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German Pages 235 [236] Year 1971
Tuschling Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum
W G DE
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland
Band 3
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971
Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum
von Burkhard Tuschling
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971
ISBN 3 11 001889 6
© 1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J. Gösdien'sdie Verlagshandlung · J. G u t t e n t a g , Verlagsbudihandlung · Georg Reimer · K a r l J . Trübner • Veit 6c Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. P r i n t e d in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin 44
Zum Titel Mit „Metaphysische Anfangsgründe der Dynamik" hat Kant das 2. Hauptstück seiner „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" von 1786 überschrieben; und er hat in der Vorrede dieser Schrift erläutert, was er unter „Metaphysik" und „Metaphysik der Natur" versteht. Daher mag es erlaubt sein, etwas verkürzend von einer „metaphysischen Dynamik" Kants zu reden. Die Bezeichnung „transzendentale Dynamik" dagegen muß zunächst einmal befremden. „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern dies a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt" lautet die Definition von „transzendental" in der Einleitung der K r V (B 25). Kann die Dynamik, ein Teil der Theorie der Materie, in diesem Sinne „transzendental" heißen, kann sie Bestandteil der Transzendentalphilosophie im spezifisch kantischen Sinne sein? Daß dies in der Tat der Fall ist, mithin daß Kant seine Materietheorie im o.p. so radikal umgestaltet, daß die ursprüngliche metaphysische Dynamik von 1786 schließlich zu einer — neben transzendentaler Ästhetik und Logik — dritten transzendentalen Disziplin wird, ist die Hauptthese dieses Buchs. Ich kann sie erst gegen Schluß der Arbeit begründen und muß den Leser bis dahin um Geduld bitten. Vorab sollte nur gesagt sein, daß „transzendentale Dynamik" hier durchaus in dem prägnanten Sinn zu verstehen ist, den Kant dem Terminus „transzendental" in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat.
Technische Vorbemerkungen Abgesehen von den üblichen Abkürzungen — KrV, KdU, MdS für .Kritik der reinen Vernunft" bzw. „Kritik der Urteilskraft" bzw. Metaphysik der Sitten" usw. — benutze ich zusätzlich die folgenden: o.p. MA Phor. Dyn. Mech. Phän. Ls. LBl. Ok. Kv. Ad. o.p. Ad. N f . I, II
Opus postumum Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Phoronomie Dynamik Mechanik Phänomenologie Lehrsatz Loses Blatt Oktaventwurf Konvolut Adickes, Kants Opus postumum, Berlin 1920 Adickes, Kant als Naturforscher, Berlin 1924 f.
Die übrigen Entwürfe des o.p. zitiere ich der unten wiedergegebenen Übersicht entsprechend, lasse jedoch die Anführungszeichen bei den kantischen Entwurfsbezeichnungen fort. In der Angabe von Belegstellen bezeichnen römische bzw. arabische Ziffern, wie üblich, Band- bzw. Seitenzahl der Akademieausgabe von Kants Gesammelten Schriften. Zitate aus dem o.p. erscheinen grundsätzlich in der u. a. chronologischen Reihenfolge, sofern nichts anderes vermerkt ist; Unterstreichungen in Zitaten stammen von Kant, ebenfalls sofern nichts anderes vermerkt ist. Orthographie und Interpunktion der Zitate aus dem o.p. habe idi durchgängig normalisiert, in allen übrigen Fällen habe ich die Schreibweise der Akademieausgabe übernommen.
Inhalt Zum Titel
V
Technische Vorbemerkungen
VII
Erster Teil: Die Entstehung einer neuen Dynamik I. Kapitel:
P r o b l e m e der postumum
Interpretation
des
opus
ι. 2. 3. 4. j.
Systematische versus historische Betrachtungsweise Die „opus postumum" betitelten Manuskripte Ein „Werk"? Die Einheit des „opus postumum" Unmöglichkeit einer systematisch orientierten Interpretation des „opus postumum" 6. „Historische" Interpretation des opus postumum
3 3 4 8 10 11 13
II. Kapitel: D i e f r ü h e s t e n R e f l e x i o n e n d e s o p u s p o s t u m u m u n d d e r O k t a v e n t w u r f (1786 bis 1796/97)
χ. Das Problem des Anfangs 2. Die ältesten Losen Blätter 3. Der Oktaventwurf III. Kapitel:
Kants Reflexionen zur Materietheorie und die z e i t g e n ö s s i s c h e D i s k u s s i o n ...
ι. Das Unmoderne am opus postumum 2. Kants Reflexionen zur Physik in ihrer Entwicklung
!J
15 16 23
28 28 30
χ
Inhalt
3. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft und Theorie der Erkenntnis a priori 4. Die M A und das naturwissenschaftliche Publikum 5. Kritik und Selbstkritik 6. Radikale Korrektur der M A 7. Der „Ubergang" — ein Legitimationsversuch
34 39 46 56 61
Zweiter Teil: Die Weiterbildung der neuen Dynamik IV. Kapitel: W e i t e r e n t w i c k l u n g d e r n e u e n M a t e r i e t h e o r i e im R a h m e n des „ Ü b e r g a n g s " ..
69
ι. A — C
69
2. α—ε
77
V.Kapitel: ι. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
90
Vorbemerkung Übersicht über das Belegmaterial Phoronomiekritik im engeren Sinne Konsequenzen für die M A Reine Bewegungslehre und Materietheorie Mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft? . . Philosophische versus mathematische Erkenntnis
VI. Kapitel:
ι. 2. 3. 4. j. 6. 7. 8.
Phoronomiekritik
Ansätze zu einer transzendentalen D y n a m i k und A u f l ö s u n g der Ubergangskonzeption
Vier Lose Blätter des IV. Konvoluts Der Bogen II 3 Der Entwurf a — c Entwurf No. 1 — 3 η Elementarsystem 1 — 7 Farrago 1 — 4 A/B Ubergang A . Elementarsystem 1 — 6
Schlußbetrachtungen:
Transzendentale Dynamik und Theorie der Erkenntnis a priori
90 90 92 100 102 106 111
123 123 128 129 131 142 154 160 164
kritische 179
Inhalt
XI
Anhang
191
Literatur Namenregister Sachregister
216 219 221
Erster Teil: Die Entstehung einer neuen Dynamik
I. Probleme der Interpretation des opus postumum ι. Systematische versus historische Betrachtungsweise Es gehört zu den Gemeinplätzen der Philosophiegeschichte, daß die Philosophie des kritischen Kant systematisch und ihr Autor unter die großen Systematiker zu rechnen, ja vielleicht als der Systematiker überhaupt zu bezeichnen sei. Aber wie alle Gemeinplätze wird audi dieser bei näherem Zusehen problematisch. Das gilt nicht nur für die Frage, ob das System der kritischen Philosophie vollständig sei oder nicht — bekanntlich war das schon zu Lebzeiten Kants umstritten (cf. ζ. Β. die Erklärung gegen Fichte, X I I 370 f.). Das gilt auch und vor allem für die Entstehung der kritischen Schriften und ihr Verhältnis zueinander. Oberflächlich betrachtet bilden sie ein systematisches Ganzes, das nach einem in den Grundzügen fertigen Plan allmählich ausgearbeitet worden ist; die historisch-philologische Untersuchung der Entwicklung des kantischen Denkens, die mit dem zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts einsetzt, hat jedoch andere Resultate zutage gefördert; man braucht nur die Einleitungen von Natorp und Windelband zur Edition der K p V und K d U (V 489 ff. bzw. 512 ff.) zu lesen, um sich davon zu überzeugen, daß beispielsweise der scheinbar so einleuchtend systematische Zusammenhang der drei Kritiken alles andere als ein a priori feststehendes Faktum und jedenfalls dem Autor der K r V selbst 1781 noch unbekannt war. All das ist bekannt und bedürfte kaum der Wiederholung, wenn sich nicht in der Kantliteratur das Vorurteil hartnäckig behauptete, die Kantinterpretation habe zuallererst systematisch zu sein. Erich Adickes hat diesen Standpunkt mit dem Titel seiner Dissertation „Kants Systematik als systembildender Faktor" 1 auf eine klassische Formel gebracht und in einer Reihe von Arbeiten zu seiner Verbreitung beigetragen. Seither ist es zwar notwendig und auch üblich geworden, der historisch-philologisch 1
Eridi Adickes, Kants Systematik als systembildender Faktor, Diss. Berlin 1887.
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Probleme der Interpretation des opus postumum
orientierten Betrachtungsweise Konzessionen zu machen2, nicht zuletzt dank der Herausgebertätigkeit von Adickes, durch die der handschriftliche Nachlaß Kants allgemein zugänglich geworden ist; von einer konsequenten Ausnutzung des vorliegenden Materials aber ist die Mehrzahl der Interpreten noch weit entfernt. Nun mag es hier dahingestellt bleiben, ob eine vorwiegend systematisch orientierte Interpretation der Druckwerke Kants zu brauchbaren Resultaten führt oder nicht; im Falle des o.p., das in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung unter Kants Werken einnimmt, erweist sich diese Methode jedoch als ein entscheidendes Hindernis bei dem Versuch, Kants Gedanken zu verstehen. Um diese Behauptung zu begründen, muß idi zunächst etwas weiter ausholen.
2. Die „opus postumum" betitelten Manuskripte3 Das unter der Bezeichnung „opus postumum" überlieferte Material kantischer Reflexionen umfaßt eine Reihe von sogenannten „Losen Blättern", einen Entwurf im Oktavformat („Oktaventwurf") und dreizehn Entwürfe auf Foliobogen. Diese Einteilung in verschiedene Entwürfe ergibt sich daraus, daß Kant die verschiedenen Bogen mit zwei Ausnahmen durch lateinische oder griechische Buchstaben sowie durch Ziffern bezeichnet hat; dadurch lassen sich mehrere Bogen äußerlich zu Einheiten zusammenfassen. Kant hat ferner mehrere Lose Blätter und (Oktavbzw. Folio-)Bogen durch Umschläge zu größeren Einheiten, den soge2
Beispielhaft formuliert w i r d diese nur scheinbar vermittelnde Haltung von Mathieu: Seine Methode wolle, wie er sagt, historisch und systematisch, zugleich sein. Das historisch-entwicklungsgeschichtliche Studium des kantischen Denkens sei eine Errungenschaft unseres Jahrhunderts, habe aber den Fehler, häufig bloß willkürlichen Rekonstruktionen zu dienen (!) oder sich in der Feststellung zu erschöpfen, bald habe K a n t dieses bald jenes gedacht; sie verkenne also den Umstand, daß die kantische Philosophie ein Organismus sei und es also die „coerenza sistematica" aufzudecken gelte (S. X I V fi.). Die ridi tige Interpretation müsse, einem Ausspruch Bergsons folgend, v o m Ganzen zu den Teilen fortschreiten, woraus er folgert: „II presente lavoro si vale, perciò, delle ricerche evolutive come di uno strumento necessario per l'organizzazione sistematica del materiale" ( X V ff.) (Vittorio Mathieu, L a filosofia trascendentale e l'opus postumum di K a n t , Turin o. J . Biblioteca di filosofia 1 2 ) .
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Ausführliche Darstellungen der Oberlieferungsgeschichte und der Beschaffenheit des Manuskripts findet man in Adickes' W e r k über das opus postumum, S. 1 — 1 5 4 und bei Lehmann, in der Einleitung zur Edition der Akademie, Bd. X X I I 7 5 1 ff. A u f diese beiden Quellen stützen sich auch die folgenden Ausführungen.
Die „opus postumum" betitelten Manuskripte
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nannten K o n voluten, vereinigt; es sind uns dreizehn solcher Kon volute überliefert, von denen das letzte gewöhnlich nicht dem o.p. zugerechnet wird, weil es eine „Umarbeit zum Streit der Fakultäten" enthält ( X X I I 776). Bedauerlicherweise sind uns weder die Blätter und Bogen noch die Konvolute in der Reihenfolge erhalten geblieben, die Kant ihnen gegeben hat. Denn das Manuskript hat während des 19. Jahrhunderts eine Odyssee in Privatbesitz durchgemacht, in deren Verlauf die ursprüngliche Ordnung, wie es zunächst schien, bis zur Unkenntlichkeit zerstört wurde. Verschiedene Benutzer haben nämlich den Konvoluten einzelne Bogen und Blätter entnommen und anschließend falsch eingeordnet. Das hat im einzelnen folgende Konsequenzen: von den insgesamt vierzehn Entwürfen sind nur sieben intakt geblieben, d. h. die Bogen dieser Entwürfe folgen in der richtigen Ordnung aufeinander; im Falle der übrigen sieben Entwürfe dagegen sind einzelne oder mehrere Bogen entnommen und auf zwei, drei oder sogar vier verschiedene Konvolute verteilt worden. D a nun die zuletzt genannte Gruppe erheblich umfangreichere Entwürfe enthält, so gilt von mehr als der H ä l f t e der kantischen Reflexionen, daß sie nicht in dem vom Autor intendierten Kontext überliefert sind. N o d i gravierender ist vielleicht der Umstand, daß dem Manuskriptmaterial in seiner überlieferten Form nicht unmittelbar zu entnehmen ist, in welcher Reihenfolge die dreizehn Konvolute einzuordnen sind, mit anderen Worten: der Leser weiß zunächst gar nicht, w o er in diesem äußerlidien Wirrwarr von Entwürfen, Skizzen und Notizen anfangen und wo er aufhören soll. In dieser chaotischen Form wurde das Werk der Kantforschung erstmals bekanntgemacht durch Rudolf Reicke, der das o.p., und zwar auch nur auszugsweise, zwischen 1882 und 1884 in der Altpreußischen Monatsschrift publizierte. Erst dreißig Jahre später, 1 9 1 6 , gelang es Erich Adickes, nach eingehendem Studium des Manuskripts die ursprüngliche Ordnung des Ganzen zu rekonstruieren. Erstens nämlich konnte Adickes mit H i l f e der kantischen Bogenzeichnungen nachweisen, welche Bogen zueinander gehören und als — zumindest äußerlich — einheitliche Entwürfe anzusehen sind; darüber hinaus machte er die relative und z. T. sogar die absolute Chronologie in der Reihenfolge der Losen Blätter und der einzelnen Entwürfe aufgrund verschiedener immanenter Kriterien so wahrscheinlich, daß seine Resultate, von geringfügigen Einzelheiten abgesehen, kaum zu bezweifeln sind. Daher wird die philologische Arbeit
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Probleme der Interpretation des opus postumum
von Adickes in der Literatur auch allgemein als grundlegend anerkannt, und ich schließe midi dieser Auffassung ohne weiteres an, d. h. idi werde midi ohne besondere Voruntersuchungen sowohl in der Darstellung als auch in der Reihenfolge der Zitate an der Chronologie orientieren, die Adickes erarbeitet und in seinem schon erwähnten Buch über das Opus postumum 1920 veröffentlicht hat4. Eine solche Orientierung ist audi heute noch erforderlich, weil die Akademie-Ausgabe, die einzige vollständige und philologisch zuverlässige Ausgabe des Opus postumum, das Manuskript diplomatisch getreu, d. h. in der historisch überlieferten und nicht in der von Adickes rekonstruierten ursprünglichen Anordnung, wiedergibt. Für jeden Benutzer des Werks ist es jedoch unerläßlich, die richtige Reihenfolge der Entwürfe zu kennen; sie ergibt sich aus der Ubersicht auf dieser und der nächsten Seite. Dazu ist zu bemerken: In der ersten Spalte habe ich die Bezeichnungen wiedergegeben, die in der Literatur üblich sind; von ihnen stammen nur diejenigen von Kant, die ich in Anführungszeichen gesetzt habe. Für die übrigen kantischen Entwurfsbezeichnungen und alle weiteren Angaben verweise ich auf die Tafel „Das Nachlaßwerk in chronologischer Anordnung", die dem Band X X I I der Akademie-Ausgabe als Anhang beigefügt ist und die auch die Basis für die hier gegebene Übersicht darstellt. Diese Tafel basiert ihrerseits auf der Arbeit von Adickes. — In der dritten Spalte meiner Ubersicht weiche ich an einigen Stellen von den Angaben dieser Tafel ab — dabei handelt es sich um geringfügige Korrekturen bzw. Ergänzungen; in der zweiten Spalte habe ich die chronologischen Angaben der Tafel lediglich verkürzt, die Abweichungen bedeuten also nicht eigene Datierungsvorschläge.
Entwurfsbezeichnung
vermutliche Entstehungszeit
AkademieAusgabe
23 Lose Blätter (IV. Konvolut) Oktaventwurf »A—C"
1786/7—1795 1796/7 5 1797/8
XXI XXI XXI
415—477 373—412 307-334
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Allerdings teile idi die A u f f a s s u n g v o n Adickes nicht, daß die ältesten achtzehn losen Blätter des I V . K v . „in keiner Beziehung zum Op.p. stehen" (a.a.O. S. 3 7 ) , worüber mehr im K o n t e x t ; auch sonst werde ich kleinere Abweichungen v o n Adickes ggf. notieren.
5
Z u dieser Abweichung v o n der T a f e l der A A cf. Adickes, a.a.O. S. 80 und S. 83.
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Die „opus postumum" betitelten Manuskripte
Entwurfsbezeichnung
vermutliche Entstehungszeit
AkademieAusgabe
,,α-ε"
1797/8
IV. Konvolut, Umschlag IV. Konvolut, 4 Lose Blätter II. Konvolut, 3. Bogen „a-c" „No. ι—No. 3η"
Mitte 1798 Mitte 1798 Mitte 1798 Mitte 1798 zweites Drittel 1 798
„ i " (V. Konvolut, 2. Bogen) „Elem.Syst. ι—7" „Farrago 1—4" „A/B Übergang" „A.Elem.Syst. 1—6"
zweites Drittel 1 798 letztes Quartal 1 798 1798/9 Anfang 1799 Frühjahr 1799
„Übergang 1—14"
Mitte 1799
XII. Konvolut, 10. Bogen „Redactio 1—3" Loses Blatt 8 (IV. Konvolut) X./XI. Konvolut
Mitte 1799 Mitte 1799 Mitte 1799 ι799—1800
VII. Konvolut X. Konvolut, 19. Bogen I. Konvolut I. Konvolut, Umschlag
1799—1800 ι799—1800 1800—1803 1803
XXII 20J-- 2 1 j XXI 247-—264 495"- 5 ° 4 J2I--528 XXI 337"-351 XXI 474--488 XXI 174-- 1 8 1 XXI 267--294 XXI 161--174 3J2--361 XXII246--267 216--226 XXI 361--369 528--535 294--307 XXI 504-- 5 1 2 X X I I 1 3 5 - -201 XXI 615--645 XXII226--246 XXI 1 8 1 --206 XXII 267--276 j 8 j - -609 XXI 206-- M 7 535"-612 512--520 XXII609--615 X X I I 5 5 6 - -585 XXI 488--492 XXII279--409 453""539 425- -452 XXII 3 -- 1 3 1 XXII409--421 XXI 9 --158 XXI 3 -- 9
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Probleme der Interpretation des opus postumum
3. Ein „Werk"? Die Rekonstruktion der Chronologie der Entwürfe des o.p. ist ein wertvoller, ja unentbehrlicher Leitfaden durch das Nachlaßwerk. Aber er reicht nicht hin, um sich auch nur ein erstes Textverständnis zu erarbeiten. Denn diese sogenannten Entwürfe lösen sich bei näherer Betrachtung in ein wahres Labyrinth von Formulierungsversuchen auf, die bestenfalls über einige Seiten hinweg einen kontinuierlichen Text, schlimmstenfalls ein Aggregat ständig neu ansetzender, ständig wieder abbrechender Reflexionen, Einzelsätze, Wortfetzen bieten, zumeist ohne Punkt und Komma niedergeschrieben, eine auf den ersten Blick unzusammenhängende Masse von Gedanken, die man, ohne Kant zu nahe zu treten, getrost als Sammelsurium oder — mit einer Entwurfsbezeichnung des o.p. — als „Farrago ante redactionem systematis" bezeichnen kann. So ist es nicht verwunderlich, daß das o.p. bisweilen pauschal als bloßes Senilitätsprodukt abgeurteilt wurde und selbst Johann Schulz, Kants Freund, der Meinung war, es sei f ü r eine Veröffentlichung gänzlich ungeeignet®. Dem geduldigeren Leser erschließen sich allerdings nach einigen Anfangsschwierigkeiten größere Themenkomplexe und Gedankenzusammenhänge, freilich nur, um ihn mit neuen Schwierigkeiten zu konfrontieren: In schier unerschöpflichen Wiederholungen handelt Kant immer und immer wieder dieselben Themen ab: Quantität, Qualität, Relation, Modalität, Wägbarkeit, Aggregatzustände, System der bewegenden Kräfte der Materie, Wärmestoff, Äther usw. Das ganze Unternehmen heißt zunächst „Ubergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik" — der Titel erscheint in den verschiedensten Fassungen 7 — , später unter anderem „Ubergang zur Grenze alles Wissens — Gott und die Welt", wobei Kant wiederholt versichert, daß mit H i l f e dieses Uberganges eine Lücke im System der kritischen Philosophie geschlossen werden solle, von der der Leser zunächst nicht einmal mutmaßen kann, w o sie zu finden sei. Denn abgesehen davon, daß 1786 von der Notwendigkeit eines besonderen Ubergangs zur Physik mit keinem Wort die Rede war, beschreibt Kant seine M A im o.p. in einer Weise, daß der Leser die β
7
X X I I 7 5 5 ; zur Gesdiidite der Beurteilung des ausführliche Einleitung, X X I I 7 5 1 ff., und auf Schrift, S. ι — 3 5 , verwiesen. C f . u . a . X X I 3 7 3 , 386 f., 40a f., 4 0 7 , 524 f. u. cf. X X I , 9, 9 ; 3 2 , 1 0 f . ; 3 4 , 1 0 ff.; 3 5 , 1 ff.; 38, 2 1
o.p. sei nochmals auf G . L e h m a n n s den ersten Teil der Adickes'schen ö.; für spätere Titelformulierungen ff. etc.
Ein „ W e r k " ?
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Schrift nicht mehr wiederzuerkennen vermag: dem o.p. zufolge sollen die M A nur von der Materie als Beweglichem im Räume, nicht aber von Materie, sofern sie bewegende K r a f t hat, gehandelt haben (cf. X X I 526, 1 4 f f . ; 478, I i ff.; 4 8 3 , 1 4 ft.; 2 8 9 , 1 8 ff.; weitere Belege: s.u.), eine Behauptung, die audi beim oberflächlichsten Leser der M A nur Kopf schütteln auslösen kann. Aus all dem ergibt sich, daß das o.p. eines nicht ist: ein „Werk" im üblichen Wortsinn. Aber was ist es denn nun? An Versuchen, diese Frage positiv zu beantworten und Struktur in das scheinbare Chaos zu bringen, fehlt es nicht. So hat Vaihinger (Archiv für Geschichte der Philosophie I V , 1889, 732 ff.; Die Philosophie des Als-Ob, 2. Aufl. 1 9 1 3 , 7 2 1 f.) ζ. B., ausgehend von der Tatsache, daß in gewissen Partien des o.p. im engeren Sinne naturphilosophische, in anderen dagegen eher erkenntnistheoretische Probleme im Vordergrund stehen, die Hypothese entwickelt, es handele sich bei dem Manuskript des o.p. um Vorarbeiten für zwei verschiedene Werke 8 . Bei Adickes, der das o.p. als erster gründlich durchgearbeitet hat, erscheint diese Hypothese in abgeschwächter Form (s. seine Inhaltsübersicht, a.a.O. S. I X , X V I ) : Er gliedert das o.p. in einen „vorwiegend naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen" und einen „metaphysisch-erkenntnistheoretischen Teil". In neuerer Zeit schließlich hat Mathieu einen groß angelegten Versuch unternommen, das „Werk", welches das o.p. einmal werden sollte, systematisch zu rekonstruieren (a.a.O. S. X I X f.). Z u Vaihinger und Adickes ist zu sagen: Es ist zwar richtig, daß sich das Schwergewicht gegen Ende des o.p. hin entschieden zugunsten erkenntnistheoretischer Probleme verlagert, aber es handelt sich doch nur um eine Akzentverschiebung. Denn schon in den frühesten Phasen des o.p. ist das erkenntnistheoretische Interesse", wie bei Kant nicht anders zu erwarten, deutlich erkennbar — es wird nur teilweise verdeckt durch die Arbeit an Detailproblemen der Materietheorie. Es ist also sachlich nicht zu rechtfertigen, wenn man das Material unter diesem Gesichtspunkt aufteilt und zwei verschiedenen geplanten Werken zuweist; beschränkt man sich aber auf eine grobe Sortierung à la Adickes, so hat man nichts als zwei Leerformeln, für die Strukturierung des o.p. ist nichts gewonnen. Mathieus Rekonstruierungsversuch 8
8
Diese Hypothese stammt allerdings aus einer Zeit, da nur ein Teil des Materials in der Altpreußisdien Monatsschrift publiziert worden w a r . C f . ζ. Β. einen der ältesten Belege, das L B l . 39/40 ( X X I 4 5 4 — 4 6 1 ) oder Reflexionen unter dem Titel „ M o d a l i t ä t " ( X X I 4 1 1 , 3 fi.).
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Probleme der Interpretation des opus postumum
schließlich leidet darunter, daß der Verfasser aus der Masse des Materials eine Auswahl treffen muß, die, wie er selbst zugibt (a.a.O. S. X I X ) , zwangsläufig willkürlich bleibt. Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt, der Problematik des systematischen Interpretationsansatzes überhaupt, angelangt.
4. Die Einheit des „opus postumum" Der Umstand, an dem diese drei und alle analogen Versuche, mit dem Material des o.p. unter systematischen Gesichtspunkten fertig zu werden, scheitern, ist die durchgängig asystematische Beschaffenheit der kantischen Reflexionen. Schon aus der oben wiedergegebenen, notgedrungen vorläufigen Beschreibung des o.p. ergibt sich, daß mit terminologischen Unklarheiten, Begriffsverschiebungen, Widersprüchen im Detail und im großen, mit systematischen Experimenten und Neuansätzen, mit dem Auftaudien völlig neuer Probleme zu rechnen ist — allein die Spannweite in der Titelformulierung des „Ubergangs" genügt als ein erster Beleg. Darüber hinaus braucht man sich nur an die terminologischen und sonstigen Interpretationsschwierigkeiten der Druckwerke Kants zu erinnern, um sich klarzumachen, daß die Interpretation bei der Erklärung der im o.p. zusammengefaßten Reflexionen noch weit behutsamer vorgehen muß, da hier eine kritische Revision und Redaktion durch den Autor fehlt. Und last not least darf der Interpret niemals vergessen, daß diese Reflexionen nicht ein und derselben Zeit entstammen, sondern in einem Zeitraum von gut 15 Jahren niedergeschrieben wurden: das älteste Blatt wurde kurz nach dem 2.12.1786 beschrieben, die letzten zusammenhängenden Partien des ersten Konvoluts datieren von 1800—1801. Rechnet man vom Oktaventwurf als eigentlichem Beginn des o.p. (1795—1796) an, so beanspruchte die Hauptarbeit am o.p. immerhin noch fünf bis sechs Jahre. Wenn man also vom o.p. als einem „Werk" spricht — und unter bestimmten Voraussetzungen kann man das durchaus tun —, so ist es nach dem Gesagten ausgeschlossen, darunter eine statische Einheit zu verstehen: Die verschiedenen Partien des o.p. sind nicht Teile eines horizontal nach einem bestimmten Prinzip oder, kantisch gesprochen, „nach einem Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird" (KrV Β 86o) gegliederten Werks.
Systematische Interpretation?
