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German Pages 320 Year 2003
Exilforschung • Ein internationales Jahrbuch • Band 20
EXILFORSCHUNG EIN INTERNATIONALES JAHRBUCH Band 20 2002 METROPOLEN DES EXILS Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung / Society for Exile Studies von Claus-Dieter Krohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler, Irmtrud Wojak und Wulf Koepke
edition text + kritik
Anschrift der Redaktion: Prof. Dr. Claus-Dieter Krohn Mansteinstr. 41 20253 Hamburg Prof. Dr. Lutz Winckler Vogelsangstr. 26 72131 Ofterdingen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Metropolen des Exils / hrsg. im Auftr. der Gesellschaft für Exilforschung von Claus-Dieter Krohn . . . München: edition text + kritik, 2002 (Exilforschung; Bd. 20) ISBN 3-88377-712-9
Satz: Fotosatz Schwarzenböck, Hohenlinden Druck und Buchbinder: Bosch-Druck, Landshut Umschlag-Entwurf: Thomas Scheer/Konzeption: Dieter Vollendorf © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag G m b H & Co, München 2002 ISBN 3-88377-712-9 Eine detaillierte Auflistung aller bisherigen Beiträge in den Jahrbüchern EXILFORSCHUNG sowie ausführliche Informationen über alle Bücher des Verlags im Internet unter: http://www.etk-muenchen.de
Inhalt
Vorwort Claus-Dieter Krohn
Sabina Becker
Irme Schaber
Chryssoula Kambas
Lydia Koelle
Migrationen und Metropolenkultur in Berlin vor 1933
14
Die literarische Moderne im Exil. Kontinuitäten und Brüche der Stadtwahrnehmung
36
»Die Kamera ist ein Instrument der Entdeckung ...«. Die Großstadtfotografie der fotografischen Emigration der NS-Zeit in Paris, London und New York
53
Exil des Intellektuellen und Großstadt. Zu Walter Benjamin
74
Paris — Jerusalem ... et retour. Siebzehn Tage in Israel: Paul Celan »auf Lichtsuche«
97
Hélène Roussel/ Lutz Winckler
Zur Topographie des literarischen und publizistischen Exils in Paris
131
Peter Becher
Metropole des Exils - Prag 1 9 3 3 - 1 9 3 9
159
Michael Winkler
Metropole New York
178
Ehrhard Bahr
Los Angeles als Zentrum der Exilkultur und die Krise des Modernismus
199
Wildes Paradies mit Abiaufzeit. Struktur und Leistung deutschsprachiger Exilanten in Mexico Ciudad
213
Marcus G. Patka
Anne Saint Sauveur-Henn
Astrid Freyeisen
Exotische Zuflucht? Buenos Aires, eine unbekannte und vielseitige Exilmetropole ( 1 9 3 3 - 1 9 4 5 )
242
Shanghai. Rettung am »schlechtest möglichen Ort« der Welt?
269
Rezensionen
294
Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren
309
Vorwort
Metropole und Moderne sind im Zeichen urbaner Zivilisation zu Synonymen geworden. Als Zentrum weltweiter Waren- und Kommunikationsströme, als kultureller >meltingpot< der neuzeitlichen Migrationspopulation, als Ort der Integration und der Ausgrenzung, als öffentlicher Raum, ethnisches Ghetto und individueller Rückzugsort hat die Metropole einen spezifisch modernen Wahrnehmungs- und Verhaltenstypus hervorgebracht, der die Erfahrung der Individualität auf die »Erfahrung von Differenz« (Sennett) gründet und seine juristische Ausformulierung in den universellen Menschenrechten gefunden hat. Gleichzeitig hat sich, von Simmel bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben, ein »nervöser« Kult des Neuen und der Moden, der Geschwindigkeit und Technik entwickelt, deren künstlerisches Pendant die europäischen Avantgardebewegungen sind. In den Künsten und den neuen Medien Fotografie, Film, Architektur wird eine Ästhetik der Montage und des Fragments, eine Mischung von Stilen, Techniken und Material vorherrschend, die den Ubergang von Realität und Traum, Funktion und Utopie, von Kunst und Politik erkundet. Die deutsche Emigration nach 1933 steht in vielfältigen Rekursen zu dieser, nur in den wichtigsten Zügen charakterisierten Entwicklung. Sowohl die jüdische Massenemigration als auch die politische, künstlerische und wissenschaftliche Elitenemigration waren Urbanen Ursprungs: In ihrer großen Mehrheit handelte es sich um eine großstädtische, wenn nicht gar Metropolenpopulation. Berlin, Frankfurt, Köln, Breslau waren die Ausgangsstationen einer Flucht, die wiederum überwiegend in fremde Metropolen führte: nach Paris, Prag und London, New York und Los Angeles, Mexiko-City und Buenos Aires, nach Jerusalem und Shanghai - um nur die in diesem Band untersuchten Fluchtorte zu benennen. So gut wir auch über die Migrationsströme und -schicksale durch Länderstudien unterrichtet sind (vgl. zum aktuellen Stand das Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933—1945), so wenig sind die spezifisch »Urbanen« Aspekte dieser Emigration bisher untersucht worden. Der vorliegende Band kann nicht mehr als ein Anfang sein, er kann versuchen, Impulse für weitere Forschungen zu vermitteln - so fehlen wichtige Metropolen wie Moskau, Amsterdam, Wien, und es wären zentrale Segmente der kulturellen Avantgarde wie der Film, die Malerei, die Architektur in die Untersuchung aufzunehmen. Ein systematisches Defizit, das allenfalls durch die individuelle Vielfalt der Methoden und Forschungsansätze kompensiert werden kann und den Vorteil hat, die Desiderata einer am Begriff der Metropolenkultur orientierten Exilforschung deutlicher hervortreten zu lassen.
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Vorwort
Der Eingangsbeitrag von Claus-Dieter Krohn markiert mit Berlin nicht nur den historischen, sondern zugleich den systematischen Ausgangspunkt des Metropolen-Exils. Als Zentrum politischer und wirtschaftlicher Macht, als mitteleuropäische Drehscheibe von Menschen- und Informationsströmen wird Berlin seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt in den 20er Jahren zum »Erprobungsfeld modernitätsoffener Denkweisen«. In Georg Simmel hat die Metropole Berlin ihren ersten soziologischen Beobachter gefunden: Die von ihm diagnostizierte »Kultur der Indifferenz« bildet zusammen mit der im Zuge weiterer Modernisierungsschübe sich ausbildenden »Angestelltenkultur« (Siegfried Kracauer) den Ausgangspunkt einer Kultur der Neuen Sachlichkeit in der Technik und den Künsten, in der Unterhaltungsindustrie und der Arbeitswelt, deren mentalitätsspezifische und künstlerische Ausformungen im Zeichen eines Kults des Neuen und des Experiments von Krohn herausgestellt werden. Beträchtliche Teile der Emigration gehören diesem eng mit der Weimarer Demokratie verzahnten sozialen und kulturellen Segment an, dem der Nationalsozialismus in der Tradition konservativer Kulturkritik den Kampf ansagt. Die nachfolgenden Beiträge des Bandes untersuchen im ersten Teil Entwicklungslinien der aus Deutschland vertriebenen Avantgarde und im zweiten Teil Schicksale der großstädtischen Massenemigration in den europäischen und außereuropäischen Metropolen. Kontinuität und Bruch in der literarischen Moderne signalisiert der Beitrag Sabina Beckers. Ihr Uberblick über die Romanproduktion des Exils unterstreicht die Kontinuität der neusachlichen Romanästhetik mit der Montagetechnik, dem Dokumentations- und Berichtstil als zentralen Elementen. Bleibt die Neue Sachlichkeit als »poetologische Leitlinie« der Roman-, Berichts- und Dokumentationsliteratur unter den Bedingungen des Exils bewahrt, so erfolgt doch innerhalb dieser Tradition ein partieller Bruch in der Wahrnehmung und Fiktionalisierung des »Urbanen«: der Großstadtroman, dessen neusachlicher Höhepunkt Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz bedeutet, hat im Exil kein Pendant - trotz beachtlicher Ansätze bei Klaus Mann, Lion Feuchrwanger, Hans Sahl, Anna Seghers und sehr spät: in Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands. Walter Benjamins Baudelairestudien, das Fragment gebliebene Passagenwerk, Siegfried Kracauers Jacques Opfenbach und das Paris des Second Empire, die Parisfeuilletons Hermann Wendeis, Bertolt Brechts Hollywooder Elegien liegen außerhalb des epischen Genres und folgen einem eigenen Stadtdiskurs. Nicht in der Literatur, sondern in der Fotografie wird der Diskurs der avancierten Moderne fortgeführt. Die fotografische Wahrnehmung von Paris, London und New York folgt, wie Irme Schaber in ihrem Beitrag zeigt, den in der Weimarer Republik entwickelten experimentellen Techniken von Montage und Kollage, den vom Dokumentarischen ins Surreale changierenden Kontrasttechniken der Doppel- und Mehrfachbelichtungen. Zentrale Sujets sind die Straßen und Plät-
Vorwort
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ze der Großstadt, die großstädtische Menge, Verkehr, Mode, die Eisen- und Hochhausarchitektur. Der Blick des Fotoflaneurs und die liebevolle Versenkung ins Detail stehen neben der geometrisierenden Vermessung ganzer Straßenzüge und Gebäudekomplexe, die Raster- und Gitterstruktur tritt neben den individualisierenden, zufälligen Ausschnitt der Großstadtflanerie. Fotografische Sozialreportagen belichten die sozialen Ränder der Metropolen mit ihren Minoritäten und Außenseitern. Der Anschluss an die Moderne wird ermöglicht dank der neu gegründeten, internationalen Fotozeitschriften wie Vogue, Vu, Regards in Frankreich, Stefan Lorants Picture Post in Großbritannien, Life in den USA. Als »neues« Medium bot die Fotografie den Exilierten günstige Einstiegschancen, sicherte ihnen, wie am Beispiel der New York School und des New Bauhaus in Chicago gezeigt wird, Einfluss auf einheimische Konjunkturen und Entwicklungstendenzen der Nachkriegszeit. — Chryssoula Kambas zieht die Linien der Metropolenerfahrung und -reflexion des Exils bis in die durch weltweite Migrationen bestimmte Gegenwart der »global citiesWeltläufigenEin Stück Amerika, versuchsweise ...Vergeistigungdie Fremdem«46 Paris, der früher vertraute Ort, wird unter den veränderten Lebensbedingungen die »fremde Heimat«. 47 Als solche hat, wenn überhaupt, die Großstadt als Sujet in die Exilliteratur vorzugsweise mit einer negativen Konnotierung Eingang gefunden, von einer stilistischen Verarbeitung urbaner Erfahrung ganz zu schweigen: Die großstädtische Lebensform wird mit Erfahrungen wie Masse, Anonymität, Schock, Verwirrung, Irren, Isolation, Kontaktlosigkeit und Einsamkeit assoziiert, mit jenen Erfahrungen also, die auch das Exil kennzeichneten. Damit werden die Stadt und die Erfahrung der Großstadt zu einem Synonym für die Exilsituation. So heißt es zum Beispiel in Hans Sahls Die Wenigen und die Vielen, New York sei »ein Menschendschungel, in dem seltsame Tiere mit glühenden Augen und schillernden Häuten auf Raub ausgingen oder schläfrig in den Hauseingängen lagen, leicht und bunt gefiederte Vögel durch das Dickicht schwebten und die süße Musik aus den Lautsprechern wie tropischer Regen von den Baikonen und Feuerleitern herniederrieselte.«48 Im Augenblick der Ankunft wird die Stadt zwar positiv aufgenommen; doch zu einem produktiven Umgang mit der Erfahrung New York kommt es innerhalb der Exilliteratur nicht.49 Sicherlich hängt diese Einseitigkeit im Umgang mit der Stadt nicht zuletzt damit zusammen, dass die amerikanische Metropole für viele Exilierte die erste Station nach der Flucht aus Europa war, die man weniger als eine ästhetisch wirkende Erfahrung denn als eine weitere Zufluchtsstätte wahrnahm. Dieser Befund gilt nicht nur für die amerikanische Ostküstenmetropole; auch die beiden Exilorte im Westen der USA, Los Angeles und San Francisco, wurden von den hier lebenden Autoren, wenn überhaupt, nur sekundär als ein die literarische Ästhetik produktiv beeinflussendes visuelles und stilbildendes Erlebnis wahrgenommen. Die Erwartungen waren vielmehr andere: Los Angeles und vor allem New York sollten
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sich, so die Hoffnung, als Sammelplätze exilierter Intellektueller erweisen und damit Anknüpfungspunkte an die deutsche Metropolenkultur liefern. Die erforderlichen Voraussetzungen waren, so hätte man annehmen dürfen, gegeben; doch die Hoffnung erwies sich als Trug, was nicht zuletzt an der Situation der Emigranten selbst lag. Die Tendenz zur Abschirmung und Isolierung kennzeichnet die Emigrantengruppen in New York. Michael W i n k ler hat gar das »Versagen vor der impliziten Aufgabe, die Erfahrungswelt New York fiktional zu bewältigen«, als »charakteristisch für die deutschen Exilautoren« bezeichnet 50 - ein im Jahr 1989 kühnes und gewagtes Urteil, sprach man damals innerhalb der Exilliteraturforschung doch noch nicht von den Möglichkeiten und Chancen der Akkulturation und Assimilation der Autoren in den jeweiligen Exilländern. 51 Denn der Wille zur Akkulturation hätte sicherlich eine stilistisch avancierte Form literarischer Stadtverarbeitung sowie eine Urbane Ästhetik zugelassen. Hermann Kesten hat die Weigerung, sich auf die neue Umgebung positiv und rezeptiv einzulassen, im Nachhinein benannt, aber auch rückblickend zu bedenken gegeben, dass New York zwar »der gewaltigste Stoff für einen Großstadtdichter ist«, jedoch zugleich »ein schwieriger Stoff für ausländische Literaten«. Er selbst, so gesteht Kesten, »habe vierzehn Jahre dort gelebt und nur eine Kurzgeschichte über New York geschrieben«. 52 Mit genau dieser Unfähigkeit, aber auch Unwilligkeit der Exilautoren, die Großstadt und die Erfahrung städtischer Wahrnehmungskategorien wie Bewegung, Dynamik, Simultaneität, Schnelligkeit und Fragmentarismus 53 ästhetisch zu verarbeiten, geht der Verzicht auf experimentelle Urbane Schreibtechniken einher. Zwar mag auch das Desinteresse amerikanischer Verleger und Leser an einer von deutschsprachigen Autoren verfassten Großstadtliteratur verantwortlich sein; Hauptursache für das Fehlen eines im Exil entstandenen Urbanen Großstadtromans dürften allerdings die Schwierigkeiten vieler Schriftsteller gewesen sein, sich in ihrer neuen Umgebung zu akklimatisieren und mit dem Entschluss zur Akkulturation dem Exil beziehungsweise dem jeweiligen Aufnahmeland positive Aspekte abzugewinnen. Ein solcher Entschluss hätte zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit dem neuen Lebensort erfordert. Diese Entscheidung haben jedoch die wenigsten Schriftsteller getroffen, bekanntlich verschloss sich die Mehrheit der Autoren, insbesondere die älteren unter ihnen, jeglicher Form von Akkulturation; Assimilation wurde von den meisten — und dieser Einstellung hat sich die Exilliteraturforschung der letzten Jahrzehnte unhinterfragt angeschlossen — mit dem Verlust der schriftstellerischen Existenz gleichgesetzt. Einen großstädtischen Roman, der die Urbane Lebenswelt und Erfahrung mittels einer Urbanen Ästhetik 54 verarbeitet, kennt die Exilliteratur folglich nicht. Dieser Romantypus - für die Literatur der Weimarer Republik ist er geradezu paradigmatisch - hätte eine zumindest unvoreingenommene, wenn nicht sogar
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Sabina Becker
