsrichtungen antwortet: Die erste zielt auf eine Begründung, die an das Selbstverständnis (der jeweils Betroffenen) appelliert; in der zweiten kommt eine Art von Begründung zum Ausdruck, die an transkulturelle Standards appelliert.464 Dass sich diese zweite Begründungsart von der ersten unterscheidet, ist klar, insofern sie sich von spezifischen Forderungen einer kulturellen Gemeinschaft abkapselt. Aber lassen sich diese zwei Arten von Begründung in Einklang bringen, d.h. sind sie komplementär? Wenn ja, wie ist das möglich? Wie nehmen sich die Anforderungen der Vernunft angesichts der Vielfalt kultureller Bedeutungshorizonte aus? Inwiefern hängen Taylors Begriff der kontextbezogenen praktischen Vernunft und das über die Grenzen der Zugehörigkeitsgruppe hinausgehende gegenseitige Verstehen zusammen? Da sich Taylor nicht präzise und klar darüber äußert, ist sein Denken im besten Fall dem Vorwurf der Verwirrung und im schlimmsten Fall der Gefahr des Relativismus ausgesetzt. Taylor lehnt zwar den (kulturellen) Relativismus ab. Aber er hat sich dafür einen so schmalen Ausweg offengehalten, dass er sich in gewisser Weise denselben Kritiken ausgesetzt sieht, die sonst gegen den Relativismus vorgebracht werden. Im Zuge dessen lässt sich verstehen, dass Honneth zwar Taylors Betonung der Anerkennung und der sozialen Vermittlung zustimmt, aber Abstand von dessen Neigung nimmt, die kritische Norm auf eine „soziale und relative Norm“ zu reduzieren. Daher ist es wichtig, ein Verständnis der Kontextualität zu entwickeln, das einer relativistischen bzw. konservativen Einstellung keinen Vorschub leistet. Vorwegnehmend muss betont werden, dass das Denken Waldenfels’ in diesem Versuch, von großem Nutzen sein wird.
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G. Figal, „Hermeneutische Modernität“, a.a.O., S. 660. Er fügt bekräftigend hinzu: „Allgemein können höchstens die Regeln sein, die einer hermeneutischen Kultur das Bestehen sichern. Das führt auf Taylors zentralen Gedanken von der Komplementarität vor allem ästhetisch vermittelter Lebensentwürfe und ethischer oder politischer Regelung zurück: weil solche Regelungen auf die Erhaltung einer Lebensform zielen, setzten sie diese voraus und müssen sich darum auch immer wieder auf sie beziehen lassen, damit ihr Sinn deutlich wird. Entsprechend wird eine hermeneutische Lebensform formale Festlegungen nur treffen, damit das für sie eigentlich Verbindliche in Darstellung und Interpretation hervortreten kann.“ (Ebenda) Siehe R. Beiner, „Générosité herméneutique et critique sociale“, in: G. Laforest, P. Lara, Charles Taylor, a.a.O., S. 143.
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5. Die Herausforderung des kulturellen Pluralismus Wir eröffnen dieses Kapitels mit einem Grundgedanken im Hinblick auf die Spannung des Denkens Taylors: In Reaktion auf die in vielen modernen Moraltheorien vorherrschende Abneigung gegen bzw. Abstinenz von Vorstellungen des Guten entwickelte er den Begriff eines „gemeinsam geteilten Bedeutungshorizonts“ (horizon of significance). Darunter versteht Taylor Werte, Lebensvorstellungen, Überzeugungen, Idealen, die gemeinsam geteilt werden und nicht nur den Wahlen und Entscheidungen der Individuen Sinn verleihen, sondern auch Maßstäbe für ihre Bewertung bilden. Dieser Begriff des Bedeutungshorizonts ist verbunden mit einer prägnanten Auffassung des Menschen als eines „stark wertenden“ und grundsätzlich „gebundenen“ Wesens. Doch bildet er anderseits zugleich den Titel eines neuen Problems. Denn während Taylor behauptet, anhand des Begriffs der starken Wertung den Subjektivismus bzw. moralischen Relativismus zu bekämpfen, der auf der Idee beruht, moralische Werte seien abhängig von den Präferenzen Einzelner, scheint er diesen eigentlich nur auf eine höhere Ebene zu verschieben. Dies ist dadurch zu erklären, dass die besagten Bedeutungshorizonte bei Taylor nicht nur „historisch-gemeinschaftlich gewachsen“ sind, sondern auch kulturell verschieden.465 Die Relativität von Bedeutungshorizonten verschiedener Kulturen generiert einen Pluralismus, den wir berücksichtigen sollen. Dass Taylors kommunitaristischen Einstellungen kulturrelativistische Konsequenzen nach sich ziehen, ist unschwer zu erkennen. Sie nehmen das Motiv des Fremden nicht ernst und fördern den moralischen Relativismus durch ihre „starke Akzentuierung der soziolokulturellen Kontextualität der jeweils erhobenen Wahrheits- und Geltungsansprüche“.466 Sie geben Anlass zu dem Versuch, den Pluralismus der Kulturen mit dem Pluralismus der Werte gleichzusetzen, und erschweren die Wahrnehmung einer Form der Universalisierung, an der wir festhalten sollen, z.B. um Kritik des Eigenen, der eigenen oder fremden kulturellen Praktiken zu üben. Zwei Lösungsstrategien werden untersucht werden: (a) Den Kontextualismus von kommunitaristischen Zügen zu befreien: Dies bedeutet, dass man die anthropologisch-hermeneutische These des Kontextualismus annehmen kann, ohne sich zwangsläufig auf die These zu verpflichten, die moralische Beurteilung könne nur kulturabhängig sein. Der Kontextualismus unterstützt die Kulturabhängigkeits-These nicht und steht infolgedessen nicht in Opposition zum Universalismus (siehe Kap. 7). Ohne die begriffliche Klärung bzw. die Unterscheidung des Kontextualismus vom Kommunitarismus bleibt man – wie Taylor – der Gefahr ausgesetzt, dem Relativismus trotz einer anti-relativistischen Selbstverortung Vorschub zu leisten. Dem Relativismus zufolge besitzt jede Kultur ihr eigenes Wertesystem und hat ein Anrecht auf Anerkennung und Schutz ihrer Identität. 465
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Siehe S. Brauer, „Authentizität in zwischenmenschlicher Begegnung“, in U. Hagel, et al. (Hg.), Der Andere. Ein alltäglicher Begriff in philosophischer Perspektive, Leipzig, 2002, S. 59. T. Rentsch, „Wie ist Transzendenz zu denken?“, a.a.O., S. 588.
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Aus dieser Wertung heraus wird dann das Recht, anders zu sein, zum Prinzip erhoben und das Universelle als ein Außenpunkt gegenüber den Kulturen betrachtet. Damit wird die kritische Überprüfung von kulturellen Praktiken bzw. eine kulturübergreifende moralische Beurteilung erschwert bzw. ausgeschlossen. (b) Eine Untersuchung des Wertbegriffs vornehmen, um die Gefahr, den Pluralismus der Kulturen mit dem Pluralismus der Werte gleichzusetzen, zu überwinden: An diesem Punkt werden die lexikographischen und sozio-philosophischen Kontexte des Wertbegriffs vorgestellt, um klar zu stellen, welches Verständnis des Wertbegriffs in unseren Überlegungen in Anspruch genommen wird. Diese Lösungsstrategien werden Anlass geben, eine angemessene Theorie der Interkulturalität zu erarbeiten. Eine solche Theorie wendet gegen Taylors Kommunitarismus eben dasjenige Argument, das er selbst gegen den Individualismus der liberalen Theorien ins Feld geführt hat: Die eigene Kultur sowie das Ich bilden sich in Beziehungen oder Verschränkungen. Die Fremdheit ist genauso für die Kultur wie für das Individuum identitätsbildend. Daraus folgt, dass die Rede sowohl von der Interkulturalität im Sinne einer bloßen Gegenüberstellung als auch die von völlig unterschiedlichen bzw. gegensätzlichen moralischen Werten Konstrukte sind, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Im vorliegenden Kapitel sollen zwei Perspektiven vorgestellt und diskutiert werden: Die universell-ethnozentristische Perspektive und die partikularistische, d.h. die ethnisch-kulturelle Perspektive. Diese beiden Perspektiven bilden einen Gegensatz, über den wir hinausgehen, besser, diesseits denen wir uns platzieren wollen, um die Möglichkeit einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung zu entfalten.
5.1 Die universalistisch-ethnozentristische Perspektive 5.1.1 Historischer Überblick – zivilisatorischer – wissenschaftlicher Ethnozentrismus Die folgenden Überlegungen entspringen einer alltäglichen Beobachtung: Überall in der Welt wird über die Identität gesprochen. Das Interesse für dieses Thema nimmt ohne Halt zu. Menschen zeigen sich stolz auf das, was sie sind; sie sind sogar bereit um den Schutz bzw. die Anerkennung ihrer Identität zu kämpfen. Anerkennung ist ein wichtiger Begriff, dessen Bedeutung gefasst werden muss. Damit hat sich Taylor viel beschäftigt. Er behauptet: „Das Bedürfnis nach Anerkennung, so kann man behaupten, ist eine der Triebkräfte hinter den nationalistischen Bewegungen in der Politik. Und die Forderung nach Anerkennung wird heute in ganz unterschiedlichen Konstellationen gestellt, im Namen von Minderheiten oder benachteiligten Gruppen, in Rahmen verschiedener Formen des Feminismus und in Verbindung mit dem, was man neuerdings die Politik des ‚Multikulturalismus’ nennt. Die
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Forderung nach Anerkennung wird in den zuletzt genannten Fällen besonders nachdrücklich erhoben, beflügelt von der Annahme, es bestehe ein Zusammenhang zwischen Anerkennung und Identität, wobei ‚Identität’ hier das Selbstverständnis der Menschen bezeichnet, ein Bewusstsein von den bestimmenden Merkmalen, durch die sie zu Menschen werden. Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen.“467 Die Nichtanerkennung wird hier als eine Form der Gewalt betrachtet, und zwar der gewaltsamen Unterdrückung von Identität. Für die vorliegenden Überlegungen sind natürlich insbesondere diejenigen Formen von Nichtanerkennung interessant, die mit dem Umgang mit fremden Kulturen unmittelbar verknüpft sind. Aufschlussreich sind hier die Kritiken an der Welteroberung und kolonialen Expansion, durch die die westlichen, christlichenliberalen Gesellschaften anderen Kulturen ihre Welt- und Wertvorstellungen auferlegt, somit ihre Identität verkannt und ihnen einen wichtigen Bestandteil ihrer Selbstachtung entzogen haben. Dies erklärt, warum sich die Bestrebungen nach einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis und das Misstrauen gegenüber dem universalistischen Anspruch danach stark geworden sind. Scharf angeprangert wird besonders der Ethnozentrismus. Zum Begriff des Ethnozentrismus: Der amerikanische Soziologe W. G. Summer hat ihn folgendermaßen definiert: „Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one’s own group is the center of everything, and all others are scaled and rated with reference to it.“468 Die zentralistische Orientierung des Ethnozentrismus vollzieht sich – wie Rüsen hervorhebt – dadurch, dass der Begriff der Differenz hier eine besondere Bedeutung bekommt. Die kulturelle Differenz erhält asymmetrische Wertungen, „die das Eigene auf Kosten des Anderen (z.B. Zivilisation versus Barbarei“) zur Geltung bringen“.469 und die Entwicklungen teleologisch gedeutet: „Im ethnozentrischen Denken werden positive Werte dem Eigenen attribuiert, und das Gegenteil ist bei der Konzeption des Andersseins der Anderen der
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C. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M., 1993, S. 13f. W. G. Sumner, Folkways. Boston, 1906, S. 13. J. Rüsen, Geschichte im Kulturprozeß, a.a.O., S. 210f.
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Fall. Anderssein ist nur ein negativer Reflex des eigenen Selbst. Mit dieser negativen werthaften Aufladung dient das das Anderssein des Anderen dazu, die eigene Selbstachtung zu begründen und zu legitimieren. “470 Der Ethnozentrismus ist zwar ein weltweit verbreitetes Phänomen, aber er hat sich radikalisiert und ist – wie durch viele Studien dokumentiert – zu einem eigenartigen Merkmal der Art des Westens geworden, anderen Kulturen zu begegnen. Zur Erläuterung kann man sehen, wie er in zwei verschiedenen Konzepte der Kolonisation Gestalt findet, und zwar das französische und britische Konzepte.471 Das erste hat es aus einer abwertenden Sicht unternommen, fremde Kulturen in den „Prozess der Zivilisation“ zu integrieren. Diese Integration unter Zwang war aber nichts anderes als ein Aneignungsakt, durch den der andere zu einem „bloßen Echo“ des Selbst wurde. Diese Art der Aneignung wird auch durch den Begriff des „Ethnozids“ bezeichnet. Darunter wird eine Form des Ethnozentrismus verstanden, die auf der Vorstellung basiert, die anderen seien zwar schlecht, könnten aber verbessert werden, indem man sie zur Veränderung zwinge bis sie weitgehend identisch mit dem als ideal vorgestelltem eigenem Modell würden.472 „Ethnozid“ bedeutet zwar nicht unbedingt die physische Vernichtung wie im Fall des Genozids, aber er veranlasst die Zerstörung der kulturellen Identität einer Gruppe. Hier sind die kulturellen Differenzen schlecht angesehen. Eindeutige Beispiele findet man in dem Werk der Missionare. Diese Verbreiter des christlichen Glaubens betrachteten fremde Religionen als falsche Religionen, die durch die echte Religion des Okzidents ersetzt werden mussten. Differenzen wurden abgelehnt und die anderen zwangsweise in das universalistische Geschichtsbild des Okzidents hineingezogen. Der Ethnozentrismus tritt nicht nur in der Politik der Aneignung auf, sondern auch in der Politik der Diskriminierung. Die zeigt sich in den britischen Kolonien. Die Diskriminierungspolitik basiert auf einem differentialistischen Verständnis des Verhältnisses zwischen den Kulturen, demzufolge kulturelle Unterschiede als rein und unveränderlich angesehen werden. Dabei soll jede „Mischung“ verhindert werden, um die vermeintlich drohende Degeneration des führenden Volkes zu vermeiden. Darin kann man auch eine abwertende Betrachtung des Anderen erkennen. Soheil Kash hält daher die Politik der Diskriminierung für eine Form des Rassismus ohne Rasse oder eine nicht auf dem biologischen Begriff von
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Ebenda, S. 211. Wir beziehen uns auf M. H. Parizeau, S. Kash (Hg.), Néoracisme et dérives génétiques. Québec, 2006. Siehe P. Clastres, Recherches d´anthropologie politique. Paris, 1980; ders., „De l´ethnocide“, in L´Homme, Bd. 14, 3-4 (1974), S. 101-110. Siehe auch ders., „Ethnocide“, in Encyclopædia Universalis, Paris, 2002, Bd. 8, S. 888-890.
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Rasse basierende Form des Rassismus.473 Der Anspruch auf Reinheit, der in dieser Politik gepflegt wird, weißt auf ein Fehlen am Denken über die Fremderfahrung. Es ist aber bekannt, dass hinter den europäischen Welteroberungen eine weitere und ganz besondere Form des Ethnozentrismus steht. Diese zeigt sich besonders in den wissenschaftlichen Versuchen, die Weltvölker zu katalogisieren und jedem außereuropäischen bzw. nicht modernen Volk einen Namen zu geben. Es geht um einen Ethnozentrismus in seinen wissenschaftlichen, also, feinen Formen. Dazu gehört das, was Waldenfels den „philosophischen Eurozentrismus“ nennt. Es geht hier für ihn um eine spezifische Form des Ethnozentrismus, „der hinter den europäischen Welteroberungen steht und mit den besonderen Waffen des Geistes und des Wortes kämpft. Dieser Eurozentrismus bringt das Wunder fertig, mit dem Eigenen zu beginnen, durch das Fremde hindurchzugehen, um schließlich beim Ganzen zu enden. Die schlichte Aneignung durch ein Ich oder Wir wird ersetzt durch die sublime Aneignung mittels eines Logos, dem auf die Dauer kein Sinn fremd bleibt […]. Der Europäer darf, solange er sein griechisches Erbe wahrt, darauf bauen, als Kosmopolit bei sich zu Hause in der Welt und in der Welt bei sich Zu Hause zu sein. Wer es ihm gleichtun will, wird sich europäisieren, während der Europäer keinen Grund sieht, sich zu indianisieren (Husserliana VI, 320). Europa als kulturelle ‚Übernationalität’ betrachtet sich als Vorhut einer Gemeinwelt, die von einer Allgemeinschaft bewohnt wird (ebd. 320, 336)“.474 Die Eigenwelt dehnt sich hier in eine Ordnung des Universums aus. Eine derartige Ausdehnung zeigt, dass wir hier mit einem Ethnozentrismus zu tun, „der sich nicht narzisstisch auf das Eigene versteift, sondern sich mit einem Logozentrismus verquickt.“475 Diese gewagte Ausdehnung bedeutet, dass es Europa keine gewöhnliche Heimwelt mit einem gewöhnlichen Eigenname ist, sondern „vielmehr ein geographischer Name für die Vernunft selbst, für eine umfassende Vernunft“.476 In dieser Perspektive wird das Fremde nicht mehr einfach bekämpft, weil es dem Europäer fremd ist, „sondern dem rechten Glauben und der rechten
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S. Kash, „Aux origines de la discrimination“, in M. H. Parizeau, S. Kash (Hg.), Néoracisme et dérives génétiques, a.a.O., S. 149. Ihm zufolge ging die britische Kaiserpolitik mit ihrer Trennungspolitik der jetzigen Debatte über den Multikulturalismus voraus. Letzterer stellt daher nicht eine ganz neue Bewegung dar, wie es von seinen Theoretikern manchmal behauptet wird. B. Waldenfels, „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“, in R. A. Mall, D. Lohmar (Hg.), Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, Bd. 1(1993), S. 61; ders., Topographie des Fremden, a.a.O., S. 135. B. Waldenfels, „Der Anspruch des Fremden in interkultureller Sicht“, in G. Thieß u.a. (Hg.), Wege der Theologie an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, Paderborn, 1996, S. 328. Unter Logozentrismus (Derridas Begriff) wird die abendländliche Rationalität oder Fixierung auf die Vernunft bzw. das Vernunftvermögen verstanden. B. Waldenfels, „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“, a.a.O., S. 61.
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Vernunft; es erweist sich als barbarisch, heidnisch oder primitiv, als Bodensatz der Vernunftgeschichte, der getrost eliminiert werden kann“.477 All dies zeigt, dass sich Europa wegen des Ethnozentrismus den Weg zu einer Fremdheitsproblematik versperrt hat. Dadurch wurde auch der Universalitätsbegriff entstellt. Die wissenschaftliche Form des Ethnozentrismus hat die kollektiven Mentalitäten bis heute maßgeblich geprägt und einen fruchtbaren Nährboden für den Rassismus gebildet. Daher ist es angebracht, sie kurz darzustellen. Der Ethnozentrismus hat sich in den Sozialwissenschaften durch die Entstehung von zwei Wissenschaften vertieft: der Ethnologie und der Orientalistik. Die Ethnologie – die „Wissenschaft vom kulturell Fremden“ (K. H. Kohl) – hatte deutliche Ziele: die primitiven Völker zu studieren, die westliche Kultur zu überliefern und die bisher geschlossenen und daher unproduktiven Gebiete „dem Europäer erschließen und das Christentum mit seiner reinigenden Wirkung ausbreiten“.478 Die großen Bemühungen, mit diesen Völkern Kontakt aufzunehmen, bedeuten nicht, dass man ihren Stimmen Gehör gewähren wollte.479Die ethnozentristische Sichtweise wird hier durch Pseudolegitmationen bekräftigt, und zwar Versuche, die Hautfarbe als ein ontologisches Merkmal darzustellen, die intellektuelle Leistung mit der genetischen Grundlage zu verknüpfen und fremde Sprachen als unterlegen zu betrachten oder noch fremde Völker als Völker ohne Kenntnis vom echten Gott und somit als evangelisierungsbedürftig zu beschreiben.480 Die Ethnologie „blieb so lange zum Scheitern verurteilt, wie die Unterstellung westlicher Überlegenheit ein wesentlicher Teil ihrer Rechtfertigung und ihres Selbstverständnisses 477 478
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Ebenda M. Leiris, Die eigene und die fremde Kultur. Bd. 1, Frankfurt/M., 1977, S. 53. Was Anthropologie, Mentalitätsgeschichte und kulturelle Anthropologie oder Ethnologie voneinander unterscheidet zeigt Wulf in: C. Wulf, Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek, 2004. An diesem Punkt behauptet R. A. Mall, dass das große Interesse der Missionare und Ethnologen für die Fremdsprachen weniger von der Idee motiviert war, die Fremden zu verstehen, als selbst von ihnen verstanden zu werden (R. A. Mall, Essays zur interkulturellen Philosophie. Bausteine zur Mensching-Forschung Bd. 4, Nordhausen, 2003, S. 50.). Heutzutage ist die Ethnologie bemüht, sich von ihren ursprünglichen ethnozentristischen und rassistischen Zügen zu abzulösen. Louis-Calvet, der den Begriff der „Glottophagie“ zur Beschreibung der Verdrängung einer Sprache durch eine andere entwickelt hat, prangert die Pseudolegitimationen schon in ihrer sprachlichen Basis an. Er zeigt, wie die Sprache das Symbol ideologischer Kämpfe bzw. des Imperialismus sein kann und die sprachliche Praxis innerhalb der politischen und sozialen Praxis eingeordnet ist. Dass es eine ideologische Verbindung zwischen Sprache und Politik geben kann, bedeutet für ihn, dass die politische und ökonomische Entkolonisierung ohne die sprachliche Entkolonisierung nicht möglich ist. Mit dieser Erläuterung wird die Idee der Reinheit der Wissenschaft zurückgewiesen. Siehe L-J. Calvet, Linguistique et colonialisme. Petit traité de glottophagie. Paris, 1979, S. 152f. Für ausführliche Erläuterungen von Pseudolegitimationen, siehe auch die Analyse von O. Bimwenyi in seinem Hauptwerk Discours théologique négro-africain. Problème des fondements. Paris, 1981, S. 86-152. Der Autor analysiert ausführlich die Charakteristiken und einige Pseudolegitimationen der kolonialen Situation in Afrika.
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war“.481 Es geht hier um einen starken und tiefen Einfluss, der sich sowohl auf ihren Forschungsgegenstand als auch Methode ausgeübt hat. Daher kann man mit Waldenfels sagen, dass sich die traditionelle Ethnologie in der Tat nicht mit Fremden beschäftigt hat, sondern mit Primitiven, Wilden, Eingeborenen oder Naturvölkern. Die ethnozentristische Sichtweise, aber auch der Einfluss der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise haben verhindert, dass man in die Problematik selbst des Fremden vorzudringen. Aufgrund dieses Fehlens wird das Fremde nur als gegenständliche Bestimmung verstanden. Als solches „wäre das Fremde nichts weiter als das noch nicht Bekannte, Erklärte und Verstandene, das lediglich ein vorläufiges Stadium der Forschung umschreibt und keine inhärente Eigenart des Zu-Erforschenden beinhaltet. Das Fremde bestünde in einem faktischen Defizit, das sich prinzipiell beheben ließe. Es hätte keinen eigenen Status; traditionell gesprochen gäbe es kein Fremdes de jure, sondern nur eines de facto. Wäre das Fremde nicht mehr als dies, so würde eine Wissenschaft vom Fremden ihren Gegenstand und damit sich selbst aufzehren, je weiter sie voranschreitet“.482 Das Erkennen all dieser Probleme hat Verschiebungen und Neuorientierungen in der Ethnologie bewirkt. Anderseits war die Orientalistik bestrebt, die reiche Vergangenheit der orientalischen untergegangenen Zivilisationen zu erforschen.483 Die Gewalt gegen die Anderen wird geübt, weil man es unternimmt, sie durch Forschung, Erklärungs- und Begründungsversuche in eine bestimmte Ordnung des Wissens einzufügen. Auch hier sind die negativen Auswirkungen von Ethnozentrismus im Umgang mit den Anderen erheblich. In beiden Wissenschaften (Ethnologie und Orientalistik) manifestiert sich die Alterität bzw. die Fremdheit als ein grundlegendes Problem. Denn das Andere bzw. das Fremde wird nicht anerkannt und die Weltgeschichte bleibt einseitig betrachtet. Fremde Gesellschaften und Kulturen werden mithilfe westlicher Begriffsschemata erklärt und daher durch verzerrte Bilder dargestellt. In dieser Vorgehensweise wird den westlichen Kategorien, bzw. Denk- und Verhaltensmustern ein universeller und normativer Status verliehen. Es muss festgestellt werden, dass die Verwurzelung und die Verbreiterung des Ethnozentrismus dank eines pseudowissenschaftlichen Apparats unterstützt wurden. Der Ethnozentrismus stützte sich auf eine evolutionistische Theorie, und zwar die Theorie des kulturellen Evolutionismus, die als weitverbreitetste und einflussreichste Theorie innerhalb der Sozial-
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R. Bernasconi, „Horror alieni. Auf der Suche nach einem philosophischen Pluralismus“, in I. Därmann et al. (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist, 2002, S. 150. B. Waldenfels, „Paradoxien ethnographischer Fremddarstellung“, S. 161f.; vgl. ders., Topographie des Fremden. Frankfurt/M., 1999, S. 96f., 108f.; ders., I. Därmann, „Zur philosophischen Bestimmung von Interkulturalität im Ausgang von Bernhard Waldenfels“, in I. Därmann et al. (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation, a.a.O., S. 191-202. S. Kash, M. H. Parizeau, ‚Introduction’, in dies. (Hg.), Néoracisme et dérives génétiques, a.a.O., S. 3f.
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wissenschaften des 19. Jh. war und ein scheinbares Verhältnis zur Evolutionstheorie Darwins hatte.484 Damit schien der Ethnozentrismus eine gewisse wissenschaftliche Grundlage zu bekommen. Jedoch zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass es zwischen dem kulturellen Evolutionismus und der Evolutionstheorie kaum Gemeinsamkeiten gibt, weil sie sich auf zwei ganz unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen, und zwar auf die Sozialwissenschaften und die Biologie. Der kulturelle Evolutionismus ist fragwürdig, nicht nur weil er die Problematik der kulturellen Begegnung dramatisch zugespitzt hat, sondern auch, weil er wissenschaftlich gesehen etwas Täuschendes hat.485 Nicht umsonst wird er von Claude Lévi-Strauss als falscher Evolutionismus bezeichnet. Darunter versteht er eine Theorie, die die unterschiedliche Beschaffenheit sowohl der alten als auch der entfernten Gesellschaften als Stadien einer einzigen Entwicklung darstellt; diese Beschaffenheit muss, da sie vom gleichen Ausgangspunkt herkommt, auch zum gleichen Ziel führen. Diese Theorie einer gesellschaftlichen und kulturellen Evolution zu entlarven, bedeutet, ihren Schein, auf der wissenschaftlichen Grundlage der (biologischen) Evolutionstheorie basiert zu sein, zu beseitigen. Dass H. Spencer und E. B. Taylor diese Theorie – wie Lévi-Strauss betont – schon vor der Entstehung der Arten von Darwin entwickelt und veröffentlicht haben, zeigt, dass sie von der Evolutionstheorie Darwins unterschieden werden muss. Die evolutionistische Sichtweise entspringt der Fortschrittsidee. Und diese bildet genau das theoretische Fundament des Ethnozentrismus. Daher muss man, so Lévi-Strauss, lediglich die Fortschritttsidee entmythifizieren, will man den Ethnozentrismus ausrotten. Und diese Aufgabe ist empfehlenswert angesichts der unermesslichen praktischen Auswirkungen:
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Das Paradigma der evolutionistischen Theorie hat die Ethnologie jahrzehntentlang geformt (Siehe B. Stangl, Ethnologie im Ohr: die Wirkungsgeschichte des Phonographen. Wien, 2000, S. 75f.). An diesem Punkt zeigt Arendt, wie naturalistische Ideologien mit einem pseudowissenschaftlichen Apparat in die Öffentlichkeit traten. Trotz der Abschaffung der Sklaverei blieb England ein Ort, wo Rassendoktrinen sehr einflussreich waren. (Siehe H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M., 1962, S. 273f.). Für sie verdankt sich das Fortbestehen von pseudowissenschaftlichen Aspekten des kulturellen Evolutionismus dem weitgespannten Wissenschaftsaberglaubens, d.h. „Neigung der Wissenschaft zum Populismus“. (S. 246f.) Für Jaspers zeichnet sich der Wissenschaftsaberglaube dadurch aus, dass er Resultate kritiklos gutheißt, „ohne den Weg zu erkennen, auf dem sie methodisch gewonnen werden, und ohne die Grenzen zu kennen, innerhalb derer jeweils die wissenschaftlichen Resultate Geltung haben“. (K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Hamburg, 1955, S. 125f.). In dieser Hinsicht werden z.B. die Anthropologie, die Soziologie und die Psychoanalyse in Weltanschauungen verwandelt. (M. Overdick-Gulden, „Der Mensch ist mehr: Anleihen bei der Existenzphilosophie von K. Jaspers“, http://www.aerzte-fuer-das-leben.de/overdick-gulden-der-mensch-ist-mehr-banz09. pdf, Trier, 2009, S. 12, abgerufen am 03.04.2011.) Siehe S. Kash, M. H. Parizeau, „Introduction“, a.a.O., S. 2.
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„Überzeugt von seiner Überlegenheit maß und beurteilte Europa den Rest der Welt anhand seiner eigenen Kriterien, machte es sich zur Berufung, die Wohltaten seiner Kultur auf andere Kontinente auszudehnen, um diesen im Namen des Fortschritts zu helfen, ihren sozialen und kulturellen Rückstand aufzuholen. Diese nach außen hin generösen Motive rechtfertigen dann das mörderische Unternehmen der Kolonisierung, obwohl sich diese doch in Wirklichkeit aus dem doppelten Hunger nach politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung herleitete.“486 Die Fortschrittsidee hat sich in den Begriffen der Rasse und der Ethnie festgesetzt. Der Rassebegriff und die Betonung von natürlichen Bestimmungen sind über den rein wissenschaftlichen Bereich hinaus besonders im 19. Jh. zum Grundbestandteil europäischer Kultur geworden. Sie verbreiteten sich durch Romane und Sachliteratur in die Bibliotheken der Mittelschicht.487 So entwickelte eine Lehre, die alle philosophische sowie religiöse großen Ideen, die die westliche Welt hochgepriesen hat und mit denen sie sich identifizieren konnte, verdrängt hat: Menschheit, Rechte der Völker, der gemeinsame Ursprung, die Einheit, die Gleichheit, die Freiheit der Menschen. Nachdem der Begriff der Rasse nach dem zweiten Weltkrieg in Verruf geraten war, rückte der Begriff der Ethnie in den Mittelpunkt. Er galt als ein begriffliches Mittel, anhand dessen die Unterschiede zwischen den Menschen ideologisch weiter kategorisiert werden konnten. Daher wurde er von zahlreichen Anthropologen kritisiert. Weber z.B. hatte auf den Gebrauch des Begriffs ‚ethnos’ verzichtet, weil dieser Begriff nicht auf wissenschaftlich und politisch gleichbedeutende Worte (wie Volk, Nation, Stamm, Fremdgruppe) zu beziehen ist.488 Um eine neue Form des Umgangs mit dem Anderen zu ermöglichen, wurden die Bewegung der Dekolonisierung und das Recht auf Differenz befürwortet, d.h. das Recht, anders
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C. Lévi-Strauss, Rasse und Geschichte. Frankfurt, 1972, 377f.; vgl. S. Abou, Menschenrechte und Kulturen, a.a.O., S. 25f.. C. Liauzu, Race et civilisation. L´autre dans la culture occidentale. Paris, 1992, S. 205f. Siehe bei Arendt die Beschreibung der Entstehung und die Entwicklung des Rassenbegriffs (H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S. 244f.). Mit diesem Begriff wurde eine systematische Ausrottung ganzer Rassen, der „friedlichen“ Bevölkerungen rechtfertigt werden: „Der in Afrika beheimatete Rassebegriff war der Notbefehl, mit dem Europäer auf menschliche Stämme reagierten, die sie nicht nur nicht verstehen konnten, sondern die als Menschen, als ihresgleichen anzuerkennen sie nicht bereit waren. […] Aus dem Entsetzen, dass solche Wesen auch Menschen sein könnten, entsprang der Entschluss, auf keinen Fall der gleichen Gattung Lebewesen anzugehören. Hier, unter dem Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen, verlor die Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts, wie die christlich-jüdische Tradition des Abendlandes sie lehrt, zum ersten Mal ihre zwingende Überzeugungskraft […].“ (S. 286f.) Siehe D. Schnapper, „Ethnie“, in S. Mesure, P. Savidan (Hg.), Le dictionnaire des sciences humaines, P.U.F, 2006, S. 406-408.
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zu sein. Die koloniale Ethnographie wurde im Rahmen dieses Kampfes durch die Anthropologie ersetzt. Letztere sollte der Vielfalt der Kulturen gerecht werden. Claude Lévi-Strauss hat diese Wende durch sein Buch Race et Histoire, das er im Rahmen der Veröffentlichungen der UNESCO 1952 schrieb, maßgeblich geprägt. Dieses Buch entpuppte sich als eine Anklagerede gegen den Ethnozentrismus. Bekämpft wird der Ethnozentrismus also nicht nur in seinen groben Formen, sondern auch in seinen wissenschaftlichen, also feinen Formen. Dieser Kampf war schwierig und stieß auch auf Unverständlichkeit. Denn – wie Ricoeur betont – „[d]ie Tatsache, dass die Weltzivilisation lange Zeit um den Herd Europa kreiste, ließ den Trugschluss aufkommen, dass die europäische Kultur de jure und de facto eine Weltkultur sei.“489 Dieser Trugschluss war so prägend, dass selbst eine Denkrichtung wie der Humanismus, der dem Standpunkt des Universellen gerecht werden wollte, ihm ausgesetzt blieb. Dies ist nun zu erläutern.
5.1.2 Ethnozentrismus und Humanismus Der Humanismus ist als Begriff neu, aber nicht als nicht als Denken selbst. Den Begriff wurde von Niethammer Anfang des 19. Jh. verwendet, während das Denken die ganze Menschheitsgeschichte durchdringt. Die ersten Anfänge des humanistischen Denkens sind weit in den Mythologien und Dichtungen der Welt zu suchen, d.h. bei den Völkern des Altertums, den Ägyptern und Babyloniern, Indern und Chinesen, Juden und Persern, Griechen und Römern. 490 Es muss allerdings betont werden, dass in der vorliegenden Rede vom Verhältnis zwischen Ethnozentrismus und Humanismus nur ein Teil dieser Geschichte berücksichtigt wird, und zwar der, der mit den Welteroberungen der Europäer seinen Anfang findet. Unter Humanismus versteht man eine Denkrichtung, die sich mit Fragen beschäftigt wie „Was ist der Mensch? Worin besteht sein wahres Wesen?“: „Humanismus ist die Gesamtheit der Ideen und praktischen Bestrebungen, die im Menschen den höchsten Wert und den letzten Zweck für den Menschen sehen, die das Wohl und Glück der menschlichen Individuen und der Gesellschaft als Maßstab des Wertens und Handelns ansehen, auf der Überzeugung von der Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen, die Achtung seiner Würde und Persönlichkeit beruhen, auf die allseitige Ausbildung und freie Entfaltung der schöpferischen Kräfte, der Fähigkeiten und Talente des Menschen und schließlich auf die Vervollkommnung und Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft, auf die die fortschreitende Erweiterung der Freiheit des Menschengeschlechts gerichtet sind. Als Bezeichnung für die praktische Umsetzung der Ideen des Humanismus dient der Begriff Humanität.“491 489 490
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P. Ricoeur, Geschichte und Wahrheit. München, 1974, S. 284. Siehe W. Förster, „Humanismus“, in H. J. Sandkühler et al. (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Band 2, S. 560f. Ebenda
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Diese Grundsätze zeigen, dass sich der Humanismus für Werte, die zur Verbesserung des menschlichen Daseins und Miteinanders einsetzt: Toleranz, Gewaltfreiheit, Gewissensfreiheit, Freundlichkeit, Solidarität usw. Angesichts dieses weitblickenden, universellen Programms mag es erstaunlich sein, den Humanismus mit dem Ethnozentrismus in Zusammenhang zu bringen. Denn beide widersprechen sich begrifflich. Der eine bezeichnet die Aufgeschlossenheit und der andere eine vermessene Selbstbezogenheit. Aber auch wenn der Zusammenhang begrifflich schwierig oder nicht zu fassen ist, wird er doch ersichtlich, wenn man die geschichtlichen Tatsachen genau betrachtet. Es ist ein Verdienst von Sartre, diesen Zusammenhang herausgestellt zu haben. Seinem scharfsinnigen Vorwort in Frantz Fanons revolutionärem Buch Die Verdammten dieser Erde haben wir viel zu verdanken: „Dieses Buch hat eigentlich kein Vorwort nötig. Umso mehr, als es sich nicht an uns [Europäer] wendet. Ich habe trotzdem eines geschrieben, um die Dialektik bis zu Ende zu führen: auch wir Europäer werden dekolonisiert. Das heißt, durch eine blutige Operation wird der Kolonialherr ausgerottet, der auch in jedem von uns steckt. Schauen wir uns selbst an, wenn wir den Mut dazu haben, und sehen wir, was mit uns geschieht. Zunächst müssen wir ein unerwartetes Schauspiel über uns ergehen lassen: das Striptease unseres Humanismus. Da steht er also ganz nackt da, kein schöner Anblick. Er war nur eine verlogene Ideologie, die ausgeklügelte Rechtfertigung der Plünderung. Seine Rührung und seine Preziosität verbürgten unsere Aggressionen.“492 Die kritische Prüfung, die Sartre dem Humanismus unterzieht, zeigt deutlich, dass der Humanismus in das Plünderungssystem verwickelt ist: „Ihr wisst genau, dass wir Ausbeuter sind. Ihr wisst genau, dass wir erst das Gold und die Metalle und dann das Erdöl der ‚neuen Kontinente’ genommen und in unsere alten Mutterländer gebracht haben. Nicht ohne ausgezeichnete Ergebnisse: Paläste, Kathedralen, Industriestädte. Und dann, als die Krise drohte, waren die Kolonialmärkte da, um sie zu drosseln oder abzulenken. Das mit Reichtümern gemästete Europa billigte allen seinen Einwohnern de jure die Menschlichkeit zu. Ein Mensch heißt bei uns ein Komplize, weil wir alle von der kolonialen Ausbeutung profitiert haben.“493 Der (europäische) Humanismus ist für Sartre ethnozentristisch, also
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J-P. Sartre, Vorwort, in F. Fanon, Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/M., 1966, S. 20. Die Verantwortung von jedermann im Drama der Kolonisierung, die Sartre hier betont, kann auch von dem aus, was „koloniales Trinom“ genannt wurde, verständlich gemacht werden: Die Administration regiert die Kolonien politisch, kommerzielle Unternehmen organisieren die wirtschaftliche Ausbeutung und Plünderung und die christlichen Missionen setzen sich für die Bekehrung und die Einbeziehung der Heide in das neue kulturelle und religiöse Universum ein. In dieser allumfassenden Hinsicht ist jeder beteiligt und verantwortlich im Kolonisierungsprozess. (Siehe O. K. Bimwenyi, Discours théologique négro-africain, a.a.O., S. 88.) Ebenda, S. 21f.
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intrinsisch problematisch, da er ein spezifisches (westliches) Verständnis des Menschen gutheißt, das anderen Völkern (noch auf ‚Barbarenstufe’) auferlegt werden muss. Daher unternimmt er es, das Porträt des (europäischen) Humanismus als eine den Wert und die Würde jedes einzelnen Menschen fördernde Weltanschauung in Frage zu stellen: „Dieses Geschwätz von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Liebe, Ehre, Vaterland, was weiß ich. Das hinderte uns nicht daran, gleichzeitig rassistische Reden zu halten: dreckiger Neger, dreckiger Jude, dreckiger Araber. Liberale und zarte gute Seelen – mit anderen Worten, Neo-Kolonialisten – gaben sich schockiert über diese Inkonsequenz. Ob aus Irrtum oder schlechtem Gewissen: nichts ist bei uns konsequenter als ein rassistischer Humanismus, weil der Europäer nur dadurch sich zum Menschen hat machen können, dass er Sklaven und Monstren hervorbrachte.“494 Sartre kritisiert vieles. Nicht nur die Ausbeutung, auch nicht nur den Betrug bzw. die Heuchelei beim Gebrauch von Worten wie Freiheit, Universalität, Vernunft (alle diese Werte sind „mit Blut befleckt“), sondern auch die Ausdehnung von Selbst, von der es im Waldenfelsschen Begriff von „philosophischen Eurozentrismus“ die Rede war. Eine Elite maßt sich hier den Status der Menschheit an genauso wie sich die Heimwelt in eine Gesamtordnung ausdehnt und Europa als „ein geographischer Name für die Vernunft selbst“ gelobt wird. Sartre behauptet, dass die Wilden und die Barbarei im eigenen Haus (Land) zu suchen sind. Der Profit verstellt die Sicht, so dass weniger über den Völkermord, die grausamen Taten (auch im eigenen Haus) der Europäer geredet wird als über die „Eingeborenenkriminalität“. Alles ändert sich, sobald der Eingeborene seine Wahrheit zum Ausdruck bringt: „Sofort offenbart unser so geschlossener Klub seine Schwäche: er war bucht mehr und nicht weniger als eine Minorität. Schlimmer noch: weil die andern sich gegen uns zu Menschen machen, wird deutlich, dass wir die Feinde der menschlichen Gattung sind. Die Elite offenbart ihre eigentliche Natur: sie ist eine Bande. […] Die Grossmut selbst steht in Frage. Dieses schön klingende Wort hat nur einen Sinn: zugebilligter Status.“495 Dass der Austausch zwischen Kulturen in diesem Kontext verfehlt ist, kann nicht als ein Zufall angesehen werden. Ein Humanismus, der nicht Gleichheit, - um Ernest Renan zu
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Ebenda. Ebenda. Diese Widersprüche sieht auch Césaire, wenn er vom Verhalten des „humanistischen Bourgeois“ spricht. Dieser ist in Gedanken tief versunken und ist daher nicht in der Lage einen Blick über den eigenen Tellerrand zu werfen, um z.B. zu sehen, wie das System, von dem er lebt und profitiert, Menschen in anderen Ländern bzw. Kulturräumen Gewalt antut. Er empört sich aber nur über die Gewalt, sobald er selbst ihr Opfer wird, wie das bei der Invasion des Nazismus der Fall war. (A. Césaire, Über den Kolonialismus. Berlin, Wagenbach, 1968. S. 11f.). Diese selektive Empörung kann nur die Idee bekräftigen, dass wir es hier mit einem Pseudohumanismus zu tun haben, der sich in Wirklichkeit nicht um den Menschen schert. Daher müssen die Masken fallen (S. 12). Darauf kommen wir zurück im Kap. 7.
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paraphrasieren –, abzielt, sondern Herrschaft ist im Grunde ein Selbstwiderspruch.496 Die Entfernung von den Anforderungen eines wahren Humanismus war noch groß. Von einem Humanismus im Weltmaßstab konnte keine Rede sein. Das vorausgehende hilft uns, den Hintergrund zu verstehen, vor dem der Begriff der Universalität suspekt geworden ist und die Rede vom Recht auf Differenz sowie die relativistische Rhetorik an Brisanz gewonnen haben.
5.2 Kampf um die Identität 5.2.1 Die Frage nach dem Recht auf die Differenz und nach dem Relativismus Der Kampf um die Identität basiert auf der Betonung des Polyzentrismus – der Vielfalt von Zentren – als Alternative zum Ethnozentrismus. Die Vertreter dieser neuen Bewegung legen viel Wert auf die Gleichheit bzw. die „Gleichwertigkeitsvermutung“497 und sind sich darin einig, dass sie damit mehr Gerechtigkeit schaffen können. Da die Gefahr besteht, dass die Gleichheit mit der Einförmigkeit verwechselt wird, rücken sie in den Mittelpunkt das Recht auf Differenz. Darunter wird verstanden, das Recht, anders zu sein und die Besonderheit eigener Identität, zu behaupten. Ein schneller Blick auf die alltägliche Erfahrung zeigt, dass Menschen tatsächlich dieses Recht mehr und mehr schätzen und dies in unterschiedlicher Weise ausdrucken.498 Dies sehen wir, wenn es sowohl um die Behauptung der individuellen Identität als auch der kollektiven Identität geht. 496
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Renan seiner Definition vom Humanismus: „Meine persönliche Überzeugung ist, dass der reine Humanismus die Zukunftsreligion sein wird, d.h. die Verehrung von allem, was menschlich ist, dem ganz geheiligten und zu einem moralischen Wert gemachten Leben.“ (E. Renan, L’Avenir de la science. Œuvres complètes, T. 3, Paris, 1949, S. 809. Freie Übersetzung) „As a presumption, the claim is that all human cultures that have animated whole societies over some considerable stretch of time have something important to say to all human beings.“ (C. Taylor, „The Politics of Recognition. [I]t is a starting hypothesis with which we ought to approach the study of any other culture.“, in ders., Philosophical Arguments, a.a.O., S. 252. auch in ders., Multiculturalism: Examining the Politics of Recongnition, Princeton, 1994, S. 67). Mit diesem Begriff meint Taylor nicht, dass alle Kulturen streng genommen gleichwertig sind, sondern, dass sie als gleichwertig betrachtet werden sollten. Dies gilt als ein positiver Ausgangspunkt oder eine geeignete Methode im interkulturellen Verstehen, denn damit werden eine gewissenhafte Untersuchung und die Aufgeschlossenheit gewährleistet und gleichzeitig leichtsinnige, übereilte, unüberlegte Beurteilungen über das Fremde vermieden. Diese ethische Grundhaltung bildet eine wichtige Bedingung für die „Horizontverschmelzung“. In dieser Beziehung stellt Rüsen zu Recht fest: „Politische und soziale Konflikte laden sich mit kulturellen Kräften des Kampfes um Anerkennung auf und gewinnen dadurch besondere Schärfe.“ (J. Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen. Köln, 2006, S. 221.)
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Eines der größten Probleme, mit denen wir hier konfrontiert sind, ist, dass die Überbetonung von Differenzen das Zusammenleben schwer oder unmöglich machen kann. Und dies ist unter dem Einfluss des (noch zu verdeutlichenden) Relativismus als Zurückweisung von kulturübergreifenden moralischen Standards zugespitzt geworden. All dies läuft darauf hinaus, dass man sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Kritik am Ethnozentrismus kein Rückgang auf den Relativismus bedeuten soll. Den Verfechtern des Rechts auf Differenz kommt zwar das Verdienst zu, den ethnozentristischen Universalismus mit guten Absichten zu bekämpfen. Aber gute Absichten können auch – wie von Amartya Sen in Die Identitätsfälle zu Recht betont – kontraproduktiv sein. Es soll auch niemandem entgehen, dass die Forderung nach dem Recht auf Differenz zugunsten (politischer) Ideologien und propagandistischen Kampagnen ausgenützt und instrumentalisiert werden kann. Darüber hinaus kann diese Forderung problematisch werden, z.B. wenn zur Sicherung der kulturellen Besonderheiten die Gerechtigkeit auch stark relativiert. Hier wird das Risiko eingegangen, die Gerechtigkeit mit den kollektiven Überzeugungen dominierender Gruppen gleichzusetzen. Infolgedessen wurde die Rede von Gerechtigkeit nur das vorherrschende Verständnis der Gerechtigkeit vermitteln. Amy Gutman erläutert dies deutlich in ihrer Kritik am Kulturrelativismus: „Das dominierende Verständnis könnte, selbst wenn es ledig weithin geteilt wird, dennoch den Standard der mächtigen (‚dominierenden’) Gruppen in der Gesellschaft bilden, die auf Grund ihrer Dominanz in Sozialisation und Bildung auch die kollektiven Überzeugungen formen. Hegemonie, so ließe sich sagen, ist charakteristisch für eine Kultur, in der die Überzeugungen einer oder mehrerer dominierender Gruppen nicht bloß das Übergewicht haben, sondern auch weithin als gerecht angesehen werden; denn sie erscheinen als die kollektiven Überzeugungen jener Kultur. […] Wenn sich der Kulturrelativismus am Maßstab der dominierenden Überzeugungen orientiert, droht er Gerechtigkeit mit den kollektiven Überzeugungen dominierender Gruppen gleichzusetzen, und indem er dies tut, negiert er implizit, dass Gerechtigkeit als kritischer Maßstab zur Beurteilung dominierender Überzeugungen zu dienen vermag.“499 Genügt die Berufung auf ein ‚Wir’ oder die kollektive Identität als Lösungsstrategie von Konflikten im interkulturellen Zusammentreffen? Ist eine Kritik hinfällig, weil sie aus ‚Außen’ kommt? Wir wissen erfahrungsmäßig, dass wo die kulturelle Besonderheit oder die Partikularität kollektiver Identität überbetont wird, der Andersdenkende in Lebensgefahr steht. All dies zeigt, dass man die Forderung nach dem Recht auf Differenz, wie sie in der relativischen Strömung als Alternative zum ethnozentristischem Universalismus formuliert
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A. Gutmann, „Das Problem des Multikulturalismus in der politischen Ethik“, in DZPh 43(1995), S. 277f.
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wird, einer kritischen Analyse unterziehen soll. Diese Forderung unterstellt bei vielen seiner Vertreter ein antagonistisches Verständnis des Verhältnisses zwischen Universalität und Partikularität, das folglich die Berufung auf kulturübergreifende moralische Standards zur Beurteilung von Handlungen bzw. kulturellen Praktiken erschwert bzw. unmöglich macht. Die relativistische Perspektive zeichnet sich durch ihren Versuch aus, herauszustellen, dass sich die Menschheit auf verschiedene Weisen verwirklicht, und maßgebliche Konsequenzen aus dieser Tatsache zu ziehen. Darum betrachtet sie die Vielfalt an sich als schützenswert und richtet sich prinzipiell gegen die Rede von der Universalität. Sie hält diese Rede für den Motor eines Unterdrückungsprozesses. Dagegen wird ein harter Kampf unter dem Schlagwort eingeleitet: Widerstand. Es wird nicht nur um Leben gekämpft, sondern auch um die Aufwertung und den Schutz von kulturellen Besonderheiten. Der Literaturtheoretiker und -kritiker Said, der die Tradition des Widerstands eingehend untersucht hat, behauptet: „Niemals hat die imperiale Konfrontation einen aktiven westlichen Eindringling gegen einen gleichgültigen oder trägen nicht-westlichen Eingeborenen auszuspielen vermocht; immer gab es, in irgendeiner Form, tätigen Widerstand, und in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle gewann dieser Widerstand schließlich die Oberhand.“500Die motivationale Kraft dieses Widerstandskampfs entsteht aus dem menschlichen Grundbedürfnis, anerkannt zu werden. In Übereinstimmung mit dieser These Taylors spricht der libanesische Anthropologe und Philosoph Selim Abou von einer Zusammensetzung der Bedürfnisse als Ursache des Widerstands. Ihm zufolge folgt die Idee des Widerstands im Allgemeinen501: aus dem Bedürfnis, eine problematisch gewordene Identität auf einen sicheren Boden zu stellen, aus dem Bedürfnis, eine bedrohte Identität zu schützen, aus dem Wunsch, eine unterdrückte Identität zu befreien, aus dem Bedürfnis, eine verlorene Identität wiederzugewinnen. All dies verdeutlicht, wieso der Kampf gegen den Ethnozentrismus sinnvoll ist. Aber dieser Kampf kann die Form eines Plädoyers für relativistische Auffassungen übernehmen. Die Frage nach dem Relativismus stellte sich aufgrund der Entwicklung des philosophischen Begriffs der Inkommensurabilität verschiedener Lebensformen und der Reaktionen der kulturellen Anthropologie502 gegen den Ethnozentrismus. Verschiedene Begriffe, die sich nicht immer miteinander decken, werden zur Bezeichnung von Relativismen formuliert. Man spricht z.B. von Kulturalismus (in den Sozialwissenschaften), Inkommensurabilität
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E. W. Said, Kultur und Imperialismus. Frankfurt/M, 1994, S. 14. Ein allgemeines, weltweites Muster imperialer Kultur und eine historische Erfahrung des Widerstands sind – so der Autor – die „Antriebskräfte“ dieses Buches. S. Abou, Menschenrechte und Kulturen. Bochum, 1994, S.19. Holenstein betont, dass der Relativismus in der wissenschaftlichen Anthropologie ursprünglich als eine „methodologische Maxime“ und nicht als eine „inhaltliche These“ gedacht war. (Menschliches Selbstverständnis. Ichbewusstsein – Intersubjektive Verantwortung, Interkulturelle Verständigung. Frankfurt/M., 1985, S. 105.)
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(in der Wissenschaftsphilosophie) und Kommunitarismus (in der Moral- und Politikphilosophie).503 An Brisanz gewann der Relativismus aber insbesondere durch die Entstehung der kulturellen Anthropologie. Die Rolle des sozialen und kulturellen Kontextes wird besonders betont: „Werturteile sind kontextrelativ“. Diese Aussage generiert zwei Versionen des Relativismus, und zwar die schwache Version (Werturteile sind kontextuell/ kulturell bedingt) und die starke Version (Werturteile sind kontextuell/ kulturell bestimmt). Paradoxerweise wird der Relativismus – wie Billier zeigt – in der Blütezeit der kulturellen Anthropologie zugleich geschwächt. Wären die Kulturen tatsächlich absolut inkommensurabel und unübersetzbar gewesen, dann müsste die geleistete Arbeit der Anthropologen selbst als gescheitert betrachtet werden. Die Tatsache, dass die kulturelle Anthropologie auf der Übersetzbarkeit (einer Kultur in eine andere) basiert, widerspricht schon an sich jeder radikalen Form des (kulturellen) Relativismus.504 Erste Formulierungen finden sich bereits bei einigen antiken Autoren in Form der empirischen Feststellung einer Vielfalt von moralischen Kodizes. Aber obwohl der Relativismus auf eine alte Debatte zurückgeht, hat er seinen Stachel nie verloren.505 Wir steigen aber in diese Debatte nicht ein, wie sie nach wie vor vorgestellt wird. Wir stehen quer dazu, aber wir verzichten auf das Anliegen nicht, die Möglichkeit der Kulturkritik trotz der Vielfalt der Kulturen zu wahren. Die Ansicht, dass unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche Werte automatisch implizieren, muss näher behandelt werden (Werte sind divergierend – ja aber wie weit reicht diese Divergenz?). Inwiefern werden hier die Verschränkungen berücksichtigt? Wir haben bei dieser Fragestellung die Aussage von Williams im Hinterkopf: „Different cultural communities are either in contact or not. If, on the one hand, two communities and their outlooks have not encountered each other, then it is too early for any question to arise about their relations to one another and the judgments they form. Relativism is then not a very interesting or substantive thesis because there is nothing at stake between them. This allows for a sense in which cultural relativism is true. There can be in
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F. Coste, et al. (Hg.), „Qui a peur du relativisme?“, in ders. Faut-il avoir peur du relativisme?, Tracés. Revue de sciences humaines, 12(2007), S. 6. J-C Billier, „Le relativisme moral“, in L. Thiaw-Po-Une (Hg.), Questions d’éthique contemporaine, Paris, 2006, S. 807. Vielmehr hat er im Laufe der Zeit an Resonanz gewonnen, wobei sich drei verschiedene Thesen herauskristallisiert haben: die These von der Vielfalt der moralischen Praktiken (empirischer oder deskriptiver Relativismus), die These von der Nichtexistenz oder Unerkennbarkeit eines universellen moralischen Prinzips (metaethischer Relativismus) [man unterscheidet hier auch: die „ontologische These“, d.h. Es gibt kein metaethisches Prinzip und die „epistemische These“, d.h. es gibt vielleicht eines, aber wir erkennen es nicht] und die These von der Toleranz (normativer Relativismus). Siehe R. B. Brandt, „Ethical Relativism“, in P. Edwards (Hg.), Encyclopedia of Philosophy, New York, Bd. 3, 1967, S. 75–78.
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other words relativism at a distance between two historically distinct cultures. But if, on the other hand, two communities are already in contact with one another, then it is too late for cultural relativism. By virtue of being in contact, the communities have to some degree become interconnected. It is too late for cultural relativism in the sense that it can provide no answers to the question of how individuals and groups with different moral outlooks and judgments are to treat each other.“506 Die vereinfachenden Schematisierungen, die die Debatte hier kennzeichnen, vermitteln den Eindruck, dass die Begrifflichkeit insgesamt an Bodenhaftung verloren hat. Daher berufen wir uns im dritten Teil auf eine phänomenologische Analyse der Fremderfahrung mit Fokus auf die Leiblichkeit. Verflechtungen bzw. Verbundenheiten sind erkennbar, sobald die Leibdimension (die Leiblichkeit) in den Mittelpunkt rückt. Gegenüber der Einrichtung von Gaskammern, dem Vollzug von Menschenopfern, der massenhaften Verletzung kann man keine Toleranz beanspruchen.507 Wir können uns daher mit vielen Aussagen aus dem Relativismus nicht zufriedengeben. Von unserem Standpunkt aus lässt die Beachtung von kulturellen Identitäten eine Anerkennung der ihnen immanente Verschränkung zwischen Universalität und Partikularität zu. Einer der Gründe für unsere Unzufriedenheit mit Taylors Standpunkt besteht darin, dass er in seiner Verteidigung des kulturellen Pluralismus die Unterschiede überbetont, die Verschränkungen hingegen im Schatten lässt. Dies erklärt sich daraus, dass der Anerkennungsbegriff als Anerkennung von Unterschieden verstanden wird, und weniger – bzw. gar nicht – als Anerkennung von Verflechtungen (Waldenfels). Ein solches Verständnis bringt die Gefahr eines Rückzugs auf das „kollektive Eigene“ mit sich. Und genau dies ist zu hinterfragen.
5.2.2 Taylors kontextualistische Perspektive 5.2.2.1 Explikative Theorie und Selbstverständnis der Subjekte – Horizontverschmelzung Gegen die ethnozentrische Universalitätsperspektive vertritt Taylor einen kontextgebundenen Vernunftbegriff, der auf folgenden Ideen basiert: (i) Menschen sind Handelnde, zu deren Wesen es gehört, Motive zu haben. (ii) Aufgrund der Tatsache, dass Menschen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten verwurzelt sind, unterscheiden sich auch ihre Motive unter Berücksichtigung der Vielfalt des „patterns of culture“. 506
507
B. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy. London, 1985, S. 65. Vgl. N. Chokr, „Who is (not) afraid of (cultural) relativism? “, in Tracés. Revue des sciences humaines, 12(2007), S. 45. Vorwegnehmend kann mit Mall betont werden, „[d]ie Vernetzungen der Kulturen sind vielschichtig und lassen sich fast endlos in die Vergangenheit zurückverfolgen“. R. A. Mall, „Interkulturelle Philosophie und die Diskussion um die Menschenrechte “, in A. Cesana (Hg.), Interkulturalität – Grundprobleme der Kulturbegegnung. Mainz, 1999, S.119. Siehe T. Todorov, „Le croisement des cultures“, in Communications, 43, 1986, S. 5-26.
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An dieser Stelle hat sich die herkömmliche Ethnologie des Ethnozentrismus schuldig gemacht, weil sie das Verhalten anderer Völker studieren und verstehen wollte, ohne die Motive ihres Verhaltens – die Selbstbeschreibungen der betroffenen Völker – und ihren Handlungskontext zu berücksichtigen. Dadurch wurden die differierenden Kontexte wie durch einen Zerrspiegel falsch wiedergegeben, wenn nicht aufgehoben: „One of the striking faults of transcultural and comparative social science has been its tendency to ethnocentrism. At the outset, it was European students who interpreted other societies in terms derived from European culture, very often at the cost of extreme distorsion, and frequently also in an unflattering light.“508 Der Ethnologe war daher blind in doppelter Hinsicht: 1. Blind gegenüber der kulturellen Verwurzelung der Anderen. Er berücksichtigte die Tatsache nicht, dass seine Forschungsgegenstände Handelnde waren, deren Wesen und Handeln in einen Bedeutungshorizont eingebettet. 2. Blind gegenüber seiner eigenen kulturellen Verwurzelung. Taylor weist im Anschluss an Gadamer (besonders in Bezugnahme auf Gadamers Kritik an Dilthey509) darauf hin, dass das Ziel des Verstehens auf keinen Fall darin bestehen kann, den eigenen Standpunkt zu verlassen, um den des Anderen einzunehmen. Es ist eine Täuschung zu glauben, dass man im Prozess des Verstehens den eigenen Standpunkt eliminieren und stattdessen eine Empathie mit dem Anderen entwickeln kann. Die Sozialwissenschaften können nicht primär durch das Verfahren des empathischen Hineinversetzens beschrieben werden. Es fragt sich nun, welcher Art das Verhältnis zwischen der explikativen Theorie des Ethnologen und den Selbstverständnissen seiner Subjekte ist. Durch die Zurückweisung von jeder Auffassung des Verstehens als „Empathie“ bzw. „Hineinversetzens“ in das Innere eines Anderen hat Taylor vor, eine Alternative zu formulieren, die das genuine Zusammentreffen oder die wechselseitige Vermittlung der Horizonte des Wissenschaftlers (hier des Ethnologen oder Anthropologen) und des Subjekts ins rechte Licht setzt. „Can he [the social scientist] set the world-view of his subjects aside as erroneous? But to condemn this world-view does he not have to stand outside it, and is this external stance compatible with understanding their self-definitions? […] my thesis amounts to an alternative statement of the main proposition of interpretative social science, that an adequate account of human action must make the agents more understandable. […] A satisfactory explanation must also make sense of the agents. This is not to say, of course, that it must show their action as making sense. For it very often does not. Frequently they are confused, 508
509
C. Taylor, „Understanding und Ethnocentrity“, in ders., Philosophy and The Human Sciences. Philosophical Papers II, Cambridge, 1985, S. 124. Siehe auch V. Y. Mudimbe, L´odeur du père. Essai sur des limites de la science et de la vie en Afrique noire. Paris, 1982. Siehe D. Teichert, Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis, a.a.O., S. 72f.
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malformed, contradictions in their goals and actions. But in identifying the contradictions, confusions, etc., we make sense of what they did. And this means that we come to see how as agents – i.e., beings who act, have purposes, desires – they came to do what they did, and to bring about what befell. Now my argument has been converging onto a similar conclusion. For my contention has been that social theory has to take subjects as agents of selfdefinition, whose practice as shaped by their understanding. And this is just an alternative way of stating the thesis that we have to give an account of them as agents, and that we cannot do this unless we understand them, that is, grasp their self-understanding.“510 Dass die Selbstverständnisse der Subjekte für Taylor eine zentrale Rolle in den geisteswissenschaftlichen Theorien spielen, bedeutet nicht, dass sich der Wissenschaftler in einen fremden Horizont zurückversetzen muss. Die Wirkung der Sprache bzw. des Horizonts des Wissenschaftlers kann nicht eliminiert werden. „We might distinguish the two theses in this way: interpretative social science requires that we master the agent´s self-description in order to identify our explananda; but it by no means requires that we couch our explanantia in the same language. On the contrary it generally demands that we go beyond it.“511 Diese doppelte Aufgabe bezeichnet auch zwei Gefahren, die die Geisteswissenschaften überwinden müssen: (i) Die Neigung, über die Selbstverständnisse der Subjekte hinwegzugehen: Dies ist der Fall bei Sozialwissenschaftlern, die die Naturwissenschaften für ein Modell ihrer eigenen Arbeit halten. In ihrem Versuch, die Anderen zu verstehen, lassen die Selbstverständnisse der Letzteren außer Acht, weil sie sich nur an vermeintlich objektive Maßstäbe halten wollen. In Wirklichkeit reflektieren diese Maßstäbe nur ihren eigenen Standpunkt. Auf diese Weise tappen diese Sozialwisseschaftler mitten in die Falle des Ethnozentrismus. Dies verdeutlicht Taylor durch das Beispiel der Entwicklungstheorie, die in der Politikwissenschaft für eine lange Zeit vorherrschend war. Sie basierte auf der Idee, alle politische Systeme erfüllten dieselben Funktionen. Infolgedessen wurde der Anspruch erhoben, eine neutrale Sprache für die Beschreibung der Handlungen aller Völker zu fördern..512 Diese Vorgehensweise hat sich aber als ethnozentristisch und daher verheerend erwiesen. Ihre Bekämpfung kann nur auf dem Weg der Wiedergewinnung oder Berücksichtigung der Selbstverständnisse bzw. Selbstbeschreibungen der Subjekte erfolgreich sein: „The importance of understanding another people’s language of selfunderstanding is precisely that it can protect us against this kind of ethnocentric projection.“513
510 511 512 513
C. Taylor, „Understanding and Ethnocentricity“, a.a.O., S. 117. Ebenda, S. 118. Ebenda, S. 126. Ebenda
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Der Anspruch auf eine vermeintlich neutrale Sprache bzw. die Einführung des naturwissenschaftlichen „Objektivitäts-Modells“ bringt für die Geisteswissenschaften keinen Gewinn. Hingegen verleitet er zu dem Glauben an überhistorisch und transkulturell gültige politisch-soziale Handlungsstrukturen. Der Irrtum ist hier groß. Denn die Spezifität der Geisteswissenschaften wir übersehen. Aus den Gründen, die für uns jetzt verständlich werden, legt Taylor Nachdruck auf die Notwendigkeit, soziale und politische Theorien als Theorien über Praktiken von naturwissenschaftlichen Theorien deutlich zu unterscheiden.514 Den Fehler, die Sozial- und Politikwissenschaften nach den Naturwissenschaften auszurichten, zu korrigieren bedeutet, dass Geschichte und Kultur ihren Ehrenplatz in besagten Wissenschaften wiedergewinnen.515 Mit der Betonung der Rolle der Kultur und Geschichte in Sozial- und Politikwissenschaften, also, mit der Forderung, Subjekte der Forschung als Handelnde zu betrachten, verdeutlicht Taylor einen der Gründe, aus denen der Kampf um Anerkennung kultureller Identitäten heutzutage an Brisanz gewonnen hat. Hier wird die Berücksichtigung der Selbstverständnisse bzw. Selbstbeschreibungen, kurzum, der Kultur und Geschichte der nicht-westlichen Bevölkerungen gefordert. Sozial- und Politikwissenschaften wirken ideologisch, wenn sie dieser Forderung kein Gehör schenken. „The confused model of value-free, culture-transcendent science hides from its practitioners both their ethnocentrism and their norm-setting. […] But the influence inappropiate, Western and pseudo-universal models over the social science of some non-Western Countries – exemplifed, I would argue, by the impact of American behaviouralism on Indian political science – is due to more than historic relations of unequal political power. If we take this impact as an example, it is closely bound up, I should want to claim, with a failure to appreciate that an illuminating political science of Indian society would have to be based on Indian self-definitions.“516 Aus der Feststellung der gewichtigen Rolle der Kultur und Geschichte lässt sich schließen, dass eine neutrale Sprache in den Geisteswissenschaften weder wissenschaftlich neutral noch methodisch unschuldig ist. Die Betonung der Bedeutung der Selbstverständnisse bzw. der Verknüpfung zwischen Identität und Handlung richtet sich offensichtlich gegen das Postulat einer durchgängigen, vereinheitlichenden Universalisierung, durch das auch eigene Voraussetzungen verkannt werden oder nicht ins Licht rücken. Damit stoßen wir auf die zweite Gefahr, mit der der Geisteswissenschaftler konfrontiert ist. (ii) Der Anspruch beim Versuch, die Anderen zu verstehen, den eigenen Standpunkt auszusetzen. Dagegen betont Taylor, dass jeder – selbst der Wissenschaftler – an seinen Standpunkt gebunden ist und daher die eigene Beurteilung nicht ausschließen kann, um einfach 514 515 516
Ebenda, S. 130. Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 132.
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die Selbstverständnisse der Subjekte anzunehmen. Dem Anderen kann man nur vom eigenen Standpunkt (mit seinen Vor-verständnissen/-Urteilen) aus begegnen. „The idea that I should pursue human science by attempting to neutralize this understanding in me, as I must pursue physics by neutralizing my Euclidean intuitions about space, is obviously crazy. It wouldn’t make a foreign culture any more accessible. On the contrary, it would just dissolve the field of human action into meaningless motion. This would fit a program of strict behaviorism (which no one has ever really practiced), but would be against the very thrust any more promising science.“517 Dies bedeutet, dass die Begegnung oder das Verstehen im interkulturellen Kontext nicht nur scheitern kann, weil man die Selbstverständnisse der Subjekte ignoriert, sondern auch, weil man den eigenen Standpunkt bzw. die eigenen Selbstverständnisse nicht berücksichtigen und erläutern kann. Nun aber macht die Einführung der Letzteren ins Feld die Entstehung von Konflikten oder einem Kulturschock wahrscheinlicher bzw. unvermeidlich und wirft damit die Frage auf, ob eine interkulturelle Kritik notwendig ist und – wenn ja – nach welchen Maßstäben eine Kultur beurteilt werden kann. auf welche Kriterien nach der Notwendigkeit der bzw. unvermeidlich. Einigen Autoren vertreten die Ansicht, derzufolge eine Kultur nur nach „internen“ Maßstäben beurteilt werden. Sie schließen damit die Möglichkeit einer relevanten Kritik von außen aus. Sie sind in Taylors Terminologie Vertreter der „Unkorrigierbarkeitsthese“ (the incorrigibility thesis): „[B]ecause in requiring that we explain each culture or society in its own terms, it rules out an account which shows them up as wrong, confused or deluded. Each culture on this view is incorrigible.“518 Taylor betrachtet Peter Winch als einen der größten Befürworter dieser Ansicht, die er für sehr problematisch hält. Taylor als Opponent von Winch darzustellen mag erstaunen, wenn man bedenkt, dass beide das naturwissenschaftliche „Objektivitäts/Neutralitäts-Modells“ in den Geisteswissenschaften ablehnen und den Selbstverständnissen eine zentrale Rolle zuschreiben. Jedoch weichen sie voneinander in der Frage nach dem Ziel der explikativen Theorie ab. Winchs Theorie nach besteht dieses Ziel in der Übernahme des Standpunkts der Handelnden. Handlungen zu erklären bedeutet folglich, dass man sie aus ihrer eigenen Begrifflichkeit („in their own terms“) beschreibt und externe Kriterien nicht ins Spiel bringt.519 Anders gesagt, Winch legt – wie Lueken zeigt – viel Wert auf die relativistische Idee, derzufolge, „fremde Ideen, Begriffe und Handlungen nur im Kontext der jeweiligen Lebensform angemessen verstanden und beurteilt werden können. Eine Bezugnahme auf ‚die Realität’ und die Forderung, dass Überzeugungen sich hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als rational auszuweisen hätten, liefere keine objektiven Rationalitätsstandards […]. Der 517 518 519
C. Taylor, „Comparison, History, Truth“, a.a.O., S. 149. C. Taylor, „Understanding and Ethnocentricity“, a.a.O., S. 122. Siehe P. Winch, The Ideal of a Social Science. Londres, 1958. Auch P. Winch, „Understanding a primitive Society“, in American Philosophical Quartely, 1, 1964, S. 307-324.
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Sozialforscher dürfe sein Realitätskonzept, seine Kriterien zur Identifizierung und Unterscheidung von Handlungen, seine Standards der Verständlichkeit und Vernünftigkeit fremden Lebensformen keinesfalls überstülpen. Es wäre ein Irrtum, andere Lebensformen für weniger rational zu halten, bloß weil sie unser wissenschaftliches Realitätskonzept nicht teilen“.520 Winchs relativistische These entkräftet bzw. verdrängt die Rolle der Kritik im interkulturellen Verstehen. Daher findet Taylor die „Unkorrigierbarkeitsthese“ nicht zufriedenstellend. Sie betont einseitig die Rolle des Standpunkts der Subjekte zum Nachteil von der des Wissenschaftlers. Dagegen weist Taylor darauf hin, dass der Wissenschaftler seinen Standpunkt zu Gunsten von dem der Subjekte nicht aussetzten kann. Für ihn missversteht Winch die Bedeutung der Interpretation und schaltet dadurch die Rolle der kritischen Prüfung oder der Infragestellung in den Geisteswissenschaften aus. Anders gesagt, die „Unkorrigierbarkeitsthese“ verhindert die Erfahrung von einer bereichernden gegenseitigen Kritik. Taylor verstärkt in seinem Aufsatz Rationality seine Abgrenzung von Winch, denn er behauptet fest angesichts der Situation der Inkommensurabilität der Perspektiven die Möglichkeit eines interkulturellen Vergleichs bzw. einer transkulturellen Kritik. Er verwendet den Begriff der Inkommensurabilität als Synonym von Inkompatibilität und meint, dass zwei Perspektiven (Systeme, Lebensformen, Theorien) unvereinbar („incompatible“) in der gleichen Art wie Fußball und Rugby sind, weil man beiden zur gleichen Zeit nicht folgen kann.521 Man kann z.B. der Perspektive der primitiven Magie und der der modernen Naturwissenschaft nicht gleichzeitig folgen. Inkommensurable Praktiken stehen in Konkurrenz bzw. Widerspruch. Macht diese Tatsache unmöglich zu sagen, dass eine Rationalität eine andere übertrifft? Taylor antwortet darauf verneinend: „[T]here is a definite respect in which modern science is superior to its Renaissance predecessor; and this is evident not in spite of but because of their incommensurability. The issue can be seen in this way. One view ties understanding nature to wisdom and attunement, the other dissociates them. In this they have incompatible norms. This is what makes the incommensurability. But precisely because they are not simply different, but are in principle incompatible, we can assess one as superior to the other. One can see, in this case, that the science which dissociates understanding and attunement achieves greater understanding at least of physical nature.“522
520
521
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G-L. Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1992, S. 138. C. Taylor „Rationality“, in ders., Philosophy and The Human Sciences, a.a.O., S. 144. Rosa weist die Gleichsetzung der Inkommensurabilität mit der Inkompatibilität zurück, wenn auch die erste die zweite in einigen Fällen implizieren kann. (Siehe H. Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Frankfurt/M., 2012, S. 20.) Ebenda, S. 148f.
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Für Taylor erweist sich die Überlegenheit der modernen Betrachtungsweise dadurch, dass sie unsere Kenntnis der physikalischen Welt offensichtlich und in hohem Maße erweitert hat. Ihm bleibt allerdings bewusst, dass es hier auf keinen Fall um die Überlegenheit in allen Bereichen geht. Denn die erhöhte technologische Kontrolle kann auch eine zunehmende Entfremdung von uns selbst und von unserer Welt verursachen. Die verheerenden Schäden der Einführung des naturwissenschaftlichen Modells in den Geisteswissenschaften sind ein prägnantes Beispiel, dass die technologische Kontrolle eine begrenzte Gültigkeit bzw. Überlegenheit hat. All dies kann trotzdem, so Taylor, nicht ein Grund sein, den transkulturellen Vergleich bzw. den Anspruch auf eine höhere Rationalität für ungültig zu erklären. Die Praxis von Ritualen bzw. die primitive Magie in einer vormodernen Gesellschaft stellt nicht eine rein expressive Tätigkeit dar. Sie ist nicht völlig symbolisch, d.h. ganz frei von der Idee, eine gewisse Kontrolle der Kontingenzen der Welt („the rites have a relation to consumption; they are undertaken to make the crops grow free of the hazards that threaten them. Winch´s thesis is that they also have this other dimension which he stresses.“523) zu haben. Es ist also nicht unangebracht, zu sagen, dass sie beansprucht, eine gewisse Erklärung der physikalischen Welt zu geben. Taylor weist auf Überlappungen und somit Analogien zwischen primitiven magischen Praktiken und Praktiken der modernen Wissenschaft hin. Er verweist auf Robin Hortons Aufsatz African traditional thought and Western science, der die Analogien zwischen dem afrikanischen religiösen Denken und der westlichen Wissenschaftstheorie gezeigt hat. Beide Sichtweisen stellen Einheit von Diversität heraus, stellen Dinge in einen kausalen Kontext usw.524 Für Taylor weisen sowohl die primitive Magie als auch die moderne (Natur)Wissenschaft Merkmale der Rationalität auf. Taylors Rede von Überlegenheit einer Rationalität (Perspektive, Lebensform) über eine andere im Kontext der Inkommensurabilität ist verwirrend. Denn Inkommensurabilität – wie von Kuhn und Feyerabend verstanden – verweist auf eine radikale Verschiedenheit. Diese Rede ist auch aus einem anderen Grund problematisch: Taylor ist der Ansicht, dass wenn eine Kultur erkennt, dass ein gewisses Maß an technologische Kontrolle über Krankheit in der Tat möglich ist, es irrational wäre, die Mittel zur Gewinnung einer solchen Kontrolle nicht anzunehmen. Daraus schließt er, dass die Azande Hexerei („Azande witchcraft“) – von der die Rede in Wichs „Understanding a primitive society“ ist – rational ist, solange sie sich der westlichen Medizin nicht bewusst ist, aber nicht sobald diese ihr bekannt ist. Mit diesem Beispiel will Taylor zeigen, dass die Kritik an Azande wegen ihrer Ablehnung der Überlegenheit der westlichen Medizin nicht „kulturimperialitisch“ ist. Denn es bestehen Kriterien, die einfach angesichts der „menschlichen Natur“ allgemein gültig sind und unabhängig von ihrer tatsächlichen Zustimmung in jeder Kultur sind. Aber wie Taylor dieses Argument vorbringt, ist problematisch. Einige wichtige Aspekte des
523 524
Ebenda, S. 140. Ebenda
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Problems sind nicht berücksichtigt. Denn die Diskrepanz oder die Uneinigkeit resultiert nicht immer aus der Ignoranz (dem Fehlen von Wissen). Daher betont Levy: „Notice, however, that this argument implies that Jehovah’s Witnesses, who reject some of the benefits of Western medicine, are, to that extent, irrational. But, precisely because they are well aware of the power of Western medicine, and nevertheless still choose to reject it, their actions might be peculiarly well suited to expressing their sense of their relation to God.“525 Es besteht eine Gefahr des Ethnozentrismus. Taylor behilft sich hier mit Gadamers Begriff der „Horizontverschmelzung“, d.h. wir müssen eine die bestehenden Kontraste klärende Sprache (a language of perspicuous contrast) entwickeln. Dieser Begriff soll ihm erlauben, seine Auffassung eines „verzerrungsfreien Austauschs von Kulturen“ zu entwerfen. Die Relevanz eines Austauschs besteht hier darin, dass wir uns der Spezifizität jeder Kultur bewusst werden. Auch die verscheidenen Beiträge in einem bestimmten Bereich menschlicher Erfahrung kommen zum Vorschein. Dies kann z.B. dazu führen, dass fremde Weltanschauungen, Wertvorstellungen usw. die anfänglich kaum verständlich waren, schließlich als vernünftig erscheinen. In diesem Prozess des Austauschs wird jede ethnozentristische Sichtweise zurückgewiesen, weil man lernt, seine eigenen Maßstäbe kritisch anzusehen bzw. zu relativieren und damit die vorurteilsvollen Ansichten über Fremdkulturen aufzugeben. Dazu sagt Rosa: „[T]he required fusion of horizons is possible only if we presuppose the text has something meaningful and coherent to say, Taylor holds that we will understand a foreign culture only if we assume that there is something valuable, of potentially equal worth to our own culture, in it. Since we know that the others are self-interpreting strong evaluators and ‚language animals’ just as we are, we can actually come to discover what it is that they cherish and value […].“526 Einer der wesentlichen Charakterzüge der Kultur, wie sie sich in den Erläuterungen der „Horizontverschmelzung“ verdeutlicht, ist die Tatsache, dass Kulturen nicht ein für allemal gebildete Entitäten sind. Sie sind auch nicht abgeschlossen, gestarrt und eingekapselt. Die 525
526
N. Levy, „Charles Taylor on overcoming incommensurability“, in Philosophy and Social Criticism, Bd. 26, 5(septembre 2000), S. 60. H. Rosa, „Cultural Relativism and Social Criticism from a Taylorian Perspective“, in Constellations, Bd. 3, 1(1996), S. 51. Eine der an Gadamer gerichteten Kritiken lautet, dass er die Frage nach den Kriterien für die richtige Vermittlung des Sinns oder die richtige Interpretation nicht ausführlich behandelt hat. Er habe sich nicht mit der Frage nach Kriterien zur Unterscheidung zwischen guten und schlechten Interpretationen beschäftigt. Dies konfrontiert uns im interkulturellen Zusammentreffen mit einem großen Problem: Wir sind zwar in der interkulturellen Begegnung bemüht, die Anderen zu verstehen. Aber wir können auch nicht nicht kritisieren. An diesem Punkt hat Habermas versucht in seiner Kritik an der Ideologie dieses ‚Defizit’ aufzuheben, also die kritische Funktion der Vernunft ans Licht zu bringen. Einen interessanten Versuch, beide Positionen zu versöhnen finden wir bei Ricoeur. (Siehe P. Ricoeur, Du texte à l´action. Paris, 1986).
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Begegnung mit einer fremden Kultur verändert und erweitert unser eigenes Verständnis, denn sie bringt uns dazu, über die Grenzen eigener Kultur hinauszusehen: „[T]he fortunate thing about human beings is that understanding can change. And one of the important sources of this learning can be meeting foreign cultures. “527 Dass die Horizonte anfänglich unterschieden sind, bedeutet nicht, dass sie sich nicht ändern können: „They divide us, but they are not unamovable; they can be change, extended.“528 Was wir über die Grenzen unserer Kultur hinauszusehen, ist eine „breite Palette von Möglichkeiten“ bzw. Differenzen. Statt zu versuchen, die Differenzen – wie in der ethnozentrischen Perspektive – abzuschaffen oder zu beseitigen, müssen wir sie akzeptieren. Diese Akzeptanz soll mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis sein, denn sie fordert, dass wir eine Sprache entwickeln, die diese Differenzen berücksichtigen kann. Wo das Bewusstsein des Bestehens von Unterschieden entsteht und wächst, gibt es Veränderung. Wir sind nicht mehr dieselben. Das interkulturelle Verstehen hat also etwas Störendes, Umstoßendes, das uns in den Umbruch setzen und unsere ursprünglichen Einstellungen modifizieren kann. „[U]nderstanding another society can make us challenge our self-definitions. It can force us to this, because we cannot get an adequate explanatory account of them until we understand their self-definitions,and these may be different enough from to force us to extend our language of human possibilities.“529 Wir müssen Taylor zufolge dessen bewusst sein, dass unsere Selbstverständnisse uns im interkulturellen Verstehen unvermeidlich begleiten. Daher ist jede explikative Theorie der Gesellschaft auf sie bezogen. Allerdings müssen wir – empfiehlt Taylor mit Nachdruck – unsere Selbstverständnisse offenhalten. „This [our own human understanding] is always playing a role, and can´t just be put out of action. The more we think we have sidelined it or neutralized it, as in the naturalscience model, the more it works unconsciously and hence all the more powerfully to ethnocentric effect. In a sense we only liberate the others and ‚let them be’ when we can identify ceasing in that respect just to read them through our home understanding, and allowing them to stand apart from it on their own. But the necessary condition here is that the understanding we personally have as students of the other has grown beyond what I’ve just called the home understanding, because in making this contrast we have identified, articulated, and shown to be one possibility among others, what we previously felt as a limit. If this account is right, then the great leaps in other-understanding take place through (perhaps implicit) comparisons or contrasts. The hope that we can escape ethnocentrism reposes
527 528 529
C. Taylor, „Comparison, History, Truth“, a.a.O., S. 149. C. Taylor, „Understanding the Other“, in Dilemmas and Connections, a.a.O., S. 31. C. Taylor, „Understanding and Ethnocentricity“, a.a.O., S. 131.
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on the fact that these contrasts transcend and often incommode the previous home understanding.“530 Taylor meint sicher nicht, dass wir den Ethnozentrismus ein für allemal überwinden können. Daher suggeriert er, dass wir immer bereit sein sollen, auch das neue Verständnis unter die Lupe zu nehmen, um mögliche Verzerrungen, also, ethnozentristische Züge zu finden und zu bekämpfen. Die Anderen zu verstehen ist also eine gewaltige Aufgabe, die keine endgültige Phase kennt. Für Taylor kann man dem Sozialwissenschaftler die Möglichkeit oder das Recht nicht nehmen, eine fremde Kultur einer kritischen Überprüfung oder Beurteilung zu unterziehen. Allerdings muss diese Beurteilung a posteriori sein. Sie muss sich an eine sachliche Auseinandersetzung anschließen und nicht von vornherein fallen wie der Fall im Ethnozentrismus ist. Zudem muss diese Beurteilung auf präzise Punkte unter einem bestimmten Gesichtspunkt bezogen sein. Damit will Taylor vermeiden, dass man sich mit pauschalisierenden Beurteilungen genügen, die nur ungerecht für eine (gegenwärtige oder vergangene) Kultur sein können. Aus dem Vorausgehenden zeigt sich, dass es wichtig für Taylor ist, zwischen der eigenen Kultur und der fremden Kultur gut zu vermitteln. Um dieses Ziel zu erreichen, zögert er nicht, Ansichten aus konkurrierenden Strömungen zusammenzusetzen. In diesem Zusammenhang mäßigt seine Zustimmung zu dem Liberalismus – wie von Pélabay betont – seine Neigungen zum Relativismus und gleichzeitig verbietet ihm seine Zustimmung zu dem Kommunitarismus, den Weg des (ethnozentrischen) Universalismus einzuschlagen.531 Zu bemerken ist, dass Taylor unter Universalismus einen homogenisierenden Universalismus versteht. Die Metapher der „Horizontverschmelzung“ ist bei Taylor wie ein Prozess, der „die Anderen sein lässt“ („which let the other be“) und in dieser Beziehung eine Sprache erarbeitet, die rücksichtsvoll gegenüber den Differenzen ist. „Es heißt nur, dass wir nicht ein von vornherein gekapptes moralisches Universum annehmen, in dessen Rahmen wir es als selbstverständlich voraussetzen, dass weder ihre Güter uns etwas sagen noch vielleicht die unseren ihnen“. 532 Aufgeschlossenheit und Gleichwertigkeit werden an dieser Stelle zu Schlüsselbegriffen erklärt. Es ist wichtig festzustellen, dass Taylor hier Bausteine für ein fruchtbares interkulturelles Verstehen und ein friedliches Zusammenleben legt. Durch seinen Begriff der „Gleichwertigkeitsvermutung“, seine Betonung der unerlässlichen Rolle des Standpunkts (bzw. der Selbstverständnisse, des Umfeldes, der Geschichte) der Subjekte533 sowie des Sozialwissenschaftlers, sein 530 531 532 533
Ebenda, S. 150. J. Pélabay, Charles Taylor, Penseur de la pluralité. Paris, 2001, S. 178. QS, S. 122. Taylor bezieht sich hier auf Gadamer: „Gadamer makes this point very forcefully as well. In fact, you understand another against the background of the surrounding reality. You see a man waving his hands wildly. Then you look closer, and you see that some nasty flies are swarming
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Plädoyer für eine die Kontraste klärende Sprache und seine Hervorhebung der Bedeutung der Kritik und Selbstkritik, zeigt er deutlich seinen Willen, sowohl den Ethnozentrismus als auch den Relativismus zu untergraben. Es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, wie wichtig die Kritik an und die Überwindung der „desengagierten Perspektive“ für Taylor sind. Die Analyse bzw. die Auseinandersetzung mit Descartes und der herkömmlichen Erkenntnistheorie bleibt für ihn – wie seine Veröffentlichung „Die Wiedergewinnung des Realismus“ kürzlich klar macht – nach wie vor ein grundlegendes Anliegen und ein permanentes, aktuelles Thema. In dieser Analyse liegen die Bausteine für seine Auffassung von zwischenmenschlichen Verständigung, vom interkulturellen Verstehen sowie für seine Kritik an der akulturalistischen Deutung der Moderne usw. Aufgrund des Gewichts dieser Kritik in Taylor Denken war es wichtig und sehr sinnvoll, sie schon in unseren Ausgangspunkt (Kap. 1) zu berücksichtigen. Taylor hat Recht, den Beitrag von Gadamer zur Philosophie und zu den Sozialwissenschaften als einen der wichtigsten anzusehen. „Das Grundmodell aller Verständigung ist der Dialog, das Gespräch“ 534 ist anti-ethnozentrisch, weil sie den Anspruch auf Überlegenheit zurückweist und die Verständigung als bilateral (nicht unilateral wie im Subjekt-Objekt-Paradigma) „party-dependent“ und als Ort von Überraschung und Innovation (also ohne intellektuelle Kontrolle)535 Wir stimmen vielem von dem zu, was Taylor hier im Gefolge von Gadamer vorlegt: die Bedeutung des Dialogs, die Zurückweisung des Subjekt-Objekt-Modells durch das Gesprächsparadigma in den Geisteswissenschaften (die Ablehnung des Paradigmas „des forschenden, in die Untersuchung des Objekts vertieften Subjekts“), die Notwendigkeit der Offenheit für die Meinung des anderen, die Zurückweisung von Eile („wenn es darum geht, den Fremden zu verstehen“, den Fremden mit Hilfe der eigenen Begriffe möglichst verständlich zu machen), die Beachtung der eigenen Situiertheit und der Vielfalt der Weltanschauungen, die Erweiterung von Horizonten, die gegenseitige Bereicherung, die Möglichkeit „to be challenged“, „to be interpellated“, also die Bereitschaft zur Selbstkritik und –verbesserung („die Vorrangstellung des Gesprächs, des Sprachspiels der Kritik, gegenüber den individuellen Manövern des Desengagements und der Abnabelung auf dem Weg zur kritischen Denkweise“, Die Wiedergewinnung des Realismus, S. 197.) usw. Allerdings bleibt bei Taylor ein gründliches Nachdenken über das Fremden ein Desiderat. Dieser Lage muss dringend abgeholfen werden. Die Betrachtung des Fremden im Herzen des
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around him. His action becomes intelligible against his background. People can only be understood against the background of their (presumed) world. It may be that closer scrutiny reveals no flies, but he tells you that he is warding off flies. Here too his action becomes (more) intelligible. There is something else here to explain. This story gives in simplified form the predicament of the explainer. It shows, I think, why there can´t be explanation without a judgment of truth or validity.“ (C. Taylor, „Comparison, History, Truth“, a.a.O., S. 153.) H. Gadamer, „Klassische und philosophische Hermeneutik“, in ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen, 1986, S. 116.] C. Taylor, „Gadamer on the Human Sciences“, in R. J. Dostal (Hg.), The Cambridge Companion to Gadamer, Cambridge, 2002, S. 127f.]
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Eigenen, der Fremdheit inmitten aller Vertrautheit“ (Waldenfels) fordert, dass man nicht nur von Unterschieden und Überbrückung spricht, sondern auch von Verschränkungen. Es geht nicht darum, Verschränkungen stellenweise zu erwähnen, sondern sie schon in der Theorie ernst zu nehmen. So kann man z.B. besser verstehen, wieso eine Fremdsprache nicht völlig anders ist, oder dass das Wir dem Fremden von vornherein nicht einfach gegenübersteht. Taylors Aussage „[r]eal understanding always has an identity cost“ könnte noch bedeutsamer und interessanter sein, wenn es nicht nur um die Erfahrung mit dem frontal begegnendem Fremden ginge, sondern vor allem um die Erfahrung mit dem, das das Eigene (das Selbst, das Ich, das Wir) immer schon heimsucht. Die Beachtung der besonderen Stärke und der Radikalität der Fremdheit (Teil 3) ist gewinnbringend. Wenn das Fremde konstitutiv für das Eigene ist, erweist sich Verflechtung als ein wichtiger Grundbegriff für das philosophische Interesse. Damit wird ein grundlegender konzeptueller Rahmen angenommen bzw. der Weg für eine Vorstellung der Interkulturalität eröffnet, die mehr ist als Gegenüberstellung, Nebeneinander, d.h. nachträgliches Zusammenkommen von bereits konstituierten homogenen Kulturen. Da Taylor auf die Frage nach der Fremdheit nicht dezidiert eingeht, bergen seine Überlegungen Ambivalenzen. Dies erklärt sich auch dadurch, dass Taylor selbst vielseitigen, ja sogar konkurrierenden philosophischen Strömungen zugehört. 5.2.2.2 Ambivalenzen bei Taylor: Kultur- und Wertbegriff Im Vorausgehenden hat sich verdeutlicht, dass Taylors hermeneutischer Ansatz im Verstehen des Fremdkulturellen gegen den Ethnozentrismus bzw. elitäre Hierarchien gerichtet ist. Damit wird die Rede von überlegenen bzw. unterlegenen Kulturen oder Sprachen zurückgewiesen. Eine Kultur oder eine eine Sprache, die sich als überlegen bezeichnet, maßt sich Rechte an, die ihr nicht zukommen. Dies muss früher oder später Widerstand hervorrufen Hier. liegt der Grund für Taylors Interesse an der Gedankenwelt Herders: „When I was a student in Europe, in a foreign country therefore, I felt a very strong affinity with Herder, the eighteenth-century German philosopher and one of the founders of modern nationalist thinking. Herder devoted much thought to language, the difference between languages, and the distortion in the thinking of a given language group when a language claims to be superior and better able to express universality, and when it therefore represses other languages. At the time, that language was French, which was invading the German intellectual world and was marginalizing German. In Herder I found inspiration, ideas that were very fruitful for me, precisely because I was from here. I was able to understand him from the situation I had experienced outside school, outside university, and I was able to engage with his thought, internalize it, and (I hope) make something interesting out of it.“536
536
C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 136.
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Herder stellte fest, dass in seiner Zeit die deutsche Sprache an Wert verloren hatte. Sie wurde zuerst „viel zu lateinisch behandelt“ und anschließend nach dem Französischen ausgerichtet. Sie wurde zwar, so Hofmannsthal, „gebildet und verschönert, aber nicht zu dem erhabnen gotischen Gebäude, das sie zu Luthers Zeiten, und noch mehr zu den Zeiten der schwäbischen Kaiser war, sondern zu einem neumodischen Gebäude, das, mit fremden Zieraten überladen, bei seiner Größe klein und unansehnlich ins Auge fällt“.537 In Herders Zeit stand die deutsche Sprache also zwischen den Fronten: „Latin was still to a large extent the language of scholarship, and French that of culture.“538 Diese Situation löste bei Herder eine defensive Reaktion aus, die sich vor allem in den Versuch realisierte, die Unterschiede zwischen Sprachen bzw. zwischen Kulturen hervorzuheben. Aus diesem Grund stellt Herder heute eine beliebte Referenzfigur für diejenigen Autoren dar, die den Kontextualismus bzw. den Partikularismus fördern. Auch Taylors Entscheidung, sich auf Herder zu stützen, ist mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis. Er bezieht sich mehrfach auf ihn und preist wiederholt seinen Beitrag in der modernen Kulturgeschichte.539 Es ist daher aufschlussreich, einen kurzen Blick auf Herders Philosophie zu werfen. Wie Taylor ist Herder ein Kritiker der Aufklärung bzw. des Rationalismus, dessen universalistische Stoßrichtung das (kulturell) Partikuläre als die angestrebte Harmonie zerstörendes und daher aufzuhebenden Moment dastehen lässt. Im Kontext des aufklärerischen Universalismus wird versucht, die Mannigfaltigkeit der Kulturen durch das Humanitätspostulat (die Konstruktion von der Menschheit) zu überwinden, indem die Geschichte der Menschheit als linearer Ablauf betrachtet wird. Herder hält das Programm der Aufklärung, „insbesondere ihre politisch strukturierte Geschichtsphilosophie“540 für utopisch und sogar für eine Gefahr nicht nur gegenüber den außereuropäischen Ländern, sondern auch gegenüber den Völkern Europas. Gegen die „Sprachrohre“ der Diktatur des (abstrakten) Universalismus betont er die kulturellen Einzigartigkeiten oder Besonderheiten. Von dieser Perspektive aus betrachtet erscheint Herder heute in vielen Interpretationen als ein früher prominenter Repräsentant des kullturellen Pluralismus, des Kulturrelativismus bzw. des deutschen Nationalismus. In dieser Eigenschaft wird er sowohl gelobt als auch kritisiert. Zu hinterfragen ist jedoch, ob hier nicht eine oder merhere sehr einseitige Lesarten von Herders Kulturbegriff vorliegen. Betrachten wir dies kurz bei Welsch, einem der strengen Herder-Kritiker. In Welschs Deutung kristallisieren sich drei Grundzüge der Philosophie Herders mit Bezug auf ihren Kulturbegriff heraus541: 537 538 539
540 541
H. von Hofmannsthal (Hg.), Wert und Ehre deutscher Sprache. München, 1927, S. 101. A. Gillies, Herder. Oxford, 1945, S. 8. Taylor schätzt das Denken Herders und seinen Beitrag zu Themen wie Sprache, Bedeutungstheorie, Kultur: „Herder is the hinge figure who originates a fundamentally different way of thinking about language and meaning. This way a tremendous impact on modern culture.“ (C. Taylor, „The Importance of Herder“, a.a.O., S. 79.) B. Fischer, Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Berlin, 1995, S. 221. Wir beziehen uns auf W. Welsch, „Transkulturalität“, in Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 26(2000), S. 329.
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– Homogenisierung: Kultur funktioniert als ein einheitliches integriertes Ganzes, das ein Volk wie ein Bündel zusammenhält und sein Leben in der Tiefe prägt und gestaltet. – Ethnisierung: Kultur gibt es nur in Verbindung mit einem bestimmten Volk. Dieser unerlässlichen Verbindung findet sich in Herders Aussage: „Die Kultur eines Volkes ist die Blüte seines Daseins, [Welschs unterlassene Fortführung: „...mit welcher er sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbaret“].“542 Die Ethnisierung des Kulturbegriffs wird im Kugelmodell der Kulturen ausgedrückt und auf die folgende Aussage Herders bezogen: „[J]ede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“543 – Abgrenzung: Die Tatsache, dass Kulturen volksgebunden sind, beinhaltet, dass man sie voneinander unterscheiden und abgrenzen kann. Diese drei Grundzüge des Kulturbegriffs Herders können Welsch zufolge zumindest in den heutigen Gesellschaften nicht mehr aufgefunden werden; die heutigen Gesellschaften erweisen sich als „in sich stark differenziert“ und miteinander verflochten; sie lassen sich also nicht mehr an eine homogene Gemeinschaft bzw. Nation und ein spezifisches Territorium binden. Wenn Kulturen als homogene Gestalten, kugelartig aufgefasst werden, so Welsch, dann wird die ganze Dimension der gehaltvollen Fremderfahrung verfehlt. Überdies bewirkt die Betrachtung der geographischen und klimatischen Faktoren als ausschlaggebend bei der Unterscheidung der Völker der Welt eine Ethnisierung des Kulturbegriffs. Kirchhoff kommentiert dies folgendermaßen: „So, wie die Organisationsweise eines Lebewesens zugleich durch seine organische Kraft und seine Umwelt bestimmt ist, muss die kulturelle Entwicklung eines Volkes, wenn sie gelingen soll, zugleich bestimmt sein durch den ‚Charakter’ oder ‚Genius eines Volks’ und durch die physischen Bedingungen (‚Clima’) des ‚Landes’ oder ‚Erdstrichs’, in dem es lebt. Diese beiden Determinanten beeinflussen sich wechselseitig: das jeweilige ‚Clima’ prägt die Sinnlichkeit 542
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J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Frankfurt/M., 1989, S. 571. Saal zufolge ist Welschs Unterlassung folgenschwer, denn damit übersieht er, dass Herder hier weniger die Volkskulturalität betont, sondern vielmehr die Veränderlichkeit von Kulturen. (B. Saal, „Kultur in Bewegung. Zur Begrifflichkeit von Transkulturalität“, in M. Mae, B. Saal (Hg.), Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht, Wiesbaden, 2007, S. 31.). Und zum besseren Verständnis der Rede von Ethnisierung gibt Saal auch einen wichtigen Hinweis: „Mit der Ausweitung des Kulturbegriffs auf alle Völker, was erst später ‚Ethnisierung’ von Kultur genannt wurde, ging es Herder vor allem um die weit und groß gefasste, den gesamten Erdball unspannende Darstellung seiner Idee der evolutionistisch gedachten Kulturentwicklung der Menschheit.“ (Ebenda) J. G. Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte“, a.a.O., S. 509. Auch Müller-Funk versteht diesen Satz als eine Betonung der Selbstgenügsamkeit jeder Kultur und sieht darin ein Kriterium, „dessen moralische Qualität der strenge Philosoph aus Königsberg in Abrede gestellt hat“. (W. Müller-Funk, Kulturtheorie. Tübingen-Basel, 2006, S. 85.).
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und Denkart des Volkes, das Volk prägt sein Land, indem es dieses zweckmäßig gestaltet, d. h. kultiviert. Im Laufe ihrer Geschichte bildet so jede Kultur eine organische, Mensch und Natur umgreifende Einheit, die einzigartig ist, weil jedes Volk besondere Anlagen hat und jedes Land spezifische Anpassungen erfordert bzw. Nutzungsmöglichkeiten bietet. [...] Auf der Erde entsteht so eine Vielfalt einzigartiger, inkommensurabler, gleichberechtigter Formen von Kultur und eben darin besteht, so betont Herder gegen die aufklärerische Idee einer Universalgeschichte, das Ziel der Menschheitsgeschichte; ‚zur Vollkommenheit der menschlichen Natur gehört, daß sie unter jedem Himmel, nach jeder Zeit und Lebensweise sich neu organisiere und gestalte’ [...]. Eine Vielfalt von Landschaften mit Eigenart ist der räumlich-materielle Aspekt dieser kulturellen Vielfalt.“544 Der Kulturbegriff, der sich hieraus entwickeln lässt, ermöglicht es nicht die komplexen Wechselwirkungen zwischen Kulturen in den Blick zu bekommen. Anders gesagt, er erschwert die Erläuterung des Verhältnisses von Ab- und Eingrenzung, das das Miteinander der Kulturen kennzeichnet. Es muss jedoch hinterfragt werden, ob Welsch und alle Autoren, die die oben erwähnten Kritiken gegen Herder richten, ihn nicht zu einseitig interpretieren. Wie Löchte herausstellt, wird Herders Denken oft falsch aufgefasst. Diese missliche Lage „ist nicht selten der mangelhaften Kenntnis von Herders Werken geschuldet, die Fehldeutungen absurde Blüte treiben lässt. Eine neue Rezeptionsvariante besteht etwa darin, das vermeintlich wahre Gedankengut Herders zu entlarven. So wird behauptet, Herder vertrete trotz seiner scharfen Kritik an der europäischen Politik kolonialistische Rechtfertigungsstrategien. Er wende sich zwar vordergründig gegen den Kolonialismus, stütze ihn tatsächlich aber durch seine angebliche Überzeugung von der Höherwertigkeit der europäischen Kultur und durch die Intention, sie mittels Handel und Bildung in alle Teile der Welt zu verbreiten“.545 Will man Herders Kulturtheorie wirklich gerecht werden, muss man die Entwicklung seines Denkens und die Tatsache in den Mittelpunkt stellen, dass er an vielen Stellen eindeutig den Austausch zwischen Kulturen annimmt. In den Ideen, in der er seine Kulturtheorie entwirft, wird z.B. der hybride Charakter der kulturellen Identität Europas in einer prägnanten Weise betont: „In keinem Weltteil haben sich die Völker so vermischt wie in Europa; in keinem haben sie so stark und oft ihre Wohnplätze und mit denselben ihre Lebensart und Sitten verändert. In vielen Ländern würde es jetzo den Einwohnern, zumal einzelnen Familien und Menschen, schwer sein zu sagen, welches Geschlechtes und Volkes sie sind, ob sie von Goten, Mauren, Juden, Karthagern, Römern, ob sie von Galen, Kymren, Burgundern, Franken, Normannen, Sachsen, Slawen, Finnen, Illyriern herstammen und wie sich in der Reihe ihrer Vorfahren das 544
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T. Kirchhoff, L. Trepl, „Landschaft, Wildnis“, in ders., (Hg.), Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld, 2009, S. 39f. A. Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea. Würzburg, 2005, S. 10.