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Sie sind vielmehr Stationen eines Jahre währenden Reflexionsprozesses, der, wie noch zu zeigen sein wird, seine Gesetzmäßigkeiten hat, die aber nicht a priori ein für alle Mal festliegen und auch keinen systematisch bestimmten Rahmen abgeben, von dem aus die Teilprobleme erklärbar wären. K u r z : Die Einheit des o.p. ist nicht statisch, sondern dynamisch, konstituiert durch die Kontinuität der kantischen Reflexionen; so verstanden ist das o.p. in der T a t ein einziges Werk. Ich stimme in diesem Punkt mit Gerhard Lehmann überein, der das o.p. zuletzt (Kantstudien 54, 1963, 491 ff.) wie folgt charakterisiert hat: „Man wird indessen gut tun . . . , in diesem Bündel von Entwürfen ungleicher Thematik . . . ein um bestimmte Punkte kreisendes, doch auch wieder fortschreitendes Denken von zunächst gar nicht systematischer, sondern eben nur
genetisch-chronologischer
Einheit zu erblicken. Das Genetische ist dabei die Einheit des Denkprozesses . . . " (492) „Die Frage, ob es ein .Grundproblem* des Nachlaßwerks gibt, und welches das ist, stellt sich natürlich immer wieder von neuem und ist in der Literatur oft sehr entschieden beantwortet worden . . . Wichtig ist es, nochmals hervorzuheben, daß man den Inhalt des Nachlaßwerks nicht auf eine systematische Ebene projizieren kann, weil man sonst z u Widersprüchen gelangt. Es geht nur auf entwicklungsgeschichtlichem Wege, durch A u f z e i g u n g der .richtigen' Problemverknüpfung." (495) „Das ist in gewissem Sinne ein systematischer Zusammenhang, der aber nicht auf der H a n d liegt, sondern interpretiert werden muß . . . und der auch immer zuerst als genetischer aufzufassen ist, wobei man nicht die Fixierungen irgendeines Konvoluts als verbindlich ansehen kann, sondern nur den Weg von einer Fixierung zur nächsten rekonstruieren darf." (507)
y Unmöglichkeit einer systematisch orientierten Interpretation des „opus postumum" Wenn man diesen fundamentalen Tatbestand außer acht läßt — und das haben, cum grano salis, bisher alle Interpreten getan — , dann verfehlt man das o.p. schon im methodischen Ansatz. Allein die Zitierpraxis in der Literatur zum o.p. beweist das schlagend: Ohne Rücksicht auf den Kontext werden einzelne Sätze oder auch nur Wörter isoliert und als Beleg für gewisse — seien es aus früheren Werken Kants, seien es vom Interpreten stammende — systematische Thesen benutzt 10 , obwohl kei10
Idi greife willkürlich ein Beispiel heraus: Seine Ausführungen zum Thema „La giustificazione kantiana dell'Übergang" belegt Mathieu (S. n o ff.) mit Zitaten aus folgenden Entwürfen (in der Reihenfolge von Mathieu): N o . 1 — 3 η ; α — ε ; N o . 1 — 3 η; Χ / Χ Ι Κ ν . ; Farrago; A.Elem.Syst.; Bogen V 2; Χ / Χ Ι Κ ν . ; Χ / Χ Ι ; Elem.Syst.; N o . 1 — 3 η; Bogen II 3; N o . 1 — 3 η; Elem.Syst.; Χ / Χ Ι ; X Einl.; Χ / Χ Ι ; LBl. 7; a — c ; N o . ι — 3 η ; X / X I ; a — c ; N o . 1 — 3 η ; Υ ζ ; Farrago; a — c ; Farrago; a — c ; A.Elem.Syst.; X / X I ; N o . 1 — 3 η ; Farrago; Χ / Χ Ι ; I. Κ ν . ; A.Elem.Syst.; Obergang ι—14.
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Probleme der Interpretation des opus postumum
nerlei Gewähr dafür besteht, daß identische Formulierungen aus verschiedenen Phasen des o.p. tatsächlich dasselbe bedeuten und nicht bloße Homophonien sind. Wir haben an einem wichtigen Beispiel bereits gesehen, daß solche BedeutungsVerschiebungen stattfinden: Wenn Kant im o.p. von den M A behauptet, sie hätten nicht von Materie als Beweglichem im Raum gehandelt, sofern es bewegende K r a f t hat, dann ist es schlechterdings ausgeschlossen, daß er damit den Drucktext der Schrift von 1786 unmittelbar bezeichnet. Was er tatsächlich meint, ist nur aus dem Kontext des o.p. heraus zu erschließen. Ignoriert man das, so gerät man in ein hoffnungsloses Dilemma: Man muß nämlich einerseits zugeben, daß Kant den Tatbestand objektiv falsch wiedergibt (cf. Adickes, a.a.O. S. 162 Anm. 2; Lehmann, Das philosophische Grundproblem in Kants Nachlaßwerk, Blätter für deutsche Philosophie, 1 1 , 1 9 3 7 — 1 9 3 8 , S. 6 1 ; so auch noch Hoppe, Kants Theorie der Physik, S. 4), mithin, daß sich M A und o.p. in einem fundamentalen Punkt widersprechen. Und man muß andererseits, da man ja die Übergangskonzeption als systematische Grundlage des o.p. ernst nimmt, versuchen, die Vereinbarkeit von M A und o.p. nachzuweisen. Mit anderen Worten: der uninterpretierte Widerspruch zwischen M A und o.p. führt zu einem Widerspruch in der Interpretation selbst. Auf diesen für das Verständnis des o.p. zentralen Punkt werde idi unten noch ausführlich eingehen. Ebensowenig ist es nach dem Gesagten möglich, ganze Themenkreise oder Entwürfe aus dem vorgegebenen Zusammenhang herauszulösen und nach heterogenen, d. h. nicht dem o.p. entstammenden Prinzipien, neu zu ordnen (besonders augenfällig bei Adickes; cf. dazu Lehmanns Kritik, X X I I 7 7 1 ) . Und schließlich ist es aus denselben Gründen unzulässig, lediglich gewisse Partien des o.p. zu interpretieren, ohne ihre Voraussetzungen, die in früheren Phasen vorliegen, zu berücksichtigen und kritisch auszuwerten (so Lienhard, Lüpsen, Lachièze-Rey, Lehmann, de Vleeschauwer, Daval, Hübner, Albrecht). Jede von vorgegebenen systematischen Vorstellungen ausgehende Interpretation tut dem Text des o.p. zwangsläufig Gewalt an, läßt entscheidende Probleme unerklärt oder ignoriert Passagen, die nicht in den einmal gewählten Rahmen passen; kurz, sie führt am Text vorbei. Diese
allgemeinen
Bemerkungen
zur vorliegenden
o.p.-Interpretation
sind
not-
gedrungen sehr kritisch ausgefallen. Ich will damit keineswegs sagen, daß alles, w a s bisher geschrieben
worden
ist, wertlos sei. V o n
Arbeit, die Adickes, aber audi der Herausgeber
der unentbehrlichen
philologischen
der Akademie-Ausgabe,
Lehmann,
geleistet hat, w a r schon die Rede. Auch bei anderen Autoren findet man Einzelergeb-
„Historische" Interpretation des opus postumum
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nisse, die man gern übernehmen wird. Aber sie bleiben notgedrungen isoliert, weil bisher niemand versucht hat, das o.p. als Einheit im oben beschriebenen Sinne methodisch zu erfassen. — Das gilt auch für Hans-Georg Hoppe, den Autor der neuesten Interpretation des o.p. Ich stimme mit ihm zum Beispiel darin überein, daß nicht die Kritik der Urteilskraft, wie Lehmann annimmt, sondern die M A den Anknüpfungspunkt der kantischen Reflexionen im o.p. bilden. A b e r audi Hoppe begeht den Fehler, sowohl die M A als auch den sogenannten „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik" als ein für allemal vorgegebenen systematischen Rahmen anzunehmen, und verfehlt damit das o.p. an entscheidender Stelle.
6. „Historische"
Interpretation
des opus postumum
Wie aber gelangt man zum o.p. hin? Die Antwort ist im Prinzip bereits gegeben worden: Die Interpretation muß historisch sein, und zwar in zweifacher Weise. Erstens in dem Sinne, in dem man im 18. Jahrhundert „historische" der „rationalen" Erkenntnis entgegensetzte, d. h. die Interpretation muß beschreibend, deskriptiv sein und zunächst einmal den kantischen Reflexionen bis in all ihre Verzweigungen hinein folgend sich dem Text anschmiegen, um den Gedankengang Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Das impliziert u. a., daß man nicht mitten im o.p. anfangen kann, sondern sich von den ältesten Blättern aus zu den späteren Partien vorarbeiten muß. Zweitens muß die Interpretation historisch im modernen Wortsinne sein, d. h. sie hat die Resultate des deskriptiven Nachvollzugs der kantischen Reflexionen auf ihre historischen Voraussetzungen, die in früheren Arbeiten des kritischen K a n t und der Diskussionslage, in der sie sich befinden, zu suchen sind, zu beziehen. A u f der ersten deskriptiven Stufe will ich versuchen, der besonderen Beschaffenheit des Materials soweit wie möglich gerecht zu werden und damit zugleich die Chance zu nutzen, die in dieser besonderen Beschaffenheit begründet ist: die allmähliche Entstehung eines kantischen Werkes nicht nur erschließen zu müssen, sondern Schritt für Schritt nachzeichnen zu können — denn das o.p. ist ja nichts anderes als eine umfassende Dokumentation der Genese eines kantischen Werkes (das freilich niemals fertig wurde) oder, nach einem Vorschlag von Klaus Reich, ein wissenschaftliches Tagebuch. A u f der zweiten Stufe werde ich versuchen, die Resultate der ersten auszuwerten, um zumindest in Umrissen ein Bild von der Weiterentwicklung der theoretischen Philosophie Kants über den kritischen Standpunkt hinaus zu entwerfen. V o n da aus kann der Leser dann vielleicht beurteilen, ob es sich lohnt, die mühsame Lektüre des o.p. auf sich zu nehmen; mir will scheinen Ja, denn ich hoffe
14
Probleme der Interpretation des opus postumum
zu zeigen, daß Kants Denken auch in dieser späten Phase nicht dogmatisch erstarrt, sondern im Gegenteil zu teilweise erstaunlichen Revisionen älterer Position fähig ist; und ferner, daß Kant mit einem damals aktuellen, von den zeitgenössischen Naturwissenschaftlern heftig diskutierten Problem ringt: nämlich die mechanistische Auffassung der Körperwelt zu überwinden und zu einem neuen, auch die energetischen Phänomene umfassenden Verständnis von Materie zu gelangen.
II. Die frühesten Reflexionen des opus postumum und der Oktaventwurf (1786—1796/97) ι. Das Problem des Anfangs Die ältesten Stücke des o.p. sind 23 sogenannte Lose Blätter, die im 4. Konvolut überliefert sind. Von ihnen stehen 18 nach Adickes „in keiner Beziehung zum o.p." (a.a.O. S. 37) — was schon G. Lehmann zufolge bestenfalls „cum grano salis zu verstehen" ist ( X X I I 7 7 1 ) —, nur fünf sollen „Vorarbeiten zum o.p. aus dem Jahre 1795/96" enthalten. Zur Begründung dieser Einteilung bezieht sich Adickes (a.a.O. S. 38, Anm. 1 ; 5. 42, 44, 47/48, 49) ausschließlich auf den Umstand, daß der Titel des geplanten Werks, nämlich „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" auf den ältesten Blättern noch nicht erscheint. Im Widerspruch dazu muß Adickes jedoch an mehreren Stellen zugeben, daß die Reflexionen dieser Losen Blätter in wichtigen Punkten mit dem o.p. übereinstimmen (cf. a.a.O. S. 3 8 Anm. 2, S. 40, 46 und insbesondere S. 47/48): „Die Erstarrungstheorie des opus postumum, die sich auf den Blättern 26/32, 43/47, 3 1 , 38, 28 vorbereitete, liegt also schon 1795 in voller Ausbildung vor; doch wird auf den Plan dieses Werks noch nicht angespielt." (Cf. N f . II 1 3 2 , 1 3 5 ) Sdion die ältesten Blätter — nach No. 25, von der noch zu sprechen sein wird, ist No. 26/32 am frühesten datiert — „bereiten" also das o.p. vor, das heißt sie sind, der Adickesschen Einteilung zuwider, Vorarbeiten, die für die Interpretation des o.p. unentbehrlich sind. Ferner ist das Abgrenzungskriterium des Titels fragwürdig. Denn erstens ändert er sich, wie schon gesagt, im Verlauf der Arbeit am o.p. mehrfach, ist also abhängig von Kants Reflexionen und nicht umgekehrt diese von jenem; und zweitens setzt er in der Folge der Losen Blätter eine ganz äußerliche Zäsur: Die Thematik, die unter diesem Titel auf den späteren Nummern zur Diskussion steht, ist die gleiche wie vorher. Schließlich ist nicht zu vergessen, daß diese Blätter nicht zufällig zusammen mit den übrigen
16
Frühe Lose Blätter
im vierten Konvolut überliefert sind: Mit größter Wahrscheinlichkeit hat Kant selbst sie zusammen aufbewahrt, also als Bestandteil seiner Arbeit am o.p. angesehen, wozu er hinreichenden Grund hatte. Daher sehe ich die 23 Losen Blätter als kontinuierliche Folge an, werde sie entsprechend behandeln und hoffe zu zeigen, daß sie auch gedanklich zusammenhängen und mit den späteren Reflexionen des o.p. eine Einheit bilden. 2. Die ältesten Losen Blätter
Am 2. Dezember 1786 erschien in den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen" eine Rezension der MA, von der Kant eigenhändig einen Auszug angefertigt hat; es ist das älteste Stück des o.p. Allein dieses Faktum ist von nicht zu überschätzender Bedeutung und gibt dem Leser einen entscheidenden Wink, wo die Interpretation des o.p. anzusetzen hat; es ist jedoch — soweit ich sehe durchgängig — in der bisherigen Literatur ignoriert worden. Darüber hinaus ist diese Rezension audi inhaltlich interessant; denn sie ist eine der ganz seltenen kritischen Stellungnahmen von Zeitgenossen zu den MA, was angesichts der geradezu erschreckend geringen Resonanz, die das Werk fand, um so schwerer ins Gewicht fällt. Sie soll in den Kapiteln über die Rezeption der MA und die Phoronomiekritik ausgewertet werden. Auf der Rückseite desselben Blattes behandelt Kant die Probleme der Quantität der Materie, der Dichtigkeit, des Zusammenhanges, die auch auf den folgenden Blättern im Vordergrund stehen. Auch die übrigen Themen, die in den späteren Nummern auftauchen, stehen mit diesen Ausgangsfragen in engem sachlichem Zusammenhang; es sind dies vor allem die Probleme der Aggregatzustände der Materie, d. h. insbesondere die Theorie der Erstarrung ( X X I 4 1 7 , 17 ff.; 4 2 3 ; 424, 7 ff.; 427, 16 ff.; 428, 3 ff.; 4 3 1 f.; 433 f.; 440, 10 ff.; 441 f.; 4 5 2 f.; 465, 5 ff.; 466 f.; 468 ff.;) der Bildung von Körpern überhaupt ( X X I 425, 1 7 ; 4 5 2 f.; 465, 26 ff.;) der Durchdringung, Auflösung und Sdieidung von Materien ( X X I 424, 9 ff.; 428, 2; 429, ι f.; 4 3 1 , 29 ff.; 440, 10 ff.; 4 4 1 , 15 ff.; 443, 8 ff.; 453 f.; 465, 5 0 . 5 4 6 7 , 1 2 ff.;) des Moments der Geschwindigkeit (cf. zur Vorbereitung I V 551 f.; dann: X X I 426; 4 3 1 f.; 4 3 J ff.; 442, 4 ff.; 442, 10 ff.; 446 ff.; 463 f.; 46J, 21 ff.; 472 f.;) der Gravitation und der Schätzung der Quantität der Materie ( X X I 4 1 5 , 20 ff.; 4 1 7 , 21 ff.; 422,
14 ff.; 4 3 2 ; 433 f.; 436, 6 ff.; 4 4 1 ,
448 f.; 449 f.; 4 5 1 f.; 466, 3 ff.;)
5 ff.; 44$,
18 ff.; 446,
13 fr.:
Die ältesten Losen Blätter
17
und immer wieder die Probleme des Zusammenhangs (Kohäsion) ( X X I 4 1 5 , 20 ff.; 4 1 7 , 2 ff.; 423, 1 2 ff.; 424, 9 ff.; 425, 3 ff.; 427; 429, 15 ff.; 430; 4 3 1 , 24 ff.; 440, 10 ff.; 443 f.; 4$4, 10 ff.; 464, 17 ff.; 465, J ff.; 467, 26 ff.; 468, 16 ff.; 472 f.) und der Dichtigkeit ( X X I 41 j , 20 ff.; 425, 3 f.; 427, 26 ff.; 428, 20 ff.; 429, i f f . ; 446, 450 f.)
Aus dieser Aufzählung der wichtigsten Gegenstände ergibt sich schon das Zentrum, um das Kants Reflexionen auf diesen Losen Blättern kreisen: die Theorie der Materie. Wie bei Kant nicht anders zu erwarten, sind die Begriffe von bewegenden Kräften, von Anziehung und Zurückstoßung, von großer Bedeutung. Aber, für den mit der dynamischen Materietheorie von 1786 vertrauten Leser etwas überraschend, stehen nicht sie, sondern zwei andere Begriffe, die in den M A — um mit der Vorrede zur kantischen Rechtslehre zu reden — „in die Anmerkungen gekommen" waren (cf. dazu z . B . I V 532, i f f . ; 563, 39 ff.), im Mittelpunkt von Kants Interesse: Äther und Wärmestoff (bzw. Feuer) (cf. dazu X X I 4 1 7 , 1 8 ff.; 4 1 8 , i f f . ; 423 f.; 428; 4 4 4 , 4 5 2 ; 466 f.; 468 f.). Und zwar führen die Überlegungen zum Thema Zusammenhang und den davon abhängigen Fragen der Aggregatzustände, der Körperbildung und der Dichtigkeit mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer wieder auf diesen Mittelpunkt hin: den Zusammenhang (Kohäsion) erklärt Kant nunmehr als nicht ursprüngliche, sondern aus äußeren Stößen bzw. Erschütterungen des Äthers abgeleitete Anziehung, die schon in diesem frühen Stadium des o.p. gelegentlich als Ursache „aller anderen Bildungen" bzw. aller „Bildung der Körper" (424, 5 f.; 425, 17 ff.) bezeichnet werden. Dementsprechend wird auch die Erstarrung, d. h. der Ubergang der Materie aus dem flüssigen in den festen Aggregatszustand, auf solche Erschütterungen und durch sie (in Verbindung mit der Wärmematerie) bewirkte Veränderungen („Faserbildung", Entstehung einer gewissen „Textur") zurückgeführt. Ferner werden die spezifisch verschiedenen Dichtigkeiten der Materien als Resultat unterschiedlicher Kohäsion und damit ebenfalls als Folge der (Äther-)Erschütterungen aufgefaßt und schließlich wird sogar die Elastizität, zunächst allerdings nur der Luft, ebenso wie der Zusammenhang aus der lebendigen K r a f t der Erschütterungen der Wärmematerie erklärt (467, 26—468,5). Das Verhältnis zwischen Äther und Wärmestoff bleibt allerdings unklar — bisweilen erscheinen beide mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattet, und zwar der Äther als der die übrigen Materien äußerlich erschütternde, die Wärme dagegen als der sie durchdringende Stoff, der
18
Frühe Lose Blätter
durch seinen Ein- bzw. Austritt (wiederum veranlaßt durch Äthererschütterungen) den Ubergang aus einem Aggregatszustand in den anderen bewirkt; bisweilen aber auch werden beide anscheinend miteinander identifiziert, so daß die Wärme nur als Modifikation des Äthers aufgefaßt wird. Doch ist auf diese Details kein Gewicht zu legen, da Kant hier noch völlig frei experimentiert. Entscheidend ist, daß sich auf diesen Blättern die Entstehung einer Materietheorie abzeichnet, die sich strukturell von der in den M A publizierten unterscheidet. Bestätigt wird dieser Eindruck durch eine Konsequenz, die Kant aus der Erschütterungstheorie zieht; da diese auf der Vorstellung, daß alle Materien für den Äther- oder Wärmestoff durchdringlich sind, beruht, entfällt die f ü r die M A konstitutive These, daß die Materie prinzipiell undurchdringlich sei: „Die Undurchdringlichkeit
der Materie beruht nur darauf, daß ihr
Widerstand
bei der Kondensation zunimmt und, um sie in einem Punkt zu kondensieren, eine unendliche K r a f t erfordert würde. D a ß , wenn ein K ö r p e r durch zwei gleiche bewegende K r ä f t e in derselben geraden Linie in entgegengesetzter Richtung getrieben wird, er sich nicht nach beiden Seiten zugleich bewegen werde, beruht auf dem Satze des W i d e r spruchs, weil es sich widerspricht, daß ein D i n g von sich selbst entfernt sei, aber es ist kein Widerspruch, wenn ein anderes mit ihm einerlei O r t hat, d. h. ihn penetriert. A l s o die durchdringende Verbindung der Materien in Vereinigung mit ihren expansiven Kräften und die Verschiedenheit der Proportionen jener Anziehung mit dieser R e p u l sion können eine unendlidie Mannigfaltigkeit selbst der Qualität nachgeben."
(441,
15-26)
In dieser Passage widerspricht K a n t bewußt seiner oft zitierten Polemik gegen „Lambert und andere", in der er selbst behauptet, daß es sich widerspreche anzunehmen, zwei Dinge könnten ein und denselben Raum einnehmen (cf. I V 497 f.). Er gibt also die fundamentale Position der M A ausdrücklich auf. Auch f ü r den Komplex Gravitation—Schätzung der Quantität der Materie—Substantialität 1 zeichnet sich — wiederum nach anfänglichem Zögern — eine nicht unerhebliche Änderung des kantischen Standpunktes ab: Die Quantität der Materie ist f ü r Kant nicht mehr, wie 1786, eine extensive, sondern eine intensive Größe, und er versucht dementspre1
Der Sadie nach ist der Zusammenhang dieser mit den oben beschriebenen Ä n d e r u n gen natürlich unmittelbar einleuchtend: Schätzung der Quantität der Materie setzt Existenz von Körpern voraus; eine neue Theorie der Körperbildung beeinflußt also audi die Theorie jener Schätzung. Analoges gilt f ü r den Begriff v o n materieller Substanz. Allerdings w i r d dieser sachliche Zusammenhang hier noch nicht explizit; das geschieht erst in späteren Reflexionsphasen des o.p.
19
Die ältesten Losen Blätter
chend, den Massenbegriff ebenfalls intensiv aufzufassen (s. die o. a. Belege). Auf das Momentproblem schließlich möchte ich erst bei Besprechung des Ok. im zweiten Kapitel eingehen, weil es erst dort eine annähernd abschließende Fassung erhält. Zuvor ist jedoch noch ein weiterer Aspekt zu behandeln. Auf den zur Debatte stehenden Losen Blättern finden sich nämlich zwei Passagen ( X X I 440 f. und 454—461), die im engeren Sinne metaphysische oder erkenntniskritische Ausführungen enthalten, auf die also das Adickes'sche Verdikt, sie stünden zum o.p. in keinerlei Beziehung, mit größerem Recht zuzutreffen scheint2. Dementsprechend bemerkt Adickes auch zur zweiten Stelle lakonisch: „Eine Beziehung auf das o.p. liegt nicht v o r " (a.a.O. S. 48). Ich sehe mich auch hier genötigt zu widersprechen; meines Erachtens liegt in beiden Fällen eine, und zwar eminent wichtige, Beziehung zum o.p. vor: Die beiden Stellen belegen nämlich erstens, daß schon im Frühstadium des o.p. die — wenn auch sehr ausgedehnte — Beschäftigung mit naturphilosophischen oder physikalischen Themen nicht Selbstzweck, sondern für Kant im Zusammenhang mit seiner kritischen Theorie der Erkenntnis a priori von Interesse w a r ; sie belegen zweitens, daß systematische Überlegungen im allgemeinen für Kant erst eine Rolle zu spielen begannen, als sich seine neue Materieauffassung in ihren Umrissen bereits abzeichnete; und eo ipso belegen sie drittens, wie es zur Übergangsproblematik und zur Unterwerfung der o. a. naturphilosophischen Themen unter das Kategorienschema im besonderen gekommen ist. Das läßt sich aus dem Kontext der Losen Blätter, aus dem man diese Reflexionen nicht herauslösen darf, wenn man sie verstehen will, begründen; dazu einige Passagen aus dem Losen Blatt 29. Die erste Passage beginnt unter dem Titel „Metaphysik" mit einer Kritik am Schluß auf „das Dasein eines Dinges außer der Welt"; es folgt ein Absatz, „Idealism" überschrieben, der so lautet: „ I m T r a u m sind die Objekte, die uns erscheinen könnten, nicht da, es sind also die Vorstellungen nicht Erscheinungen, sondern Einbildungen. A b e r in unserer Theorie ist dasjenige, w a s uns als K ö r p e r erscheint, wirklich und die Ursache unserer Vorstellungen, nur daß diese Vorstellungen
bloße Erscheinungen,
im Traum
aber
bloßer
Schein sind . . . die freie Anziehung und Zurückstoßung ist in Proportion der Quantität der Substanz, d. i. des Moments der Tenazität, multipliziert mit dem Volumen . . 2
Beide Passagen sind auch v o n Adickes aus dem o.p. herausgelöst und im Metaphysiknadilaß X V I I I 30J und 659—665 abgedruckt worden. — Im übrigen sehe ich hier von den Stellen ab, die, wie z . B . die Vorarbeiten für die K p V , X X I 416 und 4 1 9 ff. ganz eindeutig nur deswegen ins o.p. hineingeraten sind, weil K a n t die betreifenden Blätter noch für andere, ins o.p. gehörige, Reflexionen benutzt hat.
20
Frühe Lose Blätter
Ist es wirklich so weit hergeholt anzunehmen, daß Kant während der Reflexion über Probleme der Körperbildung, der Substantialität der Materie (der Terminus „Substanz" erscheint hier zum ersten Mal im o.p.) im Rahmen einer Theorie, die über „alle Bildungen" der Körperwelt (424, 3 ff.; 425, 17 ff.) und das „ganze System von jeder Materie" (425, 13 f.) etwas aussagen will, auf das Idealismusproblem und die Frage stößt „Wie können wir aber aus Eigenschaften der Dinge, die wir in der Welt kennen, und nach Gesetzen des Zusammenhanges, den die Dinge in der Welt haben, auf etwas schließen, was andere Eigenschaften hat und nach anderen Gesetzen handelt?" (440, 20 bis 23)? Ferner: Nachdem das Stichwort „Substanz" erstmals gefallen ist, beschäftigt sich Kant ausgiebig mit den Problemen der Schätzung, der Masse und der Substantialität von Materie (442 f.); auf dem übernächsten Blatt, im Anschluß an Reflexionen über den Größenbegriff, bezogen auf Materie, notiert er: „also
die Kategorien
Qualität, der Relation
(die physischen)
der Materie
überhaupt,
(der Substanz) und der Modalität
Größe,
der
(des leeren, vollen
der
und
schlechthin inkompressiblen Raumes der epikurisdien A t o m e n ) . " (445, 2 6 — 2 9 ) .