offene und positive Haltung der metropolitanen Lebenswelt gegenüber und damit ein Mindestmaß an Bereitschaft zur Akkulturation erfordert. Dementsprechend führt die Exilliteratur einen Aspekt der literarischen Moderne, das heißt der zwischen 1900 und 1933 wirkenden Modernebewegungen nicht weiter: Für die im Exil entstandene Literatur spielten die Kategorie des Urbanen und der Urbanität keine allzu große Rolle. Die Ausbildung der literarischen Moderne im 20. Jahrhundert und die Entstehung der Modernebewegungen gehen mit der Urbanisierung der Literatur einher; für das Exil besteht diese Verbindung indes nicht mehr. Insofern innerhalb der Exilliteratur die literarische Moderne kaum noch an die Kategorie des Urbanen und an eine Urbane Ausrichtung geknüpft ist, muss von einem Bruch zwischen der deutschsprachigen Literatur der 20er Jahre und der im Exil verfassten Literatur der 30er und 40er Jahre gesprochen werden. Dabei lassen sich durchaus Unterschiede im Hinblick auf die Wahrnehmung städtischer Exilorte feststellen. Sie korrespondieren, das ist offensichtlich, mit der Dauer des Exils. So werden in den ersten Exiljahren nach 1933, die viele Autoren in den Deutschland benachbarten Staaten, zum Beispiel in Frankreich beziehungsweise in Paris verbrachten, in der epischen Literatur großstädtische Akzente gesetzt, etwa in Klaus Manns 1939 erschienenem Roman Der Vulkan. Zwar konzentriert sich Mann, ähnlich wie Oskar Maria Graf in seinem zwischen 1954 und 1959 in New York entstandenen und dort spielenden Roman Die Flucht ins Mittelmäßige (1959), auf die Beschreibung der Emigrantenkreise; »Roman unter Emigranten« nennt Mann folglich sein Werk im Untertitel. Doch die Unüberschaubarkeit der großstädtischen Szenerie ebenso wie der Pariser Exilkreise, die Flüchtigkeit der Begegnungen, die Zufälligkeit der Bekanntschaften finden in Manns panoramatischer Schreibweise ihre formalästhetische Entsprechung. Damit knüpft er an Verfahrensweisen an, die man in den 20er Jahren für die Verarbeitung einer Urbanen Lebens- und Erfahrungswelt ausgebildet hatte, so etwa Vicki Baum in ihrem lange unterschätzten Metropolenroman Menschen im Hotels Im amerikanischen Exil und damit innerhalb der in den USA entstandenen Exilliteratur hat sich diese Tradition Urbanen Erzählens schon weitgehend verloren. Graf zum Beispiel schildert in seinem oben erwähnten Roman die Abgeschlossenheit und Isolation deutscher Emigrantenkreise im New Yorker Stadtteil Yorkville, jenem deutschen Viertels in dem selbst ein bayrischer Bierkeller Kundschaft hatte und bestehen konnte. Die diese deutsche Enklave umgebende großstädtische Realität New Yorks hingegen bleibt weitgehend ausgeklammert. Eine solche Ignoranz scheint insofern folgerichtig, als die Stadt vielen als der Ort galt, der »auffrißt« 56 und dementsprechend das ohnehin vorhandene Gefühl der Verlassenheit und Heimatlosigkeit verschärfte. In der großstädtischen Masse, »inmitten dieses Menschenbreis« ist das »Gefühl grenzenloser Verlassenheit« zu erfahren, und das heißt im Exil
D i e literarische M o d e r n e i m Exil
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offenbar nur zu erleiden. Dabei sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass damit ein Topos der deutschsprachigen Großstadtliteratur weitergeführt wird: Das »Leiden an der Stadt«57 ebenso wie das >Leiden in der Stadt< kennt auch die großstädtische Literatur vor 1933, insbesondere die der 10er Jahre gewinnt dem Urbanen Lebensraum nicht ausschließlich positive Aspekte ab. Rainer Maria Rilkes 1912 veröffentlichte Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zum Beispiel machen diese Dimension der deutschsprachigen Großstadtliteratur deutlich. Im Unterschied zur Exilliteratur lässt Malte Laurids Brigge jedoch, ungeachtet seines Leidens an Paris, den Einfluss der Urbanen Wahrnehmungs- und Erfahrungsformen auf sein Schreiben zu. Rilke verarbeitet, obgleich er zudem die negative Erfahrung der Stadt thematisiert, das visuelle und auditive Erlebnis Paris. Allerdings wäre abschließend zu ergänzen, dass mit Walter Benjamins Passagenwerk ein repräsentatives Werk urbaner Literatur ebenso wie der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts zu großen Teilen im Exil entstanden ist. Die städtische Welt wird hier thematisch und ästhetisch reflektiert: Der städtische Kosmos, das nur mehr fragmentarisch wahrnehmbare Panorama urbaner Phänomene des 19. Jahrhunderts werden auf der Grundlage urbaner Erfahrung im 20. Jahrhundert in einer fragmentarischen Schreibweise und in der Form des Fragments verarbeitet. In diesem im Pariser Exil geschriebenen Werk spürt ein Autor dem Ursprung der Moderne im Paris des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter Charles Baudelaires, des sich anonym in der großstädtischen Menge bewegenden Flaneurs also, nach. Es ist offensichtlich, dass die Exilexistenz keinen entscheidenden Einfluss, die Pariser Exilsituation aber sehr wohl Auswirkung auf die formale und ästhetische Gestaltung des Werks hatte: Die ersten Entwürfe zum Passagenprojekt stammen aus den frühen 20er Jahren, Benjamin hat sie in der Emigration nicht grundlegend verändert. Die der städtischen Flaneurfigur und deren spezifischer Wahrnehmungsweise angepasste fragmentarische Schreibform führt die in Zusammenhang mit den Urbanisierungsprozessen der 10er und 20er Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelten modernen fragmentarischen Schreibweisen und Formen des Fragments fort. Wie Siegfried Kracauer, der zeitgleich und ebenfalls in Paris an seiner Offenbach-Biographie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit arbeitete, spiegelte Paris auch für Benjamin die komplexe, unüberschaubar gewordene moderne Welt; an diesem Blick auf die Stadt hat auch das Exildasein wenig verändert. So wäre Benjamins »Passagen«-Projekt ein Hinweis auf die Kontinuität der Literatur der Weimarer Republik, der Hochphase der literarischen Moderne, und der Exilliteratur unter dem Stichpunkt der Urbanität.
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Sabina Becker
1 Werner Vordtriede: »Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur«. In: Akzente 15 (1968), S. 5 5 6 - 5 7 5 , hier: S. 575; Michael Winkler: »Exilliteratur - als Teil der deutschen Literaturgeschichte. Thesen zur Forschung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 1. 1983, S. 3 5 9 - 3 6 6 , hier: S. 363. — 2 Bettina Englmann: Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Tübingen 2001, S. 11. — 3 Ebd., S. 3 f. — 4 Ebd., S. 4. — 5 Erich Kleinschmidt: »Schreibpositionen. Asthetikdebatten im Exil zwischen Selbstbehauptung und Verweigerung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 6. 1988, S. 1 9 1 - 2 1 3 , hier: S. 191. — 6 Vgl. hierzu z.B. Thomas Koebner: Zwischen den Weltkriegen. Wiesbaden 1983, S.2. — 7 Vgl. z.B. Kleinschmidt: »Schreibpositionen« (s. Anm. 5), S. 192. — 8 Vgl. etwa die Untersuchung von Stephan Braese: Das teure Experiment. Satire und NS-Faschismus. Opladen 1996 und den kritischen Forschungsüberblick von Bernhard Spies: »Exilliteratur - ein abgeschlossenes Kapitel? Überlegungen zu Stand und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Exilforschung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 14. 1996, S. 1 1 - 3 0 . — 9 Rosamunde Neugebauer: »Avantgarde im Exil? Anmerkungen zum Schicksal der bildkünstlerischen Avantgarde Deutschlands nach 1933 und zum Exilwerk Richard Lindners«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 16. 1998, S. 3 2 - 5 5 , hier: S.37. — 10 Doerte Bischoff: »Avantgarde und Exil. Else Lasker-Schüler HebräerlandDöblinismus< und >neuem NaturalismusWartesaal-TrilogieAn die FeindeWeil nicht ich mir das Leben gegeben< - das ist, mit allem anderen, nach- und nachdenkenswert. / Siebzehn Tage in Israel: meine intensivsten, seit Jahren. Wo soll ich jetzt hin mit diesem Dort?/ Paris, das sind die Härten u n d dann und wann ein kleines Gedicht. / Möchte es doch einmal mehr sein. / Dort, das war, zumal in Jerusalem, auch mein starkes Selbst. Umredet, umschwiegen, u m l e b t . / I c h habe bei weitem nicht alles gesehen und werde wieder hinmüssen. / Jetzt, hier, heißts umziehen. / Auf dem Poststempel Ihrer beiden Briefe stand zu lesen >Kampf der Vereinsamung< — also bitte!/Da u n d dort u n d beide Male ganz herzlich/Ihr Paul« 3 . Diesem Brief hatte Celan seine Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellerverband beigelegt, einem Brief, der sich b e m ü h t um jene, wie Celan es am 14.Oktober 1969 in Tel Aviv formulierte, »gelassen-zuversichtliche(n) Entschlossenheit, sich im Menschlichen zu behaupten«. 4
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Lydia Koelle
»Israel war Celans letztes prägendes Erlebnis«, schrieb Christoph Schwerin über Celans Reise, sie war eine »Begegnung mit den historischen Stätten der Bibel, d e m befreiten jüdischen Volk, den Freunden seiner Kindheit« 5 . W i e die Begegnung mit Ilana Shmueli, die Celan aus Kindertagen in Czernowitz vertraut war. »Jerusalem hat mich aufgerichtet und gestärkt. Paris drückt mich nieder und höhlt mich aus. Paris, durch dessen Straßen und Häuser ich soviel Wahnlast, soviel Wirklichkeitslast geschleppt habe all diese Jahre« 6 , schrieb er ihr nach seiner Abreise von Israel. Paul Celan, der sich durch die ihn seelisch schwer belastende Göll-Affäre 7 und die räumliche Trennung von seiner Familie seit 1967 8 in Paris künstlerisch und menschlich mehr und mehr isoliert fühlte, hatte diese Reise mit großen H o f f n u n g e n und Erwartungen angetreten: Er sagte bei seiner Ansprache in Tel Aviv: »Ich bin zu Ihnen nach Israel gekommen, weil ich das gebraucht habe. / W i e nur selten eine E m p f i n d u n g , beherrscht mich, nach allem Gesehenen und Gehörten, das Gefühl, das Richtige getan zu haben — ich hoffe, nicht nur für mich allein.« ( G W III, S. 2 0 3 ) Zehn Jahre sind fast vergangen, seit ich in den Monaten September und Oktober 1992 Celans Wegen und seinem Da-Sein in Israel nachging. Meine Studie Paul Celans pneumatisches Judentum' enthält die erste ausführliche und umfassende Dokumentation und D e u t u n g von Celans Israel-Aufenthalt. Aus persönlichen Erinnerungen von Jugendfreunden und damaligen Begleitern und Zuhörern Celans, Erinnerungen an nun schon über 3 0 Jahre zurückliegende Ereignisse, und durch neu erschlossenes Material setzte sich mir, Stein u m Stein, ein Mosaik, Ansicht für Ansicht, ein Kaleidoskop von Celans Anwesenheit in Israel zusammen. Ich bleibe dankbar für die Begegnungen und Gespräche mit heute in Israel ansässigen ehemaligen Landsleuten, Jugendfreundinnen und -freunden und Verwandten Celans, mit israelischen Wissenschaftlern, Ubersetzern und Künstlern, die mir das Verständnis der Bedeutung Israels für Celan und umgekehrt der Wirkung Celans in Israel erschlossen. Aber auch die Erfahrung der Landschaft und der Atmosphäre Israels, insbesondere Jerusalems, trugen zu diesem Verständnis bei. 1 0 Besonders Ilana Shmueli, der dieser Beitrag gewidmet ist, gilt mein herzlicher D a n k - für unsere Begegnungen in Tel Aviv, später in Düsseldorf, B o n n und Wien. Sie ließ mich an der Erinnerung an ihre Begegnung mit Paul Celan in Jerusalem teilhaben. Als wir uns 1992 kennen lernten, zögerte sie noch, auch eine größere Öffentlichkeit mit diesen Erinnerungen bekannt zu machen. Inzwischen hat Ilana Shmueli eine ganze Reihe kleinere und größere - hebräisch-, englisch- und deutschsprachige - Beiträge über ihre Begegnung mit Paul Celan in Israel und Paris veröffentlicht, und Celans Jerusalem-Gedichte ins Hebräische übertragen. 1 1 Alles dieses, mit großer Dis-
Siebzehn Tage in Israel: Paul Celan »auf Lichtsuche«
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kretion und viel Feingefühl Geschriebene ist für jede Darstellung von Celans Israel-Aufenthalt das wichtigste Zeugnis und unverzichtbar. Wie Celans Erleben Jerusalems im Jahre 1969 so war auch für mich die Reise nach Israel, in mancherlei Hinsicht, »Wende und Zäsur«. In mehreren Veröffentlichungen versuchte ich seitdem zu umkreisen, was »Celans Jerusalem« war, und nachzuzeichnen, wie Celan selbst das »Jüdische« seines Lebens bestimmt sehen wollte. 12 Die nachstehenden Ausführungen folgen noch einmal Celans Weg im Herbst 1969 von Paris nach Jerusalem — und zurück:
I »... ein Gedicht über Israel«: Denk dir Am 6. Juni 1967, dem zwölften Geburtstag seines Sohnes Eric, nimmt Paul Celan an einer proisraelischen Demonstration auf der Place de la Concorde teil, dem Aufruf eines Flugblattes folgend, »Pour qu' Israel vive [Damit Israel lebt]«',13 eine Formulierung, die Celan in einem Brief an seine Frau vom gleichen Tag aufgreift: »Israel wird siegen und leben.«14 Am 8. Juni 1967 schrieb Paul Celan an Franz Wurm nach Zürich: »In mir ist Unruhe, der Dinge um Israel wegen, der Menschen dort, des Krieges und der Kriege wegen. Israel muß leben und dazu muß alles aufgeboten werden. Aber der Gedanke an eine Kette von Kriegen, an das Markten und Schachern der >GroßenHalbverdeckter< aufgetreten, weder in Deutschland noch anderswo.« Wenn Celan darauf beharrt, dass das Jüdische auch dort geistige Grundlage seines Schaffens bleibt, wo es nicht thematisch wird, aber dennoch geistig-materiell seinen Gedichten innewohnt, unterstreicht er das Selbstverständnis seines Judentums wie dessen Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig begibt er sich in Distanz zur Auffassung derjenigen, die zu wissen meinen, wie Jüdisches zu sein habe. Celans Judentum ist seinen Gedichten derart eingeschrieben, dass die Erklärung dieser Dimension oder inneren Orientierung einer Veräußerlichung, wenn nicht sogar einer Veräußerung dieses Individuell-Objektivierbaren gleichkäme. Dennoch hebt Celan in seinem Brief an Gideon Kraft hervor, dass seine Gedichte auch eine Teilhabe am Judentum sein wollen sowie Zeugnisse des Wahrnehmens dessen, was ihn mit seinen Landsleuten, besonders den in Israel lebenden, verbindet. Celan nennt es: »Erinnertes und, wer weiß, Vor-Erinnertes, Gemeinsames also«. — »Denn meine Gedichte implizieren dieses Gemeinsame, materialiter und idealiter (,..)«5°. An Ilana Shmueli, der er eine Abschrift seiner Antwort an Gershom Schocken hatte zukommen lassen, schrieb Celan: »Die Selbstverständlichkeit meines Judentums inmitten von all dem. Du, Ilana, verstehst sie, auch wenn ich sie jetzt nicht mehr zu formulieren weiß.« 51 Celan kam während seines Aufenthalts zu verschiedenen Gelegenheiten mit seinen Verwandten und den Gefährten seiner Kindheit in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa zusammen. In Tel Aviv hatte Celan eine Zusammenkunft mit ehemaligen »Schulkollegen«. Celan schien dieses Zusammensein sehr zu genießen, man erinnerte sich gegenseitig an das »Czernowitzer Deutsch«, wie sie es in ihrer Jugendzeit gesprochen hatten. Dennoch schlug anderntags Celans Stimmung um, und er äußerte zum »Czernowitz-Abend« heftige Kritik, berichtete mir Michal Seidmann, die Frau von Celans Jugendfreund David Seidmann. 52 Celans Ambivalenz zeigte sich in seinem Verhalten den Menschen gegenüber, denen er begegnete: Er war einmal offen und verletzlich, dann ver-
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schlössen und abweisend, je nachdem, wie nah und verstanden er sich von seinem Gesprächspartner fühlte. Eine »Pseudo-Nähe«, die als Anspruch an ihn herangetragen wurde, ertrug er nicht. Celan empfand eine starke Verbundenheit mit seiner Familie, er war für ihre Wärme empfänglich, er suchte ihre Akzeptanz; aber vor einer allzu großen Nähe zog er sich in sich zurück, berichtet Celans Kusine Edith Hubermann. 53 Celan war für seine Landsleute und die Familie nicht mehr »unser Paul«, das Wunderkind, der schöne, schlanke Jüngling. Er war äußerlich und innerlich ein anderer geworden. Die äußere Veränderung war zunächst für seine Verwandten, die ihn teilweise über 20 Jahre nicht zu Gesicht bekommen hatten, die offensichtlichste. Sie erkannten ihn wieder, und doch konnten sie ihn kaum kennen. Er war ein Mann, der die Mitte des Lebens überschritten hatte, und der sich fern vom Ort seiner Herkunft keine zweite Heimat hatte erschließen können. Und er war allein, ohne seine Frau und seinen Sohn, nach Israel gereist.