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Blut gemischt habe. Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer europäischen Nationen gemildert und verändert, ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europas schwerlich hätte erweckt werden mögen.“546 Dieses Zitat lässt keinen Zweifel daran, dass sich Herder des transkulturellen Charakters Europas bewusst ist. Er äußert sich dazu in demselben Text auch noch in einem schärferen Ton: „Von selbst hat sich kein Volk in Europa zur Kultur erhoben; jedes vielmehr hat seine alten rohen Sitten so lange beizubehalten gestrebt, als es irgend tun konnte, wozu denn das dürftige, rauhe Klima und die Notwendigkeit einer wilden Kriegsverfassung viel beitrug. Kein europäisches Volk z.B. hat eigene Buchstaben gehabt oder sich selbst erfunden; sowohl die spanischen als nordischen Runen stammen von der Schrift anderer Völker; die ganze Kultur des nord-, öst- und westlichen Europa ist ein Gewächs aus römisch- griechisch-arabischem Samen. Lange Zeiten brauchte dies Gewächs, ehe es auf diesem hartem Boden nur gedeihen und endlich eigne, anfangs sehr saure Früchte bringen konnte; ja auch hiezu war ein sonderbares Vehikel, eine fremde Religion, nötig, um das, was die Römer durch Eroberung nicht hatten tun können, durch eine geistliche Eroberung zu vollführen. Vor allen Dingen müssen wir also dies neue Mittel der Bildung betrachten, das keinen geringem Zweck hatte, als alle Völker zu einem Volk, für diese und eine zukünftige Welt glücklich, zu bilden, und das nirgend kräftiger als in Europa wirkte.“547 In beiden Zitaten zeigt sich, dass Herder aufgeschlossen ist und die interkulturelle Begegnung positiv einschätzt. In den Ideen balanciert er, so Löchte, deutlich seine in Auch eine Philosophie der Geschichte gehaltene Rede vom Eigenwert der Kulturen und der Eigenständigkeit der Nationen aus. Durch diesen Richtungswechsel hat er sich auch Argumente verschafft, um den Eurozentrismus und den europäischen Kolonialismus zu bekämpfen.548 In dieser kritischen Haltung verdeutlicht sich, warum er bis zum ersten Weltkrieg „in Deutschland nur verkürzt rezipiert und weitgehend distanziert beurteilt“549 wurde. Das Interesse für sein Werk nahm besonders im Rahmen „der nationalsozialistischen Germanistik [zu], in deren Zentrum der 546
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J. Herder, „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in M. Bollacher (Hg.), Werke, Bd. 6, Frankfurt/M., 1985, S. 705. Ebenda, S. 707. Herders Ansichten in den Ideen arbeiten dem Vorwurf entgegen, er habe die nationale Hybris beflügelt: „Die Ablehnung von nationalstolzem Zivilisationsexport und Missionierungseifer war von Anbeginn Teil seiner politisch eindeutigen Kritik an Kolonialismus, Sklavenhandel, christlicher Mission und exploitativem Überseehandel.“ (B. Fischer, Das Eigene und das Eigentliche, a.a.O., S. 184) O. Dann, „Herder und die Deutsche Bewegung“, in G. Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744-1803, Hamburg, 1987, S. 309. Nübel und Tröger weisen darauf hin, dass der Versuch, „das Werk Herders im Sinne der völkischen Ideologie zu vereinnahmen, das Problem [stellt], dass bei Herder selbst das Volk zunächst und vor allem ‚Sprachgemeinschaft‘ ist und somit in Widerspruch
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Volksgedanke gerückt war.“550 Ob man von Herder als Begründer oder als einer einflussreichen bzw. der einflussreichsten Figur des deutschen Nationalismus reden sollte, ist für Otto Dann schon als Fragestellung problematisch, weil sie Herder retrospektiv einen Nationalismus unterstellt, dem er auch durch seinen spezifischen Humanitätsbegriff, wie wir im Folgenden noch sehen werden, eigentlich von vorneherein entkommt. Ein weiteres Argument gegen die Einordnung Herders in die Geschichte des Nationalismus findet Otto Dann in dem Umstand, dass ein eindeutiger Nachweis fehlt: „Nicht nur, dass es bis heute dazu kaum konkrete Forschungen gibt, man kennt bisher auch nicht eine Stimme aus dem Bereich der nationalen Bewegung selbst, die positiv auf Herder verweist. Oft ist die Berührung zum Greifen nahe, etwa wenn der Historiker Heeren im Jahre 1810 im Rahmen der antinapoleonischen Bewegung ‚über die Mittel zur Erhaltung der Nationalität besiegter Völker’ reflektiert, doch der Name Herders wird nicht genannt. Nach dem heutigen Kenntnisstand muss man im Hinblick auf die nationale Frage geradezu von einer Herder-Vergessenheit (oder -Verdrängung?) im Deutschland des 19. Jahrhunderts sprechen.“551Angesichts dessen zeigt sich der poetische Vergleich aussagekräftig, demzufolge das Denken Herders wie ein Haus ist, das man aufgrund der Schönheit des Hofes nicht betreten will. Man begnügt sich mit kurzen Einblicken durch die Fenster. Diese Herangehensweise kann jede beliebige Vereinnahmung zulassen. Daher kommt Schneider nach einer kritischen Lektüre der zahlreichen Interpretationsversuche von Herders Werken zu dem Ergebnis, „dass Herder eher zu den Opfern als zu den Tätern [des Nationalsozialismus] zu rechnen ist, wobei jedoch zwischen den verschiedenen Teilen des Herderschen Werkes und den verschiedenen Formen ihrer Rezeption große Unterschiede bestehen. Herders Äußerungen zum Judentum waren leichter zu vereinnahmen als seine Humanitätsidee und seine religiösen Überzeugungen [...]“.552 Schneider prangert die Verschwommenheit der Herder-Interpretationen in der nationalsozialistischen Bewegung an und den hartnäckigen Wille, sein Denken für unwürdige Zwecke zu missbrauchen, „so dass im Rahmen eines faschistischen ‚Grundwerte’-Kanons ein fast jokerartiger ‚Pseudo-Herder’ entstehen konnte, der mal als Begründer der Rassenkunde und mal als Antisemit, mal als Erzieher der Nation und mal als Gewährsmann deutscher Kulturüberlegenheit fungierte“. 553 Der Tenor dieser Kritiken besteht
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zum nationalsozialistischen Konzept der ‚Rasse‘ tritt“. (B. Nübel, B. Tröger, „Herder in der Erziehung der NS-Zeit“, in J. Schneider (Hg.), Herder im „Dritten Reich“. Bielefeld, 1994, S. 63.) A. Löchte, Johann Gottfried Herder, a.a.O., S. 76. Man kann das späte Interesse an Herders völkischen Nationsbegriff auf den Versuch zurückführen, sein Denken in die nationalsozialistische Bewegung hineinzuziehen oder sogar Herder selbst als Begründer oder „Vater des modernen deutschen Nationalismus“, als „die eigentliche Quelle des deutschen Nationalismus“. (A. Gillies, Herder, a.a.O., S. 11.) O. Dann, „Herder und die Deutsche Bewegung“, a.a.O., S. 309. J. Schneider, Herder im „Dritten Reich“. Bielefeld, 1994, S. 9. Ebenda, S. 10. Er kritisiert, dass „verwertbare Textfragmente“ vom Gesamtwerk abgetrennt und für die NS-Ideologie ausgenützt werden (Ebenda, S. 11.). In diesem Kontext wird eine Pluralität von Lesarten zurückgewiesen und „unvereinbare Textpassagen“ werden einfach eliminiert. (Ebenda, S. 12.). Siehe dazu auch: R. Otto, „Herder-Editionen 1933-1945“, in J. Schneider, Herder im „Dritten Reich“,
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darin, dass Herders Hinweis auf eine nationalistische Perspektive nicht sofort mit dem deutschen Nationalismus verbunden werden darf. Ebenso sollte im Gegensatz zu Welschs Lesart auch Herders Betonung der Unterschiede bzw. der Eigenwertigkeit der Sprachen oder der Kulturen nicht als Aufforderung zur Abschottung oder Ablehnung von (kultureller, nationaler, ethnischer oder sprachlicher) Durchmischungen verstanden werden. Man könnte basierend auf den oben zitierten Aussagen von Herder über die kulturelle Identität Europas behaupten, dass er sich nicht gegen die Durchmischung und Verflechtung von Kulturen an sich wendet, sondern gegen den Imperialismus einer bestimmte Kultur bzw. einer bestimmten Sprache (im vorliegenden Fall, der französischen Kultur bzw. Sprache im 18. Jahrhundert). Er bekämpft die rücksichtslose Dominanz einer bestimmten Kultur – mag sie auch mit Durchmischung einhergehen –, weil sie die Mannigfaltigkeit, die Verschiedenheit und die Reichhaltigkeit der Kulturen unterdrückt. Gillies beschreibt treffend den historischen Kontext, in dem Herder den Wert der deutschen Sprache hervorhebt: „The French atmosphere of the court of Frederick the Great, as well as of other monarchs, is too well known to need emphasis. So many French words had been imported into Germany that the language was in danger, not of becoming a hybrid, but of becoming a patois spoken only by the uneducated classes.“554 Um mit der faktischen französischen Dominanz zu brechen, rechnet Herder mit dem Denken derjenigen französischen Autoren ab, die Züge der Überlegenheit bzw. Überheblichkeit aufweisen: „[...] Herder zufolge spiegelt Voltaires Verblendung die Überheblichkeit seiner Nation wider. Wenn er falsch denke, wenn er zu Unrecht die Vielfältigkeit der geschichtlichen Verhältnisse vereinheitliche, so, weil er überzeugt sei von der Überlegenheit seines Landes (Frankreich) und seiner Zeit (dem Jahrhundert der Aufklärung). Indem er die Geschichte mit der Elle dessen, was er Vernunft nenne, messe, begehe er die Sünde des Hochmutes: eine bestimmte und vergängliche Art zu denken blähe er zur Dimension der Ewigkeit auf. Derselbe Eroberungsgeist sei am Werke im Wunsch, das Meer aller Völker, aller Zeiten und aller Orte zu beherrschen, sowie in der Neigung des französischen Rationalismus, sich über die nationalen Grenzen hinaus auszubreiten und den Rest der Welt zu unterjochen. Er lege den Ereignissen, die bereits stattgefunden haben, dieselbe intellektuelle Zwangsjacke an wie Frankreich den übrigen europäischen Nationen, insbesondere Deutschland. Im Grunde führe er das Werk der erzwungenen Gleichsetzung [assimilation], deren räumliche Ausdehnung die Aufklärung gerade betreibe, in der Vergangenheit fort.“555
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a.a.O., S. 21. Herder war selbst – betont Müller-Funk zu Recht – „ein ‚Progressiver’, kein Nationalist, wenigstens nicht im heutigen Sinn“. (W. Müller-Funk, Kulturtheorie, a.a.O., S. 89.) A. Gillies, Herder, a.a.O., S. 8. A. Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens. Hamburg, 1989, S. 16. Für Finkielkraut hat sich Herders Vision erst nach der schweren Niederlage von Jena (1806) und der napoleonischen Besetzung
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Angesichts all dessen scheint es angebracht, Herders nationalistische Aussagen im Rahmen seines Kampfs gegen jede Form des Imperialismus von seinem Kultur- und Nationsverständnis zu unterscheiden, sonst besteht die Gefahr, ihm etwas zu unterstellen, das er nicht vertritt.556 Und diese Gefahr ist real insbesondere angesichts der Tatsache, dass Herder kein systematischer Denker war. Um Missdeutungen seines Denkens zu vermeiden, hat Fischer einleuchtende Erklärungen zu demselben abgegeben: „Herder ist ein ausgesprochen antithetischer Denker, der sich schon aufgrund seiner methodischen Verfahrensweise (des Streitgesprächs, des multiperspektivischen Puzzles, der ironischen Gegenstimme, der rhetorisch-polemischen Frage usw.) nicht ohne Mühe auf einzelne Aussagen festlegen lässt und sich zudem dadurch auszeichnet, dass er sich seiner Widersprüche bewusst werden kann und sie dennoch aufrecht erhält, wenn sie produktiv und sich keine befriedigende Lösung finden lässt. Er vollzieht die relativierende Korrektur überzogener Aussagen häufig nicht im selben Satz oder Gedankenzusammenhang, sondern oft erst im nächsten Paragraphen oder Kapitel, manchmal durch einen Gegensprecher, der nach Art des Streitgesprächs oder Gegenbriefs reagiert.“557 Berücksichtigt man diese eigentümliche Art der Gedankenentfaltung Herders, muss man vorsichtig mit der Kritik sein, er habe die kulturelle Abschottung oder den nationalen Hochmut befördert. Durch dieselbe Betrachtungsweise kann auch eine andere Deutung von Herders oben erwähnten Kugelmodel der Kulturen konstruiert werden: Es ist dann kein Ausdruck der Abgeschlossenheit der Kulturen (bzw. Abschottung der Nationen), sondern der Relativität von Glückseligkeit d.h. der Überzeugung, dass „es keinen neutralen Maßstab zum Vergleich von Glückseligkeit gibt“.558 Historisch gesehen
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zum kollektiven Grundgedanken entwickelt. „Um die Machtlosigkeit zu vergessen, ergibt man sich der Teutomanie. Die universalen Werte, auf die Frankreich sich beruft, um seine Vormachtstellung zu rechtfertigen, werden im Namen der deutschen Eigenart abgelehnt, und es ist Aufgabe insbesondere der Dichte und Juristen, dieses altüberlieferte Deutschtum zu bezeugen. […] Die Philosophen der Aufklärung […] hatten die Gerechtigkeit eines idealen Gesetzes dem Despotismus und dem Machtmissbrauch entgegengesetzt. Mit der deutschen Romantik kehrt sich alles um: Juristen und Schriftsteller, die bevorzugten Bewahrer des Volksgeistes, kämpfen in erster Linie gegen die Vorstellung einer universalen Vernunft oder eines idealen Gesetzes.“ (Ebenda, S. 19f.) Herders Kampf gegen die Dominanz von Frankreich versteht Finkielkraut als einen Versuch, „die Geschichte vom Gleicheitsprinzip [zu] befreien und jeder Nation den Stolz auf ihr unvergleichliches Sein wieder[zu]geben“ (Ebenda). Löchte sieht in Finkielkrauts Aussage eine bestreitbare implizite oder indirekte Linie von Herder zum Nationalsozialismus (A. Löchte, Johann Gottfried Herder, a.a.O., S. 77). Diese Kritik scheint begründet zu sein, weil Finkielkraut – wie gezeigt werden wird – Herder als erste – wenn auch entfernte – Quelle des Nationalsozialismus darstellt. B. Fischer, Das Eigene und das Eigentliche, a.a.O., S. 187. Daher kann man ein Zeichen der Selbstglorifizierung in einer Textpassage lesen und später auf die Behauptung stoßen: „Unter allen Stolzen halte ich den Nationalstolzen sowie den Geburts- und Adelsstolzen für den größten Narren.“ (J. G. Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4, Riga, 1794, S. 33.) B. Saal, „Kultur in Bewegung. Zur Begrifflichkeit von Transkulturalität“, in M. Mae, B. Saal (Hg.), Transkulturelle Genderforschung, 2. Auflage, Wiesbaden, 2007, S. 32. Außer Saals Kritik an
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bildet sein Kugelmodel eine Antwort auf die Frage „Welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?“559 Der historische Kontext legt es daher nahe, Herdes Antwort vielmehr als eine Kritik des eurozentrischen Blicks und des Kulturimperialismus als eine Behauptung und Verherrlichung der Einkapselung der Kulturen zu deuten. Nun können wir uns wieder Welschs kritischen Standpunkt über den Kulturbegriff zuwenden: Er wirft sowohl Herders Kulturbegriff (dem traditionellen Kulturbegriff) als auch den modernen Begriffen der Multi- und Interkulturalität vor, der gegenwärtigen Durchdringung der Kulturen bzw. dem Zwischenraum zwischen den Kulturen aufgrund des ihnen zugrundeliegenden Kugelmodells nicht gerecht werden zu können und stellt diesem korrektiv seinen eigenen Begriff der Transkulturalität gegenüber. Die vorausgehenden Erläuterungen haben aber gezeigt, dass Welschs Kritik an Herder in ihrer Einseitigkeit fragwürdig ist. Denn auch Herder hat die Durchdringung der Kulturen deutlich und auf positive Weise hervorgehoben. Wie Saal zeigt, scheint Welsch die doppelte Dialektik von Herders Kulturbegriff nicht zu berücksichtigen. Es ist wahr, dass diese Dialektik „zwar die Gefahr der negativen Aspekte Homogenisierung und Separatismus enthält – die bei Herder jedoch noch nicht zum Ausdruck kommt –, aber eben vor allem auch die Kritik am Ethnozentrismus und somit die Möglichkeit zu dessen Relativierung. Diese Dialektik sollte stets im Auge behalten werden, um weder in einen unverbindlichen und separatistischen Relativismus noch in einen tendenziell eurozentristischen Universalismus zu verfallen“.560 Vorausblickend muss jedoch auch betont werden, dass Welschs Kritik zudem anfechtbar in Bezug auf den Begriff der Interkulturalität ist. Wie im Teil 3 mithilfe des Denkens von Waldenfels ausführlich darlegt werden wird, lässt sich der Begriff der Interkulturalität grundsätzlich als Verschränkung von Eigenem und Fremden verstehen, wenn nur die gehaltvolle Vorsilbe ‚inter’ ernst genommen wird. Welschs Kritik am Begriff der Interkulturalität tut einem Autor wie Waldenfels, der das große Bedeutungsspektrum des Terminus herausgearbeitet hat, Unrecht. Welschs Konzept der Transkulturalität hat keinen Vorteil
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Welsch kann man auch Löchtes Kritik nennen, die auffällige Falschdarstellungen bzw. eine „eklatante Verzerrung“ der Kulturtheorie Herders bei Welsch zeigt. (A, Löchte, Johann Gottfried Herder, a.a.O., S. 128-139.). J. G. Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte“, a.a.O., S. 508. Es handelt sich um eine Preisfrage der Berner Patriotischen Gesellschaft (1762). Diese Interpretation unterscheidet sich grundsätzlich von der von Müller-Funk, die Antwort weise auf eine Verquickung von Herders Wertschätzung der kulturellen Identität mit dem „Lob partikularer Borniertheit“ hin: „[A]us dem Blickfenster der singulären Kultur ist die glückselig machende Selbstgenügsamkeit mit der Exklusion erkauft, mit der realen („Ausländer raus“) aber auch mit der symbolischen in Gestalt jener diskriminierenden Fremdbilder, die im Deutschen den etwas missverständlichen Namen ‚Vorurteile’ tragen […].“ (W. Müller-Funk, Kulturtheorie, a.a.O., S. 86). Dass sich der Vorurteilsbegriff in Herders Spätwerk jeglicher positiven Konnotation entledigt, hat Löchte ausführlich gezeigt. (A. Löchte, Johann Gottfried Herder, a.a.O., S. 139f.) B. Saal, „Kultur in Bewegung“, a.a.O., S. 33.
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gegenüber Waldenfels’ Konzept der Interkulturalität, das auf der Erfahrung der radikalen Fremdheit basiert und somit die Verflechtung von Eigenem und Fremdem bzw. die Notwendigkeit und die Relevanz des interkulturellen Austauschs prägnant darstellt. Eine Aussage wie, die Trankulturalität löse das Konzept der Interkulturalität ab 561 muss daher relativiert werden. Ein phänomenologisch orientierter Begriff der Interkulturalität wird wohl der Öffnung, Dynamik, Durchdringung der Kulturen, des Ein- und Ausgrenzungsphänomens gerecht. Auf Waldenfels’ Theorie der Interkulturalität werden wir zurückkommen. An der vorliegenden Stelle unserer Untersuchung ist es zunächst wichtig, Kritiken an Herders Denken zu prüfen bzw. auszubalancieren. Das Vorausgehende hat gezeigt, dass Herders Denken komplex ist und gegen Verkürzungen und vereinfachende Deutungen geschützt werden muss. Genau das hat sich Max Caisson vorgenommen. Er bekämpft jede unidimensionale Lesart dieses Denkens, indem er seine Vielseitigkeit und Weitläufigkeit aufzeigt.562 Um solide Argumente zu finden, muss man nicht nur in Herders frühen Schriften nachschlagen, sondern auch in seinen Ideen (1784-1791), Briefen (1793-1797) und seinem letzten Werk Adrastea (1801-1804). Denn im Gegensatz zu der häufigen Vorstellung, basierend auf Goethes und Schillers563 abwertenden Urteil über Herder hat dieser in seinen späten Schriften substantielle neue Elemente hinzugefügt, die auch für die heutige Interkulturalitäts-Debatte relevant sind. Während in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) die Relativität soziohistorischer Phänomene angesichts der Diversität der Kulturen im Mittelpunkt steht, „macht er sich in den Ideen auf die Suche nach dem gemeinsamen Charakter des Menschengeschlechts und bestimmt ihn in der Humanität“.564 Diese Humanitätsidee lässt sich gegen die Kritik eines nivellierenden Relativismus ausspielen und spricht für eine positive Beurteilung von Herders Denken. Daher läuft eine Kritik wie die von Alain Finkielkraut ins Leere, derzufolge Herder die These, nichts gehe „über die Vielzahl der Kollektivseelen“ hinaus, vertreten und durch einen solchen Relativismus die Gültigkeit universaler Kriterien zurückgewiesen
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D. Kimmich, S. Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld, 2012, S. 8.], M. Caisson „Lumière de Herder“, in Terrain, n° 17, 1991, S. 17-28. Auch online zugänglich unter: http://terrain.revues.org/3007 (abgerufen am 27.9.2012). In seinem Brief an Goethe sagt Schiller: „Diese Adrastea ist ein bitterböses Werk, das mir wenig Freude gemacht hat. [...] Herder verfällt wirklich zusehends und man möchte sich zuweilen im Ernst fragen, ob einer der sich jetzt so unendlich trivial, schwach und hohl zeigt, wirklich jemals außerordentlich gewesen seyn kann. Es sind Ansichten in dem Buch, die man im Reichsanzeiger zu finden gewohnt ist; und dieses erbärmliche Hervorklauben der frühern und abgelebten Litteratur, um nur die Gegenwart zu ignorieren, oder hämische Vergleichungen anzustellen!“ (F. von Schiller, Friedrich v. Schillers auserlesene Briefe in den Jahren 1781-1805, (Heinrich Doering, Hg.), Bd. 3, Zeitz, 1834, S. 224-225.) A. Löchte, Johann Gottfried Herder, a.a.O., S. 9.
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habe. 565 Herder wird durch diese vereinfachende Lesart zu Unrecht zum Vater des Begriffs Volksgeist erklärt: „Seit jeher, oder genauer gesagt von Platon bis Voltaire, hatte die menschliche Verschiedenheit sich dem Gericht der Werte gestellt; dann kam Herder und ließ das Gericht der Verschiedenheit alle universalen Werte verurteilen.“566 Der These, dass Herder der Leiter einer Zäsur in der geschichtlichen Entwicklung des philosophischen Denkens in der westlichen Welt ist, ist nach den vorausgehenden Ausführungen nur schwer zuzustimmen. Es liegt uns fern, hier grundsätzlich zu entscheiden, wer zwischen Welsch und den Verfechtern Herders die beste Interpretation zum Ausdruck bringt. Für uns ist es zuvörderst wichtig zu vermeiden, Herder Unrecht zu tun und darzulegen, dass wir schon in der Spätaufklärung auf ein ausbalanciertes Denken stoßen, dass Potential hat, zur Entwicklung eines Mittelwegs zwischen arrogantem Universalismus und ängstlicher Einkapselung beizutragen. Verdeutlicht wurde auch, wie ein solches Denken für nationalistische Zwecke instrumentalisiert und systematisch fehlgedeutet wurde und wie diese Verzerrungen bis in die heutigen Interpretationen fortbestehen. Für die weiteren Schritte unserer Überlegungen genügt es festzustellen, dass in Herders Denken Elemente vorhanden sind, die zur Betonung der kulturellen Besonderheiten bzw. zu einem ethnischen Verständnis des Kulturbegriffs führen und die sich der universalistischen Perspektive verwehren, sowie Elemente, die das Verhältnis zwischen der Ab- und Eingrenzung von Kulturen herausarbeiten. Letztere finden sich in den Ideen, in dem er sein Denken über die Kulturen entwickelt. Es ist eine sehr einseitige Lesart, wenn man bei Herder nur die Betonung individueller Kulturen oder von Relativität soziohistorischer Phänomene angesichts der Diversität der Kulturen in den Vordergrund bringt. Dies scheint aber auch die Herder-Lesart von Taylor zu sein.567 565
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A. Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens, a.a.O., S. 14. Er stellt Herders Ansicht als eine Radikalisierung der Position Montesquieus dar: „Mehrere Dinge regieren die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebenstil. Aus all dem bildet sich als ihr Ergebnis ein Gemeingeist.“ (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. Stuttgart, 1965, S. 288). Für Finkielkraut hat Herder diese These radikalisiert, denn „während Montesquieu gewissenhaft an der Unterscheidung zwischen positiven Gesetzen und universalen Prinzipien der Gerechtigkeit festhielt“, entschied Herder sich, eher dem Partikularen zu huldigen und den Bezug auf das Universale abzuschaffen. (A. Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens, a.a.O., S. 14) Ebenda, S. 17. Auch Berlin scheint diese Ansicht zu vertreten, wenn er sagt: „Als kohärente Doktrin ist [der nationalismus] vielleicht zuerst in Deutschland während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts in der Erscheinung getreten, insbesondere in der Vorstellung von einem ‚Volksgeist’ oder ‚Nationalgeist’, die der außerordentlich einflussreiche Johann Gottfried Herder in seinen Schriften entfaltet hat.“ (I. Berlin, Das krumme Holz der Humanität: Kapitel der Ideengeschichte, (Hg von H. Hardy), Frankfurt/M., 1992, S. 304.) Eine ähnliche kritische Bemerkung hatte auch Trabant gegen Taylor wegen seiner Lesart von Humboldt als Relativisten in seiner Diskussion mit Habermas geäußert: „Das zweite von Habermas gegen Taylor verteidigte Humboldtsche Argument betrifft die Rolle der historischen und kulturellen Dimension gegenüber dem Universellen. Humboldt ist wegen seiner Auffassung von den Sprachen als ‚Weltansichten’ allgemein bekannt als ein Relativist, der das Universelle im
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Taylors Interesse an Herders Denken richtet sich tatsächlich darauf, auf die Bedeutung der kulturellen Besonderheiten aufmerksam zu machen. In Herder findet er Inspirationen und Ideen, die sich für ihn wissenschaftlich und politisch als bedeutsam und fruchtbar erwiesen haben. Dies zeigt sich auch dann, wenn er keinen Hehl aus seiner Opposition gegen den „falschen Universalismus“ („spurious universalism“) macht, d.i. die in den Geisteswissenschaften aufzufindende universalistische Ansicht, derzufolge es ein allgemeingültiges Normen- oder Gesetzeswerk bzw. eine wirklich adäquate und allgemeingültige, irgendwo in Paris, New York, Cambridge auffindbare Denkform, gibt.568 Diese ideologische Idee des Vorhandenseins absoluter Gesetze, die überall und allzeit gelten, erzeugt nach Taylor einen Minderwertigkeitskomplex und ermöglicht die Unterdrückung von Differenzen. Es wird suggeriert, dass man sich diesen Gesetzen unterwerfen und die kulturellen Besonderheiten unbeachtet lassen muss. Taylors Kritik an dieser vereinheitlichenden Tendenz der Geisteswissenschaften ist von bleibender Relevanz; sie zeigt uns, welche hegemonialen Ideen sich dahinter verstecken. Sie verleiht dem kontextualistischen Standpunkt Taylors mehr Glaubwürdigkeit. Sie befreit von der Annahme der Existenz einer überlegenen Kultur, um die andere Kulturen kreisen, bzw. von der Idee, dass das moralische Richtige ohne Rücksicht auf Vorstellungen des Guten, welche Taylor zufolge partikular sind, bestimmt werden kann. Auf diese irreführende Ideologie des Universalismus reagierend plädiert Taylor für das Konzept der Universalität des Partikularismus, das ihm zufolge Rücksicht auf die Relevanz der kulturellen Besondertheiten nimmt. In dieser Hinsicht fordert er in seiner Rede über die intellektuelle Tradition Quebecs dazu auf, dass man lernen soll, die Tradition der eigenen Situation zu schätzen. „To resist the seduction of the accredited answer, one must not only be able to tame the imitation reflex generated by our weakness as a people; one must also be able to swim against the current of the direction inherent in this form of science. […] I very much liked Fernand Dumont´s statement that Laurendeau had discovered that we were very narrow, but without losing sight of the fact that great peoples are no bereft of this trait. It is precisely
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Perspektivismus des Kulturellen, in der historischen Verschiedenartigkeit der Sprachen, eben in der berühmten ‚Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues’, aufgelöst habe. Dies ist das Stereotyp, auf das sich Taylor stützt. Aber auch diese idée reçue ist nur zur Hälfte wahr – und daher falsch –, weil sie die andere Hälfte des Humboldtschen Denkens nicht berücksichtigt, die gerade universalistisch ‚philosophisch’ ist. […] Habermas entdeckt bei Humboldt einen ‚universalistischen Kern’ der Sprachen, der einerseits das Hinüberwechseln von einer Sprache zur anderen, die Übersetzung, ermögliche und auf anderseits alle Sprachen zur geschichtlichen Entwicklung zulaufen.“ (J. Trabant, „Habermas liest Humboldt“, a.a.O., S. 643). Habermas behauptet in seiner Erwiderung an Taylor: „Gewiss treten die grammatisch geregelten Weltansichten und Lebensformen nur im Plural auf; aber sie bilden Totalitäten, die nicht wiederum von einer Superiorität überwölbt sind, sondern in ihren formalen und allgemeinen Strukturen übereinstimmen.“ (J. Habermas, „Entgegnung“, a.a.o., S.335.) C. Taylor, Reconciling the Solitudes, a.a.O., S. 138.
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this ability that allows us to see, in the so-called universal thought emanating from Paris or New York, a reflection of the Fifth Republic of the 1970s or of the American republic´s ideological sickness of the 1990s. Besides, when one manages to understand the universality of particularism, one is cured of the illusion that we are eccentric. There are only eccentricities, there are only eccentric positions, ours among others.“569 Allerdings ist Taylors Ansatz verbesserungsfähig. Problematisch ist vor allem sein Kulturbegriff. Er beschreibt Kulturen als einheitliche Phänomene und betont dabei ihren homogenen Charakter und ihre jeweils spezifische Charakteristiken, so dass der Gegensatz zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zugespitzt wird. Obwohl Taylor die universalistische Perspektive nicht a priori wegstreicht, legte er ihr Steine in den Weg und leistet dem von ihm selbst stark kritisierten Relativismus Vorschub. Rosa spricht von einer Art des Kulturalismus, der die Annahme einer vermittelnden, kontexttranszierenden Moralkonzeption ausschließt und Taylors Stellungnahme in der Diskussion über die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens zwischen den Kulturen schwächt. Dieses Problem besteht, solange die Unauflösbarkeit der Verknüpfung zwischen Vorstellungen des Guten und partikularen Lebensformen dogmatisch behauptet wird „und jede Konzeption moralischer Rechte wiederum aus einem solchen Horizont des Guten abgeleitet ist [...]“.570 Die Ambivalenz taucht auch in Bezug auf die Postmoderne auf. In Ein säkulares Zeitalter diskutiert er das Problem der Meinungsverschiedenheiten in Religionsfragen und betont dabei nochmals seine Missbilligung der postmodernen These, „wir alle seien in unsere jeweilige Auffassung eingesperrt und hätte keine Möglichkeit, einander auf rationale Weise zu überzeugen. Ganz im Gegenteil bin ich der Auffassung, dass wir Argumente anführen können, um andere zur Abänderung ihrer Urteile und zur Erweiterung des Horizonts ihrer Sympathien anzuregen (was mit der Modifikation der Urteile eng zusammenhängt)“.571 Natürlich ist Taylor nicht naiv; die Aufgabe ist nicht einfach und kann nicht auf einmal abgeschlossen werden. Menschen verzichten nicht umstandslos auf ihre Überzeugungen bzw. Werte, als wären sie „bewusste Prämissen“, von denen man in einem Austausch ohne Weiteres zurücktreten kann, denn so Taylor, unsere Überzeugungen und Glaubensinhalte prägen unsere Denk- und Handlungsweisen auf einer tiefen Ebene. Allerdings schreibt er einem „fortwährenden Austausch mit Vertretern anderer Standpunkte“ das Potential zu, uns unserer Verzerrungen bewusst zu werden und so zu ihrer Überwindung beizutragen. An anderen 569 570
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Ebenda, S. 138f. H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 230. Denn wie der Relativist stellt er den universalistischen Standpunkt als einen externen Standpunkt, einen „Sirius-Standpunkt“ dar. Dinge von diesem Standpunkt aus zu betrachten bedeutet sie von oben, aus der Entfernung anzuvisieren. Und diese Art Blick Gottes auf die Welt hat zur Konsequenz, dass Besonderheiten übersehen werden. Um dies abzuwehren, greift Taylor zu den Grundannahmen seiner philosophischen Anthropologie, die seine Annäherung an den Relativismus verstärken. C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O., S. 713f.
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Stellen seines Werkes argumentiert er jedoch stark in einer partikularistischen Weise, indem er ganz im Sinne der Postmoderne den Respekt vor Differenzen zu seinem Motto macht. Trotz seiner Selbstverständniserklärung lässt er sich durch die Hintertür auf relativistische Ansichten ein. Hier dient die Verteidigung des Pluralismus als ethische Forderung zur Kritik an universalistischen Ansätzen. Den Differenzen wird eine wichtige Rolle zugeschrieben und die Rede von einer universellen Regelung, in der das menschliche Handeln in Betracht gezogen werden und beurteilt kann, bekämpft. Vom diesem Standpunkt aus werden scharfe Grenzlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden gezogen und die Interkulturalität wird als ein Nebeneinander oder Gegenüberstehen der Einzelkulturen verstanden. Taylors Versuch, die praktische Vernunft zu „historisieren“ endet in einem Klima des Relativismus wegen Taylors starker Tendenz, die Beurteilungskriterien als kontextspezifisch darzustellen. Sein Kontextualismus geht mit kommunitaristischen Zügen einher. Den Kontextualismus vom Kommunitarismus zu unterscheiden, ist sehr wichtig, will man den Universalitätsanspruch und damit einen kritischen Standpunkt gegenüber den kulturellen Erscheinungsformen aufrechterhalten. Es ist wichtig, den Pluralismus der Kulturen nicht mit dem Wertepluralismus gleichzusetzen. Sonst rückt man in die Nähe klassischer „antirealistischer Modelle“ (z.B. dem moralischen Subjektivismus), die sich zu ihrer Begründung u.a. auch auf die „faktische Verbreitung intra- und interkultureller Uneinigkeit über basale moralische Fragen“ berufen.572 Eine solche Betrachtungsweise ist trügerisch. Wie Weinstock feststellt, vertreten z.B. die Schotten, Katalanen oder Quebecer in ihrem Kampf um Anerkennung im Grunde nicht unterschiedliche Werte. Unterschiedlich sind ihre Traditionen, Sitten oder Gebräuche, aber nicht ihre Werte. Dies bedeutet, dass der kulturelle Pluralismus seine Quelle nicht im „Wertepluralismus“ bzw. dem „axiologischen Pluralismus“ hat.573 In seinen neuen Veröffentlichungen versucht Taylor – wie schon im Kap. 8 erwähnt – der Herausforderung des Zusammenlebens zwischen den Kulturen und dem Rawlsschen Begriff des overlapping consensus eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Diese konzeptionellen Verschiebungen sind allerdings (noch) nicht in einem neuen theoretischen Rahmen angesiedelt, der mit der Auffassung von Interkulturalität als Nebeneinander bzw. Gegenüberstellung deutlich bricht; es geht um einen Rahmen, in dem die Aussage wie, die Anderen seien identitätsbildend, mehr als eine bloße Formel fungiert. Daher bleibt eine stichhaltige und ausgearbeitete Theorie über das Interkulturelle bzw. die Fremdheit bei Taylor ein Desiderat. Taylors Kritik am universalistischen Vernunftbegriff wird manchmal so formuliert, dass sie mit der These der Inkommensurabilität der Werte verknüpft wird, d.h. mit der These
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C. Halbig, Praktische Gründe. Frankfurt/M., 2007, S. 11. D. Weinstock, „Fausse route: Le chemin vers le pluralisme politique passe-t-il par le pluralisme axiologique?“, in Archives de Philosophie du droit, 2006, 49, S. 192f. Werte werden hier – wie noch erläutert werden wird – nicht im deskriptiven, sondern im normativen Sinn verstanden.
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der radikalen Verschiedenheit konkurrierender Werte.574 Nach dieser These hat jede Kultur ihre eigenen Werte, die in andere patterns of culture nicht eingefügt werden können. Daher gebe es so viel Ethiken und Werte wie Kulturen. Inkommensurabilität ist ein Oberbegriff, der eine Vielfalt voneinander abweichender Positionen umfasst. Mit Lueken ist zu erwähnen, dass dieser Begriff zwar aus der Mathematik stammt, aber seine gegenwärtige Bekanntheit dem von Kuhn, Feyerabend und anderen in der Wissenschaftstheorie eingeleiteten Umbruch verdankt. In diesem Kontext wird er wie folgt erläutert: „Alle theoretische Ausdrücke, aber auch die Beobachtungsausdrücke haben im Kontext der jeweiligen Theorie so verschiedene Bedeutung, dass die Begriffe und Aussagen der einen Theorie nicht in denen der anderen erklärbar sind [...].“575 Dass es kein gemeinsames Maß und keine gemeinsame Rationalitätsstandards gibt, macht den Versuch gegenstandslos, letztere methodologisch anzubringen. „In der Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts gibt es so radikal verschiedene Theorien und Methoden, dass es keine allgemeine Methodologie oder Rationalitätstheorie geben kann, die Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft erklärt und als Maßstab zur Beurteilung neuer Theorien und Methoden fungieren könnte.“576 Parallel zu diesen Ausführungen in der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft haben sich auch in der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaft Diskussionen um den Begriff der Inkommensurabilität entwickelt. Allerdings sind die Diskussionen hier anders geartet. Während das Problem der Inkommensurabilität in der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft das Verhältnis verschiedener Theorien innerhalb dieser Wissenschaft betrifft, ist es in der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaft, genauer gesagt, in der Kulturanthropologie hauptsächlich bezogen auf das Verhältnis zwischen der Wissenschaft und ihrem Gegenstand: Es gebe hier eine radikale Verschiedenheit zwischen der (westlichen) Kultur des Forschers und den fremden Kulturen, die den Gegenstand seiner Forschungen bilden.577 Diese These der Inkommensurabilität wurde in der philosophischen Denkrichtung der Postmoderne vertieft. Hier wird die Diskussion so weit getrieben, dass sie nicht mehr nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Lebenspraxis eine starke Resonanz und erhebliche Auswirkungen hat. Mit Blick auf die Geschichte des Begriffs der Inkommensurabilität kann mit Lueken behauptet werden, dass sich Kuhn einen fruchtbaren Austausch mit den Wissenschaftstheoretikern und eine bestärkende Reaktion von ihnen erhofft hatte. Euphorische Partner hat er
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Diese Definition steht im Zusammenhang mit Luekens Auffassung der Inkommensurabilität als die „radikale Verschiedenheit konkurrierender Orientierungssysteme“ (G-L. Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, a.a.O., S. 29.) G-L. Lueken, „Inkommensurabilität“, in H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2 I-P, Hamburg, 2010, S. 1109. G-L. Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, a.a.O., S. 11. Ebenda, S. 137. Wie im vorausgehenden Abschnitt gesehen, verwendet Winch den Begriff der Inkommensurabilität zwar nicht, vertritt aber diese Sichtweise.
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aber vor allem unter Sozialwissenschaftlern, Kulturanthropologen und postmodernen Autoren gefunden. Diese Denker knüpften an den Begriff der Inkommensurabilität an, so dass sie ihm, nachdem die darauf bezogenen Debatten in der Wissenschaftstheorie nachgelassen hatten, eine sehr bemerkenswerte Ausstrahlung gegeben haben. Die Inkommensurabilität führte zur Konfrontation mit dem Problem des Relativismus, aufgrund der Annahme, dass es keinen gemeinsamen Maßstab gibt. Göller gibt einen deutlichen Überblick der Inkommensurabilitätsthese bezüglich der Kulturen am Beispiel von Thesen Wittgensteins, Winchs und Rortys. 578 Bei Taylor tritt die These der Inkommensurabilität als Konsequenz seiner philosophischen Anthropologie auf. In Sources of The Self nimmt er an, dass sich menschliche Gesellschaften durch ihre Kultur und Werte in starkem Maße voneinander unterscheiden, und betrachtet die Möglichkeit als realistisch, dass Lebensformen und Werte inkommensurabel sein können. 579 Wenn die Vorstellungen des Guten kulturabhängig sind, können sie als 578
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T. Göller, „Sind Kulturen und kulturelle Realitätssichten inkommensurabel?“, a.a.O., S. 269f. In der praktischen Philosophie wird oft zwischen einen schwachen und einen strengen Begriff der Inkommensurabilität unterschieden. Entscheidend ist dabei die Rolle des Kontextes. Besteht seine Rolle nur darin, die Sprach- und Handlungsbedeutungen zu bestimmen oder generiert er verschiedene Realitäten (‚Welten’)? Der schwache Begriff ist bezogen auf die Tatsache, dass wir dieselben Dinge sehen, obwohl sich die Betrachtungsweisen bzw. Interpretationen wesentlich unterscheiden können. Da die Verschiedenheit hier nicht radikal ist, wird der Vergleich zugelassen: „weak incommensurability is usually expressed in terms of a simple and straightforward priority rule.“ (J. Waldron, „Fake Incommensurability: A Response to Professor Schauer“, in Hastings Law Journal, Bd. 45, 4(1994), S. 816.) Es ist festzustellen, dass der schwache Begriff der Inkommensurabilität kein gravierendes Problem darstellt. Er kann ohne größere Schwierigkeit selbst von einem Wertuniversalist angenommen werden. Denn er stellt die Universalität der Gewichtung der Werte in Frage und nicht die der Werte selbst. (Siehe P. Schaber, „Universale und objektive Werte“, in M. Endreß, B. Roughley, Anthropologie und Moral, Würzburg, 2000, S. 356.) Der starke Begriff impliziert hingegen, dass wir mit ganz verschiedenen Realitäten und Problemen konfrontiert sind, die auch ganz verschiedene Lösungswege erfordern. Es gibt keine universellen Kriterien zur Beurteilung von Handlungen bzw. von Praktiken außerhalb des eigenen Kulturraums. Raz betont in diesem Sinne, dass inkommensurable Werte nicht vergleichbar sind. Inkommensurabilität wird hier für Synonym von Inkomparabilität gehalten: A kann nicht als besser oder schlechter oder noch gleich viel wert wie B betrachtet werden, da die Verschiedenheit radikal ist. In dieser Hinsicht kann man nicht fordern, dass die Entscheidung (choice) für A oder B rational begründet wird. Wo Inkommensurabilität besteht, ist die rationale Begründung untauglich: „the inability of reason to guide our choice“. (J. Raz, The Morality of Freedom. Oxford, 1986, S. 334.) Im Unterschied zu dieser Ansicht schlägt Chang vor, Inkommensurabilität von Inkomparabilität zu unterscheiden. In diesem Sinne lässt er beide Begriffe getrennt behandeln. Er vertritt den schwachen Begriff der Inkommensurabilität. (R. Chang (Hg.), Incommensurability, Incomparability and Practical Reason. London, 1997, S. 2.) In demselben Buch stellt sich auch Sunstein der These Raz´s der Untauglichkeit von rationalen Begründung entgegen. (C.R. Sunstein, „Incommensurability and Kinds of valuation: Some Applications in Law“, S. 240f.) SoS, S. 61.
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wahr in einer Kultur erscheinen und gleichzeitig als falsch in einer anderen, so dass ein Konflikt zwischen den beiden Sichtweisen ausweglos ist. Es ist unmöglich, in einen solchen Konflikt schlichtend einzugreifen. „[T]here is no way of adjudicating the dispute. Each side has to be judged right from its own point of view, but there is no standpoint beyond the two from which the issue could be arbitrated.“580 Allerdings lehnt Taylor es ab, dass man in diese Kulturrelativität fatalistisch betrachtet, indem man in ihr eine grundsätzliche Beschränkung („an in-principle limit“) sieht. Taylor interessiert sich für die Inkommensurabilität, weil er in ihr den Keim dafür angelegt sieht, Theorien zu kritisieren (den Utilitarismus und den Kantianismus), die die Diversität der Vorstellungen des Guten ablehnen und um eine angemessenere Auffassung des „moral reasoning“ zu entwerfen. Denn die aus der Tradition der Aufklärung entstammenden Theorien haben so lange Zeit einen sehr starken Einfluss im philosophischen Denken ausgeübt, weil Wert gelegt wurde auf klare epistemologische Motive (Klarheit und Entscheidbarkeit) und starke moralische Motive (Gerechtigkeit und Wohlwollen). Diese Theorien der Einheitlichkeit („theories of unity“) oder Theorien, die die Einheitlichkeit a priori („a premature unity“) behaupten, reiben sich mit Theorien der Diversität der Vorstellungen des Guten, für die jede Einheitlichkeit willkürlich vorgeschrieben ist. Taylor selbst lehnt es ab, im Einklang mit Kant eine Vorstellung des Guten (oder ein Prinzip) als die Wichtigste zu bezeichnen und ihr alle anderen unterzuordnen. Er weist jeden Versuch zurück, den vielfältigen moralischen Bereich zu homogenisieren. Dadurch will er keineswegs die große Bedeutung z.B. der Gerechtigkeit in Frage stellen, sondern nur betonen, dass und inwiefern es schwierig ist, ihren „systematischen Vorrang“ zu begründen.581 Die Inkommensurabilität interessiert Taylor hier, weil er gegen die Theorien der Einheitlichkeit die Vielfältigkeit des moralischen Bereichs verteidigen will. Angesichts dieser Theorien begutachtet er die kritischen Ansprüche quasi unter Vorbehalt. Man tendiere hier dazu, so Taylor, den Übergangsmomente zu misstrauen und jede Streitfrage durch die Suche nach „Kriterien“ zu lösen, d.h. durch Gesichtspunkte, die außerhalb der Perspektive der Betroffenen und für diese wenig bedeutsam sind.582 Wie kann man von fremden Gesichtspunkten, die die eigene Erfahrung außer Acht lassen, überzeugt werden? Wie soll man akzeptieren, dass die durch die eigenen moralischen Intuitionen definierte Perspektive – d.h. die Perspektive, in der die Dinge einen Sinn haben – modifiziert wird? Für Taylor stellt das „external model“ etwas Inakzeptabeles dar. Er
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Ebenda, S. 67. Ebenda, S. 176. Taylor schätzt Ricoeurs Versuch, unter Berücksichtigung der grundlegenden Intuitionen von Aristoteles den Fokus auf diesen Aspekt in seinem Buch Soi-même comme un autre (Kap. 7 und 9) zu legen. C. Taylor, „Explanation and Practical Reason“, a.a.O. S. 42; auch SoS, S. 73.
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stellt ihm sein ad hominen Modell der praktischen Vernunft entgegen. Dieses Modell fordert, dass wir uns bemühen, die Anderen mit Rücksicht auf ihre moralischen Landkarten zu verstehen. Diese hermeneutische Anstrengung grenzt sich von dem Versuch ab, die Anderen aufgrund der universellen Prinzipien, die mit ihrer Erfahrung wenig zu tun haben, zu beurteilen.583 Festzustellen ist, dass Taylors Begriff der praktischen Vernunft eine Aufgeschlossenheit zeigt und dass er dadurch in seiner Moralphilosophie den Relativismus entgegenarbeitet, dem er selbst in seiner philosophischen Anthropologie Vorschub geleistet hat. Nun stellt sich aber die Frage, ob wir seine Moralphilosophie seinen hermeneutischanthropologischen Überlegungen unterordnen müssen oder umgekehrt. Hartmut Rosas verweißt, auf die bedeutendere Rolle der Anthropologie bei Taylor und damit für das Übergewicht der kulurrelativistischen Tendenz in Bezug auf Werte: „Da Taylor selbst jedoch sein Projekt ausdrücklich als das einer philosophischen Anthropologie versteht und seine Überlegungen zur praktischen Vernunft eher kursorischen und wenig systematischen Charakter haben, ist meines Erachtens der ersteren Variante unbedingt der Vorzug zu geben. Dies aber bedeutet, dass Taylors Position letztlich entgegen seiner erklärten Absicht als kulturrelativistisch [...] zu verstehen ist […].“584
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Taylors vorsichtige Haltung spiegelt sich in seinem Begriff des practical reasoning wider. Unter diesem Begriff wird ein Denken in Übergängen verstanden. Für Taylor zielt ein derartiges Denken nicht darauf ab, dass eine bestimmte Position absolut richtig ist, sondern, dass eine Position eine andere übertrifft. Wir sind überzeugt von der Triftigkeit einer Behauptung im Vergleich zu einer anderen, „sobald wir zeigen können, dass der Schritt von A nach B einen Erkenntnisvorteil erbringt. So verhält es sich z.B., wenn wir zeigen, dass man von A nach B gelangt, indem man einen Widerspruch in A oder eine von A in Anspruch genommene Begriffsverwirrung ausfindig macht und auflöst, indem man die Bedeutung eines von A ausgeblendeten Faktors anerkennt oder sonst etwas dergleichen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Natur des Übergangs von A nach B. Der springende Punkt des rationalen Beweises liegt in dem Nachweis, dass der betreffende Übergang fehlermindernd ist. Ausschlaggebend für die Auseinandersetzung sind konkurrierende Interpretationen möglicher Übergänge von A nach B bzw. von B nach A“ (QS, S. 140). Diese Vorgehensweise unterscheidet sich radikal von der des Ethnozentrismus oder Kulturzentrismus, der dem Anderen die Möglichkeit vorenthält, aus eigenem Erleben von der Notwendigkeit eines Übergangs überzeugt zu sein und einen Erkenntnisvorteil darin zu erblicken. Diese Ansicht steht in Übereinstimmung mit seiner Position über das Handeln-Verstehen: „[D]er subjektive Verstehens- und Erlebnishorizont, aus dem heraus ein menschliches Subjekt seine Umwelt wahrnimmt, [muss] zu einem entscheidenden Element jeder Erklärung seines Handelns werden […]. Soziales Handeln ist ohne Bezugnahme auf das situationsgebundene Selbstverständnis der handelnden Subjekte gar nicht angemessen aufzufassen: der Erklärung einer Handlung muss daher ein hermeneutisches Verstehen der jeder unmittelbaren Beobachtung entzogenen Perspektive des Handelnden unbedingt vorhergehen.“ (C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 269.) H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 506. Zu der Tatsache, dass bei Taylor moralische Landkarten und die jeweiligen partikularen Lebensformen mit ihren Sprachen unauflöslich
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Es stellt sich die Frage, ob Werturteile nur innerhalb einer jeweiligen partikularen Lebensform begründet werden können. Wie in der obigen Erläuterung seiner interpretativen Theorie gezeigt wurde, hütet sich Taylor davor, den Relativismus zu unterstützen. An einigen Stellen jedoch argumentiert er dezidiert „partikularistisch“, wie z.B. in der folgenden Passage, die sich auf die Kontroverse um Salman Rushdies Satanische Verse bezieht: „The problem with this literature, as it has developed in a relatively self-satisfied Western literary world, is that it has lost touch altogether with the possibility that religious symbols, stories, dogmas, might mean something very different to those who espouse them than they do to the rejecters […]. Rushdie’s book is comforting to the western liberal mind, which [confirms] the belief that there is nothing outside their world-view which needs deeper understanding, just a perverse refection of the obviously right.“585 In diesem Aufsatz prangert Taylor die ethnozentristische Ansicht an, die vielen Menschen in den westlichen Gesellschaften daran hindert, die Ereignisse und die Art mit zwischenmenschlichen Konflikten in den nicht-westlichen Gesellschaften anzunehmen. Für jemand, der viel über die Frage nach der Säkularisierung schreibt und auf die Gefahr der Förderung einer linearen Entwicklung der Gesellschaften, ist diese Kritik selbstverständlich und bemerkenswert.586 Wir müssen hier seine Zurückweisung von der akulturalitischen Deutung der Moderne im Blick haben. Aber auch wenn man Taylors Kritik für berechtigt hält, fragt sich, ob es sinnvoll ist, den Pluralismus von Kulturen mit dem Pluralismus von Werten explizit oder implizit gleichzusetzen und somit die interkulturelle Kritik als eine Kritik von einem externen Standpunkt aussehen zu lassen. Es ist richtig, dass eine voreilige, vorurteilbeladene, einseitige Kritik immer zu vermeiden ist. Aber wieso soll man Werte als kulturspezifisch (deskriptiver Sinn von Werten) betrachten und dabei unbeachtet lassen, dass die
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verknüpft sind, sagt Rosa, „[...] the point about the Taylorian-Wittgensteinian understanding of cultures or life-forms is that cultures are holistic in the sense that their horizon of value and meaning is inextricably linked with, and constitued by, the language and the practices of that culture which in turn also define the range and shape of possible experiences, forms of action, and even feelings“. (H. Rosa, „Goods and Life-forms. Relativism in Charles Taylor’s political philosophy“, in Radical Philosophy, May/June 1995, S. 20.) C. Taylor, „The Rushdie Controversy“, in Public Culture, 2, 1989, 1, S. 122. In „Two Theories of Modernity“ schreibt er: „Acultural theories tend to describe the transition in terms of a loss of traditional beliefs and allegiances. This may be seen as coming about as a result of institutional changes: for example, mobility and urbanization erode the beliefs and reference points of static rural society. Or the loss may be supposed to arise from the increasing operation of modern scientific reason. The change may be positively valued - or it may be judged a disaster by those for whom the traditional reference points were valuable and scientific reason too narrow. But all these theories concur in describing the process old views and loyalties are eroded. Old horizons are washed away, in Nietzsche’s image. The sea of faith recedes, following Arnold.“ (The International Scope Review, Bd. 3 (2001), S. 4.)
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starken Wertungen – wie mit Ricoeur schon gesehen – tief, universell und wirkmächtig sind? Kann sich ein Vertreter des moralischen Realismus damit begnügen, von Werten nur im Sinne von Erzeugnissen spezifischer Kulturen oder Bräuche, die je nach dem kulturellen Raum variieren, zu sprechen? Dieser Begriff des spezifischen Wertehorizonts (den die Bürger teilen), ist auch zu erkennen, wenn er behauptet: „Über die Entwicklungen in anderen Ländern, wie in Erdoğans Türkei, kann ich als Kanadier traurig oder verärgert sein. Aber schämen kann ich mich nur für das eigene Land.“587 Auch wenn er an dieser Stelle nicht deutlich von Kritik spricht, muss im Blick bleiben, dass er eine kulturalitische Bestimmung der Moral – wie im Falle von Rushdie Salman – favorisiert. Aber wo fängt das Eigene an und wo das Fremde? Ist die Identität außerdem nicht vielfältig bzw. zeichnet sie sich nur durch eine Zugehörigkeit (wenn auch eine ‚dominierende‘, aber in Bezug auf welches Kriterium?) aus? Im selben Atemzug lässt sich auch fragen, ob Werturteile nur innerhalb einer jeweiligen partikularen Lebensform begründet werden können. Wenn Gefühle mit Urteilen oft verbunden sind, können als Objeke dieser Urteile nur Handlungen innerhalb eines Kulturaumes sein? Sind starke Wertungen kulturvariant (siehe 2.1 und 5.4)? Es ist schwierig dezidiert „partikularistisch“ zu argumentieren, ersetzt man den Namen Erdogan durch den eines mörderischen Diktatoren bzw. verweist man auf Fälle der nackten Grausamkeit oder Barbarei, und behält man die Aussagen von Taylor als Verteidiger des moralischen Realismus und bissiger Kämpfer des Relativismus im Blick. Taylors kommunitaristische Züge konkurrieren hier sowie an anderen Stellen mit seiner Zugehörigkeit zum moralischen Realismus. Es gibt Fälle, die uns erkennen lassen, dass wir uns nicht immer begnügen dürfen, nur „traurig oder verärgert“ zu sein. Sophie Scholls Schicksal und Gedanke (Einleitung im Teil 3) sowie die Kontroverse um die sudanesiche Frau Meriam (Teil 3, These 2) machen diesen Punkt explizit. Mehr noch: Taylor scheint im Fall von Rushdie die Meinungsfreiheit als kulturspezifisch, im vorliegenden Fall, europaspezifisch darzustellen, so dass ihre Ausübung in anderen Kulturräumen potentiell deren jeweilige Identität verletzt. Diese Ansicht beinhaltet, dass die öffentliche Diskussion ein spezifisches Merkmal der westlichen Welt ist und der Wert des Individualismus in nicht-westlichen Gesellschaften sehr viel weniger hochgehalten werde, so dass das Individuum sich seiner selbst nicht hinreichend bewusst und daher nicht fähig ist, seine Präferenzen und eigenen Interessen zu behaupten. Diese Idee ist allerdings fragwürdig. Amartya Sen betrachtet sie zu Recht als einen Ausdruck von Ignoranz und betont: „[D]ie Demokratie in Gestalt öffentlicher Partizipation und Beratung hat in der ganzen Welt eine Vorgeschichte.“588 Amartya Sens Rede von den Wurzeln der Demokratie in der ganzen Welt kann durch die Institution des Palavers (frz. la palabre) illustriert werden. Es geht dabei um eine sittliche Praxis, die das Zusammentreffen zwischen den Mitgliedern der
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Charles Taylor, „In der Zukunft ankern“, Gespräch aus ZEIT, Nr. 27/2016. A. Sen, Identitätsfälle, a.a.O., 67.
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Gesellschaft fördert, eine wichtige soziale Institution, die zur Lösung von Rechtsstreitigkeiten oder Sachstreitigkeiten dient, ohne dass die jeweiligen Protagonisten sich benachteiligt fühlen.589 Dies trägt zum Erhalt sozialer Bindung bei. Es wäre kurzsichtig in dieser sozialen Institution nur eine Förderung der allgemeinen Zustimmung zu sehen, ohne zugleich zu bemerken, dass diese Förderung mit dem Vetorecht, d.h. dem Recht zur Selbstbehauptung für das Individuum zusammengeht. Nelson Mandela sieht im Palaver die „Demokratie in ihrer reinsten Form. Unter den Rednern mag es zwar eine Hierarchie geben, was die Bedeutung der Einzelnen betrifft, doch wurde jeder angehört, ob Häuptling oder einfacher Mann, Krieger oder Medizinmann, Ladenbesitzer oder Farmer, Landbesitzer oder Arbeiter. Die Leute sprachen ohne Unterbrechung, und die Treffen dauern viele Stunden“.590 Diese Praxis erweist sich als eine sehr wichtige und erhaltenswerte soziale Methode zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens. Die Grundlage dieses Modells der Selbstregierung besteht darin, dass Bürger als gleich und mit Meinungsäußerungsfreiheit ausgestattet betrachtet werden.591 Mit diesen Bemerkungen wird klar, dass die Demokratie im Sinne von politischer Partizipation, öffentlichen Diskussion bzw. argumentativen Suche nach dem Konsens nicht europaspezifisch ist. Wenn das so ist, dann verlieren einige Grundannahmen Taylors in der Debatte um Salman Rushdies Satanische Verse an Relevanz. Immer wieder sind wir mit der Ambivalenz bei Taylor konfrontiert. Smith hat diese Ambivalenz folgendermaßen erklärt: Taylors Projekt umfasst zwei Aufgaben. Die erste basiert auf dem Argument, dass Bedeutungen (meanings) eine unabdingbare Rolle in der menschlichen Wahrnehmung und Handlung, also in der Politik und in der Moral haben. Die zweite bezieht sich auf das Argument, dass die Weise, in der Bedeutungen entstehen, historisch bedingt und dadurch historisch variabel ist.592 In diesem Zusammenhang zeigt sich bei Taylor eine kulturelle Bestimmung der Moral, die eine Spannung in Taylors Denken generiert. Daher behauptet Hartmut Rosa: „In Charles Taylors Philosophie werden in einer eigentümlich paradoxen Bewegung Status und Funktion von Werten und Konzeptionen des Guten zugleich aufgewertet, indem ihnen ein unhintergehbarer, wirklichlichkeitskonstituierender Charakter in
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Siehe J-G. Bidima, La palabre, une juridiction de la parole. Paris, 1997, S. 59f. N. Mandela, Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie. Frankfurt/M., 1994, S. 35. Diese große Versammlung findet regelmäßig im Großen Platz und oft um einen großen Baum. Der Begriff Palaverbaum (arbre à palabres) bezeichnet also den Ort, an dem es über das soziale Leben, politische Probleme, usw. diskutiert wird und auch den Jugendlichen Geschichten, Mythen, Fabeln von Alten erzählt werden. Diese Erzählungen, die über unzählige Generationen übermittelt sind, enthalten Spiritualität, Moral und bilden die Jugendlichen aus sowie regen ihre Phantasie an. Diese demokratische Institution weißt allerdings – wie alle anderen in der Geschichte (z.B. in den griechischen Stadtstaaten und in der römischen Republik) – unter einem anderen Gesichtspunkt Unvollkommenheiten auf. N. H. Smith, Charles Taylor. Meaning, Morals and Modernity. Cambridge, 2002, S. 7.
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Bezug auf individuelle und kollektive Identität und die Welt des Sozialen schlechthin zugesprochen wird, und abgewertet, indem er sie in ihrer konstitutiven Verwobenheit mit kulturellen Lebensformen radikal relativiert, historisiert und kontextualisiert. Diese zwei Seiten des Taylorschen Denkens finden ihren Ausdruck in den beiden tragenden Grundpfeilern seiner philosophischen Anthropologie, der Idee starker Wertungen einerseits und der Vorstellung radikaler Selbstinterpretation anderseits.“593 Anzumerken mit Rosa ist, dass Taylor in dieser gewichtigen Rolle des Bedeutungshorizonts einen Grund für die Zurückweisung der ‚akulturalistischen’ Deutung der Moderne findet. Dieser Deutung zufolge bezeichnet die Moderne der Triumph über die traditionellen Lebensformen usw. Ihr stellt Taylor eine ‚kulturalistische’ Deutung entgegen, die durch die Betonung, dass die moderne Identität als Kristallisierung der spezifisch, historisch entstandene Selbstinterpretationen ist, eine anti-universalistische Perspektive eröffnet. Taylor bemüht sich hier zu zeigen, dass die Behauptung des Vorrangs des Individuums kein Ergebnis eines ‚natürlichen’ Prozesses ist, sondern eine tief in die modernen (westlichen) Gesellschhaften verankerte Idee ist. „Our essential identity was as father, son, and so, an das member of this tribe. Only later did we come to conceive of ourselves as free individuals first. This was not just a revolution in our neutral view of ourselves, but involved a profound change in our moral world, as is always the case with identity shifts.“594 Allerdings gibt es eine große Schwierigkeit, Taylors philosophische Anthropologie und sein Verständnis der praktischen Vernunft auf einen Nenner zu bringen. Angesichts dieser Schwierigkeit stellt Rosa den kulturalistischen Charakter von Taylors Position als unüberwundenes Problem an: “[.F]or many commentators the ideas of Rorty or Foucault are plainly historicist and relativist. However, virtually no author, not even someone like Peter Winch, would openly accept for him – or herself the label of relativism. They all shy away from this term as if it referred to something like rabies. By contrast, Charles Taylor, on whom this paper will focus, considers himself as an outright anti-relativist, and he directs quite a substantial amount of his thinking and writing towards refuting what he calls (relativist) Neo-Nietzschean thinking, particularly of the Foucauldian brand. I want to argue in this paper that, contrary to 593
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H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 552. Anzumerken mit Rosa ist, dass Taylor in dieser gewichtigen Rolle des Bedeutungshorizonts einen Grund für die Zurückweisung der ‚akulturalistischen’ Deutung der Moderne findet. Dieser Deutung zufolge bezeichnet die Moderne der Triumph über die traditionellen Lebensformen usw. Ihr stellt Taylor eine ‚kulturalistische’ Deutung entgegen, die durch die Betonung, dass die moderne Identität als Kristallisierung der spezifisch, historisch entstandene Selbstinterpretationen ist, eine anti-universalistische Perspektive eröffnet. (S. 20f.) C. Taylor, Modern Social Imaginaries, a.a.O., S. 64f. Siehe auch H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 20f.
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Taylor’s intentions, and apparently quite unnoticed by him, his philosophy entails consequences that reintroduce the problem of relativism more radically and pressingly than do most of the other contemporary theories. In opposition to an argument made recently by James Bohman, according to which Taylor has moved over time from an early, more relativist position to a more value-objective or realist position in his recent writings, I will argue here that Taylor has not really changed his view over time (except perhaps for some change in emphasis). The crucial point is rather an inconsistency between Taylor’s fundamental project of a philosophical anthropology - which in a broader sense includes his methodological writings - and his conception of practical reason.“ 595 Auch Levy sieht Spannnungen in Taylors Position und zeigt sich skeptisch, dass Taylor den Relativismus endgültig überwinden kann: „As he recognizes, Taylor’s view of practical reasoning commits him to the existence of incommensurable world-views. However, he holds that it is in principle possible to overcome these incommensurabilities. He has two major arguments for this conclusion, which I label the argument from the human condition, and the transition argument. I show that the first argument, though perhaps successful in the case Taylor takes as an example, cannot be generalized. The second argument is even less successful, since all the evidence it produces is compatible with a thoroughgoing relativism. I point out, moreover, that even if Taylor’s arguments were successful, they would not demonstrate that someone who chose to continue to reject the practice that had been vindicated would be irrational to do so. I conclude that there seems no way to circumvent the relativism to which Taylor’s picture of practical reasoning leads.“596
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H. Rosa, „Goods and Life-forms. Relativism in Charles Taylor’s political philosophy“, a.a.O., S. 20. Rosa fügt dazu hinzu: „Given Charles Taylor’s stern anti-relativist rhetoric and his recurrent and at times relentless condemnation of (Neo-) Nietzschean perspectivism, particularly as it figures in Michael Foucault´s thought and in French Post-Structuralism in general, it might seem very surprising to argue that his own philosophy leads straight into cultural relativism. However, this is the natural consequence of Taylor´s starting point, namely, that human beings are fundamentally ‚selfinterpreting animals’. That is what is contained in the slogan that human beings are self-interpretating animals: there is no such thing as what they are, independently of how they understand themselves. To use Herbert Dreyfus´s evocative terms, they are interpretation all the way down. Taylor takes this to imply that all human and social goods, ideas and, to some extent, even feelings are socially constructed and shaped, and dependent on a particular form of life and language. Thus, personal identities and social realities always are what they are in virtue of prevailing self-understandings. There is, in other words, no social world that stands beyond or independent of people´s beliefs about it“ (H. Rosa, „Cultural Relativism and Social Criticism from a Taylorian Perspective“, in Constellations, Bd. 3, 1(1996), S. 40.) N. Levy, „Charles Taylor on overcoming incommensurability“, a.a.O., S. 47.
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Wie stark ist die Verknüpfung zwischen dem Interpretationskontext und den moralischen Werten?597 An diesem Punkt hat Taylor Schwierigkeiten, eine relativistische Einstellung zu vermeiden. Er stellt sich zwar selbst als Gegner des Relativismus dar598, aber sein Projekt der philosophischen Anthropologie bringt ihn nahe an diesen heran und generiert eine kulturalistische Bestimmung der Moral. Einerseits wirft Taylor dem moralischen Subjektivismus vor, die moralischen Werte abhängig vom Einzelnen zu machen, anderseits lässt er selbst die Werte von kulturellen Gemeinschaften abhängen. Hier werden moralische Werte als historisch-gemeinschaftlich bzw. kulturspezifisch dargestellt. Daher nennt M. Maesschalck diese Ansicht in seinem Buch Normes et contextes „Kommunitarismus von Werten“. Da Werte Grundprädikate sind, die in moralischen Urteilen verwendet werden, wollen wir im nächsten Schritt zunächst eine kurze Analyse des Wertbegriffs durchführen. Dies soll verdeutlichen, welche Werte in unseren Überlegungen in Betracht kommen.
5.3 Werte: Methodologischer Zugang – Deskriptiver und normativer Sinn von Werten – Einige Positionen zur normativen Relevanz der Wertstandards Es ist bekannt, dass der Wertbegriff ursprünglich kein philosophischer Begriff war. Seine Aufnahme in die philosophische Terminologie ist die Leistung von Rudolf Hermann Lotze im 19. Jahrhundert. Er entlehnte ihn dem ökonomischen Bereich, wo er den Tauschwert von Dingen bezeichnete. Seinen großen Auftritt hatte der Wertbegriff aber bei Nietzsche, der die „Umwertung aller Werte“ zum zentralen Begriff und einprägsamen Schlachtruf seiner Moralkritik machte.599 Unser Ziel ist es zu erläutern, wie der Wertbegriff als Grundprädikat der moralischen Beurteilung theoretisiert wurde und auf den lexikographischen600 Kontext zurückgewirkt hat.
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Bell bemerkt: „Alasdair MacIntyre and Charles Taylor argued that moral and political judgment will depend on the language of reasons and the interpretive framework within which agents view their world, hence that it makes no sense to begin the political enterprise by abstracting from the interpretive dimensions of human beliefs, practices and institutions.“ (D. Bell, „Communitarian Philosophy and East Asian Politics“, a.a.O., S. 26.). Siehe auch R. Beiner, „Générosité herméneutique et critique sociale“, a.a.O., S. 143. Dies zeigt sich sowohl in seinem Gebrauch des Gadamerschen Begriffs der „Horizontsverschmelzung“ für das kulturelle Verstehen und seinem Kampf gegen den Subjektivismus in der Moral als auch in seiner Verteidigung des moralischen Realismus (siehe den nächsten Abschnitt). G. Schweppenhäuser, Grundbegriffe der Ethik. Zur Einführung. Hamburg, 2003. S. 9. Die Lexikographie beschäftigt sich mit den in Wörterbüchern vorgestellten Bedeutungen; die philosophische Semantik mit den Bedeutungen, wie sie durch philosophische Theoretisierungen entwickelt wurden. Die Theoretisierungen bereichern den lexikographischen Kontext (und umgekehrt) wodurch diese beiden Ebenen miteinander verbunden bleiben. Wir entleihen diese Unterscheidung von Ricoeur, der sie bei der Erläuterung des Anerkennungsbegriffs verwendet.
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Der philosophische Kontext strebt nicht nach einer Vervollkommnung des Lexikons, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass neue Probleme aufgeworfen werden, wie sie im alltäglichen Hantieren mit Begriffen nicht auftauchen. „Aus der Vervollkommnung des Lexikons, das sich der Beschreibung der geläufigen Sprache in ihrem üblichen Gebrauch widmet, geht keine Philosophie hervor. Philosophie geht aus dem Auftauchen im strengen Sinn philosophischer Probleme hervor, was etwas ganz anderes ist als die Regulierung der üblichen Sprache schlicht durch ihren Gebrauch. Man denke etwa an Sokrates, der seinen Mitbürgern Fragen zuruft wie: Was ist...? Was ist Tugend, Mut, Ehrfurcht? Ganz und gar abgekoppelt vom üblichen Gebrauch sind die großen Fragen wie: Was ist ein Objekt, ein Subjekt? Was ist das Apriori? Was ist Denken? Die Geschichte, wie man auf solche Fragen gekommen ist, lässt sich nicht der Geschichte der Mentalitäten, der Vorstellungen, nicht einmal der der Ideen zuordnen. Es ist eine philosophische Geschichte philosophischen Fragens. Daraus folgt, dass der Unterschied zwischen den gebräuchlichen Bedeutungen der Vokabeln einer natürlichen Sprache und den Bedeutungen, die die philosophische Fragestellung in ihr hervorbringt, selbst ein philosophisches Problem ist. Das Auftauchen eines Problems als Denkereignis bleibt, wie auch immer, unvorhersehbar.“601 Ein flüchtiger Überblick zeigt, dass der Wertbegriff nicht so alt ist wie der des Guten. Während der letztere zu den wichtigsten Begriffen der antiken Philosophie (z.B. bei Platon und Aristoteles) zählt, tritt der Wertbegriff als philosophischer erst im Laufe des 19. Jh. auf. Durch den Ansatz der materialen Wertethik von Max Scheler am Anfang des 20. Jahrhundert steigt er zu einem bedeutsamen philosophischen Begriff auf.602 Auch hier ist zu beachten, dass der Wertbegriff vieldeutig ist. Während er sich in der Alltagssprache zu einen „undifferenzierten
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(Siehe die Einleitung in P. Ricoeur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Frankfurt/M, 2006, S. 29f.) Vom Standpunkt der Lexikographie aus gesehen ist es wichtig, das, was Ricoeur die „Mutter-Ideen“ eines Begriffs nennt, zuzuordnen. (S. 31.) Im Fall des Wertbegriffs lassen sich folgende „Mutter-Ideen“ herausstellen: Der Wert ist ein undifferenzierter Sammelbegriff der Tugenden (worin eine Person verehrungswürdig oder hoch geachtet ist), der Ideale (z.B. die sozialen Werten), der Prinzipien, Regeln (zur Bezeichnung z.B. der Qualität eines Guten, eines Dienstes), Institutionen (wie etwa die Ehe oder den Rechtsstaat). Hinzu kommen noch weitere Unterteilungen, die Bochenski innerhalb der Kategorie von immateriellen Werten, d.h. Werte, die man durch sein Verhalten verwirklichen kann, vorgenommen hat: „die moralischen, die ästhetischen und die religiösen Werte“ (J. M. Bochenski, Wege zum philosophischen Denken. Freiburg i. Br., 1972, S. 73f.) P. Ricoeur, Wege der Anerkennung, a.a.O., S. 36f. Siehe U. Kruse-Ebeling, Liebe und Ethik. Göttingen, 2009, S. 196f.
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Sammelbegriff“ für Prinzipien, Regeln, Institutionen usw. entwickelt hat, wird er in der Philosophie in einem engen Sinn und als Gegensatz zu deontischen Begriffen (‚richtig’, ‚sollen’) verstanden. Überdies hat er in vielen Theorien nicht dieselbe Bedeutung.603 Besonders einflussreich ist die Unterscheidung zwischen Werten und Normen, wie sie z.B. in Habermas’ Moralphilosophie entwickelt wird. Darum soll sie hier näher betrachtet und kritisiert werden. Habermas trifft diese Unterscheidung in seiner Diskursethik.604 Für ihn ist sie von großer Wichtigkeit, will man die universalistische Auffassung von Moral nicht gefährden.605 Ihm zufolge beziehen sich Werte auf den „teleologischen“ Aspekt des Handelns und Normen auf seinen „obligatorischen“ Aspekt; Werte verweisen auf „Partikularität“ (sie sind also gemeinschaftlich) und Normen auf „Universalität“ (sie sind unabhängig von einer bestimmten Kultur); Werte betreffen das „Telos des je eigenen Lebens“, Normen dagegen die „Regelung interpersonaler Beziehungen“. Vor diesem Hintergrund sind Werte „kulturelle Werte“ und von daher nicht allgemeingültig und verbindlich (z.B. Keuschheit, Heiratszeremonien). Ihre Geltung ist bloß partikular. Normen hingegen haben eine universelle Gültigkeit (z.B. das Verbot von Grausamkeit)606. Allerdings wird diese Unterscheidung (insbesondere in Form der beiden zuletzt genannten Begriffsbestimmungen) von Hans Joas infrage gestellt: „Habermas fällt der sprachlichen Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ‚für mich’ oder ‚für uns’ zum Opfer. Die Ethik bezeichnet nicht, was ‚für mich’ im Sinne meines Glücks gut ist, sondern was ‚für mich’ im Sinne meiner ehrlichen Einsicht in das Gute, meines Ergriffenseins von Werten gut ist. Die beiden Bedeutungen haben nur den Klang gemeinsam. In einem Fall bin ich selbst, sind mein Glück und Wohlergehen der Maßstab meines Urteils; im anderen Fall bin ich mir nur der Tatsache bewusst, dass ich im Urteil selber der Urteilende bin – der Maßstab aber liegt außerhalb meiner. Zu behaupten, dass alle Ethiken immer nur das Glück der Mitglieder der eigenen Kultur oder Glaubensgemeinschaft im Auge hätten, ist – wie Richard Bernstein gegen Habermas in ungewohnter Schärfe formuliert hat – ‚a violently distortive fiction’ […].607 Sie tut allen universalistischen ethischen Traditionen (wie
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N. Anwander, „Wert(e)“, in St. Gosepath et. al., (Hg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin/New York, 2008, S. 1473. Siehe J. Habermas., „Werte und Normen. Ein Kommentar zu Hilary Putnams Kantischem Pragmatismus“, in M.-L. Raters, M. Willaschek (Hg.), Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt/M., 2002, S. 280 –305. Siehe auch im selben Buch H. Joas, „Werte versus Normen. Das Problem der moralischen Objektivität bei Putnam, Habermas und den klassischen Pragmatisten“, S. 273f.; siehe auch J. Habermas, Faktizität und Geltung. Frankfurt/M., 1992, S. 309-311. Ebenda, S. 299. Ebenda, S. 296. Zitat aus R. Bernstein, „The Retrieval of The Democratic Ethos“, in Cardozo Law Review 17, S. 1127-1146.
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der christlichen), ja selbst dem in jedem kulturellen Ethos angelegten Vorrat an Gerechtigkeitsidealen und Wertvorstellungen über den Umgang mit den Fremden Unrecht. Dasselbe gilt für die dritte Dimension der Unterscheidung. Es trifft einfach nicht zu, dass Ethiken sich nicht wesentlich auf die Gestaltung der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen richteten und dass universalistische Ethiken uns nicht zum Bruch mit egozentrischen Sichtweisen motivierten.“608 An der hier kritisierten Ansicht von Habermas, Ethiken hätten immer nur das Glück der Mitglieder der eigenen Kultur oder Glaubensgemeinschaft vor Augen, möchte ich mich kurz aufhalten. Es scheint sich um eine überzogene Restriktion der Ethik zu handeln. Wenn Bernstein dies mit Vehemenz als eine „violently distorsive fiction“ bezeichnet, hält er die Gegenüberstellung der universellen Moral (bzw. universeller Regelungen) und der Ethik (bzw. des Glücksverlangens) für fragwürdig und stellt die damit verbundene Abwertung der „lebensweltlichen Möglichkeiten“ in Frage. Reagierend auf diese fragwürdige Gegenüberstellung hat Joas in dem Zitat oben Recht zu betonen, dass das Glückverlangen in der Ethik nicht bedeutet, dass „mein Glück und Wohlergehen der Maßstab meines Urteils“ sind, sondern, dass ich als Urteilender „nach ehrlicher Einsicht in das Gute“ handele. Ich bin der Urteilende, aber nicht der Maßstab des Urteils. Uns begegnet hier eine wichtige Unterscheidung, die Waldenfels im Rahmen der Kritik am Cogito formuliert: „Wenn ‚der Mensch’ (eine Abstraktion!) das Maß der Dinge ist, so ist er eben nicht Herr über die Richtigkeit der Maßanwendung. Wenn ich nach einem Maßsystem messe, so kann ich den Zahlenwert nicht mehr beliebig verändern – oder ich messe nicht mehr, sondern phantasiere. [...] Um es sehr simpel zu sagen: es liegt an mir, ob ich messe; es liegt nicht an mir, wie lang etwas ist.“609 Wird diese Erläuterung in unserer vorliegenden Diskussion zum Tragen gebracht, dann lässt sich sagen, dass sich Habermas bei der Vorstellung der Ethik als Bereich der nichtuniversellen Ansprüche täuscht. Da Habermas die Moral eng mit universalen Normen verbindet und dabei den Schwerpunkt auf den Aspekt einer Begründung von Handlungen legt, wirft Waldenfels die Frage auf, ob moralisch handeln sich etwa darin erschöpft, „das universale Gesetz [zu] erfüllen“. Seine Zweifel gründen darin, dass Habermas’ Trennung von Moral und Sittlichkeit bzw. gerechter Handlung und richtigem, gelungenem Leben „der Moral ihren Appeal nimmt“. Zur Illustrierung zieht er das Beispiel von Handlungen des Rechtsverzichts heran: „Wir sind geneigt, bestimmten Opferhandlungen ein Höchstmaß an Moralität (Kants Heiligkeit) zuzuerkennen, obwohl sie nicht einem universalen Moralprinzip gehorchen. Es gibt keine Gebote, die befehlen, etwas zu verschenken, etwas für einen anderen zu tun, nachzugeben, zu verleihen, sich zu opfern, bestimmten Menschen zu helfen usw. Hier gibt es höchsten ein Anraten, Empfehlen. Dieser Überschuss an Sittlichkeit lässt
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H. Joas, „Werte versus Normen“, a.a.O., S. 274f. B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch, a.a.O., S. 38.
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sich nicht würdigen, wenn man auf universale Normierung ausgeht, er lässt sich höchstens konstatieren.“610 Habermas verarmt mit seiner künstlichen und strikten Scheidelinie zwischen Ethik und Moral also die Ethik. Aus dem Vorausgehenden ergibt sich, dass man Werte und Normen nicht strikt trennen kann. Das Universalisierungspotential der Normen und das motivierende Potential der Werte interagieren nach Joas. „Offene Fragen gibt es gewiss hinsichtlich der Herkunft der Geltungsansprüche, der Motivation zum Diskurs und der Bindungswirkung des Konsenses. Alle diese Fragen verweisen auf das Thema der Werte. Im Diskurs wird geprüft, wozu sich Personen evaluativ hingezogen fühlen; sie können sich ohne Wertbindung nicht zur Teilnahme am Diskurs und zur Einhaltung seiner Regeln motiviert fühlen; und sie fühlen sich nur dann an das Resultat des Diskurses gebunden, wenn dies aus ihrer Wertbindungen folgt oder die Erfahrung der Teilnahme selbst Wertbindung entstehen lässt. In allen drei Fragen berühren sich deshalb die Diskursethik und die Theorie der Entstehung der Werte. Bei Habermas selbst kommt es aber zu keiner fruchtbaren Berührung, weil er die Unterscheidung von Diskurstypen so anlegt, dass diese Berührung verhindert wird. Insbesondere die Art und Weise, wie Habermas zwischen dem Ethischen und dem Moralischen, dem Guten und dem Rechten, den Werten und Normen unterscheidet, ist zutiefst problematisch. […].“ 611 Im Hinblick auf solche strikten Unterscheidungen hat es – wie schon erwähnt – Schnädelbach für unverständlich gehalten, dass man zugleich die Sprechakttheorie annehmen und in der Normenbegründung einen reinen Kognitivismus verfechten kann. Für Joas entspringen sich Habermas’ strikte Unterscheidungen einer Verwechslung, die durch eine versöhnliche Ansicht überwunden werden muss: „Ich behaupte also, dass Habermas in der Entwicklung seiner Diskursethik und insbesondere immer dann, wenn er sich mit der Frage des Primats des Rechten oder des Guten beschäftigt, die Unterscheidung obligatorisch/teleologisch mit der von Universalismus und Partikularismus sowie der von Egozentrik und Altruismus konfundiert. Es handelt sich bei diesen Unterscheidungen überhaupt nicht um verschiedene Unterscheidungen, die gegeneinander großenteils variabel sind. Ein universalistisches Wertsystem ist logisch möglich und empirisch wirklich.“612 All dies verdeutlicht, dass wir die universalistische Perspektive verteidigen können, ohne dem Formalismus der universalen Moral von Habermas zuzustimmen. Der Normbegriff soll nicht als Gegensatz oder getrennt vom Wertbegriff betrachtet werden. Das Vorausgehende hat gezeigt, dass sich die philosophische Bedeutung des Wertbegriffs unterscheidet, je nach der Theorie, auf die man sich bezieht. Im Hinblick darauf wollen wir 610
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Ebenda, S. 60. Aus Waldenfels’ Sicht besteht also bei Habermas eine Spannung zwischen „Reichtum und Fülle der Erfahrung“ und „Strenge der Ordnungen und Regelungen“. H. Joas, „Werte versus Normen“, a.a.O., S. 273. Ebenda, S. 275.
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nun zwei Verwendungsweisen des Wertbegriffs erklären, die den philosophischen Kontext des Begriffs charakterisieren und in unserer Diskussion eine große Rolle spielen. In deskriptiven Sinn wird der Wertbegriff gebraucht, um verschiedene individualpsychologische und soziologische Sachverhalte zu erfassen. Der Wertbegriff bezeichnet hier die Vorstellungen, die Individuen oder Gruppen in ihren Urteilen und Handeln leiten. Clyde Kluckhohn hat ihn so definiert: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable, which influences the selection from available modes, means and ends of action.“613 Diese in den klassischen Human- und Sozialwissenschaften, der Politik sowie in der Alltagssprache klassisch gewordene soziologische Definition von Wert grenzt sich – wie Joas zeigt – von zwei Begriffen ab614: a. von anderen subjektiven Einstellungen wie Wünschen: Werte sind Standards, auf einer höheren Ebene. Wir berufen uns auf sie, um unsere Wünsche zu beurteilen bzw. zurückzudrängen. Sie stellen eine Grundlage für unser Verhalten und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen dar. b. vom Begriff der Normen: Während Normen von externen Instanzen auferlegt und mittels Sanktionen stabilisiert werden, also restriktiv sind, beziehen sich Werte eher auf emotional geladene Vorstellungen. Diese sind attraktiv und wichtig für die Subjekte. Sie werden als Ideale betrachtet, an denen sich Individuen oder Kollektive faktisch orientieren; sie sind mit dem Gefühl einer starken Bindung verknüpft. Aus diesem Grund hatte Taylor, wie im zweiten Teil erläutert, Werte als einen entscheidenden Teil der Identität von Personen bzw. Gruppen dargestellt. Sie haben also eine konstitutive Bedeutung. Mit Anwander kann festgestellt werden, dass das Interesse der Sozialwissenschaften am Wertbegriff aus dem Bedürfnis entstand, die Diskussion und Beantwortung von Sinnfragen zu rehabilitieren, nachdem sie von der positivistischen Bewegung disqualifiziert worden waren. Die Kulturwissenschaften haben den Wertbegriff, aufgefasst als „die für eine Kultur jeweils prägenden Ideale und Zielsetzungen, die historischem Wandel unterworfen sind oder sich gar […], gezielt verändern lassen“,615 zu einer wichtigen Kategorie des Verstehens
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C. Kluckhohn, „Values and Value-Orientations in the Theory of Action“, in T. Parsons et al. (Hg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge/MA, Harvard University Press, 1951, S. 394f. Wir beziehen uns hier auf N. Anwander, „Wert(e)“, a.a.O., S. 1474.; H. Joas, „Werte versus Normen“, a.a.O., S. 264f.; ders., „Wie entstehen Werte? Wertebildung und Wertevermittlung in pluralistischen Gesellschaften“, Vortrag gehalten bei der Konferenz Gute Werte, schlechte Werte – gesellschaftliche Ethik und die Rolle der Medien, TV Impuls am 15. September 2006, online zugänglich unter: http://fsf.de/veranstaltungen/veranstaltungsarchiv/werte/, abgerufen am 20. Juni 2012 N. Anwander, „Wert(e)“, a.a.O., S. 1474.
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gemacht. Die Rede von ‚unseren Werten’ oder ‚Werten der Kultur x’ muss in diesem Zusammenhang angesiedelt werden. Aber von diesem Standpunkt aus können wir die Möglichkeit und die Relevanz einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung nicht begründen. Einen aussichtsreicheren Weg dafür eröffnet der normative Wertbegriff. In normativen Sinn bezeichnet der Wertbegriff nach einer Definition von Anwander: „jene Gesichtspunkte, die das Urteilen und Handeln leiten sollen. Dem Anspruch nach besteht diese Geltung unabhängig davon, woran sich Individuen oder Kollektive faktisch orientieren […]. Bezüglich des normativen Wertbegriffs ergibt es (im Gegensatz zur Verwendung im Sinne von Wertbindungen) keinen Sinn, von ‚meinen persönlichen Werten’ oder von ‚christlichen Werten’ zu sprechen (genauso wie etwas zwar ‚meine Überzeugung’, aber eben nicht ‚meine Tatsache’ sein kann“616 Mit dieser Erläuterung wird ersichtlich, dass die Rede von kulturellen Werten im Sinne von Werten, die einer Kultur eigen sind, zu der deskriptiven Verwendung des Wertbegriffs gehört statt zu seiner normativen Verwendung. Es ist wichtig, diesen Punkt deutlich herauszustellen, um den Weg zur Verteidigung der Möglichkeit einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung zu ebnen. Denn in dieser Beurteilung berufen wir uns auf universelle moralische Werte bzw. universelle relevante Standards. Kurzum, in der normativen Anwendung des Wertbegriffs handelt es sich nicht mehr um Werte im Sinne von Werten, die einer Gruppe spezifisch sind: „Wenn wir den Wert von personaler Autonomie und Freundschaft erwägen oder über den Wert von Solidarität und Gerechtigkeit diskutieren, interessieren wir uns nicht primär für unsere oder anderer Leute Wertbindungen, sondern unmittelbar dafür, was ein Leben bzw. eine Gesellschaft gut macht. Wir wollen z.B. wissen, ob es richtig ist, nach Autonomie zu streben und wie viel Gewicht wir ihr in unserem Leben geben sollen. Zudem betrachten wir faktische Wertbindungen von Individuen und Gruppen als legitimen Gegenstand normativer Beurteilung.“617 Das normative Verständnis von Werten setzt voraus, dass es Maßstäbe gibt, die von den für Subjekte oder Kollektive leitenden Wertbindungen unabhängig sind und die Grundlage für deren Evaluation liefern. Es ist das Verständnis des Wertbegriffs, dass wir z.B. in der axiologischen Wertlehre von Max Scheler finden, demzufolge Werte „ebenso wie die unveränderliche Rangordnung, in der sie stehen, nicht von uns geschaffen, sondern vielmehr entdeckt [werden]. Differenzen im Ethos sind damit zu erklären, dass verschiedene Individuen und Kulturen in unterschiedlicher Weise Zugang zu diesen Werten haben“.618
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Ebenda, S. 1472f. Ebenda, S. 1473. Ebenda, S. 1474.
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Als moralischer Realist lehnt auch Taylor es vehement ab, Werte als von Präferenzen abhängige Tatsachen darzustellen. Taylor wie Scheler halten Werte in dem Sinne für objektive Tatsache, als sie eng mit unserem Wesen verbunden und dennoch unabhängig von unseren eigenen Wünschen und Neigungen sind. Unsere Einstellungen sind für sie nicht konstitutiv.619 Werte werden, mit Gagnon gesprochen, durch interessentragende Handelnde realisiert; aber ihre moralische Kraft transzendiert die Ich-Ebene dadurch, dass sie sich auf Existenzdimensionen beruft, die keinesfalls einfach mit der subjektiven Dimension (den Einstellungen) des Handelnden gleichzusetzen sind. 620 Diese Anmerkung über die Frage nach der Subjektbezogenheit von Werten ist wichtig, will man nicht allen moralischen Realisten vorschnell einen starken Realismus unterschieben. „Die Grundthese des Realismus besagt, das Bestehen von Wertsachverhalten hänge nicht von individuellen Präferenzen ab. Das besagt nicht, Wertverhalte bestünde völlig unabhängig davon, ob es überhaupt Subjekte mit Präferenzen gibt. Diese These würde vielmehr einen starken Realismus charakterisieren, der wenig plausibel wäre. Es geht vielmehr um einen Realismus, für den zwar Werttatsachen in einen Zusammenhang mit erkennenden, interessierten, aktiv Ziele anstrebenden Subjekte gehören, der aber darauf insistiert, dass Wertsachverhalte unabhängig von den tatsächlichen Interessen der Menschen bestehen. Aristoteles ist in diesem Sinne also Realist anzusehen, nicht als Subjektivist, denn er behauptet gerade nicht, dass die tatsächlichen Interessen der Menschen bestimmen, was gut und schön ist.“621 Für Kutschera sind Werttatsachen mit Menschen verbunden. Es gibt sie nur für „erkennende, interessierte, aktiv Ziele anstrebenden Subjekte“; dennoch sind sie unabhängig von den tatsächlichen Interessen der Menschen.622 All dies besagt, dass die Welt der Werte mit dem, was uns angeht und uns bewegt, zu tun hat. Kutscheras Ansicht, dass der starke Realismus dies gerade nicht annimmt, wird verständlich, wenn man den starken Realismus mit der Kernthese verbindet: „Es gibt evaluative Entitäten, die unabhängig von der Existenz von Subjektivität existieren und ethische Ansprüche begründen.“623 Aber sie trifft nicht einen starken Realist wie Christoph
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Scheler und Taylor haben auch die Idee gemein, die Moral beziehe sich vor allem auf Gefühle (Liebe, Scham, Empörung usw.), die auf Werte hinweisen. Taylor behauptet: „A good test for whether an evaluation is ‚strong’ in my sense is whether it can be the basis for attitudes of admiration and contempt.“ (SoS, S. 523). Siehe auch H. Joas, Die Entstehung der Werte, a.a.O., S. 208. B. Gagnon, La philosophie morale et politique de Charles Taylor, a.a.O., S. 13. F. v. Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a.O., S. 302. Aristoteles wird hier als Realist im oben definierten Sinne aufgefasst, weil er das Gute als das darstellt, wonach alle streben. Es lässt sich nicht mit dem identifizieren, „worauf sich dessen Interesse gerade richten, sondern mit dem, was für den Menschen wahrhaft gut ist, was ihm auf längere Sicht nützt und was ihn auch nicht enttäuscht, wenn er es erreicht“. (Ebenda) Ebenda, S. 301. M. Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, a.a.O., S. 93.
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Halbig, der die zentrale Bedeutung der Subjektivität für eine Theorie der Moral keineswegs bestreitet; was bestritten wird „ist lediglich, dass subjektive Leistungen vollständig oder partiell konstitutiv für die moralischen Eigenschaften selbst sind. […] Moralische Tatsache stehen – in der Terminologie Svavarsdóttirs – in existentieller Abhängigkeit von Subjekten in dem Sinne, dass es sie nicht geben würde, gäbe es keine Subjekte. […] Nun impliziert diese existentielle Abhängigkeit aber nicht, dass die genannten Entitäten von den Einstellungen, die Subjekte zu ihnen einnehmen, abhängig wären. Das Problem der existentiellen Abhängigkeit und das der ontologischen Abhängigkeit von subjektiven Einstellungen stehen quer zueinander“. 624 Für Halbig muss die Rolle von Subjektivität in drei wichtigen Hinsichten berücksichtigt werden625: – „Subjekte bzw. deren Handlungen [bilden] den Gegenstand unserer moralischen Wertungen“: Es kann keine moralischen Tatsachen in einer Welt ohne Subjekte geben, weil nur Personen und nicht z.B. Steine moralisch bewertet werden; – „Eigenschaften von Subjekten zählen zu den Entitäten, die moralische Urteile wahr machen“, z.B. ist Grausamkeit eine Charaktereigenschaft, die eine Handlung falsch macht; – Moralische Begriffe sind an eine spezifisch menschliche Perspektive gebunden, „nämlich die Perspektive von Wesen mit bestimmten Bedürfnissen, Zielen usf.“. Damit wird verständlich, dass diese Begriffe „anthropozentrisch“ sind: Ich verstehe die Schmerzen der Anderen, weil ich selber ein schmerzempfindliches Wesen bin. Eine ähnliche Position findet sich bei Taylor, wenn auch etwas anders strukturiert. Taylors Idee, dass wir intuitiv eine Ahnung von dem haben, was gut ist, schließt nicht an Platons Ansicht über die Welt der Ideen an.626 Einerseits versucht Taylor mit der Moderne in Einklang zu sein, indem er den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Deshalb hütet er sich davor, die Rede vom Guten oder vom Wert eindeutig mit einer göttlichen Autorität oder kosmologischen Ordnung zu verbinden. Er lenkt das Augenmerk auf den Menschen und betont die Idee, das Gute sei eine Tatsache für Menschen. In einer Welt ohne Menschen würde es auch kein Gutes geben. Das Gute wohnt dem menschlichen Handeln und der menschlichen Lebensweisen inne. Taylor lehnt es daher ab, das Gute als real im Sinne einer platonischen erfahrungsunabhängigen Präexistenz des Guten zu deuten. Anderseits vertritt er die Ansicht, dass, selbst wenn das Gute Menschen voraussetzt, seine Kraft die Subjektivität des menschlichen Handelnden ‚transzendiert’. Das Gute ist zwar ‚innerweltlich’, aber trotzdem nicht auf die subjektiven Präferenzen der Individuen angewiesen. Anders gesagt, das Gute, das nur in Verbindung mit uns existiert, wird zugleich von uns als intrinsisch wertvoll, wundervoll, erhaben empfunden; es erweist sich „als Gegenstand unserer Liebe
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C. Halbig, Praktische Gründe, a.a.O., S. 277. Ebenda, S. 277f. Siehe C. Taylor „Reply to Commentators“, in Philosophy and phenomenological research, 54(1994), S. 211. B. Gagnon, La philosophie morale et politique de Charles Taylor, a.a.O., S. 10-14.
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oder Bindung“.627 Dies zeigt sich z.B. in der Tatsache, dass nicht selten Menschen angesichts wertvoller Dinge ihre Präferenzen ändern und sich dadurch als fähig zu einer Art radikalen Selbstreflexion erweisen. Kutschera ist hier explizit: „Die Phänomenologie der Werterfahrung spricht für eine realistische Deutung: wir erleben die Rose als schön, weil sie schön ist; wir schätzen eine Handlung, weil sie moralisch gut ist, und nicht umgekehrt.“628 Zu einem besseren Verständnis dieses Gedankens müssen Handlungen kategorisiert werden. Denn es gibt Handlungen, bei denen dieser Gedanke offensichtlich nicht zum Tragen kommt, z.B. im Regen Fussball zu spielen. Hier sind die Pro/-Kontra-Überlegungen bzw. Positionen stark auf Präferenzen bezogen. Der moralische Realist bezieht sich aber auf eine andere Kategorie von Handlungen. Er interessiert sich für Handlungen, die auf moralische Werte wie den Schutz des Lebens, Hilfeleistungen, Solidarität usw. bezogen sind. Für den Realisten spielen individuelle Präferenzen hier keine entscheidende Rolle, vielmehr gehen wir mit ihnen in Bezug auf die Werte kritisch um und können sie sogar radikal ändern oder unterdrücken. Dies soll im nächsten Abschnitt weiter erläutert werden. Waldenfels bereichert das Nachdenken über diesen Punkt, wenn er im Rahmen seiner „responsiven Ethik“ nicht nur die Frage aufwirft, „ob wir alles tun sollen, was wir tun können, sondern […] auch die Frage, ob wir alles tun sollen, was wir laut Moral- und Rechtsordnung tun dürfen“.629 Mit dieser Frage wird auf Ansprüche verwiesen, die nicht von unseren jeweiligen Präferenzen abhängen. Kutschera, Halbig und Taylor wollen darauf aufmerksam machen, dass etwas Eigenartiges der menschlichen Erfahrung innewohnt: Wir handeln in Bezug auf Werte. Moralische Realisten unterscheiden sich von Subjektivisten nicht dadurch, dass sie die (existentielle) Beziehung zwischen Werten und menschlichen Subjekten bestreiten, sondern, dass sie von einer „spezifische Art der Beziehung“ sprechen. Für sie sind Werte unabhängig nicht von Subjekten, sondern von subjektiven Einstellungen (Präferenzen). Eine solche antirelativistische Argumentationsweise eröffnet einen Weg zur Verteidigung der Möglichkeit einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung. Allerdings ist in Bezug auf Taylor erneut auf die seinem Denken immanente Ambivalenz hinzuweisen, dass er, obwohl er in Einklang mit diesem Überlegungsstrang den moralischen Realismus verteidigt, im Rahmen seiner kommunitaristischen Perspektive und der Verteidigung des Pluralismus kultureller Identitäten mit dieser anti-relativistischen Argumentationsweise bricht. Denn in anderen Kontexten liegt ihm die Verteidigung des Pluralismus stärker am Herzen, so dass er die normative Verwendung des Wertbegriffs zugunsten der deskriptiven unterdrückt. Daher spricht er an vielen Stellen von Werten als lediglich von Gruppen für verbindlich gehaltenen Orientierungen oder einfach von Werten einer Kultur oder sozialen Gruppierung. Hier gewinnt die partikuläre Gemeinschaft (bzw.
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QS, S. 15. F. v. Kutschera, Ausgewählte Aufsätze, a.a.O., S. 216. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 80.
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die gemeinschaftliche Selbstinterpretation) an Übergewicht, insofern sie den Bezugspunkt von Werturteilen bildet. In der Behauptung, personale Identität und soziale Realitäten seien durch „moralische Landkarten“ (bzw. Werte und Vorstellungen davon, „worauf es im Leben ankommt“) konstituiert, ist eine relativistische Ausrichtung – wie Rosa betont – im Keim angelegt. Denn „[d]iese handlungsleitenden und identitätsstiftenden moralischen Landkarten sind historisch und kulturell kontingent und das Ergebnis sozialisatorisch vermittelter Selbstinterpretationen [...]“.630 Für unser Anliegen ist es wichtig, eine ambivalente Verwendung des Wertbegriffs zu vermeiden und den normativen Wertbegriff in den Mittelpunkt zu rücken. Ein Schritt in dieser Richtung besteht in der Erläuterung der Grundlagen für die normative Relevanz der Wertstandards. Auf die Frage, was die Verbindlichkeit der moralischen Standards begründet, lassen sich drei Positionen unterscheiden631: a. Der Wertobjektivismus:632 Nach dieser Position ist die Gültigkeit der Wertstandards unabhängig von unseren subjektiven Einstellungen. Die Gesellschaft spielt zwar eine Rolle bei der Bildung des Wertschätzens, aber sie begründet die Werte vollständig nicht, denn Werte weisen mehr als das auf, was die Gesellschaften leisten: Aus der Tatsache z.B., „wir bewundern etwas als moralisch gut, weil es moralisch gut ist“, schließt man, dass die Werte eigenständig sind. Der Wertobjektivismus wird heutzutage meist infrage gestellt: Obwohl er – wie Halbig betont – „am besten zur Moralphänomenologie passt“,633 ist er Gegenstand vieler Kritiken. Er stößt auf eine starke Tendenz hin zur subjektivistischen Interepretation der Moral in der Gegenwart. Zur Erklärung dieser Tendenz hat Taylor – wie wir gesehen haben – eine
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633
H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 553. Wir beziehen uns hier auf N. Anwander, „Wert(e)“, a.a.O., S. 1475f. Es muss von vornherein betont werden, dass die Verwendung des Begriffs ‚Wertobjektivismus’ hier potentiell irreführend ist. Anwander macht keinen Unterschied zwischen Wertobjektivismus und moralischen Realismus (vgl. die ähnliche Position in F. Von Kutschera, Grundlagen der Ethik. 2. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin, 1999. S. 61, 63.). Eine Unterscheidung trifft hingegen Quante: Das primäre Ziel des ethischen Objektivismus ist die Geltung und Begründung, während das des moralischen (ethischen) Realismus hauptsächlich die ethische Ontologie ist. „Die zentrale Differenz zwischen Objektivismus und Realismus besteht also in den folgenden zwei Punkten: Der ethische Objektivismus ist primär an intersubjektiver Begründung und Geltung interessiert, fordert aber nicht, dass ethische Ansprüche nicht zurückgeführt werden können auf Subjektivitätsleistungen. Der ethische Realismus zeichnet sich demgegenüber gerade durch die Annahme aus, dass es evaluative Aspekte der Wirklichkeit gibt, die sowohl ethische Ansprüche begründen als auch nicht vollständig auf Subjektivitätsleistungen reduzierbar sind.“ (M. Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik. a.a.O., S. 76.). Dieser Unterscheidung nach kann Habermas als ein Vertreter des ethischen Objektivismus angesehen werden. C. Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, a.a.O., S. 1.
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gewaltige Theorie entwickelt, die mit den Worten Kutscheras prägnant zusammenfasst werden kann: „Der Subjektivismus ist […] keineswegs nur ein historisches Phänomen. Auch wir sind noch Erben der Aufklärung, und mit ihrem Menschenbild und Wissenschaftsideal haben wir auch den Subjektivismus übernommen, den man heute geradezu als offizielle Doktrin bezeichnen kann.“634 Damit wird der (kulturelle) Zusammenhang umrissen, in dem die folgende Kritik Taylors angesiedelt ist: Die im objektivistischen Sinne verstandenen Werttatsachen stimmen nicht mit dem wissenschaftlichen Weltbild überein. „Unsere heutige Konzeption der Wirklichkeit ist durch die Naturwissenschaften geprägt, in denen Werte und Werttatsachen nicht vorkommen und für die Erklärung der Phänomene auch nicht benötigt werden“.635 Dem Wertobjektivismus wird daher oft vorgeworfen, metaphysische Annahmen mit sich zu bringen, die mit dem modernen Realitäts- und Selbstverständnis kollidieren. Die verschiedenen Arten, diesem Vorwurf zu begegnen, lassen Unterschiede zwischen den Vertretern dieser Position erkennen. Während für Platon z.B. der Akt der intellektuellen Anschauung dialektische Bemühungen implizierte, die mit dem Reiben zweier Stücke Holz (Staat, 7. Brief) verglichen werden, wird bei den zeitgenössischen moralphilosophischen Autoren, wie auch bei Scheler und Hartmann, die Rolle der Intuition als unmittelbares Wissen betont. Putnam weist seinerseits darauf hin, dass Werte von Fakten nicht zu trennen sind, weil Menschen niemals wertfrei urteilen können.636 b. Der Wertesubjektivismus: Dieser Position nach gelten Wertstandards abhängig von Menschen (bzw. ihren subjektiven Einstellungen) als „Schöpfer aller Werte“.637 Werte werden in dieser Hinsicht von Menschen gesetzt (und nicht erfahren oder entdeckt wie im Wertobjektivismus). Durch die positive Stellungnahme der Letzteren gegenüber einer Situation wird die „Qualität ‚Wert’“ konstituiert.638 Der Wertsubjektivismus scheint im gegenwärtigen intellektuellen Umfeld vorherrschend. Taylor beschreibt seinen Einfluss nicht ohne Ironie folgendermaßen: „Ask any undergraduate class of beginners in philosophy, and the majority will claim to adhere to some form of subjectivism. This may not correspond to deeply felt convictions. It does seem to reflect, however, what these students think the intellectually respectable option to be.“639 Der Grund, aus dem Taylor diese Tendenz im modernen intellektuellen Umfeld nicht schätzt, besteht in ihrer „Abneigung“ gegen starke Wertungen. Wie schon gesagt folgt diese Abneigung nach Taylor unter anderem aus dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Modells auf die Geisteswissenschaften. Durch diese Weise, die Geisteswissenschaften an die 634 635 636 637 638 639
F. V. Kutschera, Grundlagen der Ethik, a.a.O., S. 125. Ebenda, S. 243. H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Frankfurt, 1990, S. 173. H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie. München, 1964. S. 327. F. Werner, Vom Wert der Werte. Münster, 2002. S. 94. C. Taylor, „Explanation and Practical Reason“, in ders., Philosophical Arguments, a.a.O., S. 34.
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Naturwissenschaften zu koppeln verändert sich – bzw. nach Taylor „verzerrt sich“ – unser Verständnis der Moral. Moralische Werte werden z.B. als Ergebnisse von Präferenzen, „projections“ dargestellt. Taylor betont, dass dieser Versuch, Werte auf subjektive Einstellungen zurückzuführen, nicht überzeugend ist, wenn man z.B. bedenkt, dass Menschen ihre Präferenzen in Bezug auf Wertstandards bewerten und ihre praktische Umsetzung in Bezug auf letztere bisweilen unterlassen. Dass die Zurückführung von Werten auf Präferenzen problematisch ist, zeigt sich unter anderem dadurch, dass die Aussagen „dies ist moralisch gut“ und „dies finde ich gut“ nicht synonym sind (Kutschera).640 Wenn man unserer ethischen Phänomenologie gerecht werden will, empfiehlt es sich, diese Aspekte unseres Urteilens zu berücksichtigen. Der Wertesubjektivismus muss der Intuition Genüge tun, dass Werte Maßstäbe sind, an denen sich unsere Vorlieben messen lassen und dass sie z.B. in Bezug auf die soziale Ordnung „einsichtig machen, aufgrund welcher Vorstellungen von Gerechtigkeit“ (Kutschera) wir manche Gesellschaftsmodelle für besser halten. c. Der Wertekonstruktivismus: Für diese Position sind Wertstandards ‚Konstrukt der praktischen Vernunft’. Wertvolle Objekte sind daher genau diejenigen, die Standards erfüllen, an denen sich zu orientieren ‚rational’ ist. Hier nimmt die Intersubjektivität den Ort der Objektivität ein. Diese Ansicht kommt am deutlichsten bei Habermas zum Ausdruck, der die Verdrängung jeder metaphysischen Annahme aus der Philosophie fordert. Für ihn „haben wir zum nachmetaphysischen Denken keine Alternative“.641 Er stellt die Wahrheit als „Inhalt eines rationalen Konsenses“ 642 dar und verknüpft das „Moment der Unbedingtheit einer Aussage“ mit rein kommunikativer Rationalität. Dies ist aber problematisch. Wie schon mit Göller (siehe 4.2.3) betont, ist die intersubjektive bzw. „kommunikative Akzeptanz“ allein nicht hinreichend, um Geltung zu begründen (die Mehrheitsmeinung ist keine hinreichende Basis für die Gültigkeit in der Moral). Dass die Ansicht, moralische Werte seien das Ergebnis gesellschaftlicher Übereinkunft, etwas Beunruhigendes hat, manifestiert sich z.B. in Putnams Reaktion: „Nach der Diskurstheorie von Habermas wäre eine moralische Regel, die Grausamkeit verbiete, nicht allgemeingültig und universell, sondern allein die Regel: Diskutiere die Frage, ob du grausam sein sollst oder nicht und die weitere Frage, was als Grausamkeit zählt in der Form, wie es die Diskursethik vorschreibt.“643
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F. v. Kutschera, Grundlagen der Ethik, a.a.O., S. 125. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Frannkfurt/M., 1992, S. 36. Zu Begriffsdefinition: „Unter Vernachlässigung der aristotelischen Linie nenne ich in großer Vereinfachung ‚metaphysisch’ das auf Plato zurückgehende Denken eines philosophischen Idealismus der über Plotin und den Neoplatonismus […] bis zu Kant, Fichte, Schelling und Hegel reicht.“ (Ebenda) Wellmer hat – wie schon erwähnt – Einwände gegen diese Definition vorgebracht. (A. Wellmer, Ethik und Dialog, a.a.O., S. 209). D. Horster, „Hilary Putnam, Antwort auf Jürgen Habermas“, in: M.-L. Raters et. al. (Hg.), Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, a.a.O., S. 309.
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Wie positioniert sich Taylor nun gegenüber den drei skizzierten Positionen? Selbstverständlich ist er gegen den Wertesubjektivismus und Wertekonstruktivismus. Er lehnt beide mit Bestimmtheit ab (vgl. die Diskussion mit Habermas im Kap. 4). Sein Hauptwerk Quellen des Selbst ist in weiten Teil gegen sie gerichtet und plädiert für objektive Werte. Er greift in diesem Buch auf charakteristische Begriffe des Wertobjektivismus zurück, unter anderem den der „intuitiven moralischen Vorstellungen“. Er stellt diese intuitiven moralischen Einstellungen als Grundzug der menschlichen Seinsweise und als unabhängig von subjektiven Einstellungen dar. Damit verweist seine Ansicht auf die normative Anwendung des Wertbegriffs. Allerdings bricht Taylor – wie inzwischen mehrfach hervorgehoben wurde – mit dieser Argumentationsweise, wenn es darum geht, kulturelle Identitäten zu verteidigen; hier greift er auf die deskriptive Anwendung des Wertbegriffs zurück. Um diese Ambivalenz besser zu sehen, empfiehlt es sich einen weiteren Schritt in der Erläuterung seines moralischen Realismus zu machen.
5.4 Taylors moralischer Realismus – Kritik am „Naturalismus“ Es ist von vornherein klarzustellen, dass Taylor keine systematische Theorie des moralischen Realismus erarbeitet hat; zudem führt er – betont Latinein – keine detaillierte Analyse der Begriffe des Guten und des Wertes durch, so dass sie austauschbar verwendet werden können.644 Der moralische Realismus ist bei Taylor eine Implikation der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Identität. Er stellt fest, dass jede Rede von Identität gleichzeitig eine Rede vom Guten ist. Denn die Identität ist nur möglich innerhalb von unvermeidlichen Rahmenbedingungen, die die Vorstellungen des Guten [goods] bilden. „Das Selbst und das Gute [good] oder, anders gesagt, das Selbst und die Moral sind Themen, die sich als unentwirrbar miteinander verflochten erweisen.“645 Für Taylor kann man ohne Bezug auf das Gute oder das Schlechte, das Gerechte oder das Ungerechte usw. nicht moralisch handeln. Rosa spricht daher bei Taylor von einer moralischen Phänomenologie, weil dieser zu untersuchen versucht, „wie wir uns in der Welt orientieren“ und nicht etwa eine „wertrealistische Begründungstheorie“ zu formulieren.646 Aus Taylors philosophischen Phänomenologie heraus erweisen sich die moralischen Werte als artikulierbare Tatsachen, die den menschlichen Akteur eine Orientierung in der Welt ermöglichen. Taylors Umgangsweise mit dieser Frage ist sehr speziell, denn sie besteht im Kern darin, den Blick von jedermann auf die eigene menschliche Erfahrung als Prüfstein der Richtigkeit seiner Theorie zu lenken. Er meint, dass wir, wenn wir unsere menschliche Erfahrung berücksichtigen, zur Feststellung gelangen werden, dass das moralische Handeln für ein menschliches Wesen unmöglich ist ohne
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A, Latinein, Strong Evaluation without Moral Sources, a.a.O., S. 188. QS, S. 15. H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 109.
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Bezug auf qualitative Diskriminierungen (Unterscheidungen zwischen dem Guten und dem Schlechten, dem Gerechten und dem Ungerechten usw.). Seine realistische Auffassung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Maßstäbe für diese qualitativen Unterscheidungen nicht auf menschliche Präferenzen zurückführt, sondern auf eine intuitive menschliche Disposition. Taylors Intuitionsbegriff steht in Übereinstimmung mit dem von Schönecker als „emotionalem Akt des Werterfassens“ und mit dessen Rede von einer „unmittelbaren emotionalen Liebe zu Gütern“647 als „unserem primären epistemischen Zugang zu moralischen Fragen“.648 Die Intuition ist grundlegend und entscheidend für das, was Taylor „qualitative Unterscheidungen“ nennt. Letztere liefern – wie in der Analyse der starken Wertungen (Kap. 2) gezeigt – Gründe für die Handlung, „was jedoch anders aufzufassen [ist] als üblicherweise. Solange das verfehlte externe Modell des praktischen Schließens [practical reason] die Oberhand behält, lässt schon der Begriff der Begründung an äußerliche – nicht in unseren intuitiven moralischen Vorstellungen verankerte – Überlegungen denken, aus denen irgendwie hervorgehen könne, dass gewisse moralische Praktiken und Loyalitäten richtig sind“.649 Mit dieser Darstellung des Werterfassens bzw. der Begründung als „Artikulation einer Anschauung des Guten“ (dies sei nicht „das Gleiche wie die Anführung eines Basisgrunds“) positioniert sich Taylor eindeutig gegen die vorherrschenden Moraltheorien. „Werden unsere qualitativen Unterscheidungen als Definitionen des Guten eingesetzt, liefern sie insofern Gründe, als durch ihre Artikulierung zur Sprache gebracht wird, was unseren ethischen Entscheidungen, Neigungen und intuitiven Vorstellungen zugrunde liegt. Da wird im einzelnen dargelegt, wovon ich nur eine ungefähre Ahnung habe, wenn ich sehe, dass A richtig, X falsch oder Y wertvoll und erhaltenswert ist usw.. Was damit zur Sprache gebracht wird, ist das, worauf es bei unseren Handlungen in moralischer Hinsicht ankommt [It is to articulate the moral point of our actions]. […] Wir können also sehen, welchen Ort qualitative Unterscheidungen in unserem ethischen Leben einnehmen. Ehe es zur Artikulierung kommt, helfen sie beim Zurechtfinden im Hinblick auf das Wichtige, Wertvolle oder Erforderliche, das das bei unseren intuitiven Einzelbetrachtungen zum Vorschein kommt, bei denen es darum geht, wie wir in verschiedenen Situationen handeln, fühlen oder reagieren sollen, und auf die wir uns beim Nachdenken über ethische Angelegenheiten stützen. Die Artikulierung dieser Unterscheidungen ist nichts anderes als eine Darlegung des moralischen Sinns der
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648 649
D. Schönecker, „Warum moralisch sein? Eine Landkarte für moralische Realisten“, in H. Klemme et al. (Hg.), Moralische Motivation, a.a.O., S. 320. Er versteht Intuitionen als „nichtinferentielle, epistemisch fundierte, zuverlässige (wenn auch nicht unbedingt unrevidierbare) emotionale Akte des Werterfassens […], aus denen moralische (ethische) Überzeugungen resultieren, die deswegen tradiert werden, weil sie auf jenen emotionaten Akten aufsitzen. […] Der zentrale Gegenstand moralischer Intuitionen ist das Gute [...].“ (Ebenda) Ebenda, S. 324. QS, S. 146.
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Handlungen und Gefühle, zu denen wir durch unsere intuitiven Vorstellungen angehalten oder aufgefordert bzw. die von diesen Vorstellungen als bewundernswert gedeutet werden.“650 Für Taylor sind diese Ausführungen im Grunde Binsenweisheiten, die zu betonen nur wegen des Widerstands der „naturalistischen Gesinnung“ (sowohl im akademischen Bereich als auch in der Gesellschaft) notwendig geworden ist. Der Naturalismus verleitet uns dazu, unsere moralischen Reaktionen ohne jeglichen Bezug auf einen „sinnverleihenden Zusammenhang“ zu erwägen. Daher findet Taylor es wichtig der Frage nachzugehen: „Welches ist das Bild unserer spirituellen Bedrängnis [spiritual nature and predicament], durch das unsere Reaktionen verständlich gemacht werden? ‚Verständlich machen’ heißt hier soviel wie: artikulieren, wodurch diese Reaktionen angemessen werden [..] Was damit artikuliert wird, ist der Hintergrund, von dem wir ausgehen, auf den wir uns bei jedem Richtigkeitsanspruch berufen und den wir zum Teil deutlicher zu machen gezwungen sind, sobald wir Belege dafür ins Feld führen müssen, dass unsere Reaktionen die richtigen sind“.651 Taylors Ansicht nach verweist die Ablehnungshaltung der vorherrschenden Moraltheorien gegenüber den Vorstellungen des Guten auf ein tiefgehendes Missverständnis über die Eigenart des menschlichen Handelns. Einem solchen Missverständnis kann nach Taylor nur ein realistischer Ansatz entkommen. In diesem Sinne konstatiert auch Kutschera: „Eine Rechtfertigung des Realismus ist wohl nur in dem Sinn möglich, dass wir darauf reflektieren, wie tief er in unserem Denken und Sprechen verankert ist.“652 Die Idee, dass der Realismus in Wirklichkeit der normalen Betrachtungsweise entspricht,653 wird auch von Halbig vertreten, wenn er behauptet: „Semantische, epistemologische und phänomenologische Argumente sprechen dafür, dass der so verstandene Realismus lediglich philosophisch expliziert, was implizit in unserer Praxis moralischen Urteilens bereits enthalten ist. Es gibt mithin eine berechtigte Präsumption zu seinen Gunsten: Solange sich der moralische Realismus nicht unlösbaren internen Schwierigkeiten ausgesetzt sieht, ist ihm gegenüber antirealistischen Gegenpositionen der Vorzug zu geben. Diese müssen zunächst zeigen, warum der moralische Realismus unhaltbar ist, bevor sie selbst Gehör verdienen. Für den moralischen Realismus gilt dies nicht – er bedarf keiner solchen negativen Begründung aus dem Scheitern seiner Gegenpositionen.“654 Auf die Frage, was unsere moralischen Reaktionen auszeichnet, antwortet Taylor mit Verweis auf die Tatsache, dass sie implizite oder explizite Aussagen über die Natur und den Status menschlicher Wesen mit sich bringen:
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Ebenda, S. 149f. Ebenda, S. 25. F. v. Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a.O., S. 79. Ebenda, S. 298. C. Halbig, Praktische Gründe, a.a.O., S. 11. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass die Moralrealisten nicht argumentieren.