Audi auf den folgenden Blättern läßt ihn die Frage, wie der Größenbegriff auf Materie angewandt werden könne, nicht los; vgl. 446, 13 bis 2 1 ; 447, 6—9; 447, 10—19; Z. 20—22; 448, J — 4 5 1 , 28. Und 454, 21 f. beginnt dann schließlich die von Adickes als „rein metaphysisch" bezeichnete und vom o.p. ausgeschlossene Erörterung des Größenbegriffs, die sich von S. 457 an zu einer Erörterung der Kategorien überhaupt ausweitet. Diese kontinuierliche Folge von Reflexionen zeigt meines Erachtens schlagend, daß die scheinbar „rein metaphysische" Darstellung der Kategorien sich zwingend aus den Überlegungen zur Materietheorie ergeben hat: ausgehend von der Frage, wie die Schätzung der Quantität der Materie anzustellen sei, stößt Kant erstmals im o.p. auf das Problem der Anwendung der Kategorien auf Materie überhaupt (s. o. den Beleg 445, 26 ff.) und der des Größenbegriffs im besonderen. Um sich darüber Klarheit zu verschaffen, unterbricht Kant die Erörterung der Detailprobleme und untersucht die methodischen Voraussetzungen solcher Erörterungen. Diesen und keinen anderen Sinn haben die fraglichen Reflexionen über die Kategorien; sie sind also nicht als „reine" oder isolierte Überlegungen zur Metaphysik überhaupt zu verstehen, sondern sie sind ausdrücklich bezogen auf den Kontext, in dem sie stehen. Das bestätigen zwei überaus wichtige Bemerkungen Kants;
Die ältesten Losen Blätter
21
unter dem Titel „Begriff der Qualität" heißt es: Einteilung. Realität, Negation und Limitation. (Möglichkeit der Dynamik.)"
(457, 21 f.)
Und unter „Relation": „Sie ist die reale Beziehung eines Dinges auf etwas anderes, was entweder sein eigenes Prädikat oder an andern Dingen ist . . . jene ist die innere, dieses die äußere Relation. Eine reale Beziehung wird der bloß formalen entgegen gesetzt, da jene eine Beziehung der Realität auf andere Realität ist (Möglichkeit der Physik). Alles als demonstrable Wissenschaft aus Prinzipien a priori." (457, 2$—458, 4)
Hieraus ergeben sich weitere Konsequenzen: erstens wird die ganze Spannweite der kantischen Überlegungen gleich zu Beginn der Arbeit am o.p. sichtbar: „Möglichkeit der Dynamik" bzw. „Möglichkeit der Physik", das sind die großen Themen, mit deren Lösung Kant bis in die spätesten Konvolute hinein ringt3. Zweitens zeigt sich hier, daß Kant sich über den systematischen Ort seines Unternehmens völlig im klaren ist, und zwar interessanter Weise bevor er den nicht nur nicht klärenden, sondern die Verhältnisse eher vernebelnden Terminus des „Ubergangs" ins Spiel bringt: es geht um eine Begründung der Möglichkeit der Physik aus Prinzipien a priori, mit anderen Worten um eine metaphysische Körperlehre oder Metaphysik der körperlichen Natur. Die Folgen, die sich aus diesem Sachverhalt für die M A — die dodi die metaphysische Körperlehre vollständig erschöpft haben sollten — ergeben, werden noch zu erörtern sein. — Entsprechend heißt es kurz darauf : „Auf die transzendentale Philosophie oder die Wesenlehre folgt die Physiologie (metaphysische) von Gegenständen der Erfahrung nadi Prinzipien a priori. Körperlehre und Seelenlehre. Auf sie Kosmologie und Theologie." (458, 29—31).
Drittens: die Kategorien sind zwar einerseits methodische Hilfsmittel zur Lösung von Problemen der Theorie der Materie bzw. der Be3
Adickes' Kommentar zu dieser Stelle ist mir unverständlich: „Hätte Kant hier der Gedanke der geplanten Wissenschaft vom „Übergange von den M.A.d.N. zur Physik vorgeschwebt, so würde er sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf S. I I I der folgenden Einteilung ausdrücklich erwähnt haben . . . (hier folgt bei Adickes die Passage X X I 4 5 8 , 2 9 — 3 1 ) " · Der Befund des o.p. verlangt genau den umgekehrten Schluß: Die Logik der Sache konfrontiert Kant zunächst mit der eigentlichen — und wie sich dann erweist: für die kritische Erkenntnistheorie fundamentalen — Problematik der Möglichkeit der Dynamik bzw. der Physik; der Titel „Übergang" erscheint auf dem nächsten Blatt, Nummer 36 ( X X I 463), und zwar ohne irgendwelche Reflexionen über seine systematisdie Bedeutung, was nur unterstreicht, daß er ein Verlegenheitsein ad-hoc- bzw. ein Arbeitstitel ist. Folglich ist nicht der sogenannte „Übergang" primär, sondern das o.p. und seine Thematik; der Übergang ist eine bloß sekundäre systematische Hilfskonstruktion.
22
Frühe Lose Blätter
gründung a priori der Möglichkeit von Dynamik und Physik. Anderseits aber werden sie jedenfalls als schematisierte Kategorien eo ipso selbst zum Gegenstand der Untersuchung bzw. zum Problem, da sich erst an ihrer methodischen Tauglichkeit für die Begründung a priori der Physik erweisen kann, ob sie selbst für die Erkenntnis a priori der Natur objektive Realität besitzen. Auch das wird von Kant unmißverständlich formuliert: „ D a s Objekt überhaupt: erstens der Form der Anschauung nach ohne ein E t w a s , was diese Form enthält (Raum und Zeit). Zweitens das Objekt als E t w a s ,
aliquid
est objectum qualificatum, ist die Besetzung des Raumes und der Zeit, ohne die beide leere Anschauungen sind. Dieses E t w a s ist in der zweiten Klasse der Kategorien in den R a u m und die Zeit gesetzt. Drittens dieses Reale im R a u m und der Zeit nach Verhältnissen desselben bestimmt oder für die Verhältnisse in den selben a priori gedacht. Viertens E t w a s als Gegenstand eines empirischen Bewußtseins (des Unmittelbaren) eines Dinges außer mir. Gegen den Idealism. Also E t w a s als Objekt der Sinne, nicht bloß, der Einbildung." (458, 1 9 — 2 8 ) „ V o n der Mannigfaltigkeit der Dinge nach allen vereinigten Kategorien, sofern die Begriffe v o n ihnen objektive Realität haben sollen. E . g. Größe (transzendentale Definition, zweitens metaphysische)." (460, 1 — 4 ) .
Die Kategorien als Begriffe von einem „Objekt überhaupt" und dieses als „ E t w a s " , als „Besetzung des Raumes und der Zeit, ohne die beide leere Anschauungen sind" (458, 19 f.) — diese Formeln bezeichnen vielleicht am besten, welches Interesse Kant an der im o.p. begonnenen „Physiologie von Gegenständen der Erfahrung nach Prinzipien a priori" (458, 29 f.) haben mußte und, ausweislich der vorliegenden Reflexionen, auch gehabt hat. Nicht mehr und nicht weniger als die Anwendbarkeit der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori — methodisch auf die Begründung der Physik, „ontologisch" auf die Gegenstände bzw. den Gegenstand äußerer Erfahrung — stand auf dem Spiel. Abschließend ist zu bemerken, daß das hier besprochene Blatt N o . 39/ 40 zusammen mit den vorausgehenden älteren Nummern beinahe alle in den späteren Phasen des o.p. behandelten Themen bereits berührt — mit Ausnahme der Probleme der „rechtlich-praktischen Vernunft und ihrer bewegenden K r ä f t e " (sie tauchen erst im V I I . Konvolut auf), aber unter Einschluß der Idee einer neuen transzendentalen Kosmologie und Theologie. Das Blatt 39/40 steckt also den systematischen Rahmen, innerhalb dessen Kant sich dann im späteren o.p. bewegt, fast vollständig ab, und es ist nicht ohne Ironie zu konstatieren, daß die systematisch orientierten Interpreten von Adickes bis Mathieu gerade diesen authentischen systematischen Plan ignoriert haben.
Der O k t a v e n t w u r f
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Freilich darf man diese Systematik auch nicht überstrapazieren. Es kann nämlich nicht davon die Rede sein, daß Kant seine Arbeit diesem Plane entsprechend systematisch entwickelt; im Gegenteil: er experimentiert in seinen Reflexionen völlig frei, zunächst vorwiegend an Detailproblemen der Materietheorie, später zunehmend an Problemen, die mit seiner Theorie der Erkenntnis a priori unmittelbar zusammenhängen. Aber selbst in den frühen Phasen des o.p. verliert er über solchen Detailproblemen den hier abgesteckten Rahmen niemals völlig aus den Augen; und als eine Folie und Orientierungshorizont, der den Zielpunkt und damit auch das Movens von Kants Denken angibt, ist er audi für den Interpreten unentbehrlich. — Da die noch nicht besprochenen Blätter 36, 22, 24 und 46 (Nr. 6, von Adickes ebenfalls vor dem Ok. datiert, ist meines Erachtens später) nichts grundsätzlich Neues mehr bieten, gehe ich sogleich zum Ok. über, in dem Kant ein vorläufiges Fazit aus seinen Reflexionen über die Materietheorie zu ziehen versucht.
j. Der
Oktaventwurf
Was oben allgemein von den Entwürfen des o.p. gesagt wurde, gilt auch für den Oktaventwurf: er ist kein in sich geschlossener, eine einheitliche Konzeption durchführender Entwurf, der bloß redaktioneller Änderungen bedürfte, um eine druckfertige Schrift zu ergeben, sondern eine Farrago ante redactionem systematis, eine Ansammlung von Reflexionen zu verschiedenen Themen, deren innere Struktur und systematische Beziehung zueinander sich gerade erst herauszubilden beginnt. Dementsprechend finden sich Unsicherheiten in der Terminologie und in der Sache, Neuansätze und Experimente; wenn man also im Zusammenhang mit dem Oktaventwurf oder dem o.p. überhaupt von einer Theorie spricht, so ist das bestenfalls ein Abstraktum aus einem Reflexionsprozeß, der zu keinem endgültigen Abschluß geführt hat. Unter diesem Vorbehalt sind auch die folgenden Erörterungen zu verstehen. Unbeschadet dessen stellt der Ok. einen deutlichen Fortschritt über die eben gesprochenen Vorarbeiten dar. Denn einmal haben sich Kants Überlegungen zu den verschiedenen naturphilosophisch-physikalischen Detailproblemen soweit entwickelt, daß sie sich zu einer relativ geschlossenen Materietheorie verdichten. Zum anderen haben Kants Reflexionen über das Verhältnis der Kategorien zu den Materieproblemen, die auf dem Losen Blatt 39/40 überliefert sind, dazu geführt, daß er nunmehr daran
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Frühe Lose Blätter
gehen kann, die verschiedenen Teilgebiete dieser Materietheorie nach dem Kategorienschema zu gruppieren und zu ordnen oder, um mit der MAVorrede zu sprechen, den „Begriff der Materie . . . durch alle vier genannten Funktionen der Verstandesbegriffe" (IV 476, 7 f.) durchzuführen. Ja, er entwirft sogar bereits eine Vorrede, in der er das systematische Verhältnis seiner neuen Theorie zu der in den M A vorgelegten zu klären und sein neues Unternehmen als „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" zu rechtfertigen versucht4. Der Versuchscharakter dieser Systematisierung ergibt sich schon daraus, daß es von einer embryonalen Vorform ( X X I 388) abgesehen, drei verschiedene Fassungen gibt. Ferner dauert es nodi einige Zeit, bis die einzelnen Detailaspekte der Materietheorie ihren festen Platz im Kategorienschema bekommen: so wird beispielsweise das Problem der Aggregatzustände (das Gegensatzpaar „flüssig"/„fest") in den ersten beiden Fassungen sowohl unter „Qualität" als auch unter „Relation" subsumiert, in der dritten erscheinen sie unter „Qualität" allein und verbleiben dort auch weiterhin, während andere Detailthemen später noch ihren Platz wechseln5. Und schließlich sind diese Stoffsammlungen unter dem Kategorienschema, die erst auf den letzten Bogen des Ok. notiert sind, nur in Stichwörtern formuliert und allein im Zusammenhang mit den Reflexionen der früheren Bogen zu verstehen, auf denen sich Kant noch völlig frei, d. h. ohne Bindung an ein Systemschema, bewegt. Im ganzen bietet die Materietheorie im Ok. etwa folgendes Bild: Ausgangspunkt der kantischen Überlegungen ist, wie schon in den Vorarbeiten, das Thema Zusammenhang (Kohäsion). Wie dort nimmt es auch hier unter allen Detailproblemen den größten Raum ein (cf. X X I 373 f.; 376 f. pass.; 378, 15 ff.; 379 f.; 381, j f.; 384 pass.; 387, i j ff. 389, i f f . ; 390—397 pass.; 403, 27 ff.; 404, 8 ff.; 406, 8 ff.; 409, 24 ff.; 410, 23 ff.; 4 1 1 , 16 ff.). Das ist sadilich nidit verwunderlich, handelt es sich doch hier um das „schwer aufzuschließende(n) Naturgeheimnis(se), auf welche Art die Materie ihrer eigenen ausdehnenden Kraft Schranken setze . . ( s o die MA, IV 564, 26 f.). Demgemäß resümiert Kant die den Ok. einleitenden Reflexionen zum Thema Dichtigkeit und Kohäsion folgendermaßen : 4
Diese Vorredeentwürfe des O k . sind nur verständlich, wenn man zuvor Kants neue Materietheorie mit der älteren vergleicht. D a h e r werde ich diese Vorredeentwürfe erst im 4. Kapitel besprechen.
5
C f . dazu Adickes, a.a.O. S. 82 f. und passim, der die systematischen Verschiebungen für jedes Detail minutiös verfolgt und notiert.
Der Oktaventwurf
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„Zusammenhang ist also das erste, was Erklärungsgründe bedarf (Drude des Äthers durch die Schwere), und ursprünglicher Untersdiied der Dichtigkeit, die daraus entspringt, die Folge davon. Das zweite ist Flüssigkeit, das ist die freie Beweglichkeit einer Materie in einem dichten Medio, uneraditet des Zusammenhanges der Teile des letzteren. Denn ohne diese können Körper sich nicht durchdringen." ( X X I 374, 1—6) W e s h a l b K a n t sich, v o m Problem des Zusammenhangs
ausgehend,
genötigt sieht, eine Materietheorie zu entwickeln, in deren
Zentrum
der Begriff des Ä t h e r s oder W ä r m e s t o f f s steht, lehren die A u s f ü h r u n g e n z u m Momentproblem, die hier im O k . , im Unterschied zu den
Vor-
arbeiten, v o l l entfaltet w e r d e n : „Da die Kraft des Zusammenhanges fester Körper endlich ist, so muß die Ditte des angezogenen Sdieibdiens unendlich klein sein, denn sonst würde ein solcher Körper ohne Draht gar nicht zerrissen werden können. Folglich geht die Anziehung gar nicht über die berührte Fläche hinaus . . . Es (sc. der Zusammenhang einer frei schwebenden Wassermasse) kann also nicht durch tote, sondern nur lebendige Kraft (Stoß) geschehen" (389, 1 - 1 1 ) . „Es ist nun die Frage, ob das Moment der Anziehung einer unendlich kleinen Entfernung, das ist in der Berührung, welche alsdann eine bloße Flächenkraft ist, nicht eine endliche Geschwindigkeit enthalte. Ein Moment von endlicher Geschwindigkeit würde in einer nodi so kleinen Zeit bei der jener Anziehung gleichen Trennung eine unendliche Geschwindigkeit geben, und wenn z. B. ein hölzerner Stab oder eiserner Draht, dessen Teile nur in der Berührung einander anziehen, durch angehängtes Gewicht risse, (so würde) die Zusammendrüdsung dieser Materie durch ihre eigene innere Anziehung sich in eine Explosion von grenzenloser Geschwindigkeit verwandeln. — Da dieses nun unmöglich ist, so kann der Zusammenhang der Materien, dessen Moment der Akzeleration gegen das der Gravitation unendlich ist, nicht auf der inneren Kraft der Anziehung der Materien beruhen, zumal die Dicke der Platte (der Vergoldung) keine geringere Anziehung verursacht." (406, 8—21) D a s erste Z i t a t setzt unausgesprochen die Überlegung voraus, daß die K r a f t des Zusammenhangs w e d e r unendlich klein noch unendlich groß sein k a n n ; denn im ersten F a l l w ä r e ihr jede endliche K r a f t , z. B . die Repulsion, überlegen, mithin w ä r e Z u s a m m e n h a n g überhaupt unmöglich, im zweiten F a l l dagegen w ä r e sie selbst jeder K r a f t überlegen, mithin w ä r e die A u f h e b u n g des Zusammenhangs (z. B . durch Zerreißen) u n m ö g lich; also muß die K r a f t des Zusammenhangs endlich sein, w i e im ersten Z i t a t angenommen w i r d . D a r a u s folgert K a n t , w i e aus dem Z i t a t ersichtlich, daß der Z u s a m m e n h a n g nur die endliche K r a f t eines unendlich kleinen Materiequantums, das heißt eine endliche Flächenkraft sein könne. Andererseits ergibt sich aus dem zweiten Z i t a t , daß das M o m e n t der A n ziehung des Zusammenhangs nicht endlich sein kann, weil dieses endliche M o m e n t bei A u f h e b u n g des Zusammenhangs in endlicher Z e i t eine un-
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endliche Geschwindigkeit erzeugen würde, die unmöglich ist. Da nun die Überlegungen von 389, i f f . nach wie vor gültig sind, d.h. die Kraft des Zusammenhangs endlich sein muß (406, 1 7 f f . : „Der Zusammenhang der Materien, dessen Moment der Akzeleration gegen das der Gravitation unendlich ist"), steht man vor einem Dilemma: Die Kraft des Zusammenhangs muß, das Moment der Anziehung des Zusammenhangs darf nicht endlich sein. Hieraus zieht Kant den einzig möglichen Schluß: der Zusammenhang kann „nicht auf der inneren Kraft der Anziehung der Materie beruhen"; m. a. W. der Zusammenhang ist gar keine wahre innere Anziehung, er muß also eine andere und zwar eine äußere Ursache haben, aus deren „lebendiger Kraft" der Erschütterung die scheinbare Anziehung des Zusammenhangs abgeleitet und begriffen werden kann. Aus dieser Erklärung des Zusammenhangs soll dann die gesamte Theorie entwickelt werden; im einzelnen denkt Kant sich das etwa folgendermaßen (cf. X X I 374 f.): im Ursprungszustand ist die Materie flüssig und ist „in einem dichten Medio" frei beweglich, d. h. sie widersteht noch nicht der Verschiebung. Dazu kommt es erst auf der nächsten Stufe, bei Bildung physischer, und zwar sowohl flüssiger (cf. 382, 19 f.) wie fester Körper, indem die „dichteren" Materien durch die Erschütterungen der „leichtesten" (374, 29) zur Bildung bestimmter Figuren (ζ. B. der Kugelgestalt in Tropfen) oder Texturen (ζ. B. Fasern oder Blättchen, d. h. Kristallisationsformen in der Erstarrung) genötigt werden (cf. 374, 1 6 - 3 7 5 , 8). Ein wenig deutlicher werden diese Grundzüge in dem Abschnitt 378, 7—379, 6 dargestellt: Ausgangspunkt ist die Idee einer ursprünglichexpansiven, den Weltraum erfüllenden Materie, des Äthers; er ist kein Gegenstand der Erfahrung, muß aber dennoch angenommen werden, weil ohne ihn Zusammenhang und Bildung physischer Körper unerklärbar sind. Andererseits entsteht aus der Gravitation ein ursprüngliches Ganzes der Weltattraktion aller Materie; aus ihr resultiert im Konflikt mit der ursprünglichen Repulsivkraft des Äthers „im Anfang aller Dinge" eine seither beständig fortdauernde Oszillation. Der Äther ist also als „der einzige allgemeine Weltkörper" zu denken, als Kugel und dank seiner Oszillation mit unerschöpflichen „lebendigen" Kräften begabt, die allein imstande sind, die im Äther verbreitete „sekundäre Materie" zur Bildung von (Welt-)Körpern zu veranlassen. Das ist der — audi in späteren Phasen des Ok. unveränderte — Kern der neuen Materietheorie. Dabei bleibt übrigens der Begriff des Äthers
Der Oktaventwurf
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bzw. WärmestofFs im Ok. durchgängig problematisch; bald werden Äther und Wärmestoff miteinander identifiziert, bald ist der Wärmestoff ein Akzidens des Äthers, dann wiederum scheinen ihre Funktionen völlig unabhängig voneinander zu sein und bisweilen heißt es sogar, daß es einen solchen „ S t o f f " gar nicht gibt, sondern daß damit nur der Erschütterungszustand aller Materie überhaupt bezeichnet wird. Auf solche Schwankungen ist keinerlei Gewicht zu legen, eben weil Kant selbst das nicht tut. Sein Hauptinteresse gilt — auch quantitativ — den Fragen der sekundären Materie, d. h. denjenigen Themen, die er auf den letzten Blättern des Ok. unter den Kategorientiteln systematisch zu ordnen versucht. Freilich ist trotz dieser Vorherrschaft der Detailprobleme nicht zu übersehen, daß Kant auch im Ok. den Zusammenhang seiner Reflexionen mit allgemeineren Problemen der Kosmologie, der Theologie, der Erkenntnistheorie nicht aus den Augen verliert. Das zeigt schon die eben besprochene Passage 378, 7 bis 379, 6; ferner ein „Anhang. Vom Ganzen der Natur im Raum und der Zeit", dem auch Adickes attestiert, er beweise, „daß die Gedanken, die später (bei Erweiterung des ursprünglichen Planes des o.p. um 1800) im ersten Konvolut einen so großen Raum einnehmen, Kant audi schon in dieser relativ frühen Zeit beschäftigen" (a.a.O. S. 79); und schließlich folgender Absatz: „IV.
Modalität
D a s Prinzip der Erkenntnis a priori v o m Dasein der Dinge (Aktualität der E x i stenz), d. i. der E r f a h r u n g überhaupt, in der durchgängigen Bestimmung gemäß der D y a d i k Leibnizens, Omnibus ex nihilo ducendis sufficit unum, wodurch die Einheit aller Bestimmungen im Verhältnis aller Dinge entspringt." ( 4 1 1 , 3 — 8 )
Zum Abschluß dieser Beschreibung sei angemerkt: Kant steht im Ok. ebenso wie schon während der Vorarbeiten auf dem Standpunkt, daß die Materie durchdringlich und ihre Masse eine intensive Größe sei: das erste wurde oben schon belegt (cf. 374, 1 ff.), für das zweite verweise ich auf X X ! 375j 1 6 — 2 3 ; 376, 8 f · ; 379» 1 5 — 3 ^ 7 . 26—388, 1 0 ; 394, 18 bis 22; 403, 1 5 — 2 3 ; —, 28 f.; 404, 2 1 — 2 5 ; 405, 10—406, 7; 406, 2 2 — 2 5 ; 408, 10—409, 16. Im Zusammenhang mit der neuen A u f f a s sung von Masse ist auch eine Polemik gegen die Lehre von physischen Punkten zu sehen, als deren Vertreter Laplace genannt wird ( X X I 406, 2 2 — 2 5 ; cf. ferner 404, 1 2 ; 4 1 1 , 9 — 1 1 ) . Darauf werde ich im dritten und vierten Kapitel zurückkommen.
III. Kants Reflexionen zur Materietheorie und die zeitgenössische Diskussion ι. Das Unmoderne am opus postumum Den unvoreingenommenen Leser, der sich von den Anfängen des o.p. bis zum Ok., vielleicht auch darüber hinaus vorgearbeitet hat, werden diese Spekulationen zunächst sehr altertümlich, unmodern, um nicht zusagen: abstrus anmuten. Der Begriff des Äthers als einer den Weltraum kontinuierlidi erfüllenden Materie etwa ist seit dem Versuch von Michelson und Morley (i881), spätestens aber seit Einsteins Relativitätstheorie aus der naturwissenschaftlichen Diskussion verschwunden; und der „Wärmestoff" (auch „Wärmematerie" genannt) gibt schon durch seinen Namen zu verstehen, daß er nur in längst vergangener, wenn nicht in vorwissenschaftlicher Zeit in der Physik eine Rolle gespielt haben kann — um von terminologischen Merkwürdigkeiten wie etwa „tropfbaren" im Gegensatz zu „expansiven" Flüssigkeiten, die im o.p. eine Rolle spielen, ganz zu schweigen. Demgegenüber wirken die Druckwerke des kritischen Kant sehr viel moderner, dem heutigen Leser sehr viel leichter zugänglich. Das gilt auch für die MA, die mit wenigen klaren Strichen eine Theorie der Materie entwerfen, die vom heutigen Standpunkt aus zwar nicht mehr vertretbar, aber immerhin unmittelbar verständlich erscheint. Allerdings ist diese Modernität der kritischen Hauptwerke auch nur scheinbar, und der Interpret tut in aller Regel gut daran, sich an die beinahe 200 Jahre zu erinnern, die seit ihrem Erscheinen verstrichen sind. Paradoxerweise „erleichtert" das o.p. in dieser — aber auch nur in dieser! — Beziehung die Interpretation, gerade weil ein unmittelbarer Zugang zu ihm nicht möglich ist: im o.p. ist der Leser an keiner Stelle in Gefahr, kantische Wendungen mit modernen zu verwechseln und deswegen das richtige Verständnis zu verfehlen. Hat man dann erst einmal den historischen Abstand zum o.p. überwunden, dann sieht man, daß Kant mit seinen uns so fremdartig anmutenden Begriffen und Gedanken durchaus auf der Höhe seiner Zeit war.
Das Unmoderne am opus postumum
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Man kann sich beim Durchblättern von Gehlers Physikalischem Wörterbuch" davon überzeugen, daß Kant sich sowohl hinsichtlich der Themenstellung als audi der Terminologie im Rahmen des in der Naturwissenschaft seiner Zeit Üblichen bewegt. Das gilt auch für den Begriff und die Sache des Äthers und des Wärmestoffs. Z w a r heißt es bei Gehler zum Stichwort Äther einleitend: „Alles, was sich von diesem Gegenstande sagen läßt, ist hypothetisch, und bloß zur Erklärung gewisser Erscheinungen angenommen; unmittelbare und klare Erfahrungen über das Daseyn und die Eigenschaften des Äthers fehlen gänzlich. Daher dieser Artikel nichts weiter, als eine kurze Anzeige menschlicher Meynungen enthalten kann." (a.a.O. I.Teil, S. 82)
Aber der daran anschließende ausführliche Artikel läßt doch keinen Zweifel daran, daß Spekulationen über den Äther in der damaligen wissenschaftlichen Diskussion durchaus möglich, üblich und jedenfalls ernst zu nehmen waren; was im übrigen audi nicht wunder nimmt, wenn man bedenkt, daß so berühmte Naturwissenschaftler wie Leonhard Euler Verfechter der Ätherhypothese waren. Und was den Wärmestoff anbelangt, sieht sich sogar Gehler, der sonst überall eine vorsichtig-skeptische Haltung einnimmt, zu einer eindeutig positiven Stellungnahme genötigt: „Die Neuern haben die Wirkungen der Wärme theils durch Emanation, theils durch Vibration erklärt, und im letztern Falle die Vibration entweder den Theilen der Körper selbst beygelegt, oder dazu ein besonders elastisches Mittel genommen, wie z . B . den cartesianischen Äther, oder die subtile Materie" (a.a.O. I V 543; nachdem Gehler entschieden gegen die Vibrationshypothese votiert hat, kommt er zu dem Schluß, a.a.O. I V 544:) „Also ist es nothwendig, einen eignen Stof der Wärme anzunehmen."