Jerusalem »Mein liebster Eric, Jerusalem ist eine wunderbare Stadt — auch Du wirst eines Tages herkommen, sie zu besichtigen. / Ich hoffe, daß es Dir gut geht. / Ich umarme Dich / Dein Papa«54, lautet Celans Ansichtskarte an seinen Sohn vom 8. Oktober 1969. Sie zeigt die Altstadt von Jerusalem. »Einen herzlichen Gruß aus Jerusalem/Alles, alles Gute!/Paul«, schrieb er am gleichen Tag an Nelly Sachs.55 Auch Franz Wurm, Otto Pöggeler und Gerhart Baumann bedachte er mit Kartengrüßen aus der Heiligen Stadt.56 Shmuel Huppert erinnert sich daran, wie er Celan zu einem Abend mit Dichtern und Landsleuten im Hause von Jehuda Amichai begleitete.57 Celan erhob sich schwerfällig von seinem Sessel, er trug eine helle Windjacke. Auf dem Weg zu Amichai hielt Huppert sein Auto vor dem Hotel Holyland an, von wo aus man einen herrlichen Blick auf die Stadt Jerusalem hat. Es war dunkel. Celan stand, den Blick nach Osten, und nahm die kalte Nacht Jerusalems in sich auf. So stand er lange, ganz in den Anblick der erleuchteten Stadt, die unter ihm lag, vertieft.58 Am 9. Oktober 1969 war Celans erste Lesung im Jerusalemer Journalistenhaus Bet Agron. »Der Saal des neuen Journalisten-Hauses in Jerusalem war übervoll von Menschen, die Celan erleben wollten«, 59 berichtet Israel Chalfen in einer November-Ausgabe der Stimme von 1969. Jehuda Amichai sprach einige einleitende Worte vor Celans Lesung, der Dichter Manfred Winkler, wie Celan aus der Bukowina stammend, trug einige von ihm ins Hebräische übersetzte Gedichte Celans vor. Celan las in Jerusalem 21 Gedichte aus seinen bisher veröffentlichten Gedichtbänden. Er beschloss seine
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Lesung mit dem Gedicht Denk dir aus dem 1968 veröffentlichten Band Fadensonnen. Eine Bandaufnahme der Jerusalemer Lesung dokumentiert nicht nur, welche Gedichte Celan auswählte, sondern auch, wie er sie vortrug: Den Titel des ersten Gedichts ruft er fast in den Saal: »Kristall!«. Celans Lesung beginnt mit einer Strophe der Zurückweisung: »Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund (...)« (Kristall; GW I, S. 52). Er liest hart, sehr akzentuiert und konzentriert. Shmuel Huppert, der später von seiner Begegnung mit Paul Celan in Jerusalem berichtete, war überrascht von Celans Vortrag. Etwas Aggressives ging nicht nur von der Stimme, sondern auch von seinem Gesichtsausdruck aus, der eine starke Anspannung verriet. Celan drückte seine Unterlippe beim Sprechen nach vorn. Diese aggressive Unterlippe irritierte Huppert, sie störte das rundliche, ruhige Gesicht Celans. Aber sie machte Huppert die Stärke, Kraft und Intensität, die in Celan war, bewusst. Celan, so erinnert sich Huppert, las wie ein »Hauptdarsteller«, wie ein Star. Dies vermittelte Huppert den Eindruck, dass an diesem Abend in Jerusalem ein Dichter las, der sich der Größe seiner Dichtung bewusst war.60 Das letzte Gedicht Denk dir spricht Celan — wider Erwarten — nicht kämpferisch oder triumphierend. Er verweilt bei jedem Wort, dehnt damit das Gedicht aus und macht so das langsame Erstarken, von dem Denk dir spricht, sinnfällig. »Denk dir«, diese Aufforderung zielt nicht nur auf einen nachund bedenkenswerten Vorgang, sondern enthält zudem den Hinweis auf das Wunderbare dieses Sieges, den Celan schreibend und sprechend auch für seine Person reklamiert: »(...) deine/eigene Hand/hat dies wieder/ins Leben empor-/gelittene/Stück bewohnbarer Erde/gehalten.« Nach seiner Lesung, auf die tosender Beifall folgte, schien Celan für einen Moment glücklich. »Er strahlte«, erinnert sich Manfred Winkler. 61 Celan war sehr zufrieden darüber, wie seine Gedichte in Jerusalem aufgenommen worden waren. »(...) es war ein gutes Lesen, ein gutes Zuhören dort«, äußerte er gegenüber Ilana Shmueli. 62 Unter den Gästen im Auditorium des Bet Agron waren neben Schalom Ben-Chorin und Lea Goldberg auch Gershom Scholem mit seiner Frau Fanja. Scholem lud Celan zusammen mit zur Lesung erschienenen Freunden in seine Jerusalemer Wohnung ein. Scholem überreichte Celan in Jerusalem die französische Ausgabe seiner Schrift Ursprung und Anfange der Kabbala (1962), Les origines de la Kabbale (1966). 63 Zuvor waren beide sich schon in Paris und in Zürich begegnet.64 Davon berichtet Scholem in einem Brief an den Celan-Forscher Leonard Moore Olschner vom 28. November 1979: »Ich habe ihn vor dem Besuch in Israel (...) noch mindestens dreimal in Paris, von 1962 an, des Längeren gesehen. (...). Er wollte vor allem immer viel über die Lage in Israel wissen, an der er sehr tiefen Anteil nahm. Bei dem Besuch in unserer Wohnung in Jerusalem waren mehrere andere Personen anwesend
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und man sprach im wesentlichen über Israel.«65 Fanja Scholem erinnert sich: »Er saß da, wo Sie jetzt sitzen, in der Ecke«. — Sie deutete auf den Sessel, in dem ich ihr im beeindruckenden Wohn- und Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes gegenübersitze. — »Er sprach kaum. Die anderen sprachen miteinander über ihn. Er sah sehr rot im Gesicht aus, wegen der Sonne oder der Aufregung, weiß ich nicht.« 66 Scholem zeigte allerdings nicht das Verständnis für seine Dichtung, wie Celan es sich gewünscht und erhofft hatte. 67 Auch in Jerusalem hatte Celan freundliche Aufnahme bei Freunden aus Czernowitz gefunden: Martha und Manuel Singer, ein Ärzteehepaar, nahmen ihn in ihrer Wohnung nahe dem Kikar Dania, dem Dänenplatz, auf dessen Kiefernbäume Celan in seinem Gedicht Esstand anspielen wird, gastlich auf. Zurückgekehrt nach Paris schrieb ihnen Paul Celan dankbar: »Schön wär's, wie noch vor kurzem, den Weg hinaufzugehen, am Kikar Dania vorbei, zu Eurer Wohnung, Eurer gastlichen Wohnung. Stattdessen gehe ich wieder die nicht immer zu Zielen führenden von Erfüllungen herkommenden Wege der kalten Stadt Paris. Aber vielleicht kommt ihr bald einmal hierher, oder ich komme wieder nach Jerusalem. Ganz bestimmt komme ich wieder, und gewiß nicht allein deshalb, weil ich noch so vieles zu sehen habe. Ich brauche Jerusalem, wie ich es gebraucht habe, ehe ich es fand.« 68 Der Aufenthalt in Jerusalem gehörte zu den bewegendsten und intensivsten Momenten und Begegnungen von Celans Israel-Reise, ablesbar an den Gedichten, die nach Celans Rückkehr in Paris entstanden. Der »JerusalemZyklus« (GW III, S. 9 5 - 1 1 4 ) bildet die Mitte des Nachlassbandes Zeitgehöft. Absaloms Grab im Kidrontal, das Denkmal für König Davids aufständischen Sohn, der Garten Gethsemane, Abu Tor, das auf einer Anhöhe gelegene arabische Dorf im Südosten Jerusalems, von wo aus sich ein weiter Blick auf die Altstadt mit dem Felsendom eröffnet, geben in den Gedichten konkrete Hinweise auf Orte in und um Jerusalem, auf die offenen und auf die versiegelten Tore der Altstadtmauer wie das Löwentor und das Tor des Erbarmens, das sich erst für den Messias am Ende der Tage öffnen wird. Alle diese konkret zu lokalisierenden Orte verweben sich mit Celans Dasein in Israel, werden Gleichnis und Metapher der eigenen Existenz, mythisch-mystische Gegenwart des himmlischen Jerusalem im irdischen. Celan hatte sich dem Erlebnis Jerusalem mit allen Sinnen geöffnet. Er kam mit dem Wunsch zu geben: seine Gedichte und seine Anteilnahme für Israel. Er kam, um zu empfangen: dasjenige, was Jerusalem allen Reisenden mit offenem Herzen und offenen Augen, ob Touristen oder Pilgern, zu geben bereithält. Und darüber hinaus fand er etwas Eigenes, lebensgeschichtlich Individuelles, das berührt wurde vom »Feigensplitter« und dem »Hellkiefernduft überm Dänenschiff, dem wir dankten« wie im Jerusalem-Gedicht Es stand\ das Celan am 17. Oktober 1969, am Tag seiner Rückreise nach Paris, schrieb:
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Es stand der Feigensplitter auf deiner Lippe, es stand Jerusalem um uns, es stand der Hellkiefernduft überm Dänenschiff, dem wir dankten, ich stand in dir. A m 22. September 1992 stehe ich auf dem Danmark Square, hebräisch Kikar Dania. Kinder spielen auf dem großen Dänenschiffdenkmal, einem stilisierten Fischerboot, das die Vorübergehenden an die einzigartige Rettungsaktion der Dänen im Oktober 1943 erinnern soll. Während der Naziokkupation beschlossen sie ihre jüdischen Bürger zu retten. Uber 7 . 0 0 0 Juden wurden damals mit kleinen Fischerbooten nach Schweden gebracht, wo sie Aufnahme fanden. Eines dieser winzigen Ruderboote liegt nun in Yad Vashem »an Land«. Der schöne Platz liegt in der Nähe eines Supermarktes, eine Reihe von Bänken im Schatten großer Hellkiefern laden zum Verweilen ein. Hellkiefern säumen die Bialikstraße, in die Celan einbog, nachdem er den Kikar Dania passiert hatte, um zur »gastlichen Wohnung« seiner Freunde Martha und Manuel Singer zu gelangen. A m Kikar Dania sind fünf Gedenktafeln angebracht, in den Sprachen Dänisch, Schwedisch, Englisch, Arabisch und Ivrith. Während ich den englischen Text notiere, wird mir bewusst, dass die einzelnen Sprachen eine spezifische Affinität zur beschriebenen Rettungsaktion und zu Israel repräsentieren. D a sprach mich ein Israeli mittleren Alters an. Er blieb neben mir und den Gedenktafeln stehen und fragte mich, welche Sprache ich abschreiben würde. Ich begriff sofort, dass er über diese Frage meine Nationalität herausbekommen wollte. Als ich sagte, »Ani mi Germania« (»Ich bin aus Deutschland«), sprach er sofort deutsch mit mir. Er sagte, er arbeite in einer Bibliothek, Sprachen seien sein Hobby, er käme gerade von der Arbeit und mache nun seinen Heimweg über den Kikar Dania. »Uber den Kikar Dania hat der jüdische Dichter, über den ich hier in Israel arbeite, ein Gedicht geschrieben« erklärte ich den Umstand, warum ich diesem Platz so viel Beachtung schenkte. — »Sie lesen Ivrith?«, fragte er mich verwundert, denn diese Bezeichnung, Kikar Dania, stand nur in hebräischen Buchstaben auf einem Schild (neben der englischen Bezeichnung D a n m a r k Square). Bevor er ging, empfahl er mir das Buch von Leni Yahil,
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The Rescue of Danish Jewry (Philadelphia 1969) zur Lektüre. Wieder nach Deutschland zurückgekehrt, finde ich den gleichen Hinweis im Buch von Lea Rosh und Eberhard Jäckel, »Der Tod ist ein Meister aus DeutschlandAbsaloms Grab< - Mittagsglut - Esel und Maultiere schreien./ Nachmittags in Bethlehem, am Mar Elias Kloster vorbei, Rachels Grab, die Geburtskirche. Der Weg zurück nach Jerusalem: das Licht - Abu-Tor, der Blick aufs Hinnomtal (Molochs Altäre) - das Licht./Am nächsten Tag die Mühle mit der Kalesche Montefioris: Die Aufschrift >Think and Thankkeine Ausgrabungen, bitteschnell fort, zu viel Heiligeser habe es nicht verdient*.«101 In Walter Benjamins Essay über Karl Kraus finden sich folgende Zeilen, die Parallelen zu Celan aufweisen. Benjamin schreibt über Kraus: »Seine Nacht aber ist nicht die mütterliche noch auch die monderhellte romantische; es ist die Stunde zwischen Schlaf und Wachen, die Nacht-Wache, das Mittelstück seiner dreifach gestaffelten Einsamkeit: der des Cafehauses, wo er mit seinem Feind, der des nächtlichen Zimmers, wo er mit seinem Dämon, der des Vortragssaales, wo er mit seinem Werk allein ist.«102