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„Unsere moralischen Reaktionen haben in diesem Bereich also gleichsam zwei Facetten. Einerseits gleichen sie beinahe Instinkten, vergleichbar unserer Vorliebe für Süßigkeiten, unserer Abneigungen gegen ekelerregende Sachen oder unserer Angst zu stürzen. Anderseits scheinen sie ausdrücklich oder stillschweigend Behauptungen über das Wesen und den Rang der Menschen zu beinhalten. Von dieser zweiten Seite her wirkt eine moralische Reaktion wie eine Billigung oder Bejahung einer gegebenen Ontologie des Menschlichen.“655 Diese zwei Facetten unserer moralischen Reaktionen machen genau das aus, was in der neuzeitlichen naturalistischen Perspektive geleugnet oder als belanglos herabgespielt wird. Dies ist für Taylor nicht gutzuheißen, wenn man bedenkt, dass starke Wertungen einen unausweichlichen Rahmen für das menschliche Handeln bzw. Urteilen bilden. „What I have been calling a framework incorporates a crucial set of qualitative distinctions. To think, feel, judge within such a framework is to function with the sense that some action, or mode of life, or mode of feeling is incomparably higher than the others which are more readly available to us. […] In each of these cases, the sense is that there are ends or goods which are worthy or desirables in a way that cannot be measured on the same scale as our ordinary ends, goods, desirabilia. […] And this is where incomparability connects up with what I have been calling ‚strong evaluation’: the fact that sense ends or goods stand independent of our own desires, inclinations, or choices, that they represent standards by which these desires and choices are judged. These are obviously two linked facets of the same sense of higher worth. The goods which command our awe must also function in some sense as standards for us.“656 Taylor hat sich zur Aufgabe gemacht, wichtige moralische Fragen, die wegen des vorherrschenden naturalistischen Temperaments aus dem Blick geraten sind, wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Es sind Fragen, die die Tiefe des menschlichen Wesens bzw. seines Lebens berühren. „Was diesen Fragen und den moralischen Problemen gemeinsam ist und was die vage Bezeichnung ‚spirituell’ verdient, ist der Umstand, dass sie allesamt Wertungen beinhalten Unterscheidungen zwischen Richtig und Falsch, Besser und Schlechter, Höher und Niedriger, deren Gültigkeit nicht durch unsere eigenen Wünsche, Neigungen oder Entscheidungen bestätigt wird, sondern sie sind von diesen unabhängig und bieten selbst Maßstäbe, nach denen diese beurteilt werden können. […] Unter den als moralische anerkannten Forderungen betreffen die vielleicht dringendsten und überzeugendsten die Achtung vor dem Leben, der Integrität und dem Wohlergehen – ja, dem Gedeihen – der anderen. Dies sind die Forde-
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QS, S. 19. SoS, S. 19f.
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rungen, gegen die wir verstoßen, wenn wir andere töten oder verletzen, ihr Eigentum stehlen, sie in Schrecken versetzen und ihren Frieden stören oder es sogar unterlassen, ihnen zu helfen, wenn sie in Not sind. Für diese Förderungen hat praktisch jeder ein Gefühl, und in allen menschlichen Gesellschaften werden sie seit eh und je anerkannt. […] Die intuitiven moralischen Vorstellungen, mit denen wir es hier zu tun haben, sind von einer Tiefe, Eindringlichkeit und Allgemeinheit sondergleichen. […] Kultur und Erziehung mögen zur Bestimmung der betreffenden ‚anderen’ beitragen, doch die grundlegende Reaktion als solche wird offenbar nicht durch sie erzeugt.“657 In diesem Zitat Taylors finden wir trotz des Fehlens einer systematischen Formulierung die Grundannahmen eines moralischen Realismus wieder: – Werte sind unabhängig von unseren Wünschen und Präferenzen und dienen als Kriterien zur Bewertung von diesen. – Werte sind erkennbar durch unsere Intuitionen. – Intuitionen sind grundlegender und tiefer als die zwischen (kulturellen) Lebensformen herrschenden Unterschiede. – Wenn Taylor die Bedeutung starker Wertungen betont, verfolgt er das Ziel, dem Einfluss der naturwissenschaftlichen Methoden auf die Geisteswissenschaften entgegenzutreten. Dies wird deutlich in seiner Kritik am ‚Naturalismus’. Wir erfahren die Welt nicht nur auf eine Weise, sondern auf verschiedene Weisen. Dies verständlich zu machen ist für die Realisten aufgrund des zunehmenden Einflusses des naturwissenschaftlichen Weltbildes wichtig geworden. Das naturwissenschaftliche Weltbild ist nicht das vollständige Weltbild. Descombes behauptet genau dies, wenn er seinen Aufsatz über Taylors Moralphilosophie mit dem einleuchtenden Titel versieht: „Pourquoi les sciences morales ne sont-elles pas des sciences naturelles?“ („Why the moral sciences are not the natural sciences?“).658 Ausgehend von dieser Unterscheidung sehen die Realisten die legitime Möglichkeit, von Werten zu sprechen. Für sie gibt es einen „spezifischen Charakter von Werterfahrungen“ (Kutschera), die ihnen Objektivität zuspricht. Werte werden nicht zur „Erklärung physikalischer Prozesse“ gebraucht; denn sie haben „Funktion und Wirksamkeit nur im Kontext menschlichen Handelns“.659 Dies ist in der vom Naturalismus dominierten Zeit nicht selbstverständlich. Unter „naturalistischer Epistemologie“ oder „Naturalismus“ versteht Taylor die spezifischen Vorstellungen, die sich im Zuge des Aufstiegs der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert entwickelt
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QS, S. 17f. (SoS, S. 4f.) Siehe V. Descombes, „Pourquoi les sciences morales ne sont-elles pas des sciences naturelles ?“, in: G. Laforest, P. Lara (Hg.), Charles Taylor, a.a.O., S. 77. Übersetzung von CN. F. v. Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a.O., S. 319; auch ders., Die falsche Objektivität. Berlin, 1993.
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haben, und die die Spezifität des menschlichen Handelns und der menschlichen Erfahrung bzw. Seinsweise weglassen, um den Bereich des Menschlichen mit den naturwissenschaftlichen Modellen analysieren und erklären zu können. Dies bedeutet, dass sie abgelöst von ihren Bedeutungshorizonten betrachtet werden. 660 Der Naturalismus ist also ein Begriff, mit dem Taylor Theorien bezeichnet, die „die menschliche Gattung als Teil einer mechanistisch verstandenen Natur“661 betrachten und Anspruch auf ein unbegrenztes Anwendungsfeld erheben. Selbstverständlich kann man über den Begriff des Naturalismus viel diskutieren und ihn in einer oder anderer Weise verstehen oder damit auch die von Taylor zugestimmten Theorien bezeichnen. Dies entgeht Taylor nach seinen eigenen Worten nicht. Aber er benötigt „einen knappen handlichen Ausdruck für diese spezifische Auffassung der Wissenschaft und der menschlichen Natur“.662 Zu diesem Begriff sagt Smith: Dazu sagt Smith: „a certain philosophical outlook or ‚mindset’ Taylor believes to be commonplace in the modern world. His name for it is ‚naturalism’. For naturalism, the meaning-dimension of human existence is ultimately a realm of subjective illusion. It assumes that the layers of pragmatic, linguistic, moral, social and religious meaning that appear to constitute human agency are really something else, something that is only properly understood when considered from the point of view developed by modern natural science. The naturalist outlook, according to Taylor, motivates all sorts of still-born attempts at reducing meaning to nonmeaning in psychology, linguistics, anthropology, sociology and political science, as well as in philosophy. Taylor will try to convince us that there really is such a naturalist mindset at large in modernity, and that to expose it is to shift the burden of proof in much philosophical debate. This is the ‚therapeutic’ aim of Taylor project.“663 Für Taylor hat die naturalistische Gesinnung nicht nur „dazu beigetragen, dass moralische Theorien des pflichtgemäßen Handeln in unserer geistigen Kultur die Vorherrschaft haben“, sondern auch zum Misstrauen bzw. (den als Befreiung gefeierten) „Ausschluss der qualitativen Unterscheidungen“.664 Dass der Naturalismus eine große Gefahr für die Geistes- und Sozialwissenschaften darstellt, sieht man daran, dass er ihnen ihr spezifisches Merkmal entzieht:
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C. Taylor, Human Agency and Language, Philosophical Papers I, Cambridge, 1985, S. 4f. Vgl. J. Souza, Die Naturalisierung der Ungleichheit. Wiesbaden, 2008, S. 26. H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis, a.a.O., S. 339 f. Rosa bietet eine interessante Analyse der verschiedenen Nuancen des Naturalismus-Begriffs. Siehe das Nachwort von Axel Honneth in C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 300. QS, S. 155. N. H. Smith, Charles Taylor, a.a.O., S. 6.) QS, S. 155f. Für Taylor handelt sich in diesem gefeierten Befreiungsakt um „Blindheit“ für die Voraussetzungen hinter diesen neuen moralischen Einstellungen. Sie setzen selber „einen anderen Kontext eines starken Guts voraus“. (Ebenda, S. 156.)
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„[T]he fundamental data of the social sciences are meanings. Intentions, plans, goals and purposes. Human life is inescapabably enmeshed in a web of meaning. Metatheories such as behaviorism that seek to emulate the physical sciences by ruling out of bounds any meanings or purposes that attack to behavior are wrong-headed, from this point of view, because they eliminate the very essence of that which they seek to render and explain.“665 Der schlechte Dienst, den uns der unbedingte Glauben an die naturalistische Epistemologie erweist, besteht nach Taylor nun darin, dass wir uns nicht mehr im Klaren über unsere Vorstellungen des Guten sind. „We can only look: perhaps we will find that we cannot make sense of our moral life without something like a hypergood perspective, some notion of a good to which we can grow, and which makes us see others differently. […] [O]ur understanding has been clouded by a naturalist epistemology and its focus on the natural science model. Because following the argument in favour of a theory in natural science requires that we neutralize our own anthropocentric reactions, we too easily conclude that arguments in the domain of practical reason ought not to rely on our spontaneous moral reactions.“666 Die Wirkung des Naturalismus ist also nicht zu unterschätzen. Er hat die Moralität auf eine neue problematische Bahn gelenkt und die Betrachtungsweise bestimmter Fragen tiefgreifend umgepflügt. Man kann hier z.B. auf die ‚Irrtumstheorie’ moralischer Werte von John L. Mackies Werk Ethics: Inventing Right and Wrong verweisen oder auch auf die soziobiologischen Thesen, die moralischen Reaktionen an die instinktive („visceral“) angleichen und für völlig illusorisch erklären.667 Alle diese Theorien bestreitet Taylor. „Die ganze Art und Weise, in der wir über das Thema Moral nachdenken, Schlüsse ziehen, Auseinandersetzungen führen und uns selbst befragen, setzt voraus, dass unsere moralischen Reaktionen zwei Seiten haben, nämlich: dass sie nicht nur ‚aus dem Bauch’ kommende Gefühle darstellen, sondern implizit auch Behauptungen über ihre Gegenstände anerkennen. Die verschiedenen ontologischen Erklärungen versuchen, diese Behauptungen zu artikulieren. Die aus der neuzeitlichen Erkenntnistheorie hervorgehenden Verlockungen, dies abzustreiten, werden durch die Akzeptierungen eines zutiefst verfehlten Modells des praktischen Schlussfolgerns verstärkt, das auf einer unberechtigten Übertragung aus dem Bereich des naturwissenschaftlichen Denkens beruht. […] Ontologische Erklärungen haben den Rang von 665 666
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S. B. Messer et al., „Introduction to Hermeneutics“, a.a.O., S. 8f. SoS, S. 71. Die Gegenhaltung zum Naturalismus ist der von Herder stark geprägte romantische Expressivismus. Dieser widersetzt sich dem Lobpreis der Rationalität und der „fundamentalistisch-wissenschaftlichen Haltung der Naturalisten“. (Siehe C. Taylor, Negative Freiheit, a.a.O., S. 263; auch ders., Philosophical Arguments, a.a.O., S. 79-99) QS, S. 21. Zur Diskussion mit John L. Mackies Position siehe auch C. Halbig, Praktische Gründe, a.a.O., S. 190f.
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Artikulationen unserer moralischen Instinkte. Sie artikulieren die in unseren Reaktionen unausgesprochen enthaltenen Ansprüche. Sobald wir eine neutrale Haltung einnehmen und versuchen, die Fakten nach dem Vorbild des seit dem siebzehnten Jahrhundert in der Naturwissenschaft geübten Verfahrens unabhängig von unseren Reaktionen als solche zu beschreiben, können wir gar keine Auseinandersetzung über diese Ansprüche mehr führen. […] Ebenso, wie die Naturwissenschaft voraussetzt, dass wir unser Augenmerk auf eine Welt richten, in der alle unsere Reaktionen neutralisiert worden sind, können moralische Auseinandersetzungen und Erkundungen nur in einer Welt vonstatten gehen, die durch Reaktionen der hier besprochenen Art. Will man mit feineren Unterscheidungen an die Frage herangehen, aufgrund welcher Eigenschaften die Menschen Achtung verdienen, muss man sich ins Bewusstsein rufen, was es heißt, den Anspruch menschlichen Leids zu spüren, wodurch ungerechtes Verhalten so abstoßend wirkt oder welche Bewandtnis es hat mit der Ehrfurcht, die man im Hinblick auf das Faktum des menschlichen Lebens empfindet. Wer sich aufgrund ‚wissenschaftlicher’ Anforderungen eine neutrale Einstellung zur Welt zu eigen gemacht hat oder infolge pathologischer Gegebenheiten hineingeraten ist, wird sich nicht durch Argumente davon abbringen und zur Erkenntnis einer moralischen Ontologie bewegen lassen.“668 Gegen den Naturalismus als „das epistemologische Hauptmotiv“, das die Verdrängung von qualitativen Unterscheidungen und ontologische Erklärungen betreibt, sieht Taylor nur eine Lösung: die beiden letztgenannten als konstitutiv für den spezifischen Charakter der menschlichen Erfahrung zu verteidigen. „[W]e cannot understand ourselves, or each other, cannot make sense of our lives or determine what to do, without accepting a richer ontology than naturalism allows, without accepting in terms of strong evaluation.“669 Die Verdrängung der qualitativen Unterscheidungen und der moralischen Ontologie ist für Taylor nicht nur durch das große Gewicht der neuzeitlichen Erkenntnistheorie und der zugrundeliegenden Mentalität (siehe Kap. 1) erklärbar, sondern auch durch die pluralistische Natur der modernen Gesellschaft, durch die moderne Auffassung von Freiheit und das Verlangen nach einer universellen Ethik.670 Dies macht deutlich, wie lang die List der Gegner und Kritiker ist, mit denen sich Taylor auseinanderzusetzen hat. Darin besteht auch der Schwachpunkt von Taylor Werk. Indem er seine Gegner um einen Nenner gruppiert, kann er sich mit ihren Positionen nicht in ihren Feinheiten auseinandersetzen. Das macht seine Kritik angreifbar. Ohne Frage jedoch ist seine Entschiedenheit im Kampf um die Verteidigung der Bedeutung und der Rolle von starken Wertungen bewundernswert.
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QS, S. 23f. C. Taylor, „Explanation and Practical Reason“, a.a.O., S. 39. QS, S. 27.
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Ein Zeichen für das verbreitete Misstrauen gegenüber der Rede von starken Wertungen bzw. objektiven Werten ist die Frage nach ihrer Herkunft: Woher kommen die intuitiven moralischen Vorstellungen? Woher kommen die objektiven Werten? Hier verweist Taylor auf seine anthropologisch-deskriptive Analyse: Das menschliche Leben ist nur unter der Voraussetzung des Guten oder im Lichte der starken Wertungen möglich. Taylor will also nicht begründen. Wir müssen nur die Dinge betrachten, so wie sie sind. Klammert man diese Grundvoraussetzung aus, dann verschwindet ein Dasein, „das nach unseren Begriffen noch das einer integralen, also unversehrten Person ist.“ 671 In diesem Sinne betont auch Horster, dass Objektivität und Universalität nicht naturrechtlich zu begründen sind, „denn wo sie herkommen, aus der Natur, die von Gott geschaffen ist, muss den Philosophen ebenso wenig interessieren wie den Naturwissenschaftler der Ursprung der Gravitation. Er hat sie zu untersuchen, wobei er davon ausgeht und ganz einfach davon ausgehen kann, dass es sie gibt. Für den Philosophen verhält es sich mit den Werten ebenso“.672 Noch expliziter ist Luhmann, wenn er betont, dass Werte mit unbezweifelbarer Evidenz bereits unserer Kommunikation innewohnen. Denn „ihr Akzeptiertsein wird unterstellt. Wenn man explizit fragt: bist Du für Frieden? erweckt das den Verdacht auf Hintergedanken. Wer sich rühmt, Werte zu bejahen oder Unwerte abzulehnen, redet trivial.“673 Horster fügt hinzu: „Man stelle sich vor, was passiert, wenn man morgens ins Lehrerzimmer kommt und ruft: ‚Hallo Leute, kommt ihr mal zusammen und hört mir zu! Also, ich bin gegen Folter’. Die Kollegen werden wahrscheinlich vermuten, man sei von einer noch unbekannten Krankheit befallen.“674 Denn er deutet durch seine Aussage an, dass die Achtung vor dem Leben bzw. die Ablehnung von Foltern in seinem Belieben steht. Es wird betont, dass objektive Werte in unserem Selbstverständnis und Kommunikation mitlaufen und in unseren moralischen intuitiven Vorstellungen verankert sind. Dies kann man auch durch die Tatsache erläutern, dass wir eine Handlung oft nicht mit einem Verweis auf das bestehende Gesetz, sondern auf Vorstellungen des Guten begründen oder beurteilen (Wir stehen diesseits der klassischen Sein-Sollen-Disjunktion). Wir zeigen uns der Vorstellungen des Guten, die eine Verpflichtung erzeugen, bewusst. Dieses Bewusstsein geht unseren praktischen Entscheidungen oder festgelegten Gesetzen voraus und liegt ihnen zugrunde. „Il faut parce
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Ebenda, S. 55. D. Horster, „Das Verhältnis von Normen und Werten“. S. 202-215, hier S. 213, https://www. kas.de/c/document_library/get_file?uuid=efe429c5-cde6-f757-8ece-be6dc3c25705&groupId= 252038, abgerufen am 20.06.2015. N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M., 2000, S. 359. „Werte gelten“, so reagiert er auf die verzweifelte Suche der Philosophie nach moralischer Letzbegründung. (Ders., Gibt es in unserer Gesellschaft unverzichtbare Normen?. Heidelberg, 1993, S. 19.) D. Horster, „Jürgen Habermas und der Papst“, a.a.O., S. 38.
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qu´il faut“ („Es muss sein, weil es sein muss“)675 - so lautet Bergson prägnante kritische Reaktion gegen die kantische Gesetzesmoral. Man könnte vielleicht diese Rede über die Werterfahrung anhand des Waldenfelschen Begriffs des ‚Unausweichlichen’ präzisieren: „Was unausweichlich ist, lässt sich weder gebieten noch verbieten, es fällt somit nicht unter ein moralisches Gesetz; und dennoch hat es eine ethische Qualität im Sinne jener NichtIndifferenz, die nicht in unserem Belieben steht.“676 Für die Realisten können wir uns nicht auf das naturwissenschaftliche oder szientistische Weltbild verlassen, wenn es um die Werterfahrungen geht. Denn sie haben einen ganz spezifischen Charakter. Von diesem Standpunkt aus basiert eine Behauptung, wie die von David Lewis („The world is as physics says it is, and there is no more to say“), auf einem großen Missverständnis und hat erhebliche dramatische Konsequenzen für unser Selbstverständnis und unsere Handlungen. Diese Behauptung, die Werte als Illusionen erscheinen lässt, ist in der Denkrichtung des Materialismus angesiedelt, welche die Physik für die „grundlegende und im Prinzip auch umfassende Realwissenschaft“ hält. Allerdings hat die Physik selbst nie behauptet, dass sie für alle Wirklichkeitsbereiche zuständig ist. Dies zeigt – so Kutschera –, dass dieser Materialismus nicht aus ihr folgt, sondern eine „weltanschauliche Doktrin“ ist.677 Materialistischen Thesen basieren auf einem großen Missverständnis. Die Tatsache, dass moralische Werte – so Halbig – „in einem szientistischen Weltbild, das methodisch auf das Ideal eines perspektivenneutralen Gottesstandpunkts stützt, nicht vorkommen können, belegt [...] nicht ihre ontologische Fragwürdigkeit, sondern stellt umgekehrt die Tauglichkeit der szientistischen Methodologie als ausschließliches Realitätskriterium in Frage“.678 Das Vorausgehende zeigt, dass die Frage nach der Herkunft interessant sein mag, aber aus der Sicht derjenigen, die viel Wert auf die Phänomenologie der Werterfahrung legen nicht entscheidend ist. Denn für sie zeigt eine angemessene Beschreibung des menschlichen Handelns bzw. der menschlichen Erfahrung, dass die menschliche Seinsweise untrennbar mit Vorstellungen des Guten verbunden ist. Angesichts der Denkrichtungen, die eine von anthropozentrischen Vorstellungen befreite Auffassung der Welt fordern, bejaht Taylor dass tatsächlich „das Gute und das Richtige nicht
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Waldenfels erläutert dies im Sinne eines Befehls, „der nicht nur keine Widerrede duldet, sondern die Möglichkeit einer Widerrede erst gar nicht zulässt“. (B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., 23f.) Er spricht auch von „Müssen als Nichtanderskönnen“, dessen Unausweichlichkeit mit einem „Nichtkönnen“ (bezogen auf physische oder gesellschaftliche Bedingungen) nichts tun hat. Es geht um eine „gelebte Unmöglichkeit“ (ein ‚ich kann nicht nicht...’, das „sich der Diskjunktion von Sein und Sollen entzieht“). Ebenda, S. 27-34. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 50f. Siehe F. v. Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a.O., S. 19. C. Halbig, Praktische Gründe, a.a.O., S. 13. Vgl. SoS, S. 56.
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Eigenschaften des Universums sind.“ Es würde keinen Sinn machen, sie in der naturwissenschaftlich erforschten Welt zu suchen. Denn sie gehören einfach nicht dazu. Aus dieser bloßen Tatsache aber auf die Behauptung zu schließen, dass „sie nicht so real, objektiv und nichtrelativ wie sonst irgendein Bestandteil der natürlichen Welt“ sind, stellt für Taylor einen klaren unbegründeten Sprung dar. Man muss der starken Verlockung zu diesem Sprung widerstehen. Dieser Widerstand bedeutet unter anderem den Einfluss naturwissenschaftlicher Modelle in den Wissenschaften von menschlichen Leben zu begrenzen. Denn dies ist eine Quelle der Täuschungen und Irrtümer.679 Daher empfiehlt Taylor: „Ebenso, wie die Physik nicht mehr anthropozentrisch ist, so lässt sich die Humanwissenschaft nicht mehr in physikalischer Terminologie formulieren. Unsere Wertbegriffe beanspruchen Aufschluss zu geben darüber, was es heißt, als Mensch in der Welt zu leben, und das ist etwas völlig anderes als das, was die Physik zu zeigen und zu erklären behauptet. Diese Realität ist selbstverständlich von uns abhängig, insofern unsere Existenz eine Bedingung ihrer Existenz ist. Aber sobald eingeräumt wird, dass wir existieren, ist diese Realität ebensowenig eine subjektive Projektion wie die, mit der sich Physik befasst.“680 Offen bleibt aber noch die Frage, was es für Taylor eigentlich heißt, dass Werte real sind. Darauf antwortet er: „Real ist das, womit man fertigwerden muss, was nicht allein deshalb verschwindet, weil es nicht den eigenen Vorurteilen entspricht. Aus diesem Grund ist, das, was man im Leben unweigerlich in Anspruch nehmen muss, etwas Reales bzw. etwas so annähernd Reales, wie man es zur Zeit erfassen kann.“681 Mit dieser Antwort bleibt Taylor auf der phänomenologischen Ebene. Er will sich nicht auf Begründungsversuche einlassen, die ausweglos, weil nie voraussetzungsfrei sind. Taylor sieht die Überzeugungskraft seines Arguments vielmehr darin begründet, dass „das Moralische als ein Bereich starker Wertung“ für alle etwas unweigerlich Gegebenes ist. Werte sind für Taylor also real nicht in dem Sinne, dass sie wie bei Plato unabhängig von der Erfahrung präexistieren, sondern im Sinne dessen, was der menschlichen Existenz innewohnt, ohne bloßer Ausdruck der Präferenzen zu sein; Werte sind unabhängig von subjektiven Einstellungen. Aus seiner Sicht erkennt man dies nur, wenn man sich von der naturalistischen Tendenz verabschiedet, Werte nur im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes in Betracht zu ziehen. Wir wollen dieses Kapitel mit einer kurzen Erläuterung der Funktion der Werte abschließen. Dies soll einen weiteren Aspekt des Kampfes von
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QS, S. 111. Siehe auch die ersten drei Kapitel des Buches Taylors Philosophy and the Human sciences. Ebenda, S. 116. Ebenda, S. 117.
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Taylor für die Anerkennung der Bedeutung von qualitativen Unterscheidungen im menschlichen Leben erläutern. Die zentrale Funktion der Werte besteht darin, zu orientieren. Diese Orientierungsfunktion ist bei der Rede von starken Wertungen bereits deutlich geworden. Ein stark wertendes Wesen ist ein Wesen, das – wie zahlreiche Beispiele aus dem Alltag zeigen – seine Präferenzen in Bezug auf Werte bemisst, sie aufgeben oder ändern kann. Man kann auch sagen, dass sich der Mensch nicht darauf beschränkt, seine persönlichen Präferenzen oder Interessen zu verfolgen, sondern auch danach strebt, seinem Leben Sinn zu geben, indem er sich auf präferenzunabhängige Werte bezieht und diese zu realisieren versucht. Die damit verbundene Mühe ist jedoch nur in dem Maße sinnvoll, in dem solche Werttatsachen tatsächlich existieren.682 Derjenige, der Werte als Geschmackssache betrachtet und nur auf individuelle Präferenzen zentriert, kann der entscheidenden Frage nicht entkommen, ob wir eine Handlung schätzen, weil sie moralisch ist, oder eine Handlung moralisch ist, weil wir sie schätzen. Werte als Ergebnisse unserer freien Entscheidungen darzustellen bringt mit sich die Gefahr, alle Optionen gleichwertig zu machen. An diesem Punkt wird aber auch die Orientierungsfunktion der Werte unverständlich. Auf die Frage, woran man sich orientieren kann und was man anstreben soll, antwortet der Subjektivist: „An dem, was du willst“ (Kutschera). „Die Antwort hilft jemandem, dem, es darum geht, sein Tun oder sein Leben auf wertvolle Ziele hin auszurichten und ihm damit auch einen über den privaten Horizont hinausgehenden Wert und Sinn zu geben, gar nichts – ebensowenig wie es jemand, der den Weg nach Larissa nicht kennt, hilft, wenn man ihm sagt ‚Immer der eigenen Nase nach!’. Wie die eigene Nase kein Wegweiser ist, so liefern Präferenzen keine Orientierung in der Wirklichkeit. Mich an meinen eigenen Interessen oder an denen anderer zu orientieren, ist sinnlos; geht es nur um Interessen, so gelten die eigenen, und an denen braucht man sich nicht zu orientieren, denn man hat sie ohnehin. Zweifellos macht es oft Sinn, sich auf seine eigenen Interessen zu besinnen und ihnen konsequent zu folgen. Das ist aber keine Orientierung, sondern ein Kurshalten; ein Orientieren ist ein Ausrichten des Kurses an objektiven Gegebenheiten, ähnlich wie man sich beim Segeln z.B. nach Sonne, Landmarken oder Sternen richtet. Es ist gerade die Funktion von Werten, dass man sich an ihnen orientieren kann.“683 In 2.2 wurden einige Elemente der Orientierungskrise der modernen Gesellschaft erläutert. Kristevas Begriff der „malady of ideality“ verdeutlicht nicht nur die grassierende Orientierungslosigkeit am Beispiel der Jugendgewalt, sondern auch die Schwierigkeit der modernen Gesellschaft damit umzugehen: „Modern society, […] not only has invented nothing new but, through a complete inability to comprehend the structuring need for ideality, abets the
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A. Corradini, „Bemerkungen zu den Grundlagen der Ethik“, a.a.O., S. 46. F. v. Kutschera, Die Teile der Philosophie, a.a. O., S. 313.
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destruction of family bonds and the weakening of authority.“684 Die sich hier manifestierende Übereinstimmung der Ergebnisse der Phänomenologie der Werterfahrung mit denen der Psychoanalyse sieht Taylor als eine zusätzliche Motivation für die Betonung der Bedeutung der höhere Zwecke bzw. der Orientierungsfunktion von Werten in der Moraltheorie. Dabei kommt ihm – wie gesehen – auch Wittgensteins Begriff des Regelfolgens entgegen. Denn durch diesen lassen sich zwei Thesen explizieren: (i) Menschen befolgen Regeln nicht einfach, weil diese formuliert sind, sondern weil dahinter Vorstellungen des Guten, die sie schätzen, stehen. (ii) Menschen erweisen sich als expressive Wesen, die ihre innerlichen Quellen artikulieren können. Für ihn wäre es eine Verstümmlung, wenn man den Menschen von seiner Tiefendimension abtrennt. Taylor entgeht nicht, dass er es sich mit einer solchen Sprache nicht leichter macht. Aber er besteht darauf, weil sie etwas Wesentliches über den Menschen ausdrückt; andernfalls wäre das, was er unter der Orientierungsfunktion versteht verarmt oder verkümmert. Das Anliegen der bisherigen Ausführungen war es, den moralischen Realismus von Taylor zu präsentieren. Es hat sich gezeigt, dass Taylor ausgehend von einer Untersuchung der Eigenarten des menschlichen Handelns bzw. der menschlichen Erfahrung eine objektivrealistische Auffassung der Werte vertritt. Allerdings nimmt er die Thesen des moralischen Realismus und die normative Anwendung des Wertbegriffs nur insoweit in Anspruch, als er den Subjektivismus in Frage stellen will. Sobald er hingegen den kulturellen Pluralismus verteidigen möchte, verlässt er den Rahmen der normativen Verwendung des Wertbegriffs und stützt sich eher auf seine deskriptive Verwendung. Von diesem Standpunkt aus vermittelt er keine axiologische Wertlehre, sondern tritt für die Heterogenität von Wertbindungen ein. Damit nähert er sich dem Relativismus an. Zu Recht weist daher Gary Kitchen auf den Widerspruch zwischen Taylors moralischen Realismus und seiner Verteidigung des Pluralismus hin.685 Dass die Gleichsetzung des kulturellen Pluralismus mit dem Wertpluralismus die Möglichkeit einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung gefährdet, muss umgehend bemängelt werden. „[...] cultural pluralism is not the instantiation in the world of moral pluralism, that different cultures do not embody different moralities which are incommensurable and incapable of judging one another. Cross-cultural criticism and intervention has characteristic hazards, but is not simply impossible the way it would be if cultural and moral pluralism were as closely linked as is sometimes suggested. The fact of cultural pluralism does and should make us wary of certain kinds of moral judgments; it warns us against elevating all of our practices and norms into universal moral truths. Cultural diversity should make us especially wary 684 685
J. Kristeva, „My motto is diversity“ a.a.O., S. 21. G. Kitchen, „Charles Taylor, The Malaises of Modernity and the Moral Sources of the Self“, in Philosophy and Social Criticism, Bd. 25, 3(1999), S. 43f. Vgl. H. Steinfath, „Authentizität und Anerkennung. Zu Charles Taylors neuen Büchern ‚The Ethics of Authenticity’ und ‚The Politics of Recongnition’“, in DZPh 41(1993), S. 578.
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of politically imposing certain kinds of moral judgements on other cultural communities. It should not, however, prevent us from making or acting community’s practices are violent or cruel. And it argues for caution in treating cultural communities as goods.“686 Das Zitat behauptet, dass der kulturelle Pluralismus uns bei der moralischen Beurteilung zur Vorsicht aufruft, aber diese nicht verhindert. Der Relativismus aber macht an dieser Stelle einen Sprung. Dabei bringt er eine Logik vor, bei der die Universalisierbarkeit als ein charakteristisches Merkmal unserer Rede über die Werte ignoriert wird. Denn er macht – wie Coste zeigt – in einem asymmetrischen Verhältnis eine Variable A (z.B. moralisches Urteil oder moralische Werte) von der Variable B (z.B. kulturellen Gemeinschaft) abhängig.687 Dieser Logik gibt auch Taylor nach, wenn er Werte als historisch-gemeinschaftlich gebunden darstellt. Das, was Taylor vom Relativismus unterscheidet, den er im moralischen Subjektivismus angeprangert hat, ist unseres Erachtens nur die Variable B, von der die Moral abhängig ist: In einem Fall ist diese Variable das Individuum und, im anderen, die kulturelle Gemeinschaft.688 Zwischen den Ideen, Werte seien individuumsrelativ und Werte seien ethnisch-kulturrelativ, besteht nur ein Unterschied der Ebenen. Werte sind für Taylor Werte von und für uns (die Gemeinschaft), nicht von und für das Individuum. Breuer hat Taylors Wertbegriff im Rahmen seiner Kulturtheorie wie folgt kommentiert: „Die in einer Kultur beheimateten Werte sind nicht lediglich Projektionen auf eine eigentlich neutrale Realität, sie sind der verbindliche, je konstitutive hermeneutische Horizont, in dem menschliches Handeln sich bewegt. Sie verkörpern sich in der Sprache, den Praktiken und Institutionen der jeweiligen Kultur und nehmen damit eine objektive Realität für die ihr zugehörigen Menschen an.“689 Probleme, die sich aus diesem Gesichtspunkt ergeben, wurden schon zu Genüge hervorgehoben. Genauso wie es sinnvoll war, sich Klarheit über Taylors Ambivalenz in Bezug auf den Kontext- oder Kulturbegriff zu verschaffen, ist es auch sinnvoll in Bezug auf den Wertbegriff. Ein Ausweg aus dieser misslichen Lage eröffnet sich, wenn die Gültigkeit von Werten jenseits gemeinschaftlicher Identitäten betrachtet wird. Das Relativitätsargument hat zwar Gewicht, aber es ist nicht überwiegend. 690 Kulturelle Gemeinschaften bilden offensichtlich nicht den ‚letzten Horizont’ moralischer Beurteilungen. Zur Verteidigung der Möglichkeit einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung ist die normative Verwendung des Wertbegriffs unerlässlich. Damit entkommen wir der Gefahr Moral und Identität(sfragen) zu eng zu verbinden. Wie einleitend mit Amartya Sen betont wurde, war
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J. T. Levy, The Multiculturalism of fear, a.a.O., S. 17. F. Coste, et. al., „Qui a peur du relativisme?“, a.a.O., S. 6. Vgl. C Billier, „Le relativisme moral“, a.a.O., S. 805. I. Breuer, Charles Taylor, a.a.O., S. 14. Vgl. F. von Kutschera, Ausgewählte Aufsätze, a.a.O., S. 218f.
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z.B. Nelson Mandelas Sieg nicht der Sieg eines kulturspezifischen Wertes, sondern der der Menschlichkeit. Und die Geschichten des Widerstands zeigt, dass weltweit um die Freiheit in der einen oder anderen Weise gekämpft wurde bzw. wird, so dass es kurzsichtig wäre zu sagen, dass die Freiheit ein kulturspezifischer Wert ist.691 Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität usw. gelten wohl in allen Kulturen als Werte; sie sind Werte nicht nur, weil sie unsere sind. Uns liegt es fern, die Diskussion zwischen den drei oben dargestellten Positionen (Wertobjektivismus, Wertesubjektivismus und Wertekonstruktivismus) bezüglich der Werte zu einer befriedigenden Lösung bringen zu wollen. Es ist ersichtlich, dass keine dieser Positionen imstande ist, die Wertproblematik zu lösen. Vielmehr müsste eine Zwischenposition erarbeitet werden, die neue Töne setzt, den allgemeingültigen Anspruch von Werten herausstellt und uns dadurch die Beantwortung der zentralen Frage nach der Möglichkeit einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung ermöglicht.
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Said weist die Idee, dass der aktive westliche Eindringling auf einen gleichgültigen oder trägen nicht westlichen Eingeborenen traff, zurück: „Tatsächlich hat beinahe überall in der nicht-europäischen Welt die Ankunft des weißen Mannes Widerstand hervorgerufen. Was ich in Orientalism außer acht gelassen hatte, war genau diese Reaktion auf die westliche Dominanz in der gesamten Dritten Welt. Hand in Hand mit dem bewaffneten Kampf […] gingen vielfach bemerkenswerte Prozesse kultureller Selbstbehauptung, die Bekräftigung nationaler Identitäten und, im politischen Sektor, die Gründung von Verbänden und Parteien, deren gemeinsames Ziel Selbstbestimmung und nationale Unabhängigkeit war.“ (E. W. Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 14).
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TEIL III Eine phänomenologisch orientierte Theorie der Interkulturalität als Interkorporeität – Die Herausforderung des Fremden „Jemand beobachte Nasrudin, wie dieser etwas auf dem Boden suchte. ‚Was hast du verloren, Nasrudin‘, fragte er. ‚Meinen Schlüssel‘; sagte der Mulla.Beide lagen nun auf den Knien und suchten. Nach einer Weile fragte der andere: ‚Wo hast du ihn denn eigentlich verloren?‘ ‚In meinem Hause.‘ ‚Aber warum suchst du ihn dann hier draußen?‘ ‚Weil es hier heller ist.‘“ (Idries Shah, Die fabelhaften Heldentaten des weisen Narren Mullah Nasrudin)
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Ausgangspunkt – Das Beispiel von Sophie Scholl Den vorausgehenden Überlegungen ließ sich bereits entnehmen, dass eine kulturübergreifende moralische Beurteilung hier nicht nur für möglich, sondern auch für legitim und relevant gehalten wird. Betont wird im Anschluss an Bernhard Waldenfels: Interkulturalität wird als Interkorporeität (Zwischenleiblichkeit) verstanden; und der Leib als Schnittstelle ist der Ort sowohl des Eigenen als auch des Fremden, des Besonderen als auch des Gemeinschaftlichen bzw. Universellen; er erschließt daher Verbundenheiten, die sich diesseits der Debatte Partikularismus vs. Universalismus befinden. Die These, dass eine kulturbegreifende moralische Beurteilung möglich ist, setzt allerdings einen Paradigmenwechsel in der Betrachtungsweise von Kulturen voraus. Dabei müssen wir darauf achten, dass weder dem Relativismus noch dem Ethnozentrismus Vorschub geleistet wird, der sich, wie die Geschichte zeigt, leicht hinter dem Universalismus verschanzen kann. Ausgangspunkt unserer Untersuchung war eine Auseinandersetzung mit der Philosophie von Charles Taylor, dessen Verteidigung des Multikulturalismus dem Relativismus de facto den Weg gebahnt hat. Aber das Problem mit dem Relativismus besteht unter anderem darin, dass er zwischen Kulturen nur die Unterschiede sieht, zur Gleichsetzung des kulturellen Pluralismus mit dem Pluralismus der Werte tendiert und schließlich die Kulturkritik grundsätzlich für kulturzentrisch hält. Versuchen wir, diese Ideen mit Blick auf die reale Welt zu prüfen. Wird die theoretische These, dass der Pluralismus der Kulturen mit dem von Werten gleichgesetzt werden kann, durch die Erfahrung nahegelegt bzw. bestätigt? Offensichtlich, nein. Erwarten bzw. hoffen wir zum Beispiel ungeachtet unserer kulturellen Zugehörigkeit beim Schauen eines Films nicht, dass eine gerechte Person siegt oder gerächt wird? Studenten, Touristen, Geschäftsleute, die ins Ausland gehen, bekommen bei der Anreise häufig Broschüren mit Informationen über kulturelle Besonderheiten und Gepflogenheiten als Leitfäden zur Anleitung ihres Verhaltens. Dies ist eine gängige und bewährte Praxis. Aber lernen die Neuankömmlinge wirklich alles neu? Gibt es nicht Dinge, die als selbstverständliche Voraussetzungen des menschlichen Miteinanders vorausgesetzt werden? Unter anderem handelt es sich dabei offenbar um Dinge, die mit grundlegenden moralischen Werten zu tun haben. Ein ausländischer Student wird nicht die ganze Verfassung sowie wichtige Texte seines Gastlandes lesen müssen, um zu wissen, dass z.B. Diebstahl und Raub nicht gut, also zu unterlassen sind oder auch, dass manche Dinge wichtiger und schätzenswerter sind als andere, z.B. einem Kind zu helfen statt weiter zu joggen. Auch ohne kulturelle Leitfäden oder das Studium der Verfassung kann er für die Verletzung derartiger Grundregeln
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zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ohne diese Gedanken schon jetzt weiter zu vertiefen, ist die Notwendigkeit zu erkennen, feste abgrenzende Schematisierungen von Kulturen zu vermeiden. Ist es nicht so, dass wir ungeachtet der Verschiedenheiten unserer Kulturen und Einstellungen in der Überzeugung übereinkommen, dass die Erwachsenen den Kindern gegenüber mehr Pflichten als Rechte haben? Widerlegt die menschliche Grunderfahrung im Fühlen, Denken und Handeln nicht vieles von dem, was man über die angebliche Andersheit der Kulturen hört? Menschen verfügen offenbar über ein moralisches Grundwissen und ein Selbstverständnis allein aus der Tatsache, dass sie Menschen sind. Sie teilen hier etwas Gemeinsames. Wäre das nicht so, dann könnten sie sich nur über Verhandlungen oder Vereinbarungen über bestimmte Maßstäbe des Zusammenlebens und Zusammentreffens einigen. Die Menschen haben aber explizit oder implizit nicht vereinbart, Raub und Totschlag als etwas Schlechtes zu beurteilen oder die Rettung eines Kindes als positiv, schätzenswert und empfehlenswert anzusehen. Laut Waldenfels gibt es offenkundig Verpflichtungen, die dem Gesetz bzw. der Übereinkunft (agreement) vorausgehen. Das, was Menschen tun bzw. zu tun haben, gründet nicht immer auf dem Gesetz oder einem agreement. Diese „gewisse Ahnung, dass x schlecht ist und y gut ist“ (Taylor) ist ein Grundphänomen, das Moral- und Sozialtheorien nicht ignorieren können. Die Herausforderung besteht darin, starke Wertungen von einer relativistischen Deutung abzuschneiden, die sie als absolut ethnisch-kulturell bezogen darstellt. Den philosophischen Diskussionen des vorausgehenden Kapitels schließen sich nun Ausführungen mit Fokus auf die menschlichen Grunderfahrungen an. Diese Grunderfahrungen liefern uns in ihrer ganzen Schlichtheit und Prägnanz notwendige und nützliche Lehren, die wegen der Neigung der Philosophie zur Abstraktheiten unbeachtet zu bleiben drohen. Es ist vielleicht notwendig, dass Philosophen die einfachen Dinge, die das Menschsein ausmachen, bei den einfachen Menschen (wieder) erlernen. Das junge Mädchen Sophie Scholl führt in ihrem auf die nationalsozialistische Diktatur bezogenen Brief vom 29. Mai 1940 an ihren Freund Fritz Hartnagel das an, was der Intellektualismus in Politik- und Moraltheorien manchmal zur Seite drängt: „Wenn ich auch nicht viel von Politik verstehe und auch nicht den Ehrgeiz habe, es zu tun, so habe ich doch ein bisschen ein Gefühl, was Recht und Unrecht ist. Denn dies hat ja mit Politik und Nationalität nichts zu tun. […]“692 Dieses Gefühl bzw. diese Ahnung (diese gewisse Ein-Sicht, dieser gewisse Ein-Blick bzw. dieses implizite Wissen) macht das Menschsein aus. Darum ging es in der in 4.1.4 erwähnten Begründung des Obdachlosen, wieso er die gefundene Geldbörse zurückgegeben hat („I 692
J. Inge (Hg.), Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen. Frankfurt/M., 1984, S. 142; T. Hartnagel (Hg.), Sophie Scholl, Fritz Hartnagel. Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937-1943. Frankfurt/M., 2005, S. 175f.
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just did what I thought was right. ... I know I’m homeless, but she [Nancy Daniel] has three kids. ... It seemed too important.“). Dieses Gefühl kann weder theoretisch noch praktisch verdrängt werden. Trotz der vielfältigen und unterschiedlichen Zugehörigkeiten der Menschen ist es allgemein, weil menschlich. Man muss nicht Fachmann oder Deutscher sein, um Scholls Beurteilung zuzustimmen. Blutige Kriege, Unfreiheit, und Hass sind Dinge, gegen die wir uns auf unser Menschsein berufen. Unterlaufen werden diese moralischen Gefühle durch Gier, Opportunismus und Konformismus. Letztere werden in unseren Gesellschaften immer vorherrschender, so dass man denken kann, „im Grunde [komme] es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet. Denen, um ihr Ziel zu erreichen, jedes Mittel recht ist. Diese Masse ist so überwältigend, und man muss schon schlecht sein, um überhaupt am Leben zu bleiben“.693 Gefährdet werden diese Gefühle auch durch Propaganda, Unterdrückung, kurzum, Gewalt. Diese können ein Verhalten bewirken, das dieses Menschseins nicht würdig ist. Sophie Scholl war dies sehr bewusst, als sie schrieb: „Was wir sagten und schrieben, denken ja so viele. Nur wagen sie nicht, es auszusprechen.“694 Sie wagen es nicht – sei es nur in Worten – aus Angst vor der Verhaftung und dem Todesurteil. Sie beugen sich den Zwängen eines Terrorregimes, das das menschliche Leben abwertet und den Tod banalisiert: „Menschen verschwanden lautlos von der Bildfläche, erloschen wie Kerzen im Sturmwind. Und wer nicht lautlos verschwinden konnte, bekam ein Staatsbegräbnis. […] Die letzten Seiten der Zeitungen waren bedeckt mit den Todesanzeigen der Gefallenen, mit den eigentümlichen eisernen Kreuzen. Die Zeitungen sahen aus wie Friedhöfe.“695 Es ist ein politischer Kontext, der nicht nur Menschen in Angst und Schrecken versetzt, sondern auch die affektive Fähigkeit des Menschen bzw. das „Unsoldatische“ gezielt ausschaltet. Gefordert und gefördert wurde die Bereitschaft, „Entbehrungen“ unerschütterlich auf sich zu nehmen (Hitler), die „Emotionslosigkeit“ und ein „verdinglichtes Bewusstsein“ (Adorno) bzw. ein – auch mit dem Segen der Kirchenmitarbeiter – stark ideologisierter Patriotismus, wie er sich z.B. der Festpredigt von Landesbischof Theophil Wurm im Ulmer Münster am 30. Juni 1940 entnehmen lässt: „Erst als nach der Gründung des Deutschen Reiches Handel und Gewerbe emporblühten, war die Möglichkeit gegeben, den Turm zu vollenden. [...] Vom Ulmer Münster fliegen heute unsere Gedanken hinüber zum Straßburger Münster, wo am Jahrestag von Versailles der Führer weilte, um die abgetrennten deutschen Volksgenossen auf zurückgewonnenem deutschen Boden zu begrüßen. […] Wer von uns Älteren hätte geglaubt, den Tag erleben zu können, an dem die Schmach von dazumal getilgt und das tausendfältig vergossene Blut unserer Brüder und Söhne doch noch als Same für die Zukunft sich erweist? [...] Kommt laßt uns anbeten und knieen und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat! Diese 693 694 695
Ebenda I. Scholl, Die Weiße Rose. Frankfurt/M., 1952, S. 76. Ebenda, S. 53.
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Anbetung geschieht mit leuchtendem Auge und frohem Herzen. […] Heute, da euch Gott den Sieg geschenkt hat, heute denkt daran, daß eine große Verantwortung auf euch liegt. Wäre es nicht die Krönung des Siegs, wenn dem Wort, das uns vertrauensvoll bitten und demütig danken und anbeten lehrt, wieder volle Freiheit im deutschen Volk gegeben würde; wenn all die Hindernisse, die seiner Verkündigung besonders unter der Jugend bereitet werden, verschwänden, wenn nicht bloß die Blutopfer des Pfarrhauses angenommen, sondern auch der Dienst des Pfarrhauses an Alten und Jungen, an Gesunden und Kranken gewertet und gefördert würde? Wir sehen deutlich, wie schnell sich Böses rächen kann. All die Völker, die sich am Unglück unseres Volkes vor zwei Jahrzehnten geweidet und bereichert haben, müssen die Wahrheit des Sprichworts erfahren: Unrecht Gut gedeiht nicht. Steht unser Volk unter einem anderen Gesetz als andere Völker, hat das Wort: Was der Mensch sät, das wird er ernten, keine Gültigkeit mehr in unserer Zeit?“696 Wenn der Mut einer Diktatur gegenüber fehlt, schweigt man. Man vermeidet es, außen zu stehen, indem man sich ihren ideologischen Ideen und Weltanschauung anschließt. Das Böse im Innen wird verkannt und die Vernichtung von Freiheiten und Leben des eigenen Volkes verleugnet. Wäre es daher aus interkultureller Sicht nicht ein bedauernswerter Fehler, die Stimme der Machthaber bzw. der Eliten als die Stimme des Volkes anzusehen? Wie wir mit Waldenfels sehen werden, hat das Volk keine Stimme. Es ist vielmehr immer eine Person, die in seinem Namen und ohne eine Befugnis wie aus dem Himmel spricht. Die Einheitlichkeit in einer Gesellschaft oder Kultur kann als Zerrbild oder Verblendung angesehen werden. So existiert Seite an Seite mit der Deutung des Krieges als Triumphmarsch (Landesbischof Theophil Wurm) die davon abweichende Idee, dass der Krieg für das Vaterland verloren ist und „jedes Menschenleben, das für diesen verlorenen Krieg geopfert wird, umsonst ist“ (Sophie Scholl). Der Betonung der Entfaltung der vollen Freiheit im deutschen Volk durch die Bezwingung von äußeren Hindernissen (bzw. von England als „dem gefährlichsten und besonders heimtückischen Feind Deutschlands“) steht eine deutliche Verurteilung von blutigen Kriegen mit ihren ideologischen Begründungen gegenüber, die viele Leben verschlingen („Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist für´s Vaterland“, betont das junge Mädchen Sophie). Sophie lässt nicht zu, dass der Patriotismus den Gerechtigkeitssinn, die Liebe zu Fairness und Wahrheit knebelt. Letztere bilden einen Grundzug des Menschseins, nach dem selbst der Patriotismus und der Nationalismus gerichtet werden sollen. Dass manche Leute daran scheitern, ändert nichts an der Bedeutung dieses menschlichen Grundzugs. Sophie Scholl fügte, den ethischen Appel in dieser Situation vernehmend, hinzu: „Aber ist es nicht ein Unsinn, […] dass wir daheim in unseren Zimmern sitzen und lernen, wie man
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D. T. Wurm, „Festpredigt“, in Feier im Münster zu Ulm am 30. Juni 1940. Zur Erinnerung an die vor 50 Jahren erfolgte Vollendung des Hauptturmes, S. 5-11. Zitiert nach der gekürzten Version, http://stadthaus.ulm.de/sixcms/media.php/29/Kirche_08_01_M08.pdf, abgerufen am 20.01.2016.
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Menschen heilt, während draußen der Staat täglich zahllose junge Menschenleben in den Tod treibt? Worauf warten wir eigentlich? Bis eines Tages der Krieg zu Ende ist und alle Völker auf uns deuten und sagen, wir haben eine solche Regierung widerstandlos ertragen.“697 Die Geschwister Scholl und ihre Freunde haben in Wort und Tat klargestellt, dass sie mit ihrer Person nicht für diese Ungerechtigkeit stehen wollen. Können wir ihre Kritik nicht verstehen und gutheißen, wenn wir außerhalb des deutschen Kulturraums stehen? Natürlich! Wäre unsere übereinstimmende Kritik an der nationalsozialistischen Diktatur hinfällig, weil sie von außen kommt? Aber was heißt außen oder innen? Worin bestehen die Grenzen der deutschen Kultur? Mitglieder der ‚weißen Rose‘ bekannten sich zum christlichen Glauben, waren begeisterte Leser deutscher Autoren (Leibniz, Goethe usw.), von Aristoteles, Lao-Tse, von Autoren der christlichen Tradition (z.B. Augustinus), der französischen Kultur, der russischen Kultur. Sie haben großen Nutzen aus ihren Erfahrungen im Ausland gezogen und hatten ein vertieftes Verständnis der Menschheit erlangt. All dies illuminiert die Tatsache, wie vielfältig und heterogen die Identität ist. Die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen dem Kulturraum x und dem Kulturraum y, zwischen dem Innen und dem Außen verschwimmen. Die Mitglieder der weißen Rose waren nicht gewillt dem nationalsozialistischen Verständnis von Innen und Außen der deutschen Kultur nicht zuzustimmen. Niemals hätten sie es akzeptiert, dass die deutschen Machthaber die Kritik der Nicht-Deutschen an der Diktatur als Kritik von außen und somit als hinfällig darstellen. Und die NichtDeutschen würden ihnen Unrecht tun, wenn sie die NS- Machthaber als die Vertreter der deutschen Kultur betrachteten. Denn dies würde z.B. bedeuten, die vom Nationalsozialismus geförderte Unfreiheit als ein deutscher Wert und die Freiheit als einen für Deutschland fremden Wert darzustellen. Der Irrtum wird noch augenfälliger, wenn wir annehmen, dass Nicht-Deutsche der Meinung sind, dass sie die deutsche kulturelle Identität sei zu achten und daher auf Kritik zu verzichten, deren Ausübung den deutschen Akteuren selbst zu überlassen sei. Wie gefährlich diese Meinung sein kann, sieht man an Theophil Wurms Lobpreis der NS-Kriegspolitik. Ist es aber nicht offenkundig verkehrt bzw. zynisch zu behaupten, dass nur die Angehörigen eines bestimmten Sozial- und Kulturraums Kritik an den Praktiken innerhalb dieses Raumes üben können? Die Andersdenkenden, die aufrichtigen Landsleute, füllen doch die Gefängnisse. Ihre Stimmen werden unterdrückt. Ein angeblicher Respekt vor den jeweiligen kulturellen Identitäten, vor den Unterschieden zwischen den Kulturen kann allzu schnell in eine Komplizenschaft umschlagen. „When bandits are in power, the place for an honest man is in prison“, sagte Michel Chartrand, der Gewerkschafter und sozialistische Aktivist aus Quebec. Können „Banditen“ als Vertreter einer Kultur betrachtet werden? Egal
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I. Scholl, Die Weiße Rose, a.a.O., S. 36f.
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wie lange sie an der Macht bleiben und welche Ansprüche sie sich anmaßen, ist es unangebracht, ihnen diesen Status zuzuerkennen und auf dieser Basis die Kritik als kulturzentrisch anzusehen. Wo über die Menschen Leid und Todesstrafen verhängt werden, macht es da noch Sinn, die kulturelle Identität gegenüber dem Menschsein überwiegen zu lassen? Kann zu Recht behauptet werden, dass in der Zeit der NS-Diktatur die Nicht-Deutschen mit den Deutschen nicht dieselben Werte teilen und sich deshalb von dem fernhalten sollen, was sich in diesem besonderen Kulturraum abspielt? Das, was sich dort abspielt, ist nichts Kulturspezifisches. Es geht um grausame Praktiken, die das menschliche Leben abwerten und das Menschsein in Verruf bringen. Dem entgegenzustehen ist einfach menschlich. Diesbezüglich sagt Inge Scholl über die Mitglieder der weißen Rose: „Sie haben nichts Übermenschliches unternommen. Sie haben etwas Einfaches verteidigt, sind für etwas Einfaches eingestanden, für das Recht und die Freiheit des einzelnen Menschen, für seine freie Entfaltung und sein Recht auf ein freies Leben. Sie haben sich keiner außergewöhnlichen Idee geopfert, haben keine großen Ziele verfolgt; was sie wollten, war, dass Menschen wie du und ich in einer menschlichen Welt leben können. Und vielleicht liegt darin das Große, dass sie für etwas so Einfaches eintraten und ihr Leben dafür aufs Spiel setzten, dass sie die Kraft hatten, das einfachste Recht mit einer letzten Hingabe zu verteidigen. […] Vielleicht liegt das wirkliche Heldentum, beharrlich gerade darin das Alltägliche, Kleine und Naheliegende zu verteidigen, nachdem allzuviel von großen Dingen geredet worden ist.“698 Über die Taten der Mitglieder der weißen Rose kann noch vieles gesagt werden. Von ihrer Überzeugung, dass alle Menschen die Freiheit schätzen und die Unfreiheit verabscheuen, bis zu ihrem Einsatz zur Verteidigung dieser Freiheit ergeben sich eine Menge von Lehren. Wir beschränken uns auf einige wenige, vor allem aber auf ihren Begriff des Menschen: Der Mensch ist ein Wesen, das fähig ist, das Willkürliche, auch wenn es durch das Gesetz gerechtfertigt wird, zu erkennen und zu kritisieren. Sophie Scholl bringt diese Idee zum Ausdruck, wenn sie dem Gestapo-Beamten Robert Mohr gegenüber sagt: „Das Gesetz ändert sich, das Gewissen nicht“. Für sie ist die Ansicht, der Mensch sei ein sich bloß an das Gesetz haltendes Wesen, verkürzt. Wie noch mit Waldenfels Begriff vom ‚Pränormativen‘ gesehen wurde, macht Scholl schon klar, dass Gesetze (wenn sie auch wichtig sind) zur Begründung bzw. Beurteilung des Handelns nicht ausreichen. Wird das Willkürliche durch ein Gesetz gerechtfertigt, verfügt der Mensch, so die junge Widerstandkämpferin, immer noch über ein moralisches Wissen, um es anzuprangern. Dieses moralische Wissen gibt dem Menschen Autorität und fordert zum Widerstand auf. „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einem verantwortungslosen und dunklen Trieben
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Ebenda., S. 8f.
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ergebenen Herrscherclique regieren zu lassen…“.699 Dass dieses moralische Wissen und der Wunsch nach Freiheit nicht kulturspezifisch sind, zeigt auch der persische Politikwissenschaftler Sadegh Zibakalam anhand eines konkreten Beispiels: „Die Menschen haben den Schah abgelehnt, weil sie Pressefreiheit wollten und die Herrschaft der Gesetze. Sie wollten Gleichheit zwischen Mann und Frau, Rechenschaftspflicht, freie Wahlen, eine freie Presse. Sie wollten die Gefängnisse einreißen. Sie wollten ein Land ohne politische Gefangene und mit Meinungsfreiheit. Das waren die Gründe für die Revolution.“700 Wenn wir uns auf den Standpunkt der Menschen stellen, werden wir uns dessen bewusst, was sie alle gemeinsam haben. Es gibt tatsächlich das, was Fornet-Betancourt ein „reste non culturalisé“701 nennt, eine Sphäre, die nicht kulturrelativ ist, die den Dialog unter Menschen ermöglicht und orientiert. Die Geschwister Scholl und ihre Eltern waren fest davon überzeugt, dass die Zukunft ihnen Recht geben und ihre Verurteilung für ungerecht gehalten werden würde. Darin haben sie sich nicht geirrt. Ihre Überzeugung („Es gibt eine andere Gerechtigkeit“) versteht sich im Zusammenhang mit der anthropologischen Grundannahme, die sich hier erkennen lässt. „Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind“ (Sophie Scholl).702 Ihre Aussage lässt sich gut auf den metaphorischen Begriff der „Tiefe“ bzw. „Innerlichkeit“ anwenden, den Taylor (Teil 1) zum Ausdruck bringt. Auch F. Hartnagel verweist darauf, wenn er in einem Brief (26. Juni 1942) an seine Verlobte Sophie Scholl berichtet: „Es ist erschreckend, mit welcher zynischen Kaltschnäuzigkeit mein Kommandeur von der Abschlachtung sämtlicher Juden des besetzten Russland erzählt und dabei von der Gerechtigkeit dieser Handlungsweise vollkommen überzeugt ist. Ich saß mit klopfendem Herzen da.“703 Sich der Kaltschnäuzigkeit mit dem Herzen zu widersetzen ist eine Grundidee, die im Abschnitt Leiblichkeit, Gefühle, Verschränkung vertreten und erläutert wird. Darin wird ein Weg zur Verteidigung der kulturübergreifenden moralischen Beurteilung erkannt, denn ein Herz, das empfindet und die Sprache der Gerechtigkeit spricht, haben alle Menschen gemein. Die vorausgehenden Überlegungen können unter zwei wichtige Begriffe zusammengefasst: Heterogenität und Universalität: Heterogenität: Es gibt nicht eine einzige Weise seiner Gesellschaft und Kultur zuzugehören. Wo die einen Sophie Scholl als Verräterin darstellen, sehen die anderen eine engagierte Bürgerin. Sophie selbst schätzt vor dem ‚Volksgerichtshof‘ ihr Verhalten positiv: „Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus 699 700
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Ebenda, S. 39. Zitiert von R. Baumgarten, „Iran. 25 Jahre nach dem Tod Khomeinis“, Deutschlandfunk, 03.06. 2014, https://www.deutschlandfunk.de/iran-25-jahre-nach-dem-tod-khomeinis.724.de.html? dram:article_id=288155, abgerufen am 10.02.2015. R. Fornet-Betancourt, La philosophie interculturelle. Penser autrement le monde. Paris, 2011, S. 153. S. Zankel, Mit Flugblättern gegen Hitler. Köln, 2008, S. 95. T. Hartnagel (Hg.), Damit wir uns nicht verlieren, a.a.O., S. 368. Von CN betont.
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meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.“ Kulturen sind nicht homogen und konfliktfrei. Innerhalb von ihnen gibt es vielfältige Traditionen und Strömungen. 704 Universalität: Menschen schätzen Werte wie Freiheit und Menschen sind nicht ohne eine Ahnung vom Recht und Unrecht, also ohne implizites Wissen von elementaren Werten, die das Zusammenleben ermöglichen. Dieses Wissen benötigt keine Fachkompetenzen. Sophie behauptet zu Recht: „Ich finde, dass immer Gerechtigkeit höher steht als jede andere, oft sentimentale Anhänglichkeit.“ Wenn aber Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit usw. nicht prinzipiell kulturspezifisch sind, dann gibt es auch keinen Grund, warum die Kritik aus einem anderen Kulturraum generell unter dem Verdacht der Unstatthaftigkeit fallen sollte. Dies bedeutet nicht, dass die offenkundig bestehenden Unterschiede klein geredet oder als unbedeutsam angesehen werden dürfen. Dies ist ebenso zu vermeiden wie die Ansicht, dass wir es in interkulturellen Begegnungen nur mit Unterschieden zu tun haben und das Zusammenleben nicht konstruktiv gestalten können. Scharfe Abtrennungen von Kulturen mögen in unserer Zeit attraktiv und mächtig sein, weil sie unseren tiefsten und heimlichsten Wünschen und ideologischen Ansichten dienen, aber sie bleiben doch realitätsfern und daher nicht lösungsführend. Daher ist es essentiell, das überkommene Bild eines starren Nebeneinanders der Kulturen nicht nur nebenbei zu kritisieren, sondern es gezielt aufzulösen. Hier erweist sich der theoretische Ansatz des Philosophen Bernhard Waldenfels als bedeutsam. Mit ihm soll die Lücke, die Taylor hinterlassen hat, ausgefüllt werden. Auch dabei muss man aber äußerst wachsam bleiben, angesichts der erwähnten gegenteiligen Gefahr, die Kulturen als vollkommen gleich zu betrachten. Diese Ansicht hat nach wie vor so viele schädliche Konsequenzen, dass sie nicht zugelassen werden darf. Sie ergibt sich daraus, dass man, um mit Waldenfels zu sprechen, die Dimension der Leiblichkeit übersieht und den Standpunkt des Sagens nicht berücksichtigt. Es empfiehlt sich einen theoretischen Ansatz in den Mittelpunkt zu stellen, durch den manche Fragen entschärft bzw. obsolet gemacht werden oder aufhören, vorrangig zu sein, und fehlerhafte Ansichten zurückgewiesen werden.
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Auch wenn eine Tradition vorherrenschend sein kann, sind Kulturen nicht homogen. Siehe R. Fornet-Betancourt, La philosophie interculturelle, a.a.O., S. 148.
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6. Paradigmenwechsel: Die Interkulturalität ernst meinen - sagen – nehmen
6.1 „Kommst du aus einem Baum“? Eine afrikanisch-phänomenologische Sicht Wenn hier vom einem Paradigmenwechsel gesprochen wird, ist ein radikaler Perspektivenwechsel gemeint, dergestalt, dass man, wenn das Wort Kultur bzw. Interkulturalität ausgesprochen wird, nicht mehr sofort an Unterschiede denkt, sondern an Verbundenheiten. Und der Begriff der Verbundenheit muss an dieser Stelle ernst gemeint, ernst gesagt, ernst genommen werden. Verbundenheit bedeutet nicht Leugnung von Unterschieden. Eine Kritik in diese Richtung wäre hier völlig fehl am Platz. Wie aber könnte man zwischen Menschen nur Unterschiede sehen bzw. betonen? Wir sprechen von Menschen, weil es immer um sie geht, wenn man von Kulturen und kulturellen Identitäten spricht. Dies zu vergessen verleitet zu der Annahme des starren Nebeneinanders von Kulturen. Der erstrebte Paradigmenwechsel soll hier im Anschluss an die Philosophie von Bernhard Waldenfels vollzogen werden. Sie steht in der Tradition der Phänomenologie. Letztere unterscheidet sich – so Waldenfels – von der herkömmlichen philosophischen Tradition dadurch, dass sie nicht von bestimmten philosophisch gegebenen Begriffen und Argumenten ausgeht, sondern ihre Basis in der eigenen Erfahrung findet. Die aus der Erfahrung entwickelten Konzepte werden an der Erfahrung korrigiert. Dieser Ansatz ist keineswegs banal: ist Es ein wichtiger philosophischer Akt, die Erfahrung als Ort der Korrektur von offensichtlich unzureichenden (philosophischen) Begrifflichkeiten zu pflegen, wie Stangneth und Hoffmann betonen: „Echte Philosophen haben keine Angst vor Erfahrungen, die nicht zu ihren Erwartungen passen. Im Gegenteil, Philosophie beginnt genau hier, beim Zweifel an den eigenen Begriffen.“705 Auf Basis dieser Erfahrung fundiert (begründet) die Phänomenologie nicht, sondern zeigt. Waldenfels macht dies deutlich im Titel eines seiner Aufsätze: „Faire voir par les mots“: Durch die Worte sehen lassen. Die Phänomenologie besteht in einem konkreten aufzeigenden Sprechen, nicht in einem abstrakten Begründen anhand von Begriffen. Ein Beispiel: Demjenigen, der fragt: Wieso sollte ich meinen Eltern helfen? antwortet der Phänomenologe nicht mit einer Reihe von Gründen, sondern er zeigt ihm den Standpunkt auf, von dem aus er spricht. Analog wird in vielen afrikanischen Traditionen auf derartige Begründungsfragen geantwortet: Kommst du aus einem Baum? Gemeint ist natürlich, dass man eben nicht aus einem Baum, bereits fertig gebildet und entwickelt, seinen Ursprung genommen hat.
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B. Stangneth, V. Hoffmann, „Hannah Arendt verehrt und verdammt“, in Tagesspiegel, 14.10.2014, http://www.tagesspiegel.de/wissen/google-doodle-hannah-arendt-verehrt-und-verdammt/ 8333630.html, abgerufen am 12.03.2017.
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Es ist daher der Standpunkt, von dem aus man spricht bzw. eine Frage stellt, den man betrachten muss, um zu erkennen, dass die Frage in gewisser Weise ‚überflüssig‘ ist. Man hätte stattdessen natürlich auch eine lange Diskussion mit dem Fragenden eröffnen können, in der man versucht, eine Kette von (rationalen) Gründen zu liefern, um ihn von einer bestimmten Antwort zu überzeugen. Aber man geht die Sache auf eine andere, alternative Weise an. Man lässt ihn die Antwort sehen, indem seine Augen auf den Standpunkt des Fragens gerichtet werden. Man begibt sich nicht in die Abstraktion (abstrakte Reflexion), sondern bleibt bei der Erfahrung. Wenn aber die Erfahrung in den Mittelpunkt gestellt wird, wird immer auch der Prozess der eigenen Entstehung und Entwicklung in die Überlegung miteinbezogen. Auf diese Weise ist es möglich, die Verbundenheiten, die das Verhältnis des Fragenden zu den anderen (seinen Mitmenschen) schon immer auszeichnen, als konstitutiv zu erkennen. Die Phänomenologie verweist ebenso wie die afrikanische Grundeinstellung auf das Schuld-Phänomen, das der freien Entscheidung vorausgeht. Dies muss auch theoretisch ernst genommen und gedacht werden. Sich entdecken geht mit – mit Levinas gesprochen – „sich in der Schuld stehend entdecken“ einher. Wir starten weder mit dem Cogito noch mit Gründen, sondern mit dem Primat der Bisoität706, mit der Realität bzw. dem Urphänomen der Verbundenheit. In dieser anderen Art des Philosophierens spielt der Leib – nicht die Begründung – eine Schlüsselrolle. Es geht selbstverständlich nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern den Status von jedem gut zu sehen (verstehen). In diesem Fall können die Gründe, so Waldenfels, nicht als Fundament betrachtet werden, da sie zu spät ins Spiel kommen. Waldenfels greift hier gern auf Levinas zurück. „Bin ich der Hüter meines Bruders?“, fragt Kain in der Bibel. Diese Frage hat, Levinas zufolge, nichts mit der Absicht zu tun, sich über Gott lustig zu machen; sie ist auch nicht mit der Antwort eines Kindes – „Das war ich nicht, das war der andere!“ – zu vergleichen. Denn „Kains Antwort ist aufrichtig.“ 707 Sie ist aber auch – so ein rabbinischer Kommentar – mehr als nur „eine Unverschämtheit. Sie kommt von demjenigen, der die menschliche Solidarität noch nicht empfunden hat, der meint (wie viele moderne Philosophen), dass jeder für sich existiert und dass alles erlaubt ist. Aber Gott offenbart dem Mörder, dass sein Verbrechen die natürliche Ordnung gestört hat“.708 Mit seiner Frage zeigt Kain, laut Levinas, dass er sich in Gegenwart des Anderen nicht verpflichtet fühlt. Er sieht nicht, dass „[i]m Antlitz des Anderen zu uns das Gebot, das den 706
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Biso bedeutet Wir in der Lingala-Sprache (aus dem Kongo). Siehe dazu Ntumba Tshiamalenga, „Langage et socialité: Primat de la ‚bisoité‘ sur l’intersubjectivité“ („Language and Sociality: The Primacy of ‚Bisoity‘, ‚We-ness‘, over Intersubjectivity“), in Philosophie Africaine et Ordre Social, 2(1985), S. 57–59. E. Levinas, „Philosophie, Gerechtigkeit, Liebe“. Ein Gespräch mit R. Fornet und A. Gomez am 3. und 8. Ok-tober 1982, in ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, 1995, S. 141. zitiert in E. Levinas, „Eine Religion für Erwachsene“, in ders., Schwierige Freiheit, Frankfurt/M., 2017, S. 32. Von CN betont.
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Lauf der Welt unterbricht [kommt].“709 Nach Waldenfels lebt Kain hier einen praktischen Cartesianismus aus, denn er setzt voraus, dass sein eigenes Recht auf Selbsterhaltung selbstverständlich ist, während der Andere zur Überwindung des Zweifels, dass er ein Recht auf Sorge hat, dieses erst beweisen oder begründen muss. Für Levinas und Waldenfels begeht Kain hier eine „petitio principii“: „Ich setze voraus, dass meine Selbsterhaltung keinem Zweifel unterliegt. Der Andere hingegen, auch wenn er Recht hat auf seine Sorge, muss sein Recht ausweisen. Das ist ein praktischer Cartesianismus. Und deshalb die Antwort, die Levinas gibt: Ich kann nur vom Anspruch des Anderen ausgehen und kann nur zeigen, dass dieser meiner Initiative immer schon vorausgeeilt ist. Ich kann keine Gründe angeben, sie kämen immer zu spät. Levinas sagt nie: Du sollst den Anderen achten. Da ist und bleibt er Phänomenologe: Man kann nur zeigen wovon man ausgeht. Der Blick des Anderen steht nicht in meiner Wahl. Wenn ich den Anderen umbringe – fühle ich trotzdem seinen Blick in meinem Rücken. Ich habe ihn damit nicht in ein Nichts, in ein Nicht-Etwas verwandelt. Sartre kommt dem sehr nahe, nun nennt er das Ontologie. Ich weiß nicht, was dann Ontologie heißen soll, und was ‚Moral‘, außer sie beruht auf purer Dezision.“710 In Kains Antwort fehlt die Ethik, stellt Levinas fest, denn „es ist nur Ontologie darin: Ich bin ich und er ist er. Wir sind durch die Ontologie geschiedene Wesen“.711 Dies ist genau die separatistische Einstellung, die in der vorliegenden Überlegung – im personalen sowie im kulturellen Bereich – als ein starres Nebeneinander bezeichnet wird. Mit einer solcher Einstellung, die die Verbundenheiten mit dem Anderen verkennt bzw. missversteht, ist Kain taub für den ethischen Appell; er kann die „von vornherein verpflichtende Verantwortung“712 nicht wahrnehmen. Weil er sich als vom Anderen getrennt sieht, ist er auch dessen Schicksal gegenüber gleichgültig. Wenn wir Kains Dialog in eine Szene mit mehreren Akteuren übertragen, würde Kain den anderen antworten: „Ich tu immer das, was ich will. Was geht euch das (überhaupt/eigentlich) an? Was gibt euch das Recht dazu? Wieso seid ihr hier involviert? Wo kommt ihr denn her und wie kommt ihr dazu, euch einfach hier einzumischen?“ Ein „de quoi vous vous mêlez“, das allen klarmachen soll, dass nichts uns miteinander verbindet, denn ich bin ich, du bist du, er ist er. Keine Kritik, keine Forderung nach Rechenschaft, finden hier Platz. Ist aber dieses ‚ich bin ich‘ oder ‚wir sind
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711 712
E. Levinas, „Philosophie, Gerechtigkeit, Liebe“, a.a.O., S. 140. B. Waldenfels, „Gespräch mit Bernhard Waldenfels. ‚…jeder philosophische Satz ist eigentlich in Unordnung, in Bewegung.‘“, Interview mit P. Gehring et al., in M. Fischer et.al. (Hg.), Vernunft im Zeichen des Fremden. Frankfurt/M., 2001, S. 449f. E. Levinas, „Philosophie, Gerechtigkeit, Liebe“, a.a.O., S. 141 Ebenda. Dazu fügt Levinas hinzu: „Die Begegnung mit dem Anderen ist von Anfang an Verantwortung für ihn“. (Ebenda, S. 132.) Er zieht dem abgegriffenen Wort der Liebe den Ausdruck „Aufsichnehmen des anderen Schicksals“ vor. Aber er betont, dass er Heteronomie nicht als Versklavung betrachtet.
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wir‘ (kollektive Identität) nicht auf Missverständnissen und Unklarheiten gegründet, die ihm den bloßen Anschein von Stichhaltigkeit verleihen? Auf welcher Grundlage werden denn solche scheinbar deutlichen Grenzen gezogen? Es ist von großer Bedeutung für uns, den Standpunkt, von dem aus das Ich oder das Wir ausgesagt wird, ins rechte Licht zu rücken. Allein dadurch ist schon vieles beantwortet. Je weiter wir in die Geschichte der Bildung dieses Standpunkts, also in die Schichten der Identität des Ich und Wir der Geschichte zurückgehen, desto mehr entzieht sich uns der Anfang von Ich und Wir und desto eindeutiger werden ihre komplexen Beziehungen. Dass wir diese Verbundenheiten endlos in die Vergangenheit zurückverfolgen können, zeigt nicht nur die Unverschämtheit der Idee der absoluten Trennung oder völliger Andersheit, sondern auch ihre Unhaltbarkeit. Kains Antwort (seine Gegenfrage) ruft bei einem Phänomenologe nicht die Notwendigkeit hervor, Gründe zu geben, sondern die, etwas mit dem Worten zu zeigen. Was hier zu sehen ist, ist Verflechtung zwischen Selbsterhaltung und Sorge für den Anderen. Darum geht es auch in dem afrikanischen Sprichwort: „Man kann den Sonnenschein nicht verbieten, aber man kann dafür sorgen, dass andere im Schatten stehen.“ Mit diesem auf den afrikanischen Kontext bezogenen Sprichwort ist sicherlich nicht gemeint, jemanden auszustechen oder ähnliches, sondern ihm etwas Gutes zu tun, indem man ihm einen Schutz vor der Hitze sichert. Dieser Appel gründet auf der Idee, dass alle Menschen gleich (aus demselben ‚Stoff‘ geschaffen) und verbunden sind. Die Verbundenheiten sind ursprünglich, so dass sich der Mensch als ein „tard-venu“ (ein „Spätankömmling“713) sieht. Er kann und konnte den Anfang nie beeinflussen. Seine Verantwortung in der Geschichte übernimmt er daher als ein Handelnder, der mitten in der Welt bescheiden und sich seiner Verbundenheiten bewusst bleiben soll. Der Mensch als ein „tard-venu“ (ein „Spätankömmling“) sieht sich aufgefordert Verbundenheiten zu pflegen, in die er immer schon durch sein Wesen ursprünglich eingewilligt hat. Die Anderen, genauso wie die Welt, fügen sich zu seinem Wesen wie Außenbestandteile nicht zusammen. Mit dieser Be-trachtungsweise setzt er sich daher für die Harmonie mit der Natur ein, deren Gesetze er lernt. Aus dieser Perspektive heraus ist der cartesianische Solipsismus ein gewaltiger Irrtum, ein Nonsens. Man weiß nicht, wo und wie man damit anfangen kann. Was kann die phänomenologische bzw. afrikanische Herangehensweise zu der Debatte Universalismus-Partikularismus beitragen? Sie bringt uns vor allem dazu, nicht Gründe zu suchen, sondern anders zu sehen. Es geht hier natürlich nicht darum, die Forderung nach Begründungen generell schlecht zu reden, sondern die spezifische Frage anders anzugehen. Die Vorrangigkeit von Verbundenheit in den Mittelpunkt zu rücken, so dass die Rede von völliger Andersheit, absoluter Trennung, kurzum, die Überbetonung von Unterschieden sowie die die Unterschiede verkennende Vereinheitlichung an Relevanz verlieren, ist unseres zentrales Anliegen.
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Der Mensch als ein „tard-venu“ in der Geschichte betrachtet Gott als ein „Musangana“ (der „Anwesende“, der den Menschen zuvorkommt). Es geht hier um eine religiöse Erfahrung, die mit der Hinwendung zu einer konkreten Religion bzw. dem Besuch eines Kirchengebäudes nichts zu tun hat und nicht von anderen Lebensbereichen zu trennen ist. Siehe die ausführlichen Erläuterungen dieser religiösen Erfahrung in O. Bimwenyi-Kweshi, Discours théologique négro-africain, a.a.O., S. 529.
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Mit der Phänomenologie stellen wir uns quer zur vorherrschenden Debatte. Die hier vorgeschlagene Art, zu denken ist, wie gesagt, charakteristisch für Waldenfels, der mit dem gängigen intellektuellen Stil der philosophischen Debatte bricht. Es liegt nicht in seinem Interesse Argumente pro oder contra zu liefern, sondern die Fremderfahrung in den Mittelpunkt zu stellen und aus dieser bewusstgemachten Erfahrung relevante Konsequenzen zu ziehen. Sein Ansatz bei der Identitätsbildung ist einleuchtend: Wenn es um die Beziehungen zwischen Menschen oder Kulturen geht, muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass das Fremde sich auf die Bildung der eigenen Identität auswirkt. Wir sind, so Waldenfels, immer schon vom Fremden heimgesucht. Wer wir sind, sind wir, indem wir vom Anderen affiziert sind. Daher wird in der vorliegenden Überlegung die Identität als „bei-sichmit-Anderen-sein“714 verstanden. Wie lässt sich diese Ansicht entwickeln und vertiefen? Der Ausgangspunkt ist der Leib als Grundbegriff der Verbundenheiten, dank deren sich eine Position diesseits des Antagonismus Universalismus-Partikularismus gewinnen lässt. Die lehrreiche Perspektive, die sich hier eröffnet, ist nun näher zu betrachten.
6.2 Das Selbst unter der Fremderfahrung – die Identität als „bei-sich-mit-Anderensein“ Die Frage nach der Identität ist nur auf dem ersten Blick klar und deutlich. Dass über sie im politischen, kulturellen, religiösen Bereich usw. ausgiebig diskutiert wird, verweist auf den Umfang an Bedeutungen und damit möglichen Missverständnissen, die in diesem Begriff der Identität stecken. Zu Recht bezeichnet Niethammer Identität als ein „Plastikwort“. Damit ist gemeint, dass an vielen Verwendungsstellen „zwar noch Identität draufsteht, aber nicht mehr drin ist“.715 Dies bleibt nicht ohne Folgen. Nicht selten liegen heftigen Reaktionen, Protesten oder Konflikten Identitätsaussagen oder -ansprüche zugrunde. Die Rede über Identität erweckt Unbehagen. Daher empfiehlt es sich, den Identitätsbegriff ins rechte Licht zu rücken. Seine lateinische Wurzel idem verweist auf: ‚derselbe‘ (‚dieselbe‘, ‚dasselbe‘). Aber es fragt sich immer: „in Bezug worauf?“ (Lutterer): „Es dürfte klar sein, dass derartige Aussagen keine Aussagen über „das Ding an sich“ (Kant) darstellen, sondern nur mehr oder minder gut gelungene Beschreibungen abgeben. Als Beschreibungen sind sie jedoch in erster Linie einmal Beschreibungen von jemandem, einem 714
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Wir ändern hier leicht Hegels Ausdruck „in seinem Anderen bei sich selbst zu sein“. Damit bezeichnet er die Freiheit und betont die Versöhnung des Individuums mit der Welt. Für ihn kann man nicht von Freiheit reden, wenn man von seinen Mitmenschen abgeschottet und in sich selbst geschlossen ist. (G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Frankfurt/M., 1970, S. 84. Vgl. auch ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820) – TW 7, §4). L. Niethammer, Kollektive Identität. Hamburg, 2000. S. 31.
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Sprecher, einem Beobachter […]. Dies bestätigt wiederum eine Alterität: Es braucht den Anderen, damit ich mich selbst beobachten kann, ohne die soziale Matrix der Anderen ist Selbstbeobachtung, Identität nicht möglich, will man nicht eher einem psychopathologischen Solipsismus huldigen [...]“716 Diese Betrachtung führt zu der entscheidenden Einsicht, dass die Frage nach dem Selbst nicht in den Mittelpunkt rücken kann, ohne dass zugleich diejenige nach der Rolle der Anderen zentral wird. Beide sind untrennbar verbunden. Diese These bildet den Mittelpunkt der Überlegungen von Waldenfels, die aus dem Gesichtspunkt der Phänomenologie die Verflechtungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden (auf der zwischenmenschlichen und interkulturellen Ebene) zu erläutern suchen. Er betont: „Worte wie ‚Interkulturalität‘, ‚Intersubjektivität‘ und ‚Interaktion‘ bleiben leere Worte, solange das ‚Inter‘, das ‚Zwischen‘ nicht eigens bedacht wird und solange man nicht zu einer Zwischensphäre vorstößt, die allen Zentrierungen zuwiderläuft“717 Waldenfels’ Leitidee besteht im Wesentlichen darin, die Bedeutungen dieses ‚inter-‘ zu entfalten. Daher spricht er von einem Zwischenbereich, „der mehr bedeutet als einen Zwischenraum zwischen zwei Relationsgliedern, eine Interlokution oder Interaktion, die mehr besagt als eine Koordination individueller Äußerungen und Handlungen, eine Interkulturalität schließlich, die mehr enthält als die Zusammenfügung vorhandener Kulturen [...]“.718 Zur Erläuterung der Bedeutung dieses ‚inter‘ entwickelt er seine Phänomenologie des Fremden. Unter Phänomenologie versteht er eine „Philosophie der Erfahrung“, die Konzepte ausgehend von der Erfahrung entwickelt und sie an der Erfahrung korrigiert. Die Philosophie der Erfahrung zielt – wie schon gesagt – nicht darauf ab, etwas zu „fundieren“, sondern etwas durch Worte zu „zeigen“: „Wenn es ganz ernst wird, dann hat Husserl immer darauf bestanden: Mit Argumenten geht es nicht weiter, das Gemeinte muss sich zeigen. Bei Merleau-Ponty heißt dies: Faire voir par les mots, das ist die Aufgabe der Philosophie. Wobei man immer zugeben muss, Philosophie tut alles mögliche, sie argumentiert, demonstriert, formalisiert und so fort. Aber es gibt Schlüsselstellen, wo nur ein aufzeigenden Sprechen weiterhilft.“719 716
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W. Lutterer „Identitäten-Alteritäten, Normativitäten? Die Bedeutung von Normativität für Selbst- und Fremdbilder“, in M. Fludernik et al. (Hg.), Normen, Ausgrenzungen, Hybridisierungen und ‚Acts of Identity‘, Würzburg, 2004, S. 25. Zu der Idee, Beschreibungen seien hauptsächlich Beschreibungen von jemandem vgl. H. Förster, KybernEthik. Berlin, 1993, S. 63, 85. B. Waldenfels, „Antwort auf das Fremde. Grundzüge einer responsiven Phänomenologie“, in I. Därmann, B. Waldenfels (Hg.), Der Anspruch des Anderen, München, 1998, S. 35f. B. Waldenfels, „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“, a.a.O., S. 53. B. Waldenfels, Vernunft im Zeichen des Fremden, a.a.O., S. 455. Hier zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen Habermas und Waldenfels. Der eine interessiert sich für Begründungsfragen, während der andere die Reichweite der Erfahrung aufzeigen will.
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Vom Standpunkt der Phänomenologie als einem aufzeigenden Sprechen aus, stellt Waldenfels heraus, dass „Responsivität“ einen Grundzug unseres Verhaltens bildet. Zu diesem Begriff sagt Waldenfels: „Die Responsivität entnehme ich nicht der Sprachtheorie […], sondern der Verhaltenstheorie. Sie ist der einzige Ort, wo das Wort ‚Antwort’, ‚response’ nicht trivial, alltäglich verwendet wird.“ 720 Unser Verhalten zeichnet sich im Allgemein dadurch aus, eine Antwort zu sein. Das Antworten beginnt, so Waldenfels, nicht mit dem „Reden“, sondern mit dem „Hinsehen“ und „Hinhören“, das eine ihm eigene Form der Unausweichlichkeit enthält. Im Hinblick darauf ist der Mensch ein „Lebewesen, das Antworten gibt“.721 Wenn sich aber das Selbst grundsätzlich als ein antwortendes Wesen erweist, dann ist es als solches eng mit dem Fremden verbunden, da es von Anfang an unausweichlich in der Verschränkung (dem ‚inter’) mit anderen steht. Seine Vorhaben, Initiativen, Erfindungen, sein Handeln müssen als ein Antworten verstanden werden: In allen diesen Akten antwortet der Mensch auf etwas, das „woanders anfängt“. Dieses „etwas“ (das Fremde) „beunruhigt, stört, motiviert, verletzt, auffordert oder affiziert“ ihn, auch wenn er sagt: „meine Meinung, meine Rede, meine Initiative, meine Erfindung, mein Handeln“. Das Selbst ist aufgrund der Fremderfahrung stets mehr als das, was es über sich selbst erzählen oder rekonstruieren kann. Die Fremdheit liegt, so Waldenfels, dem Selbst durch die Tatsache zugrunde, dass ihm etwas auffällt oder einfällt, etwas ins Auge fällt. Weil etwas auf ihn zukommt und sein eigen wird, wird die Passivität zu einer seiner Eigenschaften: „Passivität meint hier nicht nur das Gegenteil einer Aktivität, die lediglich ihren Urheber wechselt, Passivität meint vielmehr, das mir etwas geschieht, dass etwas zur Erscheinung, in den Blick, zur Sprache kommt, ohne dass die Initiative bei mir selbst liegt. Dies betrifft einmal die Spontaneität von Einfällen, von Auffälligkeiten, von all dem, was mir in den Sinn kommt, was in den Blick gerät, was mir zu Ohren kommt. Dazu gehören auch die sogenannten Fehlhandlungen, in denen dem Selbst die eigene Sprache, die eigenen Hände, die eigenen Beine einen Streich spielen, mich mit Unerwartetem, Ungewolltem, aber nicht unbedingt Ungewünschtem überraschen. Fehlerhandlungen sind nicht bloße Ausnahmefälle zu behandeln, vielmehr ist die Fallbewegung dem Gehen eingeschrieben, genauso wie das Entfallen die Bewegung des Behaltens auslöst. Wir sind nie völlig Herr unserer Gedanken, unserer Taten und Gefühle.“722 All diese Fälle belegen den wirkungsvollen Charakter der Fremderfahrung bzw. verdeutlichen die Nachträglichkeit des Antwortens des Selbst. Ausgehend davon vergleicht Waldenfels die Fremdheit mit traditionellen Instanzen wie Glücksstreben, Selbsterhaltungstrieb und kategorischem Imperativ: 720 721 722
Ebenda, S. 452. B. Waldenfels, Der Anspruch des Anderen, a.a.O., S. 45. B. Waldenfels, „Die Schlüsselrolle des Leibes in Merleau-Pontys Phänomenologie“, in G. Abel (Hg.), Französische Nachkriegsphilosophie, Berlin, 2001, S. 74.
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„Der fremde Anspruch fällt ebenfalls nicht unter die Disjunktion von Tatsachen und Normen, von Sein und Sollen. Der Anspruch, der etwas zu sehen, zu hören, zu denken, zu tun und zu fühlen gibt, tritt auf mit einer Unausweichlichkeit, die dazu führt, dass ich auf einen vernommenen Anspruch nicht nicht antworten kann. Auch das Nichtantworten wäre eine Antwort. In dieser seiner Radikalität gleicht der fremde Anspruch traditionellen Instanzen wie Glücksstreben, Selbsterhaltungstrieb, kategorischer Imperativ und Freiheit, die – wenn es sie gibt – allesamt nicht zur Wahl stehen und sich allesamt einem Berechtigungsnachweis entziehen.“723 Waldenfels’ Untersuchung über dieser Erfahrung dessen, was nicht in unserer Wahl steht und uns ohne unsere Zustimmung begegnet, kann als einen Versuch angesehen werden, einige wichtige Aspekte und Fragen in den Mittelpunkt der philosophischen Diskussion zu rücken. Die Perspektive, die sich mit der Rede von Fremdheit eröffnet, ist eine Umkehrung der ganzen cartesischen Konstruktion. Denn dem Subjekt wird hier die Initiative bzw. die souveräne Stellung entzogen. Gegen das Cogito werden die Formel „Es denkt“ (Nietzsche), „Je est un autre“ („Ich ist ein Anderer.“, Rimbaud), „Ich fange woanders an“ oder „Ich ist ein antwortendes Wesen“ (Waldenfels) angewandt. Die Fremderfahrung versteht sich zwar als ein Antworten, das „anderswo beginnt“,724 aber sie „besagt nicht bloß, dass ich Fremde erfahre, sondern dass ich mir selbst fremd werde“.725 Denn die Fremdheit ist mir letzten Endes konstitutiv. Sie ist im Herzen des Selbst. „Was das Selbst erleidet, wozu es aufgefordert wird und worauf es antwortet, ist ganz und gar mit Fremdem durchsetzt. Wenn ich nur bin, wer ich bin, indem ich vom Anderen affiziert und in Anspruch genommen bin, so bin ich außer meiner selbst, mir selbst fremd.“726 Die Beurteilung von Fremdheit als konstitutiv erklärt zugleich die Figur des Nebeneinanders für ungeeignet, wenn es darum geht über die Beziehungen zwischen Menschen oder Kulturen nachzudenken. Denn diese Figur stellt die Anderen als additiv dar, als ob sie zu einem schon fertig konstituierten Selbst hinzustoßen. Fremdheit ist im eigenen Hause, weil Beziehungen nicht etwas Nachträgliches sind. Angesichts dieser Tatsache betont Waldenfels zu Recht, dass die Anderen keinen „bloßen Zusatz“ zur Identität des Selbst, sondern 723
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B. Waldenfels, „Der Andere und der Dritte in interkultureller Sicht“, a.a.O., S. 76f.; ders., Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, a.a.O., S. 47. Siehe eine ausführliche Erläuterung in ders., Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 39-52. B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt/M, 2002, S. 188. Ebenda, S. 213. Ebenda, S. 205. Er nennt diese Fremdheit, die im Herzen des Selbst aufbricht, ekstatische Fremdheit und erläutert sie wie folgt: „Die Arche, der Anfang und Ursprung dessen, was ich aus mir selbst am eigenen Leibe erfahre, liegt weder in mir noch außer mir, sondern als Ur-sprung ist sie in sich selbst gespalten, gebunden an ein Selbst, das sich selbst vorausgeht, weil es aus und in Anderen lebt.“ (Ebenda, S. 206.) Siehe auch B. Waldenfels, „L´homme comme être des limites“, in Revue de Théologie et de Philosophie, Bd. 137, 4(2005), S. 297.
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eine konstitutive Dimension derselben bilden. Konstitutiv ist diese Dimension, weil es dem Selbst nicht möglich ist, sich jenseits der Verflechtung mit den Anderen zu begeben, um einen reinen und spurenlosen Ausgangspunkt zu finden. Diese Ansicht bringt uns in die Nähe von Descombes Charakterisierung des grundlegenden Axioms der Phänomenologie. Diesem zufolge müssen wir „in die Definition des Gegenstandes die wirklichen Bedingungen, unter denen er mir gegeben ist, aufnehmen. So wie die Reise zum Ferienhaus zu den Ferien dazugehört, so gehört der Weg zum Objekt mit zum Objekt“.727 Wendet man dieses Axiom auf die Rede vom Individuum an, kann man sagen, dass wir in die Definition des Individuums die wirklichen Bedingungen, unter denen es zustande kommt, aufnehmen müssen. Die Anderen sind für das Selbst konstitutiv, weil sie als wesentlicher Bestandteil zu seinem Entstehungsprozess gehören. „Je est plusieurs“ („Ich ist mehrere“), sagt Amartya Sen in diesem Zusammenhang (siehe den Abschnitt 6.2 über das Selbst unter der Fremderfahrung – Identität als „bei-sich-mit-Anderen-sein“). Das Selbst kann nicht frei von Spuren der Anderen sein oder ihre Spuren in sich austilgen. Die Aussage „ich fange woanders an“ macht jedes Streben nach einer autarken Selbst- oder Identitätsbildung nichtig; sie erklärt jeden Versuch für belanglos, seinen Anfang in sich selbst oder einen Ausgangspunkt, der nicht vom Fremden affiziert wird, zu finden. Dies ist nicht erstaunlich, – wie Waldenfels betont –, wenn man bedenkt, dass z.B. die eigene Geburt vor allem ein Ereignis für die anderen Menschen ist und für das betroffene Selbst immer „halbfremd“ bleiben wird. Sie wird sich bei allen Bemühungen des Bewusstseins niemals ganz einholen lassen. Ein weiteres Beispiel bildet die Tatsache, dass das Selbst den eigenen Namen und die Begrifflichkeit seiner Selbstdarstellungen von anderen Menschen bekommt: „Ist Eigenes mit Fremden verflochten, so besagt dies zugleich, dass das Fremde in uns selbst beginnt und nicht außer uns, oder anders gesagt: es besagt, dass wir selbst niemals völlig bei uns sind. Ich bin leiblich in eine Welt geboren, ohne dieses Faktum der Geburt je einholen und aneignen zu können. Ich spreche eine Sprache, die ich von Anderen übernommen habe und buchstäblich vom Hörensagen kenne. Ich trage einen Namen, den mir Andere gegeben haben und in dem weit zurückliegenden Traditionen anklingen. Ich spiegele mich immer wieder im Blick der Anderen. Diese intrapersonale Fremdheit, die Rimbaud andeutet, wenn er verkündet: ‚Je est un autre‘, nimmt Züge einer intrakulturellen Fremdheit an. Niemandem sind seine Gefühle und Antriebe, seine sprachlichen Ausdrucksformen und seine kulturellen Gewohnheiten ganz und gar zugänglich, niemand ist seiner Kultur ganz und gar zugehörig. Ein Mangel wäre dies nur, wenn wir von der vollendeten Selbsttransparenz eines Wesens ausgingen, das nur aus dem besteht, was es aus sich selbst gemacht hat. Die Rede vom Eigenleib, der Eigensprache oder der Eigenkultur ist stets nur cum grano salis zu nehmen.“728
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V. Descombes, Das Selbst und das Andere, a.a.O., S. 79. B. Waldenfels, „Zwischen den Kulturen“, in Wierlacher et al. (Hg.), Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd. 26, München, 2000, S. 251f.
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Diese Erklärung verdeutlicht in überzeugender Weise, inwiefern das Selbst woanders anfängt. Es bildet sich nämlich schon in seiner Anfangsphase dadurch aus, dass es sich auf Repräsentation und Rede der Anderen verlässt. Und erst durch das Erlernen der Sprachen der Anderen blüht es in seinen menschlichen Fähigkeiten auf. Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden bringt erhebliche Konsequenzen mit sich. Wir beschränken uns an dieser Stelle darauf zwei davon skizzenhaft zu erwähnen: a. Auf der Ebene der Normativität: Ausgehend von der Fremderfahrung entwickelt Waldenfels eine Ethik, in der das Pränormative ein wichtiges Moment darstellt und der Andere mehr ist als ein bloßer ‚Anwendungsfall’ von Normen. Wie ist das zu verstehen? Wenn der Andere tatsächlich das ist, „wovon das Selbst ausgeht“, dann ist das Selbst unumgänglich einem fremden Anspruch ausgesetzt, d.h. „einem Appell, der sich an jemanden richtet, einer Prätention, die sich auf etwas erstreckt“ (Waldenfels). Er versteht in Anlehnung an Levinas das „Pränormative“ in dem Sinn, dass der fremde Anspruch, der uns zum Antworten zwingt, einen störenden und beunruhigenden Charakter hat, ohne dass er gleich „unter einem Moralgesetz oder Rechtsgesetz“ stünde. In dieser Hinsicht hält Waldenfels das Ethische für eine Form der „Nicht-Indifferenz“, der „Nicht-Gleichgültigkeit“, die jedem Begründungsversuch vorausgeht. Ich bin von dem fremden Anspruch affiziert, d.h. berührt, angesprochen, bevor ich zur Begründung ansetze. Daher ist der fremde Anspruch radikal. Dies ist die Grundidee des ersten Buches von Waldenfels über das Fremdheitsthema: Der Stachel des Fremden. Der Titel gibt zu verstehen: „Das Fremde stachelt uns an, es stimuliert uns, zugleich verletzt es unsere Eigenliebe, unser Eigeninteresse. Es stellt uns in Frage, es reißt uns aus dem Schlummer der Normalität.“729 Wir sind daher fremden Ansprüchen unvermeidlich ausgesetzt. Dies erklärt Waldenfels am Beispiel einer negativen Aufforderung wie „Hör nicht!“ oder „Hör weg!“, die uns in eine paradoxe Lage bringt. Wir können es immer nur falsch oder ‚verkehrt’ machen, ganz egal wie wir auf diese Aufforderung reagieren: Denn das Weghören setzt ein Hören voraus sowie das Wegsehen ein Sehen. Diese Erfahrung ist für Waldenfels von großer Bedeutung: „Diese Aufforderung versetzt den Hörer in einen double blind; denn es ist ihm unmöglich, der doppelten Aufforderung ‚Hör nicht auf mich!‘ und ‚Hör nicht auf das, was ich dir sage!‘ gleichzeitig nachzukommen. Das Hören auf das Sagen desavouiert das Hören auf das Gesagte, so wie das Hören auf das Gesagte das Hören auf das Sagen desavouiert. Daraus lässt sich ein paradoxer Schluss ziehen. Es gibt die Unausweichlichkeit des fremden Anspruchs, auf den ich nicht nicht antworten kann, es gibt aber zugleich ein Ausweichen vor dem Unausweichlichen.“730 Ausgehend davon sind wir, so Waldenfels, konfrontiert mit einer „gelebten Unmöglichkeit“, mit einem „Nichtanderskönnen“: Wir können nicht nicht x machen. 729
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B. Waldenfels, „Die Angt vor dem Fremden“, Interview mit A. Bosetti (19. 09. 2015) http://www. rp-online.de/kultur/die-angst-vor-dem-fremden-aid-1.5404657 (Abgerufen am 20.09.2015) B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 50.
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„Wir befinden uns hier auf der Grenzscheide zwischen Ethik und Moral. Das primäre Ausweichen ist moralisch nicht fassbar. Was Unausweichlich ist, lässt sich weder gebieten noch verbieten, es fällt somit nicht unter ein moralisches Gesetz; und dennoch hat es eine ethische Qualität im Sinne jener Nicht-Indifferenz, die nicht in unserem Belieben steht. Im Geben und Verweigern manifestiert sich ein Ja, das unterstreicht, ein Nein, das durchstreicht, und hinter beidem verbirgt sich ein Ja vor dem Ja und Nein. Das Ja der originären Einwilligung reicht tiefer als das Ja und Nein einer Willenssetzung. Das responsive Ja zu... ist vom referentiellen Ja über... […] Das primordiale Ja ist ein Lebenszeichen, genauer: ein Mitlebenszeichen, kein Ausdruck einer Ja/Nein-Entscheidung.“731 Dieser Gedanken des unvermeidlichen Einverständnisses (der originären Einwilligung) in der Formel „Ja vor dem Ja und Nein“ besagt, dass die Willenssetzung nicht alles erzeugt, sondern dass sie etwas (d.i. die Ansprüche des Fremden, die pränormativen Forderungen), das von vornherein im Spiel steht, gestaltet. Sie kommt spät, denn wir haben schon längst eingewilligt. Waldenfels sieht dies als ein Zeichen des „Heterons“, das uns ohne weiteres affiziert, und somit als Kritik an einer rationalistischen Moral in ihrer ungezügelten Suche nach Begründungen. „Jede Frage, die an die Fremdheit des Eigenen rührt, ist eine Rückfrage, wie Husserl dies nennt. Der Anfang ist schon gemacht, wenn ich nach ihm frage. Insofern beginnt die eigene Erfahrung in der Fremde, sie beginnt als Fremderfahrung.“732 Die Tatsache, dass diese Erfahrung primordial nicht von unserer Ja/Nein-Entscheidung abhängt, unterstreicht Waldenfels’ Mahnung, die Vorsilbe ‚inter-‘ ernst zu nehmen. Die Radikalität oder Unausweichlichkeit des Anspruchs des Fremden wurde oben am Beispiel von Kains Frage in der Bibel ‚Bin ich der Hüter meines Bruders?‘ illustriert. Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass das menschliche Handeln auch auf pränormativen Ansprüchen oder prägesetzlichen Forderungen (Verpflichtungen) basiert. In Bezug auf die Frage nach der Hilfeleistung ist Ricoeurs Forderung „Gib, weil dir ja gegeben wurde“ als Korrektur des utilitaristischen „Gib, damit dir gegeben wird“ (do ut des) im Blick zu behalten.733 Diese Forderung steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass wir immer schon im Umgang mit den Anderen stehen (Man muss nur sehen, „wovon man ausgeht“). An diese Auffassung schließt auch Roberto Esposito in seinen Bemühungen an, die tiefe Bedeutung des Terminus communitas 731 732
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Ebenda, S. 51 B. Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung. Berlin, 2012, S. 303. „Die Erfahrung des fremden Anderen hat den paradoxen Charakter eines notwendiges [sic!] Ereignisses, das jeder freien Wahl und vernünftigen Entscheidung zuvorkommt. Es steht nicht in meinem Belieben, ihr auszuweichen, wenn es zutrifft, dass mich die Erfahrung des fremden Anderen erst zu dem macht, was ich jeweils bin.“ (K. Busch et al. (Hg.), Philosophie der Responsivität. München, 2007, S. 8.) Siehe P. Ricoeur, Liebe und Gerechtigkeit, a.a.O., S. 59. Waldenfels sieht eine ähnliche Position bei Lacan, der zwischen den Anderen („von dem aus ich spreche“) und dem anderen („den ich vor mir habe“) unterscheidet. Siehe B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 51.
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(cum-munus) zu erschließen. Im Unterschied zu donum, das keine Rückgabe oder angemessene Entgeltung erfordert, wird das munus durch seinen obligatorischen Charakter ausgezeichnet. Anders als das donum, das die Abwesenheit der Verpflichtung als Eigenschaft hat, wird das munus durch die zwingende Verbindlichkeit ausgezeichnet: „Ich gebe diese Gabe, weil ich sie geben muss und nicht nicht geben darf“: „Das munus ist die Verpflichtung, die man gegenüber dem anderen eingegangen ist und die zu angemessener Entpflichtung mahnt. Die Dankesschuld, die neuerliches Geben einfordert.“734 Die Frage von Kain – der nicht einsieht, dass er von vornherein verpflichtet ist – verdeutlicht den im Vorausgehenden schon erwähnten Grundzug der ‚responsiven Ethik’, d.h. einer Ethik die nicht nur die Frage, „ob wir alles tun sollen, was wir tun können“ berücksichtigt, sondern „auch die Frage, ob wir alles tun sollen, was wir laut Moral- und Rechtsordnung tun dürfen“.735 Mit der letzten Frage stößt eine reine Moral auf das „Unergründliche“, die „weißen Flächen einer Amoral“, „ihren blinden Fleck“. Wie Taylor736 aber mit anderen Akzentuierungen, lehnt auch Waldenfels es ab, dass der moralische Bereich auf das normative Handeln beschränkt wird. „[w]as uns widerfährt und uns zu antworten nötigt, ist älter und zugleich auch jünger als alle Gesetzsvorschriften, die bereits moralische Subjekte voraussetzen, älter und zugleich auch jünger als alle Verantwortlichkeit, die voraussetzt, dass wir jeweils wissen und wollen, was wir tun […], es geht um Ansprüche und Antriebe, die jede Zielordnung ebensosehr aufsprengen wie jede Gesetzesordnung.“737
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R. Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeischaft. Berlin, 2004, S. 14. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 80. Taylor sagt zur Verengung des moralischen Bereichs: „Schon zu Anfang des ersten Kapitels wurde die in der modernen Philosophie bestehende Tendenz genannt, die Betrachtungsweise der Moral überaus eng zu fassen. Dabei wird die Moral ausschließlich als Leitfaden des Handelns begriffen. Nach dieser Ansicht befasst sie sich nur mit dem richtigen Tun und nicht mit dem guten Dasein. Damit hängt zusammen, dass die Aufgabe der Moraltheorie nicht darin gesehen wird, das Wesen des guten Lebens zu bestimmen, sondern darin, den Inhalt der Pflicht zu definieren. Mit anderen Worten, die Moral betreffe das, was wir tun sollen; womit als ethisch belanglos sowohl das ausgeschlossen wird, was trotz mangelnder Verpflichtung zu tun gut ist (weshalb die Übererfüllung einer Pflicht für manche moderne Moralphilosophie ein erhebliches Problem darstellt), als auch das, was zu sein oder zu lieben gut (oder sogar pflichtgemäß) sein mag. In dieser Auffassung gibt es keinen Platz für den in der Tradition durchaus üblichen Begriff des Guten als Gegenstand unserer Liebe oder Loyalität.“ (QS, 152.) B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 9f. Durch die „Erweiterung der Antwortsphäre über den engeren wortsprachlichen Bereich hinaus“ hat Waldenfels wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung einer „Ethik, die nicht allein aus dem Streben, Wollen, Sollen oder Können erwächst, sondern aus Ansprüchen, auf die wir antworten“, entwickelt. (B. Waldenfels, Antwortregister, a.a.O., S. 557).
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In diesen Erläuterungen manifestiert sich, dass die Phänomenologie des Fremden für die Ethik bzw. die Moral eine entscheidende Bewährungsprobe darstellt. Den relevanten Gehalt des Pränormativen hat Waldenfels weitgehend in seinem Buch Schattenrisse der Moral ausgearbeitet. b. Angesichts der philosophischen Aneignungsversuche: Waldenfels stellt fest, dass die Fremdheit bzw. die Fremderfahrung in der herkömmlichen westlichen Philosophie ein Randthema geblieben ist und nicht zu deren Grundbegriffen gehört. Seine Berücksichtigung geht mit einer weitreichenden Umwandlung der Philosophie einher. Denn sie bewirkt eine Uminterpretation der Grundbegriffe des Subjekts und der Vernunft: „Eine veritable Philosophie des Fremden bahnt sich an, sobald die zwei Grundpfeiler der Moderne, nämlich die Autonomie des Subjekts und eine monologische Vernunft, Risse bekommen. Mit der Dezentrierung des Subjekts und der Pluralisierung der Rationalität entsteht Raum für Fremdes.“738 Dies zeigt sich, so Waldenfels, an den Beispielen von Descartes und Hegel, deren Motive die Fremdheitsdebatte bis heute prägen. Beide zeichnen sich durch Aneignungsbestrebungen aus: (i) Descartes’ „egozentrische Aneignung“ des Fremden: Hier wird das Fremde nur als „Abwandlung des Eigenen“ (Waldenfels) aufgefasst. Descartes hat mit seiner Betonung der Selbstzentrierung des Subjekts diesen Weg eröffnet und geprägt. Es ist daher verständlich, dass er den locus classicus der neuzeitlichen Problemstellung bezüglich des Status des Anderen bildet: „Die neuzeitliche Freisetzung des Ich als ein denkendes Wesens, das sich kritisch prüfend aus den natürlichen und sozialen Zusammenhängen heraushebt, entfacht einen Fremdheitsbrand, der über ethische und religiöse Grenzerfahrungen hinausführt und in den Kern von Ich und Welt vordringt. Eine Seele, die sich gemeinschaftlich im All spiegelt oder in Gott geborgen weiß, mag sich überall daheim fühlen. Ein Ich dagegen, das selbst ins Zentrum rückt, sieht sich mit konkurrierenden ‚Fremd-Ichen‘ konfrontiert, von denen es nicht bloß verschieden, sondern durch eine Kluft geschieden ist. Vom Descartesschen Cogito führt der eine Weg zur Allgemeinheit einer transsubjektiven Ichfunktion, die das Problem der Fh [Fremdheit] überspielt, ein anderer Weg führt zu Bevorzugung des eigenen Ich, die Fremdes nur als Spiegelung oder Abwandlung des Eigenen gelten lässt.“739
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B. Waldenfels. „Das Fremde denken“, in Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 4(2008), S. 363. B. Waldenfels, „Fremd/Fremdheit“, a.a.O., S. 408. Suhm betont, dass das cartesianische Subjekt den Anderen in seiner „eigentümlichen Erlebniswelt“ nie richtig berücksichtigen konnte, da er vielmehr interessiert war, ihn aus seinem Standpunkt heraus zu „konstituieren“. (C. Suhm, „Konstitution und Objektivität des Anderen“, in U. Hagel (Hg.), Der Andere, a.a.O., S. 20.)