Von hier aus fällt bereits ein gewisses Licht auf Kants Erörterungen im o.p. Kant brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, als er sich auf Spekulationen über den hypothetischen Wärmestoff einließ, und auch die besonderen Schwierigkeiten dieser Hypothese, nämlich das Dasein dieses Stoffes zu beweisen und seine Eigenschaften genauer anzugeben, fallen nicht Kant persönlich, sondern der Diskussionslage seiner Zeit ganz 6
Johann Samuel Traugott Gehler, Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre mit kurzen Nachrichten von der Geschichte der Erfindungen und Beschreibungen der Werkzeuge begleitet in alphabetischer Ordnung. Neue Auflage Leipzig 1799—1801. Diese neue Auflage ist ein unveränderter Abdruck der ersten Aufl., die in Leipzig von 1789 an erschien.
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Kants Reflexionen zur Materietheorie
allgemein zur Last. Und last not least ist audi das Spektrum der Lösungsmöglichkeiten, die im o.p. ausprobiert und vorgeführt werden, kein Produkt kantischer Spekulation, sondern, ausweislich des Gehlerzitats, Spielmaterial, das Kant bereits vorgegeben ist und mit dem er auch entsprechend frei experimentierte. Mit anderen Worten: die Unsicherheit in puncto Äther, Wärmestoff und Erschütterungszustand der Materie, die oben anläßlich der Beschreibung des Ok. zu beobachten war und die noch bis in die spätesten Phasen des o.p. hinein zu beobachten ist, geht nicht auf Kant selbst zurück, sondern entspricht dem damaligen Stand der Forschung. Das wiederum impliziert, daß Kants im o.p. vorliegende Versuche, das Problem zu lösen und insbesondere Beweise für die Notwendigkeit der Annahme einer solchen Hypothese oder gar die Existenz eines solchen Stoffes zu liefern, nicht ausschließlich aus spekulativen Gründen erklärbar sind und audi nicht als von vornherein unsinnige Produkte einer vom Autor selbst mißverstandenen kritischen Methode abgetan werden können (so Adickes, z. B. N f . I I S. 179 und S. 182). Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich werden, daß ein Anstoß, den ein moderner Leser am kantischen Text nimmt, nicht eo ipso schon ein Anstoß ist, den Kants Zeitgenossen genommen hätten, mit dem also Kant bei der Formulierung seiner Gedanken zu rechnen gehabt hätte. Damit ist freilich noch nicht erklärt, weshalb K a n t sich auf ein — wie er selbst ständig erklärt — problematisches Unternehmen einläßt und Hypothesen entwickelt, die in einem bisweilen kaum verhüllten, bisweilen eklatanten Widerspruch zu Positionen stehen, die er selbst 1786 in seinen M A vertreten hat. Um das zu verstehen, muß untersucht werden, in welchem historischen Kontext die Materietheorie des o.p. steht. N u r nach einer solchen Untersuchung scheint es mir möglich, begreiflich zu machen, warum sich K a n t nadi der scheinbar erschöpfenden Darstellung der metaphysischen Körper lehre von 1786 genötigt sieht, eine neue Grundlegung von Dynamik und Physik bzw. eine neuerliche auf der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori basierende Erklärung der Möglichkeit der Physik zu versuchen. Dazu muß ich allerdings zunächst etwas weiter ausholen.
2. Kants Reflexionen zur Physik in ihrer Entwicklung Die Themen, die K a n t auf den ältesten Losen Blättern des o.p., im Ok. und darüber hinaus abhandelt, also insbesondere Zusammenhang,
Kants Reflexionen zur Physik in ihrer Entwicklung
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Dichtigkeit, Aggregatzustände (Tropfenbildung, Erstarrung), Ponderabilität, Sprödigkeit, Elastizität der Materie, Moment der Bewegung, Bewegung in Masse oder im Flusse, tote und lebendige Kräfte, Äther und Wärmestoff erscheinen vollzählig bereits in den MA, dort allerdings (mit Ausnahme des Stichworts „Zusammenhang") nicht im Haupttext, sondern nur in den Allgemeinen Anmerkungen zu Dynamik, Mechanik und Phänomenologie. Kant hat sie also damals als Randthemen und nicht „als zur. Absicht meiner metaphysischen Behandlung der Materie notwendig gehörig" (IV 522, 40—523, 1) angesehen. Das könnte den Schluß nahelegen, daß Kant mit ihrer zunächst bloß vorläufigen und peripheren Behandlung in den MA unzufrieden war und eine eingehendere, gewisse Randpositionen der MA korrigierende, aber im übrigen auf den M A aufbauende Untersuchung dieser Themen für erforderlich hielt; deshalb also „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik", deshalb also o.p. So ist das o.p. bisher von den Interpreten, bei allen Differenzen im Detail, verstanden worden; und so suggeriert es ja auch der Titel „Übergang". Aber einige der oben schon notierten Tatbestände machen stutzig: Einmal ist lange Zeit von der Idee eines besonderen Übergangs noch nicht die Rede: Sicher nachweisbar ist sie erst für 1795, in einem Brief Kiesewetters an Kant, wonach er „seit einigen Jahren" ( X I I 23, 25 ff.) ein solches Werk geplant habe. Drei Jahre vorher jedoch dachte Kant, ausweislich der Briefe von und an Beck aus der zweiten Hälfte des Jahres 1792, an einen solchen „Ubergang" noch nicht, war jedoch gleichzeitig mit einer Kritik nicht etwa von Randthemen, sondern von Zentralpositionen der M A beschäftigt, wie dieselben Briefe belegen (darüber unten mehr). Die Metaphysik der körperlichen Natur in der Fassung von 1786 war also für Kant schon zu einer Zeit fragwürdig geworden, als von „Übergang" noch nicht die Rede war. Zum anderen wird dieses Resultat durch den Befund des o.p. selbst, wie wir sahen, bestätigt: ausgehend vom „Randthema" Zusammenhang, das allerdings immer deutlicher in den Mittelpunkt rückt, entwickelt Kant die Grundzüge einer Materietheorie, in der Kernthesen der MA, wie die prinzipielle Undurchdringlichkeit der Materie, der extensive Massenbegriff und die Konstitution der einen bestimmten Raum erfüllenden Materie aus Anziehung und Abstoßung allein aufgegeben werden. Es ist mit anderen Worten eine neue Theorie, die nicht auf einen bloßen „Ubergang" reduziert werden kann, weil sie die Ausgangspositionen, von denen aus angeblich zur Physik übergegangen werden soll, negiert. Daher kann die Idee
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Kants Reflexionen zur Materietheorie
des „Übergangs" nicht den Erklärungsgrund für die neue Theorie abgeben — im übrigen bedarf diese Diskrepanz zwischen Titel und subsumierter Theorie natürlich einer befriedigenden Auflösung. Darüber hinaus erscheinen die „Randthemen" audi innerhalb der M A in einem anderen Licht, wenn man sie im weiteren Kontext der kantischen Reflexionen sieht und das in Band X I V der Akademieausgabe zusammengefaßte Material für die Interpretation, insbesondere die aus den siebziger Jahren stammenden Reflexionen Nr. 40—54' und ferner zur Ergänzung die Berliner Nachschrift einer kantischen Physikvorlesung, die aller Wahrscheinlichkeit nach 1776, sicher aber vor 1785, d. h. vor Erscheinen der MA, entstanden ist, heranzieht8. Mit diesen Texten „besitzt man ein reiches Material, um Kants Physik in ihrer Entwicklung zu verstehen" (Lehmann a.a.O. S. 1 1 3 ) . Innerhalb dieser Entwicklung betrachtet, wirkt die metaphysische Materietheorie der M A merkwürdig relativiert: Sie ist nicht mehr die apodiktisch-bestimmte Äußerung des kritischen Systematikers Kant zum Thema „Metaphysik der körperlichen Natur" — so erscheint sie zwangsläufig, wenn man sie aus ihrem historischen Kontext löst und ausschließlich auf den systematischen Rahmen der kritischen Philosophie bezieht —, sondern, aus der Perspektive der Zeit zwischen 1773* und 1800 gesehen, ein nur vorläufiges Fazit aus einem kontinuierlich weiterlaufenden Reflexionsprozeß — bildlich gesprochen: eine Momentaufnahme, die den Prozeßcharakter des photographierten Gegenstandes allenfalls an gewissen Unscharfen erkennen läßt. Diese These möchte ich wie folgt begründen: Die zentralen Themen des o.p., die, wie wir sahen, als scheinbare Randthemen auch in den 7
V o n ihnen datiert Adickes die Mehrzahl, nämlich die N r . 40 bis 49, mit Sicherheit, d. h. mit einer einzigen Phasenangabe ohne Fragezeichen, in die Jahre 1 7 7 3 bis 1 7 7 8 , Phasen ρ — υ , und z w a r nicht nur aufgrund von Schriftindizien, sondern auch von inhaltlichen Überlegungen betreffend Kants Vorlesungstätigkeit und seine A b hängigkeit von Physiklehrbüchern, insbesondere von Erxleben; cf. dazu insbesondere Adickes' Begründungen X I V 1 1 7 , 1 — 1 1 8 , 3 5 ; 2 8 6 , 4 1 — 2 8 7 , 2 $ . — Idi sehe keinen Grund, an dieser Datierung zu zweifeln.
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G . Lehmann, Immanuel Kants Vorlesungen über Enzyklopädie und Logik, Berlin 1 9 6 1 , Bd. ι S . 1 1 4 ff.
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M a n könnte die Perspektive natürlich noch erweitern und die Betrachtung auf die früheren Werke Kants von seiner Erstlingsschrift angefangen ausdehnen; das ist aber aus zwei Gründen nicht erforderlich: Erstens ist die Entwicklung der betreffenden Auffassungen des jungen K a n t v o n Adickes unter anderem in Band X I V umfassend dokumentiert und besprochen worden; cf. ferner die einschlägigen Abschnitte von inhaltlichen Überlegungen betreffend Kants Vorlesungstätigkeit und seine A b tinuität der Reflexionen Kants erst seit 1 7 7 3 , eben durch die N r . 40 ff. belegt; es ist daher hinreichend, allein dieses Material hier zu benutzen.
Kants Reflexionen zur Physik in ihrer Entwicklung
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M A angesprochen werden, stehen schon während der siebziger Jahre im Mittelpunkt von Kants Reflexionen zur Physik, und zwar tauchen sie dort ebenso vollständig auf wie in den MA 1 0 . Diese Identität der Thematik wird nicht nur von mir behauptet, sondern ist bereits von Adickes in seinen Erläuterungen zu den fraglichen Reflexionen konstatiert und ausführlich dokumentiert, wenn auch nicht für die Interpretation des o.p. benutzt worden (cf. u. a. X I V 1 1 9 , 28 ff.; 124, 33 — 1 2 7 , 30; 129, 33 ff.; 1 3 1 , i f f . u. ö.). Von dieser zunächst ganz äußerlichen Identität abgesehen, finden sich geradezu erstaunliche Übereinstimmungen im Detail zwischen Kants Reflexionen der siebziger Jahre einerseits und dem frühen o.p. andererseits: hier wie dort spielt das Problem des Zusammenhangs der Materie (und davon abhängig das der Aggregatzustände und der Dichtigkeit) eine entscheidende Rolle; von Passagen, wo es im Zusammenhang mit anderen Gegenständen behandelt wird, abgesehen, gelten ausschließlich ihm die Reflexionen 46—52. Hier wie dort wird der Zusammenhang nicht — wie in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre (cf. X I V 246, 37—247, 18) — auf materieeigene Kräfte, sondern auf den Druck bzw. auf Erschütterungen des Äthers zurückgeführt (für die Details dieser theoretischen Versuche verweise ich wiederum auf die Erläuterungen und Nachweise von Adickes, insbesondere auf X I V 247, 1 8 — 2 3 ; 287, 26—290, 7; 4 1 2 , 4 — 4 1 8 , 39). Um das Gesagte zu verdeutlichen, beziehe ich mich auf den Text der Reflexion N r . 44 ( X I V 287 ff.). In dieser Reflexion deutet sich ebenso wie im o.p. eine Materietheorie an, die in zentralen Punkten anders aussieht, als die der M A . Nicht die die Materie konstituierenden wahren Anziehungs- und Repulsionskräfte, sondern Äther, Wärme und Gravitation sind die strukturbestimmenden Elemente. Dementsprechend fehlt fast durchgängig die These von der prinzipiellen Undurchdringlichkeit der Materie, ihr wird gelegentlich ebenso wie im o.p. ausdrücklich widersprochen ( X I V 3 1 3 ) . Analoges gilt für die übrigen Differenzen zwischen M A und o.p.: sowohl die Fassung des Massenbegriffs als einer intensiven Größe (cf. X I V 186, 3 ff.; 2 1 3 , 4—24; 334, j — 3 3 6 , 5) als auch und vor allem das anders konstruierte Modell vom Konflikt der bewegenden K r ä f t e (s. insbesondere X I V 296, ferner 145, 246, 328; die entsprechenden Passagen des o.p. sind noch zu besprechen) lassen sich in diesen Reflexionen bereits belegen. 10
D a s gilt u. a. audi für Gegenstände, die in den bisher besprochenen frühen Passagen des o.p. nodi nidit vorkommen; cf. ζ. Β. Kants Reflexionen über die sogenannten mechanischen Potenzen, X I V 1 4 2 ff. und X X I 4 7 2 .
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Kants Reflexionen zur Materietheorie
A u f weitere Einzelzüge und -probleme dieser Versuche zu einer Materietheorie möchte idi nicht mehr eingehen. Zwei Charakteristika, die die besprochenen Reflexionen mit dem o.p. teilen, sind allerdings noch zu nennen: erstens sind auch die Überlegungen der N r . 40 f. nicht bloß physikalischer A r t ; sie stehen durchweg im Zusammenhang allgemeinmetaphysischer Probleme und werden von K a n t entsprechend behandelt (vgl. X I V 213; 223; 271; 279 f.). Zweitens ist auch hier dieselbe U n sicherheit bzw. positiv gewendet dieselbe experimentelle Freiheit Kants, was die Begriffe „Äther" und „Wärme" anlangt, zu beobachten. Adickes, der minutiös alle sachlichen und terminologischen Varianten verzeichnet und vom systematischen Standpunkt aus als Widersprüche und Inkonsistenzen auffaßt (cf. ζ. Β. X I V 412 ff., insbesondere 416, 14 ff.), verfehlt damit den eigentümlidien Charakter dieser Spekulationen als Versuch, eine theoretischen Lücke, die von der Naturwissenschaft offen gelassen wurde, befriedigend zu schließen". Vor diesem Hintergrund ist Kants Materietheorie von 1786 zu sehen, und es stellt sich die Frage: wie kommt es, daß K a n t in den M A eine Theorie publiziert, die sich strukturell von dem, was er vorher und nachher gedacht und, ausweislich der Berliner Physiknachschrift zum Teil auch öffentlich geäußert hat, unterscheidet? Sichere Belege, mit deren Hilfe man diese Frage eindeutig beantworten könnte, liegen nicht vor; man kann nur Mutmaßungen anstellen — und interpretieren, und zwar in erster Linie die M A .
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft und Theorie der Erkenntnis a priori Kants M A erwecken zunächst den Eindruck einer festgefügten und systematisch wohlbegründeten Theorie und treten dementsprechend mit dem Anspruch auf apodiktische Gewißheit ihrer Hauptsätze auf. Das kommt bereits in ihrer Form zum Ausdruck: Das Werk ist „den vier . . . Functionen der Verstandesbegriffe" entsprechend in vier Hauptstücke gegliedert, und am Ende der Detailerörterungen legt K a n t jedesmal Wert darauf, dem Leser die Korrespondenz zwischen inhaltlicher Darstellung und schematischer Einteilung nach der Kategorientafel bewußt zu machen (cf. I V 495, 27 ff.; 523, j ff.; 551, 11 ff.; 558, 21 ff.). Ferner 11
V o n dem größeren historischen Kontext, in dem diese Überlegungen Kants sehen sind, soll am Schluß dieser Arbeit gesprochen werden.
zu
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M A und Theorie der Erkenntnis a priori
werden in Nachahmung der mathematischen Methode (IV 478, 21 ff.) ausdrücklich Lehrsätze aufgestellt und Beweise für sie geführt; alles, was nicht dieser strengen Behandlung unterworfen werden und daher auch nicht Anspruch auf strikte Gültigkeit erheben kann, wird in ausführliche Anmerkungen und Zusätze verbannt, wodurch Bedeutung und Wert der Hauptthesen nur noch unterstrichen wird. Der anspruchsvollen Form entspricht ein anspruchsvoller Inhalt: die Möglichkeit des bestimmten Naturdings Materie soll a priori erkannt (cf. IV 470, 18 ff.) und „alle Bestimmungen des allgemeinen Begriffs einer Materie überhaupt" (475, 2—476, 9) sollen entwickelt werden; dementsprechend unternimmt dann das Kernstück der MA, die Dynamik, den Beweis zweier Grundkräfte, die die Materie konstituieren und damit ihre Möglichkeit a priori dartun sollen. Noch anspruchvoller ist schließlich die methodische Zielsetzung der Schrift: Sie soll die transzendentalen Prinzipien der allgemeinen Metaphysik der auf den Gegenstand des äußeren Sinnes anwenden (469, 26—470,
Natur
1 2 ) , die „Grundsätze
der Körperlehre" enthalten ( 4 7 1 , 34), „die A n w e n d u n g der Mathematik auf die K ö r perlehre" ermöglichen ( 4 7 2 , 1 f.), kurz: die „Möglichkeit einer mathematischen N a t u r lehre selbst" nachweisen (473 9 f.). U n d für diese seine metaphysische Körperlehre macht der A u t o r ohne zu zögern absolute Vollständigkeit geltend ( 4 7 3 , 1 $ — 4 7 6 , 6).
All dem stehen nun aber Äußerungen Kants entgegen, die seine methodische Vorsicht, Skepsis, ja sogar Unsicherheit seinen eigenen scheinbar apodiktisch gewissen Behauptungen gegenüber bezeugen. Gewisse Bedenken lassen bereits die beiden ausführlichen Anmerkungen über die Schwierigkeit, sich die Attraktion als Grundkraft begreiflich zu machen, ahnen (509 f. und 513 f.). Ferner wird die dynamische Erklärung der spezifischen Dichtigkeitsunterschiede der Materie als bloße Möglichkeit und Hypothese der konkurrierenden mechanistischen Hypothese gegenübergestellt (IV 532 f.). Das wirft auf die vorangegangene dynamische Erklärung der Möglichkeit der Materie aus zwei Grundkräften ein merkwürdiges Licht. Denn der Leser der kantischen Dynamik müßte zunächst einmal erwarten, daß nach den Beweisen der acht Lehrsätze die mechanistische Theorie als endgültig widerlegt zu gelten habe; sollte die Konstituierung der Materie aus den besagten Kräften am Ende doch nicht so gewiß sein? Auf eben diesen wunden Punkt zielt audi eine Erklärung am Schluß der Phänomenologie ab, die den Leser der M A erstaunen muß: „ W a s drittens den leeren R a u m in mechanischer Absicht betrifft, so ist dieser das gehäufte Leere innerhalb dem Weltganzen, um den Weltkörpern freie Bewegung zu
36
Kants Reflexionen zur Materietheorie
verschaffen. nicht auf
Man
sieht
leicht,
metaphysischen
daß
Gründen,
die
Möglichkeit
sondern
oder
Unmöglichkeit
desselben
dem schwer aufzuschließenden
Natur-
geheimnisse, auf welche A r t die Materie ihrer eigenen ausdehnenden K r a f t Schranken setze beruhe." ( I V 564, 2 2 — 2 7 )
Adickes kommentiert diese Stelle meines Erachtens völlig zu Recht, folgendermaßen : Anfangsgründe
der
Naturwissenschaft), in der er sonst dies Schranken-Setzen auf die ursprüngliche
„Das
sagt er am
Schluß
der selben
Schrift (metaphysische
An-
ziehungskraft der Materie zurückführt, —
ein Zeichen, daß diese letztere
ihn selbst nicht völlig befriedigte, w a s durch X I
3 4 8 — 5 2 , 362, 381
Theorie
bestätigt w i r d . "
(XIV 184, 33-37) Man könnte gegen diese Auffassung ins Feld führen, daß Kant in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik doch ganz offen zugibt, eine hinreichende „Erklärung der Möglichkeit der Materie und ihrer spezifischen Verschiedenheit aus jenen Grundkräften" nicht leisten zu können (525, 20 ff.), daß zu diesen spezifisch verschiedenen a priori nicht erklärbaren Momenten insbesondere die Bildung von Körpern überhaupt (525, 26ff.), die Dichtigkeit (ib.), der Zusammenhang und damit die Bildung flüssiger und fester Körper im besonderen (526, 1 2 — 5 2 9 , 25) gehören und daß mithin Kants eben zitierte Bemerkung auf diese Sonderprobleme, nicht aber auf seine dynamische Erklärung der Möglichkeit von Materie überhaupt zu beziehen sei. Eine solche Argumentation kann aber sachlich nicht überzeugen; denn die fraglichen Passagen der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik können die Diskrepanzen innerhalb der M A nicht nur nicht verdecken, sie verdeutlichen sie nur noch. Denn, so muß man doch fragen, was ist von einer metaphysischen Körperlehre zu halten, die die Möglichkeit der Körperbildung nicht erklären kann? Wie soll es möglich sein, die Kohäsion samt anhängenden Problemen wie Dichtigkeit, Körperbildung, Aggregatzustände von der „metaphysischen Behandlung der Materie" (522/23) auszuschließen — weil die Einschränkung der Ausdehnungskraft der Materie ein „schwer aufzuschließendes Naturgeheimnis" ist und die Metaphysik es nicht zu verantworten habe, wenn es nicht gelinge, den Begriff der Materie auf diese Art zu konstruieren ( 5 1 7 , 1 8 — 3 5 ) — zugleich aber zu behaupten, daß eben diese Ausdehnungskraft durch die Gravitationsanziehung eingeschränkt werden müsse (508, 27—509, 12), weil andernfalls die Materie „sich ins Unendliche zerstreuen und in keinem anzugebenden Raum . . . eine anzugebende Quantität Materie anzutreffen sein" würde (508, 30—32? Und wie kann schließlich innerhalb einer Theorie, die nur materieeigene Kräfte als
M A und Theorie der Erkenntnis a priori
37
konstitutiv erklärt, noch eine besondere Materie, nämlich der Äther, zur Erklärung eines Grundphänomens, nämlich des Zusammenhangs, auch nur als bloße Möglichkeit (563, 39—564, 9; abweichend 552, 1 0 — 1 3 ; cf. ferner 526,12 ίί.) eingeräumt werden? Mit dem bloßen Hinweis auf die Unterscheidung von Materie überhaupt und spezifische Verschiedenheiten der Materie sind diese Diskrepanzen nicht aus der Welt geschafft. Ich glaube daher, daß man Adickes zustimmen muß: Kant war offenbar nicht zufrieden mit der Materietheorie der M A . Der Beweis sind nicht nur die von Adickes zitierten Beckbriefe, sondern ebenso der Umstand, daß Kant unmittelbar vor — in den Reflexionen 40—54, in der Berliner Physikvorlesung, a.a.O. S. 102, 2 f. und Zeile 31 ff., aber auch in der von Adickes ins J a h r 1785 datierten Danziger Physiknachschrift, X I V 184, 19—29 — wie unmittelbar nach Abfassung der M A — auf den ältesten Losen Blättern des o.p. — eine wenn auch im einzelnen nicht unproblematische Vibrationstheorie vertritt, in der sowohl die Ausdehnung wie die Einschränkung der Ausdehnung auf einen bestimmten Raum nur als abgeleitete Phänomene erklärt und die Schwierigkeiten der M A mindestens teilweise vermieden werden. Aber warum, so muß man jetzt fragen, hat K a n t denn in den M A eine Theorie veröffentlicht, über deren Problematik er sich anscheinend völlig im klaren war? Die Antwort ergibt sich aus der Zielsetzung und der Form der Schrift. Es galt, die Anwendbarkeit der transzendentalen Prinzipien der allgemeinen Metaphysik der Natur auf die Körperlehre, die Tauglichkeit der kritischen Philosophie zur Begründung der mathematischen Naturwissenschaft und insbesondere die Brauchbarkeit der Kategorien zur Erfassung der allgemeinen Momente des Materiebegriffs nachzuweisen: daher die streng schematische Form der M A , die bei näherer Betrachtung in einem Mißverhältnis zu ihrem Inhalt steht. Man verfehlt den springenden Punkt der Schrift, wenn man wie Adickes „diese architektonische Spielerei" beiseiteschiebt und „die Gedanken . . . mühelos aus ihrer Beziehung zum Kategorienschema lösen" zu können glaubt (Adickes N f . I 186). Allein diese Beziehung zum Kategorienschema und damit zum Kernstück seiner kritischen Philosophie ist für Kant von Interesse; er ist eben kein Naturforscher und daher auch zu keiner Zeit, weder in den Physikreflexionen noch in den M A noch im o.p. an einer Theorie der Materie um ihrer selbst willen interessiert. Sie bietet ihm nur den Vorwurf f ü r die Probe auf Exempel. Um sich klarzumachen, wie wichtig Kant diese Probe war, muß man sich daran erinnern, daß er diese Aufgabe seit rund 20 Jahren ungelöst
38
Kants Reflexionen zur Materietheorie
vor sich herschob: am 3 1 . 1 2 . 1 7 6 5 , als er Lamberts Angebot, wissenschaftlich mit ihm zusammenzuarbeiten, annahm, hoffte er schon „die metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit" binnen kurzem, und zwar noch vor der „Hauptschrift" vorlegen zu können (X 54—56). Man weiß, was aus diesem Plan, an einer methodischen Neubegründung der Metaphysik, der Erkenntnistheorie und der Wissenschaften überhaupt gemeinsam zu arbeiten, geworden ist. Nach langen mühevollen Jahren erschien 1781 die Kritik der reinen Vernunft, ohne Lamberts Mitwirkung, aber im Sinne und in Ausführung des ursprünglich gemeinsam skizzierten Planes. Nicht zufällig war die Kritik der reinen Vernunft, die „einen Begriff von Methode der reinen Philosophie" geben sollte, ursprünglich Lambert zugedacht ( X V I I I 64); ganz im Sinne der Intentionen, die Kant mit Lambert teilte, versichert die K r V immer und immer wieder, daß es um eine Überprüfung der gesamten Verstandes- und Vernunfttätigkeit a priori und damit um eine kritische Sicherung der Grundlagen aller Wissenschaften gehe. Und nicht zufällig rückt Kant beispielsweise in die zweite Auflage den § 1 1 ein, wo es von der Kategorientafel heißt: „Denn daß diese Tafel im theoretischen Teile der Philosophie ungemein dienlich, ja unentbehrlich sei, den Plan zum Ganzen einer Wissenschaft, sofern sie auf Begriffen a priori beruht, vollständig zu entwerfen, und sie systematisch nach bestimmten Prinzipien abzuteilen; erhellt schon von selbst daraus, daß gedachte Tafel alle Elementarbegriffe des Verstandes vollständig, ja selbst die Form eines Systems derselben im menschlichen Verstände enthält, folglich auf alle Momente einer vorhabenden spekulativen Wissenschaft, ja sogar ihre Ordnung, Anweisung gibt, wie ich denn auch davon anderwärts (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft) eine Probe gegeben habe." (KrV Β 109 f.)