III Voll Ziel und Entfremdung zugleich. Nach Israel, von Israel her (... ich bin wie noch nie, voll Ziel und Entfremdung zugleich.) M. Buber an G. Landauer, Brief vom 10.10.1910 »Ist nicht«, so fragte schon Margarete Susman eindringlich, »das Exil letzthin Ausdruck des Menschenschicksals überhaupt ? Ist es nicht aller Menschen Los, heimatlos und flüchtig zu sein auf Erden? - Alle Mächte und Wirklichkeiten, mit denen die Völker sich verbünden, die sie als gründendes Land unter sich festlegen, als Mauern des Staates um sich her aufrichten, als schützende Schilde der Macht über sich halten, verdecken nur diese Grundtatsache des menschlichen Daseins: die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, die Heimatlosigkeit des Menschen auf Erden.«103 Celan war kein moderner jüdischer Ahasver und seine Sehnsucht konnte nicht einfach restlos durch die Erfahrung Jerusalems gestillt werden, seine Not saß tiefer, deshalb hatte Celan bei seiner Lektüre des genannten Susman-Textes auch diese Zeilen unterstrichen: »(...) diese Grundtatsache des menschlichen Daseins: die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, die Heimatlosigkeit des Menschen auf Erden.«104 Als Celan nach Israel kam, suchte er eine Lösung seines Lebens — Erlösung oder Loslösung, suchte er, dem Rätsel seines Judeseins105 auf die Spur zu kommen. Er suchte eine neue Perspektive für die Zukunft, eine Richtung. Denn die Heimkehr, der »Aufstieg« nach Jerusalem und Israel (Alija), wurde immer als Beginn der Erlösung verstanden, als Wende und Neubeginn. Celans Ankunft in Israel, in Jerusalem, wurde vielfach als »Heimkehr« beschrieben. Celan sollte ganz nach Israel übersiedeln. »>So viele Juden, und nicht in einem Getto*, das war, so erzählte Celan nach der Reise, das große Erlebnis in Israel. - Aber er fühlte sich ausgeschlossen«, erinnert sich Schwerin. »Er wollte wiederkehren, es beschäftigte ihn das Angebot der Universität Tel Aviv, für ihn einen Lehrstuhl zu schaffen, dessen Aufgabe weit über die
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der Seminare hinausgehen sollte, die er vor einem kleinen Schülerkreis in der Pariser Ecole Normale Supérieure hielt (.,.)« 106 . Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, inwieweit Celan erwogen hat, für längere Zeit in Israel zu bleiben. Ursprünglich hatte er eine längere Zeit für seinen Aufenthalt in Israel vorgesehen, das wurde in einem Gespräch zwischen David Seidmann und Celan besprochen. Die Dauer seines Aufenthalts hat ihn vorher sehr beschäftigt. Celan hatte sogar ein Konto in einer israelischen Bank eröffnet, weil er glaubte, länger im Land zu bleiben. 107 Nach Mitteilung von Peter Szondi wollte Celan bei seiner Israel-Reise prüfen, ob er dort zu leben vermöchte.108 Shalom Ben-Chorin fragte ihn nach seiner Lesung in Jerusalem, ob er nach Israel übersiedeln wolle. Celan habe daraufhin geantwortet: »Noch nicht.« 109 Celan soll sich gegenüber Jehuda Amichai geäußert haben, er wolle sich in Israel niederlassen.110 Chalfen berichtet in einem unveröffentlichten Vortrag am 28. April 1980 in der David Yellin Loge des B'nai B'rith in Jerusalem, Celan habe nach einem Besuch im Czernowitzer Kibbuz Maabaroth Freunden gegenüber davon gesprochen, dass er ernstlich in Erwägung ziehe, in einem Kibbuz zu leben.111 Lisa Alpan, die Witwe von Celans Freund Jan (Jizchak) Alpan, den er in Haifa besuchte, und andere betonen dagegen, Celan habe nie daran gedacht, seinen Aufenthalt in Israel über einen längeren Zeitraum auszudehnen.112 Celan jedenfalls verließ Israel mit dem festen Willen, bald wiederzukehren. 113 Er »hat aber auch gewußt, daß der Weg seines Lebens sich nicht rückgängig machen und auf einen anderen Verlaufbringen ließ — daß er ein jüdischer Dichter deutscher Sprache, ein europäischer Lyriker war und blieb. Die Linie, die von Czernowitz nach Paris führt, hat seinem Leben den Weg vorgezeichnet.«1 14 Celan schrieb deutsch, er hätte sich niemals von dieser Sprache trennen wollen; stattdessen betonte er in dem Interview mit J. Amichai, dass er nach der Vernichtung ohne die Orientierung an deutschsprachigen Dichtern wie Rilke und Kafka nicht hätte weiterschreiben können. Celan sah sich mit der deutschen Poesie innerlich verflochten.115 An Ilana Shmueli schrieb Paul Celan nach seiner Israel-Reise: »Es ist spät geworden in meinem Leben vor der Zeit. Wäre ich, ich sagte es Dir ja, im Vollbesitz meiner Kräfte, ich ginge nach Israel, ohne Illusionen, aber — ich ginge hin. Aber so wie ich bin, hieße Hingehen, die Menschen dort behelligen mit meinen Problemen, für die sie in ihrer Not kein Organ haben können./Mein zerstörtes, Du sagst »gestörtes GedächtnisIch wollte meinen 14jährigen Sohn mitbringen^ Warum er es nicht getan hatte, sagte er nicht.« 118 Winkler sieht zudem eine Verbindung zwischen Celans Einsamkeit und seiner Annäherung an das Judentum, »(...) er suchte es, sein Jerusalem«. Und er berichtet über Celan, dass man in seiner Gegenwart das Empfinden gehabt hätte, »als spräche man mit einem Menschen, der jeder Annäherung auf sehr kultivierte, aber auch bestimmte Weise ausweiche. Hinter vielen Hüllen ahnte man: Da gibt es etwas, das sich ganz in sich eingeschlossen hatte. So blieb er immer trotz seiner Freundlichkeit distanziert und fern.«119 Die umgekehrte Erfahrung, dass Celan nämlich in Israel auch Ablehnung erfuhr — darüber schwiegen alle offiziellen Berichte in Israel —, überliefert Gerhart Baumann: »Verhalten zwar, doch deutlich genug, vertraute er mir auch seine Enttäuschungen an, die er unerwartet in Israel erfahren mußte. Unbegreifliche Widerstände gegen seine Ankunft und sein Verweilen hätten sich geregt, und einige, denen er es nie zugetraut, sich grundlos gegen ihn ausgesp rochen.« 120 In der Juli-Ausgabe der Stimme veröffentlichte Israel Chalfen wenige Wochen nach Bekanntwerden von Celans Freitod einige Bemerkungen zu dessen Prosatext Gespräch im Gebirg (GW III, S. 169-173), den er nun von Celans Tod her liest. Er erscheint ihm als Celans »Manifest«, als sein »Testament«. Ebenso versucht Chalfen das Gespräch zwischen dem »Jud Klein« und dem »Jud Groß« zusammenzudenken mit Celans Besuch in Israel. Welche Bedeutung kommt dieser Reise (noch) zu, wenn Celan wenige Monate danach sein Leben in der Seine beendete? Diese Frage ist unausgesprochen zwischen den Zeilen von Chalfens Artikel hörbar, ebenso die Ratlosigkeit der in Israel zurückgelassenen Verehrer und Landsleute Celans. Haben sie etwas versäumt, als er unter ihnen weilte? Einerseits ist Celans Dichtung ein Zeugnis für seine wachsende Verbundenheit mit dem jüdischen Volk — seine Israel-Reise konnte als Zeichen dafür gelten —, andererseits stellt Chalfen fest: »Und dennoch die Fremdheit und die Unmöglichkeit zu lieben, auch die eigenen Schicksalsgenossen.«121 Chalfen verweist dabei auf eine Passage aus dem Gespräch im Gebirg, die er später in seiner Biographie über Celans Jugend auf konkrete Umstände bei dessen Flucht aus Rumänien beziehen wird. 122 Celans frei gewählter Tod nur so kurz nach der zukunftsversprechenden Reise nach Israel ist eine schmerzliche Zäsur in seiner Annäherung an eine jüdische Gemeinschaft, an Eretz Israel, und für viele, die ihn während seines Aufenthalts erlebten, ein unbegreiflicher Vorfall.
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Nach Celans Tod 1970 war man in Israel bemüht, aufzuzeigen, dass Celans Israel-Aufenthalt für ihn keine Enttäuschung gewesen war, sondern dass er mit dankbarer Freude auf seine Zeit in Israel zurückgeblickt und an der politischen Entwicklung des Landes von Paris aus lebhaften Anteil genommen hatte. Auch der bereits zitierte Brief von Celan an Shin Shalom sowie Celans Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellerverband in Tel Aviv wurden nach Celans Tod von Shin Shalom in einer hebräischen Ubersetzung in der Zeitung Maariv veröffentlicht, um jeden Eindruck zu vermeiden, Celans Israel-Reise stehe mit dessen Freitod in irgendeinem kausalen Zusammenhang. 123 Kurz nach Celans Tod veröffentlichte die Zeitschrift Die Stimme Auszüge aus Briefen Celans an (ungenannte) Freunde in Israel. Dem Inhalt ist zu entnehmen, dass Celan aus Paris an David und Michal Seidmann schrieb, die ihm in Tel Aviv Gastfreundschaft gewährt hatten: »Herzlich danke ich Dir und Michal für alles, ohne Dich, ohne Dein Zureden hätte ich diese Reise vielleicht erst später angetreten — ich bin froh, schon jetzt in Israel und bei Euch und bei so vielen gewesen zu sein, froh, so intensiv gelebt zu haben, so intensiv wie seit langem nicht mehr. Wie immer in meinem Leben, war Persönliches und Persönlichstes einverwoben in dies intensive Erleben und Erfahren — ich bleibe dankbar auch dafür. / Schon denk ich ans Wiederkommen, ans Fort- und Weiterführen, an die Ergänzungen, Vervollkommnungen, soviel Ungesehenes noch, so viel Ungehörtes.«124 Celans Wunsch, sich mit seiner Israel-Reise, wie im Gedicht Denk dir-, »Heimat beizubringen«, kam nicht nur in dem Versuch zum Ausdruck, dort für sich probeweise eine Lebensmöglichkeit zu sehen oder sie sich zu erschließen, sondern auch in seiner »Czernowitz-Nostalgie«: der bewussten Rückwendung zu Kindheit und Jugend und zu den Freunden und Bekannten dieses Lebensabschnitts, wie er es auch schon vor der Israel-Reise praktizierte, indem er sich bemühte, die Kontakte zu den ehemaligen Gefährten seiner Jugendzeit wieder zu beleben. Auf diesem Weg versuchte er, die gekappten Wurzeln neu ausschlagen zu lassen. »Alles ist nahe und unvergessen, ich bin, obgleich ich schon seit vierzehn Jahren - genauer: seit Juli 1948 - in Paris lebe, mit meinen Gedanken oft daheim und bei Freunden von einst«, schrieb Celan in einem Brief an Erich Einhorn vom 24. April 1962. 125 Einem in Israel lebenden Jugendfreund, Gustav Chomed, gegenüber äußerte er in einem Brief vom 19. März 1970 den Wunsch, seine Geburtsstadt zu besuchen, denn, so schrieb er in einem anderen Brief an Chomed, »die Heimat bleibt bestehen, quia absurdum, mit der Töpfergasse, mit dem französischen Liedanfang, der mir mitten durchs Herz geht, hier in diesem nun gar nicht mehr geträumten, oft so unmenschlichen Paris (...) Ach, weißt Du, ich wollte, ich wohnte noch dort — nicht nur die Töpfergasse war menschlich.« 126 Jenes, welches Celan zu finden hoffte, aber ihm nur ansatzweise widerfuhr, wird deutlich in einer Begebenheit, die Klara Lindenfeld, eine Verwandte
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der Antschels, die zeitweise gemeinsam mit ihrer Schwester Emma im Hause der Antschels lebte und so nahen und vertrauten Kontakt mit dem jungen Paul und seiner Familie hatte, in Ilana Zukermans Hommage an Paul Celan auf hebräisch erzählte: Im Oktober 1969 besuchte Paul die Familie in Haifa. Obwohl hohe Temperaturen herrschten, zog Paul seine Jacke nicht aus, was Klara Lindenfeld rückblickend kommentierte, dass er sich mit der Jacke vor den anderen zurückzog. Klara Lindenfeld hatte dem Besuch aus Paris zu Ehren einen Kuchen nach dem Rezept von Fritzi Antschel gebacken. Als sie den Kuchen serviert hatte, folgte ihr Celan in die Küche, der am Geschmack des Kuchens das Rezept seiner Mutter erkannt hatte, und sagte sehr bewegt — und diesen Ausspruch Celans gibt Klara Lindenfeld im Interview auf deutsch wieder —: »Gib mir noch ein Stück, das ist doch der Gugelhupf meiner Mama!« Das ist Paul vor vierzig Jahren, war Klara Lindenfelds Kommentar. 127 Die eindrückliche Schilderung dieser Szene erinnert an eine Schlüsselstelle aus Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wo den Protagonisten ein großes Glücksgefühl ergreift, »als ihm an einem Abend seine Mutter ein Stück in Tee getauchten Madeleine-Gebäcks gibt, dessen Geschmack ihm die ganze Welt der Kindheit wieder schenkt, weil er als Kind oft von diesem Gebäck bekommen hatte.« 128 Walter Benjamins Essay über Marcel Proust, den Celan kannte und gelesen hatte, handelt von jener »memoire involontaire«, einem »unwillkürlichen Erinnern«, das am Gewahrwerden eines unscheinbaren Details aufbrechen kann. - »Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit«, lautet der erste Satz von Benjamins Sammlung seiner Kindheitsbilder, Berliner Kindheit}13 Er »verweist auf die zentrale Erfahrung von Prousts Werk: daß einem beinahe alles, was die Kindheit war, jahrelang vorenthalten werden kann, um dann plötzlich und wie zufällig von neuem geschenkt zu werden.« 130 Celan suchte in der Matrimonia Jerusalem auch diese Nähe zur Mutter; mit dem Genuss eines Kuchens, den seine Verwandte nach dem Rezept seiner Mutter für ihn gebacken hatte, fand Celan den Geschmack seiner Kindheit wieder, um gleichzeitig glückvoll-schmerzhaft erkennen zu müssen, dass die vergoldete Kinderzeit unwiderruflich hinter ihm lag. Jerusalem ist für Juden und Christen die metaphysische Heimat, für Celan repräsentierten die Stadt und die Orte in Israel, an denen er nach mehr als 20 Jahren seinen nach Israel eingewanderten Verwandten wiederbegegnete, zugleich die reale, verschobene, Matrimonia Czernowitz, die man einmal »Klein-Jerusalem am Pruth« genannt hatte. Wie die religiöse Jerusalem-Tradition die Vorstellung von einem oberen und einem unteren Jerusalem kennt, vom himmlischen und irdischen Jeru-