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In Anlehnung an Husserl, der Descartes’ Gedankenbewegung in der Einleitung der Cartesianische Meditationen (§1) als „Urbild der philosophischen Selbstbesinnung“ darstellt, betrachtet Waldenfels die cartesianische Philosophie schon in ihren Ausgangspunkt als grundsätzlich falsch angelegt. Ein Denken, dass die radikale Fremdheit, d.h. die unüberwindbare Fremdheit im eigenen Haus, thematisiert zeigt deutlich ihre Irrtümer. Sie stellt, so Waldenfels, jedem „Ganzseinwollen“ des Cogito ein „Nicht-Ganzseinkönnen“ entgegen. „Das ‚Subjekt‘, das allem was ist, zugrundezuliegen schien und das sich als Ort oder Träger der Vernunft betrachtete, leidet unter einem Selbstentzug, der durch keinen reflexiven ‚Rückgang‘ zu sich selbst wettzumachen ist. Kurz gesagt: es gibt keine Welt, in der wir je völlig heimisch sind, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Hause wäre. Diese Art von ‚Götzendämmerung‘ konfrontiert uns mit einem radikal Fremden, das allen Aneignungsbemühungen zuvorkommt und das ihnen widersteht wie im Falle des fremden Blicks, der uns trifft, noch ehe wir uns dessen versehen.“740 Diese Gegenthese, die die Phänomenologie des Fremden vorbringt, manifestiert sich unter anderem darin, dass der Leib nicht vom Bewusstsein wie von einem externen Standpunkt aus betrachten werden kann: „Der Leib ist nicht etwas, auf das wir mit dem Finger zeigen können, da er selbst bereits als Fingerzeig dient. Was sich zeigt, zeigt sich leibhaftig, selbst wenn es sich in eine leibhaftige Abwesenheit zurückzieht. Insofern ist der Leib kein bloßes Thema unter anderem, er ist ein Schlüsselthema.“741 Wird das Selbst als leibliches Selbst betrachtet, dann büßt das cartesische Cogito seine zentrale Stellung ein. Als leibliches Selbst fängt das Selbst woanders an, d.h. es ist älter als es selbst (Waldenfels). Damit verliert es quasi das Recht auf das erste und das letzte Wort und auf den Anspruch auf Selbstzentrierung und Assimilation. Für Waldenfels kann sich das Subjekt nicht in sich einschließen, weil es einfach nicht bei sich selbst beginnt, sondern woanders. Er bringt diesen Schlüsselsatz in die folgende identitätsbezogene Sprache: „Was
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B. Waldenfels, „Antwort auf das Fremde...“, a.a.O., 1998, S. 37. Waldenfels folgend betont Welsch, dass das cartesische Subjekt beim Versuch gescheitert ist, die Gewissheit der Welt durch sein „selbstgewisses Bewusstsein“ zu gründen. Das bewusste Subjekt besitzt nicht die Macht bzw. Kontrollfunktion wie erwartet. (T. Welsch, „Das Selbst als Andere: die Ungewissheit des Bewusstseins.”, in U. Hagel (Hg.), Der Andere, a.a.O., S. 34.) B. Waldenfels, „Die Schlüsselrolle des Leibes in Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie“, in G. Abel (Hg.), Französische Nachkriegsphilosophie, a.a.O., S. 71. Leib, Zeit, Sprache sind – wie im Kap. 1 erläutert – „Grundphänomene“. Darunter versteht Waldenfels Phänomene, die mehr als bloße Gegenstände sind, denn sie „prägen unsere Zugangsweise zu Gegenständen“. (B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, a.a.O. S. 9.)
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wir sind, sind wir nie ganz und gar“742. Wenn wegen der radikalen Fremdheit „etwas oder jemand niemals völlig an seinem Platz ist“743, dann wird die Grundlage der neuzeitlichen Philosophie, die auf einer Selbstzentrierung beruht, erschüttert. (ii) Hegels „dialektische Aneignung“ des Fremden: Sie bildet für Waldenfels den Gegenpart der egozentrischen Aneignung. Sie besagt, dass das Fremde zum „notwendigen Durchgang einer Aneignung im Medium des Geistes“ gemacht wird. In dieser Hinsicht muss das Fremde aufgehoben werden, weil es nur den Moment eines Allgemeinen bildet. In dieser Aufhebungsbewegung sieht Waldenfels den Grundzug des deutschen Idealismus: „Die Synthese von Subjektivität und Rationalität, bei der Descartes in Hegel seinen Meister findet, charakterisiert die Winkelzüge der Moderne. Der Deutsche Idealismus findet auf seine Weise das Ei des Kolumbus: Jeder beginnt für sich mit dem ‚ich denke‘ und endet bei einer allgemeinen Vernunft, oder anders gesagt: wir beginnen mit dem Eigenen und gelangen durch das Fremde hindurch zum Ganzen.“744 In der Zurückweisung der hegelianischen Aufhebungsbewegung spielt der Leib, wie in der Kritik an Descartes´ Subjektphilosophie, erneut eine wichtige Rolle. Denn durch den Leib sind wir mit einem Ort verbunden, von dem aus wir die Dinge betrachten. Diese Bedeutung des Leibes spricht für einen Widerstand gegen Versuche, diesen Ort (den Kontext, das Besondere) abzuwerten. Anders gesagt: „Der Widerstand beschränkt sich nicht auf einen produktiven Widerspruch innerhalb eines Ganzen, sondern er zeigt sich als Einspruch, der auf den Bedingungen der Erfahrung und damit auch auf den Bedingungen der Rede beharrt. Ist nicht das leibliche Hier […] der Ort, von dem aus man für das Ganze der Welt, der Menschheit oder der Vernunft spricht, von dem aus man das Ganze als Ganzes angeht – und der eben deshalb nicht als ein Ort innerhalb des Ganzen gefasst werden kann?“745 Unsere Verankerung in Lebenskontexten und unsere notwendigerweise perspektivische Darstellung sind zwei wichtige Konsequenzen der Schlüsselrolle des Leibes. Es ist übrigens ein Verdienst von Merleau-Ponty, diese Schlüsselrolle des Leibes und den „blinden Fleck des Blicks“ in seinem Buch Phénoménologie de la perception betont zu haben. Waldenfels erläutert diese Lehre wie folgt:
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B. Waldenfels, „Antwort auf das Fremde“, a.a.O., S. 37. Ebenda, S. 38f. B. Waldenfels, „Die Schlüsselrolle des Leibes in Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie“, a.a.O, S. 72. Ebenda
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„Der Leib ist nicht bloß etwas, das perspektivisch erfahren wird, sondern er ist selbst der Standort, der Gesichtspunkt, das Hier-Jetzt, von wo aus alles andere in verschiedener Orientierung und in wechselnder Nähe und Ferne zur Erfahrung kommt. Der Leib bildet den bereits erwähnten Nullpunkt, an dem Zeit- und Raumordnungen entspringen und sich auf selektive Weise entfalten. Dies führt zu begrenzten Erfahrungs-, Rede- und Handlungsfeldern; was darinnen auftritt, lässt sich nie vollständig und endgültig bestimmen.“746 Merleau-Pontys Rede vom „blinden Fleck des Blicks“ untergräbt jeden Anspruch auf eine transkulturelle Instanz im Sinne eines „Weltenbetrachters“ oder auch auf eine externe Position des Handelnden von der aus das Universum überblickt und Entscheidungen gefällt werden können: „Der Leib ist – wie die aristotelische Seele – ‚auf gewisse Weise alles‘. ‚Alles‘ – das klingt nach einer metaphysischen Vokabel, die auf das Ganze der Welt abzielen; doch unter den Bedingungen eine endlichen Vernunft kann der leibliche Ort, an dem sich das Ganze als Ganzes zeigt, diesem nicht als bloßer Teil zugerechnet werden. Der Kosmotheoros, der Weltenbetrachter, hat eine leibliche Achillesferse, die verhindert, dass das Universum sich über ihm zusammenschließt.“747 Diese Idee, derzufolge die leibliche Achillesferse verhindert, dass sich das Universum über dem „Weltenbetrachter“ zusammenschließen kann, liefert eine wichtige Lehre für unsere Überlegungen. Diese wird im abschließenden Punkt („Universalisierung im Plural“) ausformuliert werden. An dieser Stelle genügt die Erkenntnis, dass die Schlüsselrolle des Leibes die Subjektphilosophie von Descartes sowie die hegelianische Aufhebungsbewegung in Misskredit bringt. Einerseits verhindert sie eine überzogene Selbstbezogenheit und den Anspruch, seinen Anfang in sich selbst zu finden. Waldenfels’ prägnante Leitidee, Wir fangen woanders an, vermittelt eine verborgene Wahrheit unserer Seinsweise: Wir können einen Anfang, Neuanfänge finden, aber nicht den Anfang.748 Wir sind immer schon in Verbundenheiten involviert. Anderseits verhindert sie, die „Vogelperspektive“ anzunehmen.749 Kulturen sind und entwickeln sich historisch. Aus dieser Sicht heraus sind sie auch verschränkt und widerstehen ihrer Auffassung als nebeneinanderstehende Entitäten. 746 747 748 749
Ebenda, S. 75. Ebenda, S. 71. Siehe B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 138. Dies ist für Waldenfels z.B der Fall, wenn man von Interkulturalität als Vielfalt der Kulturen spricht. Die Aussage „es gibt mehrere Kulturen“ sagt nichts über das Wichtigste, und zwar die Tatsache, dass sich Kulturen so verschränken, dass man von der Interkulturalität in der Tat als einem Zwischenfeld reden kann. „Wird Inter-Kulturalität beim Wort genommen, so besagt dies, dass wir in einem Zwischenfeld leben und agieren. Das Feld zwischen den Kulturen erschließt sich auf asymmetrische Weise, weil jeder kulturelle Austausch hier und jetzt beginnt. Die Eigenkultur lässt sich ebensowenig überspringen wie der eigene Leib, die eigene Herkunft oder die
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Der Aufforderung Waldenfels’ folgend, die Vorsilbe inter (das Zwischen) ernst zu nehmen und sie selbst vor dem Hintergrund der Leiblichkeit zu bedenken, wurde der Fokus auf den Begriff der Identität als Prozess gelegt. Identität erscheint so als eine Schleife, ja als ein eichtes beim-sich-mit-Anderen-sein. Durch den Rekurs auf die Waldenfelssche Figur der Verschränkung war es möglich, die Verknotungen, die die Identität ausmachen, zu durchleuchten. Wo die Verflechtung von Eigenem und Fremdem als unüberwindbar erscheint, sind alle Zentrierungen ausgeschlossen. Wo Verbundenheiten bestehen, (wir sind ja „nie völlig Herr im eigenen Haus“ und „nie völlig Herr unseres Anfangs“), ist Solidarität möglich. Gefühle und Gedanken illustrieren, dass wir woanders anfangen. Dies ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.
6.3 Leiblickeit, Gefühle, Verschränkung 6.3.1 Interdisziplinäre Sicht „Wir sehen durch abstrakte Ideen. Und das ändert, was wir sehen, wie wir es sehen. Wir verlieren den Zugang zu dem, was empathisch wahrgenommen wird. Das aber sind die Gefühle.“ (A. Gruen) Die anthropologische Grundlage ist unverzichtbar für moralische Überlegungen. Dies ist die grundlegende und prägnante These, auf der die vorliegenden Überlegungen basieren. Sie wurde unter anderem im Teil 2 in der Diskussion mit Habermas erarbeitet und verteidigt. An dieser Stelle spielt – mit Honneth gesprochen – die folgende Grundidee der anthropologischen Ethik eine große Rolle: „[D]er Kernbereich der Moral [sei] phänomenologisch in dem Gewebe von Empfindungen und Gefühlen anzutreffen [...]“.750 Im Folgenden sollen die Ergebnisse anhand von Beispielen aus dem Bereich alltäglicher Erfahrungen von Interkulturalität untermauert und plausibilisiert werden. Mit Taylor steht also fest, dass die Moral nicht von der Frage nach dem menschlichen Wesen und seinen Ressourcen getrennt werden darf. Wie im Kapitel 2 gezeigt wurde, weist Taylor die Figur von Mersault aus Albert Camus´ L‘étranger zurück. Denn sie stellt einen Menschen dar, der sich mit einer ungewöhnlichen emotionalen Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber allen und jedem verhält; es handelt sich um die Personifikation eines unangemessenen Begriffs vom Menschen. Taylor lehnt es ab, eine moralische Theorie basierend auf der Figur eines Menschen, der über kein Mitgefühl verfügt, zu entwickeln. Setzten wir
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eigene Sprache.“ (B. Waldefels, „Das Fremde denken“, a.a.O., S. 366.) Waldenfels betont hier zwei Ideen: die Situiertheit und die Überschneidungen. A. Honneth, „Anerkenungsbeziehungen und Moral “, a.a.O., S. 101.
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Meursault z.B. an die Stelle von Sophie Scholl, werden wir schnell den Eindruck haben, dass er etwas sehr Unmenschliches verkörpert. Denn es ist nicht einmal möglich zu sagen, dass er aus Vergnügungssucht, aus Angst oder unter dem Einfluss von Propaganda nicht handelt. Jemandem, dem alles gleichgültig ist, der keine Unterscheidung zwischen dem Bedeutsamen und Unbedeutsamen trifft, personifiziert keinen vertretbaren Begriff des Menschen. Auf prägnante Weise fasst J. Haugeland den Unterschied zwischen Menschen und Maschinen zusammen: „The trouble with artificial intelligence is that computers don‘t give a damn“.751 Den Computern sagt die Veränderbarkeit bzw. die Komplexität der Lebenssituationen nichts; es ist ihnen ‚schnuppe‘. Sie sind von nichts ‚betroffen‘, denn sie sind nicht fähig zu dem, was Taylor „qualitativen Unterscheidungen“ nennt. Dieser Begriff spricht gegen eine wertfreie Realität. Wir erleben unsere Alltagswelt unweigerlich in Bezug auf einen (moralischen, ästhetischen usw.) Wert. „Strong evaluators are agents of a special kind who are capable of pursuing moral and other strongly-valued goals, and they are special a kind of subjects of experience, who are aware of values and norms, and who reacts emotionally to violations of these norms. The capacity for strong evaluation is a precondition of the ‚peculiary humain‘ kinds of agency and experience.“752 Gefühle bedrohen die Moral nicht. Sie gehören zur ‚Apparatur‘ des Menschen und lassen sich daher nicht ohne verhängnisvolle Auswirkungen in moralischen Theorien auslassen. Dieser Ansicht versuchen wir in unseren phänomenologisch orientierten Überlegungen gerecht zu werden, indem wir die Leiblichkeit betonen. Nicht das unkörperliche Cogito, sondern das leibliche Wesen ist unser Schlüsselbegriff. Die alte Idee, die Welt benötige mehr Liebe, bleibt weiterhin relevant. Die Gewinnung der Einsicht über die Verbundenheiten LeibVernunft-Welt-Mitmenschen ist in allen Bereichen der Gesellschaft und der Wissenschaft zu begrüßen. Sie ist nichts anderes als die Aufhebung eines historischen Verlusts. Dazu sagt Engelen: „Die Geschichte der Erkenntnistheorie ist, zumindest was die beiden Begriffe Liebe und Erkenntnis anbelangt, eine Verlustgeschichte. Die Geschichte vom Verlust der Bedeutung der Welt und dem Verlust der Bedeutung des menschlichen Gegenübers oder des Anderen für die Entstehung von Erkenntnis und für Erkenntnissicherheit lässt sich erzählen,
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J. Haugeland, „Understanding Natural Language“, in ders., Having Thought. Essays in the Metaphysics of Mind, Cambridge, 1998, S. 47 Siehe eine ausführliche Beschreibung des Begriffs der starken Wertung in Bezug z.B. auf den menschlichen Handelnden, die Person, das Subjekt, das Selbst und die Identität im schon zitierten Buch A. Latineins Strong Evaluation without Moral Sources.Er versteht im Anschluss an Taylor seine Position als ein ‚cultural realism‘ und ‚engaged realism‘: „The hint that ‚cultural realism‘ is meant to give ist he self-conscious opposition both to cultural relativism and naturalistic or subjectivist reductivism, without any mystifying connotations: in comparison to ‚non-natural‘, ‚cultural‘ sound less queer. And ‚engaged realism‘ is meant to preserve the continuity between Taylor’s philosophical anthropology and ethics – the stress is on lifewordly engagements with the world.“ (S. 166.)“
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wenn man dem Verhältnis der beiden Begriffe in der Philosophiegeschichte nachgeht.“753 Dies war der Zweck des ersten Teiles der vorliegenden Überlegungen. Nun soll der Zusammenhang dieser Frage im interkulturellen Kontext in den Blick genommen werden. Neurowissenschaftliche Studien untermauern die Bedeutung der Gefühle und machen ihre konkrete Rolle verständlich.754 Der Neurowissenschaftler Jean Decety hat aufschlussreiche Forschungen über den affektiven Zustand der Menschen betrieben. Seine Ziele erklärt er wie folgt: „The goals of our study were twofold: (1) to map the brain response in typically developing children associated with the perception of pain in others; (2) to examine the respective contribution of mechanisms that contribute to theory of mind and implicit moral reasoning in the context of pain perception.“755 Die Schmerzen des einen, so das Ergebnis, haben eine somatische sensomotorische Resonanz im Gehirn des anderen. Bei der Betrachtung dieser Schmerzen werden neuronale Regionen aktiviert, die die soziale Interaktion und das moralische Verhalten betreffen. Diese Befunde bestätigen frühere Ergebnisse aus fMRI-Studien zur Schmerzempfindung bei Erwachsenen und werden in der Erforschung von Menschen mit Störungen in der sozialen Persönlichkeit und in der moralischen Einsicht vertieft.756 Wir können wissen, dass andere Schmerzen haben, wir können dies verstehen und nachfühlen. Das ist eine Illumination unseres bereits dargestellten Ansatzes: den Fokus auf die Wissensfähigkeiten des Menschen zu legen. Es handelt sich um eine gemeinsame Grundlage, die zur Beurteilung des menschlichen Handelns im interkulturellen Kontext benötigt wird. Die Wissenschaft bestätigt und stärkt hier die Weisheit, über die der einfache Mensch bereits handelnd verfügt. Die Verbindung von Sehen, Fühlen und Wissen aus dem neurobiologischen Standpunkt steht in Einklang mit der afrikanischen Grundansicht der Vernetzung bzw. Einheit aller Wesen sowie mit der Grundlehre der Phänomenologie, und
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E. Engelen, Erkenntnis und Liebe. Zur Fundierenden Rolle des Gefühls bei den Leistungen der Vernunft. Göttingen, 2003, S. 8. Siehe z.B. D. Goleman in Emotionale Intelligenz (1996), J. Bauer in Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone (2007), J. Rifkin in Die empathische Zivilisation (2010), C. Keysers in Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (2013), M. Iacoboni in Woher wir wissen, was andere denken und fühlen: Das Geheimnis der Spiegelneuronen (2011), J. Bauer in Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern (2002). Es besteht zwar weiterer Forschungsbedarf über die Spiegelneuronne, aber die vorliegenden Ergebnisse eröffnen neue und spannende Einblicke in das Thema ‚Gefühle‘, ‚Empathie‘ und das Verhalten in der Kommunikation. J. Decety et al., „Who caused the pain? A functional MRI investigation of empathy and intentionality in children“, in Neuropsychologia, 46 (2008), S. 2607-2614. Siehe J. Decety, Y. Moriguchi, „The empathic brain and its dysfunction in psychiatric populations: implications for intervention across different clinical conditions“, in BioPsychoSocial Medicine, 1(2007), S. 22-65.
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besonders mit der Levinasschen Philosophie des Antlitzes (wie im Abschnitt über den Paradigmenwechsel dargestellt). Sich bloß als Individuum, als isoliertes Element zu betrachten, erweist sich hier als entscheidender Fehler. Die Verbundenheit ist ursprünglich. Sie ist von vornherein da, oder sie wird nie mehr einbezogen werden. Greifen wir auf die von uns schon ausführlich behandelten Beispiele zurück: Das junge Mädchen Sophie Scholl hatte trotz ihres jungen Alters ein feines Gespür für die Ungerechtigkeit, verurteilte den Krieg Hitlers und opferte sich letztlich für die anderen (Deutschen und Nicht-Deutschen) auf. Die zahlreichen Bürger, die sich auf den Straßen gegen Camerons bissiges Plädoyer für die Bombardierung Syriens versammelten, zeigten ebenfalls dieses empathische Bewusstsein (siehe Kap. 7, These 1). Glaubt man Keyser, so haben selbst Psychopathen die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen, schalten sie aber nur dann ein, wenn es ihnen von Vorteil ist. Außerdem macht diese These vom empathischen Bewusstsein (das Sehen – Wissen – Fühlen) verständlich, aus welchem Grund die jeweiligen Machthaber in der Regel zu verhindern suchen, dass die Medien über die konkreten Details von Kriegszenen berichten. Man will Reaktionen wie Empörung, Entrüstung, Erschütterung usw. vermeiden. Wir sollten hier die in der These 1 zu kommentierende Aussage des UN-Generalsekretärs U Thant (1965) im Kopf behalten: „I am sure that the great American people, if only they knew the true facts and the background to the developments in South Vietnam…“ R. Kühn stellt Gefühle als „Quelle aller Wertigkeit“ dar und setzt sich für die Anerkennung der „Unverzichtbarkeit des Gefühls als Kultur“ ein. Er begrüßt Gefühle als ein „neues Organon für unsere Zukunft“ im Unterschied zu dem herkömmlichen Organon, das „die originäre Wahrheit der Gefühle als ‚Subjektivität‘ immer mehr aus dem Erkenntnisvollzug ausgeschaltet“ oder die Gefühle „den objektiven Prozessen und Institutionen des rein kalkulierenden Verwaltens und Wirtschaftens“ untergeordnet hat: „Entweder wird dieser Prozess der Gefühlsanästhesie und -zerstörung bis zur letzten Stereotypie ‚globalisierten‘ Verhaltens fortgesetzt, oder es regen sich erneuerte Gefühlskräfte, welche keine gewalttätige Eruption wie in den Fundamentalismen unserer Zeit bedeuten, sondern zu einer innovativen Gefühls- und Lebenskultur insgesamt führen.“ 757 Ein aufgeklärtes und vertieftes Verständnis vom Gefühl bzw. Mitgefühl zeigt, dass die Liebe noch einen Platz in der Moral hat, und vielversprechende Perspektiven für die Herausforderungen in der heutigen Welt liefert. Die Widerlegung des Alleinherrschaftsanspruchs technischer Vernunft sollte jedoch auf keinen Fall als eine bloße Fortsetzung des Gegensatzes zwischen Gefühlen und Vernunft verstanden werden. Dies käme einer Diffamierung der Positionen aller Autoren (Taylor, Waldenfels, Kühn usw.), die hier zur Sprache kommen, gleich. An diesem Punkt ist eine Bezugnahme auf den Neurowissenschaftler António Damasio empfehlenswert. Er interessierte sich für einen intelligenten Menschen. Kontinuierlich beging dieser jedoch Fehler und traf unkluge Entscheidungen in ganz alltäglichen Situa-
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R. Kühn, Macht der Gefühle. München, 2008, S. 13f.
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tionen und ließ dadurch eine deutliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, erkennen. Er litt an einer gestörten Entscheidungsfähigkeit. Er war zwar geistig durchweg gesund (seine Instrumente zur Durchführung eines rationalen Verhaltens waren unversehrt), aber emotionslos aufgrund einer neuronalen Krankheit. Damasio untersuchte viele weitere Fälle neurologischer Patienten und leugnete dabei gar nicht, dass emotionale Voreingenommenheiten auch Nachteile mit sich bringen können. Er formuliert aber mit guten Gründen die Beförderung der Idee, „dass das Fehlen von Gefühl und Empfindung nicht weniger schädlich ist, nicht in geringerem Maße dazu angetan, jene Rationalität zu gefährden, der wir unsere spezifisch menschlichen Züge verdanken und die uns ermöglicht, uns mit Rücksicht auf unsere persönliche Zukunft, auf soziale Konventionen und moralische Grundsätze zu entscheiden“.758 Bestimmte Aspekte von Gefühl und Empfindung sind unverzichtbar für ein rationales Handeln, so lautet seine Schlussfolgerung. Das Ende des Cartesianismus besiegelt er mit der Betonung, „dass der Körper, wie er im Gehirn repräsentiert ist, möglicherweise das unentbehrliche Bezugssystem für die neuronalen Prozesse bildet, die wir als Bewusstsein erleben; […] dass sich unsere erhabensten Gedanken und größten Taten, unsere höchsten Freuden und tiefsten Verzweiflungen den Körper als Maßstab nehmen. So überraschend es klingen mag, unser Geist existiert in und für einen integrierten Organismus. Er wäre nicht, was er ist erwüchse er nicht aus der Wechselbeziehung zwischen Körper und Gehirn während der Evolution, während der individuellen Entwicklung und im gegenwärtigen Augenblick. Um überhaupt zu existieren, musste es dem Geist zuerst um den Körper gehen. Nur dank des Orientierungsrahmens, den der Körper fortwährend liefert, kann sich der Geist dann auch anderen Dingen zuwenden, realen und imaginären.“759 Diese fundierte Aussage zeigt die Blindheit von Descartes‘ Versuch, eine sichere Basis der Erkenntnis durch Ausschluss des Körpers zu erreichen. Vor dem Hintergrund seines Methodenideals der Klarheit und Gewissheit erschienen Gefühle als „philosophisch zweifelhafte Verwirrungen“.760 Daher erweist sich die Würdigung von Gefühlen als ein anticartesianischer Akt. Es muss nicht aus dem Blick fallen, dass diese Würdigung erst durch die Würdigung des Begriffs der Entwicklung möglich geworden ist. Die am Anfang des Kapitels angeführte phänomenologische sowie die afrikanische Sicht („Kommst du aus einem Baum?“) machen deutlich, dass die Einsicht in die Beziehungen oder Verbundenheiten schwierig und fraglich wird, wo der Begriff der Entwicklung nicht berücksichtigt oder amgemessen ernst genommen wird. Engelen hat diesbezüglich das cartesianische Methodenideals deutlich zusammengefasst: „Ein Selbst oder erkenntnistheoretisches Subjekt, das sich zur Wahrheitsfähigkeit nicht erst entwickeln muss, sondern immer schon Grundlage der Erkenntnis ist, bedarf nicht der Sinne, durch die es lernt. Lernen, auch Lernen durch Erfahrung mit Hilfe der Sinne, ist immer ein 758 759 760
A. Damasio, Descartes´ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Berlin, 2004. S. 12f. Ebenda, S. 18. Von CN betont. H. Fink-Eitel, G. Lohmann, Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt, 1994, S. 9.
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Vorgang des Sich-Entwickelns, des Werdens, während die Sicherheit der Erkenntnis doch gerade unumstößlich zu sein hat und damit von jeder Entwicklung unabhängig.“761 Nun haben die Gefühle – von der cartesianischen Tradition befreit – eine neue und angemessene Stellung. Dass die im ersten Kapitel gelegten Grundlagen folgenreich sind, steht fest. Die Erkenntnisse, die außerhalb der cartesianischen Tradition gewonnen sind, müssen geschützt werden. Bedroht werden sie von vielen Seiten, z.B. von einem Konzept der Erziehung, das den cartesianischen Dualismus belebt und die Gefühle abwertet. Wenn Arno Gruen betont, dass die Unterdrückung und die Verzerrung des Mitgefühls nicht nur mit der Geschichte der westlichen Zivilisation verflochten ist, sondern ihr Fundament bildet762, will er, dass das Ausmaß von dem, was sich zur einen „Politik der Gleichgültigkeit“ geworden ist, erkannt wird. Es steht viel auf dem Spiel: „Wenn wir nicht gegen die Preisgabe unserer authentischen Gefühle ankämpfen können, zu der wir von Kindheit an genötigt werden, dann wächst die Gefahr, dass das Menschsein unterliegt und wir unsere wahre Identität verlieren. Bei unserer Geburt tragen wir das Menschsein in uns. Was sich daraus entwickelt, ist aber häufig nur eine Attrappe, die zwar die Sprache des Menschseins nachahmt, das Herz des Menschen aber verraten hat. Dann geschieht das, was der englische Dichter Edward Young schon im 18. Jahrhundert beschrieben hat: ‚Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien‘.“763 Die durch die Neurowissenschaft vertretene Ansicht bringt offenkundig viele interdisziplinäre Konsequenzen mit sich, auf die wir hier nicht eingehen können. Zumindest kann darauf hingewiesen werden, dass sie auch zu einem besseren Verständnis der Sprache beiträgt. Anschließend an die im ersten Teil eingeführte Kritik an der Vorstellung von Sprache als bloßem Instrument für das Denken des Einzelnen, zeigt sich, dass wir in zahlreichen Wechselbeziehungen stehen, die in der Reflexion nicht negiert oder in Klammern gesetzt werden dürfen. Geist (Denken), Gehirn, Körper, Unwelt, Mitmenschen gehören zu einem komplexen Prozess, dem die instrumentale Vorstellung von Sprache nicht gerecht werden kann. Vorangetrieben wird so ein Umdenken von Bewusstsein, von Selbst, von der Sprache usw. Damasios Untersuchung von der Art, wie biologische Triebe, Körperzustände und Gefühle eine Grundlage für die Rationalität bilden, beleuchtet letzten Endes die Grenzen der reinen Vernunft, die auch Waldenfels´ Fremdheitsbegriff (die Figur der Verschränkung) zutage treten lässt. Damasio spricht eine klare Warnung aus: „Wenn wir die Bedeutung von Empfindungen in den Vernunftsprozessen anerkennen, so folgt daraus nicht, dass die Vernunft weniger wichtig als die Empfindung wäre, dass sie ihnen gegenüber in den Hintergrund zu treten hätte oder dass wir uns weniger um sie bemühen müßten. Im Gegenteil, wenn wir die allgegenwärtige Rolle der Empfindung nutzen, dann haben wir vielleicht die Möglichkeit, ihre positive Wirkung zu verstärken und ihren möglichen Schäden zu 761 762 763
E. Engelen, Erkenntnis und Liebe, a.a.O., S. 89f. A. Gruen, Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. München, 1997, S. 11. Ebenda, S 277.
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verringern. Ohne den Orientierungswert normaler Empfindung zu schmälern, könnte man vor allen Dingen versuchen die Vernunft vor den Mängeln abnormer Empfindungen zu schützen oder sie vor der Manipulation zu bewahren, denen Planungs- und Entscheidungsprozesse durch normale Empfindungen unterworfen werden können. Ich glaube nicht, dass das Wissen um die Empfindungen den Wunsch nach empirischer Verifizierung beeinträchtigen muss. Vielmehr denke ich, dass mehr Wissen über die Physiologie der Gefühle und Empfindungen unsere Sinne für die Fallstricke wissenschaftlicher Beobachtung schärft.“764 Die Gefühle gegen die Vernunft auszuspielen wäre eine grobe Abweichung vom Sinn des Paradigmenwechsels, vom dem in der Einleitung die Rede war. Wir distanzieren uns von solchem dichotomischen Denken. Gefördert wird vielmehr eine Philosophie der Einheit (Verbundenheit, Vernetzung des Menschen mit seinen Mitmenschen, des Menschen mit der Umwelt). Die Tatsache, dass wir unsere Überlegungen mit einer Kritik an Descartes bzw. an der herkömmlichen Erkenntnistheorie im Sinne einer Verabschiedung vom Primat des Denkens begonnen haben, erhält nur vor diesem Hintergrund ihre korrekte Deutung. Das Existieren geht dem Denken voraus. Man muss dies gut verstehen und daran festhalten, um den Vernetzungen, die in diesem Ansatz stecken, gerecht zu werden. Damasios Position ist hier explizit: „Verschiedene Spielarten des cartesianischem Irrtums verstellen uns den Blick auf die Wurzeln des menschlichen Geistes in einem biologisch komplexen, aber anfälligen, endlichen und singulären Organismus. Sie verstellen den Blick auf die Tragik, die dem Wissen um diese Anfälligkeit, Endlichkeit und Einzigartigkeit innewohnt. Und wo Menschen die ihrer bewussten Existenz innewohnende Tragik nicht mehr sehen, fühlen sie sich auch nicht mehr aufgerufen, etwas zur Linderung dieser Tragik zu tun, und vielleicht sind sie dann nicht mehr in der Lage, genügend Achtung für den Wert des Lebens zu empfinden.“765 Aus interkultureller Sicht war es von entscheidender Bedeutung, uns vom Cartesianismus zu verabschieden und dadurch den Grundstein für den Aufbau unserer Überlegungen schon im ersten Kapitel zu legen. Denn mit der Wiedergewinnung des Begriffs der Leiblichkeit für die Philosophie eröffnet sich ein Weg nicht nur, um Taten wie den Einsatz von Sophie Scholl, von engagierten Bürgern zu verstehen, sondern auch, um sie angemessen zu würdigen. Alle dies untermauert unsere Grundüberzeugungen, dass erstens die von Taylor betonten starken Wertungen nicht als kulturvariant und dass zweitens Kulturen nicht als Entitäten mit deutlichen Grenzen zu betrachten sind. (Daher die Bedeutung der Figur der Verschränkung). Deutsch oder nicht-deutsch zu sein spielt keine Rolle, um mit Sophie Scholl zu sehen, dass Hitlers Handeln schlecht ist. Engländer oder nicht-Engländer zu sein spielt keine Rolle, um mit den empörten Bürgern in England zu sehen, dass es schlecht ist, unschuldige Menschen in Asien zu bombardieren (siehe These 1, Kap 7). Dasselbe gilt für 764 765
A. Damasio, Descartes’ Irrtum, a.a.O., S. 326. Ebenda, S. 332.
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die Untaten anderer Machthaber in der Welt. Als leiblich-rationale Wesen können wir solche Handlungen als schlecht beurteilen, andere als gut. Das Verdienst der Verschränkung tritt hier deutlich zutage, weil sie Gemeinsamkeiten festlegt. Dies ist wichtig, denn Grausamkeiten, Versklavung usw. beginnen – wie die Thesen 1, 2 und 5 zeigen werden – mit der Leugnung von Gemeinsamkeiten. Leugnen ist ein Mechanismus, der nach wie vor zur Unterdrückung des Mitgefühls eingesetzt wird. Einige brisante Fragen der Kulturphilosophie sind hier angelegt. Antweiler spricht z.B von einem Grundproblem des Kulturrelativismus, „der schnell in Kulturrasssismus umschlägt“. Dieses Grundproblem bleibt für ihn bestehend, auch wenn hier oder da gesagt wird: „Wir leben in einer Welt, aber wir sind verschiedene Menschen“, „Wir sind alle Menschen, aber leben in völlig verschiedenen Welten (Kulturen)“ oder „Kulturen sind inkompatibel und können sich nicht verständigen“.766 Der Fall von Meriam wird zeigen (These 2), dass und wie gefährlich es praktisch sein kann, Kulturen für geschlossen zu halten oder Gemeinsamkeiten zu leugnen, was außerdem wissenschaftlich unzutreffend ist. Die (deutlichen) kulturellen Grenzen werden behauptet, aber nicht gezeigt. Ihre Unklarheit tritt deutlich zutage, wenn man sie genauer betrachtet und vor dem Hintergrund der Fremderfahrung fragt: Worin bestehen sie? Wo fangen sie an? Und wo enden sie? Es darf nicht zugelassen werden, dass die Rede von (kulturellen) Grenzen dazu führt, die durch den Leib gelegten Verbundenheiten zu übersehen. Dies wäre ein schwerer Rückschritt. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Verurteilung der Sklaverei durch Infragestellung der bestehenden Leugnung von Verbundenheit und somit durch die Berufung auf die Kraft des Mitgefühls wirklich wurde. Dies war vor allem die Leistung einfacher Menschen. Die Texte der Lumières, geschweige denn die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), die aus der französischen Revolution erwuchs, führten nicht automatisch zum Ende der Sklaverei. Diese geschichtliche Entwicklung ist nicht ohne den Einsatz der einfachen Menschen, anders gesagt, der leiblich mitfühlenden Menschen, zu erklären. „Anders als man mit Blick auf die heutige Hochschätzung von Menschenrechtsfragen vermuten möchte, wurde die einflussreichste Kritik an der Sklaverei nicht in der Sprache der Menschen- und Bürgerrechte vorgetragen. Die amerikanischen und französischen Revolutionäre, die diese Sprache verwandten, kamen über die gespaltene Freiheitsvision des 17. Jahrhunderts nicht eindeutig hinaus.“ 767 Osterhammel macht deutlich, dass die Rhetorik der Menschenrechte, die mit der Revolution einherging, nicht wirkungsvoll in Bezug auf die Verurteilung der Sklaverei war. Zur Illustrierung: Sie spielte keine Rolle im Widerstand gegen Napoleons Versuch, die Befreiten von Haiti wieder zu Sklaven zu machen (1802). Die Gesellschaft der Amis des Noirs (1788) war nichts anderes als „ein abstrakt räsonnierender [sic!] Eliteklub“, der eine deutliche und bedeutsame politische Mobilisierung zur Befreiung der
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C. Antweiler, „Die Vielfalt ist begrenzt“, in Die ZEIT, Interview mit M. Rauner, 14.10.009, https://www.zeit.de/zeit-wissen/2009/06/Interview-Antweiler, abgerufen am 02.02.2012. J. Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens. München, 2000, S. 55.
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Sklaven nicht auslösen konnte. Die Überwindung der Sklaverei förderte hingegen eine tiefgreifende Einsicht. „Nicht, dass Menschen ein allgemeines Recht darauf hätten, nicht gequält zu werden, war hier der zentrale Gedanke, sondern, dass es sündhaft und moralisch verwerflich sei, Qualen zuzufügen. […] Der Vorschlag, sich einmal in einen Sklaven hineinzuversetzen, erwies sich als außerordentlich mobilisierungswirksam. Nachempfindung und Mit-Leid verbanden sich auf eine geradezu explosive Weise mit dem durchaus egoistischen Interesse an den Vorzügen eines reinen Gewissens.“768 Gefördert wurde ein Perspektivenwechsel, der die ungeheure Ungerechtigkeit klar sehen ließ, das notwendige Umdenken und die erforderliche Wertschätzung mit sich brachte. Wahrnehmbar machen – für etwas sensibilisieren – ist ein Prozess, der das Bewusstsein der Menschen als leiblich wertende Wesen bildet, ihr gegenseitiges Verständnis hervorruft und ihren Wille, sich einzusetzen verstärkt bzw. in Gang setzt und so ermöglicht, dass vieles auch politisch erreicht werden kann. Selbstmobilisierung bzw. Mobilisierung durch Gruppen (nicht durch die Regierungen) führte zur Überwindung der Sklaverei. Dies erklärt – mit Osterhammel gesprochen – auch, wieso die Vorreiterrolle Großbritannien zukommt, und nicht der französischen Regierung trotz deren bevorzugten Rhetorik über Frankreich als Pays de la liberté bzw. über die Freiheit als französischen Wert. Diese Feststellung bekräftigt unsere am Anfang des Kapitels betonte Vorgehensweise, die Interkulturalität ausgehend von den einfachen Menschen bzw. ihrem Selbstverständnis (ihrer Selbstbeschreibung), ihrer Wertvorstellungen sowie der entsprechenden Sprache aus anzusprechen. Ihre Sprache ist die Sprache, die die Leiblichkeit und damit die unumgängliche gemeinsame Grundlage der menschlichen Wesen in den Mittelpunkt rückt. Ihre Sprache überwindet die „dichotomische Rassenordnung“, der Voltaire und andere nennenswerte Denkfiguren der neuzeitlichen bürgerlichen Freiheit (siehe These 5) nicht entkamen. Die aus Vorurteile gespeiste Polarisierung bzw. Spaltung der Freiheitsvision wurde hier geschlossen und eine Brücke zwischen den Menschen geschlagen. Der Zugriff auf die Leiblichkeit als Beziehungsbegriff erschließt den Begriff der Freiheit, der unterschwellig auch die Freiheit bedeutete, „anderen die ihre zu rauben“. Dass sich die Abolition der Sklaverei „nicht zuletzt dem Appell an moralische Empfindsamkeit und Schuldgefühl des Bürgers und vor allem auch der Bürgerin [verdankt]“769, fordert mehr Aufmerksamkeit in unseren Überlegungen. Diese Universalisierung der Freiheitsidee ist zwar – mit Osterhammel festgestellt – weniger augenfällig als die der Freiheitsphilosophie des 18 Jahrhunderts, weil sie nicht aus dem Werk großer Klassiker der politischen Philosophie erwächst. Aber sie bleibt von großer Bedeutung in der Geschichte. Die Wiedereinführung von Gefühlen in die Politik lässt sich – selbstverständlich ohne hier eine monokausale Erklärung zu befürworten – als eine bedeutsame Vorwärtsbewegung für die Menschheit ansehen. Gefühle sind hier keine bloße Sache des privaten Raumes. Das affektive Sehen hat
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Ebenda, S. 57. J. Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, a.a.O., S. 59.
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die Oberhand über das rein interessenorientierte und emotionslos geführte politische Handeln. Nach wie vor erweist sich die Verknüpfung von Moral und Anthropologie als lebenswichtig. Mit einem angemessenen Menschenbild (im Gegensatz z.B. zu dem des kaltschnäuzigen Meursault bei Camus) zu arbeiten, erweist hier seine Relevanz: Der Leib erschließt und fundiert das, was James Mensch „our ability to be part of…“ 770 nennt, und hält die Menschen auf einer fundamentalen Ebene zusammen. Damit fundiert er auch den politischen Raum. „Als sehend und sichtbar, fühlend und fühlbar ist der Leib Umschlagstelle zwischen privater Subjektivität und öffentlicher Intersubjektivität“, schreibt B. Weber.771 Die Tatsache, dass die Gesellschaft von leiblich engagierten Wesen gebildet wird, eröffnet einen besseren Zugang zur Dimension der Solidarität. Als der österreichisch-deutsche Gewichtheber Matthias Steiner, kurz nachdem seine junge Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, mit seiner Goldmedaille und ihrem Foto auf dem Siegerpodium stand, konnten andere Menschen trotz ihrer verschiedenen kulturellen Zugehörigkeiten erfassen, wie er sich fühlte. Seine Empfindung fand eine unmittelbare Resonanz in den Zuschauern. Als leibliche Wesen konnten sie gut verstehen, wie leidvoll es ist, eine geliebte Person im Moment des größten Sieges zu vermissen. Bei diesem Vorgang, der in Teilen der Presse unter der Formel „Matthias hat die Herzen von Millionen Menschen erobert“ bejubelt wurde, gibt es viel zu kommentieren. Wir beschränken uns auf die Feststellung, dass die Menschen bewunderten, wie Steiner Stärke und Verletzlichkeit vereinte und somit seine menschliche Seite zeigte. Aber sie bewunderten auch, dass und wie sich Steiner als ein ‚stark wertendes Wesen‘ zeigte, d.h. ein Wesen, dass manche Dinge als wichtiger und wertvoller als die anderen betrachtet. Wer um sein Auto genauso wie um seine Frau trauert, wird kaum die Bewunderung anderer Menschen bekommen. Wer seiner kranken Mutter die Hilfe ablehnt, weil er mit Freunden Federball spielen gehen will, wird auf Empörung stoßen. Dass Matthias im Moment seines größten Triumphs und im Glanz seiner Goldmedaille zeigte, wie wichtig, unersetzbar und unvergleichlich ein menschliches Wesen ist, illustriert, wie sehr Menschen nach wie vor qualitativ unterscheiden. Auch der sehr emotionale Kommentar des ARD-Reporters Günther Schroth zur Siegesszene verweist auf den Platz von qualitativen Unterscheidungen in unserer Sichtweise, besser, in unserer Auseinandersetzung mit der Welt: „Gold für Matthias Steiner. Das hat er nicht für Österreich getan; das hat er nicht für Deutschland getan; das hat er für Susann getan, für seine verstorbene Ehefrau.“ Die Bedeutung von Steiners Geste wird erkannt und gelobt. Ein ähnliches prägnantes Bild liefert eine tragische Szene um den Sportler Derek Redmond, einem der Favoriten über 400m bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona, der trotz einer Verletzung den Lauf gestützt von seinem Vater zu Ende brachte. Der Vater
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J. Mensch, „Empathy and Rationality“, in M. L. Portocarrero et al., Hermeneutic Rationality. La rationalité herméneutique, Berlin, 2012, S. 55. B. Weber, B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit. Freiburg/München, 2013, S. 13.
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kam von der Tribüne und ging an den Sicherheitskräften vorbei. Verurteilung bzw. Strafe gab es für ihn nicht. Hingegen wurde die Geste begrüßt und mit stehenden Ovationen gewürdigt. Das, was die Regeln sagen, interessierte zu diesem Zeitpunkt niemanden. Das, was hier auf dem Spiel stand, konnte jeder Mensch als stark wertendes Wesen spüren, ja sehen. Anders gesagt, jeder konnte einfach auf der Basis seiner menschlichen Identität zu dem gelangen, was es hier affektiv wahrzunehmen gab. Dabei spielt der Leib eine Schlüsselrolle. Gefühle eröffnen auch einen Raum der Gemeinsamkeiten. Die zwei Beispiele aus dem Sport illustrieren die Ansicht: „Die Frage nach dem Mitgefühl des Menschen ist die Frage nach seinem Menschsein, seiner Identität.“772 Solidarität im wahren Sinne entwickelt sich nur, wo Menschen als affektiv-leibliche Wesen involviert sind. Der Boden ist hier reichhaltig. Eine gut verstandene Leiblichkeit erlaubt es, sowohl die negativen Pflichten (die Unterlassungspflichten oder Pflichten, nicht zu schädigen) als auch die positiven Pflichten (Pflichten zu helfen)773, sowohl das Private als auch das Intersubjektive, sowohl das Besondere als auch das Universale, kurzum, das Eigene und das Fremde zu berücksichtigen. Dies ist in der westlichen Welt eine neue Sicht des Leibes, die Marcel mit seiner Unterscheidung ‚corps [Körper] que j´ai – corps [Leib] que je suis‘ verfochten hat. Diese Sicht ist nicht mit dem Körperkult zu verwechseln. Petzold erläutert sie folgendermaßen: „Seit einigen Jahren wird dem Körper in unserer Gesellschaft eine neue Aufmerksamkeit zuteil. Die ‚neue Körperkultur‘, die ‚neue Sinnlichkeit‘ und mit ihnen die neue Körpertherapien‘ finden eine breite Resonanz… Der Markt „Körper“ ist entdeckt worden. Es gilt, den Körper als Leistungsaggregat, Konsum- und „pleasure machine“ fit zu halten. Unter der Hand hat sich das Interesse am Körper, die Sorge um den Leib, verkehrt in neue Formen der Verwertung. Es ist kennzeichnend für die Mehrzahl der neuen Strömungen der Körperkultur – auch der körpertherapeutischen –, dass sie den Körper als Objekt betrachten, das
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A. Gruen, Der Verlust des Mitgefühls, a.a.O., S. 9. Tugendhat macht aufmerksam auf das Problem, das mit der Überbetonung von negativen Pflichten verbunden ist: Nicht nur relativ zu einer bestehenden Regel kann eine Person benachteiligt werden, sondern an und für sich. In dieser Hinsicht wirkt „die Einschränkung auf die negativen Pflichten“ destruktiv, weil sie (nur) „im Interesse der Bessergestellten liegt“. Als Paradebeispiel weist Tugendhat auf den Fall der Behinderten hin: Die Berücksichtigung von deren Rechten bedeutet, dass man über den (engen) Rahmen der negativen Pflichten – und damit den atomistischen Standpunkt – hinausgeht und zu dem der positiven Pflichten (d.h. Pflichten, zu helfen) gelangt. Das Hinausgehen über den atomistischen Standpunkt erweist sich als notwendig, da ein gesellschaftliches Leben nur dann lebendig ist, wenn es nicht nur aus negativen Pflichten, sondern auch – und wesentlich – aus positiven Pflichten besteht. (E. Tugendhat, Philosophische Aufsätze. Frankfurt/M., 1992, S. 331f.) Die phänomenologische Analyse vor dem Hintegrrund des Leibbegriffs hat das Potential dieses Problem – wenigstens zum Teil – zu lösen.
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in der vollen Verfügbarkeit der Interessen steht. Eine anthropologische Sicht findet sich selten. Der Leib als Selbst, als Ausdruck personaler Identität, als Möglichkeit des Erlebens und Begegnens, Ort der individuellen und kollektiven Geschichte […] wird nicht in den Blick genommen.“774 Die anthropologische Sicht, die mit dem Körperkult nichts zu tun hat, offenbart die Bedeutung des Leibes. Der Leib als „Subjekt und Mit-Subjekt“, also als Umschlagstelle oder Schnittstelle, überwindet die relativistische Position, die nur Unterschiede – das Trennende – betrachtet. Es kann nicht alles auf das (kulturelle) Besondere zurückgeführt werden, denn unsere Art in der Welt zu wohnen ist nicht absolut unterschiedlich. Daher kann in vielen Fällen die Empörung – wie im Meriams Fall – einfach als Ausdruck unserer Identität als leibliche Wesen betrachtet werden. Die Kritik in ihrem Fall war auf keinen Fall einer Verwestlichung der sudanesischen Kultur geschuldet, sondern der Erkenntnis und Verteidigung des Menschlichen. Es ertönt wieder Taylors Aussage: „Wir sind zur (in der) Welt nicht wie Steine“. Durch unseren Leib können uns manche Dinge in der Welt nicht gleichgültig lassen. Wir haben – wie mit Waldenfels gesehen – primär schon eingewilligt. Die relativistische Position kommt zu spät, um diese primäre Einwilligung (Gemeinsamkeiten durch die Verschränkung) überzeugend und erfolgreich zu negieren. Um dieser Tiefenschicht gerecht zu werden, die aus der Leiblichkeit folgt, spricht Merleau-Ponty von Interkorporeität (Zwischenleiblichkeit)775 statt von Intersubjektivität. Hieraus ergeben sich zahlreiche lehrreiche Anstöße zum Umdenken bzw. zum Nachdenken über die Rolle der Gefühle in der Erkenntnis sowie in der Entfaltung der Wahrheitsfähigkeit des Menschen, deren Erklärung ein wichtiges Anliegen von Engelen ist. Gefühle verdienen offensichtlich eine angemessene Betrachtung. An dieser Stelle ist es angebracht, einer Umformulierung von Pascals Aussage, die Damasios vorschlägt, mehr Aufmerksamkeit zu schenken: „Pascal gesagt hat [sic!]: ‚Das Herz hat Gründe, von denen die Vernunft nichts weiß. ‘ Stünde es mir zu, so würde ich diese Äußerung wie folgt abändern: Der Organismus hat einige Gründe, von denen die Vernunft Gebrauch machen muss.“776 Wir sind an einer Stelle, an der sich die neurobiologischen, phänomenologischen, ethischen sowie religiösen Perspektiven durchdringen. Es ist eine Stelle, an der die Verflechtung von Teilen des Körpers und des Gehirns, die Wechselwirkungen des menschlichen Organismus mit 774
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H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven. Paderborn, 1985. S. 9. Zu einer ähnlichen Feststellung, aber von einem psychoanalytischen Standpunkt aus, kommt A. Gruen. Allzu häufig fragen wir nicht mehr „wer bin ich?“, sondern „was bin ich?“ oder präziser „was will ich sein?“ Wir suchen nicht mehr nach uns selbst, sondern nach einem Selbstbild, dem wir entsprechen wollen. Im Anschluss an Merleau-Ponty betont J. Mensch: „To actually recognize an other as another, I require embodiment. This is because others appear to me through their bodies – more specifically, through their bodily behavior.“ (J. Mensch, Rationality and Empathy, a.a.O., S. 57.) Ebenda, S. 273.
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der physischen und sozialen Umwelt, die Verschränkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Selbst mit dem Anderen unauflösbar und unleugbar zutage treten. Unterschiede werden nicht geleugnet. Aber auch die Gemeinsamkeiten nicht. Menschliche Sensibilität, Gerechtigkeitssinn sowie logische Prinzipien bilden die Grundlage unserer Beurteilungen. Sophie Scholl hat in ihrem Kampf Bezug auf diese Grundlage genommen. Und wir wissen alle aus unseren verschiedenen Kulturräumen ein derartiges Handeln zu schätzen und zu würdigen. Dies illustriert Damasios These: „das Gefühl sei ein integraler Bestandteil der Verstandesmechanismen“.777 Natürlich werden durch das Vorhandensein dieser Basis nicht alle Probleme unserer Welt gelöst. Aber es ist sehr wichtig und hilfreich zu wissen, dass es sie gibt. So sind wir in der Lage trotz unserer unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten, Meriams Gefühle in ihrem dramatischen Kampf um Selbstbestimmung im Sudan zu verstehen und mit ihr zu fühlen. Wir können der Misshandlung ihrer Person und Familie nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die weltweit ausgelöste Empörung gegenüber der Mishandlung einer Frau zeigt, dass etwas an dieser Situation universell für moralisch falsch oder schlecht gehalten wird. Wenn die Empörung als Indikator für das Vorhandensein moralischer Normen verstanden wird, an die „eine Person sich ernsthaft gebunden fühlt“ bzw. die für sie eine „Gewissensautorität“ besitzen778, sind die weltweiten Reaktionen Beweis für die Ansicht, es gebe Standards zur kulturübergreifenden Beurteilung. Die Reaktionen zeigen Übereinstimmungen und weisen auf eine bedeutsame Fähigkeit der Menschen hin, die Perspektive zu wechseln (dies selbstverständlich nur bis zu einem bestimmten Grad, da – wie gesehen – die Verschränkung des Eigenem mit dem Fremden keine Gleichheit bedeutet). Als leibliche Wesen erkennen wir, dass es uns um etwas geht. Es ist wichtig hier, die im vorigen Kapitel erläuterte Unterscheidung zwischen dem deskriptiven und dem normativen Sinn von Werten im Blick zu haben. Die weltweiten Reaktionen äußern nicht eine bloße Ablehnung der faktischen Wertbindungen von Individuen und Gruppen, z.B. eine Ablehnung der Existenz einer Vielfalt von Hochzeitsrituale usw. Es wird nicht bestritten, dass Menschen in unterschiedlichen Kontexte verankert sind. Die weltweiten Reaktionen sind Reaktionen auf einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Leben. Sie äußern in diesem konkreten Fall eher eine Ablehnung von Grausamkeit und eine höhe Schätzung des Lebens des anderen und daher einen ethischen Appel. 777
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Siehe auch S. A. Döring und V. Meyer, deren Sammelband zum Ziel hat, nachzuweisen, „dass die Gefühle einen integralen und unverzichtbaren Bestandteil rationalen Urteilens und Handelns bilden“. (Die Moralität der Gefühle, Berlin, 2002.) C. Demmerling, J. Landweer, Philosophie der Gefühle. Stuttgart, 2007, S. 61f. In Gefühle und Moral betonte er schon gegen den Gegensatz von Vernunft und Moral bzw. die Abwertung der Gefühle: „Empathie, Mitleid und andere altruistische Gfühle versetzen uns in die Lage zu sehen, was zu tun ist bzw. dass etwas zu tun ist. […] Ohne eine moralrelevante Perspektive nun wird die moralische Urteilskraft erst gar nicht in Gang gesetzt, und es werden keine auf die jeweilige Situation bezogen Urteile oder Handlungen vollzogen. Durch Gefühle vermittelte Wahrnehmungen geben der Urteilskraft ihre ‚Objekte‘.“ (Bonn, 2004, S. 32.)
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Auch derjenige, der nicht handeln kann oder will, erkennt dies unabhängig von seinem Wollen. Es steht nicht in seiner Wahl, genauso wie der Blick des Anderen den man umbringt. Denn – wie schon mit Waldenfels erwähnt – auch nach der Ermordung eines anderen „fühle ich trotzdem seinen Blick in meinem Rücken. Ich habe ihn damit nicht in ein Nichts, in ein Nicht-Etwas verwandelt“.779 Als fühlende, leiblich engagierte und grundsätzlich affektive wertende Wesen sehen wir das, was schlecht oder ungerecht in Meriams Situation ist. Wir haben ein Verhältnis zu ihrem Sein und sorgen uns daher um etwas. Dies äußert sich z.B. in dem Ausruf „ata yo moko“ (Lingala-Sprache), d.h. „du siehst das selber“, „das müsstest du schon sehen“ („wie siehst du das selber nicht?“, „das hättest du selber sehen müssen“). Da wir grundsätzlich sehen (können), kommen die Begründungen erst im Nachhinein – was sie natürlich nicht unnütz macht. Wir kommen auch überhaupt nicht auf die Idee, Meriam (siehe These 2) zu verpflichten, uns zu beweisen, dass sie ein „Recht auf unsere Sorge“ hat. Denken wir an den Fall der hilfsbedürftigen Großmutter an der Bushaltstelle. Kann man verlangen, dass sie ihr „Recht auf unsere Sorge“ belegt? Diese Frage stellt nur ein Egoist, der nur von der Evidenz seines Existenzrechts ausgeht und auf sein Selbsterhaltungsrecht pocht, ein selbstbezogenes Wesen, das unfähig ist, zu sehen, vom welchen Standpunkt aus es spricht. Der Dialog zwischen dem Propheten Nathan und David (2. Sam 12, 1-15), nachdem sich letzterer eines Ehebruchs schuldig gemacht hat, ist hier aufschlussreich. Nathan führt keine Überlegung mit Begründungen an, sondern er erzählt die Geschichte eines reichen Mannes, der zur Bewirtung seines Gastes einen armen Mann seines einzigen Schafes beraubt. Dies erzeugt Empörung und Zorn in David („Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dafür soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat.“). David sah, was es in dieser Situation zu sehen gab: Eine Ungerechtigkeit. Er war weder gefühlsarm noch irrational. Auch nicht, als der Prophet sein Urteil fällte: „Du bist der Mann!“ David, der schon deutlich gezeigt hat, dass und wie das Mitfühlen motivierend ist, erkannt seinen Machtmissbrauch sofort an. Als leibliches Wesen konnte er mitfühlen, verstehen und kritisch beurteilen; damit illustriert er sehr gut die Bedeutung des Begriffs der leibhaftigen Vernunft aus Waldenfels´ Sicht. Und auch wir als mit einem Gerechtigkeitssinn ausgestattete leibliche Wesen sind trotz unserer kulturellen Zugehörigkeiten in der Lage, seine Beurteilung zu billigen. All dies zeigt, dass die Leiblichkeit ein Beziehungsbegriff ist. Sie muss mit all ihren Merkmalen im Fokus bleiben, wenn wir von einer angemessenen Persönlichkeitsstruktur des Menschen ausgehen wollen. Der Leib ist gleichzeitig kulturverbunden und nicht kulturverbunden. Daher ermöglicht er auch eine kulturübergreifende Beurteilung.
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B. Waldenfels, Vernunft im Zeichen des Fremden, a.a.O., S. 450.
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„Es ist erschreckend, mit welcher zynischen Kaltschnäuzigkeit mein Kommandeur von der Abschlachtung sämtlicher Juden des besetzten Rußland erzählt und dabei von der Gerechtigkeit dieser Handlungsweise vollkommen überzeugt ist. Ich saß mit klopfendem Herzen da.“ (Brief von F. Hartnagel an seine Verlobte Sophie Scholl, am 26. Juni 1942.)
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6.3.2 Phänomenologische Herangehensweise an den moralischen Phänomenbereich Die Berücksichtigung der Werterfahrung Die hier erarbeitete Zwischenposition, die die Akzente neu setzt und so zur Beseitigung unseres zentralen Problems beiträgt, stellt die Leiblichkeit in den Mittelpunkt, so dass wir die grundlegenden Aspekte des moralischen Phänomenbereichs in den Blick bekommen. Damit erklärt sich auch das Interesse für die Werterfahrung. Dies bildet den Standpunkt, von dem aus eine Distanzierung von Habermas‘ Formalismus sowie von Taylors kulturalistischer Bestimmung der Moral vorgenommen wird. Für die hier angestrebte Distanzierung spricht z.B. dass das Tötungsverbot weder als Ergebnis einer (wenn auch freien) Diskussion, noch – wie wir im Folgenden sehen werden – als Resultat „spezifischer Sprachmerkmale“ (Gregor Paul) angesehen werden kann. Einige Vorbemerkungen sind notwendig: (i) Die Entscheidung, die Erfahrung von Werten in den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu rücken, gründet sich darauf, dass wesentliche Gehalte des Bereichs der moralischen Phänomene außer Acht bleiben, wenn man einseitig auf das Begründungsproblem fokussiert: „Mit der Werterfahrung kommen [...] materiale Gehalte in die Ethik, die sich nicht auf die formalen oder prozeduralen Qualitäten einer reinen praktischen oder eine reinen kommunikativen Vernunft zurückführen lassen.“780 Indem wir die Werterfahrung berücksichtigen, vermeiden wir die Verwechslung der „Geltungsdimension“ mit dem „Phänomenbereich“ (Honneth) und damit die Verkürzung des letzteren. Damit wird ein neuer Weg eingeschlagen, der sich von der Diskursethik abgrenzen möchte. Letztere betrachtet Honneth zufolge die Sprache als das „zentrale Geltungsmedium“ der Moral und stellt die Moral als „Sphäre der Redepraxis“ dar. Dass eine solche Ansicht den Bereich der moralischen Phänomene verkürzt, ist offenkundig. Denn „wir erwarten als Teilnehmer in kommunikativen Zusammenhängen der sozialen Lebenswelt von unseren Interaktionspartnern moralisch mehr, als sich anhand jener normativen Idealisierungen zeigen lässt, die wir in diskursiven Argumentationen wechselseitig unterstellen mögen“.781 Um den moralischen Phänomenen in ihrem ganzen Umfang gerecht zu werden, muss auch das, was an „moralischen Gehalt in unseren Gefühlseinstellungen“ angelegt ist, berücksichtigt werden.782 Der chinesischen Philosoph Menzius hat in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel in seinem Hauptwerk eingeführt: Jeder, der ein Kind sieht, das im Begriff ist, in einen Brunnen zu fallen, wird unmittelbar und ohne Hintergedanken loseilen, um es davor zu bewahren.783 Angezielt wird in diesem Rettungsversuch keineswegs eine mögliche 780 781 782 783
M. Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, a.a.O., S. 95. A. Honneth, „Anerkenungsbeziehungen und Moral “, a.a.O., S. 103. Ebenda Mengzi 2A, 6. Menzius vertritt die Idee, das Gute sei angeboren, und legt im vorliegenden Fall das Augenmerk auf das Mitfühlen und das Mitleid. Wer „die Kardialsinne für Mitfühlen und
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Belohnung der Eltern oder ein höheres gesellschaftliches Ansehen. Man bewegt sich einfach für den Anderen. Wir können nichts anderes als mit dem Kind mitzuempfinden. Unsere Natur drängt uns dazu, auf einen „fremden Anspruch“ (Waldenfels) zu antworten. Dieser fremde Anspruch ist so radikal, dass man sich ihm nicht entziehen kann (eine „gelebte Unmöglichkeit“, sagt Waldenfels). Angesichts eines solchen Falls bedeutet ein Sich-nicht-Angesprochen-Fühlen einfach ein Versagen der Grundlagen unserer Menschlichkeit. Dies bringt uns dazu, mit Honneth zu sagen, dass Menschen auch aus „normativen Gefühlen“ oder „innerer Verpflichtung“ heraus handeln. Empfindungen, Gefühle bzw. Affekte sind keine Kategorien von geringer Bedeutung in der Moral. Dank ihnen können wir Folter, Ungerechtigkeiten, Verfehlungen, Affronts usw. gegenüber nicht indifferent bleiben. Wir reagieren oder fühlen zumindest den Drang zu reagieren. Wir können hier von einer ethischen Disposition sprechen, die in Überzeugungen, Idealen, Werthorizonten der Handenden und ihrem Verhältnis zur Welt besteht. Dass man die Universalisierung von Interessen in einer ‚rein’ konsensorientierten Diskussion erzielen kann, ist hier undenkbar. Denn ein auf diese Weise erzielter Konsens kann die Interessen aller Betroffenen in Rücksicht nehmen, ohne aber einer einzigen ethischen Forderung gerecht zu werden. Der Konsens findet, so Maesschalck, vielmehr seine Garantie durch die ethische Disposition, die er selbst nicht schafft.784 Dieser wichtige Punkt gerät in der Diskursethik aus dem Blick. Daher entsteht der Eindruck, dass sich Prozeduren verselbstständigen“ (Waldenfels) können. Aber dies ist nicht möglich, weil sie immer auf die Selbstverständnisse der Handelnden bezogen bleiben.785Angesichts dieser Tatsache streben wir in Abgrenzung zur Diskursethik nach einer Zwischenposition, die unserem ethischen Selbstverständnis gerecht wird. Eine solche Zwischenposition darf also keine störende Wirkung auf unser ethisches Selbstverständnis und unsere ethische Praxis haben. (ii) Auf der anderen Seite soll hier im Unterschied zu Taylors kontextualistischer Ethik vermieden werden, die Moral zu eng mit der Identitätsfrage zu verbinden. Es geht nicht darum, den Kontext abzuwerten, sondern die kommunitaristische Verankerung des Kontextbegriffs zu eliminieren und damit eine ‚kulturalistische Bestimmung’ des moralischen Phänomenbereichs zu vermeiden. Denn der Einfluss des Kommunitarismus verhindert die Einsicht, dass moralische Werte einen allgemeingültigen Anspruch besitzen können und dadurch eine kulturübergreifende moralische Beurteilung ermöglichen. Er nähert sich der These des Relativismus an. Wenn wir z.B. die Grausamkeit gegen andere oder die Nicht-Achtung vor dem menschlichen Leben in einem anderen Kulturraum als moralisch verwerflich beurteilen,
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Mitleid vernichtet, [ist] einer, der sein Menschsein verfälscht“. Menzius in R. H. Gassmann, Menzius. Berlin/Boston, 2016, S. 276. M. Maesschalck, Normes et contextes. Hildesheim, 2001, S. 27. Betonung von CN. Die These über die hermeneutische Dimension der praktischen Vernunft (siehe Teil 1) besagt, dass das originäre Phänomen des moralischen Lebens nicht in der Gültigkeit der Regeln (oder ihrer Rationalität und Kohärenz) und auch nicht in ihrer Nützlichkeit besteht, sondern in der Tatsache, dass sie ‚unsere‘ sind, d.h. dass sie auf unseren Selbstverständnissen basieren. (M. Hunyadi, Morale contextuelle, a.a.O., S. 39.)
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verletzen wir keinesfalls – mit Paul gesprochen786 – die „Unversehrtheit“ der Identität fremder Kulturen. Daraus folgt, dass fragwürdige kulturspezifische Praktiken bloß unter Berufung auf ihre „Kulturalität“ zu begründen und sie einer kritischen Prüfung der Angehörigen anderer Kulturen zu entziehen, unhaltbar ist. Eine Kulturkritik ist nicht notwendigerweise kulturzentrisch. Kulturelle Spezifitäten sind zwar beachtenswert und schützenswert, sie bilden aber nicht den ‚allerletzten Horizont’ moralischer Beurteilungen. Dass sich Taylor der relativistischen Ansicht annähert, sieht Ceyhan darin begründet, dass sein Verständnis der Kultur holistische, emanatistische und deterministische Züge aufweist787: – den holistischen Zügen nach bildet jede Kultur eine Totalität; – den deterministischen Zügen nach bestimmt der kulturelle Rahmen das Verhalten oder die Praktiken der Menschen und deren Erklärung; – den emanatistischen Zügen nach gehen Überzeugungen und Wertvorstellungen von der Kultur aus. Ein solches Verständnis der Kultur ist aber bei genauerem Zusehen nur begrenzt gültig. Denn: Punkt (i) ignoriert die Fremderfahrung, Punkt (ii) lässt die Frage unbeantwortet, wie weit die Kultur die menschlichen Handlungen prägt. Und schließlich missachtet Punkt (iii) durch seine Betonung des deskriptiven Sinns der Werte ihren normativen Sinn. Infolgedessen werden Werte nur als Erzeugnisse der Kulturen, Bräuche oder„bloß kulturspezifische Tatsachen“ dargestellt, die je nach dem kulturellen Raum variieren.788 Daher sollte die
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Siehe ausführliche Erläuterung in Gregor Paul, „Argumente gegen den Kulturalismus in der Menschenrechtsfrage“, in Information Philosophie, Bd. 5, 2003, S. 54- 61. A. Ceyhan, „Le communautarisme et la question de la reconnaissance“, in Cultures&Conflits, 12(1993), S. 3, http://conflits.revues.org/447, abgerufen am 11.12.2011. Wie im Fazit des Kapitels 2 erwähnt, befindet sich Taylors Denken allerdings gerade in einer Umbruchsphase (auch wenn er dies selbst nicht explizit sagt und deutlich zeigt, was in seinen Thesen endgültig gestrichen werden muss). Vgl. z.B. die Debatte um die Rede von „asiatischen Werten“. Paul kritisiert vehement diese Rede, weil sie partikularisch angelegt ist: „Abgesehen davon, dass ein derartig holistischer Ansatz undurchführbar ist, ist er auch in anderer Hinsicht problematisch. Denn wie will man von ‚Grenzen orientalischer Kultur‘ reden, ohne von Menschen überhaupt zu sprechen? Wo und wann beginnt ‚die orientalische Kultur‘? Wie will man grundlegende Hypothesen über Jahrtausende verschiedener Ethnien, Sprachen, Religionen, Philosophien, Herrschaftssysteme, Lebensgewohnheiten und vieles andere mehr formulieren ohne Gültiges und Relevantes über den Menschen überhaupt zu sagen?“ (G. Paul, „Zur jüngeren Rezeption japanischer Philosophie im deutschsprachigen Raum: Mission, systematische Missverständnisse, Klischees und Vorurteile“ (1999), http://dcg.de/paul/rezept.html HYPERLINK "http://dcg.de/ paul/rezept.html", S. 6, abgerufen am 10.06.2012. Siehe auch A Sen, „Thinking About Human Rights and Asian Values“, in Human Rights Dialogue 1, 4(1996), https://www.carnegiecouncil.org/publications/archive/dialogue/1_04/articles/519, abgerufen am 30.06.2012; ders. „Human Rights and Asian Values“, 1997, https://www.carnegiecouncil.org/publications/archive/morgenthau/254, abgerufen am 30.06.2012; J. Chan, „The Asian Challenge to Universal Human Rights: A Philosophical Appraisal“, in
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Unterscheidung zwischen dem deskriptiven und dem normativen Sinn von Werten (Kap. 5) nicht aus dem Blick geraten. Diese Differenzierung lässt die These zu, dass Vernunftgesetze und moralische Gesetze nicht kulturabhängig sind, wie z.B. Heiratszeremonien (Habermas) oder Rituale der Höflichkeit (Lévi-Strauss). Durch die vorliegende Argumentation werden zwei Einwände gegen den allgemeinen Charakter von Werten zurückgewiesen: a. Der historizistische Einwand: Diesem Einwand zufolge ändern sich die moralischen Werte mit der Zeit bzw. der Abfolge der Epochen. Ein solcher Einwand ist problematisch, denn er stellt den universellen Charakter der Werte in Frage.789 Man kann sich mit Boudon auch fragen, ob die die Wahrheit selbst historisch relativ ist oder ihre Entdeckung:790 Die Aussagen „Die Erde ist rund‘ und „Die Erde ist flach“ konnten lange Zeit als gleichsam plausible Aussagen behandelt werden. Aber heutzutage ist die zweite Aussage unhaltbar geworden, ohne dass die Wahrheit der ersten Aussage, die sich durchgesetzt hat, als historisch relativ angesehen wird. Ausgehend davon soll man Boudon zufolge nicht in der Tatsache, dass die Axiologie eine Geschichte hat, den Beweis sehen, dass Werte kollektive Illusionen sind oder bloß von Präferenzen und Kulturen abhängige Tatsachen. Auf diesen Einwand Punkt kommen wir in Thesen 3 und 5 zurück. b. Der kulturalistische Einwand: Diesem Einwand zufolge ändern sich die moralischen Werte je nach dem (kulturellen) Raum bzw. Kontext, in dem sie verortet sind. Diese Sichtweise verkennt jedoch sowohl die geschichtliche Realität der gegenseitigen Durchdringung der Kulturen als auch den immanenten Anspruch der Werte auf Allgemeingültigkeit. Der Versuch, deutliche Grenzlinien zwischen den Kulturen bzw. moralischen Landkarten zu ziehen ist unhaltbar. Dies wirkt störend auf unser ethisches Selbstverständnis und steht im Widerspruch zu den Ergebnissen der vorliegenden Ausführungen über die Werterfahrungen und der empirischen Studien. Menschen teilen moralische Grundintuitionen, anthropologische Konstanten (z.B. Abneigung gegen Schmerzen, Sensibilität für Ungerechtigkeit bzw. Schuldgefühle auf eigene Ungerechtigkeiten
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J.T.H. Tang (Hg.), Human Rights and International Relations in the Asia-Pacific Region, London, 1995, S. 25-38. Paul sieht hier ein weiteres Problem bezüglich der Idee einer allgemeinen Ästhetik und einer Weltliteratur. Ist der universelle Charakter der Schönheit von Pyramiden, Kompositionen Mozarts und Beethovens, von Weißheitstexte usw. aufgrund ihrer zeitalterspezifischen Züge in Frage zu stellen? (G. Paul, Einführung in die interkulturelle Philosophie. Darmstadt, 2008. S. 87f. Vgl. interkulturell orientierte Ansätze der Autoren wie Ohashi, R.A. Mall usw.) Boudon bestreitet den historischen Einwand durch einen Vergleich mit der Ahistorizität physikalischer Wahrheiten. Es ist eine Tatsache, dass die Physik eine lange Geschichte hat. Aber diese Tatsache stellt nicht in Frage, dass die Gültigkeit physikalischer Wahrheiten über die historischen Kontexte ihrer Entdeckung hinausreicht. „Denn aus der Tatsache, dass die Wissenschaft – wie die Physik – eine Geschichte hat, folgt nicht, dass die Objektivität eine Täuschung ist.“ (R. Boudon, Le juste et le vrai. Paris, 1995, S. 339f. Auch ders., Le sens des valeurs. Paris, 2007, S. 228f. Freie Übersetzung.)
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usw.) und einige moralische Wertstandards. Alle diese Faktoren bilden eine allgemeinmenschliche materiale Basis. Diese Basis liegt z.B. der Goldenen Regel zugrunde und transzendiert kulturelle Spezifitäten. Dass diese materiale Basis unterschiedliche Ausdrücke in verschiedenen Kulturräumen und Zeiten hat, bedeutet nicht, dass sie keine Grundlage für eine allgemeingültige moralische Beurteilung abliefern kann. Daher erweist es sich als irreführend, die Vielfalt der Kulturen mit der Vielfalt von Werten gleichzusetzen oder auch die Vielfalt der Sprachen als einen Faktor zu verstehen, der unterschiedliche Wertauffassungen erzeugt. Dazu betont Gregor Paul: „Sprachen sind distinktive Merkmale von Kulturen oder doch größeren Teilkulturen wie z.B. der baskischen Kultur in Frankreich und Spanien oder der Miao-Kultur in China und Thailand. Aber sie bedingen keine unterschiedlichen Wertauffassungen. Die Norm ‚Du sollst nicht töten‘ ist nie ein Resultat spezifischer Sprachmerkmale. Sie ist keine Funktion des Baskischen oder Sprache der Miao. Freilich kann ein Wort ‚töten‘ unterschiedliche spezifische Bedeutungen besitzen.“791 Nach Paul ist es mit Blick auf diese Überlegungen für den Relativisten sehr schwer, uns davon zu überzeugen, dass den moralischen Kodizes nicht zumindest ein minimaler Kern an allgemeiner Gültigkeit zukommt. Betrachten wir zur Illustration unsere Bewertung der Handlungen derjeniger, die verfolgte Juden in der NS-Zeit in Schutz genommen haben. Wir alle begreifen zweifelsohne den moralisch hochwertigen Charakter dieser Handlungen. Es wird also erstens nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur erfordert, um diese Handlung als gut anzusehen. Zweitens ist diese Beurteilung nicht kulturabhängig. Hier kann die Rede von intuitiven moralischen Vorstellungen wieder eingeführt werden: sie erklären, wieso die Helfer und Dissidenten ‚Recht’ hatten, sich einer solchen politischen Ordnung zu widersetzen oder ihre Gebote zu verletzen; sie erklären auch, wieso wir uns selbst berechtigt fühlen, die grausamen Taten zu verurteilen und das Hilfsangebot zu schätzen, aber auch wieso wir uns sicher sind, dass unsere Beurteilung richtig ist. Man kann natürlich sagen, dass wir diese Vorstellungen ‚internalisiert‘ haben. Aber das Internalisierungsargument hat seine Grenzen, wenn man – unter Berufung auf die Waldenfelsschen Phänomenologie der Fremdheit – in Betracht zieht, dass die Vorstellung des Guten, mit der der Internalisierungsprozess eröffnet wird, nicht gleichzeitig das Resultat der Internalisierung sein kann. Etwas entzieht sich dem Eröffnungsakt und bleibt außerhalb trotz aller rationalen Anstrengungen, Argumentationen oder Begründungsversuchen. Kommen wir zurück auf unser Beispiel, so zeigt sich hier in aller Deutlichkeit, dass wir an dem allgemeinen Anspruch der Werte nicht vorbeikommen. Durch ihn können und dürfen wir bestimmte Verhaltensweisen oder Praktiken unter Menschen kritisieren. Versuche, diesen Anspruch auf die ‚Grenzen‘ der Kultur zu beschränken, sind unplausibel, weil sie unseren moralischen Intuitionen widersprechen. Rückt der Mensch in den Mittelpunkt, wird ersichtlich, dass es durchaus Universalien (Wertstandards) gibt, die die kulturalistische Ansicht ins Wanken bringen. Kontextuelle Parameter prägen zwar jede Realisierung dieser Wertstandards, denn diese werden nicht 791
G. Paul, Einführung in die interkulturelle Philosophie, a.a.O., S. 20.
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buchstäblich umgesetzt. Aber sie schließen nicht eine Form der Universalisierung aus. Wenn in vorliegenden Ausführungen davon die Rede ist, dass das Menschsein berücksichtigt werden muss, geht es gerade nicht nur um den faktischen historisch-kulturellen Rahmen der Verwirklichung des Menschen, sondern darum auch die Perspektive des Universellen zu beachten. Die Alternative dazu ist die Betrachtung der Kulturen als Kerker und die Rede von Identität bzw. Anerkennung als Manöver des Abschottens oder Einsperrens. Ein weiterer Schritt in die Perspektive des Menschseins ist erforderlich.
Der Mensch im Mittelpunkt Die Berücksichtigung des normativen Sinns der Werte hat den Vorteil, den Menschen jenseits aller kulturellen Vielfalt in den Mittelpunkt zu rücken. Zur Illustrierung: Martin Luther King stellte sich in seiner Opposition zum Vietnamkrieg nicht nur als Führer der Bürgerrechtsbewegung dar, sondern auch als Verteidiger der Friedensbewegung, indem er die Wechselbeziehung zwischen Rassismus, Armut und Militarismus herausstellt. In dieser Hinsicht spricht er von Werten, deren universeller Charakter trotz ihrer religiösen Färbung in seiner Rede von allen Menschen erkennbar ist: „Schließlich wäre bei dem Versuch, für sie und für mich selbst den Weg von Montgomery bis in diese Kirche aufzuzeigen, das Entscheidende damit gesagt, dass ich meiner Glaubensüberzeugung treu bleiben muss, mit allen Menschen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören. Diese Berufung zur Kinderschaft und zur Brüderlichkeit geht über die Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer Nation oder einem Glaubensbekenntnis hinaus. Und weil ich glaube, dass dem Vater besonders die Leidenden, Hilflosen und Verachteten unter seinen Kindern am Herzen liegen, komme ich heute Abend hierher, um für sie zu sprechen. Ich glaube, dass dies das Privileg und die Bürde derer ist, die sich durch Treueverpflichtungen gebunden wissen, welche umfassender und tiefer sind als der Nationalismus, und die jenseits der egoistischen Ziele und Interesse unserer Nation stehen. Es ist unsere Aufgabe, für die Schwachen zu sprechen, für die, die keine Stimme haben, für die Opfer unserer Nation, für die, die sie Feinde nennt, denn keine von Menschen angefertigte Erklärung kann diese zu weniger machen als zu unseren Brüdern.“792 Kings Rede geht aus einem moralischen Standpunkt hervor, der allen Menschen zugänglich ist. Er bezieht sich nicht auf Werte, die amerikanisch oder christlich sind, sondern einfach menschlich. Wir stimmen Gutmann zu, wenn er den doppelten Charakter dieser Rede herausstellt: Einerseits sieht man, dass King tatsächlich nicht außerhalb seiner amerikanischen Kultur steht. Vielmehr setzt er einen bestimmten Standpunkt voraus, um seine moralische Kritik zu äußern. Diese Verbundenheit mit einem bestimmten Standpunkt zeigt sich im vorliegenden Fall dadurch, dass die Rede von King durch religiöse Züge seiner Kultur geprägt wird. Anderseits zeigt sich, dass King nicht ausschließlich innerhalb der 792
M. L. King, Testament der Hoffnung. Letzte Reden, Aufsätze und Predigten. Gütersloh, 1976, S. 79.
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amerikanischen Kultur steht. Denn seine Argumente gegen den Rassismus, die Armut und den Militarismus sind auch Angehörigen anderer Kulturen vertraut und zugänglich, so dass man sie auch als Binsenwahrheiten ansehen kann.793 In Kings Rede manifestiert sich die Idee einer universalistischen Kritik; diese verweist auf etwas, das nicht von subjektiven Einstellungen wie Präferenzen und von kulturellen Prägungen abhängig ist. Jeder Mensch kann es erfassen und ihm zustimmen.794 Weitere Beispiele aus dem Alltagsleben belegen ebenfalls diese Tatsache. Wer die spannende Lektüre eines Romans an der Bushaltestelle unterbricht, um einer alten Dame zu helfen, ist sicher, dass jeder andere Mensch in der Welt sein Handeln gutheißen würde. Seine Beurteilung ist verbunden mit dem unmittelbaren und unbestreitbaren Gefühl der Gewissheit. Derjenige, der sich nicht betroffen zeigt, erregt Empörung und setzt sich der Kritik aus: „Es ist nicht normal, sich von der Hilfsbedürftigkeit der alten Dame nicht zur Tat aufgefordert zu fühlen.“ Auf der Basis von intuitiven moralischen Einstellungen und von der Einheit der bzw. von der Orientierung an logischen Gesetzen lässt sich ein „normatives Konzept der Humanität“ entwickeln, das die kulturübergreifende moralische Beurteilung untermauert und explizit macht, dass es keine allgemeingültigen Argumente z.B. für Grausamkeit, Folter oder anderes inhumanes Verhalten gibt.795 Angesichts dieser Taten ist es problematisch, die Gültigkeit der moralischen Beurteilung auf die ‚Grenzen’ einer kulturellen Lebensform festzulegen. Als Menschen wissen wir, ohne zu überlegen, dass manche Dinge gut oder schlecht sind. Und dieses moralische Wissen befähigt uns dazu, auch neue Situationen zu bewerten, die außerhalb unseres Kulturraums vorkommen. Moralische Begriff wie Lob und Tadel wenden wir nicht nur innerhalb der Grenzen der eigenen Kultur an. So lernen wir Werte wie Rücksichtnahme oder die Aufrichtigkeit in einem bestimmten kulturellen Kontext. Wir können aber den Verstoß dagegen auch außerhalb unserer Kultur berechtigt beurteilen bzw. verurteilen. Die Art, wie der Relativist versucht, die anderen von uns abzugrenzen, ist sehr problematisch, weil sie den Standpunkt, von dem aus Menschen die Dinge betrachten, verengt. Sie ist zudem falsch, weil
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A. Gutmann „Das Problem des Multikulturalismus in der politischen Ethik“, a.a.O., S. 292f. In diesem Zusammenhang begründet Boudon die kulturübergreifende Beurteilung: Wir kennen Fälle, bei denen axiologische Beurteilungen trotz ihrer variantenreichen Formulierung eine mit dem Satz ‚2+2=4‘ vergleichbare universale Gültigkeit haben. Solche axiologische Beurteilungen sind kontextübergreifend. Denn, um sie zu verstehen, ist es nicht nötig, das soziale Umfeld des Beurteilenden gut zu kennen. Seine Handlung lässt sich verstehen, ohne, dass man seine Persönlichkeit kennen muss genauso wie es nicht notwendig ist, die Persönlichkeit und das soziale Umfeld eines von der Wahrheit des Theorems Pythagoras überzeugten Individuums zu kennen, um seine Überzeugung zu erklären (R. Boudon, Le juste et le vrai, a.a.O., S. 214). G. Paul, „Ansätze zu einer globalen Ethik“,,in G. Paul et. (Hg.), Humanität, Interkulturalität und Menschrecht, Frankfurt/M., 2001, S. 89; siehe auch G. Paul, Einführung in die interkulturelle Ethik, a.a.O., S. 106 sowie G. Paul, „Einheit der Logik und Einheit des Menschenbildes“, in A. Baruzzi et. al. (Hg.), Ethos des Interkulturellen, Würzburg, 1998, S. 20.
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sie, bei dem Versuch die interkulturelle Kritik auszuschließen, ein non sequitur darstellt. Seine Unhaltbarkeit zeigt Gutmann im folgenden Räsonnement: „ […] Zugegeben, wir vermögen nicht außerhalb jeglicher Kultur zu stehen. Doch deshalb brauchen wir, um moralische Kritik vorzubringen, noch längst nicht innerhalb einer, und nur einer, partikularen Kultur zu stehen. Wir können uns für die Grundinteressen, die Würde oder die moralische Vernunft von Menschen, welcher Kultur sie auch angehören mögen, so gut einsetzen, wie wir bisher einzusetzen vermögen, worin diese Interessen bestehen, oder was Menschenwürde oder moralische Vernunft voraussetzen.“796 Durch die Zurückweisung des non sequitur wird behauptet, dass es prinzipiell möglich und relevant ist, sich gegenseitig zu verstehen und moralische Urteile über die anderen zu fällen. Und dies geschieht ja tatsächlich in unserer alltäglichen Erfahrung. Diese legt überdies nahe, dass Kulturen sich überlappen und reale Menschen im Gegensatz zu den Schematisierungen vieler Akademiker und Politiker ihre kulturellen Praktiken für einen potentiellen diskutablen Gegenstand halten. Die Auseinandersetzung über diese kulturellen Eigentümlichkeiten erfolgt auf der Grundlage von kulturübergreifenden Wertstandards und den logischen Gesetze der Vernunft. Selbst diktatorische Regierungen geben im Rahmen ihrer Legitimierungsstrategien vor, im Sinne dieser Wertstandards und in Einklang mit den Grundgesetzen der Logik zu handeln. Auf dieselben beziehen sich auch Kritiker bzw. Andersdenkende innerhalb und außerhalb der jeweiligen Kultur wenn sie überprüfen, ob die Praktiken der Machthaber mit ihrer öffentlichen Rhetorik übereinstimmen. Taylor behauptet zu Recht, dass das Kulturelle im moralischen Denken bzw. in der moralischen Argumentation unbedingte Berücksichtigung finden muss.797 Aber da er das Phänomen des Fremden bzw. die Verschränkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden nicht genug berücksichtigt, bleibt seine Position mit Ambivalenzen konfrontiert. Auch wenn wir vertreten keine rein argumentative Moral, die Waldenfels wegen ihres Formalismus zu Recht als „Moral mit verschlossenen Ohren“798 bezeichnet, sind wir verpflichtet, einen theoretischen Rahmen zu fördern, der das kritische Potential der Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Handlungen oder kulturellen Praktiken schutzt. In jedem Versuch, eine Diskussion durch Verweis auf ihre identitätsbedrohende Bedeutung zu beenden, steckt potentiell eine Form von Dogmatismus und Ideologie. Die Berufung auf die kulturelle Identität darf die kritische Prüfung bzw. die interkulturelle Kritik nicht ausschließen oder gefährden. Die Phänomenologie der Fremdheit leistet in diesem Punkt einen wichtigen Beitrag.
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A. Gutmann, „Das Problem des Multikulturalismus in der politischen Ethik“, a.a.O., S. 291f. Siehe J. Pelabay, Charles Taylor, a.a.O., S. 122f. B. Waldenfels, „Bewährungsprobe der Phänomenologie“, in Philosophische Rundschau, Bd. 57(2010), S. 169.
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7. Fünf Thesen zur Interkulturalität als Verflechtung und zum Umdenken
Eine einleitende Überlegung – interkulturelle Philosophie Bevor wir auf die Thesen eingehen, soll zunächst ein allgemeines Bild der interkulturellen Philosophie skizziert werden. Menschen denken von der Realität ihres jeweiligen Lebenskontexts her. Sie haben es immer getan und werden es weiterhin tun. Aber wenn eine so offensichtliche Tatsache erwähnenswert wird, liegt das daran, dass sie infolge von Ethnozentrismus (Selbstbezogenheit) und Globalisierung in zwischenmenschlichen Beziehungen heute missachtet wird. Die Folgen sind zwanghafte Eingliederung bzw. Annektierung, „Erweiterung oder Vervielfältigung des Eigenen“ (Waldenfels), Aneignung des Anderen, Nivellierung von Kulturen usw. All diese Begriffe verweisen auf eine mangelhafte Einsicht in das Fremde und somit das Selbst. Sie sind aber nicht bloß Worte, sondern Formen der Gewalt, die unzählige Menschen in der Welt zu spüren bekommen (haben) und in ihrer Identität tragen. Ziel der interkulturellen Philosophie ist eine gewaltfreie Begegnung und ein gegenseitig lehrreicher Austausch zwischen den Menschen verschiedener Kulturen. Sie setzt sich für eine Philosophie ein, die methodologisch den Anforderungen der Interdisziplinarität und der Interkulturalität entspricht. 799 Die Philosophie wird aufgefordert, der Vielfalt der Kulturen gerecht zu werden. Daher muss nicht nur Interkulturalität, sondern auch Interdisziplinarität ihre Orientierung sein. Sie muss angesichts der Komplexität der Realität Anthropologie, Ethnologie, afro-amerikanische Studien, Erkundung von Mythen und Traditionen usw. in ihren Interessenbereich miteinbeziehen. Dies impliziert, dass man mit dem Akademismus brechen muss, der die notwendige Aufgeschlossenheit und die Berücksichtigung der Herausforderungen des sozialen Lebens der Menschen vermissen lässt. Die akademische Institutionalisierung der Philosophie hat, betont Fornet-Betancourt, die Gefahr mit sich gebracht, den engen Zusammenhang der Philosophie mit dem konkreten Leben auszublenden, d.h. mit der Art, wie sich die Menschen in der Welt betätigen, wie sie sich in ihrem jeweiligen Kontext mit ihr auseinandersetzen. Das Bewusstsein für die Interkulturalität erlaubt der Philosophie, ein echtes Wissen zu sein, das die Welt verändern kann. Eine dialogbereite Philosophie zögert z.B. nicht auf die aus der neoliberalen Globalisierung entstehenden Problemen einzugehen. Die Philosophie kann nicht angesichts des globalisierten Kapitalismus, der die Geschichte nach wie vor brutal zu orientieren versucht und mörderische Verhältnisse
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R. Fornet-Betancourt, La philosophie interculturelle, a.a.O., S. 59. Wir beziehen uns hauptsächlich auf dieses Werk in der folgenden Skizze der interkulturellen Philosophie. Siehe für ausführliche Informationen auch die Veröffentlichungen von G. Stenger, G. Paul, R. A. Mall, H. R. Yousefi, N. Weidtmann, F. M. Wimmer usw.
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instand hält, abgelenkt oder realitätsfern sein.800 Interkulturelles Philosophieren erweist sich als eine Form des Widerstandskampfes bzw. des Kampfes um die Freiheit und als ein Plädoyer für Alternativen. Dabei empfiehlt es sich, empfänglich für Ansichten von verschiedenen Standpunkten zu sein. Es muss klar sein, dass es hier nicht um die Bemühungen geht, eine Form der Philosophie zu entwerfen, die von einem bestimmten Zentrum ausgeht und Echos in den Peripherien sucht. Dies wäre ein Monokulturalismus mit seinen merkwürdigen Begriffen von Universalität, Inkulturation als Implantierung. Infolgedessen würde die Philosophie in einer Tradition – in der vorherrschenden Tradition – gefangen bleiben. Aus dem Vorausgehenden zeigt sich, dass Interkulturalität sowohl Veränderung der Philosophie selbst als auch der Herangehensweise an Problemen der Welt bedeutet. Daher spricht Fornet-Betancourt von „déphilosopher la philosophie“ (die Philosophie entphilosophieren) als einem Akt der Befreiung der Philosophie von der eurozentrischen Tradition durch die Berücksichtigung anderer Traditionen und Texte. Die interkulturelle Philosophie ist zweifach kritisch: gegenüber der hegemonialen Lesart bzw. Rezeption ihrer eigenen Erbschaft und gegenüber der politischen, ökonomischen usw. Realität unserer Zeit. Eine solche Philosophie arbeitet, damit die Welt tatsächlich unsere Welt ist.801 Dies bedeutet, dass sich die Philosophie verändert, d.h. dass sie ein weitreichendes Selbstverständnis gewinnt, um zur Veränderung der Welt und zur Förderung des Lebens besser beizutragen. An dieser Stelle wird Hegels Bild von der „Eule der Minerva“ zur Beschreibung der Funktion der Philosophie viel diskutiert bzw. kritisiert. Fliegt die Philosophie die Welt erst mit der einbrechenden Dämmerung an? Diesem Bild wird das des Hahnes, dessen Krähen den beginnenden Sonnenaufgang ankündigt, entgegengestellt. Jenseits der Gegenüberstellung zwischen Kritiken an Hegel und seinen Verteidigern, die bemüht sind, (etwaige) Annahmen Hegels über die Veränderung der Wirklichkeit zu zeigen, ist zu erkennen, dass die Weltgeschichte und die Zukunft zu zentralen Themen der Philosophie gehören. Ihnen wird sie gerecht, indem sie sich ihres interkulturellen Charakters mehr bewusst ist. Die Philosophie übt nun ihre kritische Funktion von verschiedenen Orten in der Welt aus. Erhofft wird also nicht eine vermeintlich gemeinsame Kultur, auch nicht eine strikte Parzellierung der Philosophie, sondern die Förderung einer lehrreichen Wechselwirkung bzw. gegenseitigen Kritik. Das selbstkritische Moment lässt sich nicht streichen. Es geht nicht um ein Fest von Kulturen und ihren Philosophien ohne kritische Auseinandersetzung. Anders zu philosophieren bedeutet, den Dialog zu fördern. Aber es geht um einen Dialog, in dem Partner tatsächlich ‚Aussagende‘ sind. Wir schließen uns Fornet-Betancourt an, wenn er bei der Definition von Begriffen (Philosophie, Interkulturalität usw.) in seinem zitierten Buch betont, dass er sich auf die Bedeutung bezieht, die er diesen Ausdrücken in seiner Arbeit gibt, „und nicht auf eine allgemeine
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Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 29.
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Diskussion anderer möglicher Interpretationen“. 802 Entsprechend dieser anti-dogmatischen Ansicht versteht er die Frage nach der ‚Interkulturalität‘ grundsätzlich als eine Frage nach der ‚Erfahrung‘ (von Beziehungen). Wenn wir davon ausgehen, erweist sich die Fokussierung auf die Fremderfahrung als ein guter Ansatz. In Übereinstimmung mit dieser Ansicht steht unser Ansatz, der als phänomenologisch die Erfahrung für einen unumstößlichen Ausgangpunkt und den wichtigsten Prüfstein der Begriffe hält. Es geht darum, wichtige Erkenntnisse aus einer gründlichen Beschreibung der Fremderfahrung zu gewinnen. Das Wesen der interkulturellen Philosophie rückt unter Berücksichtigung der Fremdheit ins rechte Licht. Wenn hier mit Waldenfels betont wird, dass Fremdheit nicht im Sinne von „etwas ist ganz anders“, sondern im Sinne von „etwas ist auf originäre Weise anderswo“ bestimmt wird, macht man darauf aufmerksam, wie die Interkulturalität der und in der Philosophie auf Fremdheit gründet. Die Tatsache, dass sich der Fremde in einem Anderswo befindet, an dem ich nicht völlig gelangen kann, da sonst seine Andersheit aufgehoben wäre und er gewissermaßen zu einer Duplikation des Ich würde, bedeutet, dass seine Rede über die Welt meiner nicht ganz ähnlich sein kann und niemand diese Rede an seiner Stelle halten kann. Die Einsicht in die Fremdheit lässt erkennen, dass der Pluralismus im Wesen der Philosophie selbst liegt. Nicht nur muss gewährleistet werden, dass es immer Reden über die Welt auf originäre Weise gibt, auch das Interesse muss groß behalten werden, von dieser Möglichkeit zu profitieren. Dies bedeutet, dass die interkulturelle Philosophie keine Überlebens- bzw. Anpassungsstrategie ist oder ein flüchtiger Akt, um der Mode zu entsprechen. Die Fokussierung auf die Fremderfahrung ermöglicht es, viele Konzepte wie die des Zwischen (das inter als Ausschließung des neutralen Beobachtungstandpunkts bzw. des Blicks von oben), der Grenzen (zwischen Bereichen, Kulturen, Nationen usw.), der Erfindung (was ist eigen?), des Eigenen (im Hinblick auf die Gefahr der Überbetonung bzw. der Sakralisierung des Eigenen), der Alterität, der Anerkennung, des Dialogs usw. zu erarbeiten sowie lehrreiche und weitreichende Ansichten zu sammeln. Es gibt keinen Platz für den Multikulturalismus, der die bloße Vielfalt ankündigt und eine Juxtaposition von Kulturen erklärt, sondern für Verschränkungen. Es kann nicht anders sein, verliert man die Leiblichkeit und die historische Dimension bzw. den prozessualen Charakter der Kulturen nicht aus den Augen. Der Begriff der Interkulturalität generiert in seiner Anwendung eine quasi paradoxe Situation. Er wirkt alltäglich und verständlich. Aber er sorgt gleichzeitig für heftige Debatten unter den Theoretikern, die von einer Einigung weit entfernt sind. Ganz im Gegenteil sind zwei Blöcke entstanden: der Block der Kontextualisten und Kulturalisten, und der der Universalisten. Waldenfels überblickt diese Debatten vor dem Hintergrund der Problematik des Fremden und stellt fest: „Der Streit hat längst Züge eines Grabenkrieges angenommen, mit leichten Bodengewinnen hier und dort. Es fehlt auch nicht an Versuchen, die Fronten aufzuweichen; doch Farbe muss man bekennen. Die Theoriepolitik, die sich hier abzeichnet,
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schlägt Wellen bis hinein in die Fremdpolitik der Praktiker. Es wäre unsinnig und vermessen, diese Auseinandersetzungen in Bausch und Bogen abzutun. Doch die Frage nach den Voraussetzungen, auf denen dieser Streit beruht, drängt sich auf. Der Streit um das Fremde garantiert keineswegs, dass die Ansprüche des Fremden Gehör finden.“803 Waldenfels selbst will in diesem Streit zwar nicht eingreifen, aber er verhehlt nicht seine Vorliebe für die Seite der Kontextualisten. Er ist aber überzeugt, dass der Streit von minderer theoretischer Relevanz ist, solange er auf den Gegensatz von Partikularität und Universalität, kontextuellen und universellen Maßstäben gegründet bleibt. Ihm ist es wichtig, die Voraussetzungen der Debatte selbst in den Mittelpunkt zu rücken, d.h. die Ansprüche des Fremden zu erläutern und ihre Berücksichtigung zu fördern. Aus seiner Sicht bedeutet Interkulturalität mehr als Vielfalt der Kulturen (Multikulturalismus). Sie hat nichts mit der Behauptung und Pflege einer Vielzahl isolierter Einzelkulturen zu tun, auch nicht mit einer allumfassenden Gesamtkultur bzw. Gesamtordnung. All diese Auffassungen haben nur dazu beigetragen, den Begriff der Interkulturalität zu verdunkeln. Soll dieser Begriff nicht an sachlicher Relevanz verlieren, dann müssen, wie bereits ausgeführt wurde, die Vorsilbe ‚inter‘ ernst genommen und entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Dies tut Waldenfels auf überzeugende Weise, wenn er den Begriff der Interkulturalität vom Standpunkt der Fremderfahrung aus erörtert: „Das Phänomen des Fremden bleibt unterbelichtet, wenn man lediglich von einer Pluralität der Kulturen oder von einem Gefälle zwischen lokaler und globaler Orientierung ausgeht.“804 Damit weist Waldenfels darauf hin, dass sich die Interkulturalität nur dann adäquat verstehen lässt, wenn der im Begriff enthaltene Aspekt des Zwischen in den Mittelpunkt rückt: „Soll das, was Husserl ‚Intersubjektivität‘ genannt hat und was er in Analogie dazu ‚Interkulturalität‘ zu nennen pflegt, mehr sein als eine Redensart, so muss es ein Zwischen geben, das weder auf eine Vielzahl von Eigenkulturen oder gar auf die eigene Kultur zurückgeführt noch auf eine allumfassende Gesamtkultur ausgerichtet werden kann. Interkulturalität bedeutet mehr als Multikulturalität im Sinne einer kulturellen Vielfalt, mehr auch als Transkulturalität im Sinne einer Überschreitung bestimmter Kulturen.“805 Gibt es – mit Waldenfels gesprochen – eine Gesellschaft, die multikulturell wäre, ohne zugleich der Fremderfahrung unterworfen zu sein, und zwar der Erfahrung von Verschränkungen? Kann die Welt nur als pluralistisch angesehen werden, ohne Bezug auf
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B. Waldenfels, „Der Andere und der Dritte in interkultureller Sicht“, a.a.O., S. 71f. B. Waldenfels, „Bewährungsprobe der Phänomenologie“, a.a.O., S. 170. B. Waldenfels, „Der Andere und der Dritte in interkultureller Sicht“, a.a.O., S. 71. Vgl. E. Holenstein, Menschliches Selbstverständnis, a.a.O., S. 104-124.
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Gemeinsamkeiten? Entscheidende Fortschritte wurden im Anliegen gemacht, einen Paradigmenwechsel anzustoßen. Der Zugang zur Interkulturalitätsfrage wurde durch die Zwischenleiblichkeit (die Interkorporeität) ermöglicht. Wenn das Interkulturelle als das Interkorporelle behandelt wird, treten Verbundenheiten auf, die dem Antagonismus Universalismus-Partikularismus widerstehen. Nun ist es an der Zeit, Thesen zu erläutern, die daraus folgen. Die Ergebnisse, auf die wir gekommen sind, lassen sich in Form von fünf Thesen formulieren. Es sind Thesen, die Waldenfels´ Aufforderung entsprechend die Vorsilbe inter beim Wort bzw. ernst nehmen und einen tiefen und stichhaltigen Begriff der Interkulturalität hervorheben sowie die geschichtliche Dimension der Kulturen und die Fremderfahrung bzw. die Verschränkungen ins rechte Licht rücken. Diese Thesen sagen nicht nur etwas zu der Relevanz der interkulturellen Kritik, sondern bringen auch die Forderung nach einem Umdenken mit sich.
7.1 These 1 Zu Zurückweisung von Schematisierungen Wenn sich Kulturen bzw. kulturelle Identitäten durch Ein- und Abgrenzung bilden, ist die Verschränkung zwischen Innen und Außen für sie konstitutiv und eine starre Schematisierung sowohl zwischen den Kulturen als auch innerhalb einer Kultur wird unhaltbar. Inter-Kulturalität tritt nur im Plural auf. Diese Feststellung ist sowohl wahr als auch banal806. Damit ist aber noch zu wenig gesagt, wenn man in einen Zwischenbereich zu gelangen strebt, der alle Formen der Zentrierung beseitigt. Ein neues Denken über die Fremdheit macht hier den Unterschied. Denn es ermöglicht uns, den Übereinstimmungen, die Kulturen aufweisen, gerecht zu werden. Die unentwirrbare Verflechtung von Eigenem und Fremden besagt, dass Kulturen, obwohl sie nur im Plural auftreten, einander nicht völlig fremd sind; sie bezeugt auch die Unmöglichkeit, eine deutliche Grenzlinie zwischen dem Innen und dem Außen zu ziehen. Wir sind es gewohnt nach einer Logik der Identität zu denken und leben, die auf eine fragwürdige Schematisierung angewiesen ist: Wir sind hier und die Anderen dort. In der Realität aber verhält sich die Sache nicht so einfach, schematisch und statisch. Die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen, auf die manche Theorien heutzutage verweisen, ist eine dogmatisch behauptete Schematisierung, die unserer Erfahrung widerspricht. Manche ziehen diese Linie mit dem Anspruch, die Überlegenheit einer Kultur zu wahren und werden sich immer schwertun, ihren Ethnozentrismus zu verbergen; andere tun dies, um Partikularitäten zu schützen. Beide sind in ihrer Einseitigkeit zu vermeiden. Mit der Figur der Verschränkung stoßen wir in eine Sphäre vor, die den
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Genauso äußerte sich Waldenfels zu Kristevas Aussage (Buchtitel) „Fremde sind wir uns selbst“ (1990).
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Ethnozentrismus überwindet und der Partikularitäten dienlich ist. Das Toleranz- bzw. Anerkennungsprinzip ist natürlich wichtig; aber es sollte nicht durch vereinfachende Schematisierungen gefördert werden. Im Rahmen der Zwischensphäre kann man nicht behaupten, dass Werte kulturabhängig sind und eine kulturübergreifende Beurteilung unmöglich ist. Denn dies würde voraussetzen, dass Kulturen voneinander absolut unterschiedlich und in sich jeweils völlig homogen807 sind. Eine Vorstellung, die offensichtlich nicht mit unserer Erfahrung übereinstimmt: Innerhalb einer Kultur sind zahlreiche Heterogenitäten und Komplexitäten zu finden. Nicht selten stellen wir fest, dass viele Menschen eine moralische Überzeugung, die als spezifisch für ihre Kultur angesehen wird, nicht teilen. Zu sagen, dass diese moralische Überzeugung für sie dennoch gut, d.h. gültig ist, weil sie eben aus ihrer Kultur entstammt, wäre eine Vereinfachungen. Leider handelt es sich um eine Vereinfachung, die in vielen Diskussionen über das Verhältnis von Kultur und Moral auftaucht. Solche starren Schematisierungen mögen reizvoll sein, aber sie werden der Komplexität der menschlichen Erfahrung nicht gerecht. Sie führen zu der Annahme, dass die Kritik an moralischen Einstellungen automatisch von außen kommt. Aber was bedeutet ‚Außen’, wenn es doch im Kern um Menschen geht? Worin bestehen die Grenzen zwischen Kulturen? Dazu zählt auch die Frage: Was ist die normative Autorität dieser moralischen Einstellung für die Menschen in der betreffenden Kultur? Und wie wird sie gewonnen? Inwiefern und in wie weit sind Menschen damit verbunden? Ein und dieselbe Person kann einen Grund haben, einer moralischen Einstellung Folge zu leisten, aber gleichzeitig auch einen Grund, sie nicht zu befolgen, weil diese Person selbst in verschiedenen Zugehörigkeitsverhältnissen steht. Wie entscheiden sich die Dinge? Diese Fragen wie alle anderen, die zu der Betrachtung der Komplexität der menschlichen Erfahrung führen, werden kaum oder gar nicht berücksichtigt, wenn man schematisiert. Der Sprung vom Pluralismus der Kulturen zum Pluralismus der Werte sowie der Versuch, Gegensätze und Unterschiede (aus unterschiedlichen Interessen) überzubetonen, stellen eine grosse Versuchung dar. Die Schematisierung sowie die in vorigen Kapiteln schon erläuterten „asymmetrischen Wertungen“ des Ethnozentrismus, welcher die Überordnung von Kulturen (auf falsche Weise) rechtfertigt, sind am besten durch eine Gewinnung von einem tieferen Verständnis des Phänomens der Ein- und Ausgrenzung von Kulturen zu widerlegen. Die radikale Fremdheit besagt bei Waldenfels eine Fremdheit, die an der „Wurzeln aller Dinge“ rührt. Daraus folgt die starke Aussage, dass „niemand Herr im eigenen Hause ist“. Dies ist aber nicht die einzige Konsequenz, die Waldenfels zieht. Die radikale Fremdheit 807
Fornet-Betancourt betont an dieser Stelle z.B., dass sich Amerika nicht bloß aus dem Zusammenkommen von zwei Welten ergibt. Er ist – in Hinblick auf die Präsenz von indigenen Gruppen (Maya, Kuna, Guarani, Mapuche usw.) sowie von Immigrationsgruppen wie den Chinesen – ein komplexes Mosaik von Völkern und Traditionen. Diese Heterogenität innerhalb Amerikas ist nicht zu übersehen. (R. Fornet-Betancourt, La philosophie interculturelle. Penser autrement le monde. Paris, 2011, S. 68.)
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impliziert auch, dass keine Ordnung – sei sie nun politisch, moralisch, kulturell oder religiös – lückenlos ist. Jede Ordnung ist unüberwindlich porös und begrenzt. Der Ursprung dieser Lückenhaftigkeit kann am „Gründungsakt“ jeder Ordnung erklärt werden, weil dieser Akt „selektiv“ ist: Indem er wählt, schließt er auch aus. „Ordnungen, die etwas so in Erscheinung treten und zum Ausdruck kommen lassen und nicht anders, erweisen sich als selektiv und exklusiv. Sie ermöglichen etwas, indem sie zugleich anderes verunmöglichen. […] Unter den Voraussetzungen begrenzter Ordnungen macht sich das Fremde bemerkbar in Form eines Außer-ordentlichen, das auf verschiedene Weise an den Rändern und in den Lücken der diversen Ordnungen auftaucht.“808 Man kann also sagen, dass das, was durch die selektive Operation der Ordnungsstiftung ausgeschlossen wurde, nicht verschwindet, sondern mit der Ordnung verbunden bleibt. Daher betont Waldenfels, dass das Außen nicht etwas Zusätzliches ist. „Es beginnt in der Ordnung selbst, insofern keine Ordnung sich selbst begründen kann“.809 Das Fremde ist das, was außen ist, ohne wirklich völlig außen zu bleiben. Die Betonung der Lückenhaftigkeit jeder Ordnung hat bedeutende Folgen, unter anderem die Disqualifizierung aller Versuche, das Eigene souverän bei sich zu etablieren oder das Fremde zu zähmen: „Dieses Außen, das einer jeden politischen oder kulturellen Ordnung anhaftet, widersetzt sich der fundamentalistischen Suche nach einen festen Grund ebensosehr wie den Normalisierungseffekten, die von funktionierenden Ordnungen ausgehen.“810 Damit stößt das Projekt einer durchgängigen Universalisierung bzw. der Schaffung einer universalen, totalitären, inklusiven Ordnung an seine Grenzen: „Fremdes, das sich der jeweiligen Ordnung entzieht, hat als solches nichts zu tun mit dem Besonderen und Partikularen, das zum Betätigungs- und Anwendungsbereich allgemeiner Gesetze und Normen gehört. Wird der extra-ordinäre Status des Fremden dem intra-ordinären Status des Besonderen angeglichen, so verwandelt sich der unumgängliche und berechtigte Gesichtspunkt des Allgemeinen in einen allgemeinen Gesichtspunkt, dem alles unterworfen wird. Wir geraten auf die Bahnen einer Universalisierung, die ihre Fragwürdigkeit auch dann nicht verliert, wenn sie sich auf große Parolen wie Weltvernunft, Weltkultur, Weltbürgertum, Weltethos oder Menschheit beruft.“811 Der extra-ordinäre Status des Fremden bedeutet hier einfach seine Außenposition angesichts der Ordnung. Diese Position ist dort in Gefahr, wo einer Ordnung eine integrative 808 809 810 811
B. Waldenfels, „Antwort auf das Fremde“, a.a.O., 2008, S. 36. B. Waldenfels, Vernunft im Zeichen des Fremden, a.a.O., S. 440. B. Waldenfels, „Der Andere und der Dritte in interkultureller Sicht“, a.a.O., S. 81f. B. Waldenfels, „Zwischen den Kulturen“, a.a.O., S. 258f.
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Ambition zugeteilt wird. Da riskiert das Fremde aufgehoben zu werden. Darum ist Waldenfels gegenüber der Universalisierung kritisch. Es besteht an dieser Stelle eine grundsätzliche Konfrontation zwischen zwei Orientierungen: „Ordnung der Vernunft“ vs. „Reichtum der Erfahrung“. Im ersten Falle (z.B. im Ansatz von Habermas) wird nach Grundordnungen, d.h. Prinzipien, invarianten Strukturen etc. gesucht; daraus geht eine „vertikale Universalität“ hervor. Im zweiten Falle (z.B. im Ansatz von Waldenfels) wird nach Durchlässigkeit der Erfahrung gesucht. Hier wird eine „horizontale Universalität“ gefördert. Beide Grundorientierungen schließen sich zwar nicht aus, aber man kann sie auch nicht ohne weiteres vereinen.812 Mit der Kritik an der Universalisierung (am Universalismus) will Waldenfels keinesfalls eine Haltung propagieren, die sich hinter den Grenzen der eigenen kulturellen Besonderheit verschanzt. Denn dies würde eine Trennung voraussetzen, wo es in Wirklichkeit keine gibt: „entweder steht man innen oder außen“. Dadurch wird die Instrumentalisierung kultureller Identitäten in der Konstruktion von Ideologien ermöglicht, die den Menschen ihre Rechte abstreiten. Eine solche Trennung zwischen innen und außen gibt es nicht. Man sollte – so empfiehlt auch Williams zu Recht – generell damit aufhören, zwischen uns und den Anderen eine Grenzlinie zu ziehen: „Wir sollten überhaupt keine Linien ziehen, sondern erkennen, dass die anderen sich in wechselnder Entfernung zu uns befinden. Und wir müssen auch erkennen, dass unsere Reaktionen auf andere und Beziehungen zu anderen Gruppen selbst Bestandteil unseres ethischen Lebens sind.“813 Wenn die eigene Identität von der Fremdheit unvermeidbar affiziert ist, dann sind bestehende Grenzziehungen immer wieder in Frage zu stellen. Dies bedeutet aber nicht, dass unscharfe Grenzen negiert werden: „Die zentrale Denkfigur der Verschränkung widersetzt sich dem extremen Gegensatz von vollständiger Deckung oder völliger Fusion einerseits und vollständiger Disparatheit anderseits. Wenn wir diese Denkfigur auf den Gegensatz von Eigenem und Fremdem anwenden, so besagt Verschränkung zum einen, dass Eigenes und Fremdes mehr oder weniger ineinander verwickelt sind, so wie ein Netz sich verdichten oder lockern kann, und es besagt zum anderen, dass zwischen Eigenem und Fremdem immer unscharfe Grenzen bestehen, die mehr mit Akzentuierung, Gewichtung und statistischer Häufung zu tun haben als mit säuberlicher Trennung. Die Verschränkung widersetzt sich jeder Form von Reinheit, sei es die
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B. Waldenfels, Philosophisches Tagebuch, a.a.O., S. 58. B. Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie, a.a.O., S. 223.