Um dieser Probe und des Nachweises willen, daß die Kategorien für die systematische Begründung einer Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, unentbehrlich sind, sind die MA überhaupt geschrieben worden, und nicht, um dem Publikum die mindestens nicht unproblematischen Reflexionen des Autors zur Materietheorie um ihrer selbst willen mitzuteilen. Deshalb war die Publikation der MA für Kant auch so dringlich, daß er die materiellen Bedenken, die er ausweislich des angeführten Materials gehabt hat, zurückstellte und anscheinend hoffte, den Schwierigkeiten dadurch zu entgehen, daß er sich auf den Begriff von Materie überhaupt und die allgemeinsten Momente der Materietheorie beschränkte, während er die spezifischen Probleme auszuklammern bzw. bloß hypothetisch zu behandeln versuchte. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Es impliziert, wie ich zu zeigen versuchte,
Die M A und das naturwissenschaftliche Publikum
39
einen Widerspruch, die Einschränkung der ursprünglichen Repulsion durch die Gravitiation zu behaupten, um die Möglichkeit von Materie überhaupt nachzuweisen, und gleichzeitig eben dieses Einschränkungsproblem, das Problem der Kohäsion und der Körperbildung als nicht lösbar hinzustellen oder hypothetisch dadurch lösen zu wollen, daß diese Einschränkung als Wirkung des Äthers erklärt wird. Anders ausgedrückt: das Programm einer Isolierung des Begriffs von „Materie überhaupt" vom Begriff des Körpers, vorgetragen unter dem Titel einer metaphysischen Körperlehre, ist an seinem inneren Widerspruch gescheitert. Die kritische Philosophie hat die Probe also nicht bestanden, aber aus Gründen, die außerhalb ihres eigenen Feldes liegen. Es bedurfte nur eines geringen Anstoßes für Kant, um sich über dieses Faktum und seine K o n sequenzen klar zu werden. Bevor aber über diese Anstöße im allgemeinen gesprochen wird, kann bereits eines festgehalten werden: Das Scheitern der M A mußte ihren Autor, sobald er es eingesehen hatte, erneut vor die Aufgabe stellen, vor der die Schrift von 1786 versagt hatte, nämlich den Nachweis zu erbringen, daß die Prinzipien der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori für die Begründung der mathematischen Naturwissenschaft unentbehrlich sind. Die Probe mußte bestanden werden; das war eine Lebensfrage für die kritische kantische Philosophie. Dies ist das Motiv, das K a n t zum Beginn der Arbeit am o.p. gebracht hat. Die Ausgangsfrage dieses Abschnitts, wie es zum o.p. gekommen ist, scheint mir damit beantwortet zu sein.
4. Die MA und das naturwissenschaftliche
Publikum
Das Interesse, das K a n t mit der Publikation der M A verfolgte, hat er in der Schrift selbst explizit nur in einem unscheinbaren Nebensatz formuliert: „ . . . wenn, durch diesen Entwurf veranlaßt, mathematische Naturforscher es nicht unwichtig finden sollten, den metaphysischen Theil, dessen sie ohnedem nicht entübrigt sein können, in ihrer allgemeinen Physik als einen besonderen Grundtheil zu behandeln und mit der mathematischen Bewegungslehre in Vereinigung zu bringen."
(IV 478. 27-31) U m es kurz zu machen: die mathematischen Naturforscher fanden es unwichtig, sich mit dem kantischen Entwurf zu beschäftigen. G e w i ß erschienen Rezensionen: die Jenaer „Allgemeine Literaturzeitung" brachte am 9. j . 86 eine „vorläufige Nachricht" und am 24V25. 8. 89 eine aus-
Kants Reflexionen zur Materietheorie
40
führliche Inhaltsangabe der M A ; die „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen" rezensierten die M A (am 2. 12. 1786) meines Wissens als einziges Blatt sehr kritisch, was, wie schon erwähnt, von Kant aufmerksam registriert und schriftlich fixiert wurde. Gewiß gab es auch gelegentliche Hinweise auf und Anknüpfungsversuche an das Buch: in Franz Baaders Aufsatz „Ideen über Festigkeit und Flüssigkeit, zur Prüfung der physikalischen Grundsätze des Herrn Lavoisier" (Grens Journal der Physik V 2, 1792, S. 222 ff.) 1 2 ; in der Rezension von Grens Grundriß der Chemie 1. Teil ( A L Z vom 2. 1 1 . 1796); in der Rezension von Heinrich F. Lincks Grundriß der Physik f ü r Vorlesungen ( A L Z vom 25. 5. 1799). N u r ein einziger Naturwissenschaftler jedoch hat sich mit Kants Dynamik kritisch auseinandergesetzt: Johann Tobias Mayer, in seinem Aufsatz „Ob es nöthig sey, eine zurückstoßende K r a f t in der Natur anzunehmen" (Grens Journal V I I 2, 1793, S. 208 ff.; cf. X I V S. 499 ff.) 13 worauf nodi zurückzukommen ist. Franz Baader urteilt also 1792 ganz korrekt, daß „dieses Buch (sc. die M A ) . . . noch lange die Sensation nicht gemacht zu haben scheint", und irrt nur in der Prognose, wenn er fortfährt: „die es (wie alle kantischen Schriften) über kurz oder lang unfehlbar machen muß." (a.a.O. S. 224). Es machte auch weiterhin nicht Sensation. Vier Jahre später glaubte der Rezensent von Grens Grundriß zwar, es werde deswegen „eine ganz neue Epoche" machen, weil in der Schrift „statt
der
atomistischen
in allen
übrigen
Systemen
der Naturwissenschaft
Vorstellungsart, durchgängig die dynamische
den ist, deren Grundsätze in Kants metaphysischen
A.d.N.
zugrundeliegenden
an ihre Stelle gesetzt w o r erwiesen
sind" ;
aber er muß doch einräumen, daß es eine „auffallende Erscheinung" sei, „daß doch so wenige auf die m e t . A . d . N . Rücksicht genommen haben, die nach Rec.Urtheil das vollendete G a n z e unter den kantischen Schriften sind, und wegen der mathematischen Methode, die durchgängig in denselben herrscht, zugänglicher
werde
als manche andere der kantischen Schriften" ( A L Z 1 7 9 6 , I V 2 9 3 ; Unterstreichungen Schrägdruck
im Original;
ähnlich urteilt auch Gren,
Systematisches
Handbuch
= der
gesamten Chemie, 2. A u f l . 1 7 9 4 f. über die Rezeption der M A . ) ;
und 1799, also nach mehr als einem Jahrzehnt, in dem die M A ihre Wirkung hätten entfalten können, urteilt der Rezensent der Linckschen Physik lapidar: „ V f . beginnt mit einem Grundriß der allgemeinen Naturwissenschaft, worin Kants Vorstellungen
von Materie
und ihren Bewegungskräften vorgetragen
12
Wiedergegeben im A n h a n g dieser Arbeit.
13
Wiedergegeben im A n h a n g dieser Arbeit.
werden.
Man
Die M A und das naturwissenschaftlidie Publikum
41
sieht aber dodi nicht, daß in der Folge davon Gebrauch zu weiteren A u f k l ä r u n g e n gemacht wäre, so wie auch in andern neuen physikalischen Lehrbüchern das darin dargestellte dynamische System unfruchtbar geblieben ist. ( A L Z 1799, I I j n ) 1 4 F ü r d i e a l l g e m e i n e D i s k u s s i o n s l a g e b e z e i c h n e n d ist schließlich die A r t u n d W e i s e , i n d e r K a n t bei G e h l e r z i t i e r t w i r d . I n s e i n e m p h y s i k a l i s c h e n Wörterbuch w i r d K a n t allein d r e i m a l m i t der Himmels"
von
publiziert und
1755
in i n s g e s a m t f ü n f
Stellen
erwähnt,
und
zwar
„Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie
—
die
1791
auszugsweise
dadurch erstmals einem breiteren
von
Gensichen
Publikum
des
erneut
überhaupt
bekannt w u r d e ; cf. dazu I 5 4 6 — , einmal mit dem A u f s a t z „ U b e r
die
V u l k a n e i m M o n d e " , erschienen in d e r B e r l i n i s c h e n M o n a t s s c h r i f t , M ä r z 1 7 8 5 , u n d n u r ein e i n z i g e s M a l m i t d e n M A , u n d z w a r n i c h t i m A r t i k e l „Materie"
—
dort w i r d die Schrift mit keinem W o r t gewürdigt,
wäh-
rend z. B . Boscowichs Theorie, 1 7 5 9 publiziert, ziemlich ausführlich d a r gestellt w i r d — , s o n d e r n i m S u p p l e m e n t b a n d , A r t i k e l
„Zurückstoßen",
w o J o h a n n T o b i a s M a y e r s P o l e m i k g e g e n K a n t s T h e s e , d i e M a t e r i e sei mit ursprünglichen R e p u l s i v k r ä f t e n ausgestattet, auf f ü n f Seiten referiert w i r d ( a . a . O . V S . 1 0 3 3 f f . ; c f . den A n h a n g dieser A r b e i t ) . Es mußte K a n t schwieg, v o n Gründe
ganz
besonders hart treffen, daß
auch
der
Mann
d e m er a m meisten hielt, nämlich Lichtenberg. U b e r
d a f ü r äußert
sich L i c h t e n b e r g
in e i n e m B r i e f
an H e y n e
die vom
2 7 . 4. 1 7 8 8 (Lichtenbergs Briefe, hrsg. v . A . L e i t z m a n n u n d C . Schüddekopf, Leipzig 1 9 0 2 , Bd. I I 3 4 4 ff.): „Bei dieser Gelegenheit kann ich euer Wohlgeboren einen kleinen mich betreffenden Umstand nicht verhehlen, nämlich daß bereits vorigen Sommer H e r r K a n t nach J e n a 14
A u d i die unmittelbare Fortsetzung des Zitats ist aufschlußreich : „ V o r allem hätte erklärt werden müssen, wie Materie zugleich eine zurückstoßende und eine anziehende K r a f t haben könne. Beide K r ä f t e können durchaus nicht einerlei A r t sein, die bloß durch die Richtung der Bewegung verschieden wären. Setzt man statt der soliden Atomen K r ä f t e , deren N a t u r z w a r unbekannt ist, und die wir bloß durch ihre . . . Wirkungen sinnlich erkennen, so setze man zugleidi, daß diese K r ä f t e nicht auf einen bestimmten R a u m eingeschränkt sind, und daß sie sich miteinander innerhalb desselben Raumes oder auch eines veränderten verbinden können. Diese V o r stellung kann man sehr gut zu Erklärungen mancher Erscheinungen benutzen, und die lästige Impenetrabilität der Urstoffe dadurch wegschaffen. Allein H e r r L. macht von Metaphysik so wenig Gebrauch, daß er selbst sagt: anziehende und zurückstoßende K r ä f t e müssen als ursprüngliche K r ä f t e aus der Physik verbannt sein, da diese nur gegebene Erscheinungen abhandeln soll" (a.a.O. 5 1 1 f.). Deutlicher kann man die Problematik der D y n a m i k von 1786 kaum beschreiben. A u f die Entwicklung des o.p. dürfte diese Rezension von 1799 kaum noch Einfluß gehabt haben; aber es w i r d noch zu zeigen sein, daß K a n t zu einer ähnlich skeptischen Beurteilung seiner M A auf anderem Wege gekommen ist.
42
Kants Reflexionen zur Materietheorie
geschrieben, und sich mich zum Rezensenten seiner metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft erbeten hat. Herr Professor Schütz schrieb deswegen an mich, und rückte die ganze Stelle aus Kants Brief ein, die sehr schmeichelhaft war. Ich lehnte es aber ab, teils weil ich, wenn ich rezensieren will, schon weiß, zu welchem Blatt mich Pflicht und Gesinnung verbinden, teils aber auch weil hier selbst in Rücksicht auf kantische Philosophie einmal Partei genommen worden ist von Herrn Kollegen, denen idi nicht gerne widrig begegnen möchte. Kant mag sein wie er will, so weiß er gewiß mehr, als, glaub ich, alle unsere heutigen Metaphysiker zusammen genommen . . . " (a.a.O. 335; ich habe die Orthographie dieses Briefes normalisiert) M a n darf aber vermuten, daß Lichtenberg hier seine M o t i v e nur zum Teil preisgibt; es gab noch andere, in der Sache selbst begründete: aus Achtung v o r K a n t mochte sich Lichtenberg w o h l scheuen, ausdrücklich zu sagen, w a s er v o n den M A dachte. Implizit hat er es dann doch getan, in der vierten A u f l a g e der Erxlebenschen P h y s i k , w o er die entschiedene Parteinahme Erxlebens
f ü r die E x i s t e n z wirklicher
Anziehungskräfte
15
sehr skeptisch kommentiert . E r konnte es danach dem P u b l i k u m überlassen, entsprechende Schlüsse daraus f ü r die kantische Theorie zu ziehen. Insgesamt gesehen w a r also die R e a k t i o n des naturwissenschaftlichen Publikums auf K a n t s M A
katastrophal; das allgemeine Stillschweigen
w a r schlimmer, als jede noch so heftig geführte Polemik hätte sein k ö n nen. D i e G r ü n d e d a f ü r lagen sicherlich z u m T e i l in den immanenten Schwierigkeiten der kantischen Theorie; aber doch nur zu einem T e i l : ein weiterer wichtiger G r u n d f ü r das öffentliche Desinteresse ist darin zu sehen, daß die zeitgenössischen Naturwissenschaftler andere F r a g e n wichtiger fanden, die z w a r ebenfalls die G r u n d l a g e n v o n P h y s i k und Chemie betrafen, die aber die experimentelle Forschung unmittelbarer berührten als K a n t s Spekulationen. In der zweiten H ä l f t e der achtziger und der ersten H ä l f t e der neunziger J a h r e des achtzehnten Jahrhunderts f a n d nämlich die große A u s einandersetzung zwischen Phlogistikern und Antiphlogistikern um die Existenz eines besonderen Brennstoffs, des Phlogiston, statt 16 . 15
16
Im Zusatzparagraphen 1 1 3 b S. 81 führt Lichtenberg aus: „Ein solcher Name ist hier das Wort Attraction. Mit wieviel Recht oder Unrecht es gewählt worden ist, sieht man zum Teil daraus, daß sogar Philosophen sich haben verleiten lassen, zu glauben, es enthalte eine Erklärung . . . was würde nicht mancher daraus gefolgert haben, wenn Newton diese Erscheinung Sehnsucht genannt hätte! Wie hat man nicht über die Trägheit der Körper gestritten! Das Wort hatte die größte Schuld . . . " Ein sachliches, zugleich aber auch sehr plastisches Bild von diesem Kampf, der mit Heftigkeit, ja Chauvinismus geführt wurde, gibt Gehler im Supplementband seines Wörterbuches V 39—49, geschrieben 179J, also noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Auseinandersetzungen. Nach Gehlers Schilderung wurde der Streit 1793 durch ein vor einem größeren
Die MA und das naturwissenschaftliche Publikum Der K a m p f
43
w a r v o n grundsätzlicher N a t u r , weil die A n t i p h l o g i -
stiker, angeführt v o n Lavoisier, eine Umgestaltung der gesamten Chemie b z w . physikalischen Chemie anstrebten und „dadurch sowohl in den herrschenden Begriffen und Vorstellungsarten, als auch in der Sprache ihrer Wissenschaft, eine gewaltsame, jedoch mit Scharfsinn, S t a n d h a f t i g keit und Glück durchgesetzte, Revolution v e r a n l a ß t haben."
(Gehler,
Wörterbuch V 3 0 f.) Im Zusammenhang
dieser Auseinandersetzung
spielten neben den
Problemen der V e r b r e n n u n g b z w . O x y d a t i o n , der Säurebildung und der Zerlegung des Wassers in seine Elemente die Phänomene der W ä r m e (spezifische, freie und gebundene W ä r m e , W ä r m e l e i t u n g usw.) eine ausgezeichnete Rolle. M a n kann ohne Übertreibung sagen, daß sich über die Zeitschriften — und z w a r sowohl über die Fachzeitschriften w i e auch über Kreis yeranstaltetes Experiment endgültig entschieden (a.a.O. 44 f.). Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch verhielt sich die Mehrheit der Physiker und Chemiker nicht nur in Deutschland, darunter auch de Luc und Lichtenberg, abwartend bis negativ. Ja, dem Rezensenten von Girtanners Anfangsgründen der antiphlogistischen Chemie zufolge (2. Aufl. 1796, A L Z vom 19. 4. 96), sollen der Chemiker Hermbstädt und der für die Entwicklung des o.p. wichtige Johann Tobias Mayer 1792 sogar die einzigen Verteidiger des neuen Systems in Deutschland gewesen sein. Angesichts dieser Situation ist es mir unverständlich, weshalb Adickes ( X I V 490, 18 ff.; N f . I 62 f.) Kant vorwirft, Lavoisiers Bedeutung zu spät erkannt zu haben, und als Beleg dafür angibt, in einem kantischen Aufsatz von 1785 spielten „die Begriffe Phlogiston und dephlogistisieren eine wichtige Rolle": das tun sie auch in einer Fülle von Büchern und Zeitschriftenartikeln anderer Autoren und zwar bis weit in die neunziger Jahre hinein. Gren ζ. B., den Adickes doch gewiß als „Naturforscher" anerkennen würde, gründet sein als Kampfblatt gegen Lavoisiers System auftretendes „Journal der Physik" im Jahre 1790 (!), und erst im letzten Band der — anschließend als „Neues Journal der Physik" wiederauferstandenen — Zeitschrift veröffentlicht er seine keineswegs vorbehaltslose Absage ans alte System (a.a.O. V I I I 1794, S. 14). Ebenso absurd ist Adietes' Unterstellung, Kant hätte in der Vorrede zur K r V Β anstelle von Stahl Lavoisier als markantes Beispiel für die richtige naturwissenschaftliche Methode angeben sollen. Solange Naturwissenschaftler vom Range Lichtenbergs sich skeptisch verhielten, hatte Kant dazu gewiß keinerlei Veranlassung; schließlich ist zu berücksichtigen, daß Lavoisiers Hauptwerk, der Traité, erst 1789 erschien, d. h. 1790 dem deutschen Publikum bekannt wurde, während seine früheren Einzelarbeiten nur einem kleineren Kreise von Fachleuten bekannt waren. Kurz: Adickes zeichnet ein falsches Bild von der Revolution der Chemie und Kants Haltung in dieser Frage; dabei unterlaufen ihm ausgesprochene Fehler, so wenn er behauptet, Kant habe noch 1793 Lavoisiers Lehre „scharf bekämpft" und sei erst 1795 „zu Lavoisiers Ansicht von der Zerlegbarkeit des Wassers bekehrt" worden (Nf. 1 6 3 ) : ausweislich des Dohnasdien Metaphysikkollegs hat Kant im Wintersemester 1792/93 bereits erklärt: „Ist Wasser Element? Nein. Denn es läßt sich noch auflösen. Es besteht aus Lebensluft und brennbarer L u f t . . . " (Kowalewski, Die philos. Hauptvorlesungen Immanuel Kants, Berlin 1924, S. 583).
44
Kants Reflexionen zur Materietheorie
die für das größere interessierte Publikum bestimmten — eine wahre Flut von Aufsätzen und Rezensionen zum Thema „Wärme" ergoß. Die Aktualität des Themas wird u. a. belegt, durch die Preisfrage der Akademie Kopenhagen f ü r 1786, „ O b die W ä r m e der K ö r p e r eine Wirkung einer in den warmen Körpern befindlichen, den Körpern nicht wesentlich zugehörenden, erwärmenden Materie, oder ob die W ä r m e allein eine gewisse Bewegung in den Partikeln der Körper und also eine bloße Modifikation ist?" ( A L Z v . 7. 6. 86)
aber auch durch eine Reihe größerer Publikationen, darunter Franz Baaders „Vom Wärmestoff, seiner Verteilung, Bindung und Entbindung . . . " (1786; ausführlich rezensiert in der A L Z 1786, Suppl. V 662 ff.), de la Metheries „Essai sur l'air . . . " (1785, enthaltend M. s. Theorie von Feuer und Licht, A L Z 26. 6. 87, I I 626 ff.), Lavoisiers „Traité élémentaire de Chimie . . . " Tom. I und I I (1789; sehr ausführlich rezensiert in der A L Z vom 1 3 . und 20. 5. 1790), Pictets „Essai de Physique" Tom. I, Genf 1790 (deutsch: Versuch über das Feuer, Tübingen 1790: A L Z vom j . 5. 1 7 9 1 ) , Joh. Tobias Mayers „Über die Gesetze und Modifikationen des Wärmestoffes" ( 1 7 9 1 ; A L Z vom 24. 4. 1793 — diese Rezensionen sind deswegen wichtig, weil sie für Kant eine seiner Hauptinformationsquellen über die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Diskussion waren). Schließlich wäre noch zu erwähnen, daß Gren sein „Journal der Physik", das Kant mindestens gelegentlich benutzt hat (cf. X I V 499 ff.), 1790 mit einer über mehrere Hefte hinweg fortgesetzten „Prüfung der neueren Theorien über Feuer, Wärme, Brennstoff und Luft" eröffnet, wobei nach der Crawfordschen Theorie an zweiter Stelle das System Lavoisiers dargestellt und kritisiert wird. In diesen Jahren hatten die Naturwissenschaftler also, wenn man so sagen darf, alle Hände voll zu tun, um das Feld der Energiephänomene — neben der Wärme wurden Elektrizität und Magnetismus zunehmend wichtiger —, das sie zu entdecken gerade erst im Begriffe waren, zu bearbeiten, durch Anstellung neuer Experimente zu erweitern und zugleich theoretisch zu bewältigen. Daher ist es gut zu verstehen, daß sie an den M A , die gerade diese Themen an den Rand bzw. in die Anmerkungen gedrängt hatten und mithin weder zum besseren Verständnis dieser Phänomene selbst noch gar ihrer theoretischen Voraussetzungen irgendetwas beizutragen hatten, nicht interessiert waren. Es konnte Kant, der die Entwicklung aufmerksam verfolgte 17 , auf die Dauer nicht ver17
D a s belegt nicht nur Jachmanns Äußerung, wonach K a n t „die neuen chemischen Systeme mit dem größten E i f e r studiert" hat (zitiert nach Adickes N f . 1 6 2 ) ,
Die M A und das naturwissenschaftliche Publikum
45
borgen bleiben, daß er seine MA gleichsam an den Naturwissenschaftlern vorbeigeschrieben hatte: die Schrift von 1786 mit ihrer einseitigen Auffassung von der Naturwissenschaft als „durchgängig reiner oder angewandter Bewegungslehre" (IV 477, 1 f.) und ihrer daraus resultierenden Konzentration auf geometrisch-phoronomische bzw. mechanische Phänomene, war bei ihrem Erscheinen bereits wissenschaftlich überholt, weil die Mechanik für die Physiker ein vorerst abgeschlossene Kapitel war, während auf dem Gebiet der Energiephänomene ganz neuartige theoretische wie praktische Aufgaben zu bewältigen waren. Kurz: die MA enthielten nicht, wie beabsichtigt, den „Plan zum Ganzen einer Wissenschaft", da sie einen zunehmend wichtiger werdenden Sachkomplex der Physik einfach ausklammerten. Auch aus diesem Grunde also mußten sie vor der ihnen zugedachten Aufgabe, die Möglichkeit der Physik a priori darzutun und die Unentbehrlichkeit der kritischen Philosophie für die Grundlegung der Naturwissenschaft nachzuweisen, versagen. Dies scheint mir, neben den immanenten Schwierigkeiten der Theorie von 1786 der zweite wichtige Anstoß für Kant gewesen zu sein, sich mit jenen „Randthemen" und seinen Gedankenexperimenten zur Vibrationstheorie erneut zu beschäftigen. Wieviel zeitgemäßer die älteren Spekulationen aus den siebziger Jahren und entsprechend audi die Versuche des o.p., auf dem Äther oder Wärmestoff als Grundstrukturelement eine Materietheorie unter Einschluß der Komplexe der Kohäsion, Aggregatzustände usw. aufzubauen, waren, zeigt schon der Umstand, daß sich die Mehrzahl der Naturwissenschaftler von Gren (cf. ζ. Β. sein „Journal" I S. 8) bis Lavoisier bei aller Gegnerschaft in der Annahme eines besonderen Wärmestoffs einig war; und die Ähnlichkeit der Theorie des o.p. mit gewissen Grundelementen von Lavoisiers System ergibt sich beispielsweise aus Gehlers Beschreibung: „das ganze System geht von den Wirkungen des Wärmestoffs
(Calorique) aus, der
durch seine Elastizität die kleinsten Teile (Molécules) der Körper trennt, und sie in den Zustand der tropfbaren, oder wenn die Elastizität den Druck der Athmosphäre überwindet, in den Zustand der elastischen Flüssigkeit versetzt, in welchem letztern man sie Gas ( G A Z ) nennt. Die Luft der Athmosphäre besteht aus zwei Arten von Gas . ." sondern audi der Physiknadilaß (cf. z . B . X I V 4 8 9 , 502, 510, 513 ff., 5 1 7 ff., 521 f., 523 f.), ferner die Tatsache, daß er sich Girtanners „Anfangsgründe der antiphlogistischen Chemie" (1792) und noch 1796 Hagens „Grundsätze der Chemie durch Versuche erläutert" angeschafft hat (cf. Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922 S. 43). Daß Kant darüber hinaus in Zeitschriftenartikeln und Rezensionen nicht nur allgemeine Kenntnisse erwerben, sondern auch Primärinformationen gewinnen konnte, ist schon erwähnt worden.
46
Kants Reflexionen zur Materietheorie
(Gehler V 32). Ähnliche Theorien über die Wechselwirkung zwischen dem expansiven Wärmestoff und den Körperteilchen vertraten audi Joh. Tobias Mayer (cf. Gehler V 954 ff.) oder Gren (in seinem ebenfalls von Kant benutzten Grundriß der Naturlehre von 1 7 9 3 ; cf. dazu X I V 524 und Gehler V 958 ff.)