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salem, so war für Celan bei seinem Besuch in Israel noch als dritte Größe — real verhaftet an der Familie und den Gefährten seiner Kinder- und Jugendzeit und doch eigentümlich freischwebend- Czernowitz anwesend. Aber diese Anwesenheit war, wie der Geschmack des Gugelhupfs, der ihn plötzlich mit der Mutter verband und der ihn in die Kindheit zurückbrachte, nur ein Augenblick, eine flüchtige, deswegen aber umso bedeutungsvollere Intensität. Es war die Rückbindung an die Heimat, die sich in Haifa im nichtmals Außergewöhnlichen, sondern eher Peripheren und Alltäglichen für ihn ereignete. Am 23. Oktober 1969 schrieb Paul Celan aus Paris an Ilana Shmueli: »Aber wie wird aussehn, was ich jetzt, nach Jerusalem, aufschreibe? Daß Jerusalem eine Wende, eine Zäsur sein würde in meinem Leben — das wußte ich.«131 Die Polarität, von der Celans Liebes-Gedicht Die Pole spricht, konnte auch in Jerusalem nicht gelöst, sondern nur dichterisch gestaltet werden. Sie offenbarte seine innere Zerrissenheit zwischen der »kalten Stadt Paris« und dem »goldenen Jerusalem«, das wie selbstverständlich auch die Heimatstadt Czernowitz in sich einschloss, sie verstärkte und schmerzhaft-scharf nach Außen kehrte. Aus Paris schrieb Celan am 23. November 1969, seinem neunundvierzigsten Geburtstag, in einem weiteren Brief an Ilana Shmueli: »Ich fühle, ich weiß, daß die Kräfte, die ich in Jerusalem hatte, geschwunden sind.« - Und drei Tage später: »Es waren so viele Kräfte in mir (...) - nicht nur die der Dichtung - , und sie waren eins, sie waren eine Kraft. Man hat sie mir nicht gegönnt. Oder - sie waren zu groß, als daß man sie mir hätte lassen können
1 Peter Szondi: Schriften 1. Theorie des modernen Dramas (1880—1950). Versuch über das Tragische. Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat überphilobgische Erkenntnis. Frankfurt/M. 1978, S. 179. — 2 Vgl. Brief Nr. 171, Anm. 1. In: Paul Celan/Franz Wurm: Briefwechsel (im Folgenden PC/FW). Hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm. Frankfurt/M. 1995, S. 293. — 3 PC/FW, S. 219/220; vgl. S. 293, Brief 171, Anm. 2: »Der Zusatzstempel, ausgegeben von einer >Stiftung für das Alter«, lautet: >Kampf gegen Vereinsamung««. — 4 In: Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden (im Folgenden GW). Hg. von B. Allemann, S. Reichert unter Mitwirkung von R. Bücher. Bd. III. Frankfurt/M. 1986, S. 203. — 5 Christoph Schwerin: »>Bitterer Brunnen des Herzens«. Erinnerungen an Paul Celan«. In: Der Monat. 32. Jg. (1981), S. 7 3 - 8 1 , hier S.81. — 6 Brief vom 27.10.1969; vgl. Ilana Shmueli: »Denk dir. Paul Celan in Jerusalem«. In: Jakob Hessing (Hg.): Jüdischer Almanach 1995. Frankfurt/M. 1994, S. 9 - 3 6 , hier S. 22. — 7 Vgl. Paul Celan - Die Goll-Affdre. Dokumente zu einer »Infamie«. Zusammengestellt, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt/M. 2000. — 8 Vgl. dazu: Paul Celan/Gisèle Celan-Lestrange: Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric (im Folgenden PC/GCLd). Aus
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dem Französischen von Eugen Heimle. Hg. und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. Anmerkungen übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann. 2 Bde. Frankfiirt/M. 2001 (= PC/GCLd I—II, S.-zahl). — 9 Lydia Koelle: »>Auf der Suche nach sich selbst ... eine Art Heimkehre Paul Celan in Israel 1969«. In: Dies.: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah. 2. Auflage Mainz 1998,S. 2 3 2 - 2 6 8 . Eine Kurzfassung dieser Dokumentation erschien unter dem Titel: »Ein Versuch, sich Heimat beizubringen. Auf den Spuren Paul Celans: die Israel-Reise im Herbst 1969« am 15. Januar 2000 in der Frankfurter Rundschau. Nr. 12, »Zeit und Bild«, S. 3. - Kürzere Darstellungen von Celans Israel-Aufenthalt in: John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie. München 1997, S. 3 3 6 - 3 5 4 ; Elke Günzel: Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg 1995, S. 2 9 7 - 3 2 5 ; Wolfgang Emmerich: Paul Celan. Reinbek 1999 (= Rowohlt-Monographie), S. 153-158. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch Ilana Zukermans hebräischsprachiges Radio-Feature für Kol Israel, »Hommage an Paul Celan« (2 Teile), das 1983/84 und 1986 gesendet wurde. Es basiert zum großen Teil auf Interviews mit einigen in Israel lebenden Verwandten und Freunden Celans (Emma Lustig, Klara Lindenfeld, David Seidmann) und israelischen Lyrikern, Ubersetzern und Celan-Forschern (Yizhak Ben-Aharon, Esther Cameron, Israel Chalfen, David Rokeah, Shimon Sandbank, Manfred Winkler, Nathan Zach). — 10 Und so ist es keine Pflichterfüllung, wenn ich noch einmal eine Reihe von Namen derjenigen nenne, denen ich damals durch oder wegen Celans (Jerusalem-) Dichtung begegnet bin: Lisa Alpan, Stella Avni, Elazar Benyoetz, Schalom Ben-Chorin, Prof. Dr. Jakob Hessing, Israel Hochstätt, Edith und Joseph Hubermann, Dr. Shmuel T. Huppert, Else Keren, Dr. Gideon Kraft, Erika Lewin, Prof. Dr. Stephane Moses, Dorothea Müller-Altneu, Ben-Zion Orgad, Shula Rosen-Rudoi, Prof. Dr. Shimon Sandbank, Silke Schaeper, Fanja Scholem, Dora Schräger, Michal Seidmann, Prof. Dr. Herzl Shmueli, Manfred Winkler, Dr. Magali Zibaso und Ilana Zukerman. — 11 Ilana S(c)hmueli: »Paul Celan. Eine Liebe in Jerusalem« (hebr.). (Interview mit Ilana Shmueli). Von Ajal Meged. In: Maariv. Literatur und Kunst, vom 15.5.1992, S. 1/2; dies.: »Wege in Jerusalem« (hebr.). Mit einer Übertragung von Paul Celans Zeitgehöft-Gtdudrtten (2. u. 3. Zyklus) ins Hebräische. In: Efes Shtajim. Jerusalem, April 1992, S. 140-145; dies.: »Denk dir. Paul Celan in Jerusalem« (s. Anm. 6); dies.: »Paul Celans Judentum und Israel«. In: Hubert Gaisbauer, Bernhard Hain, Erika Schuster (Hg.): Unverloren. Trotz allem. Paul Celan-Symposium Wien 2000. Wien 2000, S. 2 8 8 - 303; dies.: Sag, daßJerusalem ist. Über Paul Celan: Oktober 1969-April 1970. Eggingen 2000 (hebr. Fassung mit der hebr. Übersetzung von Celans 2. u. 3. Zeitgehöft-TjfWus erschien 1999 im Carmel-Verlag, Jerusalem). Vgl. dazu meine Rezension i.d. Zs. f. dt. Philologie 121. Bd. (2002) (im Druck). — 12 Lydia Koelle: »Celans Jerusalem«. In: Christoph Jamme, Otto Pöggeler (Hg.): »Der glühende Leertext«. Annäherungen an Paul Celans Dichtung. München 1993, S. 2 7 5 - 3 1 0 ; dies.: »Pneumatisches Judentum, oder: Die gestaltete Pola»Paul rität. Die Jerusalem-Koordinate als innere Disposition Celans«. In: Arcadia-Sonderhefi Celan«. 32. Jg. (1997), S. 3 8 - 6 4 ; dies.: »Jüdischer Glaube nach der Shoah: Paul Celans Gedieh t Es war Erde in ihnen«. In: Meditation. Zeitschriftfür christliche Spiritualität undLebensgestaltung. 27. Jg. (2001) H. 4, S. 2 3 - 2 8 ; dies.: »Wiener Landschaft mit Urnenwesen. Sedimente des Jüdischen beim frühen Celan«. In: Peter Goßens, Marcus G. Patka (Hg.): »Displaced«. PaulCelan in Wien 1947. Frankfurt/M. 2001 (= Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum Wien), S. 1 5 4 - 1 6 2 ; dies.: »>Das Judentum im Herzen tragenNie wieder Massada!< Das Erbe des Staates Israel als psychologischer Faktor im Nahost-Konflikt«. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums. 31. Jg. (1992), S. 1 0 1 - 1 1 6 . — 2 0 Zit. in: Gerhard Konzelmann: Jerusalem. 4000Jahre Kampf um eine heilige Stadt. 3. Auflage M ü n chen 1988, S.473. Nach dem 6-Tage-Krieg war auch der Ostteil Jerusalems für die israelische Bevölkerung wieder zugänglich. — 21 Vgl. Celans Brief an seine Frau vom 12.6.1967 (Brief 518). In: P C / G C L d I, S.466: »Die Waffen schweigen um Israel - möge der Friede dort Einzug halten, für immer«. — 2 2 Vgl. auch Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abtlg. Lyrik und Prosa Bd. 8.1 u. 2: Fadensonnen. Hg. von Rolf Bücher. Frankfurt 1991, I. 8.2, S. 2 4 5 - 2 4 9 , hier: S.246. Die 1. Fassung (H 5 ) lautete: »>... der Moorsoldat von Massada/bringt dir Heimat bei, auf das unverlierbarste« (Hervorhebung: L.K.). — 2 3 Vgl. Bernhard Böschenstein: »Gespräche und Gänge mit Paul Celan«. In: Giuseppe Bevilacqua/Bernhard Böschenstein: Paul Celan. Zwei Reden. Mit einem Vorwort von Eberhard Lämmert. Marbach/N. 1990, S . 7 - 1 9 , hier S.13f. — 24 Jean Amery: »Zwischen Vietnam und Israel. Das Dilemma des Engagements«. In: Ders.: Widersprüche. Stuttgart 1971, S. 233 —241, hier S. 239 f. — 25 Vgl. P C / G C L d II, S. 472 f. — 26 Nach Aussage von Nathan Zach schickte ihm Celan selbst das Gedicht nach Israel, damit er es übersetzen sollte. Zach hatte Celan 1967 während eines Paris-Aufenthalts kennen gelernt (Telefongespräch mit N. Zach, Oktober 1992 in Israel). — 2 7 Vgl. Celans Brief an seine Frau vom 30.6.1967 (Brief 531): »(...) danke, daß Du Denk dir abgeschrieben hast. Es ist für mich ein wichtiges Gedicht. Ich habe es Duniu, Alfi und der Tante geschickt, und ich bin gerade dabei, es auch Erich von Kahler zu schicken.« (PC/GCLd I, S. 475.) Gemeint sind David Seidmann in Tel Aviv, Esriel Schräger in Givataiym und Berta Antschel in London. »Einst — es war vor ein paar Jahren — stand Paul Celan in meinem Wohnzimmer in London«, erinnert sich der bekannte Rabbiner Albert Friedlander, mit dem Celan in freundschaftlicher Verbindung stand. »Er gab mir ein Stück Papier, auf dem er sein neuestes Gedicht geschrieben hatte. >Denk dir< — so fing es an«. (Albert Friedlander: »Jüdischer Glaube nach Auschwitz«. In: Friedrich-Wilhelm Marquardt, Albert Friedlander: Das Schweigen der Christen und die Menschlichkeit Gottes. Gläubige Existenz nach Auschwitz. München 1980, S. 5 - 5 2 , hier S. 42; außerdem: Gespräch mit A. Friedlander während des Elie-Wiesel-Symposiums in Stuttgart, 7 . - 1 0 . 5 . 1 9 9 5 . ) — 2 8 Paul Celan: Brief an Gideon Kraft vom 23.4.1968\ Kopie im Nachlass Israel Chalfen, Deutsches Literaturarchiv Marbach (im Folgenden DLA). — 2 9 Shmueli: Sag, ¿¡aßJerusalem ist(s. Anm. 11), S. 79. — 3 0 Vgl. Celans Jerusalem-Gedicht Du sei wie du ( G W II, S. 327), das von einer Predigt des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart inspiriert wurde; vgl. dazu meine Interpretation in: Koelle: Paul Celans pneumatisches Judentum (s. Anm. 9), S. 190 ff. — 31 Celan erwarb Franz Rosenzweigs Jehuda Halevi-Ubertragung (92 Hymnen und Gedichte. Berlin o. J.) am 30. Januar 1960 in Paris; vgl. Bibliothek Paul Celan; DLA. — 32 Vgl. Celans Gedicht Mandelnde ( G W III, S. 95), das mit dem Anfang eines hebräischen Sehnsuchtsliedes von Chaim Nachman Bialik endet: »Hachnissini« (»Berge mich«). Vgl. dazu Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11), S. 26; Koelle: Paul Celans pneumatisches Judentum (s. Anm. 9), S. 239 f. — 3 3 Vgl. dazu Koelle: »Pneumatisches Judentum, oder: Die gestaltete Polarität« (s. Anm. 12). — 3 4 Gespräch mit Gideon Kraft im Hotel Dan, Tel Aviv, am 13.10.1992. Anders die Erinnerung von Ilana Shmueli: »Die Reise wurde von seinem alten Freund aus Czernowitz, David Seidmann, Professor für französische Sprache und Literatur an der Universität TelAviv, angeregt und vorbereitet.« (Shmueli: Sag, ¿laßJerusalem ist [s. Anm. 11]), S.23. — 35 Gespräch mit Gideon Kraft, 13.10.1992. Inzwischen sind eine ganze Reihe von Uberset-