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Reinheit einer Rasse, einer Kultur, einer Idee oder die einer Vernunft die ‚mit nichts Fremdartigem vermischt ist‘. Der gleitende Übergang von der ‚Reinigung‘ oder ‚Läuterung‘ (Katharsis) zur ‚Säuberung‘ sollte Philosophen auch politisch hellhörig machen.“814 Der Anspruch auf Reinheit, d.h. die Verschärfung der Grenzen, ist für Waldenfels nur Ausdruck des Erschreckens vor dem Fremden. Daher heißt ihn zu bekämpfen, über den GrenzBegriff nachzudenken. Für ihn sind Grenzen nicht als „(Abgrenzungs-)Linien“ zu verstehen, sondern als „Schwellen des graduellen Übergangs“.815 Kulturen gehen aus einer gleichzeitigen Ein- und Ausgrenzung hervor und können daher keine deutlichen Grenzen haben. Dies spricht dafür, so Bruck, kulturelle Grenzen und staatliche Grenzen nicht gleichzusetzen; sie stimmen nicht miteinander überein.816 Nicht Kulturen, sondern Staaten, brauchen und fordern aus verständlichen Gründen deutliche Grenzen. Zwischen Kulturen können keine deutlichen Grenzlinien gezogen werden, sie unterscheiden sich voneinander – sagt Waldenfels – wie „Schlafen vom Wachen, Gesundheit von der Krankheit, Alter von der Jugend“.817 Dieser Gedankengang kann anhand des konkreten Beispiel des Liedes „La femme est l’avenir de l’homme“ („Die Frau ist die Zukunft des Mannes“, 1975) erläutert werden: Der Sänger, Jean Ferrat, zitiert hier mit leichter Änderung den berühmten Ausspruch aus dem poetischen Meisterwerk Le Fou d'Elsa (1963, Elsas Narr) des französischen Dichters und Schriftstellers Louis Aragon „L’avenir de l’homme est la femme“ („Die Zukunft des Mannes ist die Frau“). In der Darstellung seines Ideals menschlicher Existenz bzw. seines Feminismus ist Aragon von dem persischen Gedicht „Leïlas Narr“ (7. Jh.) inspiriert. Dies zeigt, wie vielfältig die Kultur bzw. wie interkulturell die Auseinandersetzung mit vielen existenziellen Fragen sein kann. Duch solche Beispiele werden die Grenzen der Polarisierungen (z.B. Okzident-Orient) manifest. Das Fremde ist da, selbst wenn wir uns entscheiden, es in unseren Erzählungen nicht zu berücksichtigen. Wenn wir das Eigene feiern, feiern wir auch 814 815
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B. Waldenfels, „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“, a.a.O., S. 53f. „Die Schwelle ist schwer zu verorten, im strengen Sinne ist sie gar nicht zu verorten. Sie bildet einen Ort des Übergangs, einen Niemandsort, an dem man zögert, verweilt, sich vorwagt, den man hinter sich lässt, aber nie ganz“ (B. Waldenfels, Sinnesschwellen. Frankfurt/M., 1999. S. 9). In Vielstimmigkeit der Rede bezeichnet er die Schwelle als „eine Grenze besonderer Art“; sie „lässt sich weder in eine gemeinsame Ordnung einbeziehen, noch von einem anderen Stern aus beobachten. Sie ist der Fremdheitsort par excellence. Der Übertritt, der hier geschieht, verweigert sich einer Überschau, die wie im Falle der Eule der Minerva stets das Nachsehen hat“ (Vielstimmigkeit der Rede. Frankfurt/M., 1999, S. 203f.) Siehe A. Bruck, Lebensfragen. Anthropologisch Antworten. Darmstadt, 1997, S. 198. Siehe B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 21. Die Übersetzung wäre unvorstellbar, wäre die Differenz absolut. „[E]ine Fremdsprache, die absolut anders wäre als die eigene Sprache, würde nicht einmal als Sprache gehört, sie wäre keine Fremdsprache mehr und würde sich in ein merkwürdiges Geräusch verwandeln.“ (B. Waldenfels, „Verschränkungen von Heimwelt und Fremdheit“, a.a.O., S. 59.)
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das Fremde in ihm. Die Fremderfahrung, die zur Existenz gehört, ist der Ordnung des Diskurses nicht unterworfen. Die Produktion des Diskurses wird – wie auch Michel Foucault betont hat – durch Prozeduren kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert. 818 Ein kritischer Blick ist notwendig und wichtig, um das Unterbelichtete, das an den Rand Gedrängte oder das Ausgeschlossene zu erkennen.
Bei der Anwendung des Leitbilds der Verschränkung auf den Bereich der Sozialität und Kulturalität weist Waldenfels sowohl die Idee der völligen Gleichheit als auch die der völligen Andersheit zurück: „Völlige Gleichheit und völlige Andersheit sind nur als Grenzfall denkbar. Eine Fremdsprache, die ganz und gar unverständlich wäre, würde aufhören, eine Fremdsprache zu sein. Sprachlaute würden sich in bloße Laute auflösen. Deshalb ist radikale Fremdheit nicht zu verwechseln mit absoluter Fremdheit. Fremdheit besagt nicht, dass etwas ganz anders ist, sondern dass es auf originäre Weise anderswo ist. Eben deshalb brauchen wir eine Topologie und eine Topographie des Fremden, die das lang einstudiertes Spiel des Selben und des Anderen durchkreuzt. Die Verflechtung von Eigenem und Fremdem, die jede angebliche Reinheit der Sprache, der Kultur, der Religion oder der Rasse als Ausgeburt eines Reinheitswahns entlarvt, hat es immer gegeben. Was wir Europa nennen, war niemals ein innerlich homogenes Gebilde mit scharfen Aussengrenzen. Es hatte niemals nur ein Zentrum, trotz bevorzugter Orte wie Athen, Rom, Jerusalem oder Byzanz, es war niemals das einzige Weltzentrum. Solch fixe Ideen gehören zur Fremdheitsvergessenheit, die alle Fremderfahrung überschattet. Was wir heute in Europa erleben, ist eine merkwürdige Zu- und Abnahme der Fremdheit, eine Zunahme, da das Fremde uns immer näher auf den Leib rückt, eine Abnahme, da das Fremde Gefahr läuft, zu etwas Alltäglichem abzusinken und im Zuge der Globalisierung bis zur Ununterscheidbarkeit abgeschliffen zu werden. Doch mit dem Fremden würden wir auch das Eigene abschaffen.“819
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Siehe ausführlich in M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M., 1991. S. 10f. B. Waldenfels, „Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft“, in Information Philosophie, Bd. 5, 2006, S 9. www.information-philosophie.de. Es ist zu bemerken, dass das Waldenfelssche Konzept des Zwischenfeld viel bietet, um der vereinheitlichenden Tendenz des Globalismus einen Widerstand zu leisten. sich den Tendenzen. Dazu sagt er: „Die zerklüftete Landschaft eines kulturellen Zwischenfeldes widersetzt sich den Tendenzen eines Globalismus, der den Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem bis zur Gleichgültigkeit herunterspielt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Prozessen partieller Globalisierung, in denen bestimmte Funktionen, Techniken oder Stile sich weltweit ausbreiten, ohne dass dies partikulare und hybride Rezeptionsweisen ausschließt, und einer Tendenz zur totalen Globalisierung, in der die Frage nach dem Was, Wer und Wozu sich mehr und mehr von der Frage nach dem Wo ablöst. Das Hier, ohne das es nichts Eigenes gibt, nähert sich damit einem Irgendwo. Es droht eine kulturelle Entropie.“ (B. Waldenfels, „Das Fremde denken“, a.a.O., S. 366.)
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Mit der Idee, dass ein In- und Exklusions-Verhältnis zwischen den Kulturen herrscht, und somit keine völlige Gleichheit oder Andersheit, weist Waldenfels den Kulturalismus in Gestalt der Abschottung und den Universalismus zurück. Sie gefährden – wenn auch in unterschiedlicher Weise – das Fremde und somit auch das Eigene, denn beide lassen sich nie völlig voneinander ablösen. Für Waldenfels ist es wichtig, die Verflechtung zwischen Eigenem und Fremdem als ursprünglich zu begreifen. Denn, nicht die Reinheit, sondern Mischungen, Verstrickungen stehen am Anfang. „Jeder Einheits- und Reinheitswahn verflüchtigt sich, wenn Eigenes und Fremdes von vornherein ineinander verflochten sind.“820 Die Betonung des Ein- und Ausgrenzungsprozesses, d.h. des kontrastiven Verhältnisses zwischen dem Fremden und dem Eigenen ist daher sinnvoll, denn sie bringt zur Erkenntnis, dass Fremdheit keine „Eigenschaft von Gegenständen“ ist. „Das Wort ‚fremd‘ [...] lässt sich nur relational verwenden: x ist fremd für y, und es lässt sich nur okkasionell gebrauchen: etwas ist von Fall zu Fall fremd. Fremdes braucht schliesslich den Kontrast zum Eigenen, das sich eingrenzt, indem es anderes ausgrenzt. Diese Herkunft aus einem Prozess der Ein-Ausgrenzung unterscheidet Fremdes von bloßem Anderen, das mit dem Selben kontrastiert und durch eine reversible Form wechselseitiger Abgrenzung zustande kommt. Die Fremdheit Afrikas, die ein Europäer erfährt, bzw. die Fremdheit Europas, die der Andere als Afrikaner spürt, ist nicht zu verwechseln mit der Verschiedenheit von Sonne und Mond, die ein neutraler Himmelsbeobachter konstatiert. Fremderfahrung, in der Fremdes als Fremdes auftritt, besteht darin, dass mir oder uns etwas begegnet, indem es sich entzieht. Die Abwesenheit charakterisiert das Fremde als Fremdes, so wie sie auf andere Weise das Vergangene als Vergangenes kennzeichnet.“821 Diese Rede von einem kontrastiven Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen impliziert zwei wichtigen Ideen: Erstens: In einem Ein-/Ausgrenzung-Verhältnis gibt es kein Zentrum (wie der Ethnozentrismus voraussetzt). Es gibt auch keinen objektiv Außenstandpunkt, von dem aus man das Fremde beobachten kann, d.h. es gibt keinen Platz für ein unbeteiligtes Drittes, das als „neutraler Himmelsbeobachter“ (Waldenfels) fungieren (betrachten, beurteilen, handeln) kann. Zweitens: Die Rede von Ein- und Ausgrenzung legt den Akzent grundsätzlich auf die Relation, statt auf die Feststellung bloßer Verschiedenheiten. Man ist immer schon beteiligt an diesem Prozess. Infolgedessen bedeutet der Begriff der Anerkennung vom Standpunkt der Fremderfahrung aus in erster Linie Anerkennung der Verflechtung, statt Anerkennung der bloßen Verschiedenheit wie in der Position des Multikulturalismus. Es ist festzustellen, dass die Rede von Anerkennung in der multikulturalistischen Rhetorik zwar den Pluralis-
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B. Waldenfels, „Der Anspruch des Fremden in interkultureller Sicht“, a.a.O., S. 328. B. Waldenfels, „Paradoxien ethnographischer Fremddarstellung“, a.a.O., S. 161.
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mus würdigen will, oft aber eher als Abwehrstrategie erscheint. Man scheint vor dem Fremden zu erschrecken. Demgegenüber können wir nochmal Waldenfels’ Grundaussagen wiederholen: „Wer über Fremdes staunt und vor ihm erschrickt, ist seiner selbst nicht mächtig“,822 „[man] kann das Eigene nicht haben ohne das Fremde“;823 dies impliziert, dass „jede Abwehr des Fremden eine Abwehr des Eigenen einschließt“.824 Das Erschrecken vor dem Fremden lässt sich durch die Anerkennung des „mannigfachen Ineinander von Eigenem und Fremdem“825 überwinden. Und die Anerkennung dieser Verschränkung bedeutet auch die Erkenntnis der Tatsache, dass das Fremde mehr als bloß das ist, was wir beobachten oder worüber wir uns unterhalten. Denn es affiziert von vornherein den Standpunkt unseres Redens oder den Standpunkt, von dem wir ausgehen. Dies zu leugnen wäre, so Waldenfels, äquivalent zu dem Anspruch, „schwimmen zu können, ohne nass zu werden“. Es lässt sich aus dem Vorausgehenden eine Grundeinstellung erkennen, die Prinzipien wie Toleranz Anerkennung, Solidarität dienlich und somit dem respektvollen und gegenseitig bereichernden Zusammenleben der Menschen und Kulturen förderlich ist. Dafür ist keine vereinfachende Schematisierung erforderlich. Die Denkfigur der Verschränkung macht uns kommunikationsfähiger und lernbereiter sowie offener, toleranter und selbstkritischer in unseren Beurteilungen. Diese Untersuchung des Phänomens der Ein- und Ausgrenzung von Kulturen rückt deren unüberwindbare Porosität in den Mittelpunkt und schließt dadurch die Ansicht aus, dass sie einheitliche und integrierte Entitäten sind. Kulturen sind heterogen und dynamisch. Wenn wir schon gelernt haben, dass unsere eigene Identität vielfältig ist, dann haben wir keinen Grund, die von anderen für einheitlich zu halten und zu versuchen, deutliche Grenzen zwischen ihnen und uns zu ziehen. Es sind solche Versuche, die auf Schlussfolgerungen kommen, dass Werte wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität kulturspezifisch sind, aber keine Antwort auf die Frage finden, ob der Sieg von Mandela etwa der Sieg des Wertes einer bestimmten Kultur ist (Amartya Sen) oder wieso z.B. im sogenannten Land der Freiheit und Gleichheit (Frankreich) z.B. das Frauenwahlrecht erst 1944 eingeführt wurde, während dies woanders schon der Fall war (1929 für Ecuador, 1932 für Brasilien, Thailand, Uruguay, 1934 für Kuba und Türkei). Mit diesem Hinweis gelangen wir auf dem Bodensatz der Politik bzw. internationalen Politik. Ihn zu erkunden hilft dabei, Schematisierungen von Kulturen sowie von Werten herauszustellen und zu bekämpfen. Eine der relevanten Fragen lautet hier: Lässt sich die Menschheit schematisierend in Achsen des Guten und des Bösen aufteilen? Kann eine Grenzlinie zwischen einer Welt, die die Freiheit aufwertet, und einer anderen, die sie abwertet oder ignoriert, gezogen werden? Die jüngste Studie des schweizerischen Historikers
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B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M., 2006, S. 120. B. Waldenfels, „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“, a.a.O., S. 54. B. Waldenfels, Antwortregister. Frankfurt/M., 1994, S. 423. Ebenda, S. 422.
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und Friedenforschers Daniele Ganser in seinem Hauptwerk Illegale Kriege. Wie die NatoLänder die Uno sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien lässt eine derartige Grenzlinie als grundsätzlich ideologisch erscheinen. Wie der vollständige Titel deutlich macht, sind Länder, die sich zum Verfechter von Werten wie der Freiheit erklären und die Vorreiterrolle bei den Menschenrechten spielen wollen, gerade diejenigen die sie fortwährend missachten und gegen sie verstoßen. Sie sind, so Ganser, seit der Gründung der UNO verantwortlich für zahlreiche illegale Kriege (bzw. für das daraus entstandene Elend und die Flüchtlingskrisen), d.h. Kriege, die weder mit dem Recht auf Selbstverteidigung noch mit einem ausdrücklichen Mandat des UNO-Sicherheitsrates zu tun haben. Anhand von konkreten Beispielen aus verschiedenen Ländern legt Ganser offen, „wie die Regeln der Friedensorganisation UNO gezielt und absichtlich sabotiert wurden“.826 Will man begreifen, inwiefern gezielt und absichtlich, muss man nur erkennen, welche Motive und Mittel dabei im Spiel sind: „die Gier nach Macht und Geld kombiniert mit Lügen, Täuschung und Rücksichtlosigkeit.“827Zur Rettung dieser wichtigen Weltfriedenorganisation ist es also dringend notwendig, „zu analysieren, warum und wo die UNO sabotiert wurde und versagt hat. Dieses Buch zeigt, dass die Ineffizienz der UNO nicht in ihrem System begründet liegt, sondern dem individuellen Versagen ihrer Mitglieder geschuldet ist, die zeitweilig unfair agierten und die UNO mit Lügen im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung sabotierten. Das ist, konsequenterweise, der Punkt für die Lösung des Problems der ‚Ineffektivität‘. Jede Reform der UNO, die das dominante Problem der Lügen nicht einbezieht, muss längerfristig scheitern“.828 Gansers Aussagen geben Anlass zum Nachdenken: Wir haben es hier mit Fehlern zu tun, die kein Randphänomene oder unbedeutende Faktoren darstellen, sondern bewusste Züge einer Logik der Machtpolitik, die selbstverständlich mit den erklärten Zielen der Förderung von Demokratie im Inneren und von Freiheit und Gleichheit sowie des Selbstbestimmungsrechts im Äußeren in Widerspruch stehen. Zum einem widersetzt es sich der Maxime, der zufolge das selbst Volk bestimmen sollte. Wie könnte es dies, wenn es systematisch belogen wird? Daher fragt es sich, ob Feinde der Demokratie immer im Außen gesucht werden müssen. Die unten noch zu erläuternde klare Rede des UNO-Generalsekretärs U Thant bei der Pressekonferenz vom 24. Februar 1965 hatte diesen wunden Punkt berührt. Opfer der Lüge können sogar die obersten Repräsentanten des Volkes selbst werden: Das amerikanische Parlament erfuhr z.B. erst 1972 von dem geheimen Krieg gegen Kambodscha: „These secret bombing operations involved deceiving its own officials and lying on official records. Deception to fool the enemy was one 826 827
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D. Ganser, Illegale Kriege. Zürich, 2017, S. 14. Von CN betont. Ebenda, S. 18. Dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, denen die Aufgabe des Weltfriedens zukommt, auch die fünf größten Waffenexporteure sind, hat eine unheimliche Bedeutung. „Sie profitieren davon, wenn ein Krieg ausbricht, weil dann auch ihre Waffenexporte in die Konfliktregion zunehmen.“(Ebenda, S. 30; siehe auch Globales Hochrüsten. Bericht des Friedensforschungs-Instituts SIPRI, Neue Zürcher Zeitung, 5. April 2016.) Ebenda, S. 24.
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thing, but lying to Congress and key members of the government, including the chief of staff of the Air Force and the secretary of the Air Force, was something else.“829 Zum anderen passt es nicht zu einer Politik, die im Grunde von Gier, Lügen und Rücksichtlosigkeit geleitet wird, das Selbstbestimmungsrecht der anderen zu fördern, auch wenn dies in der Regel vorgegeben wird. Die internationale Anerkennung von verfälschten Wahlergebnissen bzw. der ‚falschen Wahlsieger‘ illustriert diese Tatsache hinlänglich. Selbstbestimmtes Handeln zu fördern liegt nicht im Interesse einer Politik, die die durch die Charta der Vereinten Nationen anerkannten Freiheiten gezielt bekämpft oder missachtet. Wenn aber die betroffenen Völker gegen den Ausgang des undemokratischen Prozesses in ihrem Land protestieren, sind sie mit Unterwerfungsmechanismen konfrontiert, bei denen ihr vermeintliches Halbwissen sowie ihr Mangel an Erfahrung als Vorwand geschwenkt werden. Wir stoßen hier auf einen Pseudohumanismus der Führungsfiguren, den bereits der kämpferische Schriftsteller und Politiker aus Martinique Aimé Césaire in seiner Rede über den Kolonialismus (1950) angeprangert hatte: „Ernst ist dagegen, dass ‚Europa‘ [die Führungsfiguren] moralisch wie geistig nicht zu verteidigen ist. Und heute zeigt sich sich, dass nicht nur die europäischen Massen Beschwerde führen, sondern dass die Anklage auf der ganzen Welt von Millionen und Abermillionen vorgebracht wird, die sich aus den Tiefen der Sklaverei zu Richtern erheben. Man kann morden in Indochina, foltern in Madagaskar, in Nordafrika einkerkern, auf den Antillen ein Schreckensregiment errichten. Die Kolonisierten haben nun begriffen, dass sie gegenüber den Kolonialisten in der Vorhand sind: sie wissen, dass ihre derzeitigen ‚Herren‘ lügen. Demnach sind ihre Herren also schwach. Und da es meine Aufgabe ist, von der Kolonisation und von der Zivilisation zu sprechen, will ich ohne Umschweife auf die entscheidende Lüge eingehen, aus der alle anderen resultieren. Kolonisation und Zivilisation? Der Fluch, der dieser Gedankenverbindung anhaftet, lässt einer kollektiven Heuchelei werden, die die Probleme falsch zu stellen weiß, um die niederträchtigen Lösungen, die man für sie bereithält, besser zu legitimieren.“830 Césaire sowie Ganser heute sehen sich verpflichtet, das Ausmaß der Lügen, die dem politischen und militärischen Handeln im Namen der Zivilisation oder der Menschenrechte zugrunde liegen, offenzulegen. Diese Lügen seien keine bloßen Irrtümer, sondern wohl durchdacht. Ein Problem „falsch darzustellen“, um besser die abscheulichen Lösungen zu rechtfertigen, ist keine bloße Verwechslung, sondern eine Strategie. Daher wäre es etwas naiv und zynisch, strikte Aufteilungen der Welt, z.B. die zwischen einer Welt der Freiheit und einer der Unfreiheit vorauszusetzen. Naiv, weil solche Aufteilungen realitätsfern und auf Macht- und Wirtschaftsinteresse basierend, also ideologisch sind. Zynisch, weil solche Aufteilungen das Ausmaß der im Mittelpunkt stehenden Gewalt und die daraus erwachse-
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E. H. Tilford, Setup: What the Air Force Did in Vietnam and Why? Alabama, 1991, S. 196. A. Césaire, Über den Kolonialismus. Berlin, 1968, S. 6f.
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nen menschlichen und ökologischen Katastrophen – wenn auch manchmal unabsichtlich – banalisieren bzw. übersehen. Ganser spricht von „Rücksichtslosigkeit“. Aus der Tatsache, dass die Massenmedien die Nato-Kriege selten als illegal darstellen831 – und dadurch z.B. die Erklärung der Ursachen der Flüchtlingskrisen erheblich behindern –, folgt nicht, dass sie es nicht sind. Ihre Folgen wiegen für die betroffenen Menschen schwer. Es ist nicht, weil „die Massenmedien es nicht wagen, die Politiker, die ohne UNO Mandat Angriffskriege führen, klar und deutlich als Verbrecher zu bezeichnen“, dass sie keine Rechenschaft über ihr Handeln abliefern müssen, als ob die Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur ein Monopol „von weniger mächtigen Lokalherrschern“ in anderen Teilen der Welt sei. Viele Lokalherrscher sind nicht viel mehr als Marionetten im Rahmen von Stellvertreterkriegen. Der ehemalige, von den USA und Großbritannien gestürzte iranischen Premierminister, Mohammad Mossadegh, der bekannt ist wegen seines Kampfs für die Verstaatlichung der iranischen Ölindustrie bzw. der Anglo-Iranian Oil Company (woraufhin Großbritannien mit einem Verbot der iranischen Ölexporte und mit einer Seeblockade durch Kriegsschiffe der britischen Marine reagierte), versuchte vergeblich bei seinem Besuch in den USA (1951) zu erklären, dass sein Land mit den USA dieselbe Liebe zur Freiheit teile: „[W]e share with you a love of liberty and […] we have been less fortunate than you in wresting our prized freedom from that country which in 1776 hat to yield it to you“.832 Mossadegh wurde zwei Jahre später von den USA und Großbritannien gestürzt. Die US-Außenministerin Madeleine Albright gab im März 2000 zu, dass die Eisenhower-Regierung den damaligen Staatsstreich als Volksaufstand organisiert habe. Und 2009 fügte Präsident Barack Obama hinzu: „Mitten im Kalten Krieg spielten die Vereinigten Staaten eine Rolle beim Sturz einer demokratisch gewählten iranischen Regierung.“ „The relationship between Islam and the West includes centuries of co-existence and cooperation, but also conflict and religious wars. More recently, tension has been fed by colonialism that denied rights and opportunities to many Muslims, and a Cold War in which Muslim-majority countries were too often treated as proxies without regard to their own
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Fragwürdige Kriegsberichterstattung stand schon im Fokus der Kritik von Günter Grass: „Also warten wir auf den Wiederholungsfall. Diesmal sollen neue Raketensysteme noch genauer danebentreffen. Ein uns als Bildauswahl vertrauter Krieg droht. Weil wir seine vom detaillierten Schrecken gesäuberte Bilderflut kennen und auch die Fernsehrechte an den uns bekannten Sender der drei abkürzenden Buchstaben vergeben sind, erwarten wir eine Fortsetzung des Krieges als Seifenoper, unterbrochen nur von Werbespots für friedliche Konsumenten.“ G. Grass, „Zwischen den Kriegen“, Spiegel online, 16.01.2003, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ grass-essay-im-wortlaut-zwischen-den-kriegen-a-230941.html, abgerufen am 10.12.2015. Zitiert in Mossadegh Evokes Liberty in Philadelphia, october 22, 1951 – The Associated Press, http://www.mohammadmossadegh.com/news/ap-associated-press/october-22-1951/, abgerufen am 07.11.2016.
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aspirations. […] In the middle of the Cold War, the United States played a role in the overthrow of a democratically-elected Iranian government.“833 Die illegalen Kriege, die sich wiederholen und aus denen nicht gelernt wird, sind gewollte Kriege. In Bezug auf den „gewollten Krieg“ in Irak kritisierte der deutsche Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass die heuchlerische Politik der Weltmächtigen im Klartext: „Dieser drohende Krieg ist gewollt. In planenden Köpfen, auf den Börsen aller Kontinente, in wie vordatierten Fernsehprogrammen findet er bereits statt. Der Feind als Zielobjekt ist erkannt, benannt und eignet sich, neben anderen noch zu erkennenden und benennenden Feinden auf Vorrat, für die Beschwörung einer Gefahr, die alle Bedenken nivelliert. Wir kennen die Machart, nach der man sich einen Feind, sollte er fehlen, erfindet. […] Gegen wen wird dieser Krieg, der so tut, als drohe er nur, geführt? Es heißt: Gegen einen schrecklichen Diktator. Aber Saddam Hussein war, wie andere Diktatoren auch, einst Waffenbruder der demokratischen Weltmacht und ihrer Verbündeten. Stellvertretend - und mit Hilfe des Westens hochgerüstet - führte der Irak acht Jahre lang Krieg gegen den Iran, weil im Nachbarland des Diktators ein Diktator herrschte, der dazumal Feind Nummer eins war. […] Zudem wird versprochen: Nach dem Sieg über den Diktator und sein System soll im Irak die Demokratie eingeführt werden. Doch die dem Diktator benachbarten Länder Saudiarabien und Kuwait, die dem Westen verbündet sind und ihm als militärische Aufmarschbasis dienen, werden gleichfalls diktatorisch beherrscht. Sollen diese Länder Ziel der nächsten demokratiefördernden Kriege sein? Ich weiß, diese Fragen sind müßig; die Arroganz der Weltmacht gibt Antwort auf jede. Doch jedermann kann wissen oder ahnen, daß es ums Öl geht. Oder genauer: Es geht wiederum ums Öl. Das Gespinst der Heuchelei, mit dem die zuletzt verbliebene Großmacht und der Chor ihrer Verbündeten ihre Interessen zu verdecken pflegen, ist im Laufe der Zeit so verschlissen, daß sich das Herrschaftsgefüge nackt zeigt; schamlos stellt es sich dar und gemeingefährlich in seiner Hybris.“834 Angesichts der Auswirkungen illegaler Kriege und anderer Stellvertreterkriege (ProxyKriege) ist es absurd zu behaupten, dass die Menschenrechte der Bevölkerungen massiv zu verletzten und ihr Elend zu verschärfen, in ihrem Interesse ist. Um den Vorwand einer effizienten Konfliktlösung zu beseitigen, muss man sich fragen, ob diese Kriege notwendig sind. Günter Grass hat es auf den Punkt gebracht: „Es ist uns üblich geworden, dass nur die relativ wenigen Toten der herrschenden Weltmacht gezählt und betrauert werden, während die Masse der toten Feinde samt deren Frauen und Kindern ungezählt bleibt und keiner Trauer wert ist.“835 833
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B. Obama, Speech in Cairo. The New York Times, June 4, 2009, https://www.nytimes.com/ 2009/06/04/us/politics/04obama.text.html, abgerufen am 12.11.2015. G. Grass, „Zwischen den Kriegen“, a.a.O. Ebenda
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Das Vorausgehende zeigt, wie abwegig es sein kann bzw. ist, die Interkulturalität unter dem Muster eines Krieges zwischen Kulturen und deren Werten zu behandeln. Es offenbart den ideologischen Charakter der Einteilung der Welt in Weiß und Schwarz, d.h. in eine Welt der Freiheit und der Zivilisation und eine der Unfreiheit und Barbarei. Zu diesem Punkt hat Fearn im Vorwort seines Buches Amoral Amerika geeignete Fragen zum Nachdenken formuliert: „Why were normal, relatively educated, young men willing to travel half way around this planet to kill other young men who had done them no harm? Why were older and presumably wiser men, eager for them to do this? Why do some countries export billions in resources, Angola for example, and yet the people there are some of the poorest on earth?” Over time, it became clearer to me that the wars, poverty and despair on this planet were not simply unfortunate, unavoidable, realities. They were the result of deliberate decisions by powerful men who simply didnʼt give a damn about others.“ 836 Mit dieser Fragestellung und Stellungname weist Fearn nicht nur die ‚manichäische‘ Wahrnehmung der Welt zurück, sondern auch die Verwechslung des kulturellen Pluralismus mit dem Pluralismus der Werte sowie die damit verknüpfte ‚Schuldzuweisung‘ für Kriege und Konflikte an die Kultur. Dies wird noch deutlicher, wenn er hinzufügt: „Most Americans are good people, just as most of the Japanese in Hiroshima and Nagasaki were good people in 1945. Most Americans want to spend less on weapons, improve education, spend more on foreign aid and help their neighbors. But most Americans donʼt run America and they havenʼt for some time. The people who do call the shots are aggressive, rich guys without those sensibilities.“837 Fearn versteht Gewalt und Hass hier als Reaktion auf Aggression; man kann daher eine bestimmte Kultur nicht mit der Gewalt gleichsetzen. Es empfiehlt sich, auf den Wunsch nach Freiheit, der sich hier äußert, aufmerksam zu sein. „Frustrationen kann man überwinden, aber nicht den Wunsch nach Freiheit“, sagt der persische Schriftsteller Amir Cheheltan.838 Selbst in der Diktaturzeit lebt der Wunsch nach Freiheit weiter. Dieser Wunsch ist nicht kulturspezifisch, sondern universell, da einfach menschlich. Er liegt – wie einleitend mit Verweis auf die Aussagen von Sophie Scholl und Sadegh Zibakalam gezeigt – dem Widerstand und der Revolution zugrunde. Fearn zufolge ist eine gewalttätige Reaktion in diesem Kontext nicht sofort in Termini von kulturellen Konflikten (Kriegen) zu verstehen.
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R. W. Fearn, Amoral America. How the Rest of the World Learned to Hate America. Bd. 1, Vancouver, 2000, siehe Vorwort. Ebenda, S. 1. A. Cheheltan, „Iraner lieben die USA“, Interview mit I. Arend und I. Kappert, in TAZ, 23. 05. 2012, https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5093297&s=cheheltan/, abgerufen am 10.11.2016.
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Wenn ein Präsident, der mit einem klaren Mehrheitsvotum siegt, aus seinem Land vertrieben wird, entstehen Frustrationen, die nach einem Weg suchen, um zum Ausdruck zu kommen. Es geht hier nicht um Krieg zwischen Kulturen, sondern um Aggression und Fehlen an Fairness. Letztere muss einfach wieder in den Mittelpunkt gestellt werden. „Fairness is a remarkable human perception because it is so easy to define. People just know when something is unfair, even small children can be heard saying, “aaaaw unfair.” It doesnʼt need to be defined in a legal text and no schooling is required to understand it. Everyone gets it, from the very young to the very old. Even the person being unfair knows it at the time but people often continue with unfair behavior when the acquisition of some perceived benefit clouds their judgment. They are also most likely to deny they are being unfair at the time.“839 Fearns Rede von fairness steht im Zusammenhang mit unserer Rede von Grundzügen des Menschenseins in vorigen Abschnitten. Man muss nicht gelehrt sein, um Hitlers Handeln als ungerecht zu erkennen, und auch nicht, um das seiner Kritiker – Frankreichs, Großbritanniens und der USA – zu verabscheuen, die in derselben Zeit (und schlimmer noch nach Gründung der Vereinten Nationen) dasselbe in anderen Teilen der Welt ausführten. Moralische Grundintuitionen und die Beherrschung von einfachen Regeln der Vernunft befähigen uns – wie gesehen – zu dieser Beurteilung. Der britische Philosoph B. Russel, der sich tatkräftig für den Weltfrieden eingesetzt hat und sehr kritisch der amerikanische Regierung gegenüber war, betont in diesem Sinne: „Es ist absolut unlogisch, [...] Verbrechen zu verurteilten, wenn sie von der einen Seite begangen werden, und sie zu beschönigen, wenn sie von der anderen Seite verübt werden.“840 Menschliche Sensibilität, Gerechtigkeitssinn und logisches Denken können jedem Mensch helfen, kulturübergreifend die Tatsache zu kritisieren, dass Frankreich, kurz nachdem es selbst mit der nationalsozialistischen Besatzung konfrontiert war, nicht zögerte die Aufstände um Freiheit und Unabhängigkeit der vietnamesischen Bevölkerung blutig niederzuschlagen. Der Widerspruch seines aggressiven Handelns ist noch irritierender, bedenkt man, dass Vietnam in seiner Unabhängigkeitserklärung „explizit auf die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution und die Unabhängigkeitserklärung der USA“ verwies.841 Die 6000 getöteten Vietnamessen stellen insofern keinen Beweis für die französische Zivilisation dar. Vor diesem Hintergrund ist der Kommentar Césaire zu verstehen, dass die Kolonisation den Kolonisator selbst entzivilisiert, verwildert, im wahrsten Sinne des Wortes
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R. W. Fearn, Amoral America, a.a.O., S. 3. B. Russel, Unarmed Victory. London, 1963, S. 71. In der Kuba-Krise der 60er Jahre kam er ohne Umschweife zur Sache: „[T]he Russians… came at the invitation of the Cubans and were no more burglars than are the American forces in Britain and Western Europe. But in view of the repeated American threats of invasion of Cuba, the Americans were at least contemplating ‘burglary.’“ (S. 45) D. Ganser, Illegale Kriege, a.a.O., S. 132.
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stumpfsinnig macht, „verschüttete Instinkte – Begehrlichkeit, Gewalttätigkeit, Rassenhass, moralischen Relativismus –“ in seinem Innen erregt. Denn „jedes Mal, wenn es in Vietnam einen abgehackten Kopf und ein ausgeschlagenes Auge gibt und das in Frankreich hingenommen wird“, manifestiert sich ein Auswuchs der Zivilisation, eine weltumspannende Rückentwicklung.842 Dass diese Folterungen sowie die anderen von lokalen Patrioten geduldet und solcher Rassendünkel nach wie vor von Eliten (z.B. Alexis Tocqueville 843 , Ernest Renan844, Victor Hugo845 usw.) ermutigt wurden, macht die Lage moralisch noch merkwürdiger. Es ist schwierig, wegzuhören, wenn Césaire behauptet, dass das Wettern des gebildeten, humanistischen, christlichen Bürgers gegen Hitler „Mangel an Logik verrät, und dass im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen am Menschen ist, dass es nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern den weißen Menschen ist, dass es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonisatorischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren“. 846 Die kommunistische Abgeordnete Jeannette Vermeersch betonte in der französischen Nationalversammlung (28.01.1950), dass Frankreichs Gesetze und Justiz in den Kolonien als Instrumente der Sklaverei fungierten, und ließ sich „out of order“ vom Präsidenten sagen. „Why do you send women to the tribune to say this? Are there not any men among you?“, riefen andere Stimmen. Dies zeigt deutlich, wo das vermeintlich ‚Pays de la liberté‘ selbst in puncto Freiheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau lag. Und die 842 843
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A. Césaire, Über den Kolonialismus, a.a.O., S. 10f. A. Tocqueville hat in Gedanken über Algerien (Travail sur l´Algérie) den französischen Kolonialkrieg verbissen mit der These verteidigt, dass jeglicher Verzicht als eine Erklärung von seiner Dekadenz in den Augen der Welt wäre. („Jedes Volk, das leicht freigibt, was es genommen hat […] tritt sichtbar in die Zeit seines Niedergangs ein“.) Die Freiheit und die Gleichheit als universelle Werte beiseite legend, betont er, dass die Kolonisation (Grund und Boden) ohne Herrschaft (Regierung) unvollständig sei, und fördert das Niederbrennen von Ernten, das Ausleeren von Speichern und die Arreste von unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern als ‚fatale Notwendigkeiten‘ des Krieges gegen Araber. Er fügt dazu hinzu: „Das zweitwichtigste Mittel nach dem Handelsverbot ist die Zerstörung des Landes. Ich glaube, dass das Kriegsrecht uns autorisiert, das Land zu verwüsten, und dass wir es tun müssen, entweder indem wir die Ernten zur Erntezeit zerstören, oder jederzeit durch diese schnellen Einfälle, die wir Razzien nennen und deren Ziel es ist, Menschen oder Herden zu ergreifen.“ (A. Tocqueville, „Gedanken über Algerien“, in H. Bluhm, Kleine politische Schriften, Berlin, 2006, S. 15.) Der vermeintlich Humanist E. Renan behauptet: „Wir trachten nicht nach Gleichheit, sondern nach Herrschaft. Das Land der fremden Rasse wird wieder ein Land der Leibeigenen, ländlichen Tagelöhner oder Industriearbeiter werden müssen. Es geht nicht darum, die Ungleichheiten unter den Menschen zu beseitigen, sondern sie zu verstärken und zu einem Gesetz zu machen.“ (E. Renan, La Réforme intellectuelle et morale. (1871). Paris, 1948, S. 48. Freie Übersetzung.) Siehe in der These 3. A. Césaire, Über den Kolonialismus, a.a.O., S. 12.
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Heuchelei war nicht zu überbieten. Vermeersch wies unbeeindruckt von Protesten und Gespött auf die Gräueltaten der französischen Truppen, die an die Truppen der Waffen-SS erinnern sollten: „the Vietnamese people did not shell Marseille, but you shelled Haiphong“. Sie zog sich dabei von anderen Abgeordneten – abgesehen von der Zustimmung der kommunistischen Abgeordneten – den Vorwurf „unworthy of being a Frenchwoman“ zu oder Androhungen „Enough! Enough smut! Enough rubbish! Get out of here“. Daran schloss sich der Präsident mit Bemerkung an: „Madame, I tell you very politely that, when you say the French have done the same things as at Oradout, you intolerably insult both this and the Nation.“ Diese Bemerkung verhinderte aber Vermeerschs Erwiderung nicht: „I ask only, did we oder did we not shell Haiphong? Do we or do we not burn Vietnamese villages?“. Der Präsident fragte wie in einem Rettungsmanöver zurück: „Is is not also true that the Vietminh have buried some Frenchmen alive? ... Madame, I never believed a woman capable of such hatred.“ Darauf folgte von Vermeersch: „Yes, I hate. I do when I think of the millions of workers you exploit. Yes, I hate the majority of this Assembly!“847 Dass die Eliten Heldentaten sehen, wo es in Wahrheit Gräueltaten gibt, ist nicht neu. Diese Blindheit und Mittäterschaft waren bei der vergleichenden Lesart von Sophie Scholls Aussagen und der Festpredigt von Landesbischof Theophil Wurm im Ulmer Münster (30. Juni 1940) schon festzustellen. Auch das Verständnis des Verhältnisses vom Individuum zur Nation ist beim Parlamentspräsidenten unter Berücksichtigung aller Unterschiede in moralischer Hinsicht nicht weniger beunruhigend als das von Roland Freisler, dem Präsidenten des sozialnationalistischen Volksgerichtshofs, der die Geschwister Scholl und Christoph Probst wegen „Wehrkraftzersetzung“, „Feindbegünstigung“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilte. Die Werte, die in den Einstellungen von beiden Präsidenten für missachtet zu halten sind, sind nicht kulturell spezifisch, sondern universell. Daher kann die Kritik hier nicht ausschließlich den Angehörigen einer bestimmten Kultur zukommen bzw. hinfällig sein, weil sie von Menschen aus anderen Kulturräumen formuliert wird. Die Unaufrichtigkeit und das Fehlen an innerer Logik sind nun augenfällig: Dieselben französischen Eliten, die die Gräueltäten des Nationalsozialismus uneingeschränkt verurteilten und verabscheuten, zögerten nicht, die Gräueltaten der Kolonisierung kleinzureden. Während sie nicht bereit waren, die Taten der Nationalsozialisten z.B. anhand von Hinweise auf die Entwicklung der Industrien zu relativieren, fanden sie es ‚fair‘ und ‚logisch‘ die Völker, denen die Kolonisation große Leiden zugefügt haben, zu bitten, die Kolonisation dennoch positiv zu schätzen. Die Rede von Sarkozy in Dakar (2007) ist hier ein vielsagendes Armutszeugnis. Darauf wird zurückgekommen werden (These 3). Es ist ersichtlich, dass das Problem angesichts der angeführten Beispiele nicht die angeblich absolute Unterschiedlichkeit der Kulturen ist, sondern die Vorherrschaft von Ideologien und Interessen. Die Darstellung der Kriege zwischen Kulturen entspricht unter
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E. R. Maximin, Accommodation and Resistance: The French Left, Indochina and the Cold War, 1944-1954. Connecticut, 1986, S. 95. Siehe auch D. Ganser, Illegale Kriege, a.a.O., S. 132.
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anderem mehr den Interessen der mächtigen Akteure als der Realität und der Seinsweise der einfachen Bürger. Letztere schätzen Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit und wollen, dass ihr Recht auf Leben, Selbstbestimmung usw. respektiert sehen. Dabei sind sie allerdings konfrontiert mit Unterdrückungsstrukturen: Diktaturen vom nationalen und globalen Ausmaß, Herrschaft von Wenigen bzw. sozialen Ungerechtigkeiten, usw. All dies stellt uns vor die Forderung, die komplexen Zusammenhänge bzw. Verflechtung von Schicksalen zu begreifen, statt uns mit vereinfachenden Schematisierungen und schwarz-weiß Betrachtungsweisen zufriedenzugeben. Das nationalistische und das zivilisatorische Ego, Wirtschafts- und Machtinteressen sind verantwortlich für solche starren Schematisierungen, die die Problemlage verfälschen und zu falschen Lösungen führen. Als der UNGeneralsekretär U Thant eine Verhandlungsinitiative zur Beendigung des „illegalen Angriffskriegs“ gegen Vietnam ergriff, stieß er nicht auf die Weigerung des amerikanischen Volks, sondern des Präsidenten Nixon und seines Mitarbeiterkreises. Bis heute wirken die Gräueltaten dieses Kriegs fort. Das Rote Kreuz schätzte in einem Bericht vom 14. März 2002, dass etwa eine Million Vietnamesen – darunter 100.000 missgebildete Kinder –, von gesundheitlichen Schäden durch die Spätfolgen von Agent Orange betroffen sind. Wenn man die Fortsetzung dieses Krieges in Laos dazuzählt, einem weniger beachteten Angriff, der aber dieses kleine Land zu dem meist bombardierten der Welt machte,848 sind wir konfrontiert mit einem Akt der Entmenschlichung, der die moralische Sensibilität zutiefst erschüttert und nur als entsetzlich beurteilt werden kann. Dies zeigt sich deutlich in der Rede des UN-Generalsekretärs U Thant bei der Pressekonferenz vom 24. Februar 1965: „I am sure that the great American people, if only they knew the true facts and the background to the developments in South Vietnam, will agree with me that further bloodshed is unnecessary. And also that the political and diplomatic method of discussions and negotiations alone can create conditions which will enable the United States to withdraw gracefully from that part of the world. As you know, in times of war and of hostilities, the first casualty is truth.“849 U-Thant stützt sich auf die einfache Tatsache, dass das menschliche Wesen moralisch dazu neigt, Grausamkeit zu missbilligen. Letztere bleibt unverurteilt, nur solange sie un-entdeckt,
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In Laos, wo mehr als zwei Millionen Tonnen Bomben in den Jahren 1964-1973 abgeworfen wurden, sind etwa 80 Millionen einzelne Sprengsätze nicht explodiert. Seit Kriegsende sind mindestens 8000 Menschen dadurch ums Leben gekommen; mehr als 12 000 wurden verletzt. Vollständig geräumt sind nur weniger als ein Prozent der betroffenen Flächen . (Arne Perras, „Obama und das tödliche Erbe des Vietnamkriegs“, in Süddeutsche Zeitung, 6. September 2016, https://www.sueddeutsche.de/politik/laos-spuren-des-heimlichen-kriegs-1.3150529, abgerufen am 07.05.2017). S. Meisler, United Nations: A History. New York, 1995, S. 162. U Thant provozierte durch diese Stellungnahme wütende Reaktionen des Außenministers Dean Rusk und des Präsidenten Nixon.
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verschleiert, kurzum, geleugnet wird. Man muss schon die menschliche Sensibilität etwas verloren haben, um Grausamkeit zu billigen. Da dies sehr unwahrscheinlich für eine ganze Gemeinschaft ist, muss gelogen werden.850 Es muss betont werden, dass das Ziel der hier geübten Kritik an Schematisierungen einfach ist: Es geht darum, durch die Betonung des Leitbegriffs der Verschränkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden darauf aufmerksam zu machen, dass es bessere Möglichkeiten (gab und) gibt, das Zusammenleben zwischen den Menschen friedlich, lehrreich und solidarisch zu gestalten. 851 Es empfiehlt sich daher, den theoretischen Rahmen, den wir von Machthabern und interessierte Eliten zur Diskussion über die Begegnung zwischen Kulturen bzw. zwischen Menschen entworfen bekommen, zu hinterfragen. Es wäre unangebracht zu sagen, dass der Präsident Hồ Chí Minh und sein Volk, die dem Angriff von Frankreich und danach von den Vereinigten Staaten die Stirn boten, in Wirklichkeit ganz spezifisch westliche Werte vertreten, die sie von ihren entschlossenen Angreifern gelernt und internalisiert haben. Hồ Chí Minh, der sich für die Befreiung bzw.- Wiedervereinigung Vietnams, die politische Partizipation der Bauer, die Gleichberichtigung von Frau und Mann einsetzte, hätte auch sagen können: „Diese Terrorakte sind eine Kriegserklärung an die freie Welt“. Die Einteilung der Welt und die kulturalistische Zuteilung von Werten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit usw. sind nicht unhaltbar, sondern auch angewiesen auf eine Erzählung, die sich in sich selbst gefällt und anderen Standpunkten keine Aufmerksamkeit schenkt. Es ist ein Verdienst von U-Thant, gezeigt zu haben, wie man in Dienst des Weltfriedens ohne Ideologisierung der Problemlage arbeiten kann und das Augenmerk auf die moralischen Ressourcen der Menschen als solche gelenkt zu haben. Auch Denis Halliday, der 850
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Untermauert wird diese Ansicht durch die Aussage eines amerikanischen Marineleutnants (im Kontext des Angriffskriegs gegen Nicaragua), auf die der auf amerikanisch-lateinamerikanische Beziehungen spezialisierte Historiker Alan L. McPherson verweist: „the forces opposed to the government are revolutionists – regardless oft he fact that we call them bandits as an excuse – an effort to screen our actions – to fool the United States whose opinion would demand our immediate withdrawal were they to realize the facts.“ (A. L. McPherson, The Invaded: How Latin Americans and Their Allies Fought and Ended U.S. Occupations. New York, 2014, S. 196.) R. W. Fearn räumt jegliches Missverständnis schon in der Einführung seines Buches aus: „This book may appear to have an anti-American bias. On the contrary, you cannot demonstrate bias by telling the whole truth. You can not be anti-American if you make efforts to expose unfairness. That is being proAmerican because fairness is a fundamental American virtue. As this book will show, over a sixty year period America, more than any other country, has meddled around in more countries and caused more pain and suffering than anyone else. That is not what Americans want; it is not what they stand for. Tragically, a minority of Americans have hijacked the country. It is time for caring Americans to recover their ship of state.“ (R. W. Fearn, Amoral America, a.a.O, S. 9.) Ganser hat dem Vorwurf des Antiamerikanismus zurückgewiesen, indem er einleitend auf seine Liebe zum Weltfrieden und seine Bewunderung für das amerikanische Volk, unter dem er viele Freunde hat, hinweist.
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humanitäre UNO-Koordinator im Irak (1997), macht nicht anderes. Seine mutigen Stellungnahmen verweisen deutlich auf die Bedeutung der anthropologischen Grundlage – Sensibilität, Gerechtigkeitssinn usw. –, die unsere nahezu einstimmigen Beurteilungen von manchen moralischen Situationen ermöglicht: „I often have to explain why I resigned from the United Nations after a 30 year career, why I took on the all powerful states of the UN Security Council; and why after five years I continue to serve the well being of the people of Iraq. In reality there was no choice, and there remains no choice. You all would have done the same had you been occupying my seat as head of the UN Humanitarian Programme in Iraq. I was driven to resignation because I refused to continue to take Security Council orders, the same Security Council that had imposed and sustained genocidal sanctions on the innocent of Iraq. I did not want to be complicit. I wanted to be free to speak out publicly about this crime. And above all, my innate sense of justice was and still is outraged by the violence that UN sanctions have brought upon, and continues to bring upon, the lives of children, families – the extended families, the loved ones of Iraq. There is no justification for killing the young people of Iraq, not the aged, not the sick, not the rich, not the poor. Some will tell you that the leadership is punishing the Iraqi people. That is not my perception, or experience from living in Baghdad. And were that to be the case – how can that possibly justify further punishment, in fact collective punishment, by the United Nations? I don’t think so. And international law has no provision for the disproportionate and murderous consequences of the ongoing UN embargo – for well over 12 long years. International law does not allow for the punishment of an entire people because of government policies, or actions that offend the UN.“852 Halliday illustriert hier klar unseren Status als stark wertende Wesen. Als Menschen haben wir ein implizites Wissen, das uns zu einer moralischen Beurteilung bzw. Verurteilung mancher Situationen befähigt. Als Menschen sind wir ungeachtet unserer kulturellen Zugehörigkeiten in der Lage, manche Dinge als gut und andere als schlecht zu bewerten. Und dieses Wissen ist so verlässlich, dass wir Gesetze, selbst Resolutionen des UN-Sicherheitsrats kritisieren können. Der irische Diplomat und sein deutscher Nachfolger Hans Christof von Sponeck traten von der leitenden Stelle des UN-Hilfsprogramms für den Irak aus Protest gegen das UN-Embargo zurück und verfassten gemeinsam einen Artikel in The Guardian unter einem eindeutigen und vielsagenden Titel „Eine Nation als Geisel“. Dieser Artikel untermauert den Begriff der starken Wertungen, der in der Diskussion zwischen Taylor und Habermas bzw. zwischen Taylor und Rawls in vorausgehenden Teilen erläutert wurde. Es ist moralisch nicht zulässig, dass eine Resolution – auch wenn sie regelkonform gefasst wurde – die irakische Bevölkerung für das bestraft, dessen sie sich nicht schuldig
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D. Halliday, Words of acceptance – Gandhi International Peace Award – 30. Jan. 2003, https:// gandhifoundation.org/2003/01/30/2003-peace-award-denis-halliday-2/, abgerufen am 06.07.2016.
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gemacht hat, und mit ihrer Strafe den Tod von 5000 bis 6000 Kinder jeden Monat durch verschmutztes Trinkwasser und den Mangel an Nahrung und Medikamenten verursacht. „Die derzeitige Politik der Wirtschaftssanktionen hat die irakische Gesellschaft zerstört und den Tod von Tausenden, jung und alt, verursacht. […] Die Schöpfer dieser Politik dürfen nicht auf den Gedanken kommen, sie können ihre Wähler damit zufrieden stellen, indem sie Verachtung gegenüber den Gegnern dieser Politik äußern. Das Problem liegt nicht in der Unfähigkeit der Öffentlichkeit, das große Bild zu verstehen, wie die frühere Außenministerin der USA, Madeleine Albright, pflegte zu sagen. Das Gegenteil ist der Fall. Das große Bild und die geheime Tagesordnung werden von den einfachen Menschen sehr wohl verstanden. Wer sollen hier die Ansicht Henry Kissingers nicht vergessen, die er in aller Öffentlichkeit äußerte ‚Öl ist ein so wichtiges Gebrauchsgut, dass man es in den Händen der Araber lässt‘. […] Ist das internationale Recht nur auf die Verlierer anwendbar? Besteht die Aufgabe des UN-Sicherheitsrats nur darin, den Mächtigen zu dienen?“ 853 Die Relevanz der letzten Frage versteht man besser, wenn man im Blick behält, dass der Irak doppeltes Opfer der Aggression wurde, und zwar von einem Embargo und von einer Bombardierung, die illegal ist, da ohne ein UNO-Mandat. In beiden Fällen zeigt uns unser Gerechtigkeitssinn, dass etwas moralisch schlecht ist. Das Schlechte liegt im vorliegenden Fall sowohl im Legalen als auch im Illegalen. Die zwei Diplomaten verstehen ihre Kritik nicht als antibritisch oder antiamerikanisch, sondern einfach als moralisch motiviert angesichts der vermeidbaren Tragödie im Irak. Indem Großbritannien und die USA sie aber ständig daran hinderten, dem Weltsicherheitsrat von den schrecklichen Auswirkungen der Sanktionen auf das irakische Volk zu berichten, lähmten sie diesen absichtlich. „Die unbequeme Wahrheit lautet, dass der Westen die irakische Bevölkerung als Geisel hält […]. Keine Investitionen aus dem Ausland und den Irakern das Recht zu entziehen, selbst über ihre Öleinnahmen zu verfügen.“854 Es ist unklug, den Kessel von Hass und Angst, der einem von wirtschaftsinteressierten Eliten geführten Krieg entspringt, zum Ausgangspunkt einer Interkulturalitätstheorie zu machen. Selbst wenn wir die Konsequenzen der Selbstmordattentate – „form of terrorism that occurs often in response to state terror“ (Halliday)855 – für destruktiv für den Weltfrieden halten, sind wir nicht berechtigt, irgendwelchen fragwürdigen theoretischen Rahmen
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D. Halliday, H. von Sponeck, „The hostage nation“, in Guardian, 29. November 2001. Wir zitieren hier die deutsche Übersetzung von Klaus von Raussendorff. http://www.embargos.de/ irak/statement/spon_hal_nation_geisel.html, abgerufen am 10.02.2017. Ebenda. „We again find ourselves faced with a double standard – Nation States tell us they can bomb cities, use missiles on urban areas, knowing full well the losses to the civilian population, and then can dismiss deaths as collateral damage – the term that Robert Fisk calls an ‚obscenity‘. That
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zu übernehmen. Der Weltfrieden fordert einen ethischen Rahmen. Grenzen zwischen Kulturen zu setzen, die keine sind, die mehr ideologisch als wirklich existieren, Gegenüberstellungen auch in puncto Wertvorstellungen zu fördern, die mehr konstruiert als realitätsnah sind, ist weder eine sinnvolle noch eine tief- und weitblickende Strategie. Mit starren Schematisierungen kann man dem interkulturellen Phänomen nicht gerecht werden, geschweige denn den komplexen Zusammenhängen der internationalen Politik. An dieser Stelle weist Ganser darauf hin, wie schwierig es für Christen in Europa und in den USA ist, zu glauben, dass ihre Länder z.B. in Syrien tatsächlich militante muslimische Terroristen unterstützen. „Doch die historischen Daten zeigen, dass genau dies passiert ist, mit dem Ziel, Assad zu stürzen.“856 Solche Aussagen darf man nicht ohne kritische Prüfung akzeptieren; aber ebenso wenig sollte man sie ohne kritische Prüfung nicht sofort ablehnen. Blicken wir zurück auf den „Schlamassel“ (Obama) in Libyen, um die Fragwürdigkeit der starren Schematisierung bzw. der „rationalisation of violence“ („as though God was on our side in some new crusade against the forces of darkness, the forces of evil“, sagt Haliday) deutlich zu sehen. Mit seiner Bezeichnung des Einsatzes in Libyen als „Schlamassel“ („Mess is the president’s diplomatic term; privately, he calls Libya a ‚shit show‘, in part because it’s subsequently become an isis haven“ ), bezieht sich Obama in seinem Interview mit dem US-Magazin The Atlantic nicht auf die Inkompetenz der amerikanischen Regierung, sondern auf die Passivität der europäischen Verbündeten: „I had more faith in the Europeans, given Libya’s proximity, being invested in the follow-up.“ Dem britischen Premierminister David Cameron wurde in diesem Interview ein Defizit an Aufmerksamkeit („a distracted by a range of other things“) vorgeworfen, dem französischen Präsidenten eine kühne nationalistische Selbstdarstellung („Sarkozy wanted to trumpet the flights he was taking in the air campaign, despite the fact that we had wiped out all the air defenses and essentially set up the entire infrastructure“). Aus dem Krieg und der massiven Bombardierung von Libyen ist kein demokratischer Staat, sondern ein ‚failed state‘ (ein gescheiterter Staat) entstanden – ein idealer Nährboden für die Terrormiliz IS. Die Konsequenz ist nicht nur Terrorismus, wie der damalige französische Außenminister Ayrault sagte („C’est une menace directe pour la région et pour l’Europe“, 29. März 2016, Alger), sondern auch die ‚Flüchtlingskrise‘ in Europa oder zumindest ihre Intensivierung. Ganz zu schweigen davon, dass das Elend der libyschen Zivilbevölkerung verschärft worden ist. Das Schicksal der Zivilbevölkerung steht nach wie vor in krassen Kontrast zu dem mit einem Lachen vor laufender
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is state terrorism. However, the same politicians, spokesmen who can accept this collateral damage are apparently outraged by non-state suicide bombing – bombing that is in response or in retaliation.“ (D. Halliday, Words of acceptance, a.a.O.) D. Ganser, Illegale Kriege, a.a.O., S. 295. Siehe auch den CIA-Analytiker Philip Giraldi in NATO vs Syria. The American Conservative, 19. Dezember 2011, https://www.theamericanconservative. com/articles/nato-vs-syria/, abgerufen am 09.03.2016.
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Kamera geäußerten Bonmot der US-Außenministerin Hilary Clinton über den Sturz von Machthaber Gaddafi: „We came, we saw, he died.“857 Aus dem moralischen Standpunkt tun sich hier einige Fragen auf: einerseits mit Bezug auf den Weltfrieden als erhabene Zielsetzung der UNO, andererseits als wissenschaftlichen oder beruflichen Tätigkeiten vieler Menschen: Hätte man nicht von einem Friedennobelpreisträger (Obama) mehr Bewusstsein dafür erwartet, dass der von ihm selbst geschilderten Angriff auf Libyen Hunderttausenden das Leben gekostet hat? Wird es Ermittlungen geben und werden Konsequenzen gezogen, um all diese Toten zu würdigen wie es einer erklärtermaßen zivilisierten Welt zustehen sollte? Oder endet alles mit dieser bloßen Randbemerkung über den „zerstreuten“ Cameron und den „wagemutigen“ Sarkozy oder mit der inzwischen gewöhnlich gewordenen Entschuldigung vom ‚Experten-Fehler‘: „The degree of tribal division in Libya was greater than our analysts had expected“ (Obama)? Dadurch wird der Eindruck erweckt bzw. verschärft, dass das Leben mancher Menschen minderwertig ist. Wie konnte die Resolution 1973, die einen sofortigen Waffenstillstand, den Schutz der Zivilbevölkerung und eine friedliche sowie dauerhafte Lösung auf Basis eines Dialogs forderte, darüber hinaus zum Sturz des Staatsoberhaupts und das Opfer desselben Volks verwendet werden? Inwiefern wurde der Wert des menschlichen Lebens in Bezug auf die libysche Bevölkerung geachtet, wenn man gleich nach Zustimmung der Resolution mit der Bombardierung des Landes anfing, ohne Einbeziehung der Afrikanischen Union (UA), die gemäß Forderung der Resolution selbst den Dialog zwischen den Konfliktparteien hätte in die Wege leiten sollen? Wie kann man kurz nach der Verursachung zahlreicher Toten durch Bombardierungen im Irak die gleiche menschliche Katastrophe in Libyen zulassen? Dass hier ein gravierendes moralisches Problem besteht, zeigt der Völkerrechtler und ehemalige Mitglied der UN-Völkerrechtskommission Tomuschat: „Die Resolution war von Anfang an missverständlich gefasst. Eigentlich wusste jeder, dass der vage Wortlaut unterschiedlich auslegbar ist. Das war einkalkuliert. Man musste wissen, dass die Luftangriffe nur sehr grob sein konnten und dann schnell eine Trennlinie überschritten wird.“858 Eine solche Vorgehensweise lässt die Frage verschärft aufsteigen, ob es um Menschenrechte oder um Öl ging. Die deutsche Regierung erkannt schnell die Probleme um den Angriff und vertrat durch seine Enthaltung eine einigermaßen durchdachte Position. Hingegen wirkt
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Siehe das Video in: https://www.youtube.com/watch?time_continue=11&v=Fgcd1ghag5Y, abgerufen am 12.12.2016. Ein Artikel dazu: Gudula Hörr, „Gaddafis Tod, Obamas Shit-Show. So versank Libyen im Chaos“, n-tv, 20. Oktober 2016, https://www.n-tv.de/politik/So-versankLibyen-im-Chaos-article18853481.html, abgerufen am18.06.2017. C. Tomuschat, „Die Nato ist an die Grenzen des UN-Mandats gegangen“, in Tagesspiegel, 25.08.2011, https://www.tagesspiegel.de/politik/die-nato-ist-an-die-grenzen-des-un-mandatsgegangen/4536672.html, abgerufen am 10.05.2017.
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Obamas Begründung des Angriffs einseitig. Dies erklärt sich in der einleuchtenden Stellungnahme des emeritierten Professors für Strafrecht und Rechtsphilosophie und Mitglieds im Deutschen Ethikrat Reinhard Merkel: „Haben Gaddafis Truppen systematisch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen oder doch als bevorstehend befürchten lassen? Die Antwort lautet beide Male: nein. Hier vor allem darf man sich den Blick nicht vom Nebel irreführender Phrasen trüben lassen. […] Wer so fahrlässig wie die Regierungen der Intervenienten, viele westliche Medien und leider auch die Resolution des Sicherheitsrates mit solchen Zuschreibungen umgeht, tastet die Grundnorm des Völkerrechts und damit dieses selbst an: das Gewaltverbot zwischen den Staaten. ‚Der Diktator führt Krieg gegen sein eigenes Volk, bombardiert systematisch seine eigene Bevölkerung, massakriert die Zivilbevölkerung seines Landes‘ - ja, das alles, in den vergangenen Tagen tausendfach wiederholt, wären Beispiele für gravierende Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber Gaddafi führt Krieg gegen bewaffnete Rebellen, die ihrerseits Krieg gegen ihn führen. Kämpfende Aufständische, und wären sie Stunden zuvor noch Bäcker, Schuster und Lehrer gewesen, sind keine Zivilisten. Dass Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden. Und jeder nach außen legitimierte, also autonome Staat der Welt, darf - in bestimmten Grenzen - bewaffnete innere Aufstände zunächst einmal bekämpfen. Bevor man diese Feststellungen nun mit dem Zwischenruf abschneidet: ‚Aber hier ein Tyrann, durch nichts legitimiert, dort Kämpfer für ihre Freiheit und Menschenrechte!‘, sollte man sich die Redlichkeitspflicht zumuten, einen Sachverhalt zunächst vollständig zu betrachten und ihn erst dann zu beurteilen.“859 Für R. Merkel setzt sich derjenige, der „militärisch gegen militärisch agierende Rebellen vorgeht“, nicht dem Vorwurf „der systematischen Vernichtung der eigenen Zivilbevölkerung oder großer Teile von ihr im Modus völkerrechtlicher Verbrechen“ aus. Vom Standpunkt des Rechts und der Moral ist der Angriff auf Libyen problematisch sowohl in seiner Begründung, als auch in seiner Durchführung und seinen Ergebnissen. Wenn wir uns auf letztere fokussieren, können wir nicht anders, als bestürzt sein. Die Konsequenzen für die Bevölkerung sind verheerend, obwohl sie doch geschützt werden sollte. Analog wie der Schriftsteller aus Martinique Césaire fragte, ob es denn außer der Kolonisation keine bessere Möglichkeit zur Förderung der Begegnung der Völker gegeben habe, können wir hier fragen, ob es denn keine bessere Möglichkeit gab, Libyen zu helfen, als das Land und damit die Region durch Bombardierung zusammenzuschlagen und dadurch ihr jahrelanges Zu-
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R. Merkel, „Völkerrecht contra Bürgerkrieg. Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim“, in Frankfurter Allgemeinen Zeitung, FAZ.net, 22.03.2011, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ voelkerrecht-contra-buergerkrieg-die-militaerintervention-gegen-gaddafi-ist-illegitim-1613317. html, abgerufen am 20.04.2016. Merkels Aussage wirft die wichtige Frage auf, wie die Rebellen Waffen und die militärische Bildung bekommen haben.
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rückbleiben hinter den Erwartungen der Entwicklung zu besiegeln? In einem solchen Rahmen drängt sich die moralische Frage nach dem Sinn der ‚humanitären Kriege‘ und der mit ihnen verbundenen ‚Kollateralschäden‘ auf. Die Relevanz dieser Frage lässt sich anhand von Auszügen aus der Rede von Cameron im House of Commons vor der Abstimmung am 26. November 2015 zeigen.860 Wir nehmen im Folgenden Ausschnitte der Rede Camerons zum Anlass, um die in diesem Buch angestellten Reflexionen über den Menschen als grundsätzlich fühlendes und wertendes Wesen, als über Gerechtigkeitssinn und implizites moralisches Wissen verfügendes Wesen, einzustreuen: „Mr Speaker, let me turn to the question of legality. It is a long-standing constitutional convention that we don’t publish our formal legal advice. But the document I have published today shows in some detail the clear legal basis for military action against ISIL in Syria. It is founded on the right of self-defence as recognised in Article 51 of the UN Charter. The right of self-defence may be exercised individually where it is necessary to the UK’s own defence and of course collectively in the defence of our friends and allies“: Gilt das Recht auf Selbstverteidigung nicht für Syrien? Aus welchem Grund darf Syrien bzw. seine Bevölkerung von anderen Ländern ohne seine Zustimmung bombardiert werden, ausgehend von der Tatsache, dass er keine Terrorakte gegen Paris oder London organisiert und begangen hat. Sahra Wagenknecht wies auf die Fragwürdigkeit der logischen Verknüpfungen an dieser Stelle hin: „Vor genau drei Wochen sind in Paris 130 Menschen einem barbarischen Terrorakt zum Opfer gefallen. Die Täter waren nahezu ausschließlich französische und belgische Staatsbürger, aufgewachsen in den verwilderten Vorstädten von Brüssel und Paris. Und jetzt stellen Sie sich hin und sagen, dass wir den IS dadurch schwächen und bekämpfen, dass wir ebenso unschuldige Menschen, Frauen und Kinder in Rakka und anderen syrischen Städten, bombardieren und dadurch töten. Was ist denn das für ein Wahnsinn? Ich frage Sie: In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?“861 Wagenknechts Frage lenkt das Augenmerkt auf den Wert des Lebens der unschuldigen Menschen, dessen Wert in der Debatte durch die Überbetonung von anderen Aspekte etwas leichtfertig aus dem Blick gerät. Dies sollte – mahnt sie – für das moralische Gewissen in einer modernen Welt aber nicht der Fall sein. Dass sich eine Rede gegen den Krieg und seine verheerenden Folgen für die Mitmenschen hier dem Gespött ausgesetzt sieht, ist nicht neu. Wie oben erwähnt, hatte die Abgeordnete Jeannette Vermeersch in der französischen Nationalversammlung (28.01.1950) genau dasselbe in Bezug auf dasselbe Thema erfahren müssen. Es wäre interessant, beide
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D. Cameron, „Oral statement to Parliament“, 26.11.2015, https://www.gov.uk/government/speeches/ pm-statement-responding-to-fac-report-on-military-operations-in-syria, abgerufen am 10.10.2016. S. Wagenknecht, „Es ist eine Lüge, dass dieser Kriegseinsatz den IS schwächen wird“, Rede in der Bundestagsdebatte am 04.12.2015 über den Syrien-Einsatz der Bundeswehr, https://www.sahrawagenknecht.de/de/article/2249.es-ist-eine-lüge-dass-dieser-kriegseinsatz-den-is-schwächenwird.html, abgerufen am 10.02. 2017.
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Reden sowie das Verhalten der Zuhörer vor dem Hintergrund der Levinasschen Philosophie des Antlitzes zu analysieren. Es ist immer möglich, dass hundert Jahre später die höhnenden Stimmen für das moralische Gewissen dieser Zeit gelten, ohne dass bemerkt wird, dass es sowohl innerhalb als auch außerhalb des Saales kritische Stimmen gab. Vermeerschs Aussage, die aber auch als eine Frage ertönt, ist nach wie vor aktuell: „the Vietnamese [the Syrian] people did not shell Marseille [London usw.], but you shelled Haiphong“. Es ist unverständlich, dass sich Cameron, den Obama im Libyen-Fall als „zerstreut“ („a distracted by a range of other things“) beschreibt und daher für das Chaos von Libyen verantwortlich macht, schon wieder mit demselben Plädoyer für die Bombardierung – diesmal von Syrien – einsetzt. Gewissenlos, da die Frage nach der Verantwortung bei einer solchen menschlichen Katastrophe nicht zu übersehen ist. Sind die zahlreichen Toten in Libyen bzw. in Syrien bloße statistische Angaben? Leibliche Wesen haben ein Gesicht. Jedes von ihnen besetzt einen ‚Ort‘ in der Welt, den niemand anderes einnehmen kann. Ihre einzigartigen Erlebnisse bzw. die Bedeutung ihres Daseins in einer Erzählung glätten, hat etwas Unrechtes. Weber hat Recht, wenn sie als Aufgabe „eines verantwortungsvollen und sozial engagierten Bürgers“ das Sich-informieren „über Fernsehen, Zeitungen, Photographien etc. über das Unrecht und Leid von Mitbürgern sowie Menschen anderer Länder und Kulturen“862 betont. Allerdings sollte sich dies nicht in einer passiven Haltung des Konsums von Informationen erschöpfen. Vieles muss aktiv unternommen werden. Alles spricht hier aber für die primäre Notwendigkeit der Förderung von Polyphonie in der Geschichtenerzählung (siehe These 5), damit Fragen wie die nach der Verantwortung, die in der Erzählung von Obama und Cameron kaum einen Platz finden, hinreichend thematisiert werden und Gehör finden können. Dies ist ethisch relevant, denn nichts – selbst der Wiederaufbau einer Stadt – kann die verlorenen menschlichen Leben ersetzen. Die getöteten Menschen haben ein Antlitz, das niemals vollkommen vertreten oder ersetzt werden kann. Es ist klar, dass das, was hier als ethische Frage betont wird, auch als politische bzw. rechtliche Frage betrachtet werden kann. „Mr Speaker, the main basis of the global coalition’s actions against ISIL in Syria is the collective self-defence of Iraq. Iraq has a legitimate government, one that we support and help. There is a solid basis of evidence on which to conclude, firstly, that there is a direct link between the presence and activities of ISIL in Syria, and their ongoing attack in Iraq and, secondly, that the Assad regime is unwilling and/or unable to take action necessary to prevent ISIL’s continuing attack on Iraq – or indeed attacks on us“: Die oben zitierten ehemaligen UN-Diplomaten im Irak, Hans von Sponeck und Denis Halliday, haben ausführlich über das Elend der Bevölkerung in diesem Land berichtet, das sie mit Sachkenntnis als „the hostage nation“ bezeichnet haben. Der Irak ist durch Bombardierungen zusammengebrochen und dadurch zum Nährboden für Terrorgruppen geworden. Nun stellt sich die Frage, wieso
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B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a.a.O., S. 208.
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Syrien dasselbe dramatische Schicksal zugeteilt werden soll, statt vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Irak geschützt zu werden? Außer der auffälligen Sprachregelung, derzufolge es einerseits ein ‚legitimate government‘ in Irak und anderseits ‚the Assad regime‘ gibt, ist festzustellen, dass die Kritik, Assad sei nicht fähig, die islamistischen Gruppen zu bekämpfen, nicht haltbar ist. Dass er nicht in der Lage ist, sie zu bekämpfen, sollte eben nicht ein Grund sein, ihn bei der Wahrung der Souveränität des Landes zu unterstützen? Dass derjenige, der weder an der Bombardierung des Irak noch der von Libyen beteiligt war, also in keiner Weise an der Entstehung und Propagierung der islamistischen Gruppen schuld ist, nun für Terrorakte im Westen verantwortlich gemacht wird, ist von einem neutralen Standpunkt aus betrachtet, absurd. Es geht hier nicht darum, Assad zu verteidigen, sondern sachlich und aufrichtig zu sein, denn das Anliegen des Weltfriedens fordert von uns allen bestimmte Grundeinstellungen. „It is also clear that ISIL’s campaign against the UK and our allies has reached the level of an ‚armed attack‘ such that force may lawfully be used in self-defence to prevent further atrocities being committed by ISIL. And this is further underscored by the unanimous adoption of UN Security Council Resolution 2249. We should be clear about what this resolution means and what it says. The whole world came together – including all 5 members of the Security Council – to agree this resolution unanimously. The resolution states that ISIL, and I quote: ‚constitutes a global and unprecedented threat to international peace and security‘. It calls for member states, and again I quote: to take ‚all necessary measures‘ to prevent and suppress terrorist acts committed specifically by ISIL“: Abgesehen davon, dass die Resolution nicht den Rücktritt oder Sturz des syrischen Staatsoberhaupts fordert, ist Camerons Vermessenheit ein Beispiel – mit Waldenfels gesprochen – dafür, dass jemand sich das Recht anmaßt, im Namen der Menschheit zu sprechen und die eigene Stimme als die Stimme der Welt bzw. der Vernunft zu betrachten. Dies unterstreicht die Bedeutung des Konzepts der ‚Universalisierung im Plural‘, von dem später die Rede sein wird. „Turning to the question of which ground forces will assist us. In Iraq the answer is clear. We have the Iraqi security forces and the Kurdish Peshmerga. In Syria the situation is more complex. But as the report I am publishing shows, we believe there are around 70,000 Syrian opposition fighters – principally the Free Syrian Army – who do not belong to extremist groups and with whom we can co-ordinate attacks on ISIL. In addition there are the Kurdish armed groups who have also shown themselves capable of taking territory, holding territory, and administering it […]. Moderate armed Sunni Arabs have proved capable of defending territory north of Aleppo […]. These people I’ve talked about, they are ground troops. They need our help. When they get it, they succeed. So in my view we should do more to help them from the air“: Der letzte Satz wirft die Frage auf, ob der Einsatz als Hilfeleistung für bewaffnete Gruppen in Syrien der UN-Resolution, die ihm die Legalität garantieren soll, vorausgeht oder auf sie folgt? Wird in Camerons Rede auf die parlamentarische Zustimmung eines rechtmäßigen Einsatzes in Syrien gezielt oder auf die Zustimmung eines ‚Mehr-Tuns‘ in
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Bezug auf einen schon ablaufenden Einsatz, dessen Anfang aber angesichts des Völkerrechts problematisch ist? Und woher weiß man, dass die bewaffneten Gruppen, die hier befürwortet werden, freiheitliche Ziele haben und im Interesse aller Menschen in Syrien handeln werden? Das menschliche Desaster in Libyen gibt hinreichend Gründe, an diesem Punkt sehr kritisch zu sein. Auch einfach aus dem Gerechtigkeitssinn des Menschen heraus stellt sich die Frage: Wie würde es angesehen, wenn irgendein Land in der Welt bewaffnete Gruppen in England unterstützte und sich offen für den Stürz seiner Regierung einsetzte? Entspricht dieser Plan für Syrien der UN-Charta und den moralischen Werten wie Gerechtigkeit, Reziprozität, Solidarität? Bedenkt man, dass es hinter dieser Rollenverteilung à la Cameron um das Schicksal zahlreicher Frauen, Männer und Kinder in Syrien geht, die sich nichts anderes wünschen als friedlich in ihrem Land leben zu können, kann man den Zynismus in seiner Rede erkennen. Wie kann man über die Schicksale von Menschen und eines Landes reden wie über ein Kartenspiel? Das ethische Defizit, das sich hier manifestiert, gilt es unverzüglich zu beheben, indem man lernt,– wie wir mit Levinas im einleitenden Abschnitt über den Paradigmenwechsel gesehen haben –, andere Menschen als ‚Antlitze‘, also als ‚einzig‘ und ‚unverwechselbar‘ anzusehen und zu respektieren. Als ‚Antlitzen‘ begegnen wir ihnen sowohl im Modus des Verbots „Du sollt mich nicht töten“ und in dem des Gebots „Du sollst mich in meinem Sterben nicht alleine lassen“. Dann zeigen sich die Lücken von Camerons Rede. Bewaffnete Gruppen foltern und töten, wenn man sie auch ‚moderat‘ nennen will. Was bringt also diese Sprachregelung vom Standpunkt der Opfer der Aggression aus? Geht es für uns darum, ihr Recht zu wahren, von ‚moderaten‘ – statt von extremistischen – bewaffneten Gruppen gefoltert und getötet zu werden? Die ganze vorliegende politische Rhetorik unterliegt einer Blindheit gegenüber dem Anspruch des Anderen bzw. gegenüber dem Ethischen (oder dem ethischen Moment), das sich im Antlizt des Fremden wiederspiegelt und das Selbst (das Ich) zu dessen Hüter macht. Wem klar ist, dass die Selbsterhaltung mit der Sorge für den Anderen einhergeht und der Andere einzig ist, legt viel Wert auf die Lage der Zivilbevölkerung und gibt sein bestes, Leiden von ihr abzuwenden. „[…] Mr Speaker, we can’t defeat ISIL simply from the air or purely with military action alone. It requires a full political settlement. But the question is: can we wait for that settlement before we take action? And again, my answer is no, we can’t. […] Britain has so far given over £1.1 billion – by far the largest commitment of any European country – second only to the United States and this is helping to reduce the need for Syrians to attempt the perilous journey to Europe […]. But the House is rightly also asking more questions about whether there will be a proper post conflict reconstruction effort to support a new Syrian government when it emerges. Britain’s answer to that question is absolutely yes. I can tell the House that Britain would be prepared to contribute at least another £1 billion for this task. […] We know that peace is a process not an event. And I am clear that it can’t be achieved through a military assault on ISIL alone. It also requires the removal of Assad through a political transition. […]. No-one predicted ISIL’s rise and we should not accept that it’s somehow impossible to bring
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them to an end.“ Dass sich die Bombardierung eines Landes und die Bekämpfung der Fluchtbewegungen nach Europa erfolgreich verbinden lassen sollten, gehört zu einer Logik, die sich dem besonnenen einfachen Menschen wohl nicht ohne weiteres erschließt. Die Menschen jedenfalls, die auf Londons Straßen ‚Stop the war‘ rufen, sehen darin einen Widerspruch bzw. eine Täuschung und mahnen à la Sophie Scholl: Wir haben eine Ahnung von dem, was gut oder schlecht ist. Wieso übrigens zerstören, um danach so viel Geld in die Behebung des Elends der Flüchtlinge oder in den Wiederaufbau des Landes zu investieren, als ob diese ungeheure Summe nicht präventiv im Dienst des Menschen benutzt werden könnte? Wieso zerstören (bzw. zerteilen), um danach vorzugeben, dass man um die Integrität des Landes kämpft? Und von wem erhält man das Recht überhaupt zu zerstören? Camerons wiederholte Betonung der Notwendigkeit einer neuen Regierung in Syrien („new government als the natural partners for our forces in defeating ISIL for good“) kann nur erstaunen und Besorgnis erregen, wenn man sich das aus derselben Strategie erwachsene Chaos in Libyen vor Augen hält. Die Libyen-Lage widerspricht seinem behaupteten Anliegen „to prevent and foil plots at home“ oder „to degrade ISIL and reduce the threat they pose“. Die Entfernung bzw. das Schicksal eines Staatsoberhaupts lässt sich nicht von einem Staat im Alleingang bestimmen, als ob die UNO nicht existiere. Außerdem ist es kaum möglich, ihm zuzustimmen, wenn er nun betont, dass niemand den Aufstieg des ISIS habe vorhergesagen können. Es gibt hinreichend Stoff zum Nachdenken, ob das Drama im Nahost und die erhebliche Macht der Terroristen auf Unwissen zurückzuführen ist oder auf die Ablehnung, die Warnungen bzw. die Wahrheit zu hören. 863 „Now we are not naïve to the complexity of the task. It will require patience and persistence. And our work won’t be complete until we have reached our true end goal which is having governments in both Iraq and Syria which can command the confidence of all their peoples. And in Syria, ultimately that means a government without Assad. As Ban Ki Moon has said: ‚A missile can kill a terrorist; but only good governance can kill terrorism.‘ Mr Speaker, as we discuss all these things, people also want to know that we have learnt the lessons of previous conflicts. Whatever anyone thought of the Iraq war terrible mistakes were made in the aftermath in dismantling the state and the institutions of that country. And we must never make those mistakes again. […]The expert advice I have could not be more clear: we will not beat ISIL if we waiver in our view that ultimately Assad must go.“ Wo eine stichhaltige Darstellung erwartet wird, kommt hier nur eine wiederholte Äußerung von eigenen Wünschen (wenn auch mit einem vagen Verweis auf Ratschläge von Experten); es geht jedoch um das Leben zahlreicher Menschen. Es ist ersichtlich, dass Cameron keine Garantie dafür hat, dass
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Siehe z.B. die Veröffentlichungen des preisgekrönnten US-Investigativjournalisten Seymour M. Hersh, unter anderem seine gut recherchierte Veröffentlichung Die Akte Assad: Seymour Hersh über Amerikas Versagen im Syrienkrieg. Cicero: Magazin für politische Kultur, Berlin, 2016.
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die vom ihm befürworten bewaffneten Gruppen das Vertrauen ganzer Bevölkerungen haben bzw. haben werden. Ist es dann nicht naiv, für sie gewaltsame Partei zu ergreifen und sie unter Hinnahme des Todes zahlloser unschuldigen Menschen zum Sieg zu führen? Diese unschuldigen Menschen wollen friedlich leben und ihr Selbstbestimmungsrecht respektiert sehen, statt für das Ziel – wenn auch das ‚wahre‘ – von London geopfert zu werden. Die Aussage von Ban Ki Moon ist zutreffend. Aber statt sie offensichtlich für die eigenen Interessen zu zitieren, muss man sie tatsächlich für den Weltfrieden einsetzen. Im vorliegenden Fall hätte Cameron sie am Besten zur Auswertung seiner eigenen Politik in Libyen einsetzen müssen, wo die neuen Herren der Zivilbevölkerung den Tod bringen. Dies macht Sinn, will man es vermeiden von einem Fehler zum anderen zu schreiten. Dies würde auch den Eindruck kontern, dass das Leben der Bevölkerung keinen mehr interessiert, sobald das plötzliche ‚Interessen für‘ sie abgeflaut ist. Außerdem ist die ‚good governance‘ auch auf der internationalen Ebene zur Beseitigung von Terrorismus notwendig. Und dies ist nur möglich im Rahmen der UNO, deren Kompetenzen man streng zu beachten lernen muss. Es ist erstaunlich, dass die Fehler nur als Randkommentare erwähnt sind. Sollte man nicht entsprechende Konsequenzen ziehen? Wahrscheinlich hätte Cameron die Bombardierung von Syrien nicht so entschlossen und unvorsichtig (bzw. ‚ethisch blind‘) verteidigt, wenn er für das Scheitern und die verheerenden Folgen dieser Politik für die Menschen in Libyen hätte Sanktionen erwarten müssen. Ein Lippenbekenntnis nach Irak und Libyen („… we must never make those mistakes again)“ – reicht nicht aus, geschweige denn die Betonung: „We are not in the business of dismantling the Syrian state, or its institutions“. Robert McNamara, der als US-Verteidigungsminister ein vehementer Befürworter des Vietnamkriegs (1961-1968) und der uneingeschränkten Durchsetzung der Vormachtstellung der USA war, bezeichnete den Vietnamkrieg nach vierzig Jahren als „furchtbaren Irrtum“. Und in Bezug auf den Irakkrieg fügte er später hinzu: „Was wir tun, ist einfach falsch. Es ist moralisch falsch, politisch falsch, wirtschaftlich falsch“.864 Nach dem Krieg, der Libyen ins Chaos gestürzt hat, behauptete auch Obama endlich, dass dieser Krieg sein schlimmster Fehler war. Aus der oben zitierten Publikation von Seymour Hersh zeigt sich jedoch, dass keine großen Lehren daraus gezogen wurden. Und alle diese Zugeständnisse von furchtbaren (McNamara), schlimmsten (Obama), schrecklichen (Cameron) Fehlern ziehen nach wie vor keine entsprechenden Konsequenzen nach sich. Wo solche Fehler keine Sanktionen und keine Entschädigungen herbeiführen, ist der Frust groß und mit ihm steigt das Risiko gewaltsamer Reaktionen. Dies ist nicht schwer zu verstehen. Statt bloß zu sagen, dass die ‚anderen‘ uns wegen unserer Werte und Lebensweise angreifen, muss man bereit und mutig sein, die eigene Politik in Frage zu stellen. Terrorakte sind zu verurteilen, aber auch eine Politik, die zahllose unschuldige Menschen das Leben kostet. Klare und wirksame Mecha-
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„Ex-Verteidigungsminister McNamara gestorben“, in Welt, 06.07.2009, https://www.welt.de/politik/ article4069185/Ex-Verteidigungsminister-McNamara-gestorben.html, abgerufen am 08.02.2017.
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nismen werden benötigt, denn so viele Mitmenschen dürfen nicht permanent geopfert werden. Moralisch und rechtlich betrachtet: liefern diese schrecklichen Fehler („terrible mistakes“) keinen Anlass zu Sanktionen? Wieso können manche Staatsoberhäupter bzw. Regierungschefs für (begangene oder nicht begangene) Fehler sanktioniert werden und die anderen nicht? Trägt diese Doppelmoral zum Weltfrieden bei? Am Beispiel von Sophie Scholl kann jeder Mensch aus irgendeinem Kulturraum mithilfe des Gerechtigkeitssinns diese Tatsache als ungerecht erkennen und sie zu Recht kritisieren. Starre Schematisierungen von Kulturen und moralischen Werten können erhebliche Schäden hinterlassen. „Working with a new representative government is the way to eradicate ISIL in Syria in the long-term. But can we wait for that to happen before we take military action? I say we can’t. […] All those who say that ultimately we need a diplomatic solution and a transition to a new government in Syria – they are right. Working with a new representative government is the way to eradicate ISIL in Syria in the long-term. But can we wait for that to happen before we take military action? I say we can’t. Mr Speaker, let me be clear. There will not be a vote in this House unless there is a clear majority for action because we will not hand a publicity coup to ISIL.[…] Mr Speaker, we do face a fundamental threat to our security. We can’t wait for a political transition, we have hit these terrorists in their heartlands right now. And we must not shirk our responsibility for security – or hand it to others. Mr Speaker, throughout our history, the United Kingdom has stood up to defend our values and our way of life. We can – and we must – do so again. And I commend this statement to the House.“ Eine Option, die nach dem gesunden Menschenverstand aufgrund ihres Ausmaßes und ihrer Auswirkungen die allerletzte sein sollte (d.h. einer äußerst sorgfältigen, gemeinsam und gründlichen Prüfung unterworfen werden muss), wird mit Nachdruck als die erste und vorrangige empfohlen. R. Merkel trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er behauptet: „Was es aber normativ heißt, liegt auf der Hand: Ein Ziel, das nicht oder doch nicht in akzeptabler Weise erreichbar ist, taugt als legitimierender Grund von vornherein nicht. Der demokratische Interventionismus, propagiert 2003, als sich die irakischen Massenvernichtungswaffen als Lüge erwiesen, und jetzt in der euphemistischen Maske einer Pflicht zur kriegerischen Hilfe im Freiheitskampf wieder erstanden, ist politisch, ethisch und völkerrechtlich eine Missgeburt.“865 Sind der Ausgang des Krieges und das Ausmaß seiner Konsequenzen mit Sicherheit vorauszusehen? Wer übernimmt die Verantwortung für die massenhaften Toten? Einen Actionfilm mit spektakulären Gewaltszenen kann man sich im Kino wünschen, aber nicht in der Realität. Es ist ethisch nicht gesund, den anderen Leiden zu wünschen, die man für sich selbst nicht zulässt. Recht hat Cameron zu denken, dass das Vereinigte Königreich die Verantwortung für seine Sicherheit den anderen nicht weitergeben kann. Und Unrecht hat er zu denken, dass sich Syrien das Gleiche nicht vorstellen darf bzw. dass er – Cameron – die Verantwortung für die Sicherheit Syriens an Stelle der syrischen politischen Führungskräfte übernehmen und seine Konfiguration bestimmen darf. Wir wissen nicht, ob
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R. Merkel, „Völkerrecht contra Bürgerkrieg“, a.a.O.
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dies zu dem gehört, was Cameron „our values and our way of life“ nennt. Aber eins ist sicher, und zwar: seine Mitbürger und die Weltbürger, die auf der Straßen demonstrieren, mahnen ihn und seine Alliierten wegen der Wertvorstellungen und der Lebensweise, die sie schätzen: Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Frieden, Solidarität, Brüderlichkeit, Solidarität usw., also Werte, die sie für universell und erkämpfenswert halten. Diese Mahnung gilt auch für diejenigen, die Kulturen als homogen bzw. einheitlich und die Interkulturalität als Nebeneinander betrachten. Das ‚Wir‘ von Cameron ist nicht homogen bzw. einheitlich, wie er vorgibt. Daher ist die Kritik an Cameron nicht als Kritik an den britischen Bürgern anzusehen. Wo Cameron das starre Schema ‚wir und die anderen‘; ‚unsere Werte und die Werte der anderen‘, ‚unsere Identität und die Identität der anderen‘, einführt, zeigen sich Heterogenität, Komplexität und Verschränkungen. Genau dies interessiert uns aus phänomenologischer Sicht. Die Bürger, die auf den Straßen protestieren, erkennen sich nicht in seinem ‚wir‘ und denken nicht, dass sie sich durch ihr Handeln für die britischen Werte einsetzen, sondern für die Werte der Menschheit. Daher handeln sie gemeinsam mit Bürger aus anderen Kulturen. Es zeigt deutlich am Beispiel der Rede von Cameron, dass die starre Schematisierung von Kulturen und Werten zu hinterfragen ist, genauso wie der Anspruch auf moralische Überlegenheit, der manchmal damit verbunden wird. Eine Philosophie, die die Abgründe der internationalen Politik gründlich betrachtet hat, kann sich mit Schematisierungen, ideologischen Grenzlinien und Gegenüberstellungen nicht abfinden. Eine Philosophie, die Verschränkung für ihre Schlüsselfigur erklärt, widersetzt sich einem Bild von Menschheit und Kulturen, das eine vereinfachende Sichtweise in unsere Köpfe hineinhämmern will. Die Überzeugung von deutlichen Grenzen zwischen Kulturen und der kulturellen Zuteilbarkeit von Werten basieren auf Missverständnissen. Der Grundgedanke der Verschränkung räumt mit diesen Irrtümern auf. Als Einwand gegen die Denkfigur der Verschränkung kann auf die Existenz von sogenannten ‚unkontaktierten Völker‘ hingewiesen werden. Aber es fragt sich, ob ein so extremer Fall die Gemeinsamkeiten, die uns bewusst sind, überwiegen kann. Zudem geht es um einen Fall, über den mehr Spekulationen als begründete Behauptungen kursieren. Ist es wirklich der Fall, dass diese Völker noch nie einen Kontakt mit anderen gehabt haben? Oder standen sie einst in Kontaktbeziehungen, haben durch deren verheerende Folgen aber gelernt, dass sie ihn besser vermeiden sollten? In diesem Fall ist der Ausdruck ‚unkontaktiert’ unsachgemäss und irreführend. Überhaupt: Die Betonung von Unterschieden ist nach wie vor relevant. Aber dies schließt die Gemeinsamkeiten nicht. Wie könnte nun ein Fall, über den nur sehr wenig bekannt ist, einen bedeutenden Einwand liefern? Wäre es nicht sinnvoller und interessanter zu versuchen, die Verschränkungsfigur mit einem Hinweis auf die deutsche, französische, japanische, syrische, senegalesische, namibische, kolumbianische, kanadische Kultur zu widerlegen? Wir wissen viel über diese Kulturen mit ihren komplexen, in die Geschichte zurückverfolgbaren Überlappungen und könnten sie daher viel besser diskutieren. Die Berufung auf exotische Fälle, in denen wir über die Faktenlage größtenteils unwissend sind, zeigt daher weniger die Stärke, als die großen Schwierigkeiten, die
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These von absoluten Unterschieden zwischen den Kulturen zu verteidigen und spricht wohl eher für die sachliche Angemessenheit der Denkfigur der Verschränkung. Es empfiehlt sich, Unterschiede nicht gegen Gemeinsamkeiten auszuspielen. Antweiler warnt hier vor einem attraktiven Irrtum: „Mir geht auf die Nerven, dass Ethnologie immer nur dann fasziniert, wenn es um irgendwelche kulturellen Besonderheiten geht. Es stimmt, dass Ethnologen vor allem Einzelkulturen erforschen, auch ich fahre seit mehr als 20 Jahren jedes Jahr nach Makassar in Indonesien, um dort eine städtische Kultur zu studieren. Aber unter der Oberfläche finden wir Gemeinsamkeiten. Ich sehe Ethnologie als vergleichende Wissenschaft des ganzen Menschen, und deshalb interessieren mich verallgemeinernde Aussagen.“866 Es sind genau diese bunte Realität von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, die wir durch die Verschränkungsfigur in den Mittelpunkt stellen. Selbst wenn die Unterschiede zwischen Kulturen keineswegs als trivial angesehen werden können, sind die Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen. Taylor, der kulturelle Besondertheiten leidenschaftlich verteidigt hat, zeigt mehr Bewusstsein für die Gefahr der Überbetonung von Unterschieden und vereinfachenden Schematisierungen. Unter dem Begriff des „blockhaften Denkens“ (pensée en bloc) fasst er ein Denken, das soziologische Überlegungen über die in der Tat vielfältigen Motivationen der Menschen (z.B der muslimischen Mädchen, die auch wenn sie in Europa leben, ein Kopftuch tragen wollen) nicht berücksichtigt. Durch die Verweigerung, Komplexitäten einzubeziehen wird z.B. der Fokus auf den Islam als einzige Drohung gelegt. Ein „Denken in Blöcken“ pauschalisiert eine vielfältige Realität auf zwei Weisen: erstens werden verschiedene Manifestationen des islamischen Glaubens oder der islamischen Kultur als vielgestaltige Ausdrücke derselben Grundbedeutung wahrgenommen. Und zweitens wird allen Muslimen unterstellt, dass sie dieser Grundbedeutung zustimmen. Die Möglichkeit, dass ein Mädchen tatsächlich ein Kopftuch trägt, um seine Rebellion gegen seine Eltern und ihre Form des Islam auszudrücken, oder dass andere tiefgläubig und zugleich über geschlechtsspezifische Diskriminierung oder Gewalt aufrichtig empört sind, wird ignoriert.867
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C. Antweiler, „Ich warne vor Kultur-Rassismus“, in Spiegel, 31. Oktober 2009, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/globalisierung-ich-warne-vor-kultur-rassismus-a-657602-2.html (abgerufen am 11.10.2016). Wie ungünstig es sein kann, die Fälle von sogenannten indigenen Völkern in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, zeigt Antweiler am Beispiel des Hopi-Mythos: „[D]en Hopi-Mythos verdanken wir dem Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf, der behauptet hat, dass die Hopi nicht über Zukunft und Vergangenheit reden und daher auch nicht so denken. Viele Jahre später hat jemand in einer 600-seitigen Arbeit festgestellt, dass auch die Hopi Wörter für gestern und morgen kennen. Leider hat das niemand gelesen, und so blieben die Hopi-Indianer das Paradigma des extremen Kulturrelativismus.“ (Ebenda) C. Taylor, „La pensée en bloc“, in Project Syndicate, 10.09.2007, https://www.project-syndicate.org/commentary/block-thinking/french, abgerufen am 07.04.2015. Taylors Position zu
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Taylor sieht Menschen, die am „Denken en bloc“ festhalten, als ideales Publikum für Huntingtons These des clash of civilizations. Letzten Endes ist es wichtig für die vorliegende Überlegung – um diesen Einwand gegen die Verschränkungsfigur endgültig abzuwenden –, dass die Verschränkung nicht zu sehr in einem historischen Sinne verstanden werden sollte. Von großer Bedeutung ist vielmehr die Tatsache, dass vor dem Hintergrund der Interkulturalität als Interkorporeität keine Kultur völlig fremd ist. Dass das gegenseitige Verstehen zwischen den indigenen Völkern und den Ethnologen möglich ist, dass ihre Sprachen übersetzbar sind, untermauert die Verschränkungsfigur, die Gemeinsamkeiten behauptet, dabei aber vollständige Gleichheit zurückweist. Den beschriebenen Schematisierungen muss fundamental entgegengetreten werden, weil Menschen als leibliche Wesen trotz der Vielfalt ihrer kulturellen Zugehörigkeiten die Erfahrung von Gemeinsamkeiten auch im moralischen Bereich machen. Man schematisiert, vereinfacht die Realität, homogenisiert, negiert die Unterschiede und Spannungen im Eigenen, setzt Einfluss mit Bestimmung durch die Kultur gleich, übersieht die Komplexität im Verhältnis mit den anderen, pflegt verzerrte Bilder von Kulturen und überbetont die Unterschiede mit ihnen. Dies aus ganz unterschiedlichen Gründen: wegen Missverständnissen, Ideologien, Machtinteressen, aus Angst, usw. Wie in der nächsten These zu sehen ist, kann die Überbetonung von Unterschieden zwischen Kulturen dazu dienen, ein politisches Handeln zu legitimieren. Die nächste These deckt diese Strategie an einem konkreten Beispiel (dem Drama der sudanesischen Meriam Ibrahim in ihrer Auseinandersetzung mit den Machthabern) auf.
7.2 These 2 Identitäten – Instrumentalisierung von Unterschieden und Kritik – Meriams Fall Interkulturelle Kritik ist nicht unstatthaft, sondern schützt die Freiheiten und Rechte des Menschen, indem sie seiner Festlegung auf eine bestimmte Kultur widerspricht und einer Instrumentalisierung kultureller Identitäten (z.B. gegen die Menschenrechte) entgegenwirkt. Wir führen hier ein prägnantes Beispiel vor Augen, das die Ansicht von absoluten Unterschieden zwischen den Kulturen und ihren angeblich eigensten Werten untermauern sollte. Wir gehen auf die Frage ein, ob eine kulturübergreifende moralische Beurteilung in diesem Fall wirklich unmöglich und irrelevant ist. Sind die Grenzen der Kultur auch die Grenzen der Moral bzw. der moralischen Beurteilung? Meriam Ibrahim ist eine 27-jährige sudanesische Frau, die zusammen mit ihrem 20 Monate alten Sohn von Polizisten im August 2013 in ihrer Heimat abgeführt wurde. Ihr wurde
„Denken en bloc“ ist mehr nuanciert im Vergleich zu seiner (schon zitierten) damaligen Position zu Salman Rushdies Debatte.
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Apostasie vorgeworfen, denn sie als Muslima (ihr Vater soll Muslim sein) hatte einen Katholiken geheiratet. Nicht berücksichtigt wurde dabei die Tatsache, dass sie von ihrer christlichen alleinerziehenden Mutter als Christin erzogen worden war. Da sie sich, trotz der von dem Richter eingeräumten dreitägigen Frist zur Bekehrung, weigerte, ihrem christlichen Glauben abzuschwören fiel gegen sie ein Todesurteil durch den Strang. Dies war aber nicht das einzige Urteil. Meriam sollte auch 100 Peitschenhiebe wegen Unzucht erhalten. Dies setzte offensichtlich nicht nur sie, sondern auch ihr ungeborenes Baby in Gefahr, denn sie war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Der körperliche und psychische Feldzug gegen diese Frau hat die Welt bewegt und eine Welle von Reaktionen ausgelöst. Es gab weltweit ein großes Echo in den Medien. Eine große Empörung war sichtbar; es fehlt auch nicht an Anteilnahmen und Protesten der Staatengemeinschaft, Kirchen und Zivilgesellschaft. Die Tatsache, dass Meriam am 27. Mai 2014 schliesslich ihre Tochter in der Gefängniszelle zur Welt bringen musste, machte die Problemlage noch akuter. Medienkampagne vor allem in Italien unter der Führung von Antonella Napoli führte schließlich zur Rettung und Befreiung von Meriam und ihren beiden Kindern. Sie wurden freigelassen und konnten am 24. Juli 2014 nach Rom ausreisen. Antonella Napoli hat diese tragische Geschichte in ihrem Buch Meriam – Mit der Kraft der Liebe gegen religiösen Fanatismus erzählt. Wie lässt sich dieser Fall in den Zusammenhang der hier betrachteten Debatte zwischen Universalismus und Partikularismus (Relativismus) einbringen? Wie bereits einleitend mit Jörn Rüsen erwähnt wurde, hat diese Debatte an Bodenhaftung verloren. Die erwähnten Schematisierungsstrategien waren eine Manifestation dieser Realitätsferne. Wenn wir hingegen die menschliche Erfahrung in den Mittelpunkt unseres Anliegens stellen ist es sehr sinnvoll, kritisch zu sein und Pauschalisierungen zu vermeiden. Wenn wir z.B. die Vorstellung von Kulturen als homogenen Entitäten mit je spezifischen Werten zurückweisen, ist es einfach, weil wir uns bewusst sind, dass von dieser Frage das Schicksal von vielen Menschen wie Meriam abhängt. Kritisch im Fall von Meriam zu sein, bedeutet z.B. festzustellen, dass ihre Kultur kein geschlossenes Gebilde, keine uniforme Entität mit deutlichen Grenzen gegenüber der unseren darstellt. Diese Betrachtungsweise samt ihren Folgen soll hier betont und verteidigt werden. Wenn man die oben kritisierten Schematisierungen auf diesen Fall anwendet, wäre z.B. eine Tatsache, dass Meriam seit der Geburt von ihrer christlichen Mutter im äthiopisch-orthodoxen Glauben erzogen wurde, ein irrelevantes Detail oder eine nebensächliche Information. Für uns dagegen ist klar, dass wir vor einer Kultur mit einer Vielfalt von (konkurrierenden) Lebensvorstellungen und Selbstinterpretationen stehen. Wer dies vergisst oder missachtet, tendiert dazu, den Fokus z.B. nur auf die Interpretation der jeweils dominierenden Gruppe zu legen, sie dabei übermäßig aufzuwerten und eine Realität zu vereinfachen, die nicht zu vereinfachen ist. Dies fügt offenbar vielen Menschen innerhalb dieser Kultur ein großes Unrecht zu. Bekommen Menschen durch die Tatsache ihrer kulturellen Zugehörigkeit klar fixierte und einheitlich anerkannte Interpretationsfolien, nach denen sie ihr Handeln und ihre Entscheidungen zu orientieren haben? Nein, dies würde bedeuten, die Kultur grundlegend misszuverstehen.
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Kulturen so zu vereinfachen, kann natürlich vorteilhaft sein. Aber der Vorteil des vereinfachenden Schemas entpuppt sich als ein Hindernis für die Verarbeitung bzw. das Lernen aus der Erfahrung. Eine der empirisch belastbarsten Grundthesen der Phänomenologie des Fremden besteht in der Betrachtung von Heterogenität als einem Grundzug der Kultur. Dies bedeutet, dass Unbehagen, Spannung und Konflikten nicht erst in Kontakt mit dem Außen auftreten. Dies wäre ein verzerrtes Bild, das die innere Komplexität der Kultur verschleiert und die Begegnung mit dem Fremden unter negativen und angstauslösenden Vorzeichen sieht. Wie kann man die sudanesische Kultur für einheitlich halten, wenn vor uns die Tatsache der Fremderfahrung liegt (Meriam ist von ihrer christlichen Mutter im äthiopisch-orthodoxen Glauben erzogen)? Durch diesen Glauben und ihren Ausbildungs- und beruflichen Werdegang als Ärztin hat Meriam eine vielfältige Identität. Dies gerät im Rahmen einer schematisierenden Betrachtungsweise aus dem Blick, weil hier bloß ihre Zugehörigkeit zu der sudanischen Gesellschaft betrachtet wird. Dies ist aber eine Vereinfachung, wie sich leicht erkennen lässt, wenn man die Vielfalt der Zugehörigkeiten von Meriam auflistet: sie ist eine sudanesische Frau, eine ausgebildete Ärztin, eine christliche Gläubige usw. Diesbezüglich stellt sich die unvermeidliche Frage: Wer ist sie letzten Endes? Darf man überhaupt alle anderen Zugehörigkeiten zur Seite drängen, um nur eine (sie ist eine Sudanesin) im Spiel zu lassen? Aber was heißt es, ein Sudanese zu sein? Ein Mensch, der in Sudan lebt? Und was nun mit den Landsleuten, die ins Ausland gereist sind? Wie schwierig die Pluralität der Zugehörigkeiten zu verdrängen ist, springt jedem ins Auge. Dies ist noch deutlicher, wenn wir das Beispiel von Meriams Mann betrachten: Daniel Wani. Er ist ein gebürtiger Sudanese und US-amerikanischer Staatsbürger, ein Südsudaneser mit amerikanischem Pass. Er hatte gemeinsam mit seiner Schwester und seinen Brüdern wegen des Bürgerkriegs Sudan 1998 verlassen, um in die USA zu emigrieren. Er kam zurück in die sudanesische Hauptstadt Khartum um seiner verhafteten Familie beizustehen. Unterstützung bekam er – außer erwähnten internationalen Anteilnahme – von Freunden (Christen wie Muslimen), die sich versicherten, dass er nicht alleine blieb. Dieser Hinweis trägt schon alles in sich, um jeden Versuch der Schematisierung zunichte zu machen. Wenn nur Angehörige der sudanesischen Kultur Meriams Angelegenheit beurteilen dürfen, was ist nun mit Daniel Wani? Wo steht er? Außerhalb oder innerhalb der sudanesischen Kultur? Wir stoßen auf die Grenzen eines territorialen Verständnisses von Identität. Nach welchen Kriterien sollen seine verschiedenen Zugehörigkeiten eingeordnet werden? Selbst wenn man annimmt, dass die nationale Zugehörigkeit einzigartig ist, welche ist Wanis nationale Zugehörigkeit? Auch diese Frage bleibt offen: Gibt es nur eine Art, eine nationale Identität zu leben? Es kann interessant sein, sich an dieser Stelle mit den widersprüchlichen Emotionen auseinanderzusetzen, die das Verhältnis Individuum-Kultur (bzw. Nationalität) charakterisieren. In diesem Zusammenhang haben Cynthia Miller-Idriss und Bess Rothenberg in ihrer in Deutschland durchgeführten Studie herausgearbeitet, dass das Verhältnis vom Individuum
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zur Nation nicht immer oder nicht nur linear ist.868 Es ist – wie sie in ihren Umfragen der Perspektive der einfachen Menschen (ordinary people's views) entnommen haben – von Ambivalenzen, Verwirrungen und Widersprüchen gekennzeichnet. Wir haben es hier mit einer Komplexität zu tun, die nicht immer in elitären und öffentlichen Darstellungen von Nation oder Kultur vermittelt wird. Aus dem Vorausgehenden wird ersichtlich, dass die Identität im Plural steht und dass es eine Vielzahl von Bezugspunkten gibt, die jeder Mensch in seinem Leben für sinnvoll hält. Wer die interkulturelle Kritik im Fall von Meriam ablehnt, weil wir zu anderen Kulturräumen gehören, schematisiert und missachtet die folgenden Punkte: (*) Er missachtet den pluralen Charakter der Identität, indem er z.B. die Lebensgeschichte außer Betracht lässt. Außer der Tatsache, dass wir mit Meriam dieselbe menschliche Natur bzw. einige anthropologische Grundtatsachen gemein haben, gibt es auch andere Punkte, die verhindern, dass wir ihr als völlig Fremde gegenüberstehen. Meriam ist eine christliche Gläubige und daher identifiziert sie sich mit anderen christlichen Gläubigen in der Welt. Die Rede von ‚Wir‘ kann bei ihr nicht nur ihre Landsleute bedeuten, sondern auch Leute, mit denen sie z.B. denselben Glauben teilt, also ihre Brüder und Schwestern im Glauben. Mit wem sich Meriam näher fühlt, ist offen. Dies hängt ab von der spezifischen Komplexität ihrer Identität. Sie mittels der Schematisierung in eine bestimmte Gruppe einzugliedern und diese einzige Zugehörigkeit, sei es die nationale sei es die religiöse, überzubetonen, kann nur ihre Freiheit gefährden. Es ist nirgends festgeschrieben, dass z.B. die nationale Zugehörigkeit in jeder Lebenssituation Vorrang vor anderen Zugehörigkeiten hat. Es gibt also eine Menge von Dingen, die in der Rede von einem ‚Wir‘ zu berücksichtigen sind. In vielen Diskussionen geraten sie aus dem Blick durch die Macht der oben dargestellten Schematisierung. Dies gilt auch für uns, die Nicht-Sudanesen, wenn wir von ‚Wir‘ angesichts des Falls von Meriam sprechen. Dieses ‚Wir‘ entspricht keinesfalls einer homogenen Entität. Nehmen wir an, dass fünf Italiener mit dem Fall konfrontiert sind, darunter ein rassistischer Atheist, zwei agnostische humanitäre Helfer und zwei Christen. Während der rassistische Atheist gleichzeitig ‚Wir‘ sagen, sich aber gleichgültig zeigen kann (wie Kain mit seinem selbstzentrierten Frage „Bin ich der Hüter meines Bruders?“869 oder auch wie die Mitarbeiter der US-Botschafts gegenüber Meriams Mann870), fühlen sich die zwei humanitären Helfer angesprochen, weil sie der Meinung sind, dass alle die gleiche Menschheit teilen. Dieser 868
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C. Miller-Idriss, B. Rothenberg „Ambivalence, pride and shame: conceptualisations of German nationhood“, in Nations and Nationalism, Bd. 18, 1(01/2012), S. 132–135. Wie schon erläutert, zieht sich Kain mit seiner Frage den Vorwurf eines praktischen Cartesianismus zu (Waldenfels). „Wenn ich daran denke, dass ich US-Bürger bin, dann bin ich doch sehr enttäuscht von dem, was die US-Botschaft bisher getan hat. Ich habe sie sofort informiert, aber sie haben mir einfach gesagt, sie hätten keine Zeit und es würde sie auch nicht interessieren. Erst als die Medien berichtet haben, haben sie sich gerührt – nach langer Zeit.“ (M. Engelhardt, „Der Fall Meriam
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Meinung stimmen die zwei Christen zu, die außerdem den Fall als eine Gefahr für die christliche Glaubensgemeinschaft interpretieren; sie sehen Meriam als eine Person auf eine Weise, die wahrscheinlich für den rassistischen Atheisten unverständlich oder inakzeptabel ist. Für sie ist Meriam ein Teil ihres ‚Wir‘. Es ist ersichtlich, dass die Rede von ‚Wir‘ viel beinhaltet. Es wäre zum Beispiel eine Vereinfachung, den Meriam-Fall als bloße Gegenüberstellung von zwei Fronten zu sehen, nämlich den Sudanesen und den Nicht-Sudanesen, den Mitgliedern eines Kulturraums und denjenigen, die außerhalb dieses Kulturraums stehen. Verschränkungen, vielfache Beziehungen werden in diesem Bild einfach negiert. Solche Vereinfachungen finden keinen Platz in einem Ansatz, der der Verflechtung vom Fremden und Eigenem gerecht werden will. Antonella Napoli, die die Freilassung und die Rettung von Meriam gefördert und organisiert hat, steht ihr nicht als eine völlige fremde Person gegenüber. Sie hat sich selbst nicht so eingeordnet. Und sie ist es auch tatsächlich nicht. Der Versuch, deutliche Grenzlinien zwischen Kulturen, zwischen dem Innen und dem Außen zu ziehen, ist ein weitverbreiteter Irrtum, von dem wir uns unbedingt befreien müssen, wenn wir mit kulturellen Konflikten sachlich angemessen umgehen und grobe Verletzungen von Grundrechten des Menschen nicht leichtfertig in Kauf nehmen wollen. (**) Er missachtet die Vielzahl der für das Leben von jedem Menschen sinnvollen Bezugspunkte. Im Lauf der Lebensgeschichte bilden sich Überzeugungen und Vorstellungen über das gute Leben, die zur eigenen Handlungsbasis werden. Wie wichtig diese sind, können wir der Haltung von Meriam entnehmen. Wenn auch Meriam zu einem Symbol wurde, zählte für sie nur eins: „mein Glaube und die Achtung vor den Grundsätzen, mit denen ich groß geworden und von denen ich fest überzeugt war“. Es kam für sie auf keinen Fall in Frage, den Glauben zu verleugnen, der sie zu dem gemacht hatte, was sie ist, und ihrem Leben einen Sinn verlieh oder die Überzeugung zu verraten, dass sie als Mensch das Recht auf freie Wahl und Ausübung der eigenen Religion hatte. Es ging für sie darum, ihre Ehre und Würde in dieser Angelegenheit zu verteidigen. Es ist ersichtlich, dass Menschen über Überzeugungen und Grundsätze verfügen, die ihrem Leben Sinn verleihen; sie sind bereit sie zu verfechten. Es erscheint von daher fragwürdig, all dies in Klammern zu setzen und nur die Ansicht der dominierenden Gruppe oder der Machthaber als Ausdruck der ‚Kultur‘ einer Gesellschaft zu bezeichnen. Dies tun wir, wenn wir vereinfachend schematisieren. Zu sagen, dass die sudanesische Kultur unter anderem darin besteht, einer Frau 100 Peitschen zu geben, ist für uns nicht nur eine übereilte Schlussfolgerung, sondern auch eine verzerrte Ansicht mit schlimmen Folgen. Wir dürfen uns gegenüber all den Gegenstimmen in diesem Kulturraum nicht taub stellen und uns mit unserem irreführenden und realitätsfernen Dogma der Homogenität bzw. der absoluten Andersheit der Kulturen begnügen. Wir müssen überhaupt der Versuchung eines simplifizierenden Kulturalismus widerstehen,
Ibrahim Inhaftiert und instrumentalisiert“, 15.02.2016, https://www.deutschlandfunk.de/ der-fall-meriam-ibrahim-inhaftiert-und-instrumentalisiert.886.de.html?dram:article_id=345403, abgerufen am 10.04.2017.)