Fassen wir zusammen: die Einsicht, daß die MA an unheilbaren immanenten Widersprüchen leiden, verbunden mit der weiteren Einsicht, daß die Entwicklung der Naturwissenschaft über die Positionen der MA hinweggegangen war, hat Kant dazu veranlaßt, den Standpunkt von 1786 wieder aufzugeben und zu versuchen, unter Rückgriff auf ältere Reflexionen einen neuen zu gewinnen. Nur unter dieser Voraussetzung konnte er hoffen, die Anwendbarkeit und Sachhaltigkeit seiner Theorie der Erkenntnis a priori abschließend unter Beweis zu stellen. — Im folgenden ist zu belegen, daß und wie Kant zur Erkenntnis dieser Notwendigkeit gekommen ist.
j. Kritik und
Selbstkritik
Am 16. 10. 1792 schreibt Kant an Beck: „Was Ihre (sc. Becks) Einsicht in die Wichtigkeit der physischen Frage: von dem Unterschiede der Dichtigkeit der Materie betrifl..., so freut sie midi redit s e h r . . . Idi würde die Art der Auflösung dieser Aufgabe wohl darinn setzen: daß die Anziehung (die allgemeine, Newtonische) ursprünglich in aller Materie gleich sey und nur die Abstoßung verschiedener verschieden sey und so den specifischen Unterschied der Dichtigkeit derselben ausmache. Aber das führt doch gewissermaßen auf einen Circel aus dem ich nicht herauskommen kan und darüber idi mich noch selbst besser zu verstehen suchen muß." ( X I 376, 30—377, 4; Hervorhebung von mir)
Dies ist das einzige ausdrückliche Eingeständnis Kants gegenüber einem dritten, daß seine M A vor der Lösung eines wichtigen Problems versagt haben: Wenn die alte Erklärung der Dichtigkeitsunterschiede auf einen Zirkel führt, dann ist nach wie vor nicht bewiesen, daß es möglich „sei, sich einen spezifischen Unterschied der Dichtigkeit der Materien ohne Beimischung leerer Räume zu denken" (IV 533, 28 ff.), mithin behauptet der Mechanismus allein den Platz und die dynamische Materietheorie insgesamt wird fragwürdig. Adickes ( X I V 337 f.) glaubte zunächst, aus diesem Zirkel gebe es kein Entrinnen, korrigiert sich dann aber und meint, daß die monadologischdynamische Auffassung der Materie einen Ausweg biete (Nf. I 214—216). Es liegt auf der Hand, daß das für den kritischen Kant kein Ausweg sein konnte. Den tatsächlichen Ansatzpunkt zur Lösung des Problems
47
Kritik und Selbstkritik
und den Ausweg, den Kant dann auch beschritt, wiesen ihm die Kritiker seiner MA. Zu Kants Lebzeiten sind die MA, wie schon erwähnt, überhaupt nur zweimal öffentlich einer eingehenderen Kritik unterzogen worden, einmal in der Rezension der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen am 2. 12. 86, zum anderen in Johann Tobias Mayers Artikel „Ob es nöthig sey, eine zurückstoßende Kraft in der Natur anzunehmen" (Grens Journal der Physik V I I 208—237). In beiden Fällen hat Kant sich einen schriftlichen Auszug angefertigt. Schon der Umstand, daß beide Kritiken dem Göttinger Kreis um Lichtenberg entstammten, muß für Kant Anlaß genug gewesen sein, sich mit ihnen ausführlicher zu beschäftigen und sie für seine weiteren Reflexionen auszuwerten. Denn auf Lichtenbergs Urteil legte Kant solchen Wert, daß er sich ihn als Rezensenten für seine MA wünschte (cf. den oben zitierten Brief Lichtenbergs an Heyne; der dort erwähnte Brief Kants an Schütz ist nicht erhalten). Nun ist zwar der anonyme Autor der Göttinger Rezension nicht eindeutig feststellbar —Lichtenberg selbst kommt dem genannten Brief zufolge wohl nicht infrage —, es ist aber ziemlich wahrscheinlich, daß er mit Lichtenberg in Verbindung stand; ja, aus persönlichen Umständen und inhaltlichen Indizien zu schließen, könnte Johann Tobias Mayer, von dem audi die zweite Kritik stammt, auch der anonyme Rezensent von 1786 gewesen sein. Johann Tobias M a y e r w a r der Sohn des gleichnamigen Göttinger
Mathematikers
( X I I I 6 5 6 ) ; er w a r zunächst Professor f ü r Mathematik in A l t d o r f und Erlangen, blieb aber mit Göttingen in Verbindung und wurde nach Lichtenbergs Tode auf Stelle berufen ( X I I 2 9 1 , 1 6 — 2 1 ) . —
dessen
Seine frühzeitige Parteinahme für das System
Lavoisiers und seine Schrift über den Wärmestoff sind schon genannt worden; er w a r ein Fachmann und Kritiker von R a n g und schon deswegen mußte K a n t sein Urteil ernst nehmen.
Um die inhaltlichen Gründe, die für Mayer als Autor der Göttinger Rezension sprechen, zu entwickeln, müssen wir den Text betrachten, dessen relevante Passagen Kant selbst unter leichter Abwandlung der Formulierungen wie folgt wiedergibt: „ D i e Phoronomie enthält den einzigen vorhin angeführten Lehrsatz v o n zusammengesetzter Bewegung. R e e : gesteht, daß er daselbst Gegenwärtiges nicht ausdrücklich findet,
und wenn er es auch e t w a übersehen hätte ( N B . es ist Lehrsatz Phoronomie
von mir zitiert zum Behuf der Behauptung, daß nichts Bewegung aufheben kann als Bewegung in entgegengesetzter Richtung) nicht begreift, wie es aus erwähntem Lehrsatz folgen könne. E i n K ö r p e r , der Bewegung hat, bleibt freilich an eben derselben Stelle des absoluten Raumes, wenn die Ebene, worauf er liegt, seiner Richtung gerade
K a n t s Reflexionen zur Materietheorie
48
entgegen mit eben der Geschwindigkeit geführt wird, aber mit β jedes Verbleiben an einer Stelle auf dieselbe A r t bedacht werden? Muß
man sich in einer Mauer eine
bewegende K r a f t denken, weil man an der Mauer nicht weiter fortgehen kann? Es ist nicht einmal deutlich, wie Phoronomie, die bloß Bewegung betrachtet, ohne an K r a f t zu denken, davon die Bewegung herrührt, auf bewegende K r a f t führen könne." ( X X I 4 1 5 , 3 — 1 7 ; cf. zur Ergänzung X X I I 808 f.) D e r R e z e n s e n t n i m m t also an z w e i P u n k t e n A n s t o ß : er kritisiert erstens d i e A b l e i t u n g v o n K r a f t ü b e r h a u p t a u s B e w e g u n g b z w .
die e n t -
s p r e c h e n d e B e n u t z u n g des p h o r o n o m i s c h e n L e h r s a t z e s b e i m B e w e i s L s . ι D y n . u n d t r i f f t d a m i t ersichtlich d e n n e r v u s p r o b a n d i d e r M A ;
von denn
d i e g e s a m t e K r ä f t e l e h r e , d i e in d e n s p ä t e r e n L e h r s ä t z e n d e r D y n a m i k e n t w i c k e l t w i r d , steht u n d f ä l l t n a t ü r l i c h m i t d e m B e w e i s v o n L s . 1 ( d a r a u f werde
idi
im
Kapitel
„Phoronomiekritik"
n i m m t der Rezensent im besonderen A n s t o ß dringlichkeit
(etwa
einer
Mauer)
auf
zurückkommen).
Zweitens
d a r a n , d a ß die
Undurch-
bewegende
Kraft
zurückgeführt
w i r d u n d k r i t i s i e r t d a m i t a u c h L s . 2 D y n . D a s ist d e m T e x t z w a r m i t t e l b a r z u e n t n e h m e n , ist a b e r v o n K a n t s o f o r t d a h i n g e h e n d
nur
verstan-
d e n w o r d e n ; d e n n er m e r k t a m S c h l u ß des A u s z u g s a n : „ Z u r L e h r e v o n den repulsiven K r ä f t e n " (a.a.O. Z . An
18).
g e n a u d i e s e m P u n k t s e t z t n u n auch M a y e r
in s e i n e m
Aufsatz
( a u s z u g s w e i s e w i e d e r g e g e b e n i m A n h a n g dieser A r b e i t ) a n u n d
bemüht
sich z u z e i g e n , d a ß „ w i r w e n i g s t e n s bis j e t z t n i c h t n ö t h i g h a b e n , in d e r Natur
eine R e p u l s i o n s k r a f t
anzunehmen"
(Gren,
Journal
der
Physik
V I I 2 , S . 2 0 9 ) . D i e s e m P r o g r a m m entsprechend kritisiert er auch K a n t : „Andere haben die zurüdkstoßende K r a f t sogar als eine wesentliche Eigenschaft der Materie betrachtet, und ihr reelles Dasein aus dem Phänomen der Undurchdringlidikeit erweisen wollen. Weil nämlich alle Materie anderer widerstehe, die in ihren R a u m eindringen w i l l . . . (es folgt ein R e f e r a t über Ls. 1 D y n . mit Namensnennung Kants und der M A ) . . . meine Meinung ist (ab hier hat K a n t X I V 499 ff. abgeschrieben), daß wenn Materie den R a u m , den sie wirklich einnimmt, vollkommen, d. h. mit Stetigkeit erfüllt (und das müssen wir doch annehmen, weil hier bloß von dem Räume die Rede ist, den sie wirklich erfüllt, nicht von dem, den sie mit Inbegriff des zerstreuten leeren Raumes einzunehmen scheint) es eine absolute Unmöglichkeit sei, ihn noch vollkommener zu erfüllen, und daß daher selbst eine unendliche K r a f t nicht vermögend sein würde, mehr Materie in diesen R a u m hineinzubringen,
oder
welches auf eins hinausläuft, den R a u m , den sie wirklich erfüllt, zu verringern. Braucht demnadi Materie außer ihrer Existenz in dem Räume, den sie erfüllt, wohl noch eine besondere K r a f t , um alles andere ähnliche, was in diesem R a u m eindringen will, auszuschließen? Tut sie es nicht bloß durch ihre Existenz in diesem R a u m , und ist diese nicht
vollkommen
hinlänglich,
die
materielle
Undurchdringlidikeit
(a.a.O. S. 2 1 1 f . ; die Rechtschreibung ist von mir normalisiert worden)
zu
begreifen?"
Kritik und Selbstkritik
49
D i e Identität im A n s a t z p u n k t der K r i t i k , d a z u die stilistische Ä h n lichkeit in der rhetorischen Fragestellung und schließlich der U m s t a n d , daß Gehler keinen weiteren G e w ä h r s m a n n f ü r die Leugnung der R e p u l sion
als
ursprünglicher
Kraft
nennt
(cf.
Gehler
IV
892—95
und
V 1 0 3 3 — 3 8 ) , mithin M a y e r als einziger namhafter Gegner dieser These in F r a g e kommt, machen es f ü r mich evident, daß M a y e r auch der R e z e n sent der Göttingischen Anzeigen gewesen ist. Doch, w i e dem auch sei, fest steht, daß K a n t seinem K r i t i k e r oder seinen Kritikern den entscheidenden Fingerzeig v e r d a n k t , daß er an seiner Lehre v o n den R e p u l s i v kräften ansetzen mußte, um aus dem Z i r k e l herauszukommen. K a n t erhielt aber nicht nur negative, sondern auch w e r t v o l l e positive Hinweise. A l s erstes ist hier Baaders A u f s a t z „Ideen über Festigkeit und Flüssigkeit . . . " (Grens J o u r n a l V
2, S . 2 2 2 ff.) zu nennen. Baader ist
z w a r nicht K r i t i k e r im eigentlichen Sinne (und leugnet z. B . auch nicht die Ursprünglichkeit der Repulsion), aber dadurch, daß er die rein d y n a mischen A s p e k t e der M A einseitig bevorzugt, w i r k t seine Argumentation in derselben Richtung w i e die Mayersche K r i t i k (vgl. den A n h a n g dieser Arbeit). H i e r der G e d a n k e n g a n g in K ü r z e : Für Baader verdient die dynamische Erklärungsart den Vorzug vor der medianischen, insbesondere bei den zur Zeit anstehenden Problemen der Naturwissenschaft, die ohne Untersuchung der „Ursadien der allgemeinen Phänomene, nämlich der Schwere, der Kohäsion, Festigkeit und Flüssigkeit, der Elastizität und dergleichen" nicht lösbar seien (a.a.O. 223 f.; cf. audi Baaders Anmerkung zu dieser Stelle). „Die Aussicht auf eine Auflösung dieser großen Probleme" sei durch die Publikation von Kants dynamischer Naturphilosophie in den MA entschieden gestiegen. Man dürfe seither die mechanische Erklärungsart nicht mehr als „Metaphysik der Naturwissenschaft" ausgeben, sondern müsse dem „dynamischen Naturphilosoph" einräumen, „daß das letzte Ziel und die Grenze aller Erklärungen noch weiter gehe, als bis zu den molécules primitives — und daß die Annahme der letztern allerdings noch eine Rechtfertigung bedarf, folglich nicht als eine unbedingte ursprüngliche Position gelten kann, wie uns die mathematischen Naturforscher bisher glauben machten." (a.a.O. S. 225) Bevor er die atomistischen Prinzipien Lavoisiers kritisiert, gibt Baader einen kurzen Abriß der kantischen Materietheorie (225—229), der allerdings sehr schmeichelhaft ist. Nach Baader sieht es so aus, als habe Kant tatsächlich in den MA eine ganz konsequent dynamische Theorie vertreten, nicht zuletzt deshalb, weil Baader die „Idee, die uns Herr Kant von der radikalen Auflösung gibt" über Gebühr in den Mittelpunkt stellt. Zwar gibt auch nach Baader „Herr Kant selbst zu, daß es Auflösungen ohne Durchdringung allerdings gibt" (226); aber den prinzipiellen Widerspruch zwischen der „Idee einer radikalen Auflösung" und der von Kant behaupteten mechanischen Undurchdringlichkeit der Materie — der übrigens auch in den MA an der fraglichen Stelle, IV $30, 17—532, 9, insbesondere 530, 36—531, 4 nur schlecht verhüllt zutagetritt — sieht Baader nicht oder will ihn nicht sehen. Die „vorzüglichste Schwierigkeit", die Kant den Atomistikern zu lösen gebe, sei, die Festigkeit zu erklären, die der
50
Kants Reflexionen zur Materietheorie
Atomistiker unerklärt voraussetze (227 f.). Baader übersieht dabei, daß man mit gleichem Redit den Spieß umdrehen und Kants dynamischer Theorie die Beweislast zuschieben kann.
Auf Kant, der ausweislich der Beckbriefe zu dieser Zeit an seinen M A bereits prinzipiell zweifelte und sich selbst „besser zu verstehen" suchte ( X I 377, 3 f.), muß das ganze wie eine einzige Aufforderung gewirkt haben, den vorläufig unberechtigten Lobsprüchen f ü r seine Dynamik nun tatsächlich gerecht zu werden, zur Klärung jener Grundsatzfragen beizutragen, den Mechanismus der Naturerklärung zu ersetzen und dadurch auch der neuesten Physik und Chemie zu sicheren Grundlagen in einer dynamischen Metaphysik der Natur zu verhelfen. In der Tat sehen wir Kant schon in der Korrespondenz mit Beck (am 4. 12. 1792) auf dem Wege in diese Richtung, zunächst in puncto Massenbegriff: „Was Ihren (sc. Becks) Versuch betrifft den Unterschied der Dichtigkeiten . . . sich verständlich zu machen, so muß das moment der acceleration aller Körper auf der Erde hiebey . . . als gleich angenommen werden, so: daß . . . die Quantität der Bewegung des einen, mit der des andern verglichen, (d. i. die Masse derselben) dodi als ungleich können vorgestellt werden, wenn diese Aufgabe gelöset werden soll; so daß man sich . . . die Masse unter demselben Volumen nicht durch die Menge der Theile, sondern durch den Grad specifisch verschiedenen (sie!) Theile .. . denken könne. Denn, wenn es auf die Menge ankäme, so müßten alle ursprünglich als gleichartig, folglich in ihrer Zusammensetzung unter einerley Volumen nur durch leere Zwischenräume unterschieden gedacht werden (quod est contra hypothesin)." ( X I 395, 32—396, 12)
Natürlich war diese Vorstellung Kant seit langem geläufig. Wie oben gezeigt, experimentierte er schon in den siebziger Jahren mit dem intensiv gefaßten Massenbegriff. Jetzt, 1792, greift er darauf zurück als Ausweg aus den immanenten Schwierigkeiten der M A — ob auf Anregung Baaders ist natürlich nicht sicher, aber dodi wahrscheinlich. Wie dem auch sei — entscheidend ist, daß Kant Beck gegenüber die M A nicht dogmatisch verteidigt und zu einer neuerlichen „Umkippung" nicht nur bereit ist, sondern sie sogleich vollzieht. Im zuletzt zitierten Beckbrief verwirft er nämlich den extensiven Massenbegriff der M A kurzerhand als „contra hypothesin". Diesen Standpunkt vertritt er fortan durchgängig und versucht, der „Hypothesis" eine sichere Basis zu verschaffen, indem er, ausgehend vom Massenbegriff, über das Problem der Anwendung des Größen- auf den Materiebegriff reflektiert und schließlich auf dem Losen Blatt 39/40 zu Reflexionen über die Verwendbarkeit der Kategorien zur Begründung der Dynamik und Physik überhaupt gelangt, die damit enden, daß K a n t sich über die verschiedenen Aspekte der lex con-
Kritik und Selbstkritik
51
tinuitatis klar zu werden versucht (cf. X X I 4 5 4 — 4 6 1 , insbesondere 460 f. und oben Kapitel I I 2). Während Baaders Einfluß auf Kants Spekulationen über das Kontinuitätsproblem, bezogen auf Materie, Masse und Größenbegriff und ferner die metaphysischen Grundlagen der Dynamik überhaupt nicht endgültig sicherzustellen ist, ist die Benutzung Mayers dank dem handschriftlichen Auszugs Kants ( X I V 499 ff.) ein nicht zu leugnendes Faktum. Mayer lobt nun die M A f ü r einen einzigen Gedanken ganz ausdrücklich: für den Nachweis der Möglichkeit einer durchdringenden Flüssigkeit, des Äthers (a.a.O. 225 f.; cf. im Anhang die gesamte Passage unter Ziffer 23 und 24). Damit weist der Schluß der Mayerschen Kritik an Kant in dieselbe Richtung wie Baaders Lob: auf den Ausweg aus den immanenten Schwierigkeiten der M A durch konsequente Ausnutzung ihrer dynamischen Aspekte. Aber im Unterschied zu Baader bleibt es bei Mayer nicht bei dem bloßen formalen Hinweis auf eine Lösungskonzeption. Vielmehr zeigt er Kant ganz konkret, bei welchen Einzelphänomenen die Erklärung aus Repulsivkräflen zu Fehlern führt: bei der scheinbaren Abstoßung der mit Bärlappsamen bestreuten Kügelchen, bei der Bildung der konvexen Oberfläche des Quecksilbers und der konkaven des Wassers in Haarröhren bei der Tropfenbildung (a.a.O. 2 0 9 — 1 1 ) ; bei der Raumerfüllung und bei der Elastizität ( 2 1 1 — 1 3 ) 1 8 . All diese Phänomene müssen in einer korrigierten Theorie ohne Rückgriff auf ursprüngliche Repulsivkräfte erklärt werden, und zwar nach Mayer grundsätzlich durch anziehende K r ä f t e — eine These, die Kant durchaus sympathisch sein mußte —. Das reicht für die Erklärung der Elastizität fester Körper hin ( 2 1 3 — 1 6 ) , nicht aber für die der Elastizität der Flüssigkeiten, insbesondere der Luftarten: hier bedarf es der Zuhilfenahme des Wärmestoffs (216 f.; 2 1 7 — 2 2 4 führt er das näher aus). Mayer führt hier die Grundlinien einer Materietheorie vor, die als Ersatz f ü r die auf dem Begriff der ursprünglichen Repulsion aufgebaute Theorie der M A dienen könnte und seine Ausführungen zu den Detailproblemen (s. dazu den Anhang) lesen sich gelegentlidi wie Arbeitsanweisungen für das o.p. So kann meines Erachtens kein Zweifel daran 18
S. 2 1 2 — 1 3 hat K a n t X I V 4 9 9 — j o i abgeschrieben. M a y e r s These, daß die von K a n t behauptete ursprüngliche Elastizität die Elastizität der K ö r p e r nicht zu erklären vermag, fällt übrigens noch härter aus als die Leugnung der Ursprünglichkeit der Repulsion: „ W e n n demnach die Teilchen eines elastischen Körpers aus ihrer natürlichen L a g e gebracht worden sind, so versetzen sie sich wieder in die vorige, aber zuverlässig durch eine ganz andere K r a f t , als diejenige repulsive, der sie ihre U n durchdringlichkeit zu verdanken haben sollen." ( 2 1 3 )
Kants Reflexionen zur Materietheorie
52
bestehen, d a ß die E r k l ä r u n g der P h ä n o m e n e der m i t B ä r l a p p s a m e n bestrichenen
Kiigelchen,
der
Quecksilber-
u n d Wasseroberfläche
(Mayer
2 0 9 f . ) K a n t zu seinen entsprechenden Ü b e r l e g u n g e n , die v o m O k . an ( c f . X X I 3 8 9 f . ; 3 9 7 ff.; f ü r spätere E n t w ü r f e : X X I 3 1 7 ff.; 2 4 7 ff.) in den f r ü h e n E n t w ü r f e n immer breiteren R a u m einnehmen, angeregt hat. Freilich ist es mißlich, f ü r solche D e t a i l s eine g a n z bestimmte
Ab-
hängigkeit nachweisen zu w o l l e n . D e n n der B e f u n d des o.p. zeigt i m mer w i e d e r , daß K a n t A n r e g u n g e n f ü r D e t a i l s a u f n a h m , w o h e r er sie gerade b e k a m : v o n durchreisenden Wissenschaftlern ( C h l a d n y : X X I 4 5 3 , cf. X I V
5 2 0 , 1 4 ff.), aus Büchern ( L a p l a c e , E x p o s i t i o n du S y s t è m e du
M o n d e : X X I 4 0 6 , 2 5 ) , u n d immer w i e d e r aus Gehlers Wörterbuch 1 9 . F ü r einen zentralen P u n k t jedoch, nämlich f ü r die L e h r e v o n
der
Repulsion b z w . ihre H e r l e i t u n g aus der E x p a n s i v k r a f t des W ä r m e s t o f f s , ist die direkte A n k n ü p f u n g an M a y e r nachweisbar, auch w e n n der N a c h weis selbst indirekt g e f ü h r t w e r d e n m u ß , u n d z w a r über V e r w e i s e auf Gehler. Gehlers N a m e w i r d im o.p. an sieben Stellen ausdrücklich genannt, f ü n f d a v o n beziehen sich auf einen A r t i k e l „ Z u r ü c k s t o ß u n g " : „Drittens. Zusammenhang und Abstoßung (cohaesio, repulsio) (vid. Zurückstoßung. Gehler) Flüssigkeit und Festigkeit . . . Wärme ist kein für sich bestehendes Expansum, denn sie ist das Mittel der Expansibilität anderer Materien, z. B. der Luftarten.' ( X X I 381, „Daß die Materie nicht durch ihre Existenz, sondern durch abstoßende Kraft dem Eindringen in einen Raum widerstehe (Gehler)" (327, 9 f.) X X I I 2 1 2 , 2 — 2 1 : Hier weitet sidi der Gedanke des letzten Zitats aus zu einer Polemik gegen die Korpuskularphilosophie (und ihre Erklärung der Dichtigkeit), die glaube, keine Abstoßung als besondere Kraft nötig zu haben. Demgegenüber behauptet Kant, die Materie werde den Raum nicht durch ihr bloßes Dasein, ohne besonderer abstoßender Kräfte zu bedürfen, erfüllen können (vgl. den Texapparat zu dieser Stelle: Eine geplante Anmerkung Kants fehlt; Hinweis auf Gehler „beziehungslos" am Rand).
5-9)
X X I 339, $—20: Analog zum vorigen Zitat findet sich hier eine Polemik gegen die atomistische Dichtigkeitserklärung, nach der Materie durch ihr bloßes Dasein den Raum erfülle; hier ein ausdrücklicher Zusatz: „vide Gehler unter Zurückstoßung". X X I 162, 26 f.: „Abstoßung, vis repulsiva, als besondere bewegende Kraft, nicht bloße Existenz im Räume. Zurückstoßung. Gehler." A d i c k e s (o.p. S . 59 u n d 1 0 1 ) v e r w e i s t f ü r X X I 15—20 "
auf den A r t i k e l
„Zurückstoßen"
381,
5 f. und
339,
bei G e h l e r , I V
892—95
(ich
Z. B. Scheeles Terminus „Empyreal- oder Feuerluft", den Kant nach Adickes o.p. 64 Anm. 2 vermutlich aus Gehler Bd. II 372 bezog; cf. ferner die Gehler-Verweise im Namensregister von Bd. X X I I 629, insbesondere die ausführlichen Erläuterungen und Belege X X I I 8 1 1 — 1 3 zu X X I 480, 9—481,24, d.h. zu Kants Auszug aus dem Artikel „Wärme" bei Gehler I V 533 ff.
Kritik und Selbstkritik
53
gebe ihn im Anhang wieder) und Lehmann X X I I 808, ist ihm darin gefolgt. Das ist jedoch insofern irreführend, als Gehler a.a.O. mit keinem Wort die These vertritt, daß die Materie durch ihr bloßes Dasein den Raum erfülle — er leugnet nur, daß das Zurückstoßen die „Wirkung einer in dem Körper wesentlich wohnenden K r a f t oder Eigenschaft" sei, gibt aber sonst keinerlei Anlaß für eine Auseinandersetzung mit dem Atomistmus, geschweige denn, daß er ihn vertritt, wie Kant scheinbar in einigen der oben angegebenen Zitate unterstellt. Das Rätsel löst sich dadurch auf, daß es einen zweiten Artikel „Zurückstoßen" gibt, und zwar Supplementband V 1033 — 1 0 3 8 , erschienen im Herbst 1795 (s. unten im Anhang) 20 : dieser Artikel ist ausschließlich der Mayerschen Polemik gegen Kants M A und die Behauptung der Existenz ursprünglicher Repulsivkräfte gewidmet, wobei sich Gehler selbst auf Mayers Seite stellt. Gehler referiert eben jenen Mayerschen Aufsatz „Ob es nöthig sey . . . " aus Gren V I I 208 ff., dessen Einfluß auf Kant hier zur Debatte steht, unter anderem wie folgt: „Herr Mayer erinnert dagegen (sc. gegen die kantische These) mit Redit, es sei doch hier bloß von demjenigen Raum die Rede, den die Materie vollkommen erfülle . . . daher sei die Existenz der Materie in diesem Räume vollkommen hinreichend, die materielle Undurchdringlichkeit zu erklären . . ." (a.a.O. 1034, anschl. Referat der weiteren Argumente gegen Kant und Mayers positive Erklärungsversuche)
Ich ziehe aus diesem Sachverhalt den Schluß, daß alle o. a. Zitate, die sich auf Gehlers Artikel „Zurückstoßen" beziehen, Auseinandersetzungen mit Mayer sind und Kant zwar „Gehler" sagt, aber Mayer meint, und Gehler nur insofern betroffen ist, als er sich Mayers Standpunkt zu eigen macht. Die fraglichen Zitate sind danach so zu verstehen: K a n t übernimmt die Mayersche Kritik insoweit, als sie die Ursprünglichkeit der Repulsion betrifft, nicht zuletzt unter dem Eindruck, daß er mit dieser These gerade im Kampf gegen die mechanistische Dichtigkeitserklärung Schiffbruch erlitten hat (s. o. die Beck-Briefe). Und in Konsequenz dieser Theorie hält er auch im Kontext der o.a. Zitate jeweils daran fest, daß die Repulsion bloß abgeleitet ist. Aber daß sie dennoch eine besondere (wenn auch abgeleitete) K r a f t ist, darauf kann und will Kant — im Unterschied zu Mayer, der alles auf Anziehung und Wärmestoff zurückführen will — nicht verzichten. Denn in diesem Punkte hält er an der Argumentation der M A (sc. daß die Undurchdringlichkeit dynamisch !0
Womit übrigens ein weiterer terminus post quem für den Ok. gewonnen ist und sidi die Exaktheit der Adickes'schen Datierung des Ok. (auf 1795—96) aufs schönste bestätigt.