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zungen Celans ins Hebräische erschienen; vgl. dazu: Amir Eshel, Thomas Sparr: »Celan in Israel«. In: Hans-Michael Speier (Hg.): Celan-Jahrbuch 4 (1991). Heidelberg 1992, S. 197-200. — 36 Vgl. die Datierung des Gedichts Mandelndtr. 2.9.1968. — 37 So an Israel Hochstätt. Gespräch mit Israel Hochstätt am 4.10.1992 in Holon. — 38 Gespräch mit Shmuel Huppert am 9.10.1992 in Jerusalem; vgl. Hupperts hebräischsprachigen Artikel »Begegnung in Jerusalem 1969«. In: Yediot Achronot (Literary Supplement) vom 27.5.1983. Celan überraschte seine Verwandten Klara Nagel-Lustig und Emma Nagel-Lindenfeld in Haifa mit einem Telefonanruf auf Ivrith. Celan soll dabei gesagt haben: »Ani jodea Ivrith«. (Vgl. Israel Chalfen: »Notizen zum Gespräch mit Emma und Klara Nagel am 19.4.1972 in Haifa«. In: Konvolut Israel Chalfen. Aufzeichnungen zur Jugendbiographie Paul Celans. In: Nachlass Paul Celan; DLA.) — 39 Gespräch mit Manfred Winkler im Sept. 1992 in Jerusalem. Hiphil: Kausativstamm des hebräischen Verbs zur Veranlassung eines Aktivs, der deklarativ oder intransitiv sein kann, beispielsweise erhält das Verb »gerecht sein« im Hiphil die Bedeutung: »jmd. für gerecht erklären«. — 40 Vgl. Günzel: Das wandernde Zitat (s. Anm. 9), S. 34 f. — 41 Appelfeld erzählte John Felstiner, dass »Celans Hebräisch recht gut gewesen sei und daß sie auch auf jiddisch gescherzt hätten.« Vgl. Felstiner: Paul Celan (s. Anm. 9), S. 417. — 42 David Rokeah über Paul Celan. In: Ilana Zukerman: »Hommage an Paul Celan« (s. Anm. 9). — 43 Gespräch mit Dora Schräger, der Witwe von Esriel Schräger (»Onkel Alfi«), dem Halbbruder von Celans Mutter, am 13.10.1992 in Givatayim. Vgl. auch Ilana Shmuelis Erinnerung: »Oft suchte er neue hebräische Worte, versuchte, sich an alte zu erinnern, wir sagten zusammen das kleine Gedicht von Chaim Nachman Bialik Hachnissini, das er noch auswendig wußte, aber nicht ganz verstand. Ich mußte es ihm Wort für Wort übersetzen. Dann suchte er die hebräischen Wortwurzeln, die ihn immer wieder faszinierten.« (Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist[s. Anm. 11], S. 26). — 44 Briefe von Paul Celan vom 19.9.1969 an Esriel Schräger und an Max Rones nach Israel, die seinen Besuch ankündigten. (Originale im Besitz von Dora Schräger und Edith Hubermann.) — 45 Vgl. PC/GCLd I, S. 584; Brief 662. — 46 Vgl. Celans Brief an Gideon Kraft vom 23.4.1968 (s. Anm. 28). - Das Interview ist leider nicht im Israelischen Rundfunk archiviert worden. — 47 Vgl. zur näheren Erläuterung des »Pneumatischen«: Koelle: Paul Celans pneumatisches Judentum (s. Anm. 9), S. 65 ff.; sowie meinen beim Paul-Celan-Symposium im November 2001 in Graz gehaltenen Vortrag: »Das Judentum im Herzen tragen« (s. Anm. 12). — 48 Celan und G. Schocken waren am 14. Oktober 1969 bei einem für Celan vom Hebräischen Schriftstellerverband initiierten Begegnungsnachmittag im Bet Tschernikowski in Tel Aviv zusammengetroffen. Zur Person und Bedeutung Salman Schockens vgl. Eberhard Görner: »Zionist, Verleger, Philanthrop. Salman Schocken, Schöpfer eines Warenhaus-Konzerns und einzigartigen Verlages«. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums. 32. Jg. (1993) S. 130-138; Silke Schaeper: »Goldadern wertvollen jüdischen Lebens«. Salman Schocken und seine Hebraica-Sammlung«. In: Jakob Hessing (Hg.): Jüdischer Almanach 1995. Frankfurt/M. 1994, S. 121 - 135. — 49 Salman Schocken: Zürich, 12.11.58. Paul Celan, ein Nachtrag (Tageblatt). - Die Kopien der Tagebuchaufzeichnungen von Salman Schocken, der Kommentare von Gershom Schocken und der Briefe von Gershom Schocken und Paul Celan stellte mir freundlicherweise Rahel Edelman, die Tochter Gershom Schockens, zur Verfügung. Für die Vermittlung an R. Edelman danke ich Silke Schaeper, Bibliothekarin am Schocken Institute of Jewish Research in Jerusalem. Die Briefe von Celan und Gershom Schocken sowie die Tagebuchdiktate von Schlomo Salman Schocken wurden in einer hebräischen Ubersetzung veröffentlicht unter dem Titel: »Tagebuchblätter und Briefwechsel. Aus Anlaß des Symposiums über die Gedichte von Paul Celan, das in Haifa stattfand« (hebr.). In: Haaretz, 17.1.1986, S. 18. Vgl. auch Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11), S. 77 f. — 50 Celan: Brief an Gideon Kraft vom 23.4. 1968 (s. Anm. 28). — 51 Vgl. Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11), S.78. — 52 Gespräch mit Michal Seidmann am 14.10.1992 in Tel Aviv. — 53 Gespräche mit Edith Hubermann im Sept./Okt. 1992 in Tel Aviv. — 54 Vgl. PC/GCLd I, S. 584; Brief 663. — 55 Paul Celan/Nelly Sachs: Briefwechsel (im Folgenden PC/NS). Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt/M. 1993, S. 105.. — 56 PC/FW, S. 218 (Brief 170; S. 293, Anm. 2); Gerhart Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt/M. 1986, S. 135; Gespräch mit Otto
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Lydia Koelle
Pöggeler im Frühjahr 1991 in Bochum. — 57 P. Celan traf dort möglicherweise andere in Europa geborene, ursprünglich deutschsprachige Autoren, die in Israel nun hebräisch schrieben: Dan Pagis, David Rokeah, Tuvia Rübner, Manfred Winkler, Nathan Zach; vgl. Felstiner: Paul Celan (s. Anm. 9), S.339. — 58 Vgl. Huppert: »Begegnung in Jerusalem 1969« (s. Anm. 38); sowie Gespräche mit Shmuel Huppert am 9. und 23.10.1992 im Haus des Israelischen Rundfunks in Jerusalem. — 59 Israel Chalfen: »Paul Celan in Jerusalem«. In: Die Stimme. 25. Jg. (1969) Nr. 238; S. 5. — 60 Gespräch mit Shmuel Huppert am 9.10.1992. — Der Tonfall von Celans Stimme bei der Lesung in Jerusalem sei »hart« gewesen, »aggressiv und sehr angespannt«. (Gespräch mit Stéphane Mosès am 7.9.1992 im Franz-RosenzweigForschungszentrum, Hebräische Universität Jerusalem.) — 61 Gespräch mit Manfred Winkler im Ticho-Haus, Jerusalem, Sept. 1992. — 62 Ilana Shmueli: »Denk dir. Paul Celan in Jerusalem« (s. Anm. 11), S. 17. — 63 Das Buch enthält die Widmung: »für Paul Celan zur freundschaftlichen Erinnerung an Gershom Scholem 8. Oktober 1969«; weiteres Widmungsexemplar: 23.9.1966 (vgl. PC/GCLd II, S. 488/89). — 64 Die Begegnung in Zürich fand am 30.8.1969, kurz vor Celans Israel-Reise statt (vgl. PC/GCLd II, S.487). In Celans Buchexemplar von Nelly Sachs: Zeichen im Sand. Die szenischen Dichtungen der Nelly Sachs. Frankfurt/M. 1962, ist zwischen den Seiten 142/43 eine Schwarzweißfotografie von Gershom Scholem eingelegt, die ihn im Gespräch mit Paul Celan zeigt. (Bibliothek Paul Celan; DLA.) — 65 Der Briefausschnitt ist publiziert in: Leonard Moore Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen — Zürich 1985, S.42. In Celans Exemplar der Schrift von Manfred Schlösser, Über das Verhältnis der Deutschen zu den Juden, fand sich ein Brief Celans (Abschrift?/Kopie?/Durchschlag?) an G. Scholem. Vgl. Günzel: Das wandernde Zitat (s. Anm. 9), S. 350. — 66 Gespräch mit Fanja Scholem am 21.9.1992 in Jerusalem. — 67 Gespräch mit Ilana Shmueli am 1.10.1992 in Tel Aviv. Im Nachlass von Israel Chalfen findet sich ein Brief von Scholem an Chalfen (vom 8.3.1978). Chalfen hatte wohl angefragt, ob Scholem ihm Auskunft über seine Gespräche mit Celan geben könnte. Scholem wollte sich aber zu dieser Frage nicht äußern. — 68 Ohne Angabe des Adressaten veröffentlicht im Mitteilungsblatt der Bukowiner Juden, Tel Aviv, Die Stimme 26. Jg. (1970) Nr. 247, S. 7. — Der Adressat, Manuel Singer, bei dem Celan in Jerusalem zu Gast war, kann aus dem Inhalt des Briefes geschlussfolgert werden. (Abschrift des Briefes im Nachlass von Israel Chalfen; DLA.) — 69 Paul Celan: »Notiz«. In: Ossip Mandelstam: Gedichte. Aus dem Russischen übertragen von Paul Celan (1959). Frankfurt/M. 1983, S. 67 f., hier S. 67 (= GW V, S. 623 f., hier S. 623). Vgl. Celans (bislang unveröffentlichte) Notizen im Umkreis der Entstehung seines Mandelstam-Essays. In: Bernhard Böschenstein: »Celan und Mandelstam. Beobachtungen zu ihrem Verhältnis«. In: Hans-Michael Speier (Hg.): Celan-Jahrbuch 2 (1988). Heidelberg 1988, S. 1 5 5 - 168, hier S. 159. — 70 Ilana Shmueli: »Denk dir. Paul Celan in Jerusalem« (s. Anm. 11), S. 21. — 71 Vgl. Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11), S. 20 f. — 72 Diese Kalesche wurde bei einem Brand zerstört. In der Montefiorie-Windmühle befindet sich jetzt eine Rekonstruktion ohne die genannte Aufschrift, die Celan an den Beginn seiner Bremer Rede (GW III, S. 185) erinnerte. — 73 Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11), S. 24 f.; dies.: »Denk dir. Paul Celan in Jerusalem«, (s. Anm. 11), S. 15 f. — 74 Vgl. das Faksimile von Celans Handschrift in: Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist, (s. Anm. 11), S. 27. — 75 Ebd., S. 26. — 76 Brief von P. Celan an I. Shmueli vom 26.11.1969; vgl. Shmueli: »Denk dir. Paul Celan in Jerusalem« (s. Anm. 11), S. 30; dies.: Sag, daß Jerusalem ist{ s. Anm. 11), S. 42. — 77 Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist(s. Anm. 11), S. 42. — 78. Beide Einschätzungen des Gedichts Die Pole sind kein Widerspruch, weil bei Celan selbst diese Trennung nicht immer möglich (und sinnvoll) ist. Vgl. das Gedicht Warum diesesjähe Zuhause (GW II, S. 363): »einer will wissen,/warum ich bei Gott / nicht anders war als bei dir«. (Vgl. Otto Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg/Br. München 1986, S. 99 u. 137.) — 79 Diese Zeilen aus Hölderlins Gedicht Der Rhein wurden von Celan mit Ausrufezeichen hervorgehoben. Vgl. Böschenstein: »Gespräche und Gänge mit Paul Celan« (s. Anm. 23), S. 9. — 80 Vgl. PC/GCLd II, S. 489. — 81 Bislang unveröffentlichter Brief. (Privatbesitz.) Eric Celan, Paris, danke ich herzlich für die Erlaubnis, aus dem Briefwechsel seines Vaters mit Jan und Lisa Alpan zitieren zu dürfen. — 82 Celan an