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alles für ‚Kultur‘ oder ‚kulturell‘ zu halten. Diese unbedachten Bezeichnungen und übereilte Betrachtungsweisen generieren mehr Probleme als Lösungen. Dies kann sogar an Respektlosigkeit grenzen. Wo wir es mit Unterdrückung, Unterjochung, Borniertheit bei den Anderen zu tun haben, tendieren wir eher dazu, von ‚Kultur‘ zu sprechen. So kommt man schnell zu unzutreffenden Aussagen wie z.B. die Freiheit sei eben ein kulturspezifischer Wert und, in vorliegendem Fall, ein fremder Wert für die sudanesische Kultur. Schwere Angriffe gegen die Freiheit in unseren eigenen Reihen, wie sie ja in allen Gesellschaften zu finden sind, betrachten wir hingegen als dunkle Seiten unserer Geschichte, aber kaum als Ausdrucke unserer eigenen Kultur. Wieso sollte das nun in der Diskussion um Meriams Fall anders sein? Es wäre abwegig, aus der Tatsache von Hitlers Angriffen gegen bürgerliche Freiheiten und Grundrechte zu schließen, dass der Wert der Freiheit nicht zur deutschen Kultur gehört. Genauso vorsichtig und selbstkritisch müssen wir gegenüber einer Kultur sein, die unter einer die Freiheit verletzenden Herrschaft steht. Wenn Angriffe gegen die Freiheit als kulturell angesehen werden können, dann als Ausdrücke von Vorstellungen (und zwar die der Inhaber von Macht bzw. der dominierenden Gruppe) unter vielen anderen innerhalb einer Gesellschaft. Wenn wir diese Angriffe kritisieren, bringen wir nicht einen neuen Wert (hier: die Freiheit) ins Spiel, der uns spezifisch und fremd für die andere (hier die sudanesische) Kultur im Ganzen ist. Immer wieder muss an Edward W. Saids zutreffende Aussage erinnert werden, dass es überall wo es den imperialistischen Sturm gab, es auch Widerstand gab, d.h. einen klaren Freiheitswillen oder ein deutliches Festhalten am Wert der Freiheit. Wie kann denn dieser Wert kulturspezifisch sein? Wie zutreffend Saids Aussage ist, lässt sich auch mit Aussagen, die Patrice Lumumba in seiner Rede zur Unabhängigkeit des Kongo (1960) gemacht hat, gut illustrieren: „Zwar verkünden wir heute diese Unabhängigkeit des Kongo im Einvernehmen mit Belgien, einem Land, mit dem wir befreundet sind und mit dem wir von gleich zu gleich verhandeln. Aber kein Kongolese, der dieses Namens würdig ist, wird jemals vergessen können, dass diese Unabhängigkeit im Kampf errungen wurde (Beifall), in einem täglich geführten leidenschaftlichen und aufopferungsvollem Kampf, einem Kampf, in dem wir keiner Entbehrung und keinem Leiden entsagt und in dem wir weder unsere Kraft noch unser Blut geschont haben. Wir sind bis tief in unserem Herzen stolz auf diesen Kampf, der unter Tränen, mit Feuer und Blut geführt wurde, denn es war ein selbstloser und gerechter Kampf, ein Kampf, der notwendig war, um die erniedrigende Sklaverei zu beenden, die uns mit Gewalt aufgezwungen worden war. […] Wir haben erfahren müssen, dass uns Land geraubt wurde im Namen vorgeblich legaler Dokumente, die lediglich das Recht des Stärkeren zur Geltung brachten. Wir haben erfahren, dass das Gesetz für Weiße und Schwarze nie gleich war: vermittelnd für die einen, grausam und unmenschlich für die anderen. Wir haben das ent-
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setzliche Leiden derjenigen erlebt, die wegen ihrer politischen Meinung oder religiösen Überzeugung verbannt wurden; zu Isolation im eigenen Land verurteilt war ihr Schicksal wahrhaft schlimmer als der Tod.“871 Lumumbas Kritik im Blick behaltend, wenden wir uns nun der Stellungnahme von Matteo Renzi, dem (ehemaligen) italienischen Präsident des Ministerrats zu, um zu sehen, wie unzulänglich ein Narrativ sein kann: „Wenn Europa angesichts eines Falls wie Meriams, die zum Tode verurteilt worden ist, weil sie ihren Glauben nicht verleugnet hat, und die ihr Kind im Gefängnis zur Welt bringen muss, schwiege oder, schlimmer noch, sich hinter leeren Slogans und rhetorischen Floskeln verstecken und sich weiterhin hinter seinen Grenzen verschanzen würde, statt sich auf seine Werte zu besinnen, dann beginge es Verrat an dem Zweck, zu dem es entstanden ist, und verlöre für immer seine Identität und seinen Platz in der Welt. Und wir wären es nicht mehr wert, uns Europa zu nennen.“ (Die Zeit, n°4, 21. Januar 2016). Diese Rede ist zwar lobenswert angesichts dessen, was sie erreichen will, aber sie basiert auf der Annahme von scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die eigentlich keine sind. Der Kampf um die Freilassung von Meriam ist nicht ein Kampf um einen europäischen Wert. Denn welches ist denn der Zweck, zu dem Europa entstanden ist, der durch entsetzliche Kriege, Versklavung, Entfremdung usw. in Europa noch nicht verraten wurde? War dies nicht genug, um diese aus anderen Zeiten stammende politische Rhetorik zunichte zu machen und zur Ernüchterung zu führen? Welcher ist denn der Zweck und der Platz Europas in der Welt? Und was ist Europa? Ist es eine getrennte und in sich einheitliche Entität, die ex nihilo, d.h. außerhalb von vielfältigen Austauschbeziehungen mit anderen, entstanden ist? Bringen wir Renzis Stellungnahme in einen Zusammenhang mit Lumumbas Zitat; sie sind ja auch zeitlich nicht weit voneinander entfernt: Auffallend ist, dass in Bezug auf das Thema ‚Absprechen von Rechten wie Freiheit‘ Europa872 die Seite gewechselt hat. Es saß auf der Anklagebank bei Lumumba („Wir haben das entsetzliche Leiden derjenigen erlebt, die wegen ihrer politischen Meinung oder religiösen Überzeugung verbannt wurden...“), aber bei Renzi ist nun Europa der Ankläger und Besserwisser (auf der Anklagebank wird es durch Umar Hasan Ahmad al-Baschir, den sudanesischen Präsidenten, ersetzt); er hat sogar einen Auftrag, einen Zweck in der Geschichte. Anstelle von angemessener Bescheidenheit zeigt sich Arroganz. Renzi kann sich an den Zweck der Geburt Europas erinnern, aber nicht an die koloniale Realität, die in der Erinnerung doch noch frischer sein sollte. Auch
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P. Lumumba, „Zur Unabhängigkeit des Kongo Rede des 30. Juni 1960“ (Übersetzung von J. Janz), https://skynetblog.de/rede-von-patrice-lumumba/, abgerufen am 08.06.2016. Der Begriff Europa wird hier didaktisch oder strategisch in dem pauschalisierenden Sinne von Renzi weiter verwendet, um etwas zu verdeutlichen. Uns ist eigentlich die Vielstimmigkeit, die Heterogenität innerhalb von Europa sowie von anderen Kontinenten ein klarer Fakt.
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Lumumba war ein Freiheitskämpfer nicht gegen al-Bachir oder seine Vorgänger. Angesichts von Renzis Aussagen kann man Joas nur zustimmen, wenn er in puncto Menschenrechte jeglichen kulturellen Triumphalismus (in diesem als „ein fest gegründeter Besitz erscheinen, der die Überlegenheit der eigenen Kultur unter Beweis stellt“) kritisiert und gesteht, „in der Rede von den ‚europäischen Werten‘ […] häufig weniger die Herausforderung zur Selbstkritik und mehr den Tonfall sicheren Besitzes“ zu hören.873 Jetzt stellt sich wieder unsere Standard-Frage: Wieso soll die Freiheit im Meriam-Fall ein westlicher Wert sein, nicht aber ein afrikanischer im Lumumba-Fall? Lumumba hätte mit Verweis auf die Fakten ja auch analog zu Renzi behaupten können: „Diese Unabhängigkeit wurde im Kampf errungen, in einem täglich geführten leidenschaftlichen und aufopferungsvollen Kampf. Wir sind bis tief in unserem Herzen stolz auf diesen Kampf, denn es war ein selbstloser und gerechter Kampf, ein Kampf, der notwendig war, um die erniedrigende Sklaverei zu beenden, die uns mit Gewalt aufgezwungen, den Europäern [hier wird bewusst pauschalisiert!] Werte wie Gleichheit und Freiheit beizubringen und sie auch den nicht zu verratenden Zweck zu lehren, zu dem Afrika entstanden ist; wenn Afrika dies nicht macht, verlöre es für immer seine Identität und seinen Platz in der Welt. Und wir wären es nicht mehr wert, uns Afrika zu nennen.“874 Wir können uns gut vorstellen, dass diese fiktive
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H. Joas, Sind die Menscherechte westlich? München, 2015, S. 80. Eine Fortsetzung in der Fantasie wäre z.B.: Renzi antwortet Lumumba mit dem Hinweis: „Wir kannten diese Werte schon. Unsere Väter – les Lumières – haben sie schon betont. Also, nicht nur kannten wir sie, sondern wir haben sie für alle Menschen erklärt. Das ist großartig. Ehre, wem Ehre gebührt.“ Worauf Lumumba erwidert: „Sie kannten sie, ja, aber trotzdem haben Sie sie vielen Menschen in der Welt abgesprochen, d.h. wenn sie von allen (Menschen) reden, sprechen Sie nicht von uns und auch nicht von den Frauen in Ihrem Kulturraum. Also, Verräter sind Sie schon. Es ist daher zu spät zu sagen – wie Sie im Meriam-Fall –, dass Sie sich auf Europas Werte besinnen sollten, weil Sie sonst Verrat an dem Zweck begingen, zu dem Europa entstanden ist.“ Renzi: „Na ja, das ist nur ein Fauxpas. Immerhin sind wir es, die die Welt über die Menschenrechte unterrichtet haben. Uns allein kommt ein ganz spezifischer Ehrenplatz zu.“ Lumumba: „Es stimmt, dass die Lumières von Menschenrechten gesprochen haben. Aber sie sind weder die einzigen noch die ersten. Ihre Erzählung ist nur eine unter zahlreichen. Haben Sie schon von der Charta von Manden gehört?“ Renzi: „Noch nie!“. Lumumba: „Vielleicht auch nicht Ihr Geschichtslehrer. Über die Orientierung und die Gestaltung des Geschichtsunterrichts in Ihren Schulen können wir ein anderes Mal reden. Die Charta von Manden (1215) ist die älteste Erklärung grundlegender Menschenrechte (wie der Unantastbarkeit menschlichen Lebens, von Gerechtigkeit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Freiheit, also Abschaffung der Sklaverei) und wurde zum Kulturerbe der UNESCO erklärt. Das ist nur ein Aspekt unter vielen anderen. Kurzum, das Nachdenken darüber, was menschliche Freiheiten sind, ist auch in anderen Kulturen zu finden. Wir, sowie die Asiaten, die Lateinamerikaner... wollen keinen Anspruch auf einen Sonderplatz in der Weltgeschichte erheben wie Sie es machen. Es gibt keinen Grund, Ihre dominierende Erzählung für die Erzählung zu halten.“ Diesen Austausch können wir nur mit dem Hinweis abschließen, dass Werte wie Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit nicht kulturspezifisch sind. Sie sind in verschiedenen Traditionen der Welt
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Behauptung Lumumbas bei Renzi sowie bei vielen Menschen Entrüstung auslösen würde. (Beim belgischen König, der während der tatsächlich gehaltenen Rede neben Lumumba saß, war dieser Effekt sowieso da, auch wenn es nur um eine mildere Version ging.) Wieso dürfen die anderen nicht auch so sprechen, als ob es ein Monopol für diese Anmaßung gäbe oder man allein eine besondere Erlaubnis bekommen hätte? Hat man aus der Menschheitsgeschichte nicht gelernt, dass die Verharmlosung und Verheimlichung des Bösen in der eigenen Kultur sich stets vollzog durch seine Scheinrechtfertigung im Namen der ‚Zivilisierung‘, ‚Bildung‘, d.h. einer großen heroischen Aufgabe im Dienste der Menschheit? Renzis Stellungnahme ist ein klares Beispiel dessen, was sich unter dem Begriff „Ego der Zivilisation bzw. Kultur“ fassen lässt. Immer wieder hält man sich für den Nabel der Welt. Man versucht jederzeit, das Eigene überzubetonen und seine Verstrickung mit dem Fremden zu leugnen. Dies ist ein ständiges Problem in der Thematik der Fremdheit bzw. der Identität. Man kann nicht von Identität ohne deren Entstehungsgeschichte sprechen. Und die Entstehungsgeschichte verweist auf undurchschaubaren Beziehungen oder Verflechtungen. Dies gilt sowohl für die persönliche Identität als auch für die kollektive Identität. Matteo Renzi ist anscheinend noch beeinflusst vom Ethnozentrismus nicht nur im allgemeinen Sinn, sondern auch im engeren Sinn von ‚philosophischen Eurozentrismus‘. Dieser stellt – wie mit Waldenfels gesehen – Europa als den geographischen Namen der Vernunft dar. Er bekämpft das Fremde nicht nur, weil es ihm fremd ist, sondern der gerechten Vernunft bzw. dem gerechten Glauben. Vorstellungen wie die von Renzi sind diejenigen, die den Kulturalisten (Relativisten) Gründe liefern, eine kulturübergreifende moralische Beurteilung abzulehnen. Denn sie räumen Europa eine Sonderrolle ein, die es nicht hat: Wir setzten uns für die Freiheiten von Meriam, nicht ein weil dies eine ganz spezifische moralische Ansicht Europas ist, sondern den moralischen Intuitionen des Menschen entspricht. Nicht nur Europäer waren empört über die Verurteilung und besorgt um das Schicksal dieser Mutter. Innerhalb und außerhalb von Sudan gab es Reaktionen. Mit der Aussetzung der Strafe und der Freilassung von Meriam verwirklichte sich nicht der Zweck Europas, sondern eine Aufforderung unserer menschlichen moralischen Gefühle und ein Gebot der Vernunft. Nicht ein europäischer Wert hat gewonnen, sondern die Menschlichkeit. Wenn verankert. Sie sind Werte, die die Menschen als Menschen schätzen, auch wenn sie damit in der Wirklichkeit nicht immer gut umgehen. Daher ist der Schluss von Arno Widmann zu seinem Artikel „Charta von Mandén: Kein Mensch soll Sklave sein“ („Ein König, der die Sklaverei verbot, und den wir im Westen nicht kennen: Soundiata Keita aus Mali veranlasste die Charta und den Eid von Mandén, die nun zum Unesco-Weltkulturerbe gehören“) sehr einsichtig: „Wie auch immer aber die Entstehungsgeschichte der Charta von Mandé aussehen mag, ihr Text macht deutlich, dass die Menschenrechte kein westlicher Import sein müssen, sondern sich auch in Afrika auf einheimische Traditionen berufen und stützen können. Die Charta von Mandén wurde begleitet – so lautet die Überlieferung – vom Eid von Mandén. Er ist deutlich radikaler. Er schafft auch die Sklaverei selbst und nicht nur die Versklavung von Gefangenen ab.“ http://www.fr.de/kultur/theater/ charta-von-manden-kein-mensch-soll-sklave-sein-a-1068178 (abgerufen am 10.1.2017)
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Universalismus, dann ohne seine europäische Voreingenommenheit. Genau aus dieser Perspektive heraus wurde im vorigen Kapitel die Frage nach den Menschenrechten behandelt. Renzi scheint sich vor der Unbequemlichkeit zu hüten, dass Europa im moralischen Bereich nicht mehr auf den deutlich zugeschnittenen Nenner einer ‚Leitkultur‘ gebracht werden könnte. Mit diesem ethnozentrischen Zug wandelt er auf den Spuren der Lumières (wie Voltaire) sowie Victor Hugos875 et alii, deren Vorstellungen und Weltanschauungen bezüglich der Sklaverei und der Kolonisation Pseudolegitimationen und lügenhafte Narrative mit sich brachten. Die imperialistische Ansicht – auch wenn unreflektiert – charakterisiert eine leichtsinnige und abartige Art, mit dem Anderen umzugehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich auch in einer gemilderten Form hinter einer Theorie verschanzt, die beansprucht, nur auf diejenigen Gesellschaften bezogen zu sein, die Freiheit als Grundwert betrachten, und damit nur die westlichen Gesellschaften meint. Fragt man, welche diese Gesellschaften sind, die die Freiheit nicht als einen Grundwert betrachten, sieht man sofort, dass die deutliche Grenzlinie, die man hier zwischen Gesellschaften ziehen will, problematisch ist. Selbst der Sudan erkennt die Freiheit als Grundwert in seiner Verfassung an. Und auch wenn dieser Absatz entfernt würde, folgt daraus nicht, dass Menschen in dieser Gesellschaft die Freiheit und ihre Bedeutung nicht kennen und gut schätzen können. Die Gesellschaften haben zwar unterschiedliche Erfahrungen und sind sich nicht gleich (dies gilt auch innerhalb des ‚Westens‘), aber man kann sie nicht völlig voneinander unterscheiden. Denn bevor man z.B. die Freiheit als spezifisch westlichen Wert betrachtet, muss man sich schon mit der Frage nach dem Verhältnis des Westens zur Unfreiheit nicht nur innerhalb von westlichen Gesellschaften, sondern auch außerhalb von ihnen auseinandersetzen. Es gibt also viele Gründe, aus denen Renzis Erzählung (seine Selbst-Erzählung) im Rahmen einer Überlegung über die Verschränkung zwischen Eigenem und Fremden nicht unkritisch rezipiert werden kann. Nicht der Bezug auf Europa ist hier problematisch – (eine Berufung auf eine Erfahrung in der Geschichte von Italien, Frankreich bzw. Europa ist vollkommen in Ordnung. Wieso nicht? Wir lernen voneinander) –, sondern die Ausnutzung eines Falls, in dem die Menschheit betroffen ist, um Werbung für Europa bzw. eine ideologische Vorstellung von Europa zu machen. In unserer Reflexion wird die kulturübergreifende Kritik zugunsten von Meriam nicht von einer europäischen Idee oder vom Standpunkt der vermeintlich aus Europa importierten Werten aus, sondern von dem Standpunkt der Menschheit bzw. dementsprechenden Selbstverständnissen (compréhensions de soi) aus versucht. Wir verweisen dabei auf Gemeinsamkeiten und Durchdringungen, die unsere gegenseitigen Beziehungen charakterisieren. Im Fall von Meriam besteht ein Grundstein für eine kritische Beurteilung schon in der Tatsache, dass der Artikel 38 der sudanesischen Verfassung von 2005 die Glaubens- und Religionsfreiheit festschreibt. Daran konnten sich nach ihrer Verhaftung viele Proteste und Reaktionen auf der nationalen und internationalen Ebene festmachen, z.B. die Erklärung des „Internal Province of
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Auf ihn wird in der These 3 zurückgekommen.
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the Episcopal Church of Sudan“, des Weltrats der Kirchen (WCC), des Vatikans, usw. Alle diese Reaktionen zeigen, dass internationale Menschenrechtsnormen und die sudanesische Verfassung gut miteinander zusammengehen können. Dies ist ein Hinweis für all diejenigen, die dem Reiz erliegen, den Pluralismus der Kulturen an den Pluralismus der Werte auf schematisierte Weise anzugleichen, als ob wir in Meriams Fall unbedingt Werte vertreten, die völlig unterschiedlich und fremd zu diesem Kulturraum sind. Wo sind diese Grenzen, die die sudanesische Kultur von der unseren absolut unterscheiden und die Ansicht begründen sollen, dass wir hier keine Kritik üben dürfen, da sie auf absolut unterschiedlichen oder fremden Wertvorstellungen basiert? Die Zugehörigkeit zu einem anderen Kulturraum stellt kein unüberwindbares Hindernis dar. Die kulturübergreifende Kritik kann nicht a priori als hinfällige oder einfache Kritik von Außen abgestempelt werden. Dies bedeutet, dass auch wenn der Machtinhaber die Verfassung ändert und einen Artikel einfügt, der die Hinrichtung von Meriam legalisiert, wir immer gültige moralische Beurteilungen fällen können. Denn Kulturen sind keine Kerker, keine Blasen. Sie verweisen auf Gemeinsamkeiten, so dass eine strikte Trennung vom Innen und Außen nicht möglich ist. Kritik dient dem Menschen und seinen Rechten. Sie ist also sehr wichtig und kann als Zeichen der Nähe und Solidarität angesehen werden. Sie zeigt auch, dass Menschen in Bezug auf ihre moralischen Gefühle nicht so absolut unterschiedlich sind wie in der Logik der Schematisierung vorausgesetzt wird. Für die Menschen in der Welt ist es einfach unvorstellbar, dass eine 27-jährige schwangere Mutter hingerichtet werden soll, weil sie es abgelehnt hat, ihrer Religion abzuschwören. Wieso unvorstellbar? Viele Antworten sind hier möglich. Den oben dargestellten Reaktionen der diplomatischen Vertretungen weltweit können wir entnehmen, dass das Urteil des sudanesischen Richters die internationalen Gesetzgebungen sowie die sudanesische Verfassung selbst verletzte. Aber diesseits all dieser Reaktionen mit Bezug auf einen Text oder Kodex, sind tiefgreifendere moralische Gefühle – unserer Reflexion anhand von Taylors Begriff starker Wertungen erläutert – zu erkennen. Es kann natürlich gefragt werden, wie bei dieser starken menschlichen Wertebasis die offensichtliche Unbarmherzigkeit der staatlichen Autoritäten gegenüber einer schwangeren Frau erklärt werden kann? Der amerikanische Sozialpsychologe Stanley Milgram ist – wie der Titel seines Buches schon deutlich erklärt876 – auf die Frage eingegangen, wie und warum Menschen bereit sind, fragwürdigen Anordnungen ihrer Vorgesetzten zu gehorchen; sie tun dies sogar, wenn es um grausame Anweisungen geht. „Wie war es möglich“ – fragt in diesem Zusammenhang U. Günther –, „brave und biedere Bürger für die Ermordung unschuldiger Männer, Frauen und Kinder zu gewinnen? Warum gehorchten sie den Anordnungen ihrer Vorgesetzten und nicht den moralischen Prinzipien, die ihr
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S. Milgram, Das Milgram-Experiment: Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Hamburg, 1985.
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sonstiges Leben bestimmten?“ 877 Erlauben die Verbrechen der Nationalsozialisten den Schluss, dass die Deutschen im Unterschied zu anderen Völkern besonders obrigkeitshörig sind? Milgrams Anliegen bestand hauptsächlich darin, die verbreitete ‚Germans-are-different‘-Aussage zu hinterfragen. Am Ende ging es angesichts der Ergebnisse aber nicht mehr um die Deutschen, sondern um die Menschen an sich, so dass die Fortsetzung der Untersuchung in Europa nicht mehr notwendig war. Meyer stellt dies deutlich dar: „In the beginning, Stanley Milgram was worried about the Nazi problem. He doesn’t worry much about the Nazis anymore. He worries about you and me, and, perhaps, himself a little bit too. Stanley Milgram is a social psychologist, and when he began his career at Yale University in 1960 he had a plan to prove, scientifically, that Germans are different. The Germans-are-different hypothesis has been used by historians, such as William L. Shirer, to explain the systematic destruction of the Jews by the Third Reich. One madman could decide to destroy the Jews and even create a master plan for getting it done. But to implement it on the scale that Hitler did meant that thousands of other people had to go along with the scheme and help to do the work. The Shirer thesis, which Milgram set out to test, is that Germans have a basic character flaw which explains the whole thing, and this flaw is a readiness to obey authority without question, no matter what outrageous acts the authority commands. The appealing thing about this theory is that it makes those of us who are not Germans feel better about the whole business. Obviously, you and I are not Hitler, and it seems equally obvious that we would never do Hitler's dirty work for him. But now, because of Stanley Milgram, we are compelled to wonder.“878 Ignorieren Menschen, die ungerechte Anweisungen ausführen, moralische Prinzipien oder moralische Werte? Nein, lautet das Ergebnis der Studie. Mittels Experimenten wird gezeigt, dass das Gehorchen durch das Delegieren von Verantwortung und die partielle Auflösung der Ich-Identität, dadurch dass man eine Rolle innerhalb eines Systems übernimmt, bedingt ist. Das System verlangt z.B. Disziplin oder Loyalität. Weder ein möglicher Sadismus noch ein aggressiver Charakter von Menschen sind hier Ursachen des Gehorchens, sondern das System, innerhalb dessen sie handeln. Anders gesagt, auch nette oder normale Menschen sind fähig, grausame Anweisungen ausführen. Nicht selten sehen wir Menschen, die ungerechte Anweisungen ausführen, ihre Opfer um Verständnis bitten. Allerdings zeigen manche kein schlechtes Gewissen. Aber dies liegt unter anderem daran, dass ihnen ideologisch beigebracht wird, dass sie einem höheren Ziel dienen, so dass sie das Gefühl haben, etwas
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U. Günther, „Gehorsam bei Elektroschocks. Die Experimente von Milgram“, in D. Frey, S. Greif (Hg.), Sozialpsychologie, München, 1987, S. 445. P. Meyer, „If Hitler asked you to electrocute a stranger, would you? Probably“, J.M. Henslin, Down to Earth Sociology. Introductory Readings, New York et al., 2007, S. 269f.
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Guten zu tun. Die Ideologie unterdrückt das Mitgefühl.879 Sie beeinträchtigt die Sicht. Ein Experiment wie das von Milgram kann die historischen Umstände eines autoritären Regimes und andere Faktoren z.B. die Dauer der Misshandlung zwar nicht wiedergeben. Daher muss jede Pauschalisierung und voreilige Extrapolation in die reale Welt vermieden werden. Eine andere Lesart macht auch darauf aufmerksam, dass das Milgram-Experiment im Spiegel der Zeit, und zwar in Anbetracht der damaligen Beziehungen zu Autoritäten und Wissenschaftsgläubigkeit betrachtet werden sollte. Ob dies einen großen Unterschied macht, kann allerdings mit guten Gründen bezweifelt werden. Denn dieses Experiment hat durch Replikationen und unter veränderten Bedingungen keine signifikanten Unterschiede in den Ergebnissen gezeigt. Das im Jahr 2006 erneut durchgeführte Experiment durch den Psychologe Jerry M. Burger von der Santa Clara University in Kalifornien hat im Wesentlichen zu denselben Schlussfolgerungen geführt.880 45 Jahre des Wandels der Gesellschaften und Mentalitäten (mit z.B. der Verstärkung des kritischen Potentials gegenüber von Autorität, also der Verstärkung der negativen Bedeutung des Gehorsams in der westlichen Gesellschaften, der vermeintlich nicht kollektivistisch orientierten Kulturen) haben nicht verhindert, dass sich zwei Drittel der Versuchsteilnehmer entgegen ihren Moralvorstellungen zu Folterern ihrer Mitmenschen machen lassen. Selbst die Anwesenheit einer dritten Person (eines Schauspielers in der Rolle des ‚Bedenkenträgers’), die sich von den schmerzhaften Erlebnissen des Opfers betroffen zeigen sollte, haben die Versuchsteilnehmer wider Erwarten nicht davon abgehalten, weiterhin gehorsam ihre Folterungen durchzuführen. Es hat sich durch verschiedene Replikationen herausgestellt, dass das Alter, das Geschlecht, die Religionen sowie die Kulturen hier offenbar keinen Unterschied gemacht haben. Weltweit unterschiedliche Varianten des Milgram-Experiments untermauern und bereichern die ursprünglichen Schlussfolgerungen. Wie Bierbrauer urteilt, sind „[m]oralische Standards und kulturelle Werthaltungen [...] offenbar grundsätzlich von einem weit geringeren Einfluss auf unser Verhalten als die unmittelbare Situation“. 881 Die Ergebnisse des Milgram-Experiments haben sich also als kulturübergreifend gültig erwiesen. Auch in fremden Kulturen waren sie grosso modo die gleichen. Sie verdeutlichen eine Tendenz des Menschen
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„Das Böse beginnt dann, wenn der Mensch sich nicht in andere hineinfühlt“, wie der Gerichtspsychiater Reinhard Haller sagt. Gespräch mit U. Timm, 02.04.2012 https://www.deutschlandfunkkultur.de/ das-boese-beginnt-dann-wenn-der-mensch-sich-nicht-in-andere.954.de.html?dram:article_id= 147128, abgerufen am 12.11.2016. Siehe J. M. Burger, „Replicating Milgram: Would people still obey today?“, in American Psychologist, 64, 2009, S. 1–11. G. Bierbrauer, „Das Milgram-Experiment. Die schockierende Gehorsamkeits-Studie wurde wierderholt“, in Süddeutsche Zeitung, 290 (16.12.2009), S. 12. Siehe auch H. B. Lüttke, „Experimente unter dem Milgram-Paradigma“, in Lüttke, H. B., in Gruppendynamik und Organisationsberatung, Bd. 35, 4(2004), S. 431-464.
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zur Gehorsamkeit unter bestimmten Bedingungen. Sie bereichern aber auch unsere Überlegungen: Sich gegen eine Autorität, und besonders eine repressive Autorität, aufzulehnen ist nicht einfach. Viele Menschen können gegen ihre Einstellung Handlungen ausführen, die eine Autoritätsperson von ihnen verlangt. Milgrams Studie liefert interessante sozialpsychologischen Erkenntnisse über diese düstere Seite der Menschen. Die Versuchsteilnehmer in dieser Studie haben den Anweisungen des Versuchsleiters (z.B. „Machen Sie weiter bitte!“, „Sie können jetzt nicht mehr aufhören!“...) gehorcht und dafür den Verstoß gegen ihre eigenen Wertvorstellungen in Kauf genommen. Das Verdienst der Milgram-Studie 882 besteht darin, dass sie uns unausweichlich zum Nachdenken über weitere Aspekte der Unterwerfungs- bzw. Gehorsamsbereitschaft des Menschen führt. Die Geschichte hat zu Genüge gezeigt, wie destruktiv eine leidenschaftslose Bürokratie und wie grausam Menschen im Dienste einer vermeintlichen wichtigen Aufgabe, z.B. Soldaten, die Polizei und „banale Beamte“ (Arendt)883 – in Demokratien wie in Diktaturen sein können. Im Dienste der Gesellschaft, der Nation, der Religion usw. sind Menschen fähig, den Mitmenschen große Leiden zuzufügen oder sogar deren Tod zu verursachen. Das System deckt dabei alles. Aussagen wie „Geschäftsfrage. Das menschliche Leben hat keine Bedeutung“, „es interessiert niemanden. Ich bin bezahlt. Basta! (Schluss!)“, „Ich musste es tun“, usw. sind uns wohl bekannt. Man verdrängt jede kritische Überlegung, jede moralische Einsicht und sein Gewissen und spielt weiter seine Rolle in einem und für ein System. Die Milgram-Befunde führen uns einen beunruhigenden Aspekt des menschlichen Tuns vor Augen: Menschen sind in der Lage, Mitmenschen zu misshandeln bzw. zu töten, wenn dies ihnen eine Autorität eindringlich befiehlt. Die kulturübergreifende Gültigkeit dieser Ansicht ist kaum zu bezweifeln. Die Ja-Sager sind in allen Kulturen zu finden. Ihr vergleichbares Verhalten ist das Ergebnis einer situativen Macht. Diese Ja-Sager sind in Deutschland, in den USA, in Sudan, usw. zu finden. Die Beamten, die Meriam gewaltsam verhaften, gefangen halten usw., ignorieren weder die Verfassung bzw. deren Artikel 38 (der die religiöse Freiheit behauptet) noch die moralischen Grundwerte. Sie wissen all dies,
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Eine neue Interpretation vom Milgram-Experiment bringen Forscher in der neuesten Ausgabe des Fachmagazins "British Journal of Social Psychology", nachdem sie Rückmeldungen von Versuchsteilnehmern aus den Archiven der Uni Yale ausgewertet haben. Diesen Forschern nach wurden Stromschläge nicht aus Gehorsam, sondern aus Überzeugung, das Richtige im Dienste der Wissenschaft zu tun, verabreicht. Aber nach wie vor bleibt der Aspekt der ‚blinden Gehorsamkeit‘ (in einer Überzeugung oder unter einer machtvollen Autorität) im Mittelpunkt. S. A. Haslam et al., „‚Happy to have been of service‘: The Yale archive as a window into the engaged followership of participants in Milgram's ‚obedience‘ experiments“, in British Journal of Social Psychology, Bd. 54, 1(2015), S. 55-83. H. Arendt stellte mit diesem Ausdruck (sowie mit dem von „Schreibtischtäter“) viele Naziverbrecher als Vollstrecker von üblen Befehlen (aber nicht in Eigenverantwortung), normale Verwaltungstäter dar. Auf wen sich der Begriff anwenden lässt, wurde selbstverständlich viel diskutiert.
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aber sie tun, was sie (nicht) tun (dürften), weil sie in einem System handeln. Sie sind bereit, sich einer Autorität zu beugen und alle ihre Anordnungen zu befolgen. Sie gehorchen einem Befehl, aber nicht dem Gesetz oder der Verfassung; sie sind autoritätshörig, aber keine gesetzestreuen Bürger. Im Rahmen unserer Überlegungen sind die Milgram-Befunde von großer Bedeutung, da sie sie uns einen weiteren Grund an die Hand geben, die kulturalistische Schematisierung von moralischen Werten wie der Freiheit zurückzuweisen. Wir haben es im Meriam-Fall mit einem unmoralischen bzw. verfassungswidrigen Befehl, einer unmoralischen Handlung, der Neigung zum Gehorsam des Menschen usw. zu tun, aber nicht mit einem Kulturraum, dem ein Wert wie die Freiheit fremd ist, so dass wir ihn dort nicht fördern bzw. fordern dürfen, um die kulturelle Identität von Angehörigen dieser Kultur nicht zu verletzen. Es gibt zwar kontextuelle Faktoren, die von uns zu beachten sind, aber keinen überzeugenden Grund, die Unfreiheit, das folgenschwere Ausliefern der Menschen an die Willkür einer Autoritätsperson als wertvoll für eine Kultur anzusehen bzw. gutzuheißen. Die Aussage „sehen Sie, diese Bevölkerung ist folgsam unter diesen Bedingungen, also ihre Situation ist gut für sie und die Unterwerfung ein Wert in diesem Kulturraum“ deutet vielmehr auf eine Ignoranz, und Verachtung hin. Sie kann auch naiv sein, aber dabei den Zwecken und Interessen der Machthaber dienen. Nicht ohne Grund macht Antweiler darauf aufmerksam, wie schnell die Überbetonung von Unterschieden, also der übertriebene Kulturrelativismus, in Kulturrassismus umschlagen kann. „Der alte Rassismus hat gesagt: Wir leben in einer Welt, aber wir sind verschiedene Menschen, die gelben, die schwarzen, die roten und so weiter. Der Ultrarelativismus sagt: Wir sind alle Menschen, aber leben in völlig verschiedenen Welten, sprich Kulturen. Im Extremfall wird dann behauptet, die Kulturen seien inkompatibel und könnten sich nicht verständigen. Das ist wissenschaftlich nicht fundiert und politisch gefährlich.“884 Daher wird in unseren Überlegungen, die den Menschen in den Mittelpunkt rücken, nicht nur die missbrauchte Autorität für gefährlich gehalten, sondern jede Ideologie. Es geht sowohl um die Ideologie, mit der sich die Machtausübung innerhalb einer Gesellschaft legitimiert, als auch die Ideologie, die vom Außen kommt. Sie braucht einen bestimmten Stand der Dinge, um ein politisch und wirtschaftlich interessiertes Handeln zu rechtfertigen. An dieser Stelle wurde z.B. Huntington von vielen Autoren zu Recht dafür kritisiert, dass er nicht überzeugend beweisen konnte, dass die verschiedenen heutigen Kriege, die er als Bruchlinienkonflikte versteht, auf kulturelle Differenzen als Hauptursache zurückzuführen seien. Zwar hat sich seine Warnung vor einer irenischen Ansicht der Weltgeschichte, derzufolge auf das Ende des Kalten Krieges eine friedliebende Zeit folgt, als richtig erwiesen. Taten wie Terroranschläge unter der Ägide der Religion bestätigen dies. Aber all das ändert nichts an der Tatsache, dass nicht (oder nicht nur) der Glaube und die Kulturen Motor der 884
C. Antweiler, „Ich warne vor Kultur-Rassismus“, a.a.O.
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heutigen Kriege sind. Huntingtons Prophezeiung unterliegt einer simplifizierenden Fehleinschätzung: Um was kämpfen die Terrorgruppen? Und welche Bevölkerungen sind zum Großteil Opfer ihrer Schläge? Es sind sicherlich Menschen im Mittleren Osten und in Nordafrika. Der ZEIT- Herausgeber Josef Joffe hat dies wie folgt auf den Punkt gebracht: „Sein endlos zitierter Satz – ‚Der Islam hat blutige Grenzen’ – stimmt bei näherem Hinsehen nicht. Denn die ‚blutigen Grenzen’ verlaufen nicht zwischen Orient und Okzident, sondern quer durch die islamische Welt, die sich vom Hindukusch bis zum Atlasgebirge zieht. Den blutigsten Kampf der Kulturen führt der Islam gegen sich selber. Allein die Statistiken widerlegen Huntington en masse. In sechs Kriegen gegen die Araber seit 1948 hat Israel knapp 13.000 Menschen verloren. Doch den längsten und grausamsten Krieg in Nahost haben zwei Staaten ausgefochten, die demselben Gott huldigen: der Irak und der Iran, acht Jahre lang, mit einer Million Toten…] Die islamistischen Attacken in Europa – 147 Tote im letzten Jahr, 96 in diesem – muten dagegen wie Zufallsabweichungen von der Norm an. Solche Horrortaten kriegen zwar tagelang die Schlagzeilen wie zuletzt in Nizza und Berlin, aber sie verstellen den Blick auf die blutgetränkten ‚Bruchlinien’, die den Islam zwischen Istanbul und Islamabad zerreißen …]885 Es wäre gewaltig irreführend und oberflächlich, in allen diesen kriegerischen Situationen nicht primär Machtinteresse und den Machtkampf von Staaten bzw. verbundenen Staaten zu erkennen und sich nur auf ihre religiöse und kulturelle Lackierung zu fixieren. Nicht die Religionen und Kulturen treiben diese Kriege an. Sonst wären muslimische Staaten in der durch die USA organisierten Koalition nicht zu zählen. Religionen und Kulturen sind nicht Kriegsmotor, sondern – mit Joffe gesprochen – „Kraftverstärker, wie Steroide im Sport“. Wer in diesen „ideologieverstärkten Kriegen“ vor allem „Inbrunst“ sieht, statt Machtinteresse, irrt sich gewaltig. All dies führt uns wieder auf die Notwendigkeit einer reflektierten Erziehung aus interkultureller Sicht zurück. Eine der heutigen wichtigen Aufgaben der Erziehung besteht unter anderem darin, die Angst vor dem Fremden zu überwinden. Denn eine derartige Angst trägt dazu bei, die Ost-West-Opposition zu verhärten und verleitet zu der offenbar falschen Annahme, dass die gegenwärtigen Gewalttaten bloß auf die Unterschiede zwischen Kulturen zurückzuführen sind. Dabei bleiben viele Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen unterbelichtet. Eine Frage rückt hier in den Mittelpunkt: Wieso ist das Zusammenleben zwischen Christen, Moslem, Orthodoxen und anderen Bürgern mit oder ohne religiöse Konfession in vielen afrikanischen Ländern friedlicher? Es lässt sich eine Atmosphäre der Offenheit und Fruchtbarkeit im Umgang mit Menschen von einer großen Vielfalt religiöser Zugehörigkeiten feststellen? Angehörige traditioneller Religionen usw. leben dort friedlich zusammen, teilen sich oft als Nachbarn dasselbe Grundstück usw. Unterschiede und deren Symbole
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J. Joffe, „Der Prophet, der brilliant danebengriff“, in DIE ZEIT, Nr. 1, 29.12.2016, S. 43.
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(z.B. Kleidungen) sind zwar sichtbar, aber sie machen das Zusammenleben nicht unmöglich. Man diskutiert darüber, nimmt sie mit Humor oder übergeht sie einfach. Streit gibt es natürlich auch, aber nicht als Auswirkungen der Religion, sondern als normale Tatsachen des sozialen Zusammenlebens. Diese Faktenlage kontrastiert mit der Darstellung des Verhältnisses zwischen Religionen und Kulturen, die in vielen westlichen Ländern die Schlagzeilen und öffentlichen Diskussionen beherrscht. Es geht aber doch um dieselben Religionen wie in Afrika. Dennoch ist hier eine Rede wie die vom Krieg oder clash zwischen Religionen oder Kulturen völlig fehl am Platz. Das vermeintlich tiefe gegensätzliche Verhältnis zwischen Christen und Moslems wird dort vielerorts als ein fremdes Thema erlebt. Durch solche und ähnliche Beispiele kann man schon sehen, dass Gegensätze oder Polarisierungen konstruiert und zugespitzt werden. Die Gegensätze scheinen häufig eher ausgespielt als real. Wer hat Interesse daran, dass sich Menschen kulturell und religiös für absolut unterschiedlich und entgegensetzt halten? Gehören die Einführung und Propagierung der Rede vom ‚Krieg zwischen den Kulturen‘ nicht zum Bereich politischer Strategien, ein feindorientiertes Handeln zu fördern, so dass das Vakuum jenseits des kalten Krieges von einem neuen globalen Feindbild erfüllt werden konnte? Der französische Schriftsteller und ehemalige Staatsbeamter Pierre Conesa spricht auf Basis dieser These in seinem Buch „La fabrication de l´ennemi“ (das Feind-Machen) vom Feind als einer bewussten politischen Entscheidung. Es ist keine Frage des Krieges, aber die Konstruktion von Feindseligkeit durch verschiedene Mittel wie kulturelle Stigmatisierungen, militärische schamlose Lüge, eine breite Palette von nicht verifizierbaren Vorwürfen wie der Feind sei Feind der Freiheit oder Demokratie usw. Diese Aufgabe übernehmen, so Conesa, viele bedeutende Akteure wie Strategie-Experten, Geheimdienste, Think Tanks, Medien und andere Meinungsmacher. Dies bedeutet für uns, dass wir immer wieder sehr kritisch sein müssen, um die unter dem Deckmantel der Kulturen oder Religionen versteckten strategischen Interessen, ausfindig zu machen. Sich auf die Schlagzeilen und das Sensationelle zu verlassen ist – wie wir der folgenden Aussage von Antweiler entnehmen können – naiv und stellt ein Hindernis auf der Suche nach wirksamen und zukunftsorientierten Lösungen für ein friedliches Zusammenleben dar. „Die meisten sogenannten ethnischen Konflikte haben andere Ursachen, etwa Benachteiligung oder Ressourcenknappheit. Typisch sind die Bürgerkriege in Ruanda oder Exjugoslawien. Sie hatten sozioökonomische Ursachen, die nachträglich kulturell eingefärbt wurden, oft von den Beteiligten selber. Man spielt die ethnische Karte. Statt zu sagen: Wir sind einfach nur arm oder überfordert, sagt man: Wir sind die Kultur X und haben eine lange Geschichte, und deshalb steht uns das und das zu. Das ist Strategie.“886 Die Kriege im Kongo werden häufig immer noch als ethnische Konflikte begriffen. Diese Interpretation entspringt einem Bollwerk an internationalen Interessen und verbreiteten 886
C. Antweiler, „Ich warne vor Kultur-Rassismus“, a.a.O.
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narrativen Mustern, durch die verschleiert wird, dass handgreifliche politische und vor allem ökonomische Interessen im Spiel sind. Diese Interpretation verlor an Grundlagen seitdem mehrere UN-Berichte – mit Erwähnung von Namen der Beteiligten aus dem Land sowie aus der Region und von zahlreichen internationalen Konzernen – detailliert enthüllt haben, dass es eher um eine illegale und brutale Ressourcenausbeutung des Landes geht. Alles dreht sich „hauptsächlich um den Zugang, die Kontrolle und den Handel mit fünf wichtigen Rohstoffen: Coltan, Diamanten, Kupfer, Kobalt und Gold“ (UN-Bericht, April 2001). Es ist ein sehr attraktives und lukratives Geschäft für alle gierige Akteure der globalen Politik, die massiven und unzähligen Menschenrechtsverletzungen (Kindesmissbrauch, Frauenvergewaltigungen, Sklavenarbeit, Vertreibungen usw.) und Völkermorde skrupellos in Kauf nehmen. Der Interpretation dieser Kriege als kulturbeladene Kriege wurde zuletzt durch die Veröffentlichung des Films „Das Kongo Tribunal“ ein schwerer Schlag versetzt. Der schweizerische Regisseur Milo Rau durchleuchtet mit diesem Film die globalen Ausmaße dieses Wirtschaftskriegs – bzw. dieses „gut gemeinten Genozids zugunsten der westlichen Länder“ (Filmzitat) und konfrontiert Politik und Weltöffentlichkeit mit den Fragen: Wieso sterben im Kongo Millionen Menschen in einem Bürgerkrieg, der wegen Rohstoffen, wie Coltan und Kobalt für unsere Computer, Handys und Elektroautos geführt wird, und alle schauen weg? Wann wird ein echter Prozess dieser Fälle – ja „die Toten gehen in die Millionen, die Täter bleiben straffrei“ – zustande kommen? Es ist nun ersichtlich, dass die Verwendung von ethnischen Identitätsbegriffen (und der damit zusammenhängenden Narrative) irreführend ist und instrumentalisiert wird. Die Kultur hat wenig zu tun mit den proxy wars. Daher ist eine Lesart, die die Kategorien der Bevölkerungsgruppen und der politischen Akteure voneinander trennt, methodisch geboten. Es ist eine Bereitschaft und Art, die (dominierenden) narrativen Schemata zu hinterfragen und die Frage nach den Machtinteressen von derjenigen nach der Kultur sorgfältig getrennt zu halten. Kriege, die man überzeichnet in ethnischen Termini darstellt und somit zu „irrationalen Vorgängen“ erklärt hat, sind, so schließt auch Münkler, „in vieler Hinsicht selbst das Ergebnis ökonomischer Zweckrationalität“.887Daher ist es lohnenswert, sich mit ihren politischen und ökonomischen Strukturen zu beschäftigen. Sonst kann man die Rolle der zweckrational handelnden Akteure (Unternehmer, Politiker, Bewaffnete, Rechtsexperten und mancher Aktivisten) in ihnen nicht gut erfassen. Dies bedeutet, dass die Lösung dieser Kriege nicht nur einen regional approach, sondern eine umfassende Untersuchung, eine globale Betrachtungsweise erfordert. Aus dem Vorausgehenden zeigt sich, dass das, was wir hier Schematisierung bzw. Instrumentalisierung der Kulturen nennen, vielfältige Erscheinungsformen haben kann, die auf den ersten Blick nicht unter Verdacht zu stellen sind. Deswegen wird das menschliche kritische Potential benötigt, um all diese Erscheinungsformen zu hinterfragen und dadurch den
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H. Münkler, Die neuen Kriege. Hamburg, 2002. S. 161.
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Wert des Lebens zu wahren. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Grenzen der Kulturen ist Teil dieses Anliegens. Mit Waldenfels sind diese Grenzen eher als Schwelle denn als deutliche und scharfe Trennungslinien zu sehen, die sich beliebig ziehen lassen können. „Die Schwelle ist schwer zu verorten, im strengen Sinne ist sie nicht zu verorten. Sie bildet einen Ort des Übergangs […].“888 Waldenfels bricht mit der (vorherrschenden akademischen) Betrachtungsweise der Kulturen als monolithischen Entitäten. Daher ist seine Bemerkung, dass es in der Interkulturalität letzten Endes um Menschen geht, sehr pointiert und relevant. Wenn es die Menschen sind, die sich bewegen (und mit den anderen auseinandersetzen) und nicht die Kulturen, wie kann man noch wagen, scharfe Grenzlinien zwischen ihnen zu ziehen? Eine bessere Einsicht erfordert, dass wir die Komplexität, die die menschliche Erfahrung mit sich bringt, (auch in philosophischen Überlegungen) einbeziehen. Die Ablehnung von scharfen Grenzlinien zwischen Kulturen ist auch die Ablehnung von absoluten Unterschieden in moralischen intuitven Vorstellungen. Wenn Meriams Mann, Daniel, am Anfang das ganze Verfahren gegen seine Frau für ein großes Missverständnis gehalten hat, dann deshalb, weil er davon ausging, dass der Mensch über bestimmte moralische Ressourcen, das, was wir hier ein implizites moralisches Grundwissen genannt haben, verfügt, um Situationen wie die seiner Frau richtig zu beurteilen. Hätte er die dagegen kulturalistische These vertreten, dass Werte wie Freiheit kulturspezifisch sind und im vorliegenden Fall nicht zum sudanesischen Kulturraum gehören, hätte er (wie die anderen Menschen in seiner Gesellschaft) das Vorgehen des sudanesischen Staates nicht für empörend gehalten. Meriams Fall ist ein Fall von Ideologien, auf die sich eine Machtausübung stützt. Wir haben es nicht einfach zu tun nicht mit dem Fehlen des moralischen Grundwissen, das Menschen ermöglicht, Dinge und Handlungen in der Welt qualitativ zu beurteilen, sondern mit Machtinteressen genauso wie wir es auch außerhalb des sudanesischen Kulturraums (überall, wo das menschliche Leben leichtsinnig behandelt oder verachtet wird) feststellen können. Und alle diese düsteren Fälle beurteilen wir übereinstimmend und kulturübergreifend als moralisch und menschlich empörend. Aussagen wie „es kann nicht sein“, „das geht nicht“, „dies ist unakzeptabel“ werden unabhängig von Kulturen gemacht. Sie sagen dann nicht einfach (kulturspezifisch) „bei mir/ uns wird dies so oder so gemacht“. Der (ethische) Appell, den wir in Fällen wie dem von Meriam vernehmen, reicht offenbar sowohl über den kulturrelativen als auch über den Rahmen rein intersubjektiver Verhandlungen hinaus. Wenn wir Schematisierungen bekämpfen, dann unter anderem deshalb, weil sie die Situation unsachgemäß vereinfachen. Sie haben schon große Schwierigkeiten der Vielfalt von Zugehörigkeiten (nationalen, ethnischen, geschlechtsspezifischen religiösen... menschlichen) gerecht zu werden. Mit ihnen würden wir in die Diskussion um den Meriam-Fall mit voreilig fixierten Ideen einsteigen, dass wir z.B. mit ungebildeten oder psychopathischen Menschen,
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B. Waldenfels, Sinnesschwellen, a.a.O., S. 9.
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mit einer Kultur, die (unsere) Werte wie Freiheit ignoriert oder geringschätzt, zu tun haben. Damit wäre die Kritik von vornherein einseitig. Meriams Fall sowie viele andere Fälle (siehe z.B. aus der These 1) im interkulturellen Bereich machen die Beachtung der Komplexität der Dinge im Umgang mit den anderen notwendig. Das, was Waldenfels in Hyperphänomenene „iterierte Fremdheit“ (eine „Form des Fremden des Fremden, eines Fremden für Andere und im Anderen“) nennt, fordert, dass wir auf Für-Wider-Beurteilungen ohne Umstände verzichten. Die Fremderfahrung wird gefährdet, wenn man sich in der Beurteilung einfach von der Idee leiten lässt, ob etwas mit den eigenen Überzeugungen und Vorstellungen verträglich ist oder nicht. Es gibt keine einzige Art, Sudanese zu sein. Die Innersudanesische Fremdheit muss daher berücksichtigt werden. Wir können nicht einfach so tun oder handeln, als ob alle Sudanesen fundamentalistisch oder aufgeklärt sind. Es gibt Fremdheiten, und dies auch für Andere und im Anderen. Abschließend ist zu betonen, dass uns der untersuchte Fall von Meriam Ibrahim und ihrem Mann wieder auf die Frage nach den Grenzen kultureller und sozialer Ordnungen bringt. Die Zugehörigkeit zu diesen Ordnungen ist nicht umfassend. Bei der Nicht-Berücksichtigung der radikalen Fremdheit (Waldenfels), die die alltäglichen und strukturellen Formen der Fremdheit übersteigt, tut man sich schwer, das alle Ordnungen in der Art eines Schattens begleitende Außerhalb (das hors d´ordre) zu beachten. Die in der These 1 angesprochene Porosität der Ordnungen bedeutet, dass die Inklusion dieses Außen zum Scheitern verurteilt ist. Keine Ordnung kann sich umfassen. Fremdes als Außer-ordentliches ist „ein Über-hinaus (ἐπέκεινα), ein Überschuss an fremden Ansprüchen. Ein solches Mehr manifestiert, sagt Waldenfels, in Irritationen und Störungen bestehender Ordnungen. Die Möglichkeit der Kritik gründet auf der radikalen Kontingenz, die jede Ordnung auszeichnet. Wie schon gesagt, eine bestehende Ordnung ermöglicht und verunmöglicht dadurch zugleich. Die Möglichkeiten, die sie verschießt bei der Erschließung anderer Möglichkeiten, verschwinden nicht; sie können nicht ausgetilgt werden. Sie begleiten die Ordnung als ihr Schatten und beunruhigen sie weiter. Das, was einer bestehenden Ordnung anhaftet, lässt sich nicht nach Belieben beseitigen. Ordnungen sind im Sein der Dinge verankert, aber nicht ein für allemal, betont Waldenfels. Dies bedeutet nicht nur, dass es innerhalb einer Ordnung Spielräume des Möglichen gibt, sondern auch dass die Ordnung selbst die Form eines Potentials bekommt: „Sie könnte auch anders sein, als sie ist, so wie es denkbar ist“. (Hyperphänomenene, S. 85.) Will man auf Ansprüche des Fremden antworten, muss man es entschlossen ablehnen, Partikularität gegen Universalität bzw. Eigenes gegen Fremdes, Vernunft gegen Gefühle, Tatsachen gegen Normen auszuspielen. Meriam und ihr Mann stehen innerhalb der sudanesischen kulturellen und sozialen Ordnung, aber zugleich außerhalb ihrer. Ihre Zugehörigkeit wird von einer abgründigen Nichtzugehörigkeit, von der sie sich abhebt, unumgänglich begleitet.
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Wir sind uns in Waldenfels’ Begrifflichkeit der jeweiligen Kultur (einer bestimmten Nationalität usw.) nicht mit Haut und Haaren ausgeliefert. Die vorliegende Überlegung lässt deutlich erkennen, wie abwegig die Idee absoluter Nähe und absoluter Ferne ist.
Meriam, meine Schwester! Wer schreit so auf? Niemand. Es könnte jeder sein... jeder, der den Appell aus einer fremden Situation hört und sich mit dem anderen identifiziert. Jeder Mensch hat viele Zugehörigkeiten: kulturell, religiös, geschlechtlich, sprachlich... Aber trotzdem kann er unabhängig davon auf einen ethischen Appell hören und in einer bestimmten Weise handeln, wo das menschliche Leben gefährdet wird. Die Grenzen unserer Zugehörigkeiten sind weder deutlich noch fest. Unsere Zugehörigkeiten sind keine Kerker. Wir haben Gemeinsamkeiten. Wir sind alle Menschen. Wo das menschliche Leben gefährdet wird, ist das ‚Sich- Angesprochen-Fühlen’ zu verstehen als Antwort auf eine Form der Verpflichtung, die Gesetze und Zugehörigkeiten zu bestimmten Gruppen überschreitet. ‚Meriam, meine Schwester – Mensch-Schwester‘ ist ein Ausruf, der besagt: du bist nicht allein, ich bin mit dir, wenn auch nur in Worten oder Gedanken.
7.3 These 3 Interkulturelle Kritik ist anti-ideologisch, insofern sie den Kontext (den Leib) als spezifischen Standpunkt moralischer Beurteilung miteinbezieht – Victor Hugo Leiblichkeit (als „in der Welt sein/ Verstrickt-sein in die Welt“) ist ein wichtiger Schlüsselbegriff der Phänomenologie: Mit dem Leib sind wir mit einem Ort verbunden, von dem aus wir die Dinge betrachten, von dem aus wir sprechen. Durch den Leib sind wir in Lebenskontexten verankert. Als historisch und kulturell situierte Geschöpfe haben wir Konzepte und Überzeugungen, die unterschiedlich sein können. Dies bedeutet aber nicht, dass sie einander ausschliessen, dass entweder die einen oder die anderen verwerflich sind. Dies ist eine kulturbezogene, aber keine (im starken Sinne) relativistische Position. Im
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Rahmen der Verschränkungsfigur wird darauf bestanden, dass es Unterschiede gibt, die eine vermeintlich universelle Ordnung nicht eliminieren oder integrieren kann bzw. sollte. Man kann nicht nach Belieben an den Ort gelangen, wo sich das Fremde befindet. Das Eigene und das Fremde sind verschränkt, aber nie ganz gleich, außer man missversteht ihre Begriffe. Mit Waldenfels haben wir gesehen, dass das leibliche Hier kein Ort innerhalb des Ganzen ist, sondern „der Ort, von dem aus man für das Ganze der Welt [...] spricht“. Wo das leibliche Hier des Sprechens geleugnet oder verschleiert wird, ist bereits Ideologie am Werk. Sie bleibt jeder Vogelperspektive angehaftet. „Wird Inter-Kulturalität beim Wort genommen, so besagt dies, dass wir in einem Zwischenfeld leben und agieren. Das Feld zwischen den Kulturen erschliesst sich auf asymmetrische Weise, weil jeder kulturelle Austausch hier und jetzt beginnt. Die Eigenkultur lässt sich ebensowenig überspringen wie der eigene Leib, die eigene Herkunft oder die eigene Sprache.“889 Jeder Versuch, beim Reden den Ort oder den Standpunkt, von dem aus man spricht, zu übergehen ist zum Scheitern verurteilt. Jeder Anspruch auf einen Meta-Standpunkt (Universalität von oben) muss untergraben werden. Dies bedeutet, dass die Frage nach Wer und Wozu untrennbar ist von der nach dem Wo bzw. Von-Wo-Aus. Wie Waldenfels zu Recht betont: Es sind „immer Menschen, die im Name der Menschheit sprechen und auch die Befugnis dazu fällt nicht von Himmel“. Anders gesagt, die Vernunft, die Menschheit, das allen Gemeinsame hat keine Stimme. Jemand spricht immer in ihrem Namen, verleiht ihnen seine Stimme. „Kein Wir sagt ‚wir‘ sondern ich oder sonst jemand sagt ‚wir‘, und zwar zu dir oder zu euch. Kein noch so inklusives ‚Wir‘ kann diese Differenz zwischen eigener und fremder Position aufheben. Eine rein ‚inklusive Gemeinschaft‘ wäre ein Phantom. Das performative ‚Wir‘ des Aussagevorgangs deckt sich nicht mit dem konstativen ‚Wir‘ des Aussagehalts. Mit der Verwischung dieses Unterschieds öffnen sich Falltüren für eine ideologische Verbrämung der Kontingenz. ‚We the People of the United States […] do proclaim this CONSTITUTION for the United States of America‘: Es klingt so, als wäre das Wir des Volkes der Kollektivautor der Proklamation und nicht ihr Resultat.“890 Die Rede von Renzi (bezüglich des Sonderplatzes von Europa in der Weltgeschichte und des Zwecks, zu dem es entstanden ist), die wir in der These 2 analysiert haben, ist ein vielsagendes Beispiel. Es wäre naiv, Renzis Stimme für die Stimme Europas zu halten, auch wenn das Eigene und das Allgemeine (das Gemeinsame) hier gleichgesetzt werden. Es zeigt sich wieder, wie notwendig und relevant die kritische Fragereihe wer-wozu-wo/von wo aus ist. Diese Fragen klären darüber auf, dass es sich nicht um die Stimme Gottes, der Vernunft, der Menschheit oder eines in sonstiger Weise allen Gemeinsamen handelt. Ein weiteres
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B. Waldefels, „Das Fremde denken“, a.a.O., S. 366. Ebenda, S. 362.
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prägnantes Beispiel für Anmaßungen dieser Art, das im Folgenden näher untersucht werden soll, sehen wir in Victor Hugos „Discours sur l´Afrique“ (18. Mai 1879): „Da liegt er vor uns, dieser Block an Sand und Asche, diese träge und passive Masse, die seit sechstausend Jahren ein Hindernis für den Gang der Welt bildet, dieser monströse Cham, der sich Sem aufgrund seiner schieren Grösse in den Weg stellt: Afrika. Welch ein Land dieses Afrika! Asien hat seine Geschichte, Amerika hat seine Geschichte, selbst Australien hat seine Geschichte, seit es Eingang in das Gedächtnis der Menschheit gefunden hat. Afrika hat keine Geschichte. Eine riesige dunkle Legende umgibt es. [...] Afrika stellt solch ein Hemmnis für die Bewegung und den Verkehr dar, dass es das universelle Leben behindert und die Menschheit sich nicht länger damit abfinden kann, dass ihre Entwicklung auf einen Fünftel des Erdballs gelähmt wird [...]. Das alte Afrika für die Zivilisation zugänglich zu machen, das ist das Problem. Europa wird es lösen. Ihr Völker, bemächtigt euch dieses Landes! Nehmt es ein! Für wen? Für niemanden. Nehmt dieses Land für Gott! Gott hat die Erde den Menschen gegeben. Gott bietet Afrika Europa an. Nehmt es! [...] Schickt euren Überschuss in dieses Afrika und löst damit zugleich eure sozialen Fragen. Macht eure Proletarier zu Eigentümern.“891 Hugo verleiht seiner ganzen Rede die Autorität der ‚Natur‘ oder des ‚Universums‘. Er (und viele seiner Zeitgenossen) betrachtet die ‚Wildheit‘ der Afrikaner als „von der Natur gewollt“. Es ist eine Selbstgleichsetzung der eigenen Stimme mit der Stimme der Natur, des Universums, Gottes. Diese Gleichsetzung hat handfeste Ziele. Denn sie soll den Einsatz von Europa in Afrika, aber vor allem den Einsatz von Frankreich und Großbritannien, den zwei ‚großen freien Ländern‘ (Hugo), die den afrikanischen Kontinent in ihre Gewalt gebracht haben, legitimieren. Mehr noch als die Zivilisierung von Afrika fordert Hugo mit klaren Worten seine Beherrschung und Ausbeutung. Es handelt sich also um eine uneingeschränkte Zustimmung zum kolonialistischen Imperialismus anhand von Pseudolegitimierungen („Gott schenkt Europa – den Europäern – Afrika. Nehmt es ein!“). Selbst die Erwähnung des Namens Gottes bringt Hugo nicht dazu, sich von seiner Ideologie zu entfernen und stattdessen zu einer Liebesbotschaft und dem Ideal einer solidarischen Welt zu verleiten, wie es die Lehre des Christentums ja nahelegen würde. Wirtschaftsinteressen haben Priorität. Letztlich spielt es gar keine Rolle, ob Afrika barbarisch oder wild ist; es bleibt ein ‚schöner‘ Besitz, eine gewinnträchtige Beute. Das Fehlen von Moral in Afrika will Hugo auf unmoralische Weise bekämpfen. Wie aber kann man beanspruchen, Menschen, die keine Moral kennen, die Moral beizubringen, indem man Unterwerfung, Grausamkeit, Folter, Raub und Betrug befördert und als Werte darstellt? Diesen Widerspruch kann Hugo wegen seiner Verankerung in einem Rahmen, 891
V. Hugo, „Discours sur l´Afrique“, in ders., Actes et Paroles, Bd. 4, Depuis l´exil 1876-1885, Paris, ca 1885, S. 125f.; zitiert nach A. Mbembe Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin, 2015, S. 140f. Im Folgenden wird mit freien Übersetzungen zitiert.
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der das Wissen und die moralischen Werte als kulturspezifisch auffasst, nicht sehen („Das Mittelmeer... ein See der Zivilisation“, ... auf einer Seite „das alte Universum“ oder „die ganze Zivilisation“ und auf anderer Seite „das ignorierte Universum“ oder „die ganze Barbarei“). Er unterliegt der Täuschung einer manichäischen Betrachtungsweise, die eine lange Vor- und Nachgeschichte hat. Schliesslich kann man fragen, inwieweit Hugos Rede selbst rational ist. Die äusserst abwertende Rede wird paradoxerweise an einem Festakt zur Erinnerung an das Verbot des Sklavenhandels gehalten. Eignete sich der Termin dafür? Hugo irrt sich gewaltig hinsichtlich mancher Fakten, die ihm mit aufgrund seiner Bildung sehr gut bekannt sein sollten. Und dies schon in den ersten Worten der Rede: „Meine Herren, ich präsidiere, das heisst, ich gehorche; der wahre Präsident eines Treffens wie dieses, einen Tag wie dieser, wäre der Mann, der die ungeheure Ehre hatte, im Namen der weissen menschlichen Rasse zu sprechen, um der schwarzen menschliche Rasse zu sagen: Du bist frei. Dieser Mann, Sie nennen ihn alle, meinen Herrn, ist Schoelcher. Wenn ich an diesem Ort bin, ist er derjenige, der es wollte. Ich gehorchte ihm.“892 Schon die Begrüssung ist ein unverschleierter und düsterer Ausdruck der männlichen Dominanz in einer Gesellschaft, in der sich prominente Intellektuelle als Lichter ihrer Nation sehen, begrüssen und rühmen. Dazu kommt eine gewaltige Unwahrheit hinzu. Gewaltig, denn erstens ignoriert Hugo den Aufstand der Sklaven, der zur Unabhängigkeit von Haiti (1804) geführt hat. Hierbei handelte es sich um eine anti-kolonialistische Revolution, eine Revolution gegen Frankreich für die Wiedereroberung der Freiheit. Zweitens widerspricht der Aufruf zur Beherrschung und Ausbeutung – in Anwesenheit von Schoelcher selbst – der Grossartigkeit bzw. der Wahrhaftigkeit des angesprochenen Aktes (Dekret zur Abschaffung der Sklaverei). Aber wen interessierte das an diesem Tag zu diesem Bankett der Widersprüche? Es gab gleich zu Beginn eine berührende, aber auch schauerliche Inszenierung: Ein blinder Schwarzer wurde zu Victor Hugo geführt – ein Sklave, der Frankreich zu Dank verpflichtet sein sollte, ein Mensch zu sein.893 Schoelcher selbst kündigte beim Dessert mit fragwürdigen Lobesworten die Rede seines langjährigen Freundes an, der danach, stehend, den andauernden Beifallssturm als Verehrung von seinem „immer in den Dienst aller Leiden“ gestellten Genie, geniessen durfte: „Lieber Victor Hugo, wir sehen uns hier und haben im Wissen, dass wir Sie hören werden, mehr denn je Zuversicht, Mut und Hoffnung. Wenn Sie sprechen, klingt Ihre Stimme durch die ganze Welt; von diesem engen Raum aus, wo wir eingeschlossen sind, wird sie bis in das Herz Afrikas vordringen, auf die Strassen, die unerschrockenen Reisenden in Kürze durchlaufen, um den noch in der Kindheit lebenden Völkern Licht zu bringen und sie Freiheit, den Schrecken vor 892 893
Ebenda, S. 123. Ebenda, S. 121.
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Sklaverei, mit dem erwachten Bewusstsein der Menschenwürde zu lehren; Ihr Wort, Victor Hugo, wird die Autorität der Zivilisation haben; es wird dieser grossartigen philanthropischen Bewegung helfen, die, indem es heute das Interesse Europas an dem Land der schwarzen Menschen wendet, das Böse, das ihnen angetan wurde, wiedergutmachen will. (...).“894 Hugos Stimme wird als die Stimme eines Übermenschen bzw. der Vernunft selbst dargestellt. Wenn er spricht, vermeinen die Mitfeierenden bei diesem Bankett nicht mehr die Stimme eines leiblichen Wesens zu hören, dessen Ansichten in weiten Teilen von Vorurteilen, Interessen, Präferenzen, Leidenschaften und Emotionen geprägt sind. Hugo erlangt einen Sonderstatus. Was er will, will das Universum. Dass dies eine Täuschung ist, erkennt man sofort in seiner selektiven und restriktiven Lesart schon der innereuropäischen Geschichte. „Es ist an der Zeit, Europa darauf hinzuweisen, dass es Afrika in seiner unmittelbaren Nähe hat. Es ist an der Zeit, den vier Nationen, Griechenland, Italien, Spanien, Frankreich, aus denen die moderne Geschichte entstanden ist, zu sagen, dass sie noch da sind, dass sich ihr Auftrag geändert hat, ohne verändert zu werden, dass sie immer die gleiche verantwortliche und souveräne Position an den Küsten des Mittelmeers haben, und dass, wenn wir ihnen ein fünftes Volk, England, hinzufügen, das von Virgil flüchtig gesehen wurde und das sich diesen grossartigen Blick verdient hat, haben wir fast die ganze Anstrengung der uralten menschlichen Rasse zur Arbeit, die Fortschritt bedeutet, und zur Einheit, die das Leben bedeutet.“895 Dies ist nicht neu bei Hugo. Wo es z.B. um die Moderne oder die Zivilisation geht, hatte er eine restriktive Lesart, wie man seiner Rede im Senat (18. Juni 1877) entnehmen kann: „Eine große Nation, die nur Frieden will, eine Nation, die weiss, was sie will, die weiss, woher sie kommt und die Recht hat, zu wissen, wohin sie geht, eine Nation, die nicht lügt, die nichts verheimlicht, die nichts ausweicht, die nichts stillschweigend annimmt, die den Weg des Fortschritts unbeirrt und ohne Verstellung geht, Frankreich, das Europa vier berühmte Jahrhunderte der Philosophie und Zivilisation gegeben hat, das durch Voltaire die Religionsfreiheit [Proteste rechts, lange Zustimmung links!] erklärt hat und durch Mirabeau die politische Freiheit; Frankreich, das arbeitet, lehrt, fraternisiert, einen Zweck hat, das Gute, und das sagt, Frankreich, das ein Mittel hat, das Gerechte, und das erklärt...“896 Wir haben hier das Beispiel von jemanden, der nicht nur den Anspruch erhebt, mit der Stimme einer Gemeinschaft (der französischen Nation) zu sprechen, sondern der auch die Geschichte restriktiv, vereinfachend und einseitig liest. Beunruhigend ist aber auch Hugos äusserst unreflektierte und lückenhafte Lesart der Geschichte des Kampfs um die Freiheit.
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Ebenda, S. 122. Ebenda, S. 124. Ebenda
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Die grausamen Taten von Frankreich ausserhalb seiner Grenzen geraten aus dem Blick und die Beiträge anderer Völker werden verkannt. Das oben erwähnte Versäumnis von Haiti zu sprechen, „wo die Negritude zum ersten Mal aufstand und behauptete, an ihre Menschlichkeit fest zu glauben“ (Aimé Cesaire, Cahier d´un retour au pays natal) und allgemein die Verzerrung der Geschichte seitens eines vermeintlich belesenen Autors, des „Chefs der modernen Literatur“ (Schoelcher) ist vielsagend. Angesichts der Verzerrungen, Lücken und unzutreffende Aussagen in Hugos Rede zieht Hoffmann den Schluss: „Den Schwarzen gegenüber fehlte es Hugo immer an Sympathie (was sein Recht ist) sowie an Objektivität und Respekt den Menschen gegenüber (was weniger sein Recht ist).“ [„envers les Noirs Hugo a toujours manqué de sympathie (ce qui est son droit) et d'objectivité et de respect humain (ce qui l'est moins)“].897 Das fehlende Interesse, die anderen wirklich zu kennen, überschneidet sich mit einer Grundhaltung der Selbstzentriertheit, die mit der Ansicht einhergeht, dass die eigene Kultur von einer Superiorität gekennzeichnet ist, so dass eine ernsthafte Beschäftigung mit anderen Kulturen sich nicht lohnt. Vorurteile und Mythen werden leidenschaftlich gepflegt und verstellen die Fremderfahrung. Man sucht nicht, man fragt nicht, stattdessen behauptet man und hält dann eisern an seinen Behauptungen fest. Etikettieren scheint interessanter als sich zu erkundigen. Dieser „gewaltige Wille zur Unwissenheit, der sich aber als Wissen versteht“, diese „Selbstverblendung“ ist, laut Mbembe, einer der Eckpfeiler des imperialen Bewusstseins. Es ist eine Unwissenheit „von besonderer Art – eine ungenierte und frivole Unwissenheit, die von vornherein jede Möglichkeit einer Begegnung und Beziehung ausschließt, die nicht auf Gewalt beruht“.898 Victor Hugo war noch nie in Afrika und hat sich auch nicht ernsthaft mit Afrika beschäftigt. Aber trotzdem sieht er sich berechtigt, ungeniert und nachdrücklich zu behaupten, dass Afrika keine Geschichte hat („Es hat nur zwei Aspekte: bevölkert ist es Barbarei; unbewohnt ist es Wildheit“). Damit wird der Weg zu einer für beide Seiten lehrreichen interkulturellen Erfahrung versperrt. Daher sagt Mbembe: „Das Wissen über den Kontinent mochte damals noch so lückenhaft sein, es mochte im Wesentlichen nur auf Gerüchten, auf falschen und nicht überprüfbaren Vorstellungen, auf Phantasien und Mutmaßungen basieren, von denen man nicht recht weiß, ob sie als Metonymie für die sittlichen Mängel der Zeit fungierten oder als Mechanismen, durch die das Europa der Zeit sich seiner selbst versicherte und sein eigenes Minderwertigkeitsgefühl kompensierte – es spielte keine Rolle. Wie Jonathan Swift in On Poetry (1733) bemerkte, füllten kluge Geographen auf den Afrikakarten ‚jede Lücke mit Zeichnungen von Wilden’. Und ‚auf die Berge, wo niemand lebt’, setzten sie ‚mangels Behausungen einen Elefanten. Und
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L.-F. Hoffmann, „Victor Hugo, les noirs de l´esclavage“, in Francofonia, Bd. 6, 30, 1996, S.47-90, http://groupugo.div.jussieu.fr/Groupugo/Textes_et_documents/Hoffmann_Les_Noirs_et_l%27 esclavage.pdf, S. 21; abgerufen am 04.07.2016. Freie Übersetzung. A. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a.a.O., S. 137.
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dann gibt es da die Nachtseite. In der Tat erfindet man nicht nur ein imaginäres Objekt. Man erfindet auch einen imaginären Menschen, den ‚Schwarzen’.“899 Man kann die Frage aufwerfen, auf welche Grundlage sich dieser Wille zur Unwissenheit bzw. diese Politik der Unwissenheit stützt. Es muss einen Grund dafür geben, dass man sich keine Mühe gibt, zu lernen. Für Mbembe – der anschließt an Tocquevilles Lettre sur l´Algérie (1837) – liegt es an der Überzeugung, dass in den Beziehungen zu den anderen Völkern, bzw. im vorliegenden Fall, „zu den Afrikanern die Gewalt stets das Fehlen von Wahrheit und Recht kompensieren werde“.900 Natürlich hat Hugo mit seinen unwissenschaftlichen Aussagen Empörung und Kritik auf sich gezogen. Es gibt allerdings auch diejenigen, die ihm zu Hilfe kommen und für ihn plädieren. In der Hermeneutik ist bekannt, dass ein Text, sobald er aus der Hand geht, nicht mehr das Eigentum des Autors ist und zum Gegenstand von (unterschiedlichen) Interpretationen wird. Hugo selbst sagte: „Der Autor gibt das Buch, die Gesellschaft akzeptiert es oder akzeptiert es nicht. Das Buch wurde vom Autor erstellt, das Schicksal des Buches wird von der Gesellschaft gemacht.“ Er fügte hinzu: „Der Autor weiss, was er tut; die Gesellschaft weiss, was sie tut.“901 Als Empfänger oder Leser müssen wir weder unsachliche Kritik noch leichtsinnige Ausreden akzeptieren. Jean-Pierre Paulhac – um nur ein Beispiel zu nennen – ist einer von denjenigen, die die Kritik an Hugo zu dämpfen versuchen.902 Prüfen wir, ob seine Argumente im Einzelnen stichhaltig und überzeugend sind: 1. „Es ist offensichtlich, dass, wenn man diesen Text mit dem heutigen Blick lesen möchte, es leicht ist, darin eine Verherrlichung (Apologie) der Kolonisation und einen Aufruf zu sehen, sich Afrika zu bemächtigen“: Aber mit wessen Augen (wenn wir einen Perspektivenwechsel machen) können und sollten wir uns den Geschehnissen zuwenden? Inwiefern dürfen wir Akteure der Vergangenheit kritisieren? Wer soll nach welchen Kriterien entscheiden, dass die einen kritisiert werden können und die anderen nicht? 2. „Wir wissen, dass das nicht wahr ist. Victor Hugo konnte es nicht wissen. Wir, wir wissen, was die Kolonisation wirklich war, aber der Dichter stellte sich nur vor, was ein freier Mann mit den Werten des Fortschritts und der Solidarität positiv erreichen könnte“: Ob es wahr ist, dass Hugo nicht wusste, dass seine Rede eine Aufforderung zur Kolonisation und Eroberung war, wollen wir eben wissen und ohne Voreingenommenheit prüfen; und dies machen wir, indem wir seine eigenen Aussagen lesen und ernst nehmen. Paulhac stellt hier als fak-
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Ebenda, , S. 141. Er bezieht sich auf H. Williams (Hg.), The Poems of Jonathan Swift. Oxford, 1958, Bd. 2., S. 645f. Ebenda, S. 137. V. Hugo, „Le domaine public payant“, séance du 21 juin, in ders., Actes et Paroles, a.a.O., S. 101. J.-P. Paulhac, „Victor Hugo et l´Afrique ou la naïveté ‚civilisationnelle‘“, in I&M-Bulletin, 29, S. 26-28.
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tisch dar, was erst noch zu beweisen wäre. Wie konnte ein belesener literarischer und politischer Publizist wie Hugo über die massiven Menschenrechtsverletzungen von der Eroberung bis hin zur folgenschweren Unterjochung anderer Völker nicht Bescheid wissen? Loben wir in ihm nicht einen gelehrten Schriftsteller? Hugos Aufforderung ist klar: „Ihr Völker, bemächtigt euch dieses Landes! Nehmt es ein! Für wen? Für niemanden. Nehmt dieses Land für Gott! Gott hat die Erde den Menschen gegeben. Gott bietet Afrika Europa an. Nehmt es! [...] Schickt euren Überschuss in dieses Afrika und löst damit zugleich eure sozialen Fragen. Macht eure Proletarier zu Eigentümern. [...] wachst, bestellt den Boden, kolonisiert [in der deutschen Version des Buches von Mbembe nicht wiedergegeben!], vermehrt euch...“ (Dies eine modifizierte Version von Genesis 1, 28: „Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, und füllt die Erde, und macht sie euch untertan; und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen!“. Hugos Stimme wird quasi der Stimme Gottes gleichgesetzt. Wer so spricht, ist sich im Klaren über die Folgen des von ihm empfohlenen Handelns. Worin besteht die Solidarität, wenn man zu Raub und Plünderung auffordert? Wenn es hier Solidarität gibt, ist es Solidarität der (und unter) Räuber(n). Die anderen werden einseitig ausgenutzt, ja ausgebeutet. Kann man überhaupt beanspruchen, gemeinsam durch Solidarität etwas „positiv“ zu erreichen, indem man den anderen mehr als die Rechte, nämlich die Existenz abspricht? („Nehmt dieses Landes ein; ihr beraubt es dadurch niemandem!“, „Wie wird sich die Zivilisation vor dieser unbekannten [für wen?] Fauna und Flora verhalten?“). Dies ist ein Handeln ohne Glauben und Moral. 3. „Und mehr noch als die Worte Kolonisierung, Eroberung... lesen wir in dieser Rede Zivilisation, Brüderlichkeit. Dies ist bezogen auf die Welle der Großzügigkeit der Menschen des späten 19. Jahrhunderts. Sie haben es geschafft, die konservativen Gesellschaften durch die Republik zu ersetzen und wollten nur diese fortschrittliche Idee jenseits der Meere übertragen“: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, so lautet der französische Wahlspruch. Es ist bezeichnend, dass Paulhac zwei - und zwar die zwei ersten – Schlagwörter ungesagt lässt. Die anderen Völker sollten sich im Umgang mit Frankreich wohl mit dem Etikett der Brüderlichkeit zufrieden geben. In seiner Rede bei der Jahrhundertfeier für Voltaire am 30. Mai. 1878 sagte Hugo selbst: „Der Frieden ist die Tugend der Zivilisation, der Krieg ist ihr Verbrechen.“ Wenn er nun in seiner Rede über Afrika nachdrücklich zur Eroberung durch Raubzüge auffordert, ist (ihm) klar, dass dadurch sicherlich nicht eine Situation der Brüderlichkeit geschaffen werden wird. Hugo hat die Monarchie und die Kirche in Frankreich bekämpft und sollte für Unterdrückungsstrukturen sensibilisiert sein. Wie könnte er die Unterdrückung in Afrika energisch empfehlen und gleichzeitig über die Konsequenzen ahnungslos sein? Wie kann jemand, der selbst der Kirche vorwarf, ihren Eigeninteressen und denen des Monarchen durch Missbrauch von Gottes Namen zu dienen, genau dasselbe zugunsten von Frankreich (dem ‚Monarchen’ Afrikas) fordern? Er sagt doch im vollen Bewusstsein: „Gott bietet Afrika Europa an. Nehmt es! [...] Schickt euren Überschuss in dieses
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Afrika und löst damit zugleich eure sozialen Fragen. Macht eure Proletarier zu Eigentümern.“ Frankreich also soll nicht nur mit seiner stillschweigenden Zustimmung, sondern auf seine explizite Aufforderung hin ein Monarch für Afrika sein. Nicht (mehr) zu erkennen ist hier der Autor von Sentenzen wie: „Jedes Töten ist nicht nur wild, sondern auch verrückt... Das Schwert ist absurd und der Dolch ist dumm“. Brüderlichkeit lässt sich nicht mit dem Schwert fundieren. Hugo kann nicht in Afrika das, was er in Frankreich bekämpft hat, fordern und vorgeben, dadurch die Brüderlichkeit befördern zu wollen. Er sagte selber, „die Wahrheit ist eine und hat keinen divergenten Strahl: sie hat nur ein Synonym, die Gerechtigkeit. Es gibt keine zwei Lichter; es gibt nur eine Vernunft: Es gibt keine zwei Arten, ehrlich, vernünftig und wahrhaftig zu sein.“903 Nach diesem Prinzip kann es nicht eine Art geben, ehrlich mit Frankreich zu sein und eine andere Art, mit den anderen Menschen. Wenn Folter und Raub schlecht für die Franzosen sind, sind sie es auch für andere Menschen. Wenn man den Humanismus, ja die Menschheit als Familie, die Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt wirklich fördern will, gibt es keine Alternative. Hugo ist nicht kohärent und konsequent wenn er beteuert: „Eine große Nation, [...] die nicht lügt, die nichts verheimlicht, die nichts ausweicht, die nichts stillschweigend annimmt, die den Weg des Fortschritts unbeirrt und ohne Verstellung geht […]. [Frankreich], das belehrt, fraternisiert, einen Zweck hat, das Gute, und das es sagt, [Frankreich], das ein Mittel hat, das Gerechte, und das es erklärt...“ (Rede vor dem Senat, 12. Juni 1877). Offenbar ist es nicht genug, so zu sprechen. Man muss auch in der Praxis zu erkennen geben, dass man z.B. Rassenvorurteile nicht stillschweigend übernimmt, dass man zu den anderen als Bruder und nicht als Räuber geht. Hugo wusste genau, was er sagte und tat. 4. „Die Sozialrepublikaner der achtziger Jahre sahen Afrika vielleicht als eine Art von ‚FarWest’ in Reichweite des Schiffes, wie die Vereinigten Staaten, aber vor allem als einen Ort, an dem sie demokratische Theorien fruchtbar machen und eine bestimmte Idee des Menschen voranbringen“: Demokratie durch gewaltsame Durchsetzung der eigenen Meinung, Demokratie ohne Meinungsaustausch, Demokratie ohne Dialogpartner, Demokratie ohne Respekt für den anderen, Demokratie ohne moralische Werte. Das ‚Argument’ hier wird offensichtlich beherrscht von einem Missverständnis der Begriffe. Es ruft die fundamentale Frage nach dem Standpunkt der Nicht-Franzosen auf: Hatten Hugo und Co. die Monarchie wirklich überwunden? Oder gab es nur neue Akteure, die sich als Besitzer der ‚absoluten Wahrheit’ verstanden, eine neue angepasste Form derselben Politik? Wenn Paulhac „vielleicht... aber vor allem...“ sagt, muss man fragen, woher er diese Interpretation nimmt, welchen Text er liest. Seine Bezugnahme auf Leopizzis Rechtfertigung von Hugo und Co. („Indem wir Afrika zivilisieren, werden wir in der Lage sein, das soziale Problem zu lösen“) löst das Problem nicht: Was geschieht, wenn das Wort ‚zivilisieren’ durch ‚unterdrücken’
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V. Hugo, „Discours lors du Congrès littéraire international“, séance publique du 17 juin 1878, in ders., Actes et Paroles, a.a.O., S. 98.
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und ‚ausbeuten’ ersetzt wird? Hugos Rede selbst legt die Grundlage dafür. Trotz Wortlackierungen – wie sie in der Rede von Gott, Brüderlichkeit und Freiheit auftreten – gibt Hugo selbst viele Belege, die seine Meinungen verdeutlichen und einen grossen Kampf zwischen den Interpretationen offenbaren. Dies gesteht auch Paulhac ein – wenn auch nur andeutungsweise –, wenn er zugibt, dass sich natürlich die Idee der Überlegenheit Europas gegenüber anderen Völkern in einer unterschwelligen Weise deutlich zeigt [de façon sousjacente, transparaît nettement]; dies ist eine Art militanter Ethnozentrismus, der die Existenz anderer Zivilisationen als der des Westens implizit leugnet“. Wird dieser schwerfällige Stil benötigt, wo Hugos Aussagen klar sind? Der vorliegende Ethnozentrismus ist überdeutlich und der unmoralische Charakter von Hugos Aufforderungen augenfällig. 5. „Konnte es zu dieser Zeit anders sein? Vor allem das Fehlen an Wissen über afrikanische Kulturen führt zu der Feststellung, dass Afrika keine Geschichte hat. Offensichtlich können wir heute angesichts der Arbeit namhafter Forscher solche Unwahrheiten nicht mehr vorbringen“: Paulhac versucht offensichtlich, Hugos Ethnozentrismus, den er gestand hat, nun durch eine Pauschalisierungsstrategie zu verteidigen. Er verwendet zwar den Begriff ‚Anachronismus‘ nicht, aber er scheint ihn zu meinen. Er verwendet zwar den Begriff ‚Anachronismus‘ nicht, aber er scheint ihn zu meinen. Seine Argumentationsstrategie erscheint sogar schlüssig zu sein, betrachtet man Jules Ferrys berühmte Rede. Denn diese Rede kann auch als Ausdruck der Mentalität von Hugos Epoche zitiert werden: „Man muss eine Wahl treffen, einerseits die Nützlichkeit neuer Erwerbungen und andererseits den Stand unserer Hilfsmittel erwägen. Diese kluge und maßvolle Kolonialpolitik ist für Frankreich einfach lebensnotwendig zu einer Zeit, in der alle Länder sich gegen ausländische Erzeugnisse sperren, was jedes Land nötigt, sich für die seine Landwirtschaft und seine Industrie unentbehrlichen Absatzmärkte zu sichern. [...] Die überlegenen Rassen haben außerdem ein Recht gegenüber den unterlegenen Rassen, und in dieser Hinsicht sollte Frankreich sich nicht der Pflicht entziehen, die Völker zu zivilisieren, die mehr oder minder barbarisch geblieben sind. [...] Wenn Frankreich verzichtet, wenn es seine Rechte verfallen lässt, werden andere seinen Platz einnehmen, und während es auf den dritten oder vierten Platz herabfallen wird, werden sie auf den ersten Platz gelangen.“904 Auf das überzogene Besitzdenken der Moderne (bzw. den „possessiven Individualismus“, C. B. Macpherson), der – mit Waldenfes gesprochen – so etwas wie Sklaverei und Ausbeutung erst ‚hoffähig‘ gemacht hat, in 7.5 und 8.2 zurück. An dieser Stelle ist zu merken, dass sich Ferry mit einer Scheinrechtfertigung darauf stützt: die Zivilisierung. Er betont, betont, dass diese Pflicht zur Zivilisierung in der Geschichte früherer Jahrhunderte oft ignoriert wurde; „und sicherlich, als die spanischen Soldaten und Entdecker die Sklaverei in Zentralamerika einführten, erfüllten 904
Allocution de Jules Ferry, Journal Officiel, séance du 28 juillet 1885, zitiert nach L. Zimmermann, Der Imperialismus. Seine geistigen, wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen. Stuttgart, 1971. S. 27f.
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sie ihre Pflicht als Männer [Menschen] überlegener Rasse nicht“.905Dies verdeutlicht das Sendungsbewusstsein der französischen Kolonialisten: sie sind verpflichtet, die aufklärerischrepublikanische Gesinnung überseeisch zu vermitteln. Im Grunde stützt sich die Kolonisation auf drei Motive: wirtschaftliche (Kolonien gelten als wertvolle Kapitalanlage, bieten Zugang zu Rohstoffen, schaffen neue Märkte – „Die Kolonialpolitik ist eine Tochter der industriellen Politik“, sagte J. Ferry), politische (Kolonien sind von Bedeutung als Stützpunkten im Kontext globaler Konkurrenz, dienen der Sicherung der Vorrangstellung), humanitäre oder ideologische (die Zivilisation als Pflicht der höherwertigen Rasse, siehe das Gedicht The White Man´s Burden von 1899). Als die Ausbeutung im eigenen Land wegen der Klassenkämpfe allmählich schwierig wurde und die Arbeiter mehr oder weniger in die Kreisläufe der erweiterten Akkumulation eindrangen, wurde die Verlagerung der brutalsten Ausbeutungsmethoden in die Kolonien als eine Erleichterung angesehen. Die so erfolgte Wiederherstellung des innenpolitischen Gleichgewichts bedeutet aber zugleich die Universalisierung des Klassenkampfes. Denn manch einer erkannte in der Kolonisation die Verkörperung des Kapitalismus im Kontext der fortschreitenden Mechanisierung zum Nachteil der Kleinindustrien und des anhaltenden Zuwachses des Proletariats.906 Kehren wir nun zu Paulhacs Frage zurück: Konnte Hugo zu dieser Zeit überhaupt eine andere Betrachtungsweise haben? Die Antwort lautet ja. Hugo lobte Voltaire in seiner Rede (1878) dafür, dass er die grossartigsten Kriege geführt und dabei gesiegt habe, nämlich den Krieg des einen gegen alle, den Krieg der Vernunft gegen die Vorurteile, den des Gerechten gegen das Ungerechte, den des Unterdrückten gegen seinen Unterdrücker.907 Angenommen, dass dies wahr ist, hätten wir aber erwartet, dass er gegen die Rassenvorurteile und Unwahrheiten vorgegangen wäre, statt letztere im Gegenteil zu festigen. Daneben werden auch andere große Denker wie Rousseau, Diderot usw. gelobt: „Diese Denker lehrten die Menschen gut zu denken. Gut denken führt zu gutem Handeln, Richtigkeit im Geist wird Gerechtigkeit im Herzen.“908 Wieso wendet er diese Überzeugungen nicht an, wenn es um Afrika geht? Ihm ist es offenbar lieber, Unwahrheiten wiederzugeben, obwohl er Afrika nicht kennt. Frankreich verfüge sowieso über den technischen Vorteil, also die nötige Gewalt, um seine Politik durchzusetzen. Während er bei dem Literaturkongress 1878 seine Kollegen zum Mut aufforderte („Sagt aufrichtige Dinge, bringt zum Ausdruck wahre Ideen an, und wenn es leider unmöglich ist, Gehör zu finden, werdet ihr halt dadurch zeigen, dass der Gesetzgeber ungerecht ist.“909), zeigte er selbst nicht die Courage, den Gesetzgeber davon abzuhalten, Raubzüge und Völkermorde in Afrika und Asien auszuführen. Während
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Ebenda. Freie Übersetzung. A. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a.a.O., S. 149. V. Hugo, „Le centenaire de Voltaire“, 30. Mai 1878, in ders., Actes et Paroles, a.a.O., S. 77. Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 91.
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er seinen Kollegen nachdrücklich empfahl, Aberglauben, Irrtum, Ignoranz, Lügen zu bekämpfen („Ein dunkler Geist stelle eine grössere Gefahr dar als eine dunkle Straße“), gibt er sich selbst zufrieden mit Vorurteilen, Unwahrheiten und Fabeln über Afrika. Victor Hugo belegt hier Mbembes Kritik vom „gewaltigen Wille zur Unwissenheit, der sich aber als Wissen versteht“. Man weiss nichts über den Anderen oder sein Land, aber trotzdem äussert man sich mit Arroganz. Dies Scheinwissen fußt vorwiegend „auf Fehleinschätzungen und Erfindungen. Aber hier fabuliert man nur, um besser ausschliessen und sich selbst besser abschliessen zu können.“910 Es kann nicht verwundern, dass man durch diese unwissenschaftliche und unredliche Vorgehensweise Aussagen wie „Afrika hat keine Geschichte“ hervorbringt. Hegel tat es vor Hugo. Sarkozy tat es nach ihm.911 Nach wie vor ermöglichen und legitimieren unwissenschaftliche Aussage über Afrika ein unmoralisches Handeln, ja die Invasion und die Räuberei. Hugo betonte in seinem Brief an den Bischof von Orleans (3. Juni 1873): „Der moralische Sinn ist bei Ihnen immer noch so wenig geformt […].Sie erheben den Anspruch, mich zu belehren. Mit welchem Recht? Wer sind Sie?“912 Das ist genau die Frage: mit welchem Recht hat Hugo nicht ein Individuum, sondern ganze fremde Völker zu den von Frankreich zu belehrenden kulturlosen Massen gemacht? Mit welchem Recht hat Frankreich den Anspruch erhoben, andere Völker in der Welt zu belehren? Wer ist es? Verehrt Hugo in Afrika, was er in Frankreich verteufelt hat?). Aber wer soll nun verantwortlich für seine Vorurteile und Irrtümer im Alter von 77 Jahren sein? Paulhac verweist auf die Gesellschaft. Ohne den Einfluss der Gesellschaft auf dem Menschen negieren zu wollen, gilt Hugo doch als einer der größten und hellsichtigsten Dichter seines Jahrhunderts. Wie konnte er sich zum Zeitpunkt seiner Rede den Folgen seiner Aufforderungen nicht bewusst sein? Wie sollte er Gewalt derartigen Ausmaßes ignoriert haben? Aus zwei weiteren Gründen hatte er die Möglichkeit, es anders, ja besser, zu machen: Erstens, zu dem Zeitpunkt, als Hugo seine Rede hielt, waren seit Beginn der großen Eroberungszüge europäischer Mächte in der Welt schon etwas 400 Jahre vergangen. Die Taten und Untaten wurden aus unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert und diskutiert. Dies konnte dem hochgebildeten Hugo nicht entgehen. Im Jahr 1826 veröffentlichte er seinen Roman Die schwarze Fahne (Bug-Jargal, 1826). In seiner Rede über Afrika (1879) 910 911
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A. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a.a.O., S. 139. Sarkozy hat während seinem Senegal-Besuch an der Universität Cheikh Anta Diop (2007) unter anderem behauptet: „Das Drama Afrikas besteht darin, dass der afrikanische Mensch nicht ausreichend in die Geschichte eingetreten ist.“ (N. Sarkozy, Discours à l´Université de Dakar, 26.07.2007, https:// web.archive.org/web/20101227172612/http://www.elysee.fr/president/root/bank/pdf/president8264.pdf, abgerufen am 03.05.2017). Antworten von afrikanischen, aber auch europäischen Fachleuten aus dem universitären, literarischen und kulturellen Bereich ließen sich nicht warten. Es gab z.B. M. Gassama (Hg.), L’Afrique répond à Sarkozy. Contre le discours de Dakar. Paris, 2008; A. Ba Konare, Petit précis de remise à niveau sur l'histoireafricaine à l'usage du président Sarkozy. Paris, 2008. V. Hugo, „Lettre à M. l'Évêque d'Orléans“, Paris, 3. Juni 1873, in ders., Actes et Paroles, a.a.O, S. 87.
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manifestiert sich also keine unwissende, sondern eine gleichgültige Haltung gegenüber den massiven Menschenrechtsverletzungen, die andere Völker erleiden mussten. Auch der Ausruf („Afrika. Welch ein Land dieses Afrika!“) ist vielsagend. Dies ist nicht der Schrei eines gerechten und mutigen Menschen, der z.B. im Angesicht einer kriminellen Politik „Genug!“ oder „Stopp!“ ausruft, sondern wie der Schrei eines gierigen Menschen, der im eigenen Interesse die Fortsetzung einer profitbringenden Praxis und der Aufrechterhaltung ihrer Legitimation sucht. Aber während er einen Neubeginn der Raubzüge und eine neue Ära des Imperialismus mit seiner Rhetorik befeuerte, gab es unter seinen Zeitgenossen und vorgehenden Generationen – z.B. Francisco José Jaca (gestorben im Jahr 1690) und Epiphane de Moirans (gestorben im Jahr 1689) – schon Kritik an den Aufklärern wegen ihres Beitrags zum Sklavenhandel (siehe These 5). Es ist also festzustellen, dass es 200 Jahre vor Hugos „Rede über Afrika“ Europäer gab, die den Sklavenhandel bekämpften und die Menschenrechte verteidigten. Die Geschichte vor Hugos Rede war reich genug an Geschehnissen und Beiträgen, so dass er eine besonnene Einstellung vertreten konnte. Und er verfügte über eine höhere Bildung und das geistige Vermächtnis der Lumières, also über die geistigen Voraussetzungen, um sich mit den Vorurteilen der Gesellschaft bzw. der kolonialen Politik seines Landes kritisch auseinanderzusetzen und über die Menschenrechtslage zu urteilen. Diese Ansicht lässt sich auch in Hinblick auf seine Zeitgenossen untermauern. Zweitens: Als grosser Denker seiner Zeit hatte Hugo auch die Möglichkeit, kritisch zu sein. Nicht nur, dass es eine Menge an Informationen über die Folgen des imperialistischen Einsatzes ausserhalb von Europa gab (so dass jeder bewusst entscheiden konnte); es bestand auch die Möglichkeit angesichts der Darstellung selbst des kolonialen Projekts eine reflektierte Stellung einzunehmen. Burbank und Cooper informieren uns gut über diese Lage: „Geschäfte, Interessengruppen und imperiale Visionäre ergingen sich in Hirngespinsten von einem ‚Grössten Frankreich’, in dem jeder Teil seine ihm zugewiesene Rolle zum Wohle der französischen Nation spielte. Aber es herrschte kein breiter Konsens rund um diese Visionen. Einige Politiker hielten Kolonisierung grundsätzlich für falsch oder meinten, dass sie ein geschütztes Jagdrevier für schnellen Profit bereitstelle; viele verhielten sich gleichgültig und stimmten kolonialen Projekten nur zu, weil sie billig waren.“913 Zu Hugos Zeit gab es z.B. Georges Clemenceau, ebenfalls antiklerikal, aber im Gegensatz zu Hugo entschlossener Gegner der Kolonialpolitik und scharfer Kritiker von Jules Ferry: „Schauen Sie sich die Geschichte der Eroberung von Völkern an, die Sie Barbaren nennen, und Sie werden die Gewalt aller entfesselten Verbrechen, die Unterdrückung, das in Strömen fliessende Blut, den unterdrückten Schwachen, den vom Sieger Tyrannisierten sehen! Das ist die 913
J. Burbank, F. Cooper, Imperien der Weltgeschichte. Das Repertoire der Macht vom alten Rom und China bis heute. Frankfurt/M., 2012, S. 398.
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Geschichte Ihrer Zivilisation! (...) Wie viele grauenvolle und entsetzliche Verbrechen, wurden im Namen der Gerechtigkeit und Zivilisation begangen? Ich sage nichts von den Lastern, die der Europäer mit sich bringt: Alkohol, dem Opium, das er verbreitet und dessen Konsum – wenn es ihm gefällt – gefördert wird. Und es ist ein solches System, dass Sie versuchen, in Frankreich, in der Heimat der Menschenrechte zu rechtfertigen! Ich verstehe nicht, dass wir hier nicht einig waren, entsetzt aufzusprengen, um gegen Ihre Worte heftig zu protestieren. Nein, es gibt kein Recht der sogenannten höherwertigen Nationen über die minderwertigen Nationen. Der Kampf für das Leben ist eine fatale Notwendigkeit. Je mehr wir in der Zivilisation wachsen, dürfen wir die Grenzen der Gerechtigkeit und des Rechtes nicht überschreiten. Wir dürfen die Gewalt mit dem heuchlerischen Namen der Zivilisation nicht bedecken. Sprechen Sie nicht von Recht, von Pflicht. Die Eroberung, die Sie fördern, ist geradezu der Missbrauch von Macht, die die wissenschaftliche Zivilisation den rudimentären Zivilisationen gegenüber gibt, um sich den Menschen anzueignen, ihn zu foltern, seine ganze Kraft im Eigeninteressen auszunutzen. Es ist nicht das Recht, sondern seine Negation. In diesem Punkt, von Zivilisation zu sprechen, bedeutet der Gewalt die Heuchelei hinzuzufügen.“914 In seiner Stellungnahme macht Clemenceau deutlich, dass die von Frankreich begangenen massiven Menschenrechtsverletzungen gegen andere Völker im Namen der Zivilisation wohl bekannt waren. Dies bedeutet, dass auch der gelehrte Hugo wahrscheinlich nicht unwissend war. Clemenceau prangert hier nicht das Fehlen an Informationen an, sondern den Mangel an Ehrlichkeit und Mut zur Bekämpfung dieser kriminellen Politik bzw. zur Verurteilung und Zurückweisung von Ferrys Kolonialismus. Clemenceau verzichtet auf Hugos Anmassung (Wir besitzen die Zivilisation), verspottet den Begriff der ‚überlegenen Rassen’ und macht deutlich, dass Zivilisation als Wachstumsprozess im Einklang mit moralischen Werten zu verstehen ist.915 Mit diesem Verständnis von Zivilisation hatte der tatsächliche Einsatz Frankreichs in der Welt nicht zu tun; vielmehr handelte es sich dabei um einen klaren Fall von Ausbeutung. Damit untergräbt Clemenceau – Hugos Zeitgenosse – auch das dritte Argument von Paulhac. Dessen Argumente sind nicht nur schwach, sondern auch gefährlich, weil sie für viele, wenn nicht für jeglichen, Verbrecher in der Geschichte ausgenutzt werden können. Zeitweise grenzen sie an Zynismus und Leichtsinnigkeit, z.B. wenn er behauptet: „Kann man anderseits dem grössten Dichter des neunzehnten Jahrhunderts seinen Idealismus, seinen Sinn für die Formel [die Fähigkeit, sich treffsicher auszudrücken], seine Eloquenz in ständiger Suche nach etwas Epischem [...] vorwerfen? Sind wir nicht berührt von
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Allocution de Georges Clemenceau, Journal Officiel, séance du 30 juillet 1885, zitiert nach G. Manceron, 1885: le tournant colonial de la République. Paris, 2007, S. 25f. Freie Übersetzung. Clemenceau verwendet aber fragwürdige Begriffe wie das ‚Genie der französischen Rasse‘ („die die Rechts- und Gerechtigkeitstheorie universalisiert hatte...“). Außerdem folgte auch er der Kolonialpolitik identisch weiter, als er später in die Regierung eintrat.
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seiner engelhaften Vorstellung [Entwurf] des Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, der notwendigerweise besser als der von 1879 sein sollte?“916 Wo es um eine (politische) Ansicht, die unzählige Opfer gefordert hat, um das dramatische Schicksal von Millionen Menschen geht, wird der Wertgesichtspunkt hier auf literarische Schönheit gelegt. Aber Schönheit ist hier nicht der Punkt. Ohne in irgendeiner Weise Hugos literarische Begabung und die Relevanz seiner Werke zu leugnen, kann man sich darüber hinaus fragen, wie wertvoll was das Schöne sein kann, wenn es das Wahre und Gerechte zurückdrängt und das Schlimme befördert. Was soll Großartiges darin bestehen, wenn das Menschliche ruiniert wird? Die Vereinigung des Nützlichen, Wahren und Schönen ist – Hugo selbst sagte (Literaturkongress, 1878) – der Triumph der erhabenen Bemühungen der Menschen, ihres Strebens nach Zivilisation und Frieden. Dennoch wird Hugo von Paulhac gleichzeitig als naiv dargestellt und als der Grösste gefeiert. Wenn Hugo im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen dermassen leichtgläubig war, worin war er der „Chef der modernen Literatur“ (Schoelcher), der „Größte“ seines Jahrhunderts? Und wenn wir seine Lücken nun feststellen, inwiefern wäre es anachronistisch, ihm diesen Status abzusprechen? Welchen Wert hat dieses Narrativ aus interkultureller Sicht? Paulhac unterzeichnet dadurch die Notwendigkeit eines Pluralismus von Narrativen (siehe These 5 im Folgenden). Es versteht sich von selbst, dass Paulhacs narzisstische Bemerkung für viele Nicht-Franzosen, aber auch für manche Franzosen unangebracht ist und ein echtes Problem darstellt. Berührt werden viele Menschen in der Welt weniger von Hugos blauäugigen Vorstellungen vom Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts als vom dramatischen Schicksal derjenigen Bevölkerungen, die nach wie vor die Schäden der Raubpolitik erdulden müssen, zu der Hugo aufgefordert hatte. Und wie hätte diese angeblich bessere Vorstellung auch real werden können, wenn der Autor selbst die falsche Grundlage legte? Das Gesicht des Menschen bzw. der Menschheit im 19 Jahrhundert erscheint als hässlich, weil viele vermeintliche Lichter der Epoche aktiv durch Ideologien oder passiv durch Schweigen bzw. Nicht-Beachtung kritischer Stimmen zu Ausbeutung und Genozid beigetragen haben. (Die heute oft kritisierte Komplizität der ‚internationalen Gemeinschaft’ hat also eine Vorgeschichte). Die Verdinglichung des Anderen ist sicherlich die effektivste Art, massive Säuberungen ideologisch vorzubereiten. Und wenn dies geschieht, können Fragen nach Ursachen bzw. Rechenschaft aufgeworfen werden. Merkwürdigerweise zieht Paulhac einen anderen Schluss: „Sechs Jahre später wird die Berliner Konferenz diesen etwas zu naiv und humanistisch konzipierten ‚zivilisatorischen’ Optimismus in die vergessenen Schubladen der Geschichte skrupellos einordnen und die reale Seite dessen eröffnen, was Kolonisation eigentlich sein wird.“ Dies läuft auf nichts anderes hinaus, als darauf, dass jemand klar und deutlich zu einen Überfall seines Nachbar
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J-P. Paulhac, „Victor Hugo et l´Afrique ou la naïveté ‚civilisationnelle‘“, a.a.O., S. 28.
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(„beraubt ihm, besetzt sein Haus und plündert es“) auffordern kann, und, nachdem dies geschehen ist, keine Verantwortung dafür trägt. Dass dieser ‚jemand’ der grösste Dichter seines Jahrhunderts (also eine höchst einflussreiche Person, auf die man in der Gesellschaft hörte und deren Reden stets von stehenden Ovationen „Vive Victor Hugo, vive la République“ gefolgt wurden), ändert das Problem aus dem moralischen bzw. rechtlichen Gesichtspunkt nicht. Was genau hat die Berliner Konferenz ausgeführt, das nicht bereits in Hugos Rede eine Grundlage findet? An diesem Punkt, wie Clemenceau, von Zivilisation zu sprechen bedeutet, der Gewalt die Heuchelei hinzuzufügen. Um eine solche Heuchelei als Mensch und zudem als Wissenschaftler zu vermeiden, hat Habermas z.B. nicht gezögert, Heidegger, dessen Buch Sein und Zeit er als „das bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels Phänomenologie“ bezeichnet hat, in Bezug auf sein Verhältnis zu den Nationalsozialismus deutlich zu kritisieren. Ist es nicht auch an der Zeit, Hugos Worte in seiner Rede für Voltaire ernst zu nehmen und sie dementsprechend zu verurteilen? „Heute wird die Gewalt als Gewalt bezeichnet und beurteilt, der Krieg wird angeklagt; die Zivilisation untersucht auf der Klage der Menschheit den Prozess und erstellt das große Strafregister der Eroberer und Kapitäne. Dieser Zeuge, die Geschichte, wird gerufen. Die Realität taucht auf. [...] In vielen Fällen ist der Held ein anderes Gesicht des Mörders. Die Leute verstehen, dass man eine Untat nicht vermindern kann, indem man sie vergrössert, dass, wenn töten ein Verbrechen ist, mehrere Menschen töten kein mildernder Umstand sein kann. Wenn stehlen eine Schande ist, kann die Invasion keine Ehre sein. [...] Tötung ist Tötung, vergossenes Blut ist vergossenes Blut. Man braucht nicht, Caesar oder Napoleon zu heissen; in den Augen des ewigen Gottes ist es nicht möglich, das Gesicht des Mordes zu ändern, weil man, statt eine Mütze des Zwangsarbeiters auf den Kopf, eine Kaiserkrone trägt.“917 Hugo verpönt hier den Krieg, untersagt die Tötung, betont, dass es keinen blutigen Ruhm gibt. All dies ist vergessen, wenn es um Afrika geht. Wenn wir Hugos Stimme nicht für die Stimme der Gerechtigkeit (bzw. der Menschheit) halten, wenn wir beide nicht miteinander verwechseln, dann haben wir die Größe der Gerechtigkeit gewahrt. Damit bleibt die Möglichkeit bestehen, zum Schutz des menschlichen Lebens einen sudanesischen Machthaber, aber auch einen ‚grand monsieur’ wie Hugo zu kritisieren. Die Wut über die Verletzung der Gerechtigkeit beschrieb Hugo selbst bei der Einweihung von Ledru-Rollins Grabstätte folgendermassen: „Wenn der ehrliche Mann spricht, ist eine gewisse oratorische Gewalt ihm angemessen und scheint die erhabene Kraft der Vernunft zu sein. Angesichts von Heucheleien, Tyranneien und Schändlichkeiten ist es manchmal notwendig, der Entrüstung des Ideals Ausdruck verleihen und die Gerechtigkeit im Zorn widerzuspiegeln.“918 Ein solcher Zorn war in der Stimme der Geschwister Scholl 917 918
V. Hugo, „Le centenaire de Voltaire“, 30. Mai 1878, in ders., Actes et Paroles, a.a.O., S. 83. V. Hugo, „Inauguration du tombeau de Ledru-Rollin“, 24. Februar 1878, in ders., Actes et Paroles, a.a.O., S. 66.