54
Kants Reflexionen zur Materietheorie
erklärt und daher auf Kräfte zurückgeführt werden muß) fest, und mit Recht: eine kritiklose Übernahme der Mayerschen Position einschließlich des Satzes, daß das bloße Dasein der Materie zur Erklärung der Undurchdringlichkeit hinreichend sei, würde seine Dynamik erneut mit mechanistischen Vorstellungen belastet haben, von denen er sich im o.p. ja gerade befreien will und muß. Daraus resultiert die von Entwurf zu Entwurf deutlicher werdende Kritik an Gehler — Mayers Erklärung der Undurchdringlichkeit und der dadurch implizierten Behauptung eines Hauptsatzes der Atomistik. Und es ist interessant zu beobachten, daß Kant in Auseinandersetzung mit dem Mann, dem er so wichtige negative und positive Hinweise zur Lösung der Schwierigkeiten seiner Dynamik verdankt, zu der Erkenntnis kommt, daß er auch auf diesem Wege ständig in Gefahr ist, in den Mechanismus zurückzufallen. Dabei mußte ferner klar werden, daß die mechanistische Philosophie nodi immer ein ernstzunehmender, weil noch nicht endgültig überwundener Gegner war. Von hier aus sind audi die sich durch das ganze o.p. hinziehenden Auseinandersetzungen als ständiger Kampf mit diesem Gegner zu verstehen; daß auch bei diesem im engeren Sinne naturphilosophischen Streit Lebensinteressen der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori auf dem Spiele standen, ist nach den früheren Abschnitten klar und soll am Ende dieser Arbeit noch einmal zusammenfassend dargestellt werden. Zurück zu Mayer; er ist ehrlich genug, die methodische Schwierigkeit zuzugeben, die der Ableitung der Elastizität der Luftarten aus dem Wärmestoff entgegensteht: er darf nicht selbst elastisch sein, weil man dann in einen Zirkel gerät; also muß man versuchen, beim Wärmestoff ohne diese Voraussetzung auszukommen (S. 2 1 7 ; s. Anhang) in diesem Punkt trifft sich Mayer mit Gehler, und zwar kommt hier — aber auch erst hier — der Hauptartikel „Zurückstoßen" in Band I V ins Spiel: dort, S. 893, bemängelt Gehler an der Erklärung der Repulsion aus dem Wärmestoff, sie führe Elastizität auf eine elastische Materie, Repulsion auf Repulsion zurück. Kant ist diese Schwierigkeit aus Gehler, vielleicht audi unmittelbar aus Mayer geläufig (cf. im Ok ζ. Β. X X I 3 8 1 , 8 ff.; 383, 15 ff.). Wie aber aus ihr herauskommen? K a n t diskutiert zunächst als bloße Möglichkeit, der Wärmestoff scheine „eine nur den Lichtstoff adhärierende Eigenschaft zu sein . . . ein Verhältnis des Lichtstoffs zu den Körpern, da dieser als Äther sich in seinen Wirkungen t e i l t . . . " (381, 1 2 — 1 6 ff.), kurz darauf zieht er, wiederum aus der Zirkularität den Schluß: „Sie (sc. die Wärme) kann also nur ätherische
alle Materie ursprünglich durch-
Kritik und Selbstkritik
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dringende . . . Materie sein und . . . so wird die Lichtmaterie jene ätherische Materie sein, der Wärmestoff aber nur ein Quantum der Anhäufung derselben in den Körpern durdi Anziehung der Adhäsion . . . " (383, 21—27). E i n e g a n z ähnliche H y p o t h e s e w i r d schon bei M a y e r erörtert: „23. Wollte man mit Herrn de Luc den Wärmestoff selbst für eine zusammengesetzte Flüssigkeit halten, für eine Art von Dunst, der aus der Verbindung eines gewissen Stoffs mit irgendeinem andern Fluido zum Exempel dem Lichtstoffe oder Herrn Eulers Äther zusammengesetzt wäre, so ließe sich auch gedenken, daß beim Zusammendrücken der Luft, das mit ihr verbundene Wärmefluidum bloß eines Anteils seiner fortleitenden Flüssigkeit, nämlich des Lichtstoffs oder Äthers beraubt w ü r d e . . . 24. Idi finde wirklich schon diese Erklärungsart bei mehrern altern Naturlehrern . . . so sagt z. E. der sinnreiche Jesuit Lanis . . . den Äther selbst setzt er (sc. Lanis) nicht elastisch, sondern sagt von ihm, quod sit perfectissime fluidum, homogeneum et continuum, quod nullos poros habeat, sed poros omnium corporum, sicut spongia aquam, penetret . . . über die Möglichkeit einer solchen Flüssigkeit, welche ein vollkommenes Kontinuum ist, kann man in Herrn Kants metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft die Beweise finden. Mir ist hinreichend, gezeigt zu haben, wie der Wärmestoff, als eine Flüssigkeit welche mehr als Hypothese ist, die Elastizität der Körper bewirken kann, ohne daß man nötig hat, eine zurückstoßende Kraft anzunehmen." (a.a.O. 225 f.) Ich bin geneigt z u glauben, d a ß K a n t a u d i bei dieser
„bemerkens-
w e r t e n W e i t e r b i l d u n g in der W ä r m e l e h r e " (Adickes o.p. 6z) v o n M a y e r a b h ä n g i g ist, z u m a l er die Z u r ü c k f ü h r u n g des W ä r m e s t o f f s auf
„Eulers
Ä t h e r " im unmittelbaren Z u s a m m e n h a n g m i t d e m V e r w e i s a u f Gehlers Artikel „Zurückstoßung"
( 3 8 1 , j f . ) entwickelt. A b e r bei G e h l e r w i r d
gerade dieser Abschnitt v o n M a y e r s A u f s a t z nicht referiert; m a n müßte also annehmen, d a ß K a n t bei der A b f a s s u n g des O k . auch den M a y e r a u f s a t z selbst oder jedenfalls E x z e r p t e (die über das X I V
4 9 9 ff. er-
haltene hinausgehen) vorliegen hatte; aber d a f ü r gibt es außer inhaltlichen Indizien keinen B e w e i s . M ö g l i c h auch, d a ß sich K a n t d a r a n z w e i Jahre
nach
Erscheinen
der A b h a n d l u n g
nodi
erinnerte,
gerade
weil
M a y e r hier ausnahmsweise m i t ihm übereinstimmt; aber ich möchte nicht mehr als eine bloße V e r m u t u n g äußern 2 1 . A u s all dem ergibt sich als R e s u l t a t : w i e im I I . K a p i t e l beschrieben w o r d e n ist, n i m m t K a n t im V e r l a u f eines längeren Reflexionsprozesses sukzessive f u n d a m e n t a l e K o r r e k t u r e n an den M A v o r . Z u der E r k e n n t 21
Schließlich ist auch daran zu erinnern, daß schon der junge Kant Wärme, Elektrizität, Magnetismus und Licht auf den Äther zurückzuführen suchte: cf. Adickes N f . II 78; und Eulers Äthertheorie sowie ähnliche Theoriebildungen anderer Naturwissenschaftler waren Kant natürlich geläufig. Die Abhängigkeit von Mayer wäre also nur aus einer spezifischen Identität des Gedankenganges nachweisbar.
56
Kants Reflexionen zur Materietheorie
nis, daß die Schrift von 1 7 8 6 an schwer wiegenden Mängeln leidet und daher im Interesse seiner Philosophie als ganzer der Korrektur bedarf, mußte er schon deswegen kommen, weil die M A beim naturwissenschaftlichen Publikum durchgefallen waren und nicht beachtet wurden. D a ß er tatsächlich dazu gekommen ist, hat er der K r i t i k zu danken, der ganz seltenen direkten, die vielleicht von einem einzigen Mann herrührt, und der sehr verbreiteten indirekten, nämlich der naturwissenschaftlichen Diskussion, in der ganz andere Vorstellungen von den Grundlagenproblemen der Physik und den zu lösenden Aufgaben und von dem Baumaterial f ü r die Errichtung einer umfassenden Materietheorie herrschten als in den M A . In diesem Sinne, nämlich als vorläufig stillschweigender Teilnehmer, ist K a n t auch von der Diskussion abhängig. Dabei sind in erster Linie M a y e r (für den Grundriß der Problemstellung) und Gehler (für eine Reihe von Detailfragen) zu nennen, dodi darf der Gesamthintergrund der Diskussion mit ihren vielen vereinzelten Anregungen nicht vergessen werden — womit erneut gesagt ist, daß das o.p. nur als Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Problemen seiner Zeit und nicht als aprioristische systematische Konstruktion begriffen werden kann. Aber K a n t erweist sich auch im o.p. als kritischer Zuhörer, selbst da, w o er, wie im Falle Mayers, Anstößen und Anregungen von außen folgt. Was er von der Vernunft sagt, gilt auch f ü r ihn: er will von den Naturwissenschaftlern „ z w a r . . . belehrt . . . werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt" ( K r V Β X I I I ) . Wie selbständig er dabei verfährt, zeigt der Umstand, daß die „Zeugen" oft, wie Mayer, in Vergessenheit geraten und der „Richter" sich dem Zuge der eigenen Gedanken überläßt, die er dann allerdings wiederum dem kritischen Vergleich mit Entdeckungen und Ergebnissen anderer aussetzt. Von einseitiger Abhängigkeit kann daher nicht die Rede sein: K r i t i k und Selbstkritik zusammen machen das methodische Prinzip des Fortschreitens im o.p. aus.
6. Radikale Korrektur der MA Wir hatten schon bei der Besprechung der Vorarbeiten gesehen, daß K a n t K r i t i k und Selbstkritik in konsequente Selbstkorrektur umsetzt
Radikale Korrektur der M A
57
und die alte Materietheorie durch eine neue von grundsätzlich andersartiger Struktur ersetzt, die dann im Ok. schon weitgehend ausgebildet vorliegt. Nacheinander werden die für die alte Dynamik charakteristischen Positionen aufgegeben: Ursprünglichkeit der Repulsion, Undurchdringlichkeit als Grundeigenschaft von Materie, extensiver Begriff von Masse und materieller Substanz (mit entsprechender Konsequenz für die Bestimmung der Quantität der Materie), ursprüngliche Unterschiede der repulsiven Kräfte als Grund der spezifischen Dichtigkeitsunterschiede, Entbehrlichkeit einer Theorie des Zusammenhangs (der Kohäsion) für die Erklärung der Möglichkeit von Materie überhaupt. Dank des stichwortartigen Charakters der kantischen Reflexionen erscheinen diese Korrekturen zunächst ganz punktuell, isoliert, allenfalls verbunden durch die innere Logik einer Materietheorie überhaupt. Anhand des Ok. jedoch läßt sich nachweisen, daß Kants Selbstkritik und -korrektur systematisch und radikal sind, und zwar nicht nur deshalb, weil an die Stelle der alten einfach eine neue Theorie gesetzt wird, sondern weil diese neue Theorie die alte an der Wurzel korrigiert: das Modell vom Konflikt der bewegenden Kräfte, auf das die Erklärung der Möglichkeit des „bestimmten Naturdings" Materie (IV 470, 19) in den M A zurückgeführt wird und das daher auch alle übrigen Lehrsätze durchgängig bestimmt, wird neu gefaßt. Erst von hier aus gewinnen die neuen Positionen bzw. die neue Theorie insgesamt ihre innere Konsistenz. Diese Konvergenz der verschiedenen Momente der alten und der neuen Theorie wird deutlich, wenn man von der Polemik Kants gegen die Behauptung der Existenz materieller Punkte ausgeht, die im Ok. erstmals im o.p. auftaucht, äußerlich verknüpft mit dem Namen von Laplace. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Laplace und seinem gerade erschienenen „Systeme du monde" (1795 i. O., 1796/97 deutsche Übersetzung) findet jedoch nicht statt. „Laplace" ist nur eine Chiffre wie beispielsweise „der Monadist" der M A (cf. I V 504, 10 ff.), hinter der sich der wahre Adressat der Polemik verbirgt: ein jüngerer Kant, der vom älteren korrigiert wird. Hier ist es der Kant von 1786, gegen den der Kant von 1796 polemisiert. Das ergibt sich unzweideutig aus der Konfrontation der Ok.-Stellen mit den M A . Beginnen wir mit der Laplacestelle: „ D i e Quantität der Materie kann nidit durdi die Menge der Teile geschätzt w e r den, auch nicht durchs Volumen . . . , selbst nidit in der bloßen Vergleichung mit anderen, sondern nur durch Gravitation. Des Laplace materieller Punkt ist U n d i n g . " (406, 22—25)
Kants Reflexionen zur Materietheorie
58
A u s d e m K o n t e x t scheint z u f o l g e n , daß alle Versuche, die Q u a n t i t ä t der M a t e r i e ohne R ü c k g r i f f auf die G r a v i t a t i o n z u bestimmen, die B e h a u p t u n g der E x i s t e n z materieller P u n k t e implizieren. W e n n das richtig ist, so müßte das auch f ü r die Schätzung durch die M e n g e der T e i l e gelten u n d sich durch die M A belegen lassen; so ist es in der T a t : „Nun ist es nach den phoronomisdien Lehrsätzen einerlei, ob idi einem Beweglichen einen gewissen Grad der Geschwindigkeit oder vielen gleich Beweglichen alle kleinere Grade der Geschwindigkeit ertheile, die aus der durch die Menge des Beweglichen dividierten gegebenen Geschwindigkeit herauskommen. Hieraus entspringt zuerst ein dem Anscheine nach phoronomisdier Begriff von der Quantität einer Bewegung, als zusammengesetzt aus viel Bewegungen außer einander, aber doch in einem Ganzen vereinigter beweglicher Punkte. Werden nun diese Punkte als etwas gedacht, was durch seine Bewegung bewegende Kraft hat, so entspringt daraus der medianische Begriff von der Quantität der Bewegung." (IV 538, 22—32) N u n f o l g t aus der E r k l ä r u n g 2 in V e r b i n d u n g m i t L s . 1 Mech., d a ß die Q u a n t i t ä t der M a t e r i e nur durch den oben beschriebenen
mecha-
nischen Begriff v o n Q u a n t i t ä t der B e w e g u n g bestimmt w e r d e n könne. Mithin
steht u n d
f ä l l t dieser
(extensive)
Begriff
von
Quantität
M a t e r i e m i t der E x i s t e n z materieller P u n k t e . E s b e d a r f
aber
der
keines
Beweises, d a ß solche P u n k t e nach dem dynamischen P r i n z i p unmöglich sind
(cf.
die
Polemik
gegen
die
Monadologie
oder
die
Atomistik,
I V 5 0 4 f . b z w . 5 3 2 f f . ) ; folglich ist auch L s . 1 Mech. samt seinen K o n s e quenzen innerhalb einer dynamischen T h e o r i e unmöglich 2 2 . Dieser „ m e r k w ü r d i g e u n d F u n d a m e n t a l s a t z der M e c h a n i k " ( I V
539,
3 3 f.) u n d der S c h ä t z u n g der Q u a n t i t ä t der M a t e r i e ist allerdings nur ein K o r o l l a r der M a t e r i e a u f f a s s u n g der M A . A n den N e r v der Schrift v o n 1 7 8 6 rührt f o l g e n d e R e f l e x i o n des O k : 12
C f . auch die folgenden interessanten Formulierungen: „Ein Quantum der Materie ist die Menge des Beweglichen im Raum, insofern sie vereinigt und zugleich bewegt ein Ganzes ausmacht. Die Quantität ist die Bestimmung dieser Menge als eines gleichartigen Ganzen. — Alle Materie ist ein Quantum, d. i. keine Materie besteht aus einfachen Teilen (physischen Punkten)." ( X X I 4 1 2 , 5—9) Terminologisch steht diese Passage den M A nodi sehr nahe („Menge des Beweglichen"!), nicht aber der Sache nach: denn aus der expliziten Negierung der Existenz physischer Punkte folgt, daß „Menge des Beweglichen" nicht die Menge aller Teile des vereinigt bewegten Ganzen, sondern allein die Gesamtmenge des Beweglichen (der Materie) bedeuten kann, deren Teile nidit extensiv bestimmbar sind; denn das würde voraussetzen, daß die Teile nach einer Einheit abzählbar sind, mithin daß erste einfache Teile existieren. Als logisches Subjekt zu „Menge des Beweglichen" ist also nicht „Mannigfaltiges außerhalb einander" (wie in den M A : I V 539, 2$ f.), sondern „Materie" (als ein bewegliches Ganzes verstanden) einzusetzen. — Man sieht von hier aus deutlich, daß die extensive Schätzung der Materie bereits als solche die Behauptung der Existenz materieller Punkte impliziert.
Radikale Korrektur der M A
59
„ E s sind nicht zwei einander abstoßende oder anziehende Teilchen als materielle nächste Punkte, sondern zwischen jeden ist immer ein anderer Punkt, und die Materie ist ein Kontinuum." ( X X I 4 1 1 , 9 — 1 1 )
Nun ließe sich hier einwenden, daß auch die M A die Kontinuität von Materie lehren, daß die materiellen Punkte eine bloße Hilfsvorstellung sind beim Versuch, den Begriff einer stetigen Materie zu konstruieren, und daß für diesen Versuch, der von der Metaphysik gar nicht verantwortet zu werden braucht, eben das gilt, was Kant über die Schwierigkeiten einer solchen Konstruktion in den M A (insbesondere I V 521 f.) ausführt. Dieser Einwand vermag die These, daß Kant mit dieser Polemik im Ok. sich selbst kritisiert, nicht zu entkräften. Denn Kant hat nachweislich an vielen Stellen der M A vom Begriff der einander anziehenden und abstoßenden Materieteilchen Gebrauch gemacht: für eine Stelle (sc. Ls. 1 Mech.) ist das eben schon gezeigt worden. Dasselbe gilt für die eben erwähnte Passage I V 521 f.; und das gilt schließlich — von mehreren anderen Stellen abgesehen — vor allem f ü r diejenigen Lehrsätze, in denen das Herzstück der Dynamik von 1786, das Konfliktmodell, entwickelt wird. So wird in den Beweisen der Lehrsätze 5 und 6 der Dynamik die Existenz von Materieteilchen, die einander zurückstoßen (IV 508, 18 ff.) bzw. anziehen (510, 31 ff. und 5 1 1 , 3 ff.) vorausgesetzt; und im Fall von Ls. 3 Dyn., der geradezu den Schlüssel zum Verständnis des Materiebegriffs der M A und damit zugleich audi der Fehler der M A darstellt, erklärt Kant wörtlich, daß er seinen Beweis nur unter dieser Voraussetzung zu führen vermag: „Ich habe in diesem Beweise gleich zu A n f a n g angenommen, daß eine ausdehnende K r a f t , je mehr sie in die Enge getrieben worden, desto stärker entgegen wirken müsse. Dieses würde nun z w a r nicht so für jede A r t elastischer Kräfte, die nur abgeleitet sind, gelten; aber bei der Materie, sofern ihr als Materie überhaupt, die einen R a u m erfüllt, wesentliche Elasticität zukommt, läßt sich dieses postuliren. Denn expansive
Kraft,
aus allen Punkten nach nallen Seiten hin ausgeübt, macht sogar den Begriff derselben aus. Eben dasselbe Quantum aber von ausspannenden Kräften, in einen engeren R a u m gebracht, muß in jedem Punkt desselben soviel stärker zurücktreiben, so viel umgekehrt der Raum kleiner ist, in welchem ein gewisses Quantum v o n K r a f t seine Wirksamkeit verbreitet." ( I V 5 0 1 , 1 8 — 2 7 )
Dieser Beweis ist in sich durchaus folgerichtig; nur widersteht er mit seiner Behauptung realer, mit Repulsivkräften begabter Raumpunkte dem dynamischen Prinzip. Darüberhinaus nennt Kant selbst hier die Quelle, auf die der Mißverstand sowohl im Begriff von Quantität der Materie als auch in der
60
Kants Reflexionen zur Materietheorie
Frage der mechanischen Undurchdringlichkeit zurückzuführen ist: der „Begriff derselben", nämlich der Materie, enthält bereits die Vorstellung von Punkten, die expansive und — wie man hinzufügen muß — attraktive Kraft ausüben; mit anderen Worten das dynamische Konfliktmodell von 1786 impliziert die Existenz materieller Punkte. Und in der Tat geht es, wie wir oben sahen, davon aus, daß alle Teile der Materie einander anziehen und abstoßen; diese „Teile" aber sind, so können wir jetzt sagen, nichts anderes als materielle oder physische Punkte. Die oben zitierte Reflexion des Ok., nämlich: „Es sind nicht zwei einander abstoßende oder anziehende Teilchen als materielle nächste Punkte . . . " ( X X I 4 1 1 , 9 ff.)
belegt theoretisch die endgültige Abkehr von der Korpuskularauffassung der Materie bei Kant. Er hat sie — ebenfalls im Ok. — auch praktisch vollzogen, indem er ein neues Konfliktmodell entworfen hat: „Hier werden alle Eigenschaften der Materie nach contrarie
oppositis betraditet...
ι. . . . 2. . . . 3. Zusammenhang und Abstoßung (cohaesio, repulsio) . . . " ( X X I 380,
27—381, 5) „Anziehung und Abstoßung, beides als Flächenkraft (cohaesio et expansio) Anziehung und Abstoßung, beides als durchdringende körperliche Kraft (gravitatio et caloricum)" (387, 1 5 — 1 8 ; cf. auch 391, 12 f.) „Wenn die Attraktion des Zusammenhangs innerlich in der Materie gänzlich und plötzlich aufhörte, so würde sie sich ins Unendliche ausdehnen, und wenn die Repulsion aufhörte, die Materie in einen Punkt zusammenfließen." (409, 2 4 — 2 7 )
Im Konfliktmodell der M A operiert Kant mit einem einzigen Kräftepaar, das aus „inkongruenten Gegenstücken", nämlich der durchdringenden K r a f t der Attraktion und der Flächenkraft der Repulsion, besteht; im Ok. wird, (s. das erste und zweite Zitat) durch Aufnahme zweier weiterer Kräfte — einer durchdringenden Repulsion und einer Flächenkraft der Attraktion — aus einer Asymmetrie eine Symmetrie, und zwar dadurch, daß der Flächenkraft eine Flächenkraft, der durchdringenden Kraft eine durchdringende K r a f t kontraopponiert wird. Sinn und Bedeutung dieser Änderung ergeben sich aus dem dritten Zitat. Es liest sich auf den ersten Blick wie eine Wiederholung dessen, was schon die Dynamik der M A ausgeführt hatte (IV 508, 27 ff. und 5 1 1 , 3 ff.), daß nämlich Materie nur durch ursprüngliche Anziehung und Abstoßung einen Raum erfüllen könne; bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, daß hier ein anderes Konfliktmodell von bewegenden Kräften vorliegt: hier ist es nicht die durchdringende Anziehung der Gravitation, sondern die Flächenkraft des Zusammenhangs, die der Flächenkraft der Repulsion ent-
D e r „ Ü b e r g a n g " — ein Legitimationsversuch
61
gegenwirkt, um zu verhindern, daß sich die Materie ins Unendliche zerstreut23. Die Funktion dieses neuen Modells bzw. dieser neuen Modelle im Zusammenhang der neuen Theorie ist nicht schwer zu bestimmen: der Konflikt der durchdringenden Kräfte ist nichts anderes als ein Modell der Wirkungen des „allgemeinen Weltstoffs", des Materiekontinuums, Äthers oder Wärmestoffs. Der Konflikt der abgeleiteten Kräfte stellt die durch die Erschütterungen dieses Weltstoffs bewirkte Kohäsion bzw. Konstituierung von Körpern dar. Wir haben im Kapitel II 3 bei Schilderung der Grundzüge der neuen Theorie, die samt Belegen hierfür nochmals zu vergleichen ist, bereits gesehen, daß Kant, soweit es die Vorstellung von diesem Weltstoff im Detail angeht, nodi nicht festgelegt bzw. noch unsicher ist (und übrigens bis ans Ende des o.p. auch bleibt) und daß ferner diese Unsicherheit nicht spezifisch kantisch ist, sondern der damaligen Forschungsituation entspricht. Festzuhalten ist jedoch nochmals, daß Kant nur auf diesem Wege hoffen konte, die mechanistischen Reste aus seiner Dynamik zu tilgen, sie dadurch von ihren inneren Widersprüchen zu befreien24 und sie damit für die Begründung der Physik als Wissenschaft tauglich zu machen. 7. Der „Übergang"
— ein
Legitimationsversuch
Wir hatten oben schon gesehen, daß die Arbeit am o.p. bereits im Gange und die neue Materietheorie in ihren Grundzügen ausgebildet war, 23
24
D a ß das asymmetrische Modell der M A schon aus physikalischen Gründen unmöglich ist, hat Jules Vuillemin nachgewiesen; s. unten den zweiten Teil K a p . I V 1 . Adickes ist meines Wissens der einzige Interpret, der die prinzipiellen Schwierigkeiten der M A gesehen hat und auf den Begriff b z w . in ein Bild gebracht hat: X I V 388 ff. beschreibt er das Programm der M A exakt als den Versuch, zwischen der Scylla der Monadologie und der C h a r y b d i s des Atomismus die Lehre von der Kontinuität der Materie zu vertreten. E r sieht sehr klar, daß der extensive Massenbegriff bzw. der Begriff v o n materiellen Teilchen den Atomismus impliziert, akzeptiert jedoch inkonsequenterweise K a n t s Entschuldigung f ü r den Gebrauch der Punktvorstellung als Hilfsmittel bei der Konstruktion des Materiebegriffs (cf. I V 505, 7 — 2 3 und 5 2 1 , 1 4 — 5 2 2 , 2 3 mit X I V 339) und begibt sich damit auch der Möglichkeit, den Materiebegriff und das Konfliktmodell der M A selbst zu kritisieren und die Berechtigung der Korrekturen des o.p. anzuerkennen. So ist es ζ. B. zu erklären, daß Adickes das Konfliktmodell von 1786 auch im o.p. als eine sichere Voraussetzung ansieht, die K a n t zu seinem eigenen Nachteil preisgegeben habe (cf. Adickes o.p. S. 442 A n m . 1). Die Einsicht, daß das alte Konfliktmodell mechanistisch und daher innerhalb einer dynamischen Materietheorie unmöglich sei, hätte allerdings den systematischen Rahmen des Übergangs, auf den Adickes das o.p. bezieht, gesprengt.
62
Kants Reflexionen zur Materietheorie
bevor das Konzept des „Übergangs von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" im o.p. selbst und in Briefzeugnissen auftaucht. In den Vorredeentwürfen des Ok. versucht Kant erstmals, diese Konzeption zu entwickeln und zu begründen. Dabei wird wiederum deutlich, daß die Übergangsidee die revidierte Materietheorie des o.p. bereits voraussetzt und nur aus ihr zu verstehen ist und nicht umgekehrt sie zu erklären vermag. Der Ubergang ist, wie schon gesagt, eine ad-hoc-Lösung, dazu bestimmt, die Notwendigkeit des neuen Unternehmens zu begründen, zugleich aber seine sachliche und systematische Vereinbarkeit mit den M A nachzuweisen. Vor welchen — letzten Endes unlösbaren — Schwierigkeiten Kant dabei stand, läßt sich schon am ersten dieser Versuche ( X X I 386, 27—387, 14) ablesen: „Die Methodenlehre gebietet, von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik, von Begriffen der Natur, die a priori gegeben sind, zu empirischen, welche eine Erfahrungserkenntnis liefern, überzuschreiten . . ." (387, 3—6)
Die M A haben also entgegen der Ankündigung von I V 470, 4 ff. nicht den empirischen, sondern einen „a priori gegebenen" Begriff von Materie zugrunde gelegt. Diese den Leser der M A zunächst einmal irritierende Behauptung erläutert K a n t anschließend wie folgt: „Alle physischen Kräfte aber sind in dem Begriff der Bewegung als wirkende U r sache enthalten, deren Wirkung mithin empfindbar ist und als Element der Erfahrung sich auf den empirischen25 gründen, deren Ursache nicht a priori gegeben werden kann, wohl aber die Form der verschiedenen Verhältnisse, in die sie gesetzt werden müssen, um zu wirken." (387, 9 — 1 4 )
Das kann nur bedeuten: in den M A wurden die Begriffe bewegender Kräfte aus dem bloßen Begriff der Bewegung als wirkender Ursache, nicht aber die realen Phänomene bewegender Kräfte aus ihrer physikalischen Ursache, dem empirischen Begriff bzw. Phänomen der Bewegung, abgeleitet. Darin steckt das Eingeständnis, daß die M A über die Kräfte als physikalische Realitäten nichts ausgesagt haben; die Dynamik von 1786 wird nur noch als ein bloßer Formalismus gedeutet, von dem unausgemacht bleibt, ob ihm in der Realität irgendetwas korrespondiert. Derselben Tendenz folgt auch der zweite Vorredeentwurf (402 f.): „Der Begriff von einer Naturwissenschaft
. . . ist die systematische Vorstellung der
Gesetze der Bewegung der äußern Gegenstände im Räume und der Zeit, sofern jene a priori, mithin als notwendig erkannt werden können . . . die metaphysischen 25
An-
Ich lese mit Lehmann „auf den empirischen Begriff der Bewegung gründen" und beziehe „deren" in beiden Fällen auf: „Alle physischen Kräfte".