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Jan und Lisa Alpan, Haifa, 20.10.1969. — 83 Bislang unveröffentlichter Brief. (Privatbesitz.) Mein herzlicher Dank gilt auch Lisa Alpan, die mir die Briefe und Fotos von Paul Celan zur Verfügung gestellt hat. — 84 Bislang unveröffentlichter Brief. (Privatbesitz.) Vgl. dazu auch die Erinnerungen von I. Shmueli. Chadaschot-Ansager: israelischer Nachrichtensprecher. — 85 Shin Shalom: Galiläisches Tagebuch. Aus dem Hebr. übers, von Maria Nussbaum. Heidelberg 1954. (Bibliothek Paul Celan; DLA.) Das Buch enthält die hebräische Widmung: »Für Paul Celan./Zur Erinnerung seines/Besuches in Israel./Mit Freundschaftsgruß,/Shin Shalom /12.10.'69« (zit. nachGünzel: Das wanderndeZ/'taf [s. Anm. 9], S. 344.) — 8 6 Handschriftliches Original des Briefes im Archiv Genazim, Tel Aviv, im dort aufbewahrten Nachlass von Shin Shalom. — Dieser Brief und die Tel Aviver Ansprache Celans erschienen am 26.6.1970 in der israelischen Zeitung Maariv in einer hebräischen Ubersetzung durch S. Shalom. Vgl. auch Nelly Sachs: »Elf Briefe an Shin Shalom«. In: Literatur und Kritik. 118. Jg. (Sept. 1977) S. 4 4 9 - 4 5 3 . — 87 Vgl. die hebräischsprachige Einladungskarte zur Begegnung mit Paul Celan in Tel Aviv. (Privatbesitz Dora Schräger.) — 88 Vgl. Gershoms Schockens Brief an Paul Celan vom 6.1.1970. (Nachlass Gershom Schocken, Tel Aviv. Privatbesitz Rahel Edelman.) — 89 PC/NS, S. 105; 175. - J . Horowitz ( 1 9 0 1 - 1 9 7 5 ) lernte N. Sachs als Kulturattache der Israelischen Botschaft in Stockholm kennen. — 90 Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11), S. 28. — 91 Ebd., S. 80 (ohne Datumsangabe). — 92 Ebd. — 93 Vgl. das hebräischsprachige Einladungsplakat zu Celans Lesung in Tel Aviv. (Privatbesitz Dora Schräger, Israel.) — 94 Gespräch mir Israel Hochstätt am 4.10.1992 in Holon. — 95 Gespräch mit Else Keren am 4.10.1992 in Ramat Gan. — 96 Zit. nach der deutschen Übersetzung: Gershom Schocken: »Paul Celan inTel Aviv«. In: Neue Rundschau. 91. Jg. (1980) S. 2 5 6 - 2 5 9 , hier S. 256. — 97 Ebd. — 98 Ebd. — 99 Bislang unveröffentlichter Brief; Privatbesitz. — 100 Vgl. PC/GCLd II, S. 489. — 101 Shmueli: »Denk dir. Paul Celan in Jerusalem« (s. Anm. 1 1), S. 18; dies.: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11), S. 29. — 102 Walter Benjamin: »Karl Kraus«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1972 ff., Bd. II.2, S. 3 4 3 - 3 6 4 , hier S. 354. — 103 Margarete Susman: Deutung biblischer Gestalten. Konstanz — Stuttgart 1960, S. 81. (Bibliothek Paul Celan; DLA.) — 104 Zu M. Susmans Bedeutung für Celan vgl. Lydia Koelle: Patd Celans pneumatisches Judentum (s. Anm. 9), S. 349 ff.; dies.: »Hoffnungsfunken erjagen. Paul Celan begegnet Margarete Susman«. In: Unverloren. Trotz allem. Paul Celan-Symposium Wien 2000, S. 2 8 8 - 3 0 3 ; dies.: »>Aufrechte Worte«. Paul Celan/Margarete Susman: eine >Cor-RespondenzDie wahre Judenfrage ist eine innere und individuelle, nämlich die Stellungnahme jedes einzelnen Juden zu der ererbten Wesensbesonderheit. Wo irgendein Jude lebt, da ist das ganze Rätsel des Judentums««. Celan unterstrich »Rätsel« und notierte am unteren Rand dieser Seite: »Rätsel, nicht Frage«. — 106 Schwerin: »>Bitterer Brunnen des Herzens««, (s. Anm. 5), S.78; 81. — 107 Gespräch mit Michal Seidmann am 14.10.1992. — 108 Vgl. Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt/M. 1976, S. 233. — 109 Gespräch mit Shalom Ben-Chorin am 2.10.1992 im Café Atara in Jerusalem. — 110 Telefongespräch mit J. Amichai, Jerusalem, 2.10.1992. — 111 Vortragsmanuskript im Nachlass Israel Chalfen; DLA. — 112 Gespräch mit Lisa Alpan im Oktober 1992 in Haifa. — 113 Vgl. Celans Brief an Manuel Singer (s. Anm. 68) und andere Freunde in Israel. Von einer ehemaligen Czernowitzerin verabschiedete sich Celan mit den Worten »Ich komme bald wieder«. (Gespräch mit Erika Yeshajahu, Jerusalem, Okt. 1992.) — 114 Pöggeler: Spur des Worts (s. Anm. 78), S . 3 8 4 . — 115 Vgl. Jehosha Tirach: »Ein Gespräch mit Paul Celan« (hebr.). In: Haaretz, vom 17.10.1969. — 116 Shmueli: Sag, daß Jerusalem ist (s. Anm. 11),
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S. 81. — 117 Manfred Winkler: »Epilog auf Paul Celan«. In: Die Stimme IG. Jg. (1970) Nr. 245, S.6. — 118 Ebd. — 119 Ebd. — 120 Baumann: Erinnerungen an Paul Celan (s. Anm. 56), S. 134. — 121 Israel Chalfen: »Das Verstummen des Gedichts«. In: Die Stimme 26. Jg. (1970) Nr. 245, S.7. — 122 Vgl. Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt/M. 1983, S. 154. Vgl. Gespräch im Gebirg (GW III, S. 171-172). — 123 Vgl. ShinShalom: »Der Selbstmord von Paul Celan. Ein Brief an den Sefra Seifra«. (hebr.). In: Maariv, vom 26.6.1970. — 124 In: Die Stimme 26. Jg. (1970) Nr. 244, S. 8. - Vollständige Abschrift des dreiseitigen Briefes im Nachlass von Israel Chalfen; DLA. Vgl. auch Elke Günzel: Das wandernde Zitat (s. Anm. 9), S. 321. — 125 Paul Celan/Erich Einhorn: »Briefe«. Hg. und kommentiert von Marina Dmitrieva-Einhorn. In: Hans-Michael Speier (Hg.): Celan-Jahrbuch 7 (1997/98). Heidelberg 1999, S. 7 - 2 2 , hier S. 25; jetzt auch in: Paul Celan / Erich Einhorn: Einhorn: »du weißt um die Steine«. Briefwechsel. Hg. und kommentiert von Marina Dmitrieva-Einhorn. Berlin 2001. — 126 Zit. bei Edith Silbermann: Begegnung mit Paul Celan. Erinnerung und Interpretation. Aachen 1993, S. 38. — 127 Vgl. Gesprächsbeitrag von Klara Lindenfeld. In: Ilana Zukerman: »Hommage an Paul Celan« (s. Anm. 9). Vgl. auch Chalfens Notizen zu seinem Gespräch mit den Schwestern Klara und Emma am 19.4.1972 in Haifa. (Konvolut Israel Chalfen. Nachlass Paul Celan; DLA.) Ähnliches berichtet Edith Silbermann in ihren Erinnerungen an Paul Celan. Vgl. Silbermann: Begegnung mit Paul Celan (s. Anm. 126), S.63: »Meine Mutter brachte es sogar zustande, eine Süßrahmtorte >SchmettentorteIch komme nur, wenn deine Mama mir wieder Schmettentorte macht.décadents< aufsprühte - : die élans von R i m b a u d , Mallarmé, Laforgue und viele andere, die von dieser Caverne ihren Weg nahmen in den hellsten R u h m ... Süß verwirrt verließ ich diese Grotte, wie eine zart vergangene Spuk-Novelle ... (...).« 3 2 Hardekopfs Standortwahl scheint also auch einen literarisch kreativen und zugleich nostalgisch-kompensatorischen U m g a n g mit der Paristopographie zu begünstigen, der ihm nicht nur Trost spendete, sondern auch seine katastrophale reale Existenz in die Fantasiesphäre literarischer Fiktion hob. Was H a r d e k o p f in seinen Flanerien an der Seine und bei Notre D a m e vorschwebte und was er in der mit »Gemälden von Henri Rousseau, Picasso, Utrillo, in einem entzückenden Entresol des alten geistigen Viertels« im Stil der »mondäne[n] Boheme« eingerichteten W o h n u n g 24, rue de Grenelle im 7. Arrondissement Wilhelm Uhdes fand, war in seinen Augen nichts weniger als das proustsche Erlebnis: »Ich war ganz verzaubert von dieser auferstandenen Welt (»le temps retrouvé«), und noch während des ganzen dämmerigen Heimwegs, am hohen, vergoldeten Gitter des Jardin du L u x e m b o u r g entlang, war es mir, als ginge m a n durch eine erstaunliche Novelle. Ach, Olga, ich hab' all meine Liebe zu dieser Stadt Paris wiedergefunden — und Liebe macht ja trauervoll, weil sie unser C e n t r u m außerhalb des eigenen Bereiches verlegt... « , 3 3 Der Weg durch das Q u a r t i e r Latin und der Z u g a n g zu bestimmten künstlerischen beziehungsweise literarischen Schatzhöhlen ermöglichten H a r d e k o p f eine neue geistige und emotionale Verankerung in Paris, eine Abkehr von der Gegenwart und das Untertauchen in Literatur und Kunst (mit Vorliebe für die Jahrhundertwende), zu deren Buch Paris in seinen Visionen immer wieder wird. D e m Q u a r t i e r Latin und vor allem der Topographie von Seine-Ufer, Ile de la Cité und Notre D a m e wurde die magische Kraft verliehen, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und literarischer Fiktion aufzuheben und die trübe, hoffnungslose Realität des Exils in eine unversehrte Literaturwelt aufzulösen. 3 4 Bei seinen Besuchen in Paris, von Prag aus, wo er, nach einer ersten Exilstation in Wien, bis 1938 im Exil lebte und seine Zeitschrift Die Dritte Front 1 9 3 6 - 1 9 3 8 herausgab, hielt sich O t t o Strasser, eine zu H a r d e k o p f in denkbar krassem Gegensatz stehende Gestalt, im Grand-Hôtel, 12, Boulevard des Capucines, im 2. Arrondissement auf, einem großbürgerlichen Hotel i m vornehmsten Geschäftsviertel von Paris, zwischen der Bourse, der Place de l'Opéra, der Place de la Madeleine und der Place Vendôme, das v o m Pariser Guide Diamantvori 1939 als »Hotel de luxe« 3 5 eingestuft wird. Dieser Standort erleichterte ihm einerseits den Kontakt zu Emigrantenorganisationen und
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Hélène Roussel / Lutz Winckler
Institutionen, die im 9., 8. und 3. Arrondissement ihren Sitz hatten. Es ist andererseits anzunehmen, dass diese Standortwahl in Paris seinen gesellschaftlichen Status betonen und ihm helfen sollte, Gesprächspartner in führenden politischen, publizistischen und wirtschaftlichen Kreisen zu finden. Für Emigranten wie G e o r g Bernhard, Robert Breuer, Lili Körber, Anselm Ruest, die im 16. Arrondissement wohnten beziehungsweise dorthin umgezogen waren, kann diese Wahl als ein Indiz für ihren kulturellen Habitus und für ihre B e m ü h u n g , ihren sozialen Status in der Öffentlichkeit aufzuwerten, gedeutet werden. Paul Westheim, der allerdings enge Beziehungen zu Paris lange vor 1933 geknüpft hatte (vgl. die Berichte zum Kunstleben in Paris sowie Reiseberichte aus Paris in seiner Zeitschrift Das Kunstblatt), wohnte von vornherein in diesem Stadtteil, und Carl Misch (der dreimal umzog) scheint seine Anschrift rue Michel Ange im 16. Arrondissement nicht aufgegeben zu haben 3 6 , auch als er ins 11. und dann ins 1. Arrondissement (rue Jean-Jacques Rousseau) umzog, wo er mit Gerda Ascher, der Hauptsekretärin der Pariser Tageszeitung in den letzten Jahren, zusammenlebte. Dass sich die soziologische Z u o r d n u n g von Emigranten zwar tendenziell aus ihrer Ansiedlung in dem einen oder dem anderen Stadtteil von Paris erschließen lässt, jedoch im Einzelfall nicht immer eindeutig daran festzumachen ist, kann am Beispiel des aus Wuppertal emigrierten Dirigenten und Komponisten Franz Lande festgestellt werden, der im Pariser Exil unter anderem ein kleines Orchester gründete (unter dem N a m e n Philharmonia) und zu kleinen öffentlichen Musikveranstaltungen in seine W o h n u n g einlud, die mehrmals im Pariser Tageblatt\m »Studio Lande« angekündigt wurden. Auch diese W o h n u n g lag im Pariser Westen, 41, rue Boissière, im nördlichen Teil des 16. Arrondissements, unweit vom Palais du Trocadéro, der Place de l'Etoile und den Champs-Elysées, in einer Wohngegend also, die traditionell von wohlhabenden Mittelschichtsangehörigen bewohnt wurde. Sie lag relativ günstig in Bezug auf wichtige Zentren des Pariser Musiklebens (auf Konzertsäle wie die Salle Pleyel, das Théâtre des Champs-Elysées, die Concerts Pasdeloup); das Conservatoire National de M u s i q u e war von dort noch zu Fuß zu erreichen. Es wäre aber voreilig, aus Landés Wohnlage auf seine finanzielle Situation zu schließen. Ein Brief, den er an seinen, damals in R o m zur Schule gehenden Sohn Henry am 18. September 1938 richtet, gibt darüber Auskunft. D o r t heißt es: »Wir wohnen in einer kleinen Wohnung, deren H a u p t r a u m ein großes >Studio< ist, in welchem m a n ausgezeichnet musizieren kann. D a n e b e n existiert noch ein kleines Nebenzimmer mit Schreibtisch zum Arbeiten und eine große Wohnküche mit Badeeinrichtung. D u könntest für kürzere Zeit auf der Chaiselongue in der Wohnküche schlafen, für längere Dauer müsstest D u natürlich ein eigenes Z i m m e r b e k o m m e n . Unsere W o h n u n g liegt im schönsten und elegantesten Stadtteil von Paris, hat aber H o f a u f g a n g und im Studio und in der Wohnküche nur Oberlicht,
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und ist deshalb nicht teurer als eine normale Wohnung im schlechtesten Stadtteil, ist aber dabei so gemütlich und originell, dass wir allgemein darum beneidet werden.« 37 Andererseits begünstigte dieser Glücksfall, der Fund einer solchen Wohnung, Landes Kontakte zu künstlerischen Kreisen in Paris: Das »Studio Lande« wurde tatsächlich zu einem Sammelpunkt des künstlerischen Exils, wie Lande in seinem Brief berichtet: »Unser Verkehr besteht hauptsächlich aus Künstlern und Kunstgewerblern aller Nationalitäten (Deutsche, Italiener, Franzosen, Amerikaner, Russen, Ungarn, Holländer etc.), daneben kennen wir auch Akademiker und Kaufleute, soweit sie für Musik Interesse haben. W i r haben im vorigen Winter einen >musikalischen Jour-fixe< gehabt, der von diesem internationalen Publikum besucht war, und wir werden im Oktober diese Abende wieder aufnehmen. — Außerdem habe ich eine Anzahl von Gesangschülern und -Schülerinnen und korrepetiere mit Sängern, die sich auf Engagements vorbereiten. W i r haben also immerhin einen ziemlich großen Kreis von Menschen, die uns kennen und schätzen.« Die durch seinen Standort geförderte, 1 9 3 8 weitgehend gelungene Integration Landes ins Pariser Musikleben war jedoch kein Schutz vor den neuen Verfolgungen, die in Frankreich unter Wehrmachtsbesatzung und Vichy-Regierung gegen Juden einsetzten. Aus Frankreich wurden Franz Lande und seine zweite Frau nach Auschwitz deportiert und dort 1942 ermordet.