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(siehe Einleitung des Kapitels), humanitärer UNO-Koordinator im Irak Denis Halliday (These 1), von Lumumba (These 2) usw. Man kann hier nicht von einer bloßen Affektion des Körpers sprechen. Dieser Zorn verweist auf ein moralisches Urteilen, ein moralisches Wissen, das der Mensch als leichliches und wertendes Wesen hat. Selbstverständlich ist ein derartiges Wissen nicht auf die Grenzen der Kulturen beschränkt. Das Vorausgehende hat gezeigt, dass moralische Werte (bzw. demokratische Prinzipien) in Konflikt mit militärischen und wirtschaftlichen Interessen stehen können. Dies unterstreicht die Relevanz der Kritik. Zumal die Kolonialpolitik heute in einer neuen Form auftaucht und in dieser Form weiterhin das Wohlergehen der Menschen sowie die interkulturelle Erfahrung gefährdet. Sarkozys (neokoloniale) „Rede an die Jugend Afrikas“ im Senegal ist vielsagend: „Ich bin gekommen, um zu Ihnen offen und ehrlich zu sprechen. […] Ich bin nicht gekommen, Fehler und Verbrechen zu leugnen, denn Fehler und Verbrechen hat es sehr wohl gegeben. Es gab den Sklavenhandel, es gab die Sklaverei: Männer, Frauen, Kinder – gekauft und verkauft wie Waren. […] Sie wollten den afrikanischen Menschen bekehren, […] sie maßten sich alle Rechte an, glaubten sich allmächtig.“919 Mit unpersönlichen Formulierungen (‚wollen’, ‚glauben’...), Euphemismen und Ungenauigkeiten schafft diese Rede eine Unübersichtlichkeit, „so dass man am Ende nicht mehr weiss, wer wann wo was getan hat und, vor allem, wem jeweils die historische Verantwortung zukommt [...]“920. Dies ist schon unterschwellig in Sarkozys Andeutung vorhanden, dass die Kolonisierung sicherlich ein Fehler war, „der durch die Verbitterung und das Leiden jener bezahlt wurde, die geglaubt hatten, alles zu geben und die nicht verstanden, warum man ihnen so viel Vorwürfe machte.“ Die Unterstellung eines gutwilligen Handelns im Namen ‚echter Werte‘ bei den kolonialen Eroberungen wurde anhand der Rede Hugos schon erwogen und kritisiert. Hier genügt es, den merkwürdigen Charakter der Art von Freundschaft hervorzuheben, die Sarkozy wie schon seine Amtsvorgänger Afrika gegenüber erklären. Dazu sagt Mbokolo. „Welche Art von Freunden sind diese selbsternannten ‚Freunde Afrikas’, die anscheinend Freude nur an Verleumdungen finden? Noch bis gestern hatten diese Leute genug Vorsicht oder Schamgefühl gezeigt - werden wir es jemals wissen? –, um sich von dem Kontinent fernzuhalten, wenn sie übel über Afrika und die afrikanischen Völker redeten. Heute überschreitet ihre Kühnheit alle Grenzen: Sie kommen auf den afrikanischen Boden selbst und stehen den Afrikanern gegenüber, um wie Tro-
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N. Sarkozy, Discours à l´Université de Dakar, 26 Juli 2007, a.a.O. Z. Bouchentouf-Siagh, „Doppelbödigkeit und Geschichtsschacher“, in P. Cichon et al. (Hg.), Der undankbare Kontinent? Afrikanische Antworten auf europäische Bevormundung. Hamburg, 2010, S. 78.
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phäen höchst geschickt beleidigenden Worte über den schwarzen Kontinent zu erzählen.“921 Dies ist eine lange und sehr ambivalente Tradition seitens der früheren Kolonialreiche, die die Förderung einer fruchtbaren interkulturellen Begegnung nach wie vor erschwert. Kein ernstzunehmender Analyst würde die Verantwortung der Afrikaner für verschiedene Problemen ihres Kontinents leugnen. Die einseitige Zuschreibung der Opferrolle ist auf jeden Fall zu vermeiden. Sie ist Betrug und Selbstbetrug. Aber es ist unangebracht und moralisch ein Zeichen der Selbstgefälligkeit, dass Sarkozy dies ausnutzt, um die Auswertung der Kolonialpolitik auszubalancieren und ihre Akteure zu rechtfertigen („Sie haben Fehler gemacht, aber sie waren ehrlich“).922 Die Kolonisierung mag offiziell für beendet erklärt worden sein, aber kann man tabula rasa machen und von gerechten Machtverhältnissen nun sprechen (siehe den Bodensatz der internationalen Politik in der These 1)? Zahlreiche Berichte von UN-Experten und Menschenrechtsorganisationen über die Kriege, über das Zusammenspiel zwischen lokalen Potentaten und grossen Drahtziehern und Nutzniessern, über den Wettlauf um die Rohstoffe bzw. den massiven Zugriff auf Rohstoffe usw. sind ernüchternd genug. Der Journalist Schmid hat Sarkozys Grundgedanke zutreffend zusammengefasst: „In fernerer Vergangenheit, zur Zeit unserer längst verstorbenen Vorväter, mag es Unrecht und Fehlentscheidungen von unserer Seite gegeben haben. Sicherlich, die Situation bleibt ambivalent, und es kann kein eindeutiges geschichtliches Urteil über die damalige Periode gefällt werden. Heute dagegen liegen die Fehler bestimmt nicht bei uns, vielmehr ist es heutzutage klar, dass Afrika an seinen Problemen ganz allein oder überwiegend selbst schuld ist.“923 921
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E. Mbokolo, Vorwort, in A. B. Konaré, Petit précis de remise à niveau sur l´histoire africaine à l´usage du Président Sarkozy, a.a.O., S. 1. Freie Übersetzung. Die französische Botschaft in Berlin sieht den Applaus der Zuhörer als eine Zustimmung zu Sarkozys Rede. Französische Botschaft, (Gastbeitrag des Staatssekretärs für Zusammenarbeit und Frankophonie Jean-Marie Bockel In der Tageszeitung "Le Figaro", Auszüge, Paris, 4. September 2007, veröffentlicht am 06.09.2007, http://www.ambafrance-de.org/IMG/Bockel_Afrique_Figaro_409.07.pdf, abgerufen am 10.12.2016). Le Monde hingegen sprach am 27.07.2007 von „kaum (auch nur) Höflichkeitsapplaus“ seitens eines sorgfältig ausgewählten Publikums und erkannte darin eine Missbilligung. Es fügte in seinem am 23.08.2008 hinzu: „Das Publikum hätte der Anerkennung von ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit’ in Bezug auf Sklaverei und ‚perverse Auswirkungen der Kolonisierung’ applaudieren können […]. Wenn sich die Zuhörer endlich bei dieser langen ‚Ansprache’ [...] mit Kälte aufgenommen haben, haben sie wahrscheinlich darin kein einziges Zeichen von ‚Reue’ erkannt.“ Siehe P. Bernard und C. Jakubyszyn, „A Dakar, Nicolas Sarkozy appelle l'Afrique à "renaître" et à "s'élancer vers l'avenir“, in Le Monde, 27.07.2007, https:// www.lemonde.fr/afrique/article/2007/07/27/a-dakar-nicolas-sarkozy-appelle-l-afrique-a-renaitreet-a-s-elancer-vers-l-avenir_1774752_3212.html, abgerufen am 07.12.206; P. Bernard, „Le faux pas africain de Sarkozy“, in Le Monde, 23.08.2007, https://www.lemonde.fr/sarkozy-un-an-a-l-elysee/article/2007/08/23/le-faux-pas-africain-de-sarkozy-par-philippe-bernard_946870_1036775. html, abgerufen am 07.12.206. B. Schmid, „Nach der ‚Françafrique‘ kommt jetzt ‚Sarkafrique‘“, 03.08.2007, https://www.heise. de/tp/features/Nach-der-Francafrique-kommt-jetzt-Sarkafrique-3414666.html, abgerufen am
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An dieser Stelle ist zu betonen, dass Sarkozy nicht nur der wichtigen Frage der historischen Verantwortung ausgewichen ist bzw. selbst die Möglichkeit einer Reue als einer moralischen Entschädigung ausgeschlossen hat – („Niemand kann von Söhnen verlangen, die Sünden ihrer Väter zu bereuen“), sondern auch die korrupten afrikanischen Regimes, „die etablierten Machthaber beruhigt. Zugleich jedoch hat er sich die jungen, die Führungskräfte von morgen, entfremdet“.924 Bei dieser Entfremdung durch eine eurozentrische Afrikadeutung wurden ein Zerrbild von Afrika und ein ebenso verzerrtes glänzendes Bild von Frankreich gezeichnet, wobei Frankreich die Aufgabe zukommt, ‚Europas universelle Werte‘ in Afrika einzuführen. Daher ist Sarkozys Rede ein kurioses Partnerschaftsangebot und grundlegend neokolonial. Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit bleiben dort ‚europäische‘ Werte und die ganze Welt, die Menschheit soll das auch so akzeptieren. Eine kulturalistische Lesart will dies untermauern, indem sie korrupte Machthaber bzw. „Vermittlerfiguren des imperialen Systems“ (E.H.I. Sall925) als Vertreter ganzer Kulturen und ihre Praktiken als Illustrationen der (absoluten) Unterschiedlichkeit von Kulturen mit ihren jeweiligen Werten darstellt. Die Jugend, die die bestehenden Herausforderungen genau kennt, die sich nicht bloss eine bessere, solidarische und gerechte Welt erträumt, sondern auch bereit ist, ihre ganze Kraft dafür einzusetzen, wird verunsichert bzw. desorientiert. Sarkozy spricht zu Recht von einer Renaissance (Wiedergeburt) Afrikas, verweist aber zugleich auf Frankreich bzw. Europa als ‚Referenz‘ für die afrikanische Jugend, während es doch afrikanische Traditionen und zahlreiche intellektuelle Eliten gibt, die sehr kritisch den korrupten Machthabern gegenüber stehen und sich daher als viel greifbarere Vorbilder zur Orientierung der Jugend für ein ‚neues‘ Afrika eignen. These 4 wird daher die Aufwertung des Kontexts betonen. Denn Kontexte sind – mit Waldenfels gesprochen – keine Anwendungsorte, sondern Orte der Produktion von Sinn und der Kreativität. Den anderen die eigenen Modelle ‚aufzuerlegen‘ und die Hoffnungen oder hohe Erwartungen – wenn auch ehrlich – daran zu knüpfen, dass sie erfolgreich sind, ist selbstwidersprüchlich. In den vorliegenden Überlegungen wird die Universalität nur als die Universalität von unten akzeptiert. Was unten ist, ist nicht geschlossen (Kulturen sind keine abgekapselten Entitäten). Offenheit ist zwar notwendig und wichtig, aber es muss immer darauf geachtet, dass die Lösungen auf die Kontexte zugeschnitten sind. Dem narzisstischen Charakter der Erzählung Sarkozys kann man den Hinweis auf die Pluralität von Erzählungen und von Traditionen der Welt entgegenstellen, die alle zur Universalität beitragen. Nur wenn man sich allein übermässig liebt und sich gern selbst reden hören will, kommt man auf 07.12.2016. Berücksichtigt man, wie Elf Aquitaine (heute Total) nach Eingeständnis von Loïk Le Floch-Prigent, dem früheren Chef von ELF, „die Diktatoren und Präsidenten auswählt oder ‚platziert’, so lässt sich die suggerierte Schuldlosigkeit des Westens, Europas oder Frankreichs wohl kaum gänzlich aufrecht erhalten.“ (Ebenda) 924 M. M. Ngalasso, „Ich bin gekommen, um euch zu sagen... Anatomie einer neokolonialen Rede in der Kautschuk-Sprache“, in P. Cichon et al. (Hg.), Der undankbare Kontinent?, a.a. O., S. 102. 925 E. H. I. Sall, „Archipele des Trügerischen“, in P. Cichon et al. (Hg.), Der undankbare Kontinent?, a.a.O., S. 212.
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den Irrglauben, dass die anderen nicht von Freiheit, Gleichheit usw. gesprochen haben und deshalb an die einzige wertvolle (europäische) Tradition angegliedert werden müssen. Die Interkulturalität als Verschränkung bricht mit dieser Ansicht, in der die interkulturelle Kritik falsch verstanden und in Verruf gebracht wird. Vor dem nächsten Schritt, muss Klarheit darüber geschaffen werden, dass die hier ausgeübte Kritik weniger gegen bestimmte Menschen gerichtet ist, sondern vielmehr gegen Strukturen der Dominierung, Irrglaube, Vorurteile, Gemeinplätze und Diskriminierung, kurzum, gegen eine ‚gewaltsame‘ Gestaltung der Welt, die unter anderem schon mit verzerrten Bildern von Kulturen bzw. ihren Zusammenhängen anfangen. Dieser kritische Einsatz hat keine geringe Relevanz, bedenkt man, dass die Beständigkeit des Irrglaubens, manche Menschen seien minderwertig, die meisten Bemühungen um eine übergreifende Solidarität und den französischen Anti-Kolonialismus zunichte gemacht hat.926 Gewalt hat viele Gesichter bzw. Verkleidungen. Ihr Überschminken, das wir z.B. in Form von Pseudolegitimationen erwähnt haben, ist kein Randphänomen. Waldenfels sagt zutreffend, dass sie – wie das Böse – etwas Schmarotzerisches hat. Denn „sie lebt nicht aus sich selbst. Deshalb führt die direkte Frage nach dem, was Gewalt sei, ins Leere. Es bedarf geeigneter Umwege“.927 Victor Hugo hat anhand rhetorischer Mittel eine Rede gehalten, die das Wesen der Gewalt aussagekräftigt illustriert. Es geht um eine anmaßende Rede, in der die Betroffenen des gewaltvollen Akts keine Gesichter haben. Sie werden in Martin Bubers Begrifflichkeit in Es umgewandelt; sie sind kein Du. Sie sind niemand. Dies sagt Victor Hugo ganz deutlich. Sie sind also mit Waldenfels gesprochen „weder vertragsfähig noch freundschaftsfähig, noch satisfaktionsfähig. Auch die Frage, ob ‚er‘ oder ‚sie‘, fällt nicht ins Gewicht; das Es ist geschlechtslos“.928 Blicke, Worte, Urteile, Handlungen usw. töten. In all diesen Fällen äußert sich ein „performatives Nein“ (Waldenfels), das eigentlich kein gewöhnliches prädikatives Nein ist. Aber es gibt auch ein Gegen-Nein als „ethischer Widerstand“ (Levinas), dem wir mit dem Begriff des Antlitzes in der These 1 begegnet sind. Dieses Gegen-Nein, das nicht mit einem liebevollen oder frommen Wunsch zu verwechseln ist, wird gehört. „Du wirst mich nicht töten“ ist ein unüberhörbarer Appell, der auch ein Rappel ist, gemäß dem „der Andere mehr ist als ein Etwas, das man wie ein Spielzeug zerstören kann“.929 Für ein wirklich friedliches Zusammenleben wird benötigt, dass alle Menschen menschlich sind, leben und handeln. Unsere Überlegungen schließen sich an all jene Überlegungen an, die eine solche Ansicht vertreten.
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A. Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, a.a.O., S. 149; auch C-R. Ageron, L´Anticolonialisme en France de 1871 à 1914. Paris, 1973. B. Waldenfels, Hyperphänomene, a.a.O., S. 315. B. Waldenfels, Hyperphänomene, a.a.O., S. 318. B. Waldenfels, Hyperphänomene, a.a.O., S. 320.
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‚Victor Hugo, mon frère (mein Bruder)!‘ Wer es ist, der so aufschreit, ist nicht wichtig. Es könnte jeder sein. Es ist jeder Mensch in jeder Zeit, der den Kopf schütteln wird, wenn er Hugos Rede hört. ‚Victor Hugo, mein Bruder‘ ist ein Aufschrei. Er drückt keine Bitte um Mitleid aus, sondern ein Erstaunen, einen Appell an das Gewissen. Es kommt den Fragen gleich: ‚Ist das dein Ernst?‘ oder ‚Brauchst du das wirklich, mein Bruder?‘. Erwartet wird nicht Mitleid, sondern klare Sicht, ein tiefes Wissen, das das akademische Wissen nicht ausschliesst, aber mit ihm nicht verwechselt werden darf; ein Wissen, das auf die Leiblichkeit des menschlichen Wesens fundiert und es befähigt, das Ungerechte zu sehen, zu erkennen, zu fühlen und ihm zu widerstehen; ein Wissen, das seinen Ausdruck in einer tiefen Empörung findet. Es ist ein Wissen, das den Mensch zum Menschen bzw. menschlich macht. Es ist ein Wissen, das auch den Grund dafür abgibt, Victor Hugo trotz seiner Rede nicht als Feind, sondern immer noch als Bruder anzusprechen, denn es schließt die Möglichkeit aus, sich von der Feindschaft des Anderen anstecken zu lassen. Ein solches Wissen verwandelt sich in ein anti-ideologischer Akt und fundiert die Gewissheit, dass Unwahrheit, Dogmatismus, Narzissismus, Fanatismus, Diskriminierungen, Vorurteile immer zu bekämpfen sind. Es lässt ja erkennen, dass es immer der Mensch ist: – der im Namen der Menschheit spricht (Waldenfels) – der nach seinem guten Willen von Gott und dem Heiligen spricht (Mbog Bassong)
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7.4 These 4: Der Kontextualismus im relativen Sinn, absoluten Sinn und radikalen Sinn. Die interkulturelle Kritik ist auch eine Kritik an jedem Ansatz, der versucht, den Kontext abzuwerten oder zu übergehen. Interkulturelle Kritik richtet sich gegen jede Vereinnahmung, Aneignung, Assimilation. Alle diese Versuche werten den Kontext ab. Die Debatte Universalismus vs. Kontextualismus nimmt häufig aufgrund der verwendeten Begrifflichkeit eine zugespitzte Form an. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn der Begriff des Universalismus ethnozentrisch geprägt und der des Kontextualismus mit relativistischen Untertönen beladen ist. Diese Konnotationen rufen negativ-abwehrende Reaktionen hervor. Nicht nur der übermäßige Gebrauch dieser Begriffe durch verschiedene philosophische Positionen ist schuld an dieser Lage, sondern auch die mangelhafte Präzisierung ihres Sinns. In Bezug auf den Begriff der Kultur bzw. des Kontexts macht Ricoeur zu Recht darauf aufmerksam, dass er oft in einem ethnographischen Sinn gebraucht wird, der die bloße Vielfalt der Kulturen betont und gutheißt, die damit verbundene kritische Dimension jedoch außer Acht lässt. Indem man sich mit bloßer Vielfalt begnügt, „endet [man] in einer Apologie der Differenz um der Differenz willen, die im Grenzfall sämtliche Differenzen indifferent macht, insofern sie jede Diskussion verunmöglicht“.930 Folge dieser Apologie ist unter anderem ein Verständnis der (kulturellen) Tradition als einer antiargumentativen Autorität. In diesem Verständnis finden wiederum die Universalisten einen Grund für ihre antitraditionalistische Offensive (wie in der Argumentationsethik Habermas’); diese geht mit einer starken oder milden Abwertung des Kontextes, der kulturellen Besonderheiten einher. Diese Problemlage soll nicht nur diagnostiziert, sondern auch behoben werden. Es bedarf unter anderem einer Überlegung, die weder den Verhaltenskontext noch die (universelle) Verhaltensnorm „überfordert“,931 sondern sie als zwei „Gesichtspunkte“ darstellt, unter denen über das menschliche Verhalten geredet und diskutiert werden kann.932 Eine solche Überlegung macht den Weg frei für die Möglichkeit, dass Tradition und Kritik
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P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer. München,1996, S. 346. Siehe U. Tietz, „Faktizität, Geltung und Demokratie“, in DZPh 41(1993)2, S. 336. Siehe B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt/M, 1980, S. 286. Er definiert die zwei Begriffe folgendermaßen: „Mit der Verhaltensnorm (oder Verhaltensregel) verstehe ich in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch eine generelle, d.h. nicht auf eine einmalige Situation beschränkte Verhaltensvorschrift, die sich bei den jeweiligen Verhaltenspartnern in reziproken Verhaltenserwartungen niederschlägt und die zugleich der Rechtfertigung oder Begründung entsprechen der Verhaltensweisen dient. Mit dem Verhaltenskontext meine ich den Inbegriff von Verhaltensakten, seien es eigene oder fremde, simultane oder sukzessive, auf die sich ein fragliches Verhalten innerlich bezieht. […] Das Verhalten, das ich hierbei im Auge habe, ist natürlich ein sinnhaftes Geschehen, das als intentional bzw. als regelgeleitet zu charakterisieren wäre und nicht behavioristisch verstanden werden darf“. (Ebenda)
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eng miteinander verbunden sind. Damit rückt der kontextualistische Standpunkt ins rechte Licht. Denn der Kontext hört auf, als ein „bloßes Moment“ (Waldenfels) zu fungieren, das im Rahmen der Argumentationsethik aufgehoben werden kann und muss, oder als eine bloße Lebensform, der man gegenüberstehen kann. Es ist in Übereinstimmung mit Ricoeur zu bemerken, dass die Argumentationsethik Habermas’ eine „Säuberungsstrategie“ entwickelt, die die kontextuelle Vermittlung nicht hinreichend berücksichtigt. Diese Strategie lässt sich auf die kantische Tradition zurückführen, die Habermas als Bezugspunkt dient: „Kant richtete seine Säuberungsstrategie gegen die Neigung, die Suche nach Lust oder nach Glück (wobei sämtliche Gefühlsmodalitäten in einen Topf geworfen werden). Habermas richtet die seinige gegen alles, was sich unter den Begriff der Konvention bringen lässt. Ich schreibe diesen Rigorismus der Argumentation einer Interpretation der Moderne als quasiausschließlichem Bruch mit einer Vergangenheit zu – einer Vergangenheit, von der man annimmt, dass sie in dem Autoritätsprinzip unterworfenen und daher grundsätzlich der öffentlichen Diskussion entzogenen Traditionen erstarrt ist. So erklärt sich, dass die Konvention in einer Argumentationsethik eben jene Stelle einnimmt, welche bei Kant die Neigung innehatte. Auf diese Weise führt die Argumentationsethik in die Sackgasse eines sterilen Gegensatzes zwischen einem mindestens ebenso prozeduralen Universalismus wie demjenigen von Rawls und Dworkin und einen ‚kulturellen‘ Relativismus, der sich selbst außerhalb des Diskussionsfeldes stellt.“933 Waldenfels und Ricoeur lenken die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Habermas an eine maßgeblich von Kant geprägte lange Tradition in der Moralphilosophie anschließt, für die der Kontext eine Gefahr für die ‚Reinheit‘ und ‚Universalität‘ der Vernunft darstellt. Sie bildet ein gravierendes Hindernis für die Suche nach einem besseren, nicht ausschließenden Verhältnis zwischen Universalität und Kontextualität. Ricoeur stimmt zwar Habermas’ Verteidigung der Notwendigkeit universalistischer Forderungen zu; aber er weist nachdrücklich darauf hin, dass ohne die kontextuelle Vermittlung die Diskursethik auch ohne Zugriff auf die Wirklichkeit bleibt. Wenn Waldenfels Habermas dafür kritisiert, dass er eine „Universalität von oben“ oder eine „vertikale Universalität“ vertritt, gründet dies in der Tatsache, dass er den Kontext als einen Rahmen ansieht, über den man „prinzipiell hinausgehen muss“. Angesichts dieser Ansicht stellt sich nämlich die Frage, wo es einen solchen externen oder Metastandpunkt zum eigenen Kontext oder „Standpunkt des Dritten“ geben könnte. Dass dem Anspruch auf einen Metastandpunkt darüber hinaus eine Form von Gewalt inhärent ist, manifestiert sich in der Nicht-Berücksichtigung bzw. Unterschlagung des Orts (oder Standpunkts), von dem aus man spricht, z.B. in der Kritik an der Menschenrechtslage, die manche Akteure der globalen Politik äußern (siehe These 1).
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P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, a.a.O., S. 346.
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„Genealogisch gesehen bleibt der Standpunkt des Dritten stets gebunden an einen diskursiven Ort, von dem aus er geltend gemacht wird. Selbst universale Gesichtspunkte gelten nicht schlechthin, sie gelten nur, soweit jemand sich unter bestimmten Bedingungen, in bestimmten Formen und mit bestimmten Konsequenzen auf sie beruft. Diese genealogische Verankerung von Geltungsansprüchen, und seien sie noch so universal, bewirkt, dass die Generalisierungs-, und Universalisierungs- und Idealisierungslinien sich vervielfältigen, dass Universalität ebenso wie Singularität im Plural auftritt. […] Die Universalisierung steigert sich zu einem Universalisierungsdruck und Universalisierungszwang, wenn der Gesichtspunkt des Universalen, den wir einnehmen, sich in einem universalen Gesichtspunkt verwandelt, dem Eigenes wie dem Fremdes unterworfen wird. Denn damit sinkt die Fremdheit des Anderen und der anderen Kultur ebenso wie die eigene Fremdheit und die der eigenen Kultur zu einem Moment herab.“934 Druck und Zwang entstehen laut Waldenfels dann, wenn man den Standpunkt, von dem aus man das Ganze betrachtet, als den universalen Standpunkt ansieht, d.h. als einen allgemein gültigen Standpunkt. Waldenfels macht uns auf eine Art der Diktatur des Logos aufmerksam, die dem Versuch entspringt, den Hintergrund des Diskurses und die eigenen Präferenzen zu verbergen. Es geht um einen latenten Zwang des Diskurses, „der sich hinter der Zwanglosigkeit zwingender Argument verschanzt – ohne Rücksicht darauf, dass jedes Argument spezifischen Argumentationsfeldern entstammt und auf Präferenzen beruht, die sich nicht selbst wieder argumentativ einholen lassen.“935 Kurz gesagt, der (kulturelle) Kontext ist, mit Waldenfels gesprochen, keine „zusätzliche Umhüllung“ für ein Erkenntnis- oder Handlungssubjekt, sondern ein „mitwandernder Hintergrund“, dessen Bedeutung man nicht herabsetzen darf. Die Rede von einem universalen Standpunkt als externer Beobachtungsposition verweist hingegen auf ein fragwürdiges Verständnis des Kontextes. Sie mag interessant und attraktiv für die Philosophen aussehen, ist aber weit entfernt von der Wirklichkeit. Die Tatsache, dass der Gesichtspunkt der Norm überfordert wird, so dass der des Kontextes zu einem „empirischen Zierrat zur Seriosität des Normativen“ minimalisiert wird, ergibt sich, laut Waldenfels, zum Großteil aus dem Versuch, die Norm von ihrer Genese zu separieren. Auch für Wellmer tragen die Normen selbst gleichsam „einen situativen Index, durch welchen sie zurückgebunden bleiben an die Situationen ihrer Generierung.
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B. Waldenfels, „Der Andere und der Dritte in interkultureller Sicht“, in R.A. Mall, N. Schneider, Ethik und Politik aus interkultureller Sicht, Amsterdam – Atlanta, 1996, S. 79. B. Waldenfels, Idiome des Denkens: Deutsch-französische Gedankengänge II. Frankfurt/M., 2005, S. 19. Habermas selbst hat trotz seiner universalistischen Orientierung gestanden, dass es ein schwieriger Teil der Ethik ist, nachzuweisen, dass „unser Moralprinzip nicht nur die Vorurteile des erwachsenen, weißen, männlichen, bürgerlich erzogenen Mitteleuropäers von heute widerspiegelt.“ (Habermas, „Moralität und Sittlichkeit“, a.a.O., S. 18; vgl. auch M. Hunyadi, Morale contextuelle. Québec, 2008, S. 13, 25).
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Begründungs- und Anwendungsdiskurs lassen sich im Falle moralischer Normen nicht kategorial voneinander trennen“.936 Eine derartige Trennung versperrt den Blick für die Relevanz des Kontextes für die Analyse des Verhaltens. Der Mensch ist mit dem Kontext eng verbunden. Dieser Umstand rückt mit der phänomenologischen Betrachtungsweise in den Vordergrund. Phänomenologie verbindet „immer die Frage nach dem, was etwas ist, mit dem Wie seiner Gegebenheit und Verfasstheit. Der Ort, von dem aus man sieht, von dem aus man spricht, von dem aus man denkt, müsste immer mit in Betracht gezogen werden“.937 Wir äußern uns und handeln immer vor einem (kulturellen) Hintergrund. Durch diese Erläuterungen wird versucht, zu zeigen, dass die empfehlenswerteste und erfolgversprechendste Art, die Opposition Universalismus-Partikularismus zu überwinden, darin besteht, die universalistischen Forderungen zu verteidigen, ohne dabei den Kontext abzuwerten. Nun fragt es sich, ob die Aufwertung des Kontextes in einem Frontalangriff gegen die Universalität münden muss. Das ist nicht der Fall. Daher können – unter dem Muster von Waldenfels’ Typologie der Fremdheit – den Kontextualismus im relativen Sinn, absoluten Sinn und radikalen Sinn unterschieden werden. Der Kontextualismus im relativen Sinn bezieht sich auf den oben kritisierten Versuch, den Kontext zu einer „zusätzlichen Umhüllung“ für das Erkenntnis- bzw. Handlungssubjekt, einer „bloßen Randbedingung für die Normenanwendung“ oder einem „bloßen Moment“ (einen Übergangsstadium) auf dem Weg zur Universalisierung zu marginalisieren. Orte, an denen dies deutlich zu erkennen, sind z.B. der Entwicklungs- und Bildungsbereich. Zum Entwicklungsbereich: Hier kann man sich darauf beschränken, einige gravierende Probleme in der Antrittsrede des US-Präsidenten Truman (1949) hervorzuheben. Die Auswahl dieser Rede begründet sich darin, dass sie den bis heute sehr einflussreichen Begriff ‚underdeveloped‘ (unterentwickelt) einführt. Auf diesem Begriff beruht die feste Überzeugung, dass die sogenannten entwickelten Länder das Recht haben, in ‚unterentwickelten‘ Ländern zu intervenieren. Dass der Kontext hier abgewertet wird, zeigt sich in der Aufforderung, in diese rückgängigen Länder das westliche Modell der Entwicklung zu implantieren. Manche Autoren haben in der vorliegenden Gegenüberstellung einen Übergang von
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A. Wellmer, Ethik und Dialog, a.a.O., S. 134. Eine ausführliche Untersuchung über die Begründungs- und Anwendungsfragen in der Diskursethik findet man z.B. in N. Gottschalk-Mazouz, Diskursethik. Theorien, Entwicklungen, Perspektiven. Berlin, 2000; M. H. Werner, Diskursethik als Maximenethik. Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung. Würzburg, 2003. Vgl. B. Waldenfels, Vernunft im Zeichen des Fremden. Frankfurt/M., 2001, S. 430. Auf die Frage, was der Kontext leistet, antwortet Waldenfels: „[D]er Kontext eröffnet einen mittleren Bereich, der sich der Scheidung in eine Sphäre des rein Faktischen (anspruchslose Tatsachen) und eine Sphäre des rein Normativen (kontrafaktische Ansprüche) entzieht, weil er es mit situierten Ansprüchen zu tun hat.“ (B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, a.a.O., S. 297.)
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„biologischen“ Dichotomie (zivilisiert/ unzivilisiert) zu einer „sozialgeographischen“ Dichotomie (entwickelter Norden/ unterentwickelter Süden) erkannt.938 Überlassen wir aber Truman das Wort, um einiges zu erläutern: „The old imperialism – exploitation for foreign profit - has no place in our plans. What we envisage is a program of development based on the concepts of democratic fair-dealing. […] Democracy alone can supply the vitalizing force to stir the peoples of the world into triumphant action, not only against their human oppressors, but also against their ancient enemies-hunger, misery, and despair.“939 Trumans Befürwortung der Durchsetzung des westlichen Modells der Entwicklung lässt nicht erkennen, dass er die Grundlage des alten Imperialismus überwindet. Erstaunlich bleibt dabei, dass er nach der Erwähnung des (alten) Imperialismus als „ancient enemies“ Hunger, Armut und Verzweiflung identifiziert, nicht aber Unterdrückung und Ausbeutung. Dies veranschaulicht deutlich, dass Truman nicht im Namen der Menschheit spricht, sondern von einem Standpunkt (Eigeninteresse) aus, der nicht für einen universellen oder allgemeingültigen Standpunkt gehalten werden darf. Der Verzicht auf die Rhetorik des Fortschritts bedeutet nicht den Verzicht auf die Ausbeutungspolitik und den ihr zugrundeliegenden materialistischen Imperativ des ungezügelten Konsums. Diese wurden unter dem neuen Schlagwort der Entwicklung fortgesetzt. Aber eine Entwicklung, die als mehr als nur Wachstum verstanden wird, musste schliesslich seine Grenzen zeigen. Auf die Frage, wieso es ‚Unterentwicklung‘ gibt, wurde oft auf Ursachen wie Klima, traditionelle Strukturen sozialer Organisationen, kulturelle Mentalität, kulturelle Diversität verwiesen. Kaum je rückte die Last der Kolonisation (mit ihren unrechtmässigen Schulden und Strukturanpassungsprogrammen 940 ) und das Fortbestehen kolonialer Mentalität in den Mittelpunkt. Festzustellen ist, dass eine Umstrukturierung der Gesellschaften und der Wandel der Mentalitäten nicht die versprochenen Resultate gebracht haben. Immer wieder stellt sich die Frage, wie eine lehrreiche Begegnung, ein fruchtbarer Austausch zwischen Kulturen stattfinden kann, wenn manche Kulturen untergraben werden und die Bedeutung ihrer Traditionen bzw. des Kontextes verkannt wird. Eines muss hier klar sein: wenn der Kontext nicht aufgewertet wird, bleiben Entwicklungsprogramme bzw. -hilfen eine ‚Sisyphos-Arbeit‘. Verfremdende Eingriffe erzeugen vielleicht Unterwerfung, aber keine (Selbst-)Schätzung
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A. Ziai, Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster, 2006, S. 37. Truman's Inaugural Address, Truman's Inaugural Address, 20.01.1949, https://www.trumanlibrary. org/whistlestop/50yr_archive/inagural20jan1949.htm, abgerufen am 08.02.2012. Siehe z.B. W. Easterly, „What did structural adjustment adjust?“, in Journal of Development Economics, 76, 2005, S. 1–22. M. Chossudovsky, Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg. Frankfurt/M., 2002. N. Chomsky, Die Herren der Welt: Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten. Wien, 2016.
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und volle Beteiligung. Sie erzeugen sogar ‚Faulheit‘, die von Außem nicht immer begreifbar ist. Der Mensch, der zu der Ansicht (gekommen) ist, dass er im Grunde für fremde Interessen arbeitet, verliert die Motivation, lehnt es ab, das Beste zu geben. Diese ablehnende Haltung, die zum Ausdruck kommt in kritischen bzw. spöttischen Bezeichnungen für diese Art von Arbeit sowie deren Förderer, wird bei einer oberflächlichen Betrachtung missverstanden. Infolgedessen bleibt man unfähig, zu erklären, wieso der Mensch, der z.B. im Familienfeld beeindruckend intensiv arbeitet, sich als ‚faul‘ in einer für ihn verfremdenden Struktur zeigt. Nach wie vor bleibt die Erkundung des Selbstbewusstseins des ‚Unterdrückten‘ eine notwendige Aufgabe. Kayoya beschreibt in seinem Text „Das Selbstbewusstsein des ‚Kolonisierten‘“ das vorliegende Problem prägnant: „All das entwickelte in mir die Neigung zum Widerspruch, Ich wolle etwas anderes sehen […]. Mein Volk wurde zur Maschine. Die Maschine, zu der mein Volk wurde, verlor im Laufe der Tage das ‚Mechanismus-Bewusstsein‘. Sie war keine ‚menschliche‘ Maschine mehr. Sie war nur noch ‚mechanische‘ Maschine. Die menschliche Maschine, die mein Volk war, wurde aus der Ferne gesteueurt. Bei allem, was sie produzierte, wusste sie, dass sie für jemand anderes prroduzierte. Diese Vorstellung war zur fixen Idee geworden. Sie glaubte, sie lebte für jemand anderen.“941 Dieser Ausschnitt macht deutlich, wieso Trumans Entwicklungsprojekts – sowie die gegenwärtigen, die trotz neuer Bezeichnungen zur gleichen Konstellation gehören – nichts anderes als eine Missgeburt sein sollte. Sie ist ein Armutszeugnis, wie die Verfremdung im Namen der Demokratie gefördert werden kann. Sie ist auch eine Kritik an der Fokussierung auf die Kategorie der Quantität im Entwicklungskonzept auf Kosten der Kategorie der Qualität (die Natur der Beziehung zu Mitmenschen und zur Umwelt). Zum Bildungsbereich: Eroberung und Unterdrückung geschehen schnell durch Kanonen, aber erlangen Dauer durch die Formung des Geistes. Der senegalesische Schriftsteller Cheikh Hamidou Kane thematisiert in seinem in der Literatur gekrönten Roman Aventure ambiguë (Der Zwiespalt des Samba Diallo) sehr treffend den Einbruch der kolonialfranzösischen „nouvelle école“ in die Gesellschaften Afrikas und deren Folgen. Eine der wichtigen Fragen der Problematik lautet: „ce qu´on apprend vaut ce qu´on oublie ?“ („Ist das, was man lernt, so viel Wert wie das, was man vergisst?)“942 Es geht nicht darum, die Schule an sich zu kritisieren, sondern eine Art der Begegnung der Kulturen, die sich als Unterdrückung erweist. Traditionelle Bildungssysteme, einheimische Theorien vom Menschen, Recht, Ökonomie usw. wurden ignoriert. Dies zeigt, inwiefern die Rede von Menschenrechten oder, genau, vom Recht auf Bildung problematisch sein kann und zwar, wenn der Kontext abgewertet wird. Daraus folgen Entzweiung, Enteignung, Entwürdigung, Kollaps 941
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M. Kayoya, „Das Selbstbewusstsein des ‚Kolonisierten‘“, in L. Lutze et al., Lesebuch. Dritte Welt, Wuppertal, 1973, S. 18f. C. H. Kane, L´Aventure ambiguë. Paris, 1971, S. 44.
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usw. Die Förderung des Rechts auf Bildung impliziert nicht die Einführung eines kontextblinden Bildungsmodells. Das, was hier gelernt wird, wird auf keinen Fall das aufwiegen, was vergessen wird. Dass die Bildung, im Unterschied zu Kanonen, die nur den Leib unterwerfen, der Eroberung der Seele Dauer verleiht, hat auch Kayoya treffend zum Ausdruck gebracht: „Dieser Vertrag von Berlin hat mich lange gekränkt. Jedes Mal, wenn ich auf dieses Datum stieß, empfand ich dieselbe Verachtung. [...] Das schlimmste aber war, dass man mich dieses Datum lehrte. Ich musste es auswendig lernen. Eine ganze Unterrichtsstunde lang nannte man uns die Namen der Vertragspartner von Berlin, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten, ihr diplomatisches Geschick, die Beweggründe, die hinter einem jeden standen. Vor unseren unbeweglichen Gesichtern breitete man die Folgen aus: Die Befriedung Afrikas, die Wohltaten der Zivilisation in Afrika, den Mut der Forscher, den selbstlosen Humanismus, aber niemand, absolut niemand wies hin auf die Beleidigung, auf die Schmach, die uns überall begleitete. Ein Mensch, einer, der dich gleich ist, misch sich in deine Angelegenheiten. Ohne dich zu fragen. Das ist eine große Unhöflichkeit, die jedes empfindsame Herz verwundet. […] Das alles schrieb ich dem Imperialismus zu. Dem verhaßten Imperialismus, der keine Gemeinschaft zuwege bringt, in der man sich liebt. Die Mehrzahl seiner Vertreter hatte keinen Sinn für Menschhlichkeit.“943 Die Unterdrückung ist aber nicht nur auf den Inhalt bezogen, sondern auch auf das Verdrängen von (lokalen) Akteuren, deren Status nicht anerkannt wird. Denn sie müssen dem Eroberer das Wort zur Interpretation ihrer Kulturen (Mythen, Gesetze, Praxis usw.) und zur Bestimmung ihrer Institutionen überlassen. Von ihnen wird erwartet, den Eroberer als einzige Autorität in puncto Interpretation von einheimischen Traditionen, Weltanschauungen und Lebensweisen anzuerkennen. Selbstverständlich ist dies eine verkehrte Ansicht. Der Kontextualismus im absoluten Sinn ist bezogen auf die Überbetonung der Differenz bzw. das Übersehen oder die Verkennung der Verschränkung zwischen Eigenem und Fremdem und einer gewissen Form der Universalisierung. Ein solches Verständnis des Kontextualismus ist ebenso einseitig wie auch das erste, weil hier die Berücksichtigung der universellen Ansprüche nicht für wichtig und notwendig gehalten wird. Um zu einer genuinen Aufwertung des Kontextes zu gelangen ist es daher nicht nur notwendig, mit der universalistischen Ethik kritisch ins Gericht zu gehen, sondern auch mit den einseitigen Versionen der kontextualistischen Ethik, die dem Relativismus (unbeabischtigt) zuarbeiten. Ein solcher Kontextualismus tritt oft in der Rede von lokalen Akteuren auf, die Machtund Wirtschaftsinteresse haben, aber auch in der Rede der anderen Akteure globaler Politik, wenn dies ihren Interessen dient. Diese Dimension bleibt auch dann bestehen, wenn sie sich als Freunde einer bestimmten fremden Kultur darstellen. Ein Beispiel ist die folgende 943
M. Kayoya, „Das Selbstbewusstsein des des ‚Kolonisierten‘“, a.a.O., S. 16f.
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Reaktion des französischen Präsidenten Jacques Chirac auf eine ein paar Stunden zuvor veröffentlichte kritische Stellungnahme des französischen Episkopats. Dieses forderte den Präsidenten auf, einen klaren Abstand von afrikanischen Diktatoren zu nehmen, die sich mit Wahlbetrug, Beschlagnahmung von Ressourcen ihrer Länder, politischer Verfolgung bzw. Ermordung usw. hervortun. Darauf reagierte Chirac scharf: „Wir haben Afrika viereinhalb Jahrhunderte lang ausgeblutet […]. Anschließend haben wir seine Rohstoffe geplündert, und danach wird ihnen gesagt, dass sie (Afrikaner) zu nichts taugen. Im Namen der Religion wurde ihre Kultur zerstört […]. Nachdem wir auf seine Kosten reich geworden sind, belehren wir ihn.“944Die Wahrheit in dieser Äußerung ist, dass die Ausbeutung von Afrika und die Zerstörung seiner Kulturen einen folgenschweren Angriff darstellten. Die Halbwahrheit ist, dass dieser Angriff nicht nur im Namen der Religion stattfand, sondern auch der Zivilisation. Das Problem ist schließlich, dass Chiracs Äußerung hier nicht der Verteidigung Afrikas dient, sondern der Verteidigung von dessen korrupten Eliten, die in der globalen Politik zum Großteil als Stellvertreter Afrikas auftreten. Dass die Religion zur Rechtfertigung der Unterdrückung beigetragen hatte, schließt nicht aus, dass sich auch Kirchenmitarbeiter den kritischen Stimmen anschließen, um die in Afrika nach wie vor umgesetzte menschenrechtsverachtende und absurde Politik zu kritisieren. Eine derartige Initiative kann im Rahmen der vorliegenden Überlegungen zur Interkulturalität als Inter-korporeität nur begrüßt werden. Chiracs vermeintlich mutige Äußerung pflegt ein Missverständnis und ist grundsätzlich trügerisch und gefährlich. Kritisiert wurden afrikanische Autokraten. Chiracs Manöver ist vielen Potentaten gemein: die Homogenität und Einheitlichkeit eines Kulturtraumes oder einer politischen Entität zu behaupten, so dass die Interessen der Machthaber und der einzelnen Glieder vermischt und verwechselbar werden. Die These 1 zur Kritik von Schematisierungen hat diesen Punkt ausführlich erläutert. Chiracs Rhetorik kann unterschiedlich benannt werden: Heuchelei, Lüge, Blindheit, gezielte Täuschung, usw. Chirac verteidigt seine Interessensphäre etc. Anlass und Ort von Chiracs Äußerung sind vielsagend: Er befand sich im Januar 2001 in Yaounde (Kamerun) im Rahmen des Frankreich-Afrika-Gipfels, der nichts anderes als Ausbeutungspolitik bedeutete. Worauf Chiracs Rede uns aufmerksam macht, ist, dass Kultur eine unerlässliche Grundlage für die Entfaltung des Menschen und die Entwicklung der Gesellschaft ist. Kritisierbar ist, dass er eine Politik und Akteure verteidigt, die diese Grundlage ruinieren. Daher ist es wichtig, dass eine Theorie der Interkulturalität sich der Dimension der Macht und Unterdrückung bzw. des Problems der globalen Politik – de facto einer etablierten und weitreichend
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P. Priestley, „Les présidents français et l'Afrique, paroles d'amours et de désamours“, TV5 Monde Afrique, 27.11.2017, https://afrique.tv5monde.com/information/les-presidents-francais-et-lafrique-paroles-damours-et-de-desamours, abgerufen am 14.12.2017. Freie Übersetzung.
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ungerechten Politik der großen Nutznießer (der früheren Kolonialreiche, multinationalen Konzerne, lokalen Machthaber) – bewusst bleibt. Dies bedeutet z.B., dass es nicht reicht, das Verhalten mancher Machthaber in Afrika zu kritisieren, die Korruption und Steuerhinterziehung fördern und sich mit einer unbeschreiblichen Pracht umgeben, während ‚ihre‘ Landsleute verarmt und unterdrückt sind. Ihr Status als Glieder einer globalen Kette darf nicht aus dem Blick geraten. Es ist verblendet, von Unabhängigkeitserklärungen zu sprechen, ohne das Vorhandensein von Kooperationsabkommen zu berücksichtigen, die diese Unabhängigkeit untergraben oder ihr widersprechen und die bestehende konservative Politik perpetuieren. Diese konservative Politik hatte Mitterand schon im Jahr 1957 – damals als Staatminister – in Form eines Mottos und einer Prophezeiung zusammengebracht: „[O]hne Afrika wird es keine Geschichte Frankreichs im 21. Jahrhundert geben. […] Wie würde Frankreich in der Tat [...] in den Norden gehen? Oder nach Osten? Oder nach Westen? Nur der Weg nach Süden steht zur Verfügung, breit, umrandet von unzähligen Völkern gleichzeitig mit leerstehenden Räumen. [...] Frankreich weiß bereits, wie viel Afrika für sie notwendig ist. […] Ich sage, dass die erste Pflicht Frankreichs darin besteht, alles zu tun, damit die Bindungen nicht gekappt werden, alles zu tun, damit unsere afrikanischen Brüder mit unserem Schicksal verbunden bleiben. [...] Frankreich bleibt das Land, das führt, das sie brauchen, dasjenige, zu dem sie gehören. Es kann keine echte Geschichte Afrikas geben, wenn Frankreich nicht dabei ist.“945 Damit wurde das Konzept einer stark um Paris zentrierten Organisation gefestigt. Laut Marchesin fungierte dieses Konzept in Mitterrands politischen Denken als „Fixpunkt“. Im Anschluss an den Philosophen Blaise Pascal sieht Mitterrand die Bedeutung des ‚Fixpunkts‘ darin begründet, dass er dem Handeln die Richtung zeigen soll.946 Man kann in Mitterrands Afrika-Politik auch das erkennen, was eine der Hauptfiguren von C. H. Kanes Roman angesichts der Gewalt des Kolonialherren kritisch benennt: die Kunst zu siegen, ohne Recht zu haben“ (l´art de gagner sans avoir raison947). Wer daran zweifelt, sollte zumindest den letzten Satz von Mitterrands Äußerung beachten: „Frankreich bleibt das Land, das führt, das sie brauchen, dasjenige, zu dem sie gehören. Es kann keine echte Geschichte Afrikas geben, wenn Frankreich nicht dabei ist“.948 Eine derartige Anmaßung und Selbstbezogenheit hat
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F. Mitterrand, Présence française et abandon. Paris, 1957, S. 237. Freie Übersetzung. Siehe „Discours prononcé à l’Assemblée nationale ivoirienne“, Abidjan, 22. Mai 1982, http://discours.vie-publique.fr/notices/827070300.html, abgerufen am 17.03.2012. 'Assemblée nationale ivoirienne, Abidjan, samedi 22 mai 1982. Wir beziehen uns hier auf die Analyse von P. Marchesin, „Mitterrand l´Africain“, in Politique Africaine, Bd. 58 (Juni 1995), Mitterrand et l´Afrique, S. 7. C. H. Kane, L´Aventure ambiguë, a.a.O., S. 47. F. Mitterrand, Politique. Paris, 1977, S. 84f. Vgl. P. Marchesin, „Mitterand l´Africain“, a.a.O., S. 8. Freie Übersetzung.
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mit Vernunft und Recht nichts zu tun. Von unserem phänomenologisch-afrikanischen Standpunkt aus, der die Einheit oder Verschränkung von Bereichen (Recht, Moral, Spiritualität usw.) betont, kann das Siegen ohne Recht zu haben nur eine rückständige Ansicht sein. Sie tritt zutage in der analysierten Rede Camerons in der These 1, in der von Victor Hugo in der These 3; und sie wird auch zutage treten in der Position aufklärerischer Denker in der These 5. Außerdem ist, wie schon in Victor Hugos Rede in der These 3 erwähnt, zu bemerken, dass die Verwendung des Wortes ‚Brüder‘ in Mitterrands Rede hier wegen der Hypertrophie des Eigenen oder der übertriebenen Selbstbezogenheit irreführend und ein hohles Wort ist.949 Ähnlich ist die von vielen Akteuren der internationalen Politik favorisierte Rhetorik von Demokratie („Afrika braucht Demokratie“, „Afrika braucht good governance“ usw.), die aber die dringende und wichtige Frage nach Dekolonisation außer Acht lässt, deutlich zu hinterfragen.
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Analoges lässt sich auch in der gegenwärtigen Politik beobachten, z.B. in der Aussage des französischen Präsidenten Macron in einer Pressekonferenz während des G20-Gipfels in Hamburg: Afrikas Herausforderung heute sei viel tiefer, nämlich eine zivilisatorische. Die hohe Geburtenrate behindere dort den Fortschritt und mache einen Marshallplan wenig sinnvoll. Von der Geburtenrate zu sprechen und gleichzeitig die permanente Ausbeutung, die die globale Politik auszeichnet, unterbelichtet zu halten, ist gelinde gesagt, sehr fragwürdig. Macrons Kritik greift zu kurz. Der Journalist Johnson schreibt zu dieser Kritik: „Macron, die vermeintliche Lichtgestalt aller Progressiven, ist eben auch nur ein französischer Präsident. Vor zehn Jahren hatte sein Vorvorgänger Nicolas Sarkozy vor verblüfften Professoren in Senegal eine Grundsatzrede zu Afrika mit dem Hinweis gekrönt, dass „der afrikanische Mann noch nicht in die Geschichte eingetreten“ sei. Sarkozy sprach vom Mann, Macron von der Frau, aber auf Sarkozys Griff in die hegelianische Mottenkiste – Afrika als Kontinent ohne Kultur und Geschichte – folgt nun Macrons Griff zum rassistischen Klischee des oder der Schwarzen als ungezügeltes Biest, dessen Triebe man erst mal zivilisieren müsse, damit Stabilität einkehre.“ (D. Johnson, „Debatte AfrikaBild in Europa. Lass uns endlich in Ruhe“, TAZ, 28.8.2017, http://www.taz.de/!5436885/, abgerufen am 2.9.2017). Statt afrikanische Frauen zu „beschuldigen“, wäre es nicht wirkungsvoller, sich ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen, wohin der Reichtum Afrikas eigentlich fließt. Ein rascher Blick in die auf dem OECD Bericht basierte Tabelle mit dieser Frage als Titel zeigt, wie hoch die Gewinne ausländischer Firmen durch Steuerfreiheit sind im Vergleich zu den Geldern, die als Entwicklungshilfe zu diesem Kontinent zurückkommen. Ist es nicht so, dass eine gerechte Politik auch die Investierung in Bereichen wie Bildung sichern und dadurch den Beitrag der Frauen zur Entwicklung von afrikanischen Gesellschaften am Beispiel der Länder wie Deutschland verbessern und erhöhen kann? Dasselbe logische Räsonnement gilt für die Flüchtlings- und Migrationspolitik. Asfa-Wossen Asserate, äthiopisch-deutscher politische Analyst, hat in diesem Zusammenhang ein kritisches und lehrreiches Buch vorgelegt: Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten. Berlin, 2016.
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Aus dem Vorausgehenden zeigt sich, dass und wie Ausbeutung und Unterdrückung die Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben in das Bild eines immer steiler werdenden Berges verwandeln. Bessere Aussichte auf Lösung liefern nicht die Abschottung des Eigenen oder der Rückzug auf nationale Kulturen, auch nicht Programme, seien es auch Entwicklungsprogramme, die die Einzigkeit der Kontexte nicht berücksichtigen, sondern die Förderung von Modellen, die die grundsätzliche Kontextgebundenheit der Völker und daher ihre Traditionen würdigen. Dies ist wichtig, z.B. um die vom Konzept der Entwicklung qua Wirtschaftswachstum und Kapitalakkumulation unterdrückten Aspekte, wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Verantwortung, Umwelt, Denken der Einheit der Wesen, der Dinge sowie der Bereiche, Harmonie, Spiritualität usw., wiederzugewinnen. Im Grunde gehören sowohl das Bewusstsein der Kontextgebundenheit im Rahmen des radikalen Kontextualismus als auch das Bewusstsein der leiblichen Zugehörigkeit zu derselben Welt. Dies führt auf die Überlegungen und Lehren im Abschnitt über Leiblichkeit, Gefühle, Verschränkung – zurück. Der Kontextualismus im radikalen Sinn ist die Position, die im Anschluss an Waldenfels im vorliegenden Buch vertreten wird. Der Kontext ist hier ein leiblicher und unüberschreitbarer Ort; ein Ort der Produktion von Sinn und der Vermittlung mit dem Universellen. Die Radikalität besteht darin, dass Menschen als leibliche Wesen niemals als vom Kontext losgelösten Subjekten betrachtet werden. Dies bedeutet, dass ihr Kontext aufgewertet und ernst genommen werden muss. Aber gleichzeitig ist der Kontext auch der Ort ihres Zugangs zum Universellen, das ihre Leiblichkeit erschließt.
7.5 These 5 Fremdwahrnehmung. Kritik an der Moderne und Förderung von Vielstimmigkeit in der Geschichtserzählung Kritik an jeglicher ambivalenten Haltung gegenüber dem Fremden und der Art mit ihm umzugehen. Beitrag zu einem lehreichen und friedlichen Zusammenleben Wie man im praktischen Umgang mit dem Fremden konkret vorgeht, etwa in der interkulturellen Politik, hängt maßgeblich von der Weise ab, wie man dieses betrachtet. Hier spielen Repräsentationen, Bilder, Klischees eine große Rolle. In die Fremdwahrnehmung mischen sich viele subjektive Elemente. Zu Recht sieht Waldenfels eine Beziehung zwischen der Beschreibung des Fremden und dem Fremdheitsethos sowie der Fremdheitspolitik. Das/der Fremde hat – wie im Vorausgehenden gesehen – etwas Beunruhigendes. Diese Unruhe ruft Reaktionen hervor und diese sind unterschiedlich je nach der Art und Weise, wie man den Fremden betrachtet bzw. kategorisiert. Waldenfels verweist hier z.B. auf die Unterscheidung zwischen guten und bösen Fremden:
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„Die philosophisch geprägte Tradition des Westens legt es nahe, ähnlich wie im Falle des Wilden zwischen einem guten und einem bösen Fremden zu unterscheiden. Im ersten Fall gibt es prinzipiell die Möglichkeit, einander zu verstehen und sich miteinander zu verständigen, im zweiten Fall ist dies ausgeschlossen. Der gute Fremde ist alles in allem einer von uns, der böse Fremde dagegen nicht. Die manichäische Verteufelung des bösen Fremden geht gut zusammen mit einer generellen Verharmlosigkeit des Fremden; für den guten Fremden ist der Dolmetscher zuständig, für den bösen die Polizei, einschließlich einer vielfach im Geheimen agierenden Ideenpolizei. Hier wird deutlich, wie sehr theoretische Betrachtung des Fremden und praktischer Umgang mit dem Fremden zusammengehören.“950 Für Waldenfels sollte man sich der „anfänglichen Ambivalenz“ des Fremden zuwenden, wenn man verstehen will, wie „Fremdheit in die Feindschaft umschlägt“, die „diesseits von Gut und Böse entspringt“.951 Er sieht den Grund für diese Transformation von Fremdheit in Feindschaft in der oben dargestellten Natur des Fremden selbst begründet: „Es zeigt sich, indem es auf uns einwirkt und sich unserem Zugriff entzieht“.952 Aus Sorge um ihre SelbstErhaltung entsteht in einer Ordnung Unruhe angesichts des Fremden als potentiellem Feind und somit die Notwendigkeit, dieses durch ein integratives Verfahren zu zähmen oder aber aus dem Gesichtskreis zu verbannen. Nach Waldenfels sagt man hier nicht nein „zu dem, was der Andere sagt und tut“ – wie im Fall von Gegnern innerhalb anderer Ordnungssysteme –, sondern zu ihm (dem Anderen) selbst. „Der Feind (hostis) ist zu unterscheiden vom Gegner (adversarius). Während die Gegnerschaft auf einem sachlichen Konflikt beruht, zielt die Feindschaft auf den Anderen selbst. Das beginnt mit der Erzeugung von Feindbildern. Der Anblick des Anderen weicht dem, was wir selbst an ihm sehen, die Anrede dem, was wir selbst über ihn sagen. Der Feind entpuppt sich als ein blick- und wortloses Wesen ohne Antlitz. Das Außerordentliche, das die Grenzen der Ordnung überschreitet, sinkt herab zum Unordentlichen. So kommt es zu den bekannten binären Schemata: Vernunft gegen Gewalt, Vernünftige gegen Barbaren, Christen und Muslime gegen Heiden, Zivilisierte gegen Wilde, Gläubige gegen Ungläubige, Besitzbürger gegen Habenichtse, Gesetzestreue gegen Gesetzeslose und so fort. Dieser soziale Manichäismus dauert bis heute an - im heiligen Krieg gegen den glaubenslosen Westen, umgekehrt im Kreuzzug gegen den Terrorismus oder im Kampf gegen so genannte Schurkenstaaten.“953 Anzeichen des Übergangs vom Gegner zum Feind sind schon im Sprachgebrauch zu finden. Der Übergang ist „mitten im Sinn“ vorbereitet. „Dies geschieht derart, dass der bisherige 950 951 952 953
B. Waldenfels, „Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft“, a.a.O., S. 7. Ebenda Ebenda, S. 8. B. Waldenfels, „Das Fremde denken“, a.a.O., S. 367.
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Gegner reduziert wird auf das, was er sagt und tut. Er reduziert sich also nicht zwangsläufig auf den Sklaven als ‚beseeltes Werkzeug‘, er kann sich auf einen Lieferanten von Sinn, auf einen kulturellen Wert reduzieren. Damit hat er zwar einen Preis, aber keine Würde im Sinne von Kant. Was seinen Preis hat, kann man gebrauchen, und man kann es wegwerfen, wenn es zu nichts mehr nützt, man kann es zerstören, sobald es gefährlich wird.“954 Dieses Vorgehen ist uns bekannt aus totalitären Staatsformen, wo eine bestimmte Bezeichnung (z.B. „Kommunist“, „Faschist“, neuerdings auch „Terrorist“, „Islamist“) genügt, um den Gebrauch von Gewalt zu rechtfertigen. Angesichts der Rolle des Sprachgebrauchs in der Transformation des Fremden zum Feind kann man verstehen, wieso die Auseinandersetzung mit Begriffen im Rahmen der interkulturellen Politik eine sehr wichtige und dringliche Aufgabe ist. Die Bekämpfung der Schwarzweißbetrachtung kann als ein Aspekt dieser Aufgabe verstanden werden. In dieser wird die Realität verzerrt und die Fremdwahrnehmung verfälscht. Wir sind permanent konfrontiert mit Gegensatzpaaren. (z.B. Selbst/Anderer, Eigenes/Fremdes, West/Ost, Identität/Differenz, Präsenz/Abwesenheit usw.) Das Problem ist hier darin – wie Derrida gezeigt hat955 –, dass diese Paare einander nicht bloß gegenüberstehen, sondern hierarchisch angeordnet sind, da ein Glied als dem anderen als überlegen oder vorrangig betrachtet wird. Welche politische Last diese Gegensatzpaare tragen, wurde in vorausgehenden Thesen ausführlich erläutert. Dies unterstreicht auch die Rede von einer „Asiatisierung Asiens“, „Amerikanisierung Amerikas“ oder „Afrikanisierung Afrikas“.956 Mit diesen Begriffen sind Versuche bezeichnet, in denen – mit Waldenfels gesprochen – „bestimmte Merkmale der Fremdheit zur Qualität des Fremden schlechthin oder auch zu diffusen Etikettierungen benutzt werden. Der spezifische Fremdheitscharakter verschwindet auf diese Weise hinter Fremdheitsklischees“.957 Waldenfels verdeutlicht dies anhand der Geschichte der europäischen Fremdwahrnehmung. Hier sieht er signifikante Beispiele der Verzerrung, die seine Idee, dass „[der]
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Ebenda. J. Derrida, Grammatologie. Frankfurt/M., 1988, S. 43f. Für Derrida ist eine solche dichotomische Vorgehensweise bekanntermaßen ein Grundmerkmal der westlichen philosophischen Tradition. Said zeigt z.B., wie aus der Dichotomie West/Ost eine neue Wissenschaft (der Orientalismus) entstanden ist. Der Orientalismus „ist eine Denkweise, die auf einer ontologischen und epistemologischen Unterscheidung basiert, die zwischen ‚dem Orient‘ und (meistenteils) und ‚dem Okzident‘ gemacht wurde“. (E. W. Said, Orientalismus. Frankfurt/M, 1981, S. 9.) So hat sich bei vielen westlichen Autoren (Dichtern, Romanschriftstellern, Philosophen, politischen Theoretikern, Wirtschaftlern und Reichsverwaltern eine umfangreiche Theorie mit Wurzel in dieser ‚imaginären Dichotomie‘ entwickelt. In The East in the West zeigt Jack Goody, dass dieser Binarismus ein Hindernis für jede Forschung darstellt. B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 148. Vgl. D. Wong, „Fremdheitsfiguren im gesellschaftlichen Diskurs“, in J. Matthes, Zwischen den Kulturen? Göttingen, 1992, S. 405-419.
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Ausschluss des feindlichen Fremden […] die europäische Geschichte [durchzieht]“, untermauern958: Wir begegnen der Thematik der Fremdheit in der homerischen Zeit vor allem unter dem „Gesichtspunkt des Gastrechts“. Wie die Geschichte von Philemon und Baucis zeigt, die im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen die Besucher Zeus und Hermes aufnahmen und dafür belohnt wurden, werden Gastfreundschaft und Gottesfürchtigkeit verbunden. Der Schutz des Fremden wird in dieser Zeit religiös gewährleistet und das Fremde steckt noch nicht in Klischees fest. Waldenfels betont, dass Homer in seinen Erzählungen Hektor einen Ehrenplatz neben Achilles gewährt hat.959 Auf seiner Seite verdeutlicht Dihle auch die komplexen Wechselwirkungen zwischen Griechen und den Fremden mit dem Hinweis auf das Interesse der griechischen Autoren (z.B. Skylax, Hekataios, Herodot) an den Werken fremder Völker und auf die gängige Übernahme fremder Namen, Begriffe (besonders zur Bezeichnung von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs) und der religiösen Vorstellungen und Traditionen des Orients. Das Wort „Barbaros“ bedeutete in diesem Kontext zunächst nur „derjenige, der nicht Griechisch sprechen kann“. Die stark negative Prägung der Anderen kam erst nach den Perserkriegen auf. Ab dieser Zeit hat sich die griechische Wahrnehmung fremder Kulturen entscheidend geändert. Das Nicht-griechische wird mit einer abwertenden Konnotation belastet und das Griechischsein mit einem Überlegenheitsgefühl verbunden. Diese Überlegenheit wird sogar für natürlich bzw. dem göttlichen Willen entsprechend betrachtet. (Sie schließt an an die Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier und des Mannes gegenüber der Frau). Die Abgrenzung des Griechen vom Barbaren wird dadurch verstärkt, dass Ersterem Kultur, Freiheit usw. exklusiv zugesprochen werden.960 Dihles historische Ausführungen mit einer philosophischen Lesart von „Status und Eigenart des Fremden“ ergänzend, betont Waldenfels: „Die spätere Schwarzweißmalerei ist nicht zu denken ohne eine bestimmte ethnische Monopolosierung des ‚Logos‘, die dazu führt, dass Fremdheit als die des Barbaren jeden positiven Sinn einbüßt und dass die Beziehung zum Barbaren sich als ‚Nicht-Beziehung‘ darstellt.“961 Mit der „Monopolisierung des ‚Logos‘“ ist nicht nur die Monopolisierung der Fähigkeit, gut zu reden gemeint, sondern auch derjenigen, gut zu denken. Mall und Yousefi sprechen hier von einer unilateralen, einseitigen Betrachtungsweise: „Ist man in der interkulturellen Betrachtung der Geschichte um Vorurteilsfreiheit bemüht, so ist festzustellen, dass das Verhältnis europäischer Gelehrter zu fremden Kulturen, Religionen und Weltphilosophien aufgrund einer intrakulturellen Orientierung schon bei den 958
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Ebenda, S. 16f. Vgl. Y. Nakamura, Xenosophie. Bausteine für eine Theorie der Fremdheit. Darmstadt, 2000. Ebenda, S. 22. A. Dihle, Die Griechen und die Fremden. München, 1994, S. 14f., 46f. B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 22f. Mit dem Begriff „Nicht-Beziehung“ bezieht sich Waldenfels G. Simmel, Philosophie des Geldes. Bd. 6, Frankfurt/M., 1989, S. 770.
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Griechen einseitig und problembelastet war. Obwohl es plakativ und etwas schematisch erscheinen mag, bezeichneten die Griechen viele Fremde als ‚Barbaren‘, während sie sich selbst im Besitz der Philosophie, der ‚Liebe zur Weisheit‘, betrachteten.“962 Dieser Wandel des Begriffs „Barbar“ und der zugrundeliegenden Fremdwahrnehmung ist eine Leistung der Denker und Publizisten. In der Philosophie wird sie Waldenfels zufolge zum Grundstein einer Betrachtungsweise mit nachhaltigen Konsequenzen: „Mit der philosophischen Entdeckung einer allgemeinen Vernunft geht der Ausschluss einer als barbarisch betrachteten Unvernunft einher. So darf man laut Platon mit den Barbaren Vernichtungskriege führen im Gegensatz zu Bruderkriegen zwischen Griechen. Dieser Ausschluss des feindlichen Fremden durchzieht die europäische Geschichte. Die Spuren reichen von den Barbaren, Heiden, Ungläubigen, Hunnen, Wilden bis zu den Untermenschen, den Klassenfeinden oder Menschheitsfeinden der Gegenwart, bis hin zu den Displaced Persons der Nachkriegszeit und den Folterkäfigen auf Guantanamo. Problematisch ist die Verwandlung von Fremden in Feinde.“963 Dass der Wandel des Fremdheitsbegriffs gewaltsame Praktiken mit sich bringt, zeigt auch Gruen anhand der handfesten politischen Implikationen, die Aristoteles aus seiner Unterscheidung zwischen Seele und Körper zieht: „Aristotle […] advised his pupil Alexander the Great to be a leader for the Greeks buts a master for the barbarians: Treat the former as friends and kinsmen, the latter as animals or plants (Plut. Mor. 329b). Alexander did not take the advice […]. Alexander the Great had a mandate for conquest of the Persian Empire. But, as is well known, the conquistador displayed a growing affinity for the institutions, practices, and values of the conquered […]. The Alexandrian polymath Eratosthenes in the third century heaped praise on the king for that broad-minded attitude and for rejecting the crabbed advice of Aristotle.“964
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R. A. Mall, H. R. Yousefi, Grundpositionen der interkulturellen Philosophie. Nordhausen, 2005, S. 12. Aischylos zufolge z.B. gehören zu Barbaren Despotie, erdrückende Machtentfaltung, kniefällige Verehrung des Gottkönigs, zu dem Griechen hingegen der siegreiche kluge Gedanke, der Geist, das Denken. (Aischylos, „Die Perser“, in Griechisches Theater, Frankfurt/M, 1963, S. 33.) B. Waldenfels, „Die Angst vor dem Fremden“, Interview mit A. Bosetti (19. 09. 2015) https://rponline.de/kultur/die-angst-vor-dem-fremden_aid-19891165, abgerufen m 20.09.2015. Waldenfels setzt seinen Gedanken wie folgt fort: „Dies ist die eine Seite. Andererseits stimmt es, dass es seit alters her neben der Barbarisierung des Anderen eine geachtete Fremdheit gibt, etwa in Gestalt des Sokrates, der als ortlos, fremdartig, als atopos beschrieben wird, oder in Gestalt der Diotima, die im Symposion stets als Fremde, als xene angeredet wird [...].“ (Ebenda) E. S. Gruen, „Greeks and Non-Greeks“, in G. R. Bugh, The Cambridge Companion to the Hellenistic World, Cambridge, 2006, 296f.
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Die Schwarzweißbetrachtung festigte sich in den Entdeckungs- und Eroberungsreisen der frühen Neuzeit. Hier grenzt sich der Zivilisierte – wie Waldenfels im Anschluss an Todorov betont – vom Barbaren nicht durch „die Andersprachlichkeit, sondern die Schriftlosigkeit“ ab.965 In allen diesen Fällen manifestieren sich Gewaltformen, die mit dem Sprachgebrauch anfangen: Man etikettiert den Fremden, so dass er kein „Antlitz“ mehr hat (Waldenfels im Anschluss an Levinas). Diese Betrachtungsweise führt dazu, dass man ihm auch eine bestimmte Orientierung und Weltanschauung aufzwingt. In diesem Zusammenhang kann man Said zustimmen, wenn er eine Beziehung zwischen Kulturfrage und Macht sieht. Denn Kulturen können wie auch Nationen in gewisser Weise als „Erzählung“ betrachtet werden. In dieser Hinsicht haben sie auch einen Zusammenhang mit der Macht, und zwar mit der „Macht eine Erzählung zu fördern und eine andere zu verhindern“.966 Aus dem Vorausgehenden verdeutlicht sich, dass die Verfälschung der Fremdwahrnehmung mit einer fragwürdigen Selbstwahrnehmung einhergeht. Man entstellt die Wirklichkeit durch eine häufig mit einem pseudowissenschaftlichen Charakter versehene Begrifflichkeit und versucht, die Wahrheit über sich selbst zu verleugnen. Terkessidis erläutert dies anhand des Beispiels von Heidegger, der noch an eine mythische „rein“ griechische Kultur geglaubt hat. Dass dieses Bild der Griechen fragwürdig war, konnte Heidegger selber bei einer Reise auf die griechische Insel Korfu erfahren: „An einem Frühlingsmorgen des Jahres 1962 steht der Tourist Martin Heidegger an der Reling des Kreuzfahrtschiffes ‚Jugoslavia‘ und blickt auf die Küste der Insel Korfu […]. Der Philosoph ist jedoch vom Anblick der Insel enttäuscht: was er sieht, stimmt so gar nicht mit dem überein, was er im 6. Buch der Odyssee bei Homer gelesen hatte […]. Kurz zweifelt er daran, ob seine Eindrücke wirklich authentisch sind, denn ‚Goethe erfuhr doch in Sizilien zum ersten Mal die Nähe des Griechischen‘. Doch dann entschließt er sich, nicht an Land zu gehen.“967 Dazu urteilt Holzbrecher: „Heideggers Weigerung, sich auf das Fremde, auf das Risiko des Lernens einzulassen, lässt sich wohl mit seiner Angst erklären, sein von der klassischen Literatur geprägtes und ‚stimmiges‘ Bild in Frage stellen zu müssen. Es ist die Angst, sich eingestehen zu müssen, dass der
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B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 22f. Wir beziehen uns hier mit leichter Änderung auf E. W. Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 15. M. Terkessidis, „Das Land der Griechen mit dem Körper besuchen“, in M. Terkessidis et al. (Hg.), Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. St. Andrä-Wördern, 1998, S. 65. Auch zitiert in in R. A. Mall, H. R. Yousefi, Grundpositionen der interkulturellen Philosophie, a.a.O., S. 19.
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Enttäuschung die Täuschung vorausging, - die Angst, dass sich unsere Bilder der Realität als Konstruktionen erweisen könnten, mit dem die Realität nicht mehr begreifbar erscheint.“968 Es bestätigt sich also, dass das jeweilige Verständnis bzw. die Wahrnehmungsweise des Fremden den Umgang mit ihm bis in die interkulturelle Politik oder Politik des Fremden hinein formt. In den vorgebrachten Beispielen hat sich verdeutlicht, (i) dass unsere Bilder bzw. unsere Konstruktionen den Umgang mit dem Fremden erschweren können, vor allem wenn diese von Schwarzweißbetrachtungen geleitet werden, (ii) dass die Nicht-Anerkennung der Verflechtung und die Nicht-Berücksichtigung ihrer Bedeutung zu fragwürdigen Oppositionen führt und ein erhebliches Gewaltpotential in sich trägt. Wird hingegen verstanden, dass das Eigene mit dem Fremden verflochten ist, d.h. dass man – wie Waldenfels sagt – „keinen festen“, die Identität garantierenden Boden „diesseits der Verflechtung“ wird finden können, dann wird ein wichtiger Grundstein für eine positive Fremdwahrnehmung, für einen sowohl lehrreichen als auch kritischen Austausch und in der Folge für ein friedliches interkulturelles Zusammenleben gelegt. Ein wichtiger Teil dieses Anliegens ist die Kritik an der Moderne, genau, an der Aufklärung. Diese Kritik wird formuliert als eine Kritik an ihrer grundsätzlich ambivalenten Haltung gegenüber dem Fremden (fremden Gesellschaften und Kulturen) und der Art mit diesem umzugehen. Denn gerade in der Zeit, in der die Rolle der Vernunft und der Freiheit betont wurde, fanden eindeutige und dramatische Fälle der Nichtanerkennung und der „organisierten Unfreiheit“ (Osterhammel) statt. Hier kristallisieren sich fundamentale Widersprüche heraus. Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka spricht von einer „bis heute ungesühnte(n) Vergangenheit“ und vom „Scheitern des europäischen Humanismus schon Jahrhunderte vor dem Holocaust“969. Diese Kritik wird auch manchmal als Kritik am Westen formuliert. Es empfiehlt sich daher, ein Wort über den Gebrauch des Begriffs ‚Westen‘ zu verlieren. Mit diesem Begriff wird hier keine Stigmatisierung oder Polarisierung intendiert. Der Begriff ‚Westen‘ steht hier mangels einer besseren Alternative; er ist hier – in Anlehnung an Heideggers und Derridas Strategie – als „un mot sous rature‘, d.h. ein Wort unter Streichung (also etwa in dieser Form: Westen); sein Gebrauch beseitigt die Unzufriedenheit nicht. Letztere basiert unter anderem auf der Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung des Begriffs. Geht es um eine homogene Entität? Wie stehen die ‚alte‘ und die ‚neue‘ Welt – die Unterscheidungen z.B. zwischen Westeuropa, Nordamerika, Osteuropa usw. in Grammaire des civilisations von Braudel beachtend – zusammen? Schließt die ‚alte‘ Welt nicht Europa, Asien und Afrika ein? Ist die Vorstellung des Westens 968
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A. Holzbrecher, „Vielfalt als Herausforderung“, in ders. (Hg.), Dem Fremden auf der Spur. Interkulturelles Lernen im Pädagogikunterricht, (Didactica nova) Bd 7, Hohengehren, 1999 S. 2. W. Soyinka, „So Im Namen der Versklavten. Die Kolonialmächte müssen den Afrikanern Reparationen für das erlittene Unrecht leisten“ (aus dem Englischen von Eike Schönfeld), aus der Die ZEIT 15 Juni, Nr. 25/2000, https://www.zeit.de/2000/25/200025.a-wole_soyinka_.xml, abgerufen am 12.04.2012.
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als einer kulturellen Einheit, die sich z.B. von Sokrates bis zu Chomsky und McNamara zieht, nicht zu einfach? Geht es um „die christlich geprägte europäisch-amerikanische Zivilisation“? Bilden „das ‚lateinische‘ Europa und englischsprachige Amerika […] eine einheitliche Kultur und Zivilisation“ (Osterhammel), die als Gegensatz zum Rest der Welt gelten kann? Vor der Tendenz zur Vereinfachung und Homogenisierung von Kulturen (d.h. auch von Europa selbst) warnt zu Recht Beck: „This [national and cultural identities as inherently and mutually exclusive] is not only empirically wrong, it is totally at odds with the idea of Europe. If identities are mutually exclusive, Europe is an impossible project [...]. Dangerous traces of this exclusivist idea exist even in the seemingly benign idea of cultural ‚dialogue‘. The picture normally evoked by ‚dialogue‘ is of two separates entities, ‚Islam‘ and the ‚West‘, each occupying their own territory, who the need to reach out to each other in order to have contact. But in fact, both entities already interpenetrate each other. And what‘s more, they are both full of internal differences as large as any they have with each other [...]. The closer we look at empirical reality, the clearer it becomes that the presumption of cultural homogenity is really a denial o reality. You can homogenize milk, but nor modern society and never, by means, Europe.“970 Angesichts all dieser Zusammenhänge ist es nicht immer einfach, den ganzen Gehalt zu fassen, der in einem Wort wie „Westen“ steckt. Wenn auch politische Faktoren wegen der Spaltung des Imperium Romanum sowie religiöse Faktoren wegen des Schismas der Kirche nicht zu übersehen sind, ist, Osterhammel zufolge, die Geburtsurkunde des Westens relativ jungen Datums: „Erst die von Churchill und Roosevelt im August 1941 proklamierte Atlantik-Charta […] kann als das wirkliche Gründungsdokument eines atlantisch erweiterten politischen Werte-Okzidentalismus gelten.“ 971 Dieses Geschehen fungierte zuerst gegen den inneren Zivilisationsfeind und erst nach dem zweiten Weltkrieg gegen fremdkulturelle Widersacher, z. B. gegen den Islam. „Der ‚Westen‘ ist im Grunde eine Erfindung der Nachkriegszeit, das symbolische Komplement zu NATO und OECD.“972 All dies muss im
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U. Beck, „Understanding the Real Europe“, in Centre d´Analyse et de Prévision (Hg.), Diversity and Culture/Diversité et culture, Collection Penser l’Europe, Edition bilingue, Paris, 2007, S. 35. Young zeigt, dass die kulturelle Diversität sogar ein allgemeines Phänomen darstellt,: „Cultural and racial diversity have existed in Canada since long before the 16th century, when the first European settlers arrived to join the Aboriginal peoples in the northern half of a vast continent. Aboriginal society was multicultural as well as multilingual.“ Die These, die er vertritt, lautet: Selbst räumlich und zeitlich eng begrenzte Kulturen weisen in sich erhebliche Diversität auf. (R. Young, Colonial Desire. London, 1995, S. 6-19). J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S.19; zitiert cf. F- K. Warren, Forged in War: Roosevelt, Churchill and the Second World War. New York, 1997, S. 99. Ebenda, S. 22.
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Ohne all diese Anmerkungen aus dem Blick zu verlieren, ist die vorliegende Kritik ein Versuch, die Fremdwahrnehmung und Erzählung der Aufklärung bzw. der vorherrschenden Rhetorik des Westens zu hinterfragen. Aufgeworfen wird die spezifischere Frage: Verhielten sich die Aufklärer selbst im Umgang mit den außereuropäischen Völkern aufgeklärt und wie kann man ihre Ansichten beurteilen? Dieser Fragestellung fußt in der Ablehnung (im Einklang mit U. Willems et al.), die Moderne bzw. die Aufklärung als einen anonymen Prozess zu betrachten und stattdessen die Akteurs-Dimension mit ihrem Aspekt der moralischen Verantwortung in den Mittelpunkt zu rücken. Diese Entscheidung folgt dem Beispiel von Habermas’ Urteil über Heidegger als einem Philosophen, der „als Bürger versagt hat – 1933 und vor allem nach 1945“ und als Denker suspekt bleibt. Bei der HeideggerKonferenz in San Diego (1974) war Habermas über den Vortrag von Marcuse aufgebracht, weil dieser Heidegger mit Milde schilderte und damit „der Ton einer unpolitischen Heidegger-Verehrung angeschlagen“ war, der über die ganze Konferenz herrschte.973 Bei einer politischen Lesart vieler aufklärerischer Autoren stößt man auf eine Ambivalenz der Moderne: Die Moderne hat wesentlich zur Behauptung der Autonomie, der grundlegenden Rechte des Menschen und zur Förderung des universalen Friedens beigetragen. Gleichzeitig fallen Schatten über diese Beiträge, weil gerade aus dem Geist der Moderne heraus den nichteuropäischen Völkern vorurteilsbeladene und asymmetrische Identitäten zugeschrieben wurden. Dies kann man in einer Auswahl von Beiträgen der Aufklärer deutlich erkennen: Voltaire, trotz seiner Kritik am Christentum („Rottet den niederträchtigen [Aberglauben] aus!“) und seiner emphatischen Reden über die Freiheit, behauptet in Traité de métaphysique, „dass die bärtigen Weißen, die wolligen Neger, die haarigen Gelben und die Bartlosen nicht von ein und demselben Menschen abstammen. Die Weißen seien diesen Negern überlegen, wie die Neger den Affen und die Affen den Austern“.974 Für Montesquieu war es unvorstellbar, „dass Gott, der doch ein allweises Wesen ist, eine Seele, und gar noch eine gute Seele, in einen ganz schwarzen Körper gelegt habe. [...] Es ist unmöglich sich vorzustellen, dass diese Leute Menschen seien, denn wenn wir sie für Menschen hielten, müsste man anfangen zu glauben, dass wir selbst keine Christenmenschen seien“ (Vom Geist der Gesetze, 1748, Buch XV, Kap. V.). Hume hegte den Verdacht, dass „alle anderen Menschenrassen (denn es gibt vier oder fünf verschiedene Arten) den Weißen von Natur aus unterlegen sind. [...] Keine erfindungsreichen Manufakturen bei ihnen, keine Künste, keine Wissenschaften“.975 Auch die rationalistischen Philosophen Kant und Hegel haben der Verlockung nicht standgehalten, Europa zum geographischen Nabel der Vernunft zu machen und die Rassen auf dieser Basis zu katalogisieren und zu hierarchisieren. Kants physische 973
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J. Habermas, „‚... And to define America, her athletic democracy‘. Im Andenken an Richard Rorty, den Philosophen, Schriftsteller und politischen Intellektuellen“, in DZPh, Bd. 55, 6(2007), S. 851. Voltaire, „Traité de métaphysique“, in Melanges, Paris, 1961, S. 180; zitiert nach Leon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Hamburg, 1993, S. 201. D. Hume, Politische und ökonomische Essays. Hamburg, 1988, S. 165.
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Geographie läuft seinem moralischen Prinzip zuwider.976 Er sprach anderen Menschen Intelligenz einfach aufgrund ihrer Hautfarbe ab, ohne den vorliegenden eindeutigen Fehlschluss zu sehen bzw. sich deswegen zu genieren: „Es ist auch, als wenn hierin so Etwas wäre, was vielleicht verdiente, in Überlegung gezogen zu werden, allein kurz um, dieser Kerl war vom Kopf bis auf die Füße ganz schwarz, ein deutlicher Beweis, daß das, was er sagte, dumm war.“977 Kant legt damit das vor, was der Philosoph J. E. H. Smith „surely the greatest non-sequitur in the history of philosophy“978 nennt. Wie er heraushebt, fehlt der Aussage dieses Autors, der von vielen als der größte Philosoph der Neuzeit betrachtet wird, jegliche Begründung, da zur Vermeidung dieses krassen Fehlschluss nicht nur ein einfaches logisches Räsonnement gereicht hätte, sondern auch die Berücksichtigung des Lebens des Philosophen und Rechtswissenschaftlers Anton W. Amo. Dieser Ghanaer, der nach Europa als Sklave kam, schrieb seine Dissertation („De humanae mentis apatheia“) 1734 an der Universität Wittenberg und unterrichtete danach an einigen philosophischen Fakultäten. Der Kontrast zwischen der Ansicht des Rektors der Universität Wittenberg, Johannes Gottfried Kraus, der Amos Beitrag zur Kenntnis der menschlichen Angelegenheiten als unschätzbar prieß, und Kants Aussage, die eine rassistische Sichtweise erkennen lässt, ist auffällig. Man mag auch die Bedeutung der angeführten Äußerungen relativieren, indem man z.B. im Kants Fall seine Schriften über Rassen banalisiert. Ist es aber plausibel, dass Kant ernstgemeinte bzw. ernstzunehmende Dinge in seinen einen Schriften äußerte, während seine Schriften zur Anthropologie nur dazu dienten, sich an den Menschen und ihrer Lebenswelt zu ergötzen? Diesbezüglich betont Nikita zu Recht: „Interessanterweise gibt es weder Textbelege, in denen Kant zugibt, sich mit Bezug auf die ‚Rassenhierarchien‘ oder die Minderwertigkeit von Frauen geirrt zu haben, noch erklärt Kant, warum er seine früheren Ansichten geändert hat.“979 Weder Kant, noch anderen führenden Denkern der Aufklärung sollte es, mit Verweis auf die Unterhaltsamkeit, erlaubt sein, verzerrte Bilder der anderen
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„In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer [die Inder; St. G.] haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht der Theil der amerikanischen Völkerschaft.“ (I. Kant, Logik. Physische Geographie. Pädagogik, Bd. IX, Berlin/Leipzig, 1923, S. 316.) I. Kant, Kritik der Urtheilskraft, und Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Sämmtliche Werke (Karl Rosenkranz, Hg.). Leipzig, 1838, S. 461. von Immanuel Kant, Karl Rosenkranz, Friedrich J. E. H. Smith, „The Enlightenment’s ‚Race‘ Problem, and Ours“, in New York Times, https:// opinionator.blogs.nytimes.com/2013/02/10/why-has-race-survived/, abgerufen am 12.07.2015. D. Nikita, „Können Nicht-EuropäerInnen philosophieren? – Transnationale Literalität und planetarische Ethik in einem globalen Zeitalter“, in Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Bd. 42, 2(2017), S. 157. Siehe auch E. Chukwudi Eze in „The Color of Reason“, in ders. (Hg.), Race and the Enlightenment, Oxford, 1997, S. 103-140.
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zu entwerfen. Nichts rechtfertigt, dass man Kant nur in seinen sogenannten klassischen Schriften liest und seine Schrift über Anthropologie („the most profound raciological thought of the eighteenth century“, so E. W. Count), aus dem Blick zu rücken. Genauso macht es keinen Sinn zu empfehlen, den ‚echten‘ Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika zu suchen und seine Schrift Gedanken über Algerien, in der er die Kolonisation und die Herrschaft bzw. die Zerstörung des Landes der Araber preist und befürwortet, außer Acht zu lassen bzw. ihr nur eine untergeordnete Rolle zuzuschreiben. Man kann versuchen, derartige Positionen zu entschuldigen, indem man behauptet, dass sie aus einer globalen Sicht zwar tatsächlich zur Einrichtung und Festigung eines grausamen und merkantilistischen Systems beigetragen haben, aber dass sie aufgrund des Mangels an Kenntnissen verständlich sind. Aufklärerische Denker sind auch „Kinder ihrer Zeit“, d.h. von den Vorurteilen ihrer Epoche beeinflusst. Und es ist richtig: man kann selbstverständlich immer fragen, inwieweit sie über ausreichende und sachliche Kenntnisse bzw. fundierte Informationen über die Völker außerhalb Europas verfügten. Und doch sind es ‚Aufklärer‘! Konnten ihnen all die Zusammenhänge des organisierten Gewaltsystems entgehen? Kann jemand, der Aussagen wie die oben erwähnten macht, völlig ignorieren, was sie bedeuten und implizieren? Bedenkt man, dass ihr Diskurs als theoretisches (wenn auch aus heutiger Sicht pseudowissenschaftliches) Mittel der Nicht-Anerkennung und Sklaverei gedient hat, fragt sich, ob alles rechtfertigend und nivellierend in den Korb der Epochenspezifik gelegt werden kann und darf. In derselben Epoche gab es auch Gegenstimmen bzw. andere Möglichkeiten ethischer und politischer Haltungen. Auch Habermas hätte sich mit dem Epochen-Argument zufriedengeben und Heidegger seine scharfe Kritik ersparen können. Wie kann es sein, dass les Lumières sich nicht für diese anderen Möglichkeiten entschieden, was sie doch nicht das Leben gekostet hätte, wie im erläuterten Fall von Sophie Scholl im Angesicht der nationalsozialistischen Diktatur. Während Sophie Scholl, die Sprache der Leiblichkeit sprach, und die Rolle einer Zeugin der Ungerechtigkeit annahm, zeigte sich Voltaire – um nur einen herauszugreifen –, der für sich beanspruchte, im Namen der Menschen- und Bürgerrechte zu sprechen, als gleichgültiger Betrachter angesichts der Ungerechtigkeiten anderswo. Als genuin ethische und politische Haltung kann aber weder die des unbeteiligten Betrachters noch die des Voyeurs, der das Leid der Mitmenschen heimlich, sensationsgierig und losgelöst betrachtet bzw. konsumiert, sondern, die Haltung des Zeugen, „weil nur sie sich in den intersubjektiven Raum hinauswagt“.980 Auch der französische Philosoph Louis Sala-Molins, der den Code Noir (das von Frankreichs König Ludwig XIV. erlassene Dekret zwischen 1685-1848 zur Regelung des Umgangs mit den schwarzen Sklaven in den Kolonien) veröffentlichte und damit les Lumières zur Rechenschaft zog, macht sich die Entscheidung ‚Zeuge eines Unrechts zu sein‘ zu eigen. Er betont in der Einleitung:
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B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a.a.O., S. 13.
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„Meine Position? [...] Ich versuche, diese ganze Tragödie zu lesen, indem ich mich, soweit ich kann, nicht in die glatte und eingecremte Haut des Denkers aus Paris, oder aus Genf oder aus Bordeaux oder von wo auch immer, hineinversetze, sondern in die durch Peitsche aufgeschürfte Haut und den verstümmelten Körper des schwarzen Sklaven auf den Antillen.“981 Diese leibliche Perspektive [„en me glissant… dans la peau“ – sich in die Haut…hineinversetzen], die in 6.3 (über Leiblichkeit, Gefühle, Verschränkung) verteidigt wird, ermöglicht es, das Unerträgliche in einer Situation angemessen zu erkennen. Können die Aspekte des Machtinteresses und der Ausbedeutung, die sich im Kontext der überseeischen Expansion niederschlagen, und die Mitwirkung der Aufklärer unterschlagen werden, um eine von der historischen Bedingtheit der Autoren absehende Kritik, zu vermeiden? Herder hat diese Aspekte als Zerstörung des Selbstbildes der Aufklärung beschrieben. Seine Kritik relativiert die Bedeutung des Arguments, demzufolge „Philosophen nur Kinder ihrer Zeit“ seien. Denn sie verdeutlicht, dass man mit den Vorurteilen seiner Zeit sehr wohl kritisch umgehen konnte und kann. Herder zeigt sich irritiert über den Hochmut der Aufklärung. Er beschreibt die von den Aufklärern hoch gelobte Toleranz als Ausübung von Macht und Herrschaft und den Universalismus der westlichen Zivilisation als die „Tendenz [...], andere Kulturen zu missachten, sie zu unterdrücken“. Die aufklärerischen Denker waren sich trotz ihrer Theorien über die Freiheit der Unterdrückung und Ausbeutung, die mit der Expansion einherging, bewusst. Daher kann man sie – wie Sala-Molins es tut – konfrontieren mit der Frage „Wer ist der Mensch der Menschenrechte?“. Les Lumières konnten nicht behaupten, dass sie vom Code Noir nichts wussten. Diese äußerst rassistisch angelegte rechtliche Grundlage der Sklaverei löste bei ihnen keine große Empörung aus. Sie hatten nicht das Bedürfnis Ihrem Unmut Luft zu machen über diese normativen Texte, die offensichtlich nicht auf Vernunftgründen basierten. Vom Standpunkt des Fremden aus sind sie keinen Deut besser als die Kirche, die sie kritisierten. Voltaire stimmte erfreut der Anfrage seines Freundes zu, ein Sklavenschiff nach ihm zu benennen: „Not surprisingly, in view of that remark, he seems to have gambled in the slave trade himself. He accepted delightedly when the leading négrier of Nantes, Jean-Gabriel Montaudo[u]in, offered to name one of his ships after him.“982 Die Bemerkung, von der hier die Rede ist, ist Voltaires folgende Aussage: „Wir kaufen die Haussklaven ausschließlich bei den Negern; dieser Handel wird uns zum Vorwurf gemacht. Ein Volk, das mit seinen Kindern handelt, ist noch viel verurteilenswerter als der Käufer. Dieser Handel zeigt unsere Überlegenheit; derjenige, der sich einen Herrn gibt, ist geboren worden, um einen [Herrn] zu haben.“983 Hier spricht der vermeintlich Größte der französischen Lumières, der mutigste Fürsprecher der Freiheit 981 982
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L. Sala-Molins, Le Code Noir ou le calvaire de Canaan. Paris, 1987, S. X. Freie Übersetzung. H. Thomas, The Slave Trade: The Story of the Atlantic Slave Trade: 1440-1870. New York, 1997, S. 465. Voltaire, „Essai sur les Mœurs“ (1756), in Œuvres complètes de Voltaire, Paris, 1878, Bd. 13, Kap. CXCVII, S. 177f. Zitiert nach J. G. Leithäuser, Voltaire. Leben und Briefe. Stuttgart 1961, S. 82.
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und Toleranz 984 , derjenige, der sich durch seinen Antiklerikalismus und seinen Aufruf „écrasez l´infâme“ („Rottet den niederträchtigen [Aberglauben] aus!“) auszeichnete.985 Hat er selber einen infamen Aberglaube, ein infames Vorurteil oder einen infamen Fanatismus, und dadurch einen Anteil an Verfolgung und Unterwerfung? Von vornherein ist festzustellen, dass Voltaires Aussage die unvollständige Äußerung Chiracs („Im Namen der Religion wurde ihre Kultur zerstört“) in der These 4 korrigiert: auch im Namen der ‚Zivilisation‘. Addison beschreibt Voltaires offensichtliche Komplizenschaft im Sklavenhandel folgendermaßen: „Voltaire, more than most of the Enlightenment writers, was an ‚establishment’ man. He lived in England for several years and became an admirer of English laws and concepts of property and their linkage to freedom. He also invested heavily in commerce and trade, which he saw as the lifeblood of a free society. He thus had vested intrest in maintaining the colonial system and the slave trade. In fact, when Jean Gabrel of Nantes, the leading négrier (trader of blancs) for the region, offeres to name one of his ships after Voltaire, the philosopher accepted the honor with some delight.“986 Vor diesem Hintergrund kann seine Aussage nun hinterfragt werden: Erstens hat die Begegnung zwischen Völkern nicht so begonnen, wie Voltaires Zitat suggeriert. Fearn betont die Gastfreundlichkeit der Einheimischen, die von ihre Gästen – den westlichen Eroberern – verraten wurde, wodurch sich die Verhältnisse zwischen den Menschen verfälschten. „After that voyage in 1492, Columbus said, when speaking about the people of the Caribbean, “they are so guileless and so generous with all that they possess that no one would believe it who has not seen it. Anything they have, if they are asked for it, they never say no, on the contrary they invite the person to share it and display as much love as if they would give their hearts”. This generosity was recorded by many explorers on first contact with these indigenous peoples. Their warm welcomes were not to last. The friendly relations soon deteriorated into bloodshed and enslavement with the First Peoples doing most of the bleeding and all of the slavery. Wherever the Europeans went, people died in vast numbers […].“987
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Siehe K. N. Addison, We Hold These Truths to Be Self-Evident. . .': An Interdisciplinary Analysis of the Roots of Racism and Slavery in America. Lanham, 2009, S. 46. Siehe die häufig auftretenden Wortverbindungen bei R. Pomeau, La Religion de Voltaire. Nizet, 1995, S. 314f. Siehe die häufig auftretenden Wortverbindungen bei R. Pomeau, La Religion de Voltaire. Nizet, 1995, S. 314f. K. N. Addison, We hold these truths to be self-evident…, a.a.O., S. 46. Siehe auch T. Besterman, Complete Works. 1979, S. 374. R. W. Fearn, Amoral America, a.a.O., S. 5.
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Die Verschlechterung der Verhältnisse zwischen den Völkern ist im vorliegenden Fall auf Gier und Ausbeutung, auf Machtinteresse bzw. Herrschaftsansprüche zurückzuführen. Dies hat mit Voltaires Ausreden nichts zu tun. Die Gewalt, die hier entstand und mit Chiracs „wir haben… ausgeblutet [saigné]“ ins Licht gerückt wird, will Voltaire nicht sehen. bzw. ihr nicht gerecht werden. Auch wenn Voltaires merkwürdige Zweiteilung von Menschen ernst genommen würde, bleiben Fragen offen. Zweitens ist zu hinterfragen, ob eine Handlung gegen Person A moralisch oder unmoralisch ist, je nachdem wie informiert oder reflektiert diese ist? Kann ein hochgebildeter Mann, der ungebildete Frauen (Mütter und Töchter) sexuell missbraucht, das Argument von Voltaire vorbringen? Wieso sollte der Vorwurf der Unverschämtheit Voltaire nicht treffen? Worin ist er eine ‚Lumière‘, wenn er denkt, dass er von der ‚Unaufgeklärtheit‘ der anderen profitieren darf? Voltaires Rolle in der verbreiten Erzählung und die Bedeutung seiner vorliegenden Aussage lassen sich kaum zusammenbringen. Aber dies illustriert nur „die Kunst, zu siegen ohne Recht zu haben“, die eine Hauptfigur von Cheikh.Hamidou Kane – siehe die These 4 – kritisch dargestellt hat. Im Rahmen des Denkens der Einheit (von Menschen, Dingen, Bereichen) kann einer Ansicht, die Bildung, Ethik und Menschlichkeit – wie Voltaire in der vorliegenden Aussage – scharf trennt, nicht zugestimmt werden. Eine Überlegung, die die Leiblichkeit als Grundbegriff der Verschränkung bzw. der Verbundenheit betrachtet und sie zu ihrer Grundlage macht, steht einer derartigen Hypertrophie des Selbst bzw. des Ich-Standpunkts, der Überbetonung von Eigeninteressen bzw. der Kaltschnäuzigkeit kritisch gegenüber. Ist die Kritik hier übertrieben und unangebracht? Begeht man einen Anachronismus, wenn man mit Chirac „Wir haben Afrika viereinhalb Jahrhunderte lang ausgeblutet“ sagt und Autoren kritisert, die versucht haben, dieses ermöderische Unternehmen theoretisch zu begründen? Drittens ist Voltaires Aussage ethisch nicht zu vertreten und wurde schon in seiner eigenen Zeit der Kritik ausgesetzt. Er sagt selbst: „… dieser [Sklaven]Handel wird uns zum Vorwurf gemacht…“ Dies bedeutet, dass es in Voltaires Zeit Menschen gab, die die Dinge anders werteten bzw. das moralische ‚Schlechte‘, das moralische ‚Übel‘ am Sklavenhandel sehen konnten und es kritisierten. In seinen Veröffentlichungen spezifisch zum Code noir verweist Louis Sala-Molins sogar auf die Kritik von zwei Missionaren, Francisco José de Jaca et Epiphane de Moirans, die schon im 17. Jahrhundert deutlich und fundiert von den Menschenrechten der Sklaven sprachen. Sie argumentierten und forderten von den Sklavenbesitzern die sofortige Beendung des Sklavenhandels ohne Fristen und ohne halbe Sachen, die vollständige Abschaffung der Sklaverei, die Erstattung von zwei ‚unveräußerlichen Gütern‘ der Sklaven, und zwar der Freiheit und dem Preis ihrer leidvollen Arbeit. Angesichts der Menschenrechtsfrage seien, wie der Titel
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des Buches von Sala-Molins schon andeutet, die Laterne der beiden genannten Missionare der Kapuzinerorden besser als die Lämpchen der genannten Lumières.988 Es ist etwas ironisch, dass folgende Lobesworte Hugos nicht Francisco José Jaca und Epiphane de Moirans – den zwei jungen, aber mutigen und aufgeklärten Diener der Menschheit – gelten, sondern Voltaire: „Meine Herren, es gibt zwischen zwei Dienern der Menschheit, die sich im Abstand von achtzehnhundert Jahren gezeigt haben, ein geheimnisvolles Verhältnis. Das Pharisäertum bekämpfen, den Betrug entlarven, Tyranneien, Usurpationen, Vorurteile, Lügen, Aberglauben besiegen, den Tempel zerstören, auch wenn er wieder aufgebaut werden soll, das heisst den falschen durch den wahren zu ersetzen, die grausame Magistratur angreifen, das blutrünstige Priestertum angreifen, eine Peitsche nehmen und die Verkäufer des Heiligtums vertreiben, das Erbe der Benachteiligten abfordern, die Schwachen, die Armen, die Leidenden, die Niedergedrückten beschützen, für die Verfolgten und Unterdrückten kämpfen; das ist der Krieg von Jesu Christi; und wer ist der Mann, der diesen Krieg macht? Es ist Voltaire. [Applaus]“989 Wie kann man behaupten, dass es in Voltaires Zeit (etwas ein Jahrhundert später) und sogar in Victor Hugos Zeit (zwei Jahrhunderte später) keine andere Möglichkeit gab moralisch anders zu werten? Schon in Aristoteles’ Zeit gab es zur Sklaverei andere Ansichten, angesichts deren sich der brillante Philosoph übrigens bemühte, die Sklaverei argumentativ zu verteidigen. 990 Aristoteles, Voltaire, Victor Hugo (bzw. den Kolonialherren wie mit Césaire in These 1 gesehen), David Cameron (siehe These 1) standen andere Möglichkeiten, moralisch zu werten zur Verfügung. Sie hatten die Möglichkeiten, die Sklaverei (in der alten oder neuzeitlichen Form), die brutale Diktatur, die Bombardierung von fremden Völkern nicht argumentativ zu verfechten und einen anderen Umgang mit ihren Mitmenschen zu fordern. Aber sie taten dies nicht. Wieso nicht? Zu dieser Frage kann viel gesagt werden, aber eines ist unumgänglich: das übertriebene Besitzdenken. Ein solches Denken ermöglicht jegliche Form der Folter, der Grausamkeit und der Ausbeutung. Es macht sie „hoffähig“,
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Siehe L. Sala-Molins, Esclavage réparation: Les lumières des capucins et les lueurs des pharisiens. Paris, 2014. Wäre es übertrieben, Francisco José de Jaca et Epiphane de Moirans (auch) den Status eines „Champions der Freiheit und der Toleranz“ zuzuschreiben? Wieso bleiben sie so unberücksichtigt in der Geschichte? V. Hugo, „Le centenaire de Voltaire“, 30. Mai 1878, in Actes et Paroles, a.a.O., S. 78f. Wäre es übertrieben, Francisco José de Jaca et Epiphane de Moirans (auch) den Status von „Champions der Freiheit und der Toleranz“ zuzuschreiben? Verdienen sie nicht einen Ehrenplatz, zumindest einen besseren Platz in der Geschichte? Er schreibt selbst, dass „andere“ jedoch behaupten, dass die Sklaverei ungerecht ist, weil sie auf Gewalt; sie gründet sich nicht auf die Natur, sondern auf menschliche Gesetze (Politik, Buch 1, Kap. 2., 1253b, §3).
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betont Waldenfels, der daher die globale Finanzkrise als Dauerkrise als Spätfolge bezeichnet. Mit Joas lässt sich feststellen: „[Die Geschichte der Sklaverei und die Geschichte der Folter [sind] vielfältig ineinander verwoben. […] Brutale körperliche Strafen, z.B. das Auspeitschen, waren die Regel und nicht die Ausnahme, und dies nicht nur im Falle von Flucht oder Rebellion oder Gewalttaten gegen Aufsichtspersonal und Herren, sondern bei kleinsten Vergehen und als Strafe für die Nichterfüllung des Arbeitssolls.“991 Will man verstehen, was sich dahinter abspielt, sind die Wirtschaftsinteressen, das übertriebene Besitzdenken deutlich zu sehen. Angesichts dessen können erhabene Worten wie Philanthropie, Zivilisierung, Menschenrechte, Moral, Recht, Demokratie usw. nicht täuschen. Edward E. Baptist ist auf diese Realität der Folter in den Plantagen in seinem erhellenden Buch The Half has never been told. Slavery amd the Making of American Capitalism eingegangen. Diese Arbeit stellt anhand der Fakten die Sklaverei als Motor der Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahr dar. Er widerspricht damit der Ansicht, die Sklaverei wäre ineffizient und überholt mit der Entwicklung des Kapitalismus geworden. Damit bereichert er die Literatur oder die Geschichte der Sklaverei, indem er die Rolle der Zwangsarbeit von Afrikanern und Afroamerikanern im westlichen Wohlstand ins rechte Licht rückt. Menschen wurden importiert und nach dem Act Prohibiting Importation of Slaves in einer organisierten Weise verlagert, d.h. ihre Ausbeutung und Folter gingen weiter.992 Zeitliche bzw. kulturelle Bedingtheiten können nicht alles rechtfertigen. Der spanische Missionare Francisco José de Jaca und der Franzose Epiphane de Moirans waren auch ‚Kinder ihrer Zeit‘, aber trotzdem zeigten sie sich als grundsätzlich leibliche Wesen mit Gerechtigkeitssinn und Gefühlen, die auf dieser Basis manche zeitgenössischen Einstellungen und Praktiken kritisieren konnten. Die vorliegende Überlegung veranlasst zwei Bemerkungen, die an dieser Stelle nur als Erinnerungen und Bestärkung des schon Gesagten gelten: – Soziale Entitäten wie Kulturen sind nicht einheitlich. Wie schon gesagt soll die bei Verfechtern des absoluten Kontextualismus (siehe These 4) beliebte Wir-Rede nicht von der Heterogenität bzw. von der Tatsache ablenken, dass es inmitten des Wir korrupte Eliten, unredliche Machthaber, gierige und kaltschnäuzige Akteure, aufrichtige Menschen, Menschenfreunde, engagierte Mitglieder usw. geben kann. Dies gilt für alle Kulturen auf allen Kontinenten. Wie schon gesehen bejahten nicht alle Menschen in Europa den Sklavenhandel, ebenso wie Camerons Plädoyer für die Bombardierung fremder Völker kritisiert wurde.
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H. Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, a.a.O., S. 59. Das übertriebene Besitzdenken kommt auch deutlich im Klappentext A. Hochschilds Buch Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen. (Stuttgart, 2009) zum Ausdruck: „Geiselnahme, Vergewaltigung, Mißhandlung und Mord waren die Instrumente, die Leopolds Statthalter einsetzten, um den kongolesischen Ureinwohnern die geforderten Quoten an Kautschuk und Elfenbein abzupressen. Wer Widerstand leistete, wurde umgebracht oder verstümmelt.“
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Die Betonung von Polyphonie in der Geschichtsschreibung ist keine Rechtfertigung für eine jeweils rein nationalistische Lesart der Geschichte. Eine auf der Verschränkungsfigur basierte Überlegung lässt solche schematisierungsrelativen und antagonistischen Züge nicht zu. Louis Sala-Molins ist Franzose und kein Burkinabe; Joseph Ki-Zerbo ist Burkinabe und kein Franzose; und José Martí ist weder Franzose noch Burkinabe, sondern Kubaner. Aber sie alle verweisen auf Gemeinsamkeiten im Kampf gegen eine ‚imperialistische‘ Lesart der Geschichte und für einen besseren, gerechten und gegenseitig respektvollen und würdigen Umgang mit den anderen. Viertens ist es fragwürdig, dass Voltaire den Widerstand der Versklavten und Unterdrückten unerwähnt lässt. Wie schon mit E. W. Said gesehen, war die imperiale Konfrontation niemals eine Art Spaziergang für „einen aktiven westlichen Eindringling gegen einen gleichgültigen oder trägen nicht-westlichen Eingeborenen“. Es gab Widerstand. Menschen wussten Werte wie Freiheit zu schätzen.993 Die Gewalt des Sklavenhandels ist eindeutig, nicht nur für die Menschen heutzutage, sondern auch schon in Voltaires Zeit. Sie anzuprangern, war für viele seiner Zeitgenossen ein wichtiges ethisches und politisches, kurzum, ein menschliches Anliegen, wenn dies auch Voltaire angesichts seiner Eigeninteressen nicht passte. Es empfiehlt sich, die Einzigartigkeit des vorliegenden Falls von Unterdrückung nicht zu übersehen. Die überseeische Expansion bildet einen der „wesensbestimmenden Prozesse“ der Geschichte Europas. Daher sollte sie auf keinen Fall als historisches Randgeschehen angesehen werden.994 Eine Forschung, auch wenn sie vorgibt, kritisch zu sein, die diesen Unterdrückungsfall als marginal behandelt, verspielt ihre Relevanz. Diese Bemerkung fordert dazu auf, nicht nur zu betrachten, was dieses Geschehen für die Fremdvölker darstellt, sondern auch seine Bedeutung für Europa selbst. „Denn wenn etwas die atlantische Welt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengehalten hat, dann war es die Sklaverei, ihre unverwechselbare gesellschaftliche Institution.“ 995 Die Einzigartigkeit dieser Institution springt ins Auge, wenn man sich der Unterscheidung zwischen „Gesellschaften mit Sklaven“ und „Sklavengesellschaften“ bewusst wird. Dieser Unterscheidung zufolge gibt es keine Kontinuität zwischen der spätrömischen Sklaverei und den Sklavensystemen des westlichen Atlantik. Sklavinnen und Sklaven sind nicht Untertan, sondern Eigentum, die keine Rechte haben. Zusammengefasst, unterscheiden sich die neuzeitlichen Gesellschaften 993
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Dass manche traditionelle Anführer Kriegsgefangene (nicht Familienmitglieder, wie Voltaire explizit sagt) lieferten, wird von vielen Forschern als strategisches Manöver erklärt, um die eigenen Leute nicht zu geben. Diese Anführer waren sich der Überlegenheit an Waffen der Eindringlinge bewusst. Aber selbst in diesem Fall waren Widerstand und Aufstand niemals ausgeschlossen. J.-P. Omotunde setzt sich mit der Frage der Sklaverei auseinander und hinterfragt dabei die meisten zur Rechtfertigung der Sklaverei formulierten Thesen wie die von Voltaire. (La traite négrière européenne : Vérité & Mensonges. Paris, 2004.) P. Rietbergen, Europe. A cultural History. Siehe auch J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S. 24f. J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S. 26.