IV Die Topographie macht deutlich, dass die deutsche Emigration in Paris kein Ghetto gebildet hat: Das gilt sowohl für die nichtpolitische jüdische Emigration wie für die politische und kulturelle Emigration. Für letztere ist fest zu halten, dass sie die räumliche Nähe zum intellektuellen Zentrum von Paris um Montparnasse und den Boulevard St. Germain gesucht hat — ohne aber wie die künstlerischen Avantgarden der Vorkriegszeit und der 20er Jahre (besonders deutlich die amerikanische Künstlergruppe) einen alltäglichen Lebens- und Arbeitszusammenhang gesucht zu haben. Dies ist sicher auch ein Ausdruck der kulturellen Heterogenität der kulturellen Emigration, die nicht als Avantgarde zu beschreiben ist. Angehörige der surrealistischen Avantgarde wie Max Ernst und Hans Bellmer suchten eher die räumliche und personelle Nähe zu dieser Künstlergruppe als die Integration in die Pariser Emigration (was im Fall von Max Ernst die Beteiligung an künstlerischen Organisationen und Initiativen der deutschen Pariser Emigration nicht ausschloss). Die topographische Integration der literarischen und publizistischen Emigration war das Ergebnis einer Reihe von Faktoren. An erster Stelle sind der
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soziale und kulturelle Habitus zu nennen — beide zugleich wichtige Akkulturationsfaktoren. Soziale Kriterien entscheiden nicht nur über die Wahl des Stadtviertels und der Wohnlage innerhalb des Stadtviertels, sondern führen im Alltag auch zu unterschiedlichen sozialen Umweltkontakten, sie bestimmen die täglichen Wege und Besorgungen und die jeweilige »Erfahrung« der Stadt. Der kulturelle Habitus ist für die Ortswahl nicht weniger entscheidend als die sozialen Faktoren. Im Falle der kulturellen Emigration kann er soziale Nachteile, die die Emigration mit sich bringt, zumindest versuchsweise ausgleichen (ein möbliertes Zimmer in Montparnasse-nahen Stadtvierteln hatte denselben symbolischen Wert wie eine Wohnung im Berliner Westen). Wenn der kulturelle Habitus die Schere zwischen Herkunft und Ankunft zumindest ansatzweise zu verringern vermag, hängt das auch mit dem internationalen Charakter der Metropolenkultur zusammen: dem internationalen Austausch der künstlerischen Avantgarden im 20. Jahrhundert, den modernen Kommunikationsmedien wie Presse, Fotografie und Film, die eine wachsende Zahl von Intellektuellen zu Berufsreisenden, zu Fremden auf Zeit machten - das gilt für die Malerei nicht weniger als für den Journalismus, der Schriftstellern wie Kurt Tucholsky, Siegfried Kracauer, Hermann Wendel, Alfred Kerr, Joseph Roth, Paul Westheim schon vor 1933 den Weg nach Frankreich und Paris öffnete.38 Eine wichtige Rolle für die topographische Integration spielte schließlich auch die Arbeits- und Berufssituation. Verweisen die angeführten Einzelbeispiele auf eine gelungene Synthese von Wohn- und Arbeitsort, so dürfte für die meisten Emigranten die topographische Distanz beider Sphären charakteristisch gewesen sein. So lag der topographische Schwerpunkt der Exilpublizistik am rechten Seine-Ufer39 - in unmittelbarer Nähe zum Pariser Zeitungsviertel im 2., 3., 8. und 9- Arrondissement. Das Berufsfeld der emigrierten Journalisten (und Schriftsteller) deckte sich also topographisch mit dem der Pariser Journalisten, was zu Beziehungen und Begegnungen im Alltag führen konnte und der Akkulturation Vorschub leistete. Davon zeugt der Standort der meisten Exilverlage beziehungsweise -Verleger in Paris, die Periodika und /oder Bücher beziehungsweise Broschüren herausgaben. So waren im 1. Arrondissement angesiedelt: Die Aktiorft0 - L'Action, 13, rue du Louvre (vorher: 4 - 5 , rue Saunier 9e41)> LAntinazi, 29, rue Etienne Marcel, Éditions Universelles mit Einheit für Hilfe und Verteidigung, 55, rue de Rivoli, 1936 (dann: 8, Bd. de Strasbourg 10e, 1 9 3 7 - 3 8 ) ; im 2. Arrondissement: Cahiers d'Europe — Europäische Hefte. Revue mensuelle critique et littéraire, 12, Bd. Poissonnière; Deutsche Volkszeitung, 8, rue du 4 Septembre, dann 35, rue des Jeûneurs, Freiheit - La Délivrance, 21, rue Feydeau, 1933; im 3. Arrondissement: das Panser Tageblatt, 51, rue de Turbigo42 (Anfang 1936 zog es ins 8. Arrondissement, rue La Boetie um); im 8. Arrondissement: Das Neue Tage-Buch, 56, rue du Faubourg St. Honoré, die Editions Bernhard Rosner
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und die Editions Météore, 36, rue du Colisée 1934—35 (1937 siedelten die Editions Météore zum 10. Arrondissement, 27, rue des Petites-Ecuries über - dem Arrondissement, in dem die Editions du Mercure de l'Europe 35, Boulevard de Strasbourg, 1933 bis 1935 ihren Sitz hatten). Im 9. Arrondissement waren angesiedelt: der Bergis-Verlag mit dem Blauen Heft, 36, rue Notre Dame de Lorette; die Pariser Tageszeitung, 16, rue de la Grange Batelière, dann 20, rue Laffitte; die Editions Sebastian Brant 41, Bd. Haussmann, mit Max Brauns Deutscher Freiheit, die im April 1939 in Münzenbergs ebenfalls dort erscheinende Zukunft ganz aufging; Deutsche Informationen vereinigt mit: Deutsche Mitteilungen (dann: Deutsche Mitteilungen), rue Lamartine, dann 1 0 - 1 2 , rue Richer (schließlich wurden sie von der Ligue des Droits de l'Homme an deren Sitz 27, rue Jean-Dolent 14e43 untergebracht). Auch die Hauptorgane des österreichischen Exils ließen sich ab 1938 in diesem Stadtbereich nieder: die legitimistische Osterreichische Post 30, rue SaintAugustin im 2., Otto Bauers Sozialistischer Kampf — La Lutte socialiste 20, avenue Trudaine im 9. und Les Nouvelles d'Autriche — Osterreichische NachrichterfiA 55, rue de Rivoli im 1. Arrondissement, im ehemaligen Lokal der Editions Universelles. Dasselbe gilt für die Presseagenturen: im näheren und weiteren Umfeld der französischen Agenturen wie die Agence Havas45 62, rue de Richelieu im 2. Arrondissement finden sich Exilagenturen wie Coopération »Service de presse pour le rapprochement international« 46 3 3, avenue des Champs-Elysées und Inpress47 im Elysée Building, 56, rue du Faubourg St. Honoré48, beide im 8. Arrondissement (vorher 1, rue Mondétour 49 im 1.). Nichtsdestoweniger machten sich einige Exilverlage an der rive gauche, im klassischen Buchverlagsviertel von Paris ansässig, zwischen Saint-Germaindes-Prés und dem Quartier Latin. Dies gilt für die Editions du Carrefour 169, Boulevard St. Germain 50 , die 1934 zum Boulevard du Montparnasse (Nr. 83) umzogen (und die unter anderem für die Periodika Unsere Zeit als Auslieferung und den Gegen-Angriff als Herausgeber firmierten), für das Bulletin Deutsche Lnformationen, das beim Sitz des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller 13, rue de l'Ancienne Comédie 51 untergebracht wurde, alle im 6. Arrondissement. Dies gilt ebenso für die im 5. Arrondissement angesiedelten Verlage und Presseorgane wie etwa die Librairie Science et Littérature52 und das von ihr veröffentlichte Organ der Freien Deutschen Hochschule, die Zeitschrift für freie deutsche Forschung, 21, rue Cujas (1939), die Editions Prométhée, 3, rue Valette (die 1938-39 Die Kommunistische Internationale veröffentlichten), sowie für die Periodika Neue Front (SAP), 23, rue Mouffetard und ab 1938 den sozialdemokratischen Neuen Vorwärts53, 30, rue des Ecoles, sowie die Verlage Editions Excelsior, 27, quai de la Tournelle und Editions Cosmopolites, 151 bis, rue St. Jacques54 (1937: 92, rue des Boulets55 im 11. Arrondissement).
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Ähnliches wie für die emigrierten Journalisten (und Schriftsteller), deren Wirkungsbereich topographisch dem ihrer Pariser Kollegen entsprach, was die Entwicklung von Beziehungen im Alltag u n d letztlich von Akkulturation förderte, gilt - auf andere Weise - für die schwerpunktmäßig im 8. u n d 9. Arrondissement in Räumen von französischen Schwesterorganisationen, von französischen Unternehmen u n d Banken untergebrachten jüdischen Hilfsorganisationen 5 6 : Die (alltäglichen) Wege und Konsultationen führten die Emigranten in die ihnen sonst eher verschlossene Stadtlandschaft des Luxuskonsums, der französischen Finanz- und Handelswelt. Die Exiltopographie umfasste also unterschiedliche Bereiche wie Wohnen, Kommunikation, Freizeit und Arbeit und artikulierte sich über verschiedene symbolische Register wie den sozialen und kulturellen Habitus. Im Nach Vollzug von deren jeweiliger Logik konstituierte sich der Exilalltag.
1 Vgl. Bernard Marchand: Paris, histoire d'une ville. XlXe—XXe siècle. Paris 1993. — 2 Vgl. Karte »Paris Sociologique«. In.- Paris For Everyman. Her Present, her Past and her Environs. With Forty-eigth Coloured Maps and full Index. Compiled by Arthur K. Griggs. London [1936], S. 1 2 - 1 3 . — 3 Yves Combeau: Histoire de Pans. 2. Auflage. Paris 2001, S. 91. — 4 Ebd., S. 82 f. (Zahlen für 1931). — 5 Barbara Vormeier: »Frankreich«. In: C. D. Krohn, P. v. zur Mühlen, G. Paul, L. Winckler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933—1939. Darmstadt 1998, S. 213. — 6 Julia Franke: Paris - eine neue Heimat?Jüdische Emigranten aus Deutschland 1933-1939. Berlin 2000. — 7 Ebd., S. 51 f. — 8 Ebd., S. 55, Anm. 18 und 19. — Barbara Vormeier: »Frankreich« (s. Anm. 5), S. 221 kommt zu folgenden Schätzungen: 12% freie Berufe, 31,1 % kaufmännische Angestellte, 6 % Unternehmer, 16,1 % Arbeiter. — 9 Vgl. etwa Lion Feuchtwanger: Exil(\9A0) oder den im Pariser Tageblatt ( 3 1 . 1 2 . 1 9 3 4 - 6 . 2 . 1 9 3 5 ) erschienenen Fortsetzungsroman von Lou Ernst (= Louise Straus-Ernst): Zauberkreis Paris. — 10 [Robert Breuer]: »Deutsche Emigranten in Frankreich«. In: Pariser TageblattHx. 468 vom 25.3.1935, Nr. 469 vom 26.3.1935, Nr. 475 vom 1.4.1935, Nr. 485 vom 11.4.1935, spricht von 3.000 armen Emigranten in Paris. — 11 Julia Franke: Paris — eine neue Heimat? (s. Anm. 6), S. 107fif.und 122fif.— Ein Sonderfall waren die wenigen fest angestellten Journalisten der Pariser Emigrationspresse, die etwa beim Pariser TageblattI Pariser Tageszeitung auf ein Grundgehalt von ca. 2.000 frs. kamen; Georg Bernhard bezog als Chefredakteur der Zeitung monatlich 10.000 frs, was seine Ausnahmesituation unterstreicht. — 12 Ebd., S. 91 ff. — 13 Vgl. die Liste im Anhang. — 14 Vgl. dazu den von Sarah Wilson hg. Ausstellungsband: Paris. Capital of the arts 1900—1968. Royal Academy of Arts. London 2002. Darin den Beitrag von Simonetta Fraquelli: »Montparnasse and the Right Bank: Myth and Reality«, S. 1 0 6 - 1 1 7 . — 15 Anne-Marie Corbin: »Die Bedeutung der Pariser Cafés für die geflohenen deutschsprachigen Literaten«. In: Anne Saint SauveurHenn (Hg.): Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 1933-1940. Berlin 2002, S. 88 - 1 0 1 . — 16 Arien J. Hansen: Expatriate Paris. A Cultural and Literary Guide to Paris of the 1920s. New York 1990, Map 4, S. 71, Map 5, S. 118 und die Erläuterungen auf S. 72 ff. bzw. 119 ff. — 17 Ingrid Scheurmann: »Als Deutscher in Frankreich. Walter Benjamins Exil 1 9 3 3 - 1940«. In: Ingrid und Konrad Scheurmann (Hg.): Für Walter Benjamin. Frankfurt/M. 1992, S. 80. — Zu Benjamins letzter Adresse 10, rue Dombasle, wo auch Arthur Koestler und Lisa Fittko wohnten, vgl. Catherine Stodolsky: »Ein Pariser Alltag im 15. Arrondissement: Walter Benjamin, Arthur Koestler, Lisa Fittko«. In: Saint Sauveur-Henn (Hg.): Flucht-
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ziel Parts (s. Anm. 15), S. 7 3 - 8 0 . — 18 Paris-Guide. Le guide de la vie à Paris. Publié sous le patronage du Comité France-Amérique par Henry Bordeaux e. a. Paris 1926, S.204f. — 19 Zu Lou Straus-Ernst vgl. Lutz Winckler: »Louise Straus-Ernst. Zauberkreis Paris. Erfahrung und Mythos der >großen Stadt««. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 11. München 1993, S. 8 8 - 1 0 5 . Lou Straus-Ernst wurde 1944 in Auschwitz ermordet. — 20 Jimmy Ernst: Nicht gerade ein Stilleben. Erinnerungen an meinen Vater Max Ernst. Köln 1985 (amerikanische Originalfassung: A Not-So-Still Life 1984), S. 134: »Auch Lous Koffer war symbolisch nie ganz ausgepackt.« — 21 Ebd., S. 133. — 22 Ebd. — 23 Ebda., S. 134. — 24 Vgl. Anm. 9. — 25 Vgl. dazu »Une vie en tranches«, témoignage recueilli auprès de Ernst Heidelberger par Hélène Roussel. In: Gilbert Badia u.a.: Exilés en France. Souvenirs d'antifascistes allemands émigrés (1933-1945). Paris 1982, S. 190-213. — 26 Er bestritt mit Theodor Fanta den Autorenabend Junge Dramatiker des SDS am 27.1.1936. — 27 Brief E.W. Meves an Ernst Leonard v. 13.3.1937 im Nachlass Ernst Leonard, Bundesarchiv Abtlg. Potsdam, Akte 7, Bl. 4. — 28 Ebd. — 29 Zu Ferdinand Hardekopf vgl. den Aufsatz von Hélène Roussel: »Ferdinand Hardekopfs Standort zwischen Frankreich und Deutschland. Seine Rolle als Vermittler zwischen französischer und deutscher Kultur und als Gedächtnis des Exils«. In: Hélène Roussel, Lutz Winckler (Hg.,): Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933-1940. Tübingen 2002, S. 1 5 9 - 1 8 2 . — 30 Ebd.— 31 Vgl. Walter Benjamin: »Paris, die Stadt im Spiegel. Liebeserklärungen der Dichter und Künstler an die >Hauprstadt der Welt