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hinsichtlich der Sklaverei „dadurch, dass erstens die Sklaverei an koloniale Peripherien verbannt war, zweitens das Kriterium der rassistischen Zugehörigkeit eine viel größere Rolle spielte und drittens die Rückkehr oder Rückführung der Sklaven in ihre Herkunftsländer wegen der großen geographischen Entfernung nahezu unmöglich war“.996 Die Auslagerung und Verbannung von Sklaven an die Peripherie bedeutet, dass sie in der (europäischen) Metropole, wo ihre Produkte konsumiert wurden, nicht zu sehen waren. Sie blieben fern und unsichtbar, kurzum, eindeutig „verborgen“. Der Titel von Peabodys Studie „There Are No Slaves in France“ stellt diesen Fall der Verdrängung des Fremden und des Gegensatzes „zwischen vollkommen sklavenlosen Metropolen und vollkommen von Sklaverei durchdrungenen Peripherien“ prägnant dar.997 Die Lage der Sklaven ähnelt hier derjenigen der Bombardierungsopfer im Rahmen von Kriegen ‚im Namen der Menschenrechte‘. Wie in der kritischen Presse dargestellt, sind diese Opfer keine Störfaktoren der vermeintlich gerechten Ordnung, da sie an die Peripherie gedrängt werden und dadurch unsichtbar bleiben. Ihr Schicksal ruft nicht zum Nachdenken und Umdenken auf, weil es verborgen ist, bis sie sich irgendwann als Flüchtlinge und Asylsuchende zeigen. Die Opfer existieren und haben Gesichter, besser, Antlitze. Ihr Blick steht – wie Waldenfels sagt – nicht in unserer Wahl und bleibt da als ein unüberwindbarer „Stachel des Fremden“. Sie benötigen auch nicht unsere Erlaubnis, um Widerstand zu leisten. Dies bedeutet, dass der Prozess der Marginalisierung alles andere ist als ein harmonischer Prozess. Er „geht nicht in friedlichen Einvernehmen vonstatten. Ränder, welcher Art auch immer, ob Randerscheinungen, Randgruppen oder ‚Randvölker‘, entstehen dadurch, dass etwas an den Rand gedrängt wird, wo das Licht nicht mehr hinreicht. Diese Ausgrenzung vollzieht sich nicht ungestört und ungefährdet.“998 An dieser Stelle ist zu erkennen, wie die Fremdwahrnehmung die Identität des Selbst in die eine oder andere Richtung leitet. Angesichts der Bedeutung der überseeischen Expansion sowohl für die fremden Kulturen als auch für Europa selbst kann die Kritik an der aufklärerischen ambivalenten Haltung nicht überflüssig sein. Denn sie stellt auch eine Gelegenheit für den Westen dar, sich von seinem Größenwahn zu distanzieren, sich vom Prozess der Hegemonialisierung seiner Diskurse, die Hand in Hand mit der Unterbindung anderer epistemischen Ordnungen einherging, kritisch zu distanzieren. Die Einstellungen der Aufklärer bilden heute den Gegenstand der Kritik aus einer globalen Perspektive. Hier herrscht der westliche Blick nicht länger exklusiv und das Augenmerk wird auf „eine lange Zeit unterbelichtete Dimension des Moderne-Begriffs: die Dimension der Macht- und Dominanzbestrebungen sowie der Ausbeutung und des Imperialismus“ gelenkt.999 996 997
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Ebenda, S. 28. Osterhammel bezieht sich auf Sir Moses Finley. S. Peaboy, There Are No Slaves in France: The Political Culture of Race and Slavery in the Ancien Regime. New York/Oxford, 1996. Siehe auch J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S. 50. B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, a.a.O., S. 62. U. Willems et al. (Hg.), Moderne und Religion: Kontroversen um Modernität und Säkularisierung. Bielefeld, 2013, S. 13.
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Betrachtet man all dies, kann die Frage nach der Rezeption der Aufklärer im Kontext der Interkulturalität nicht vermieden werden: Sicher ist ihr Bild bei den Völkern, die mit dem Imperialismus konfrontiert waren und sind, nicht schmeichelhaft. Zwar haben sie wichtige Impulse zur Philosophie beigetragen – auch das darf nicht vergessen werden –, aber sie haben deren Bedeutung durch ihre ambivalenten Positionen gleichzeitig relativiert und setzen sich der Kritik aus, Komplizen des imperialistischen Systems gewesen zu sein. Bezüglich der Art der Begegnungen zwischen den Völkern, die hier stattgefunden haben, stellen sich vielen Fragen. Deren Beantwortung erfordert die Berücksichtigung vieler Standpunkte unter anderem der Standpunkte der Löwen entsprechend dem afrikanischen Sprichwort: „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiter die Jäger verherrlichen.“ All dies spricht für die Entwestlichung der Philosophie (FornetBetancourt), die Desubalternisierung nicht-westlicher Epistemologien (Nikita), die dialogische Orientierung in der Geschichtsschreibung (Mall und Yousefi), kurzum, für das Motto Philosophie bzw. Philosophiegeschichte im Plural. Philosophie in interkultureller Orientierung bedeutet unter anderem, sich auch für andere Erzählungen, kritische Traditionen, Texte, Autoren, die sich für die Freiheit und gegen den Imperialismus eingesetzt haben, zu interessieren und die Beziehung zwischen Philosophie und Gesellschaft zu fördern. In dieser Perspektive ist selbst die Übersetzungsarbeit neu zu interpretieren. Denn sie ist, mit Niranjana gesprochen, ein Ort des Widerstands bzw. der Transformation und hat die Aufgabe, den ungleichen Machtverhältnissen, die in „standardisierten“ Geschichten stecken, auf die Spur zu kommen.1000 Inwiefern die Geschichte Machtverhältnisse verbergen, legitimieren und befestigen kann, zeigt sich im folgenden Ausschnitt: „Der ‚Westen‘ des 19. Jahrhunderts definierte sich – im scharfen Gegensatz sowohl zum antiken Republikanismus wie zum neo-klassischen der Frühen Neuzeit – als sklavenfreie Zivilisation. Unausweichlich steigerte sich dies zum Selbstbild einer befreienden Zivilisation, die ihre universalen Werte notfalls auch gewaltsam gegen die Mächte der Finsternis durchzusetzen bereit ist und die aufblickende Dankbarkeit der Geretteten erwartet.“1001 Dies ist ein Beispiel für eine Erzählung, die keinen Platz für Fremdstimmen lässt und nur den Standpunkt des ‚Jägers‘ vermittelt, wie am Beispiel von Victor Hugo in der These 3 dargestellt. Die Frage aber lautet hier: Was bedeutet diese Rhetorik von „sklavenfreien Zivilisation“ vom Standpunkt des ‚Löwens‘ aus? Ist sie nicht nur Teil einer äußerst selbstzentrierten Erzählung? Ist der Tod für den anderen milder und akzeptabler in dieser Zeit als in jener? Wenn Hugo im Stil Gottes betont „Nehmt dieses Landes [Afrika] ein; ihr beraubt es dadurch niemandem!“, ruft er deutlich zur Gewalt auf. Macht es einen bedeutsamen Unterschied für die Opfer, dass sie in Hugos Kontext der angeblich „sklavenfreien T. Niranjana, Siting Translation: History, Post-Structuralism, and the Colonial Context. California, 1992. 1001 J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S. 64. 1000
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Zivilisation“ oder im Kontext der Sklaverei in einer früheren Zeit leiden und sterben müssen? Fremdstimmen hätten Hugos Stolz auf eine „sklavenfreie Zivilisation“, der sich hinter der „asymmetrischen Ignoranz“ (Nikita) verschanzt, zunichte gemacht. Die „zunehmende Diskrepanz zwischen dem gewaltfreien Selbstbild unserer Gesellschaften – und der Omnipräsenz und exzessiven Steigerung der Gewalt“ (Grande)1002 ist nicht nur im 20. Jahrhundert festzustellen, sondern schon in vorausgehenden Jahrhunderten. Das Beispiel Hugos illustriert dies deutlich, wenn auch diese exzessive Steigerung der Gewalt nicht wahrgenommen wurde, einfach indem sie exterritorialisiert wurde. Daher ist die Polyphonie ein Mittel zur Befreiung von solchen täuschenden Selbst- und Welbildern. Hugos Rede, die doch aus Anlass der Abschaffung von Sklaverei gehalten wurde, erwies sich als Beitrag zur Wiederbelebung von Sklaverei aus wirtschaftlichen Gründen. Dabei nutzt er – mit Osterhammel gesprochen – eine „beispiellos scharfe Ausgrenzung“ des Fremden zur Rechtfertigung der „Externalisierung von Unfreiheit“. 1003 Und, wie schon in 6.2 gesehen wurde, dienen die Leugnung von Gemeinsamkeiten und die Verschärfung der Gegensätze u.a. der Dämpfung des Mitgefühls. Eines ist klar: Hinsichtlich der Fremdwahrnehmung stützt sich Hugo genauso wie les Lumières auf einer scharfen Ausgrenzung des Fremden. Genauso wie sie reflektiert er den ‚eigenen Geltungsbereich‘ seiner Texte nicht. Er verspielt dadurch, trotz seiner intellektuellen Aura, die moralischen Errungenschaften, die die einfachen Menschen aus den USA, England, Frankreich usw. in der Menschheitsgeschichte ermöglichten. Er – das vermeintliche Licht seines Jahrhunderts – pochte auf rückständige Einstellungen im Vergleich zu diesen einfachen Menschen, die den Weg zur Universalisierung der Freiheit durch die Förderung des Perspektivenwechsels und daher die Betonung der Bedeutung der leiblichen Dimension wiesen. Grande erläutert hier die zentrale Frage von Reemtsmas Buch Vertrauen und Gewalt (E. Grande, „Gewalt und Moderne“. Laudatio anlässlich der Verleihung des Schader-Preises 2011 an Jan Philipp Reemtsma, 12.5.2011, https://www.schader-stiftung.de/themen/kommunikation-undkultur/fokus/grundfragen-der-sozialwissenschaften/artikel/gewalt-und-moderne/, abgerufen am 8.3.2015.) 1003 Die ökonomische Erklärung geht hier mit einem kulturellen Verstärkungszusatz einher. „Bei einem bestimmten Zusammentreffen von Nachfrage und Technologie, Landüberfluss und Arbeitskräftemangel, Zwangsmittel und Gewaltbereitschaft hätte es kaum ein anderes Resultat geben können. Gleichzeitig waren die normativen Gegenkräfte zu schwach. Ein kulturelles Tabu […] untersagte allein die Versklavung von Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern.“ Denn kein reines Wirtschaftskalkül schloss aus, die Bürde der Zwangsarbeit in den Zucker- und Tabakplantagen auf die weißen Sklaven, „etwa mit Sträflingen oder – im englischen Fall – mit verschleppten Iren, die man ohnehin für Barbaren der übelsten Sorte hielt“, zu legen. (J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S. 48f.) Osterhammel führt weiter: „Die Ausgrenzungslinien zwischen Eigenem und Fremdem wurden zunehmend nach ethnisch-rassistischen Kriterien gezogen, Freiheit und Unfreiheit entlang dieser Linien verteilt. Hinter konfessionellen Feindseligkeiten und nationalen Antagonismen verbarg sich eine ungewöhnlich starke ethnische Solidarität der Weißen; die Reihen schlossen sich beim geringsten Anzeichen der Revolte.“ (S. 51.) 1002
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Ein anderes Beispiel zur Illustration der Machtverhältnisse in der Geschichtsschreibung stellt die Marginalisierung der haitianischen Revolution dar, erneut in der Geschichtsschreibung von denjenigen, die die Prinzipien der Autonomie und ihren Universalismus preisen. Diese Revolution nämlich ging die auf das Handeln der Sklaven selbst zurück. „Die komplette Nichtberücksichtigung der haitianischen Revolution als einer wichtigen praktischen Anwendung der Aufklärungsprinzipien innerhalb der Kolonien zeigt beispielsweise die Unfähigkeit und fehlende Bereitschaft innerhalb des philosophischen Mainstreams und innerhalb der europäischen intellektuellen Tradition, die Handlungsmacht der Anderen anzuerkennen.“1004 All dies spricht für die Berücksichtigung des Pluralismus in der Geschichte aus interkultureller Sicht. Nicht mit dem Ziel, Erzählungen gegeneinander auszuspielen, auch nicht um einen nationalistischen Ansatz der Geschichte bzw. der Philosophie zu entwickeln. Oppositionelle Gegenüberstellungen passen nicht mit der Verschränkungsfigur, die in den vorliegenden Überlegungen eine Schlüsselfigur darstellt. Es gibt das, was Universalgeschichte genannt werden kann. Aus dieser Perspektive heraus geraten „[d]ie so selbstverständlich anmutenden Grenzen zwischen Europa und Nicht-Europa [...] ins Schwimmen, sie selbst werden zum Thema. Zusammenhänge werden ebenso wichtig wie das Zusammenhängende, besonders dann, wenn aus dem Zusammenhang das Neue entsteht.“1005 Waldenfels kommt zu derselben Schulfolgerung über die Verflechtung von Eigenem und Fremden in seiner Erläuterung des Begriffs „Erfindung“ aus der phänomenologischen Sicht. Aber die Rede von Universalgeschichte besagt keineswegs, dass sie homogen interpretiert werden kann. Wenn auch Osterhammel die Leistung jener großen Bücher moderner Geschichtsschreibung in der Fähigkeit sieht, „[d]as Große und das Kleine zu verknüpfen, System und Alltag, Emotionen und Interesse miteinander zu versöhnen“, bedeutet dies nicht, dass die Verknüpfung bzw. die Versöhnung einheitlich und einstimmig sein müssen. Die Vielstimmigkeit muss gewahrt werden. Sie soll ihren Platz in zukunftsorientierten Überlegungen finden und aufrechterhalten. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, dass Denker wie z.B. der burkinische Autor Joseph Ki-Zerbo und der kubanische Autor José Julián Martí einen Ehrenplatz in der Philosophie bekommen. Letzterer sagte zu Recht in seinem Text Amerika: „Die europäische Universität muss der amerikanischen weichen. Die Geschichte Amerikas von den Inkas heute muss in allen Einzelnen vermittelt werden, auch wenn man auf die Geschichte der griechischen Archonten verzichten müsste. Unser Griechenland ist dem Griechenland vorzuziehen, das eben nicht das unsere ist. Für uns nämlich ist es von größerer Notwendigkeit.“1006 S. Fischer, Modernity disavowed: haiti and the cultures of slavery in the age of revolution, Durham NC, 2004; zitiert in D. Nikita, „Können Nicht-EuropäerInnen philosophieren?“, a.a.O., S. 154f. 1005 J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S. 15. 1006 J. Martí, „Unser Amerika“, in Rama, Angel (Hg.), Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende, Frankfurt/M., 1982, S. 60. 1004
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Es geht hier um die Aufforderung, sich der Kulturalität der Philosophie bewusst zu werden und die Bedeutung des kulturellen Kontextes zu erkennen. Diese Aufforderung versteht sich nicht als Nationalisierung des philosophischen Denkens, sondern als seine Erneuerung. Mit dem Fremdheitsbegriff wird keine Geschlossenheit oder Abschottung gefördert, sondern eine kritische Offenheit, ein durchdachter Austausch. Reemtsma hält es für unverantwortlich, das Selbstbild der Moderne naiv zu rezipieren, als ob ihre positiven Ideen die Wiederholung der folgenschweren Gewalt der Vergangenheit zukünftig verhindern werden. Diese Ansicht ist relevant, beachtet man vor dem Hintergrund der obigen Analyse, dass bestehende kritische Stimmen bzw. Texte über Menschenrechte oder spezifisch über die Freiheit Denker wie Voltaire und Victor Hugo nicht daran gehindert haben, die Unterdrückung und somit die Gewalt zu befürworten bzw. zur Gewalt aufzufordern. Was schon einmal geschehen ist, kann wieder geschehen. Diese Ansicht, die z.B. Reemtsma vertritt, stellt einen Schwachpunkt von Skinners Ansicht heraus, der Taylors Auszeichnung der theistischen Perspektive des Christentums als hoffnungsvollen Weg zur Heilung der „Krankheiten“ der Moderne mit dem folgenden Argument kontert: „Dass wir keinen Grund haben, den christlichen Glauben zu fürchten, ist nur dann richtig, wenn wir darauf vertrauen können, dass die Schrecken, die in seinem Namen begangen wurden, nicht mit seinem Charakter oder seinen Bestrebungen als einer Konfession in Verbindung stehen. […] Die historischen Daten machen es allzu offenkundig: Das Christentum hat sich oft als intolerante Religion erwiesen, und zumindest einige der Kriege und Verfolgungen, mit denen es in Verbindung gebracht wurde, haben sich teilweise aus seinem konfessionellen Charakter ergeben.“1007 Diese Kritik klingt für die nicht-westlichen Völker, die das Ausmaß der Gewalt im Namen des Glaubens und der Zivilisation erfahren haben, in gewisser Weise wie ein Zwist zwischen zwei Mitgliedern derselben Familie: Welcher Historiker würde bestreiten, dass ebenso, wie der Charakter des Christentums (wie Skinner es darstellt), auch das Wesen der Moderne mit den Schrecken, die in ihrem Namen geführt wurden, in Zusammenhang steht? Reemtsma fordert daher eine kritische Haltung und eine „Kultur der Moderne“, die sich durch Angst und ihr Komplement Selbstbewusstsein charakterisiert. 1008 Genau diese Angst, dass sich die gewaltsame Vergangenheit wiederholt, spricht unter anderem für die hier vertretene Förderung der Polyphonie. Wie sollte diese Angst ein positiver Faktor sein, wenn die Gewalt in der Fremdwahrnehmung nicht thematisiert bzw. nicht Gegenstand des Bewusstseins wird? Wie könnte mit dem gewaltfreien Selbstbild kritisch umgegangen werden, wenn von anderen Erzählungen aus anderen Standpunkten nicht gelernt wird? Das, was wir sind, geht weit über das hinaus, was wir über uns selber erzählen können. Aus phänomenologischer Sicht decken sich Identität und Selbsterzählung
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Q. Skinner, „Moderne und Entzauberung“, a.a.O., S. 619. J.-P. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, a.a.O., S. 536f.
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nicht. Dies bedeutet, dass die Dimension der Interessen uns bewust sein muss. Wie Waldenfels betont, ist die Gefahr der Ideologie immer ernst zu nehmen: „‚Sie sagen Gott und meinen Kattun‘, heißt es bei Fontane. ‚Sie sagen Menschen- oder Völkerrecht und meinen Öl‘, möchte man bisweilen fortfahren. Man muss kein europäischer Masochist sein, um diese Tendenzen beim Namen zu nennen; im Gegenteil, solche Gegenstimmen gehören zur europäsichen Tradition. Man kann sogar mit Cornelius Castoriadis behaupten, dass die Bereitschaft zur Selbstbestreitung und Selbstinfragestellung der Singularität der okzidentalen Welt zugehört und dass sie in dieser spezifischen Form weder in der arabischen Welt des Islams noch in der Welt der Hindus, noch in Japans offiziellem Umgang mit der jüngsten Vergangenheit anzutreffen ist. [Waldenfels betont:] Allerdings stellt sich sich dann die Frage, ob eine Selbstinfragestellung denkbar ist ohne ein Außen, ohne eine Fremdheit, die den Zirkel der kollektiven Selbstbezüglichkeit durchbricht.“1009 Hier zeigt sich der Stellenwert des Fremdheitsbegriffs. Taylors Konzept der Rettung der Moderne (Kap. 2.2) könnte unter Berücksichtigung der Fremdheit an Relevanz gewinnen und dem „Zirkel der kollektiven Selbstbezüglichkeit“ entgehen, der aus jeglicher scharfen Grenzziehung zwischen Innen und Außen resultiert. Wenn er zwecks der Förderung des gegenseitigen Verstehens für eine friedliche Welt betont, „[f]or me, this process has begun at home, in describing the social imaginary of the modern West“1010, übersieht er, dass die Fremdheit „im eigenen Hause“ bzw. „im Herzen des Selbst“ ist, dass die „fremde Stimme im eigenen Haus ertönt“, kurzum, dass „das Fremde in uns ist, bevor es uns frontal entgegentritt“. Genau wie Taylor hinsichtlich der Verfahrensethik von Habermas’ urteilte, sie könnte durch die Berücksichtigung von starken Wertungen lehrreicher, interessanter werden, so würde dies auch seine philosophische Anthropologie durch die Berücksichtigung des Motivs des Fremden. Wie schon gesagt ist Waldenfels’ Warnung sehr explizit: „Das sogenannte Projekt der Moderne muss scheitern, solange es darauf abzieht, mit dem Eigenen zu beginnen und beim Ganzen zu enden; auch der bloße Durchgang durch das Fremde ändert daran wenig.“1011 Das Fremde dient als Prüfstein von Begriffen wie Multikulturalismus, Horizontverschmelzung, Dialog usw. Es empfiehlt sich, Waldenfels’ Hinweis nochmal vor Augen zu führen: „Was man heute als alteuropäische Tradition zu bezeichnen pflegt, ist also durchaus polyphonisch angelegt, zumal wenn man noch die Beiträge der arabischislamischen Welt hinzuzählt.“1012 Es geht nicht darum, Taylor dafür zu kritisieren, dass er dies in einem oberflächlichen Sinne ignoriert, d.h., dass er sich dieser Tatsache nicht bewusst ist. Die Tatsache der Verschränkung des Eigenem und des Fremde sollte vielmehr tiefgreifend einbezogen werden. Es geht darum, das Motiv des Fremden (die Fremderfahrung) B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 155f. C. Taylor, Modern Social Imaginaries, a.a.O., S. 196. Von CN betont. 1011 B. Waldenfels, Verfremdung, a.a.O., S.9. 1012 B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, a.a.O., S. 16. 1009 1010
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ernst zu nehmen und den Gedanken (die Theorie) dementsprechend zu entwickeln. Zu beseitigen ist nicht nur die Gefahr des Ethnozentrismus, sondern auch die der Abschottung bzw. des Zirkels der Selbstbezogenheit. Es gibt bei Taylor die Disposition auf diesen Weg der weitreichenden Betrachtung der Verschränkung des Eigenen und des Fremden weiter zu gehen. Dies ist zu erkennen, wenn er z.B. in Reaktion auf die einflussreiche akulturalistische Deutung der Moderne sagt: „Meinerseits denke ich, dass wir uns bewusst sowohl der Wirkmächtigkeit dieser Form des Denkens – unserer Erzählung unserer eigenen Entwicklung – als auch der Tatsache bewusst sein müssen, dass die besondere Geschichte der Modernisierung nichtwestlicher Kulturen es uns erlauben kann, die genaue Bedeutung unserer eigenen Erzählung zu überdenken.“1013 Eine auf die Fremdheit gegründete Theorie der Interkulturalität ist sich der Tatsache bewusst, dass sich die Selbsterkenntnis auf dem Umweg durch den Fremden gewinnen lässt. Die Radikalität der Fremdheit (bzw. das Fremde als Außerordentliches) muss angemessen und entschlossen beachtet werden Die fremde Stimme hinterfragt unsere Selbstverständnisse. Von dieser Perspektive aus wird z.B. die Schlüssigkeit des Arguments in Frage gestellt, dass „es eines der wichtigsten Elemente im Projekt der sogennanten Aufklärung war, uns von ebendieser Intuition [Gottes Glauben zum Begreifen der vollen Signifikanz des menschlichen Lebens] zu befreien. Für Hume und seine modernen Nachfolger besteht überhaupt kein Grund zur Annahme, das menschliche Leben in seiner vollen Signifikanz könne nicht in der Abwesenheit von Gott begriffen werden. Sie haben nicht nur geltend gemacht, dass der Theismus ein gefährlich irrationaler Glaube ist; sie haben hinzugefügt, dass uns der Tod Gottes eine Gelegenheit, vielleicht sogar eine Verpflichtung bietet, den Wert unseres Mensch- seins voller als zuvor zu bejahen“.1014 Diese Überlegung stört aber, blickt man auf die oben erwähnten Aussagen von Hume und seinen Nachfolgern zurückt, die sich auf keinen Fall als Zeichen einer geringsten Bejahung des Werts des Menschseins und als „ad hoc rationalization of slavery“ (J. E. H. Smith) erwiesen. Auch wenn man Osterhammels Hinweis beachtet, dass die frühneuzeitlichen Vorstellungen von bürgerlicher Freiheit „nicht in ihrer Substanz rassistisch [waren], sondern nur in ihrem Anwendungsbereich rassistisch eingeschränkt“ 1015 , bleibt es deutlich, dass sie zur eingeschränkten Anwendung ihrer Vorstellungen der Freiheit selbst beigetragen haben. Denn selbst wenn die Rassentheorien aus biologischer Grundlage erst im späten 18. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten, sind bei den intellektuellen Zeitgenossen
„Religion et modernité: un aller-retour. Entretien avec Charles Taylor“, Gespräch mit A. Robitaille und D. TanguayNr. 5, Bd. 1, Herbst 2002 – Winter 2003 http://www.revueargument.ca/ upload/ARTICLE/216.pdf, abgerufen am 30. 05. 2015. Ricoeur macht – wie in 1.2.3 bezüglich der Infragestellung des Cogito durch die Psychoanalyse gesehen – darauf aufmerksam, dass der kurze Weg vom Selbst zum Selbst über den Fremden läuft. 1014 Q. Skinner, „Moderne und Entzauberung“, a.a.O., S. 619. 1015 J. Osterhammel, Sklaverei, a.a.O., S. 51; auch ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats: Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen, 2001, S. 355. 1013
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der atlantischen Sklaverei deutliche Aussagen zu finden, die die Dichotomie zwischen Rassen betonen oder nähren. Sie mögen nicht zu den großen Befürwortern der Sklaverei zählen, aber sie haben sie auch nicht ordentlich kritisiert. Sie haben sie sogar durch ihre festen und deutlichen Aussagen gefüttert bzw. gerechtfertigt. Daher ist Smiths Kritik („ad hoc rationalization of slavery“) zu berücksichtigen. Die Kritik am Selbstverständnis der Aufklärer kann als eine kritische Rückmeldung betrachtet werden, die das Ende des von Sartre gennanten „Privilegs zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden“ (le „privilège de voir sans qu´on le voie“)1016 erklärt. Der interkulturelle Dialog sichert die Möglichkeit einer solchen tiefgreifenden Kritik. Da der Tod Gottes nicht die krasse Missachtung der menschlichen Vielfalt und die grundsätzlich rassistische Betrachtungsweise bzw. Kategorisierung der Völker der Welt verhinderte, ist die Rhetorik von Gottes Tod im Rahmen eines durchdachten interkulturellen Dialogs anders zu bewerten. Die Standpunkte der Löwen verdienen Gehör. Proliferation und nicht Subordination ist hier der Weg zur Verallgemeinerung. 1017 Will man, Interkulturalität nicht auf eine „Art Neugierde gegenüber dem Exotischen“ (Waldenfels) reduzieren, dann empfiehlt sich die Interkulturalität als Dialog mit seiner immanenten Dimension der Kritik ernst zu nehmen. Dialog zwischen Kulturen kann nur interessant sein, wenn andere Kulturen nicht nur als Gegenstand von Forschungen sowie Interpretationen angesehen werden, sondern selbst auch als „Aussagende“ (auteurs d´une parole)“1018, deren Aussagen uns nicht nur hinterfragen, sondern auch bereichern können. Dialog bedeutet Waldenfels zufolge Zusammenhang und Zusammenstoß, aber nicht Krieg. Er ist ein Lernprozess. Insofern die Verschränkung/Fremderfahrung sowohl die Idee der völligen Gleichheit als auch die der völligen Andersheit zurückweist, bedeutet die interkulturelle Kritik auch den Dialog, den Streit und das Voneinander-Lernen. Wir lernen voneinander. Wir lernen sogar zu lernen (J. L. Segundo). In einer gut verstandenen Verschränkungsfigur sind wichtige Bedingungen für einen lehrreichen kritischen Austausch und ein friedliches Zusammenleben vorhanden. „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiter die Jäger verherrlichen.“ (afrikanisches Sprichwort)
J. P. Sartre, „Orphée noir“, in Situations, III, Paris, 1949, S. 229. B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, a.a.O., S. 61. 1018 Vgl. F. Pochés Vorwort in R. Fornet-Betancourt, La philosophie interculturelle, a.a.O., S. 7. In diesem Rahmen ist auf den kritischen Film „Der Standpunkt des Löwen“ (Le point de vue du lion) des senegalesischen Regisseur Didier Awadi zu verweisen. Es geht darum, den Stimmen der Ungehörten Gehör zu verschaffen, d.h. konkret, die Kolonisation, die Dekolonisierung, die Migrationspolitik, die aktuelle Politik, die Einrichtung von ausländischen Militärbasen, die Kolonialwährung Franc CFA usw. vom Standpunkt des Löwen also der Betroffenen anzusprechen. 1016 1017
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8. Ausblick: empirische Studien und ethische Diskussionsfelder
8.1 Einige gemeinsame Wertvorstellungen – empirische Plausibilisierung Der phänomenologischen Theorie der Verschränkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden können Lehre aus empirischen Untersuchungen zur Verdeutlichung der bestehenden Gemeinsamkeiten in der Werterfahrung hinzugefügt werden. Der Gewinn für die Philosophie ist immer groß, wenn sie sich der Interdisziplinarität öffnet. Zur Frage nach den Universalien fordert Antweiler, dass der Ausgangs- und Stützpunkt nicht mehr die reine Spekulation sein sollte, sondern die empirische Bestimmung von Gemeinsamkeiten, d.h. eine möglichst umfassende Sammlung von Daten. Selbstverständlich bleiben theoretische Grundannahmen Voraussetzung ihrer Auswertung.1019 Ein Blick auf soziologische interkulturell angelegte Studien ist von großem Vorteil. Dies ist der Fall der Europäischen- und Weltwertestudie zum moralischen Relativismus/Universalismus (European Values Study and World Values Survey Association 2006). Berücksichtigt wurde eine sehr große Anzahl von Ländern aus allen Regionen der Welt; die Erhebung von Daten vollzog sich in mehreren Schüben. Das Ziel der Untersuchung lässt sich folgendermaßen formulieren: „[A]nhand der kombinierten Europäischen und Weltwertestudie zu analysieren inwieweit sich für ausgewählte Themenbereiche bedeutende kulturelle Eigenheiten nachweisen lassen, die sich nicht auf systematische und damit theoretisch zu erwartende Unterschiede zwischen den Befragten oder den einzelnen Ländern zurückführen lassen.“1020 Zum Zweck der vorliegenden Analyse wurden Themengebiete mit Bezug auf die Frage, ob sich Abtreibung, Scheidung, Steuerhinterziehung und Bestechung moralisch rechtfertigen lassen, ausgewählt. Zwar besteht die Vorannahme, dass sie moralisch problematisch sind. Aber eine empirische Untersuchung sollte hier als Prüfstein dienen. Dass diese Themenbereiche mit unterschiedlichen Fragen verknüpft sind, ist selbstverständlich. Eine Diskussion über Abtreibung gestaltet sich nicht in derselben Weise, wie eine Diskussion über Steuerhinterziehung.
R Kather, Universalien – Muster für die Variation der Kulturen. zu: Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?, Polylog 20, 2008, S. 103, http://www.polylog.net/fileadmin/docs/polylog/20_rez_Kather.pdf, abgerufen am 18.03.2010. 1020 H. Dülmer, „Moralischer Universalismus, moralischer Kontextualismus oder moralischer Relativismus? Eine empirische Untersuchung anhand der Europäischen- und der Weltwertestudie“, in G. Ernst (Hg.), Moralischer Relativismus, Paderborn, 2009, S. 55. Der vorliegende Abschnitt bezieht sich auf diesen Aufsatz. 1019
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Die Befragten erhielten die Möglichkeit anhand einer Antwortskala von 0 bis 9 zu sagen, ob sie das Betrachtete in jedem Fall/ unter keinen Umständen/oder irgendetwas dazwischen in Ordnung finden. Die Variablen Bildung, Alter, Verhältnis zur Religion usw. wurden in Fragebogen berücksichtigt. Auch kulturelle Einflüsse auf der Grundlage von Sprache, Geschichte, Religion, Sitten, Institutionen1021 sind Gegenstand vom Augenmerk gewesen. Die empirischen Befunde erwiesen sich als lehrreich. Hinsichtlich der Abtreibung ist die Abweichung erheblich. In keinem Land wird Abtreibung für völlig in Ordnung gehalten, dennoch fallen Unterschiede auf. Die Abtreibung ist in Ländern wie Bangladesch, Malta, El Salvador, Zimbabwe übereinstimmend absolut nicht zu rechtfertigen, während sie in westlichen Ländern in den moralischen Graubereich eingestuft wird. Bei der Frage nach der Scheidung ist die Situation ähnlich. Ganz anders fällt die Tafel im Bereich der Bestechung aus. Hier herrscht übereinstimmend die Ansicht: Bestechung ist nicht hinzunehmen. Und es gibt keinen Durchschnittswert von über 2,25 bei der Abstimmung. Die Steuerhinterziehung wird im Allgemeinen ähnlich beurteilt, wenn auch Länder wie Belgien, Luxemburg, Brasilien und Uganda einen Mittelwert im moralischen Graubereich haben. Dülmer macht darauf aufmerksam, dass die herausgestellten Unterschiede nicht sofort als kulturell angesehen werden sollten, da sie auch durch andere Einflüsse auf der Länderebene oder in der Religiosität verursacht werden können. Zudem „ist die Varianz der Mittelwerte zwischen den Ländern (Länderebene) bei allen vier Themengebieten erheblich kleiner als die Varianz der Urteile zwischen den Befragten (Befragtenebenen). Auffällig ist darüber hinaus, dass bei der Steuerhinterziehung und der Bestechung nur sehr geringe Unterschiede zwischen den Ländern existieren (0,53 und 0, 24); bei der Abtreibung und Scheidung sind die Unterschiede hingegen deutlich größer (2,12 und 1,15).“1022 Aus der gesamten Auswertung von Befunden mit einem sehr niedrigen Varianzanteil der Länderebene folgt, laut Dülmer, dass die Themen Bestechung und Steuerhinterziehung „kaum Raum für kulturelle Eigenheiten“ zulassen. „Da auch die Gesamtmittelwerte auf der on 0 bis 9 reichenden Antwortskala sehr niedrig sind (1,33 bzw. 0,70) bedeutet dies, dass ein recht hoher Konsens zwischen den Ländern darüber herrscht, dass Steuerhinterziehung und Bestechung moralisch nicht rechtfertigbar sind. Beide Beispiele sprechen insofern eher gegen einen moralischen Relativismus.“1023 Daraus ergibt sich nicht, dass ein strikter moralischer Universalismus mit seinem Anspruch auf eine eindeutige Lösung moralischer Fragen zutrifft. Denn es gibt auffällige Unterschiede auf Länderebene am Beispiel von Themenbereichen wie Abtreibung und Scheidung. Bildung, Religiosität, Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bzw. zunehmende Modernisierung sind hier einflussreich. Dazu kommt das Potenzial kultureller Eigenarten, deren Bedeutsamkeit nicht außer Acht zu lassen ist.
Die Abgrenzung von Kulturkreisen, die auf Huntington zurückgeht, ist nach wie vor diskutabel, auch wenn die Ergebnisse der Befragung an sich am Ende zuverlässig sind. 1022 Ebenda, S. 69. 1023 Ebenda, S. 69f. 1021
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Anzumerken ist außerdem, dass die zunehmende Modernisierung dazu führt, dass Fragen nach Abtreibung1024 und Scheidung Gegenstand von innergesellschaftlichen Konflikten werden können, statt unisono negativ bewertet zu werden. Der Einfluss der Modernisierung ist aber nicht signifikant hinsichtlich der Rechtfertigbarkeit von Bestechung und Steuerhinterziehung. Hier wird der Eigennutz durch den Bezug auf die anderen stark ausbalanciert. Man kann gut erkennen, wie der Gerechtigkeitssinn hier der moralischen Beurteilung zugrundeliegt. All dies führt auf die hervorgehobene Bedeutung anthropologischer Grundlagen in der Moral und der des Leibes als Umschlagstelle zwischen dem Eigenen und dem Fremden bzw. als Verschränkung des privaten Raumes und des politischen Raumes zurück. Die kulturellen Zugehörigkeiten verhindern nicht, das Unrecht, das durch die Bestechung angetan wird, zu sehen und moralisch negativ zu beurteilen. Dieses moralische Urteil stellt keine Verletzung einer bestimmten kulturellen Identität dar. Das Vorausgehende zeigt, dass der Dissens zwischen Kulturen zwecks Legitimierung einer Theorie oder Rechtfertigung einer Praxis oft hochgespielt bzw. hochstilisiert wird, während die Realität anders aussieht. Die Beispiele aus dem Alltag, mit denen dieses Kapitel eröffnet wurde, waren wohl fundiert und im Grunde banal. Und die Verschränkungsfigur zur Zurückweisung der Ideen von völliger Gleichheit und völliger Andersheit, findet großen Anklang, wenn Dülmer in der abschließenden Bemerkung betont: „[D]iese Befunde [widersprechen] in aller Klarheit der Position eines kulturellen Relativismus. Durch den empirischen Nachweis, dass es einerseits sowohl Anwendungsfälle gibt, die in den moralischen Graubereich fallen, als auch, dass es anderseits solche gibt, die über die Kulturkreise hinweg recht einvernehmlich eine eindeutige Lösung aufweisen, wird somit insgesamt die Position eines eingeschränkten moralischen Universalismus/moralischen Kontextualismus empirisch gestützt.“1025 Die vorliegende empirische Studie zeigt, dass es falsch ist, den Pluralismus der Kulturen mit dem Pluralismus der Werte gleichzusetzen. Die Grenzen der Kulturen sind nicht die Grenzen der Werte bzw. des Schätzenswertseins der Werte. Menschen sind sich weitergehend einig über manche Werte. Über andere sind sie geteilter Meinung. Dies spricht für einen eingeschränkten
Der Status der Leibesfrucht wird in diesem Rahmen oft nicht mehr mit religiösen Zügen angesehen. Die Abtreibungsfrage bringt mit sich viele Zusatzfragen und Unklarheiten bzw. Punkte, die moralisch grenzüberschreitend sind. 1025 H. Dülmer, „Moralischer Universalismus, moralischer Kontextualismus oder moralischer Relativismus?“, a.a.O., S. 7. Kather führt hier ein konkretes Beispiel an: „Wären Kulturen einander völlig fremd, ließe sich kaum verstehen, dass Menschen immer schon miteinander Handel getrieben haben, Partner aus anderen Kulturen geliebt und geheiratet und schließlich mit ihren Nachkommen gezeugt haben, einander helfen und voneinander lernen. Keine Kultur ist eine in sich geschlossene Entität.“ R. Kather, Universalien, a.a.O., S. 103. 1024
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Universalismus, dessen Bedeutung der Verschränkungsfigur entspricht Die Tatsache des Pluralismus von Kulturen bedeutet nicht, dass Menschen absolut unterschiedliche moralische Rahmen haben. Da Menschen Gemeinsamkeiten aufzeigen, gibt es Platz für Diskussion und Kritik.
8.2 Interkulturalität von unten: Dialog – Menschenrechte – Erziehung Die vorausgehenden Überlegungen haben die Bedeutung der Leiblichkeit in der Menschheitsgeschichte und besonders im Kampf gegen Leid und Unrecht herausgestellt. Unabhängig von den Grenzen der Gesellschaften und Kulturen formte und formt sich nach wie vor eine Tradition des Kampfs, die sich aus allgemeingültigen Werten wie Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit usw. speist. Diese Tradition wird getragen von zahlreichen Beiträgen ansonsten politisch bedeutungsloser Menschen wie Sophie Scholl, von Francisco José Jaca (gestorben 1690) und Epiphane de Moirans (gestorben 1689), zwei Missionaren, die sich gegen die Sklaverei und für die unveräußerlichen Grundrechte der Sklaven engagierten, von Simon Kimbangu, dem Widerstandkämpfer gegen die belgische Kolonialmacht im Kongo; ebenso aber auch von parteipolitisch engagierten Menschen wie Nelson Mandela. Es geht um eine Tradition der Menschen als leibliche Wesen, eine Tradition ohne einen bestimmten Urheber, kurzum, eine Tradition der Menschheit. Jeder Versuch, sich „ein ausschließliches Urheberrecht“ auf diesem Gebiet auszubedingen, „kann nur eitler Wahn sein“1026. Widerstehen etwa die Völker, die mit der Gewalt der Eroberung konfrontiert werden, den aggressiven Eindringlichen nun im Namen der Werte ihrer Aggressoren? Gibt es ein pauschales Urheberrecht auf diese vermeintlichen ‚Eigengüter‘? Wieso wählen die Eindringlinge die gewaltsame Art der Begegnung aus, die offensichtlich im Widerspruch zu ihren angeblichen ‚Eigenwerten‘ steht? Eine afrikanische Grundlehre 1027 aus einer alten Tradition besagt, dass alle Menschen ‚Bandeko‘ (Brüder), d.h. Menschen Gottes sind, dass der Mensch grundsätzlich ein ‚Muntu wa Bende (wa Nzambi)‘ ist, d.h. ein ‚Wesen des Anderen‘, ein ‚Wesen, das dem Gott gehört‘ (Ich soll daher auf es achten; ich kann und darf nicht über sein Leben als ein persönliches Gut verfügen bzw. es behandeln wie ich möchte; und diese Aufforderung gilt unabhängig von der ethnischen bzw. nationalen Identität des Menschen); dass der Fremde ein ‚mwenyi‘ (ein Gast, der meine Freundlichkeit von vornherein verdient) sei. Die Existenz dieser Lehre wird heute in manchen intellektuellen Positionen nicht berücksichtigt. I. Nguema, „Perspektiven der Menschheit in Afrika“, in Europäische Grundrechte, EuGRZ, 17(1990), S. 301. 1027 N. Tshiamalenga, „Mythos und Religion in Afrika heute“, in P. Koslowski (Hg.), Die Religiöse Dimension der Gesellschaft: Religion und ihre Theorien. Tübingen, 1985, S. 208. Siehe auch B. Bujo, Reasoning and Methodology in African Ethics, in J. F. Keenan (Hg.), Catholic Theological Ethics, Past, Present, and Futur: The Trento Conference, New York, 2011, S. 150; O. BimwenyiKweshi, Discours Théologique Négro-africain, a.a.O., Kap. 6-8. 1026
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Eine Aussage, wie „[E]s gibt die universellen Werte, die Menschenrechte, die von Europa ausgegangen, aber längst über Europa hinausgegangen sind“ (Kleger)1028, wirft – wenn sie auch in Bezug auf die bisherigen Formulierung1029 der Menschenrechte zutrifft – die Frage auf, ob z.B. Hồ Chí Minh, der den Widerstand gegen den Aggressionskrieg von Frankreich und danach der USA bzw. den Kampf um die Freiheit organisierte, sich dabei gemeinsam mit dem vietnamesischen Volk für Werte einsetzte, die ihren Geburtsort in Europa hatten (aber merkwürdigerweise von dessen Vertretern selbst im vorliegenden Konfliktfall vergessen worden waren). Die schon zitierte ausgebuhte Kritik der Jeannette Vermeerschs in der französischen Nationalversammlung („the Vietnamese people did not shell Marseille, but you shelled Haiphong“, 1950) sowie ihr Vergleich von Massakern der Franzosen in Vietnam mit denen der Waffen-SS in Oradour basieren offensichtlich nicht auf Werten, die von Europa ausgehen, sondern auf einem impliziten moralischen Wissen und einem empathischen Bewusstsein sowie logischen Prinzipien der Menschen als solchen. Betrachtet man nicht nur den Ärger, sondern auch die Art der Verhöhnungen („out of order“, „Why do you send women to the tribune to say this? Are there not any men among you?“ usw.), denen sie sich von der Mehrheit der Parlamentsmitglieder inmitten des 20. Jahrhunderts ausgesetzt sah, kann man der Behauptung des Sozialwissenschaftlers und Friedensforschers Senghaas zustimmen: „Wenn man die europäische Kultur mit der griechischen Antike beginnen lässt, so wäre sie 2500 Jahre alt. Aber nur in den letzten 250 Jahren spielten die Idee der Menschenrechte und H. Kleger, „Moderne Bürgerreligion“, in M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, a.a.O., S. 525. 1029 Siehe die Trennung zwischen dem Menschen und der Gesellschaft (Der Mensch sei grundsätzlich ein freies Individuum), die Trennung zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen (Nur der Mensch ist Träger von Rechten) und die Trennung zwischen dem Menschen und dem Kosmos (Die menschliche Natur ist nicht auf eine Gesamtordnung der Dinge angewiesen). Dazu: H. R. Yousefi, Menschenrechte im Weltkontext: Geschichten – Erscheinungsformen – Neuere Entwicklungen. Wiesbaden, 2013; A. Sutter, „Ist das Personenkonzept der Menschenrechte kulturell voreingenommen?“, in J.C. Wolf (Hg.), Menschenrechte interkulturell, Fribourg, 2000. S. 226-241; R. Pannikar, „Is the Notion of Human Rights a Western Concept?“, in Diogenes, Bd. 30, 120(1982), S. 75-102; B. Bujo, „Afrikanische Anfrage an das europäische Menschenrechtsdenken“, in J. Hoffmann (Hg.), Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, Frankfurt/M., 1991, S. 211-225; W. Lehnert, Afrikanischer Gewohnheitsrecht und die südafrikanische Verfassung. Die afrikanische Rechtstradition im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Kultur und anderen Menschenrechten. Berlin, 2006; M. Mauss, „Der Begriff der Person und des "Ich" (1938)“, in ders., Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt/M., S. 223- 252. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S. 436; G. Schweppenhäuser, Grundbegriffe der Ethik zur Einführung. Hamburg, 2003. S. 149. Sukopp geht auch auf die Frage der Menschrechte als Abwehrrechte ein (T. Sukopp, Menschenrechte: Anspruch und Wirklichkeit. Menschenwürde, Naturrecht und die Natur des Menschen. Marburg, 2003, S. 25.) 1028
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auch der politische Kampf um die Durchsetzung von Menschenrechten eine Rolle. Und da es um einen wirklichen Kampf ging, ist die These nicht abwegig, derzufolge die Menschenrechte gegen die eigene Tradition, die sich jahrhundertelang formiert hatte, durchgesetzt werden mussten. Das, was wir heute mit Menschenrechten inhaltlich verbinden, ist also ganz offensichtlich nicht in die ursprünglichen ‚Kulturgene‘ Europas eingepflanzt gewesen. Der überwiegende Teil europäischer Geschichte, auch der Kulturgeschichte, zeigt keinerlei Sympathien für das, wofür Menschenrechte stehen, und es ist ganz abwegig anzunehmen, die europäische Geschichte hätte aus innerer Logik zwangsläufig in einen Sieg der Idee der Menschenrechte münden müssen.“1030 Diese Klarstellung über die Menschenrechtsfrage widerlegt jedes ideologisch orientierte Verständnis von Kultur als homogen und linear. Said, der eine ähnliche Ansicht vertritt, zögerte nicht, in einem kleinen Artikel mit dem aufschlussreichen Titel „The Clash of Ignorance“ seine Kritik als eine Kritik an der Ignoranz darzustellen: „In fact, Huntington is an ideologist, someone who wants to make ‚civilizations‘ and ‚identities‘ into what they are not: shut-down, sealed-off entities that have been purged of the myriad currents and countercurrents that animate human history, and that over centuries have made it possible for that history not only to contain wars of religion and imperial conquest but also to be one of exchange, cross-fertilization and sharing. This far less visible history is ignored in the rush to highlight the ludicrously compressed and constricted warfare that ‘the clash of civilizations’ argues is the reality. “1031 Die Analyse der Fremderfahrung und die Erkundung des Bodensatzes der internationalen Politik (besonders in der These 1 gegen die Schematisierungen) sollten unser Bewusstsein für den kulturübergreifenden Charakter der Widerstandstradition und die Tradition des Kampfes um die Menschenrechte geschärft haben. Dies bedeutet, dass die Perspektive der vorliegenden Überlegungen geeignet ist, der von Fornet-Betancourt betonten Besorgnis, „das Anliegen der Menschenrechte vor jeder kulturimperialistischen bzw. politischen Instrumentalisierung zu schützen“1032 und damit der Besorgnis, das Misstrauen gegenüber D. Senghaas, „Menschenrechte - historisch und realistisch betrachtet“, in Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, Heft 35, Juli 1988, S. 8. 1031 E. W. Said, „The Clash of Ignorance “, in The Nation, 22.10.2001, https://www.thenation.com/ article/clash-ignorance/, abgerufen am 10.10.2010. Für Parizeau wiederholen Bernard Lewis und Samuel Huntington die Thesen von Moses Hess über den Kampf der Rassen und ersetzen dabei ‚Rasse‘ durch ‚Zivilisation‘. (M.H. Parizeau, S. Kash (Hg.), Néoracisme, a.a.O., S. 4.) 1032 R. Fornet-Betancourt (Hg.), „Einführung“, in ders., Menschenrechte im Streit zwischen Kulturpluralismus und Universalität. Dokumentation des VII. Internationalen Seminars des philosophischen Dialogprogramms Nord-Süd, Frankfurt, 2000, S. 16. Menschenrechte können als Druckmittel verwendet werden (siehe z.B. F. M. Wimmer, „Die Idee der Menschenrechte in interkultureller Sicht“, in R. Mall et al. (Hg.), Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, 1030
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der Rede von Menschenrechten als Menschenrechten nach Gusto des weißen Mannes abzubauen, gerecht zu werden. Von dieser Perspektive aus bleibt die Frage, ob die Menschenrechte faktisch wirklich ernst genommen werden, immer aktuell. Sollte man nicht besser die Idee aufgeben, die Menschenrechte und die Demokratie seien grundsätzlich westliche Werte, um so einen lehrreichen Dialog zwischen den Kulturen zu ermöglichen? Sen zufolge ist diese Idee ethnozentrisch. Er macht darauf aufmerksam, dass man z.B. Demokratie nicht auf Abstimmungen und Wahlen reduzieren, sondern den Aspekt der öffentlichen Beratung und der Debatte, die „Regierung durch Diskussion“ stärker betonen sollte. Diese Sichtweise eröffnet einen interessanten Weg für die Interkulturalität: „Auf die Tradition der öffentlichen Diskussion stößt man in aller Welt […]. Die westliche Welt hat kein Eigentumsrecht an demokratischen Ideen. Die modernen institutionellen Formen der Demokratie sind allenthalben etwas relativ Neues, aber die Demokratie in Gestalt öffentlicher Partizipation und Beratung hat in der ganzen Welt eine Vorgeschichte.“1033 Mit dieser Position weicht Sen von der folgenden Ansicht Taylors ab („Plainly, democracy and human rights practices originated somewhere and are now being creatively recaptured (perhaps in a significantly different variant) elsewhere […].“)1034, aber steht im vollen Einklang mit Mandela, der im Palaver die „Demokratie in ihrer reinsten Form“1035 sieht. Im Hinblick auf die oben entwickelten fünf Thesen, insbesondere die These 1 gegen Schematisierungen, finden wir Sens Ansicht und Formulierung interessant und zutreffend. In der Tat sind sich die genannten Autoren über die Notwendigkeit des Dialogs einig. Aber wie genau sollte dieser verstanden werden? Sollte es sich z.B. um einen großen Dialog handeln, der alles einbezieht? Um eine Förderung der universalen Ordnung in den Termini der Menschenrechte, die ein einziges Verständnis von diesen Rechten implementiert, die Unterschiede beseitigt und die Vereinnahmung des Fremden realisiert? Aus einer aufgeklärten interkulturellen Sicht – hier Interkulturalität von unten genannt – werden in Bezug auf die Amsterdam, 1993, S. 263.); sie können auch politisch stark instrumentalisiert werden. Gauchet macht z.B. darauf aufmerksam, wie sich die von der internationalen Gemeinschaft hoch gehaltene Idee der multiethnischen Gesellschaft in die Förderung von Kleinst-Nationen im ehemaligen Jugoslawien verwandelt hat (M. Gauchet, La démocratie contre elle-même, a.a.O., S. 380.) 1033 A. Sen, Die Identitätsfälle, a.a.O., S. 66f. 1034 C. Taylor, „Conditions of an Unforced Consensus on Human Rights“, a.a.O., S. 117. 1035 Siehe die Rede über die Institution des ‚palavers‘ in ‚traditionellen‘ Gesellschaften im Kap. 5. Der Palaverbaum gehört zu einer festen Tradition der öffentlichung Diskussion, die auf das Anliegen zurückgeht, die Harmonie mit den anderen (Wesen und Umwelt) zu fördern. Er bietet jedem die Möglichkeit, sich zu Wort zu melden und zur gesellschaftslichen Regelung argumentativ, Wahrheits- und Gerechtigskeitsorientiert beizutragen. Konflikte sind als unvermeidlich im gesellschaftslichen Leben angesehen, aber sie sollen nicht zu einem Zusammenbruch der Gesellschaft führen. Siehe ähnliche Bemühungen in F. Estermann, „Menschenrechte in lateinamerikanischen Traditionen“, in H.R. Yousefi, Menschenrechte im Weltkontext, a.a.O., S. 53.
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Menschenrechtsfrage ein vermessener Universalismus und Relativismus gleichermaßen abgewiesen. Denn die Behauptung des universellen Charakters von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit usw. schließt nicht aus, dass es unterschiedliche Gewichtungen und Akzentuierungen gibt sowie Raum für den Dialog bzw. die Diskussion. Es ist kein Platz für grobe Schematisierungen bzw. eine „holzschnittartige Vision“ (A. Sen), aber auch keiner für eine elitistischen Theorie der Menschenrechte1036 sowie für einen „kulturellen Missionarismus“ (G. Paul), der die Möglichkeit und die Relevanz der Selbstkritik untergräbt. In den vorausgehenden Abschnitten wurde anhand von Beispielen gezeigt, wie die Hervorhebung der Schlüsselrolle der leiblichen Dimension mit einer Steigerung des kritischen Potentials des Menschen einhergeht und einen angemessenen Rahmen für die Rede von den Menschenrechten bildet. An dieser Stelle sollte es genügen, einige hartnäckige Irrtümer bezüglich des interkulturellen Dialogs zu verabschieden. Die Interkulturalität von unten, die in den vorliegenden Überlegungen mit Waldenfels vertreten wird, betrachtet den Pluralismus nicht nur als Realität, sondern auch als Imperativ. Sie legt den Fokus auf die notwendige Aufgabe, den Anforderungen des Pluralismus gerecht zu werden. Die Anforderungen des Pluralismus oder das, was Waldenfels „Vervielfältigung der Vernunft“ nennt, werden verständlich wenn die Schlüssellehren der Leiblichkeit nicht aus dem Blick geraten. Nach wie vor bildet die Leiblichkeitsperspektive den unverzichtbaren Nährboden. Als verkörperte Wesen bewohnen Menschen verschiedene Orte und Kontexte. Diese Orte können wir nicht einfach als bloße Punkte betrachten, die wie auf einem Papier ausradiert und nach Belieben neu oder anders bestimmen bzw. austauschen können. Daher ist es unangebracht im interkulturellen Dialog einen großen Dialog zu sehen, der alles nach einer letztgültigen Regelung normieren soll. Ein solcher Dialog entspricht aber dem klassischen Begriff der Vernunft und – so Waldenfels – kommt in Habermas’ Idee einer massiven und unverbrüchlichen Rationalität zum Ausdruck. Wie kann aber eine Ordnung alles integrieren, bedenkt man, dass fremd genau das ist, was sich der völligen Einbeziehung widersetzt? „Eine ‚reine inklusive Gemeinschaft‘, wie sie Jürgen Habermas vorschwebt, wäre eine Gemeinschaft, die ihre eigenen Grenzen verleugnet, oder sie wäre ein bloßes Gemeinschaftskonstrukt. In jedem Falle würde man der interkulturellen Erfahrung, die ohne Fremdheit nicht zu denken ist, aus dem Wege gehen.“1037 Eine Transformation des Begriffs der Vernunft empfiehlt sich hier. Sie vollzieht sich in drei Schritten: „(1) Zunächst möchte ich von einer Verkörperung der Vernunft sprechen. Als ‚Logos der ästhetischen Welt‘ (Huss. XVII, S. 297) wird die Vernunft zurückverlagert in die Sphäre der Es geht hier um die Annahme, Demokratie und Menschenrechte seien spezifische Werte des Westens. Daher wäre die Anmaßung des Ethnozentristen anzuprangern, da das Exportieren der eigenen Werte den bestehenden Pluralismus missachtet und die Identität fremder Kulturen verletzt. Siehe die Kritik an der elitistischen Theorie der Menschenrechte in z.B. F. Tesón, „International Human Rights and Cultural Relativism“, a.a.O., S. 389. 1037 B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M., 2006, S. 128f. 1036
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Sinnlichkeit und Leiblichkeit […]. (2) Die Verkörperung zwingt zu einer Erweiterung der Vernunft, wie Merleau-Ponty es häufig genannt hat. Vorformen, Vieldeutigkeiten und Dunkelheiten finden Platz in der Vernunft als eine zugehörige Schattenzone der Andersheit, von der sie sich nur zum Schein freimachen kann. (3) Noch ein Schritt weiter, und wir gelangen zu einer Vervielfältigung der Vernunft, Andersheit und Verschiedenheit dringen bis in die Kernzone der Vernunft vor.1038 Der Verzicht auf den klassischen anmaßenden Begriff der Vernunft bedeutet auch den Verzicht auf die Anmaßung, die verschiedenen Diskurse zu homologisieren. Die Auffassung des Dialogs als Dialog des „Zusammenhangs und Zusammenstoßes“ ist daher realistisch und begründet. Wenn sich das ‚Anderswo‘ des Fremden selbst in einen durchdachten kommunikativen Rahmen nicht vollständig einbeziehen lässt bzw. die Unterschiede zwischen der Eigenkultur und der Fremdkultur unüberwindlich sind, bleibt nur die Möglichkeit auf die „Knotenstellen“ zu setzen. Die nicht homologisierbaren Diskurse verweisen auf Überschneidungen. Die nicht einheitlichen Lebensformen sind vielfältig und unentwirrbar verschränkt. Wer könnte behaupten, dass ihm seine Lebensform oder sein Kontext daran hindern, die Bedeutung und den Wert des Widerstands und der Ideale von Sophie Scholl im deutschen Kontext zu fassen? Kein rein integrativer Universalismus (also kein vermessener Universalismus) und kein externer Standpunkt werden dafür benötigt. Denn die leibliche Dimension des menschlichen Wesens ermöglicht hier die notwendigen „lateralen Formen des Austauschs“1039 bezeichnet wird. Dies zeigt auch, dass nicht das Partikulare, nicht die Kontextualität, ein Problem darstellt, sondern die Überlagerung von Interessen, B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, a.a.O., S. 116f. Auch ders., Vernunft im Zeichen des Fremden, a.a.O., S. 117, 433. 1039 Waldenfels greift darauf zurück, um der Idee einer „Universalität von oben“ die einer „Universalität von unten“ entgegenzustellen bzw. um dem Differenzierungs- als auch dem Verbindungsansprüche Genüge zu tun. Einen neutralen, unbeteiligten Außen-Standpunkt, der alles „normalisiert“ und „Unvertrautes in Vertrautes verwandelt“, gibt es nicht. (B. Waldenfels, Hyperphänomene, a.a.O., S. 303.) Er bezieht auf Merleau-Pontys Begriff des „universel latéral“. Siehe M. MerleauPonty, Signes. Paris, 1960, S. 150. Welsch macht hier darauf aufmerksam, dass Merleau-Ponty selbst bei diesem Gedanken noch auf eine Perspektive des Totum angewiesen ist, „sei dieses auch ein offenes Totum“. Daher plädiert er für den Begriff der „transversalen Vernunft“. Diese kennt keine integrativen Leistungen, die zu einem Totum führten könnten: „Universalität und Totalität sind für sie nicht einmal Idealbestände, die anzuzielen verbindlich wäre. Nicht nur ist die Struktur von Wirklichkeit und Vernunft (negativ) so, dass sie dies nicht gestattet, sondern sie ist (positiv) so, dass dies kein eigentliches Letztziel, sondern nur ein Aspekt unter anderen sein kann.“ W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne. Berlin, 2002, S. 314. Merleau-Pontys Anliegen in seinem letzten Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare war, so Waldenfels, unter Schlagworten wie Verflechtung, Ausstrahlung usw. horizontale Verknüpfungsformen zu betonen. „Diese verdichten sich zu Geflechten, Geweben, Konstellationen und Konfigurationen.“ (B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht. Frankfurt/M., 1987, S. 209.) 1038
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die die Gefahr der Ideologie einbringen und die Basis des Dialogs untergraben. Die Geschwister Scholl und ihre Mitstreiter beharrten in ihrem Kampf, da sie sich sicher waren, dass andere leibliche Wesen, die nicht unter der Wirkung von Ideologie handeln und werten, ihr Handeln als gutes schätzen werden. Kein fremder Kontext verhindert das Menschliche, ja das ‚allgemeine Menschliche‘, das in ihrem Fall auf dem Spiel steht. Wer die Differenzen verabsolutieren will, missachtet die Leiblichkeit genauso wie derjenige, der alle Differenzen beseitigen bzw. alles gleichmachen will. Der Leib wahrt die Möglichkeit, von Menschen unter Berücksichtigung ihre Bindungen oder Beziehungen bzw. von ihre Verankerung in der Geschichte und die sozial-kulturelle Zugehörigkeit zu sprechen, wie die neuen Thesen der Sozialwissenschaften es zulassen, aber gleichzeitig die Möglichkeit, dass die Perspektive des Menschen im Allgemeinen nicht außer Acht gerät. Als leibliche Wesen sind wir in der Lage zu sehen, wie die nationalsozialistische Diktatur, wie die Universalisierungszwänge von Obama und den Alliierten (These 1), wie die Verfolgung von Meriam durch die sudanesischen Machthaber (These 2) usw. das Menschliche gefährden und zu Recht kritisiert werden müssen. Es gibt hier aber keinen Anlass für eine globale Ordnung, die die Kontextualität missachten darf. Man kann nicht die gleichen Vorgehensweisen in zwei Kulturen erwarten, von denen die eine dem Individualismus und dem Besitztum mehr Gewicht gewährt bzw. den Menschen mehr als Besitzer darstellt, und die andere das „être-avec/das mit-sein“, also, die Beziehung zu einer Grundkategorie macht und in diesem Zusammenhang das Verb ‚haben‘ nicht kennt (x haben = mit x sein)1040 bzw. den Menschen in der Umwelt mehr als Verwalter begreift. Die Entwicklungsfrage stellt sich hier grundsätzlich als eine Frage nach den Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen und zur Umwelt. Der Wert des Menschen wird nicht an dem, was er hat, gemessen, sondern an seinem Wissen und den Beziehungen, die er entwickelt und pflegt. Ein übertriebenes Besitzdenken wird daher kritisch gesehen. Nicht dass das Besitzdenken überhaupt nicht existiert, sondern es ist anderen, für grundlegende gehaltene Kategorien (wie Harmonie, Beziehungskategorie) untergeordnet. Vor diesem Hintergrund ist eine Frage wie die der Beerdigung zwar eine familiäre Angelegenheit,
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Dies ist z.B. der Fall in einigen Bantu-Sprachen, die im Kongo gesprochen werden. Siehe dazu Ntumba Tshiamalenga, „Langage et socialité: Primat de la ‚bisoïté‘ sur l’intersubjectivité“ („Language and Sociality: The Primacy of ‘Bisoity,’ ‘We-ness,’ over Intersubjectivity“), in Philosophie Africaine et Ordre Social, 2(1985), S. 57–59. Bisoïté (Bisoität) bedeutet in Lingala-Sprache (Kongo) ‚Wir‘. In dieser Richtung gibt es auch Ubuntu als Menschlichkeit (Zulu-Sprache/Südafrika) und den Gemeinspruch über das Band, das alle verbindet: „umuntu ngumuntu ngabantu“ (Zulu): „Ein Mensch ist nur ein Mensch durch und mit [wegen der] anderen.“ Mandela legte viel Wert auf dieses Kollektivethos. (Siehe z.B. A. Christen, „Südafrika nach der Apartheid“, in Neue Zürcher Zeitung, 23.03.1996, S. 9.) Dies bedeutet nicht, dass die Individualität in diesen Gesellschaften keine Rolle spielt. Ein solcher Irrtum würde z.B. viele Fälle der Kritiken von Einzelnen an der sozialen bzw. gemeinschaftlichen Ordnung übersehen.
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aber auch eine gesellschaftliche. Den anderen wird ein bestimmtes Recht (bzw. eine ‚empfundene‘ Pflicht) auf die Beteiligung an der Beerdigung anerkannt. Der Verstorbene ‚gehörte‘ ihnen auch; daher kommen sie frei und spontan, ihn zu würdigen. In diesem Rahmen ist besser mit dem Ruf ‚mutu malamu‘ (Ausdruck aus der Bantu-Sprache Lingala mit der Bedeutung guter bzw. gerechter Mensch) oder ‚mutu ya batu‘ (d.h. der Mensch der anderen, d.h. der Mensch, der den anderen offen, solidarisch zugewendet ist), zu sterben, als mit dem Ruf eines Menschen, der unfähig zu guten Beziehungen mit den anderen war (auch wenn er materiell sehr reich war oder viel erreicht hat). Man kann nicht erwarten, dass in einer Gesellschaft, in der die Eheschließung zugleich eine tiefe Bindung von zwei Familien bedeutet und der traditionellen Eheschließung im Vergleich zur standesamtlichen Eheschließung eine maßgebliche Bedeutung zukommt, das Leben so gestaltet und die Konflikte so geregelt werden wie in einer Gesellschaft, in der sie einen Vertrag zwischen zwei Personen bedeutet. Rechte und Pflichten werden hier kontextuell gefasst. Man kann nicht erwarten, dass die Erziehung, dass die Führung des Lebens und die Lösung der Konflikte in einer Gesellschaft, in der die Verstaatlichung der Familie sehr stark ist, ähnlich sind wie in einer Gesellschaft, in der erweiterte Familien und bestimmte Personen mit anerkannten Rollen wie der Beratung ein großes Gewicht haben. In einem Fall trägt der Anspruch auf Rechte zur Verstärkung von autoritären Eingriffen bei,1041 in einem anderen Fall bewahren bzw. begrenzen Lebensweisen vor autoritären Eingriffen und gewährleisten der Familie ihre Autonomie. Wie in These 4 erläutert wurde, sind die Differenzen nicht aufzuheben. Dem Standpunkt des Dritten, der jeder Ordnung zugrundeliegt und als Richter für Eigenes und Fremdes dient, kommt in der Verhinderung eines Chaos zwar eine nicht zu untergrabende und legitime Rolle zu.1042 Aber es existiert eine Usurpation dieser Rolle, wenn beansprucht wird, Differenzen aufzuheben bzw. eine „universelle Vergleichbarkeit“ vorauszusetzen. Waldenfels sieht hier für die Komparatistik ein Verlust ihrer methodischen Unschuld und spricht von einer „strukturalistischen“ oder „universalistischen Versuchung“. Für ihn soll das Unvergleichliche im Sinne von „etwas entzieht im Zuge des Vergleichens dem Vergleich“, beachtet werden. Wenn das Unvergleichliche abgeschafft wird, verlieren die Kulturen auch ihre Farben. Interkulturalität als Verflechtung bedeutet auch legitime Erhaltung von Differenzen. An dieser Stelle ist Waldenfels‘ Hinweis im Auge zu behalten: „Wir müssen unterscheiden zwischen einen fragwürdigen Relativismus von Geltungen und der unvermeidlichen
Siehe für ausführliche Details P. Meyer, L’Enfant et la raison d´Etat. Paris, 1978. Dt. Version: Das Kind und die Staatsräson oder die Verstaatlichung der Familie. Ein historisch-soziologischer Essay. Übers. von G. Osterwald, Hamburg, 1981. 1042 Siehe ausführliche Beschreibung in B. Waldenfels, Topographie des Fremden, Kap. 5: „Der Anspruch des Fremden und die Rolle des Dritten. Interkulturelle Diskurse“, a.a.O., S. 110-130; auch ders., „Der Andere und der Dritte in interkultureller Sicht“. 1041
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Relativität von Geltungsbedingungen. Es gibt unbedingte Ansprüche, die den Bedingungszusammenhang sprengen, ihn aber nicht überspringen.“1043 Wir stehen vor einer ganzen Palette von Unterschieden, ja von diversen feinen Akzentuierungen und Gewichtungen, die das Bild der Welt bunt machen. Aber Unterschiede bedeuten nicht, dass wir in absolut unterschiedlichen Welten leben und untergraben nicht die universalistischen Ansprüche: „Nicht nur an einer gewissen Konturierung des Eigenen ist festzuhalten, sondern auch an einer gewissen Form von Universalisierung, die sich über den Stand des Eigenen erhebt.“1044 Bestreitung einer universalen Vergleichbarkeit und Kulturrelativismus sind nicht deckungsgleich. Wir haben es in der vorliegenden Untersuchung abgelehnt, von Werten als kulturimmanenten Dingen zu sprechen und dementsprechend ihre Unvergleichlichkeit mit einem ‚man kann sie nicht vergleichen, da sie par excellence voneinander verschieden sind‘ zu beanspruchen. Die Interkulturalität als Verflechtung widersetzt sich dem Kulturrelativismus. Aus einer Perspektive, in der die (die Universalität nicht ausschließende) Kontextualität (das Eingebundensein). bzw. die Pluralität grundsätzlich gewahrt und aufgewertet wird, erweist sich der interkulturelle Dialog als Chance (z.B. zur Bereicherung der Menschenrechte); er kann nur begrüßt werden. Aber der Sinn des Dialogs ist auch, dass man sich seines ‚Anderswo‘ bewusst wird, von dem aus man „auf originelle Weise“ spricht. Sonst ist die Rede von Verschränkungen ungeeignet. Da sich das ‚allgemein Menschliche‘ vielfältig denken lässt – daher die „Universalisierung im Plural“ (Waldenfels), gibt es nichts Besseres als dieser Vielfalt Raum zum Ausdruck zu sichern. Als ein einleuchtendes Beispiel gilt die folgende Gesprächssituation zwischen einem Rabbiner und einem Wortführer des Buddhismus: „Beide Sprecher bezogen auf ihre Weise die jeweils vom anderen vertretene Religionen ihre Sichtweise mit ein. Der Vertreter der jüdischen Tradition erinnerte an den Bund Gottes mit Noah, den Gott mit allen Menschen schloss und nicht nur – wie den späteren Bund mit Abraham – mit dem ‚auserwählten Volk‘. Der Vertreter des Buddhismus wies demgegenüber darauf hin, dass eine Religion, die aus dem Nichts des Schweigens hervorgeht, alle Religionen umfasst, auch jene Religionen, die von einem Wort Gottes ausgehen.“1045 Wichtig in diesem Austausch ist, dass wir es mit einer kontextbezogenen „doppelten Universalisierung“ zu tun haben, die keineswegs auf eine gemeinsame „Skala“ gebracht und vereinheitlicht werden kann und die das Ineinander des Eigenen und des Fremden verdeutlicht. Dass darin ein Modell und somit einen Nutzen für die Interkulturalität der Philosophie bestehen kann, steht außer Frage. Es ist der Weg, auf dem sich ein neues Bild unserer Welt entwickelt. Eine weitere Illustrierung ist die vom Atomphysiker Capra geleistete Herausstellung der Konvergenz der modernen Physik und der östlichen Philosophie.
B. Waldenfels, Hyperphänomene, a.a.O., S. 343f. B. Waldenfels, „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“, a.a.O, S. 63. 1045 Ebenda 1043 1044
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„Die Wissenschaftler kennen die Zweige des Baumes des Wissens, aber nicht seine Wurzel. Die Mystiker kennen die Wurzel des Baumes des Wissens, aber nicht seine Zweige. Die Naturwissenschaft ist nicht auf die Mystik angewiesen und die Mystik nicht auf die Naturwissenschaft doch die Menschheit kann auf keine der beiden verzichten.“1046 Die Herausstellung des Zusammenhangs der wissenschaftlichen Erfahrung und der mystischen Dimension dokumentiert, wie lehrreich und wichtig der interkulturelle Dialog – ohne Anmaßung auf Vereinheitlichung – sein kann. Die Vorsilbe inter ernst zu nehmen bedeutet auch die Beiträge anderer Kulturen, im vorliegenden Fall die Mystik nicht zu „belächeln“ oder zu „beargwöhnen“, sondern ernst zu nehmen (Capra). Dass keine deutliche Grenzlinie zwischen dem Sakralen und dem Profanen, dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren besteht, spricht dafür, ein Bewusstsein für Verschränkungen, Komplexität und Einheit von Wesen, Dingen und Bereichen zu entwickeln. Und dies gibt die Möglichkeit, tiefe Erkenntnisse zu gewinnen im Hinblick auf Fragen inwiefern bzw. ob die Natur dem Menschen gehört oder eher umgekehrt, und welche Konsequenzen bezüglich des Handelns sich aus der gegebenen Antwort ziehen lassen. Wir können die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass der cartesianische Dualismus hier in mehrfacher Hinsicht fragwürdig ist. Capra ist an dieser Stelle explizit: „Descartes’ Philosophie war nicht nur für die Entwicklung der klassischen Physik von Bedeutung. Sie hatte und hat bis zum heutigen Tag einen gewaltigen Einfluss auf die westliche Denkweise im Allgemeinen. Descartes’ berühmter Satz ‚Cogito ergo sum‘ (Ich denke, also bin ich) brachte den westlichen Menschen dazu, seine Identität mit seinem Geist gleichzusetzen anstatt mit seinem Organismus. […] Diese zersplitterte Ansicht wird auf die Gesellschaft ausgedehnt, welche in verschiedene Nationen, Tassen, religiöse und politische Gruppen aufgeteilt wird. Der Glaube, dass all diese Teile – in uns selbst, in unserer Umgebung und unserer Gesellschaft – wirklich getrennt sind, kann als Hauptgrund für die gegenwärtige Folge von sozialen, ökologischen und kulturellen Krisen angesehen werden; eine steigende Welle von Gewalttätigkeit und eine häßliche, verschmutzte Unwelt, in der das Leben oft physisch und psychisch schädlich geworden ist.“1047
F. Capra, Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie. Bern – München – Wien, 1989, Klappentext. Siehe auch F. Capra, Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt. Bern – München – Wien, 1996. 1047 F. Capra, Das Tao der Physik, a.a.O., S. 19f. Capra zeigt, wie die Physik des 20. Jahrhunderts (Quantentheorie und Relativitätstheorie) vom cartesianischen Dualismus und der mechanistischen Weltauffassung abweicht und die Anschauung fördert, die Verschränkungen mit den Weltanschauungen der Mystiker aller Zeitalter und Traditionen – im vorliegenden Fall mit der östlichen – aufzeigt. 1046
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Neue Ansichten in der modernen Physik bringen frischen Wind in die alte Weisheit der Einheit bzw. Verschränkung. Oppenheimer, Bohr, Heisenberg1048 usw. verweisen explizit auf Gemeinsamkeiten zwischen den Fundamenten der modernen Physik und den östlichen philosophischen und religiösen Traditionen. In diesen Traditionen – wie in allen mystisch angelegten Traditionen, die Kultur, Naturwissenschaft, Philosophie, Religion nicht strikt voneinander trennen – ist die Aufsplitterung der Welt in strikt verschiedene Dinge bzw. Bereiche und die Betrachtung der Menschen als isolierte Egos kurzsichtig. Sie gilt in der buddistischen Philosophie ‚Avidya‘ sogar als ein Anzeichen einer Störung des Geistes: „Wenn der Geist gestört ist, wird die Vielfalt der Dinge produziert, aber wenn der Geist beruhigt wird, verschwindet die Vielfalt der Dinge.“1049 Sich mit solchen Traditionen zu befassen – wie der von Maat, von Inkas usw. – ist lehrreich für alle und ermöglicht, den immer zunehmenden Herausforderungen der globalisierten Welt gewachsen zu werden, und insbesondere der beständig herausfordernden Frage besser gerecht zu werden, wie alles zusammenhält. Das Denken der Fremdheit, die der Dichotomie Inklusion oder Exklusion entgeht, steht also in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Forschungsstand vieler Disziplinen. Aber auch im praktischen Bereich bzw. im alltaglichen Leben hat es Auswirkungen. Es ist daher auch eine interkulturelle Politik und Erziehung nötig, die den Herausforderungen des Fremden gerecht werden kann. Unter interkultureller Erziehung wird unter anderem jede Erziehungsmaßnahme verstanden, die das Bewusstwerden der (kulturellen) Vielfalt und somit die Toleranz, Offenheit und Solidarität in der Gesellschaft fördert und Kompetenzen in der Kommunikation mit Menschen unterschiedlicher Herkunft vermittelt. Dadurch lernt man, Differenzen zu akzeptieren ohne die eigene kulturelle Identität zu leugnen. 1050 Interkulturelle Erziehung sollte nicht bloß als Prozess aufgefasst und gestaltet werden, in dem die gegenüberstehenden Kulturen in Beziehung gebracht werden, sondern in erster Linie als ein Prozess, in dem gelernt wird, die Fremdheit im eigenen Hause anzuerkennen. Waldenfels’ Rede von „Selbstbefremdung“ kann hier gar nicht hoch genug geschätzt werden – wie Busch sagt –, „weil man in der Begegnung mit der fremden die eigene kulturell Bedingtheit zwar nicht abstreifen kann, aber unleugbar zu spüren bekommt, dass man in der Heimwelt nie ganz
Heisenberg – um nur ein Beispiel zu nennen – behauptet z.B,, dass der große wissenschaftliche Beitrag in der theoretischen Physik, „der seit dem letzten Krieg von Japan geleistet worden ist, als Anzeichen für gewisse Beziehungen zwischen den überlieferten Ideen des Fernen Ostens und der philosophischen Substanz der Quarantentheorie angesehen werden [könnte]“. (W. Heisenberg, Physik und Philosophie. Berlin, 1973, S. 170; zitiert auch in Capra, Das Tao der Physik, a.a.O., S. 14.) 1049 Ashvaghosha, The Awakening of Faith. Übers. von D. T. Suzuki, Chicago, 1990, S. 78; zitiert auch in Capra, Das Tao der Physik, a.a.O., S. 20f. 1050 Siehe Québec (Gouvernement) Ministère de l´Éducation, Une école d’avenir. Intégration scolaire et éducation interculturelle. Québec, 1997. S. 2. 1048
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zuhause ist, so dass auch die eigene Kultur ihr Unheimliches birgt“.1051 Es zeichnet sich hier eine große Herausforderung für das Bildungssystem ab. Wir können sie nicht umgehen, wenn wir der Tatsache gerecht werden wollen, dass Kulturen – wie Waldenfels betont – vielstimmig angelegt sind, insofern in jeder von ihnen fremde Stimmen als Widerhall ertönen: „Die Gegenstimme tönt mir nicht erst von außen entgegen, sie ertönt im eigenen Haus als ein Echo, das mich narrt oder begleitet wie in der latenten Mehrstimmigkeit mancher Solostücke.“1052 Für Waldenfels stellt uns die eigene Stimme eine Falle, in die wir immer wieder tappen. Vielstimmigkeit impliziert, dass die Produktion der eigenen Rede in gewisser Weise eine Ko-produktion ist. Angesichts der Verwicklung des Eigenen und des Fremden ist die Ob-Frage (ob ich mit dem Fremden umgehen will) eigentlich verspätet und weniger wichtig als die Was/WieFrage („Wie soll ich diesen Umgang mit den Anderen gestalten?“). Letztere Frage betrifft z.B. die Form der interkulturellen Erziehung und Politik, die man umsetzt. Das Fremde stellt Ethos und Politik auf eine entscheidende Bewährungsprobe1053. Es gibt hier Raum für unsere Willenssetzung. Mit welchem Programm und mit welchen Normen wollen wir reagieren auf das, was die Fremderfahrung uns gezeigt hat? Entstehen können hier Ängste oder die Tendenz sich „ans Eigene oder an das, was man für das Eigene hält“ zu klammern. Aber man muss sich nicht schämen, Ängste zu haben. Denn diese sind ja für leibliche Wesen kein anormales Phänomen. Wie man damit umgeht, ist allerdings entscheidend. Fremde Ansprüche fordern Antworten in der einen oder anderen Weise. Welche Fremdpolitik dient zu Antwort auf die (bewusst gewordene) Erfahrung, dass die Fremdheit im eigenen Haus beginnt? Zu der Politik des Fremden, die auch im Bildungsbereich Fuß fassen soll, hat Waldenfels eine einleuchtende Ansicht: „Unter Fremdenpolitik verstehe ich eine Politik, die sich nicht bloß mit der Aufnahme und Eingliederung von Ausländern, Immigranten und Asylanten
K. Busch, „Bernhard Waldenfels, Kultur als Antwort“, in S. Moebius, D. Quadflieg, Kultur. Theorien der Gegenwart. 2, erweiterte und aktualisierte Auflage, Wiesbaden, 2011, S. 298. 1052 B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, a.a.O., 1987, S. 11. Waldenfels entwickelt diese Idee der Polyphonie in Bezug auf Mikhail Bakhtine, für den selbst Solostücke latente Polyphonie enthalten (‚innere Dialogizität‘). Diesem Thema hat Waldenfels das Buch Vielstimmigkeit der Rede gewidmet. 1053 B. Waldenfels, „Fremd/Fremdheit“, a.a.O., S. 409. Wie Waldenfels betont, erfinden wir zwar nicht „worauf wir antworten“ (dies ist unserer Willenssetzung, entzogen), sondern mit was („Code, Programme, Regeln, Normen...“) und wie wir darauf antworten. (B. Waldenfels, Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2. Frankfurt/M., 1998, S. 141.) Es gibt hier also eine Kluft zwischen dem Worauf und dem Was/Wie bzw. zwischen der „Aufmerksamkeit“ und der „Intentionalität“ (dem „Willensmoment der Zuwendung“). Siehe B. Waldenfels, Antwortregister, a.a.O., S. 537. 1051
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oder mit der Gewalt gegen Fremde befasst; vielmehr trägt sie der Fremdheit in allen Bereichen der Öffentlichkeit Rechnung.“1054 Hier bestehen wichtige Aufgaben, auf die die Verständigung zwischen Völkern angewiesen ist. Eine von diesen Aufgaben ist das Interesse für fremde Sprachen zu fördern. Man darf dies nicht nur von den Fremden verlangen, wenn man die Verständigung wirklich fördern will. „Verständigung setzt voraus, dass man einander Aufmerksamkeit schenkt, dass man hinschaut und hinhört, bevor man argumentiert. Sie setzt voraus, dass man fremde Sprachen lernt und dies nicht nur von den Ankommenden fordert. ‚Lernt Sprachen. Auch die nicht vorhanden‘, ermahnt uns der polnische Aphoristiker Lec. Eine Politik des Fremden wäre eine Politik, die sich an den Grenzen des Normalen bewegt.“1055 Das gegenseitige Interesse an Sprachen – wenn auch das Lernen der lokalen Sprache aus verständlichen Gründen in erster Linie Priorität hat – wirkt wie ein Stimmverstärker zugunsten eines lehrreichen Dialogs. Er trägt auch stark zur Vermittlung von Kenntnissen und zu einem besseren gegenseitigen Kennenlernen bei. Hier kann man sich auch die Frage stellen, ob man Experte für einen bestimmten Kontinent sein kann, ohne die dort gesprochenen Sprachen zu beherrschen. Die Aufgabe, der Fremdheit in allen Bereichen der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen, läuft auch über die Zeitplanung und die Gestaltung von Schulbüchern, damit den Schülern und Schülerinnen eine solide und umfassende Grundkenntnis der Lage der ganzen Welt vermittelt wird. Gute Absichten können Schaden anrichten, wenn sie die tiefergehende Problematik verfehlen. Wer z.B. Schüler und Schülerinnen mit einer ungerechten Situation in der Welt konfrontieren will, kann den Fehler begehen, auf plakative, vereinfachende bzw. verzerrende Darstellungen z.B. der ‚dritten Welt‘ zurückzugreifen, die unreflektiert in das Bildungsprogramm übernommen worden sind, und damit zu ihrer Zementierung beizutragen. Komplexität und Vielfalt werden dabei unterbelichtet bzw. übersehen. All dies kann das Schulsystem zum Teil eines fundamentalen Problems machen. Es geht also nicht um die Korrektur einiger Spitzfindigkeiten. Nachdenken und Reform sind empfehlenswert, um die zukünftige Generation auch in Bezug auf die Probleme der Lage der Welt zu selbstdenkenden und kritischen Bürgern zu erziehen.1056 Führen wir ein Beispiel zur Illustrierung
B. Waldenfels, „Das Fremde denken“, a.a.O., S. 365f. B. Waldenfels, „Die Angst vor dem Fremden“, a.a.O. 1056 Siehe die unglücklich gewählten Beispielsätze aus En Vogue I, Übung 5 zur Erläuterung des „article partitif“ auf Französisch, S. 54 (Verlag orkz, Zürich, 2000, http://www.schulen-frauenfeld. ch/cm_data/public/en_vogue_u3_lsg.pdf, im Text online, S. 6.): „In der westlichen Welt haben die Europäer viel Brot, Fleisch, Gemüse, Reis usw.; in der Dritten Welt haben die Afrikaner wenig Brot, Fleisch, Gemüse, Reis usw.“ Vor diesem Hintergrund werden Vereinfachungen und Verallgemeinerungen begangen. Zum einen können die hier getroffenen Aussagen, da sie sich angesichts der Realität vieler afrikanischen Regionen nicht bestätigen, als abwertend angesehen werden. Im Gegensatz zu diesen Beispielen gibt es in Afrika durchaus viele große Wohnhäuser, Läden, Einkaufsmöglichkeiten, etc. Wenn Afrika – der weder ein Kanton noch ein Land ist – un1054 1055
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dieser kritischen Erziehung an. Dieses Beispiel soll auch zeigen, inwiefern der Standunkt des Löwen (siehe das afrikanische Sprichwort in der These 5: „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiter die Jäger verherrlichen.“) zur Überwindung von Blindheit, „Zirkel der kollektiven Selbstbezüglichkeit“ (Waldenfels), Klischees in der Pädagogik eingesetzt werden kann. Ein grundlegendes pädagogisches Ziel ist die Ermöglichung eines Wechsels der Perspektive und eine Schulung des kritischen Umgangs mit unseren Begriffen, z. B. durch Zeigen eines Foto mit Flüchtlingsbooten heute vs. einem Bild mit europäischen ‚Entdecker‘-Schiffen/ Pionieren. Fragen: – Was tun diese Menschen da? – Was ist der Unterschied? Wer hat die ‚richtigen‘ Beschreibungskategorien festgelegt? Denn: beide sind offensichtlich auf der Suche nach Reichtum/ Wohlstand aber – wir beschreiben die einen als ‚Flüchtlinge‘, die anderen als ‚Entdecker‘ oder ‚Pioniere‘. – Den einen begegnen wir mit Ablehnung, die anderen wurden mit Gastfreundschaft empfangen. In der Flüchtlingskrise ist ein Blick in die Geschichte hilfreich und lehrreich. Dadurch wird man sich seiner Täuschungen, Vorurteile bzw. der Fragwürdigkeit von Ideen wie Grenzschließungen bewusst und der Weg öffnet, sich, um letztere abzubauen. Viele Fragen bekommen ein neues Licht, wenn sie aus interkultureller Sicht betrachtet werden. Vorurteile, Klischee, Vereinfachungen usw. (auch wenn sie unbewusst sind) versperren den Weg zu einem besseren Kennenlernen und verarmen den Dialog. Eine Aussage wie die Folgende von Ratzinger – des späteren Papstes Benedikt XVI. – ist daher bedürftig: „Die Stammeskulturen Afrikas und die von bestimmten christlichen Theologien wieder wachgerufenen Stammeskulturen Lateinamerikas ergänzen das Bild. Sie erscheinen weithin als Infragestellung der westlichen Rationalität, aber auch als Infragestellung des universalen Anspruchs der christlichen Offenbarung.“1057 Diese Beschreibung fusst auf einer überholten Katalogisierung der alten Ethnologie.
ter dem Mangel selbst an Gemüse, Reis, Fleisch und Brot leidet, können Menschen dort überhaupt noch leben (bzw. glücklich sein)? „Afrika, Gegend des Mangels oder des Elends“, so kann man das durch die obigen Beispiele vermittelte Bild von Afrika zusammenfassen – und genau dieses Bild setzt sich im Hinterkopf der Schüler dauerhaft fest und kann später nur mühsam wieder korrigiert werden. 1057 J. Habermas, J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg, Basel und Wien, 2005, S.54. Wir führen dies in dem Artikel „Religion et raison. Une lecture critique du ‚débat‘ Habermas – Ratzinger“ aus (im Erscheinen, Actes du colloque de de l'ACFAS sur le Religieux et le Chercheur à l´Université du Québec à Rimouski, Presses de l'Université Laval).
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Es ist von zentraler Bedeutung, einen Dialog zu entwickeln, in dem man wirklich bereit ist, voneinander zu lernen, eine Form der Verständigung zu fördern, in der weder das Eigene noch das Fremde aufgehoben sind. Soll eine einseitige Integration der Asylsuchenden nicht Platz machen für die echte Suche nach einer Form der Zugehörigkeit, die die eigene Herkunft des Anderen nicht in Abrede stellt? Begrüßenswert sind die verschiedenen Initiativen in Bildungseinrichtungen, die die einen und die anderen dazu einladen, ihre ‚partielle Fremdheit‘ vorzustellen bzw. zu würdigen. Jenseits der feierlichen Seite ist die Bedeutung des Beitrags zu einem lehrreichen Austausch nicht zu missachten. Der interkulturelle Dialog ist eine Chance, weil auch der Fremde eine Chance ist.
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Schluss Das vorliegende Buch hat sich mit der Frage befasst, ob (und wenn ja, inwiefern) eine kulturübergreifende moralische Beurteilung möglich und relevant ist. Die Untersuchung entzündete sich an einer charakteristischen Spannung im Werk Charles Taylors. Auf der einen Seite schreibt Taylor den meanings bzw. Werten einen identitätskonstituierenden Charakter und eine den Handlungen Sinn verleihende Rolle zu. Darüber hinaus verstärkt er ihr Gewicht durch die Verteidigung des moralischen Realismus und die Behauptung, dass Werte unabhängig von unseren subjektiven Einstellungen gelten. Damit steht er in einem deutlichen Gegensatz zum moralischen Subjektivismus und zur Verfahrensethik. Auf der anderen Seite aber plädiert er für den kulturellen Pluralismus und stellt somit meanings bzw. Werte als ethnisch-kulturell geschaffen und dadurch radikal (gruppen- bzw. kultur)relativ heraus. Diese gleichzeitige Auf- und Abwertung des Status und Geltungsbereichs von Werten ist problematisch. Denn Taylor fördert dadurch trotz seiner anti-relativistischen Selbstpositionierung eine kulturalistische Bestimmung der Moral bzw. einen moralischen Relativismus und vertritt letzten Endes eine fragwürdige Auffassung der Interkulturalität. Auf dieser Grundlage wird auch die Verteidigung einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung erschwert. Unser Ziel war es, eine korrektive Alternative zu Taylor zu entwickeln, um die Wichtigkeit der Kontextualität bzw. des kulturellen Pluralismus zu bewahren, ohne in einen Relativismus abzugleiten. Das dabei entwickelte Verständnis des Kontextes gibt die universelle Dimension bzw. den Anspruch der moralischen Beurteilungen auf Allgemeingültigkeit nicht preis. Zum Abschluss soll der Weg, der zu diesem Lösungsentwurf und damit zu einer positiven Beantwortung unserer Leitfrage geführt hat, nachgezeichnet werden. Im ersten Teil („Taylors sozialphilosophisches Konzept“) wurde Taylors philosophische Anthropologie, in der die theoretischen Grundvoraussetzungen seiner Ethik zu finden sind, ausführlich dargelegt. Dort habe ich zuerst seine Kritik an der Erkenntnistheorie vor Augen geführt, weil Taylor zufolge die erkenntnistheoretische Tradition mit manchen der „bedeutendsten und mächtigsten moralischen Leitvorstellungen“ der Moderne verknüpft ist. Für ihn setzt daher die Kritik an der modernen Moral die Kritik an der Erkenntnistheorie voraus. Taylor, der sich der Tendenz entgegenstellt, die Geisteswissenschaften methodisch nach dem Muster der Naturwissenschaften zu betreiben, wirft der erkenntnistheoretischen Tradition vor, auf einem Begriff des Menschen als einem desengangierten und bindungslosen Subjekt zu gründen, d.h. einem Subjekt, das auf Klarheit und Deutlichkeit der
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Erkenntnis abzielt, dabei aber seine tiefen Bindungen bzw. seine Einbindung in einen Kontext vergisst. Das cartesianische Cogito (das entkörperlichte Ego), das unabhängig von allem Sein, ja selbst von seinem eigenen Körper ist und damit seine Umwelt problemlos objektivieren kann, wurde hier als Schulbeispiel eingeführt und analysiert. Diese desengagierte Perspektive hat theoretische und praktische Konsequenzen: Indem vergessen wird, dass der Mensch ein leiblich Handelnder ist, der unentrinnbar in Verhältnisse zu anderen, zu seiner Umwelt und zu dem Guten verstrickt bleibt, wurde der (Irr-)Weg eröffnet, das menschliche Handeln ohne seine unvermeidliche Bedeutungshorizonte zu betrachten. Dies hat Taylor versucht, durch eine umfassende Diagnose der Moderne mit all ihren unbehaglichen Eigenschaften (Individualismus, instrumentelle Vernunft, Freiheitsverlust) bzw. durch die Auseinandersetzung mit den vorherrschenden moralischen Einstellungen der Moderne zu zeigen. Kritisch betrachtet, ist Taylors Diagnose der Moderne so komplex, dass sie in manchen Erläuterungen allenfalls als approximativ zu bezeichnen ist und dass Grundzüge der bekämpften moralischen Einstellungen nur flüchtig wahrgenommen werden. Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass Taylors Interesse oft eher darin besteht, die kulturellen Grundlagen der Moderne zu verdeutlichen, als einzelne Moraltheorien zu analysieren. Im Zuge seiner Diagnose der Moderne betont er die enge Verbindung zwischen Moral und Anthropologie bzw. Moral und Identität. Hier wird die Rolle des Bedeutungshorizonts hervorgehoben. Damit ist ein Horizont gemeint, innerhalb dessen Dinge als gut oder schlecht, sinnvoll oder trivial eingeschätzt werden können. Sucht man einen Ausgangspunkt für eine relevante soziale und politische Theorie, dann muss man zugleich von der Gemeinschaft und vom Guten ausgehen: von der Gemeinschaft, weil der Aufbau des Selbst dialogisch (in Auseinandersetzung mit den Anderen) verläuft; vom Guten, weil der Mensch seinem Wesen nach grundsätzlich ein Wertender ist. Laut Taylor haben Bedeutungen bzw. starke Wertungen eine unentbehrliche Rolle in Bezug auf menschliche Wahrnehmungen, Handlungen und Beurteilungen. Demgemäß steht seine Moraltheorie durchgehend unter dem Leitmotiv, den Menschen als ein stark wertendes Wesen darzustellen. Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er sich selbst unumgänglich und stets schon im Lichte von starken Wertungen versteht. Die daran anschließenden Diskussionen sollten im zweiten Teil des Buches vorgestellt und deren wichtige Grundzüge umrissen werden. Im zweiten Teil (‚Diskussion mit den prozeduralen Theorien‘) ging es darum, zu erläutern, wie Taylor seine grundlegende anthropologische Idee der unvermeidlichen Einbettung des Menschen in einem gemeinsamen, substantiell (‚werthaft‘) gestalteten Horizont in der Debatte mit einigen zeitgenössischen Denkern der praktischen Philosophie verteidigt hat, und zwar mit dem prozeduralen Liberalismus im politischen Bereich und mit dem intersubjektivitätstheoretischen Prozeduralismus im moralischen Bereich. Die Kritik Taylors am prozeduralen Liberalismus läuft darauf hinaus, dass sowohl das liberale Menschenbild als auch das liberale Verständnis von sozialen Institutionen und sein Neutralitätsprinzip hinterfragt werden. Dem prozeduralen Liberalismus wird die Überbe-
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tonung der Rechte des Individuums und die Nicht-Berücksichtigung des Hintergrunds dieser Rechte selbst vorgeworfen. Taylor macht darauf aufmerksam, dass der Zweck des öffentlichen Lebens nicht allein in der „Sicherung und Bewahrung individueller Rechte“ bestehen kann, weil Rechte selbst „voraussetzungsreich“ sind; sie implizieren die Behauptung eines bestimmten Werts und sind daher in Bedeutungshorizonte eingebunden. Abschließend wurde darauf hingewiesen, dass zwischen liberalen Autoren sowie zwischen dem amerikanischen und kontinentalen Kontext große Unterschiede bestehen, so dass nicht alle liberale Autoren von Taylors Kritik betroffen sind. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass Taylors Denken zurzeit im Wandel zu sein scheint. Er zeigt sich mehr und mehr offen für das Neutralitätsprinzip bzw. den Rawlsschen Begriff des „überlappenden Konsensus“. Dieser Punkt bleibt offen, denn Taylor hat selbst (noch) nicht von einem Wandel in seiner Philosophie gesprochen und auch nicht den Zusammenhang seines Denkens dargestellt. Angesichts des intersubjektivitätstheoretischen Prozeduralismus betont Taylor, dass die formale, auf die bloße Macht von Verständigungsprozessen setzende Ethik in ihrer Relevanz und Überzeugungskraft von ihrer eigenen substantielle Basis, d.h. den eigenen Vorstellungen vom Guten abhängig ist. Außerhalb der starken Wertungen steht einer solcher Ethik keine exzentrische Position zur Verfügung, von der aus kulturübergreifend eine Prozedur normativ bestimmt werden kann. Kritisiert wird hier vor allem Habermas ethischer Intellektualismus mit seinem Anspruch auf Formalisierung und auf einen universalen Standpunkt der moralischen Beurteilung. Es wurde gezeigt, dass Taylor die Verfahrensethik zur öffentlichen Bekundung ihrer Moralquellen zwingt, indem er sie mit radikalen Warum-Fragen („Eröffnungsfragen“) konfrontiert: „Warum sollten sich Handelnde dazu verpflichtet fühlen, in eine herrschaftsfreie Diskussion einzutreten?“ „Warum sollte ich überhaupt nach einer bestimmten Norm (rational) verfahren?“ „Warum sollte ich die rationale Verständigung vorziehen?“ Diese „Eröffnungsfragen“ im Rahmen der anthropologischen Herausforderung überfordern alle Ethiken, die die Vorstellungen vom Guten nicht zur Sprache bringen wollen und können nur mit Bezug auf starke Wertungen beantwortet werden. Sie erfordern andere Mittel als die rationale Erörterung, nämlich diejenigen, die sich aus einem anthropologischen Gesichtspunkt ergeben. Deshalb besteht Taylor auf der Idee, die Moral sei von der Anthropologie (Identität) nicht zu trennen. Das Ausmaß seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Verfahrensethik steht also in einem Verhältnis zu der Bedeutung, die er der Verbindung zwischen Moral und Anthropologie zuschreibt. Aus meiner Analyse hat sich ergeben, dass Taylors philosophisch-anthropologische Perspektive stichhaltige Argumente gegen Ansprüche auf reinen Formalismus in der Ethik vom Schlage Habermas liefert. Allerdings bereitet sie zugleich Probleme aufgrund der normativen Konsequenzen, die Taylor in seiner Verteidigung des kulturellen Pluralismus daraus zieht, und zwar in Form einer kulturalistischen Bestimmung der Moral. Dieser Problempunkt bildete den Gegenstand des dritten und letzten Teils des Buches. Der dritte Teil („Die moralische Beurteilung aus der interkulturellen Sicht“) ist auf Taylors Grundidee bezogen, dass der Horizont, in den das menschliche Leben eingebettet ist,
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(ethnisch) historisch-kulturell bedingt, also partikulär sei. Aus Taylors anthropologisch-hermeneutischer Perspektive ist der Mensch ein selbstinterpretierendes Wesen. Ein solches Wesen zeichnet sich dadurch aus, dass es stark wertet. Aber es wertet nicht ex nihilo, sondern geht von einem kulturellen Kontext aus, in den es eingebunden ist. Die Meanings bzw. Werte, mittels denen es bewertet, sind ethnisch-kulturell geschaffen und deswegen unterschiedlich. Dies spricht bei Taylor nicht nur für eine Verteidigung des kulturellen Pluralismus, sondern auch dafür, den Werten einen „historisch-gemeinschaftlichen bedingten Status“ zuzuschreiben. Daraus folgt, dass die Selbstbeschreibungen und die Rationalität des Handelns als intrinsisch verbunden erscheinen und die moralische Beurteilung kontextabhängig wird. Die Betonung des Kontextes resultiert also in einer kulturalistischen Bestimmung der Moral bzw. in der verhängnisvollen Idee, sowohl den Kontextualismus mit dem Kommunitarismus als auch den kulturellen Pluralismus mit dem Pluralismus von Werten gleichsetzen zu müssen, wodurch die kulturübergreifende moralische Beurteilung unstatthaft zu werden scheint. Wie aber kann die Kontextualität vor dem Relativismus bewahrt werden? Angenommen, dass der Mensch immer in einen kulturellen Kontext eingebunden ist, kann trotzdem gefragt werden, wie stark diese Einbindung ist. Mit dieser Frage ist eine Bresche geschlagen, um das antagonistische Verständnis des Verhältnisses zwischen den kontextuellen und universellen Gesichtspunkten zu überwinden. Anders gesagt, es hat sich die Möglichkeit abgezeichnet, die Rede von einer allgemeinen Gültigkeit der moralischen Beurteilung zu halten, ohne damit notwendigerweise den Kontext abzuwerten. Vor dem Hintergrund dieser Idee wurde nun versucht, den Kultur- und Wertbegriff zu klären. Die oft diskutierte Frage, ob man sich zur Begründung der Verbindlichkeit moralischer Standards für den Wertobjektivismus oder den Wertesubjektivismus oder auch den Wertekonstruktivismus entscheiden soll, war in unseren Überlegungen nebensächlich. Ohne in dieser Debatte eine endgültige Lösung finden zu wollen, wurde mit einer phänomenologischen Herangehensweise an den moralischen Phänomenbereich eine Zwischenposition erarbeitet, die die Werterfahrung und das Menschsein in den Mittelpunkt rückt und den faktischen Anspruch der Werte auf Allgemeingültigkeit herausstellt. Auf diese Weise sollte die Relevanz der kulturübergreifenden moralischen Beurteilung dargelegt und bestätigt werden. Die kritische Prüfung, die interkulturelle Kritik dürfen durch die Berufung auf kulturelle Identität nicht ausgeschlossen werden. Im Anschluss daran wurde gezeigt, dass Taylors Kampf gegen den Ethnozentrismus bzw. seine Kritik an der Universalität nur dann zielführend ist, wenn sie als Kritik an einer Universalität im Sinne von Exteriorität (eines Außenstandpunkts), einer „Universalität von oben“, wie im Falle von Habermas Universalpragmatik oder des Ethnozentrismus, betrachtet wird. Aber durch Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden war es möglich, eine „Universalität von unten“ („laterale Universalität“, „Universalität im Plural“) zu vertreten. Mit diesem Begriff verabschieden wir uns sowohl von der Idee, es gebe eine äußere Instanz, auf die sich einzelne Kulturen beziehen können oder einen fernen Standpunkt, von dem aus man einen umfassenden Blick auf das Ganze haben kann, als auch von der Idee, die Vielfalt von Kulturen mit der
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Vielfalt von Werten gleichzusetzen. Taylor tut sich schwer damit, eine deutliche vermittelnde Position vorzulegen. Sein Denken birgt somit Ambivalenzen, da er das Motiv des Fremden und das Fremde als Außer-ordentliches wenig berücksichtigt und erarbeitet. Waldenfels gelingt es, uns auf das Grundphänomen der Ein- und Ausgrenzung aufmerksam zu machen. Es gibt keine völlige Gleichheit („Zwillinge, die völlig gleich wären, könnten nicht jeder an seinem Platz sein […]“ (Ordnung im Zwielicht, S. 18) oder vollständige Andersheit. Die ist die Grundlehre der Verflechtungsfigur. Mit Waldenfels Phänomenologie des Fremden ist ein geeigneter theoretischer Rahmen zum Verständnis des grundelegenden Phänomens der Ein- und Ausgrenzung, des Ein- und Ausschlusses sowie der Dynamik und der vielseitigen Durchdringung der Kulturen gegeben. Das Fremde erweist sich als eine unerlässliche kulturelle Kategorie (aber nicht nur!). Vor dem Hintergrund der Leiblichkeit wurde die Verschränkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden und die Vermittlung zwischen kontextuellen und universellen Gesichtspunkten erkennbar. Diese Position wurde illustriert durch die Zurückweisung von unbefriedigenden Auffassungen der Interkulturalität (bloße Vielfalt von Kulturen, „Zusammenfügung von Kulturen“ usw.) und die Diskussion der fünf Thesen. Die große Bedeutung der Verschränkung hat ein Umdenken bezüglich zentraler Begriffe der Interkulturalitätsdebatten ermöglicht. So erscheint der Begriff der Identität in der Bedeutung des „bei-sich-mit-Anderen-sein“. Sie eröffnet auch einen Möglichkeitsspielraum für die Begründung und Verteidigung einer kulturübergreifenden moralischen Beurteilung. Taylor ist ein vielseitiger Autor. Auch wenn wir uns auf ihn dezidiert im Rahmen einer moralphilosophischen Frage berufen, bleibt klar, dass wir nicht gleichermaßen alle Seiten seines Denkens behandeln können. Die Frage wird durch einen phänomenologischen Ansatz beantwortet. Dies entspricht – wie schon gesagt – Taylors Anliegen selbst, die Phänomenologie aus der kontinentalen Philosophie in der englischsprachigen Welt bekannt zu machen, und zeichnet den Grundaufbau seines Denkens aus. In seiner Empfehlung „we have to open up questions about the nature of the subject and the conditions of human agency“ manifestiert sich ein deutliches Zeichen seiner Zugehörigkeit zur phänomenologischen Tradition, die, statt die Ethik zu konstruieren, die Erfahrung bzw. unsere Weise zur Welt zu sein und uns mit ihr auseinanderzusetzen in den Mittelpunkt rückt (vgl. z.B. auch Merleau-Ponty, Levinas, Waldenfels). In dieser Empfehlung (die eine philosophische Grundausrichtung bezeichnet) wird auch der Ort angegeben, wo die theoretischen Grundlagen von Taylors Ethik ausfindig gemacht werden können. Der wichtige Begriff der starken Wertung (oder des Menschen als stark Wertendem) sowie die Fundamente seiner Kritik an Albert Camus’ Hauptfigur in L’Étranger Meursault sind z.B. schon im Keim angelegt, wenn Taylor den Begriff der ‚Bedeutung‘ in seine Phänomenologie des leiblichen Handelns einführt. Wir sind Taylor in dieser lehrreichen phänomenologischen Tradition gefolgt und haben ihn von dort aus kritisiert. Innerhalb dieser Tradition ist vielem zuzustimmen – z.B. der Orientierung am leiblichen Selbst zur Aufhebung des egologischen Subjekts. Eine Formel wie diese aus dem Klappentext von Die Wiedergewinnung des Realismus – „Wir sind weder in unserer Haut noch in unseren Geist eingesperrt“ –
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ist nicht nur treffend, sondern auch bedeutungs- und folgenschwer. Aber da Taylor das Fremde, seine Heimsuchung im Herzen des Selbst (seine Stimme in der eigenen Stimme) kaum berücksichtigt, vollzieht sich die Betonung von Differenz und Überbrückung durch die Unterbelichtung von Verflechtung. Daher ist es erforderlich, bei der Schlüsselrolle des Leibes als Schnittstelle des Eigenen und des Fremden, des Privaten und des Öffentlichen, des Partikularen und des Universellen zu verweilen. Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden – gepaart mit dem afrikanischen Denken von Einheit (pensée de l’unité) – ermöglichen es, die Anerkennung nicht nur als Anerkennung von Unterschieden, sondern auch von (ursprünglichen) Verschränkungen zu betrachten. Dies gilt als philosophische Basis der Rede von einem eingeschränkten Universalismus. Diese Ergebnisse bilden auf keinen Fall einen Schlusspunkt. Denn wenn wir uns im Lichte dieses Ansatzes wichtigen Themen der Menschheitsgeschichte z.B. der Sklaverei, der kolonialen Ausbeutung, Kriegen (in Irak, Libyen, Syrien usw.), der Flüchtlingskrise und anderen Katastrophen zuwenden, zeigt sich die Notwendigkeit, die vorliegende Reflexion weiter zu führen und zu vertiefen. Denn letzten Endes hat sich gezeigt, dass das Fremde, „das sich dem Zugriff entzieht“ (Waldenfels), nicht zu einer bloß kulturellen Kategorie gemacht wird, sondern „eine radikal ethische und politische Gegenkraft“ ist. Es liefert nicht nur lehrreiche Stoffe für die philosophische Diskussion, sondern ist auch eine Herausforderung an die Philosophie selbst, in Bezug auf ihre eigene Stellung im Kontext des Pluralismus. Es bildet eine gute Grundlage für die Kritik der Ideologien, die sich z.B. im Gefolge der Universalisierung verschanzen können. Man wählt einen Gesichtspunkt, versucht diesem alles zu unterwerfen, ohne ein hinreichendes Nachdenken über „die Einseitigkeit und die Herkunft dieses Gesichtspunktes“ zu ermöglichen. Erhabene Worte wie Recht und Moral müssen von dieser grundlegenden Fragestellung her eingeblendet werden. Denn mit diesen Worten unterliegt man oft der Versuchung, das „Ungeordnete“ zu einem „Unordentlichen“ zu machen und entsprechende Maßnahmen zu bestimmen. (Ein „Regelloser“ diesseits der Ordnung“ ist nicht mit einem „Regelwidrigen zu verwechseln). Daher war es für uns im Anschluss an Waldenfels wichtig, z.B. den Blick auf den Standpunkt des Löwen (These 5) zu richten. Eine Theorie der Fremdheit kann nur eine ethische und politische Dimension enthalten, die auf Fragen nach dem Umgang mit bzw. Verhalten gegenüber dem Fremden eingeht. Dies geht bis in den Erziehungs- und Bildungsbereich. Wichtige kritische Implikationen, die sich aus der Dimension der Verschränkung ergeben, können folgendermaßen zusammengefasst werden: – Die pauschale Ablehnung der Möglichkeit und Legitimität einer interkulturellen Kritik behilft sich mit einer Schematisierungsstrategie, die darin besteht, die Welt in Kulturen aufzuspalten, d.h. Kulturen als einzelne getrennte und einander gegenüberstehende Entitäten anzusehen. Dabei wird der heterogene Charakter, und das empirische Vorhandensein von Überlappungen, also die geschichtliche Dimension der Kulturen und damit das unausweichliche Vorhandensein von Fremderfahrungen übersehen.
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– Menschen werden durch diese Schematisierung in trockene Schemata gepresst. Explizit oder implizit besteht die Tendenz, aus der Verschiedenheit der Kulturen auf die Verschiedenheit der Werte zu schließen. Im Zuge dessen wird es schwierig, den Verschiedenheiten und Spannungen, die innerhalb jeder Kultur bestehen, gerecht zu werden und einen positiven Umgang mit den (kulturinternen) Andersdenkenden aufrecht zu erhalten: Wenn die interkulturelle Beurteilung an sich unstatthaft ist, was berechtigt zur Kritik der eigenen Tradition? – Nur ein Umdenken durch die Betrachtung der Inter-kulturalität als Verschränkung ermöglicht die Überwindung der Schematisierungsstrategien mit ihren schwerwiegenden Konsequenzen. In der vorliegenden Untersuchung wurde ein solches Umdenken durch die Berücksichtigung der Fremderfahrung bei Waldenfels und einigen Autoren aus der interkulturellen Philosophie vorgenommen. Von diesem Standpunkt aus hat sich gezeigt, dass wir leiblich in Verschränkungen involviert sind, dass wir immer schon vom Fremden „heimgesucht“ oder „affiziert“ werden. Diesseits des Fremden steht uns kein fester Boden zur Verfügung. Die Leiblichkeit ist nach wie vor ein Grundphänomen der Verschränkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Partikularen und dem Universellen.
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