Der „Übergang" — ein Legitimationsversuch fangsgründe
63
derselben (sc. der Naturwissenschaft) . . . (sind) gänzlich auf Begriffen vom
Verhältnis der Bewegung und Ruhe äußerer Gegenstände gegründet . . ." (402, 12—23)
Noch deutlicher als in der ersten Skizze wird hier erklärt, die M A seien ausschließlich reine Bewegungslehre gewesen. Nun kann sich eine solche Interpretation der M A allerdings auf die Erklärung der Vorrede (IV 477, ι f.) berufen, wonach die Naturwissenschaft durchgängig entweder reine oder angewandte Bewegungslehre ist, und bestimmte Teile der M A stimmen damit auch zusammen (Phoronomie, zweiter Teil der Mechanik); andere, und zwar Kernpartien, dagegen (u.a. die Dynamik) sind damit nicht zu vereinbaren, denn es läßt sich leicht zeigen, daß die M A zumindest die Absicht hatten, mehr als bloße Bewegungslehre zu sein: so erklärt Kant ausdrücklich, der dynamische Begriff von Materie erweitere den bloß phoronomischen (IV 496, 11 ff.), mithin ist klar, daß die Dynamik mehr als Bewegungslehre enthalten soll; auch ohne dies ergibt sich das natürlich aus dem Anspruch der Dynamik, die Möglichkeit der Materie als Gegenstand im Räume zu erklären; dennoch kann man in Kenntnis der radikalen Selbstkritik Kants und der Korrekturen, die das o.p. an den M A vornimmt, vermuten, daß die formalisierende Deutung der M A begründet ist, und die spätere Entwicklung der hier exponierten Motive (zur von mir so genannten Phoronomiekritik) wird das bestätigen. Im dritten Entwurf (407 f.) schließlich deutet sich an, mit welchen Mitteln die Formalismusinterpretation der M A bewerkstelligt werden soll. Nach einer Einteilung der Physik in physica generalis („welche nur die Eigenschaften der Materie an äußeren Gegenständen der Erfahrung vorträgt"; 407, 17 f.) und specialis („welche auf die aus jener Materie auf besondere Art geformten Körper sieht und von ihnen ein System aufstellt"; 407, 18 ff.) heißt es dort: „Die physica generalis enthält also zugleich die Notwendigkeit des Überschritts von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik, vermöge der Verwandtschaft, die zwischen Regeln a priori mit der Erkenntnis ihrer Anwendung auf empirisch gegebene Objekte anzutreffen ist, der sidi doch darauf beschränkt, nicht auf dem Boden, zu dem er überschreitet, fortzuwandern . . . , sondern nur die Anfangsgründe zum Fortsdireiten in dieser Wissenschaft bestimmt und vollständig vor Augen legt." (407, 29—408, j )
Zunächst ist der positive Zweck kurz zu besprechen, dem der „Übergang" dienen soll: er soll also die Prinzipien des Fortschreitens in der Physik vollständig darlegen, m. a. W. eine Systematik der Physik liefern (cf. dazu die deutlicheren Formulierungen 386, 26—33 und 402, 20—
64
Kants Reflexionen zur Materietheorie
403, 9)26. Der Garant für die Vollständigkeit der Prinzipien, die hier entwickelt werden sollen, ist die Verwandtschaft zwischen Regeln a priori und der Erkenntnis ihrer Anwendung auf empirische Gegenstände; d. h. der Ubergang soll Anwendungsbedingungen solcher Regeln formulieren, also — in Analogie zum Verfahren der Tugendlehre (§ 45, V I 468) — eine Schematismusfunktion erfüllen, wie dann in späteren Entwürfen auch ausdrücklich erklärt wird. Eben dieses Mittel soll nun aber audi dazu dienen, die Herleitung des neuen Systems aus den MA begreiflich zu machen; und zwar soll man sich offenbar denken, daß die MA eine physica generalis aus reinen Begriffen von Materie entwickelt haben, die nunmehr auf die empirischen Begriffe von Körpern vermittelst des Schematismus, den der Übergang darstellen soll, angewendet werden sollen. Das klingt zwar recht plausibel, ist aber wiederum bei näherem Zusehen unhaltbar. Denn abgesehen von dem schon erwähnten Umstand, daß die MA ausdrücklich einen empirischen Begriff von Materie zugrundegelegt haben, mithin kein System reiner Begriffe sind und daher auch keines besonderen Schematismus bedürfen, haben ja gerade die Korrekturen des Ok. gezeigt, daß die scharfe Trennung zwischen einer Lehre von den Eigenschaften der Materie einer- und der Körper andererseits nicht durchführbar ist: die Probleme der Quantität oder der Qualität der Materie sind nur lösbar, unter Voraussetzung einer Theorie der Körperbildung; m. a. W. als „bestimmtes Naturding" (IV 470, 19) und Gegenstand der Erfahrung ist Materie stets ein Körper. Fassen wir also zusammen: in allen drei Vorredeentwürfen ist die apologetische Tendenz unverkennbar; Kant bemüht sich, die MA in den reinen Formalismus einer Bewegungslehre umzudeuten und dadurch mit seiner neuen Materietheorie in Einklang zu bringen. Ebenso deutlich ist aber, daß sich die Apologie bereits im Ansatz selbst wieder aufhebt; denn erstens widersprechen die Mittel der Apologie teils sich selbst (durch bloßen Schematismus können bewegende Kräfte nicht aus dem Bewegungsbegriff herausgeholt werden, wenn sie, wie hier vorausgesetzt, nicht darin enthalten sind), teils der neuen Theorie (Scheidung von physica generalis und specialis); zweitens aber können sie die immanenten Widersprüche der MA nicht nur nicht beseitigen, sondern machen sie erst ganz offen29
Diese Funktion des Übergangs spielt in späteren E n t w ü r f e n eine bedeutende Rolle, und in diesem Zusammenhang ist es audi durchaus richtig, von einer Konzeption des Übergangs zu reden; aber dieser Aspekt ist ganz unabhängig von der Aufgabe., zwischen den M A und der Physik zu vermitteln.
Der „Übergang" — ein Legitimationsversuch
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sichtlich. Dieser Versuch, das Unvereinbare miteinander zu vereinbaren, mußte also Kant über kurz oder lang zu der Einsicht bringen, daß der innere Widerspruch der Formalismusinterpretation, nämlich der Widerspruch zwischen Apologie und Kritik, nicht aufgelöst werden kann: in der Phoronomiekritik wird endgültig offenbar, daß die MA nicht zu halten sind und dementsprechend der Ansatz eines Ubergangs von den M A zur Physik aufgegeben werden muß. Implizit liegt dieses Eingeständnis Kants im Ok. auch schon vor. In der Beschreibung der positiven Aufgaben des Ubergangs, nämlich Anwendungsbedingungen für Regeln a priori auf empirisch gegebene Objekte und damit systematische „Anfangsgründe zum Fortschreiten" in der Physik zu liefern, kommt Kant nicht umhin, zu erklären, daß der Übergang tatsächlich ein Substitut und kein Korollar der MA ist, die ausweislich ihrer Vorrede ebenso wie des § 1 1 der K r V eben dies bereits hatten leisten sollen: Begründung der Physik als System, Sicherung ihrer Sätze durch Herleitung aus Prinzipien der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori und damit umgekehrt Nachweis der Sachhaltigkeit dieser Theorie selbst. Abschließend wäre zu fragen, warum Kant überhaupt nodi an den MA festhielt und die Widersprüche zwischen alter und neuer Theorie, zwischen dem formalen Rahmen eines Ubergangs und dem damit unvereinbaren Inhalt überhaupt noch in Kauf nahm und aufzufangen bzw. zu verschleiern versuchte. Hier kann man nur mutmaßen, da Äußerungen Kants zu diesem Punkt fehlen. Autoreneitelkeit als Motiv anzunehmen, wäre ein allzu billiger Ausweg. Wahrscheinlicher ist mir, daß die methodische Skepsis Kants hier entscheidend eingewirkt hat: einerseits kannte er die Schwächen seiner neuen Theorie sehr gut — was schon sein freies Experimentieren mit ihren Grundelementen, aber auch viele skeptische Äußerungen im o.p. beweisen — und war daher sicherlich nicht von der Stringenz seiner Korrekturen restlos überzeugt — die neuen Konfliktmodelle z. B. sind durchaus problematisch. Andererseits hat er zeitlebens die Möglichkeit des Totalirrtums geleugnet; er konnte daher die MA nicht ohne weiteres als total falsch beiseiteschieben. Daher mochte er wohl eine Zeitlang hoffen, die M A zu einem Formalismus a priori umdeuten und mit Hilfe der Übergangskonzeption seiner neuen Theorie anpassen zu können. Das erwies sich erst im Verlauf der weiteren Arbeit am o.p. als Illusion.
Zweiter Teil : Die Weiterbildung der neuen Dynamik
I V . Weiterentwicklung der neuen Materietheorie im Rahmen des „Ubergangs"
ι. A — C Der älteste Folioentwurf des o.p., A — C , unterscheidet sich dank seiner äußeren Form vorteilhaft vom Ok.: er ist konsequent und übersichtlich in Einleitung und drei Hauptstücke (Quantität, Qualität, Relation der Materie) eingeteilt, die Darstellung ist zusätzlich durch eine fortlaufende Paragraphenzählung gegliedert, vor allem aber bietet der Entwurf einen über weite Passagen hin durchformulierten und gut lesbaren Text (natürlich enthält auch A — C Randbemerkungen und dgl., aber sie sind fast immer eindeutig auf den Haupttext zu beziehen); allerdings bildet er darin eine der seltenen Ausnahmen im o.p. Seinem Inhalt nach zu urteilen ist der Entwurf dagegen im großen und ganzen nicht besonders bemerkenswert. Den größten Raum nehmen die naturphilosophischen bzw. physikalischen Themen ein, und die große Linie der Darstellung ist hier dieselbe wie in den Losen Blättern und im Ok., nur sind Konzeption und Formulierung der bisher entwickelten Ansätze entschiedener geworden. Daneben aber finden sich über den Entwurf verstreut auch einige für die weitere Entwicklung interessante Momente. Als erstes ist eine neuerliche Kritik des Konfliktmodells von 1786 zu erwähnen: „ D a alle Materie repulsive Kräfte haben muß, weil sie sonst keinen R a u m erfüllen, ihr aber doch auch attraktive K r a f t zugestanden werden muß, weil sie sich sonst ins Unendliche des Raumes zerstreuen würde — in welchen beiden Fällen der R a u m leer sein würde — , so lassen sich solche von Anbeginn der W e l t her wechselnde Stöße und Gegenstöße und eine zitternde (oszillierende, vibrierende) Bewegung der den ganzen Weltraum erfüllenden und alle K ö r p e r in sich zugleich mit begreifenden elastischen, zugleich aber auch in sich selbst attraktiven Materie denken, deren Pulsus eine lebendige K r a f t ausmachen und die tote K r a f t durch bloßen Druck und Gegendruck, mithin die absolute Ruhe im Innern derselben niemals eintreten lassen . . . die Ausdehnung
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Die neue Materietheorie im Rahmen des „Ubergangs"
der Materien im Weltraum und audi der darin begriffenen körperlichen Dinge (wird), sofern jene diese durchdringen, bewirkt als Wirkung einer lebendigen Kraft. Die Ursache, eine solche Hypothese anzunehmen, ist, daß ohne ein solches Prinzip der kontinuierlichen Erregung des Weltstoffs die Todesruhe
der Abspannung
der
elastischen Kräfte bei der immerwährenden der allgemeinen Attraktion und ein völliger Stillstand der bewegenden Kräfte der Materie eintreten würde." ( X X I 310, 3—23)
Es ergibt sidi erstens: ähnlich wie im O k . liegen dieser Darstellung zwei verschiedene Modelle vom Konflikt der bewegenden Kräfte zugrunde, einmal das Gegeneinander von durchdringender Repulsion und Attraktion als „lebendige" Kräfte, zum anderen (im letzten Absatz) das alte Modell, aus „toter" Flächenrepulsion und Gravitation konstruiert. Die Kritik setzt nun anders an als im Ok., und zwar stützt sie sich auf folgende Überlegung: „Die Ausspannung als Flächenkraft kann nicht gleichförmig akzelerierend
sein;
denn das Moment derselben nimmt mit der vergrößerten Expansion immer ab. D a gegen kann es die Anziehung (ζ. B. durdi die Schwerkraft) sehr wohl sein, eben darum, weil sie aufs Innere der Materie unmittelbar
wirkt, dahingegen jene nur auf die ober-
flächlich berührende (unmittelbar auf die) Materie, aber innerhalb nur durch einander aufhebende Wirkung und Gegenwirkung Einfluß hat." ( X X I 308, 23—29)
Die Repulsion als nicht-beschleunigende Kraft ist danach der durchdringenden Attraktion hoffnungslos unterlegen 1 ; besitzt also die Materie, wie in den M A behauptet, bloß Flächenrepulsion, dann wird sie, der immerwährenden Massenanziehung zufolge in einen (Gravitationsmittel-) Punkt zusammenfließen, mithin wird dann derjenige Fall eintreten, den dieses Modell gerade ausschließen sollte. Es träte dann in der Tat die „Todesruhe", der Stillstand aller bewegenden Kräfte, ein und es ergäbe sich das Paradoxon eines Beweglichen (Materie) ohne alle Bewegung — ein wahrhaft niederschmetterndes Resultat eines Unternehmens, das die Naturwissenschaft durchgängig als reine oder angewandte Bewegungslehre versteht. Kurz: auch ohne sich auf die dadurch implizierte Existenz physischer Punkte zu beziehen, kann man zeigen, daß sich das alte Modell von 1786 selbst ad absurdum führt. 1
Jules Vuillemin, Physique et Métaphysique Kantiennes, Paris 1955, S. 168, kommt vom Standpunkt der modernen Physik aus zum selben Resultat: er stellt fest, daß die Gravitation eine K r a f t im eigentlichen Sinne, die Repulsion aber bloßer Druck ist, und ferner, daß beide dementsprechend von verschiedener Dimension sind. V . schließt daraus: „L'un de ces êtres physiques ne saurait donc entrer en conflit réel avec l'autre ou lui faire équilibre, et il fallait pour les comparer, les réduire d'abord à la même dimension." — Man darf also das Scheitern des alten Konfliktmodells als wissenschaftlich bewiesenes Faktum betrachten.
A—C
71
Aus den zitierten Passagen folgt zweitens, daß die Unterscheidung von toten und lebendigen Kräften für die neue Theorie grundlegend ist und diese Bezeichnung audi inhaltlich relevant ist. Man erinnere sich dazu der Polemik der MA gegen diese Terminologie (IV 539, 15—29), wo Kant höchstens die ursprünglichen Kräfte der Dynamik „tote", die der Mechanik „lebendige" Kräfte genannt, im Grunde jedoch diese Bezeichnungen ganz abgeschafft wissen will. Audi hier also kehrt sich Kants Standpunkt um — in der These, daß die Existenz „lebendiger" Kräfte für die Möglichkeit der Dynamik konstituierend ist —, und auch in diesem Stück ist der Rückgriff auf ältere Vorstellungen nicht bloß willkürlich, sondern Konsequenz der Überprüfung der dynamischen Prinzipien. Schließlich ist zu bemerken, daß das neue Modell ursprünglicher Erschütterungen einer bloß dynamischen Urmaterie zumindest subjektiv, d. i. für Kant, bereits als gesichertes Stück der Theorie erscheint; denn wie selbstverständlich werden aus denselben Prämissen wie 1786 nunmehr diese Erschütterungen abgeleitet (310, 3 ff. Da . . . , da . . . , so lassen sich . . . solche Stöße und Gegenstöße . . . denken"), und gleichsam nebenbei wird eine weitere Unsicherheit der Theorie beseitigt: im Ok. hatte Kant noch geschwankt, ob die Ausdehnung durch die Flächenrepulsion eine ursprüngliche Eigenschaft der Materie sei oder nicht (cf. ζ. Β. 374, 24 f. oder 403, 26 ff. mit 381, 8 f. oder 410, 4—1 j); nunmehr wird ganz kategorisch auch die Ausdehnung auf die lebendige Kraft der Grundmaterie zurückgeführt. Insgesamt also macht die Entwicklung der Implikation des dynamischen Prinzips auch in A — C nicht unbedeutende Fortschritte. Dasselbe gilt nun auch für Kants Vorstellungen von der Funktion, die der Begriff des Äthers2 bzw. Wärmestoffs und der „Ubergang" überhaupt haben sollen; um dies zu zeigen, müssen wir ein wenig weiter ausholen. Bemerkenswerterweise beginnt Kant die Darstellung in A — C mit sehr vorsichtigen Formulierungen und recht bescheidenen Ansprüchen für seine Theorie: an der Spitze steht eine Definition der Physik: es folgt ein Paragraph über die bewegenden Kräfte, der über bloße Begriffsbestimmungen bzw. Phänomenbeschreibungen nicht hinausführt — kein 1
D a s Stichwort „ Ä t h e r " fällt in A — C nicht. Ich gebrauche dennoch beide Ausdrücke, der überwiegenden Z a h l der Belegstellen im gesamten o.p. folgend, promiscue; K a n t hat sie durchgängig in erster Linie zur Bezeichnung des „Subjekts" der „lebendigen" Kräfte benutzt und sich für mögliche Unterscheidungen oder für die Frage, ob es „ S t o f f e " seien, erst sekundär interessiert; übrigens w i r d sich schon in A — C , und erst recht später, zeigen, daß von einer „ S t o f f - T h e o r i e , wie Adickes meint, im Ernst nicht die Rede sein kann.
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Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs"
Wort etwa von den bewegenden Kräften als Bedingungen der Möglichkeit der Materie; in § 3 wird dann zwischen Flächen- und durchdringender Kraft unterschieden — mit welcher Konsequenz, wurde oben schon gezeigt —, wozu Kant abschließend bemerkt: „ . . . daher man die Einteilung der bewegenden Kräfte in Flächenkraft und durchdringende Kraft . . . auch nützlich braudien (kann)." ( X X I 308, 20 ff.)
Mit derselben Bescheidenheit skizziert Kant dann audi sein gesamtes Vorhaben: „Der Übergang enthält bloß Begriffe von denkbaren bewegenden Kräften der Materie und Gesetzen derselben, deren objektive Realität noch unausgemacht gelassen wird und ein System von Begriffen der Form nach gründet, welchem man die Erfahrung anpassen kann." (309, 17—20)
,Man', d. h. also etwa die Physiker, ,kann' seine (experimentelle) Erfahrung diesem an sich ganz leeren Begriffssystem anpassen — man braucht es aber nicht zu tun; dasjenige, wodurch sich dieses neue System von möglichen anderen, die ähnliche Dienste versprechen, allenfalls unterscheidet, ist seine ,nützliche Brauchbarkeit', ζ. B. für die Unterscheidung der bewegenden Kräfte. Der Ubergang scheint m. a. W. nichts anderes als eine Hilfswissenschaft der Physik, und zwar noch dazu eine bloß methodische, zu sein, die der Physik nicht einmal die Lösung sachlicher, sondern bloß terminologischer Probleme erleichtern soll. Deutlich ist, daß audi hier, wie schon im Ok. der Übergang die Aufgabe hat, eine Systematik der Physik zu liefern; aber der Vergleich lehrt auch, wie sehr Kant seinen Ton herabgestimmt hat: nichts deutet hier darauf hin, daß der Übergang eine dem Schematismus analoge Funktion haben und er mithin die Subsumtion empirischer Phänomene und Begriffe unter reine Begriffe a priori vermitteln soll. Offenbar ist Kant hier bestimmt durch die Kritik an den M A (s. o. zum LBl. 25) und seine eigene Einsicht in ihr Versagen. Denn dem § 1 1 der K r V zufolge sollten ja schon die M A eine Probe davon gegeben haben, wie der Plan zum Ganzen einer Wissenschaft entworfen, wie sie nach bestimmten Prinzipien eingeteilt und ihre Momente wie deren Ordnung vollständig erfaßt werden könne (B. 109 f.); nun, nach dem Scheitern jenes Unternehmens, zieht sich Kant für das neue zunächst auf eine gemäßigtere Ausgangsposition zurück. Dasselbe Understatement herrscht auch sonst in den Formulierungen von A — C vor (wenn sich audi gleich zeigen wird, daß Kant auf die Dauer diese Position nicht durchhalten konnte und, wie wir schon am
A—C
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Beispiel von 310, 3 ff. sahen, auch nicht durchgehalten hat): Ausgangspunkt ist häufig die Beschreibung empirischer Sachverhalte (s. die Einleitung, aber auch S. 3 1 2 f., 317, 318 oder 329); dem eigenen Erklärungsversuch gehen in der Regel ausführliche Überlegungen zu Alternativen voraus (cf. etwa 317, 24 ff., 318, 3 ff., 16 ff.); und überhaupt zieht Kant zumeist die problematische der kategorischen Äußerung vor. Das gilt insbesondere für die Art, in der Kant seinen wichtigsten Gegenstand, den Wärmestoff, behandelt. Zunächst werden im wesentlichen dieselben Eigenschaften wie im Ok. aufgezählt (cf. X X I 3 1 2 , 3 ff., 315, 3 ff., 316, 2 j f f . , 319, 24 f f . , 324, 19 ff., mit 374, 16 f f . , 378 f., 380, 381, 8 ff., 383, i j ff., 410, 9 ff.); neu ist höchstens die Behauptung, daß die Quantität des Wärmestoffs im Ganzen dieselbe bleibt (316, 27 f.), ferner, wie schon erwähnt, die kategorische Herleitung der Ausdehnung aus dem Grundstoff und schließlich die Termini „nur inhärent, nicht subsistent" (312, 7: der Ok. hat „adhärierend": 381, 13) und „principium motionis" (ib., cf. 310, 20). Mit diesen Termini ist freilich noch nicht viel gewonnen; sie sind vorerst nur Bezeichnungen, die die Fragen, die der Begriff des Wärmestoffs aufwirft, nicht beantworten. Denn wie soll man sich ζ. B. das Etwas, das da nicht subsistiert, sondern bloß inhäriert, eigentlich denken? Schon im Ok. war dieses Problem aufgetaucht, denn der Sache nach besagen Formulierungen wie „Wärme ist kein für sich bestehendes Expansum" (381, 8) oder „Wärmematerie ist nicht etwas, was flüssig ist, sondern was flüssig macht" (384, 1) nichts anderes als jene Termini auch. Im Gegensatz zum Ok. aber verzichtet Kant in A — C grundsätzlich auf Lösungsversuche (für den Ok. cf. etwa die Ansätze 383, 3 ff., 381, 8—28, 383, 21—34); d. h. er sagt gar nicht, wem der bloß inhärente Wärmestoff inhärieren soll. Stattdessen verschärft er die mit diesem Begriff verbundenen Schwierigkeiten, indem er an zwei Stellen (312, 3 ff., 319, 14 ff.) die Frage aufwirft, ob der Wärmestoff den Raum erfüllen könne oder ob man nicht vielmehr sagen müsse, er nehme den Raum nur ein; an einer weiteren erklärt er, man könne sich die ursprüngliche Elastizität des Wärmestoffs gar nicht vorstellen, weil Abstoßung „Gegenwirkung gegen die Annäherung" sei, die Wärmematerie aber „durch keinen Körper in Ansehung ihrer eigenen Ausspannung begrenzt und von weiterer Ausdehnung abgehalten werden kann". (324, 20—325, 3). Besonders deutlich wird das Dilemma in folgendem: „ M i t einem W o r t e : man kann sidi v o n einer Wärmematerie weder als expansiver noch als attraktiver Flüssigkeit einen Begriff machen. W i r können gleichwohl diesen
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Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs"
Begriff audi nicht entbehren, da w i r nur durch ihn von den lebendigen Kräften der Bewegung
der Materie, welche
zu
dieser
ihrer Bildung
notwendig
ist 3 ,
Gebrauch
machen können." ( 3 1 9 , 2 4 — 3 2 0 , 4)
Hier macht K a n t wiederum die Erklärung der Möglichkeit von Materie (also nicht bloß von Körpern) von der Möglichkeit, den Begriff der lebendigen K r ä f t e in einer dynamischen Theorie zu gebraudien, abhängig — womit er ein weiteres Mal eingesteht, daß die M A als Theorie der Möglichkeit von Materie überhaupt wertlos sind. Wichtiger aber ist hier, daß die Möglichkeit, von diesen für die gesamte Naturerklärung unentbehrlichen Begriffen Gebrauch zu machen, d. h. also die Möglichkeit ihrer Anwendung, vorläufig auf einer Vorstellung beruht, die ihrerseits unbegreiflich ist. Man sieht also, daß Kants understatement auf triftigen Gründen beruht, und er die Kritik gleichsam zu unterlaufen versucht, indem er den problematischen, ja fragwürdigen Charakter seiner Hypothese schonungslos offenlegt. Aber es stellt sich natürlich sofort die Frage: wie konnte Kant hoffen, mit einer derart desolaten Theorie beim (naturwissenschaftlichen!) Publikum Anklang zu finden? Wie soll der Übergang die ihm zugedachte Leitungsfunktion zur Physik hin ( 3 2 1 , 3 0 — 3 2 ; ich lese in Z. 31 „welcher" statt „welche", was m. E. allein einen vernünftigen, mit den übrigen Äußerungen Kants übereinstimmenden Sinn ergibt) erfüllen, wenn das leitende Prinzip unbegreiflich ist? Ist angesichts dieses Umstandes nicht selbst der bescheidene Anspruch Kants, mit seinem Übergang eine methodisch-terminologische Hilfswissenschaft für die Physik zu liefern, noch übertrieben? Jeder Physiker wird doch den Kopf schütteln müssen, wenn K a n t auf folgende Art f ü r sein Unternehmen zu werben versucht: „Diese einzig mögliche Erklärungsart der tropfbaren Gestalt des Flüssigen schafft außerdem
noch
den
Vorteil,
das Dasein
eines
besonderen
zur
ver-
Flüssigkeit
erforderlichen Stoffs, nämlich des alles durchdringenden Wärmestoffs, hypothetisch zu postulieren und so zur Erklärung einer Menge von Erscheinungen aus einem Prinzip hinzuweisen." ( 3 1 9 , 8 — 1 2 )
N u n : trotz der scheinbar aussichtslosen Situation — insbesondere trotz des Dilemmas im Begriff des Wärmestoffs — hoffte Kant offenbar, auch einem kritischen Naturwissenschaftler seine These plausibel machen zu können, und es lassen sich auch mindestens zwei Gründe f ü r seinen 3
Lt. A p p a r a t hat K a n t zuerst „sind" geschrieben, eine Lesart, die die Aussage noch verschärft; da ich ζ. Z . das Manuskript nicht einsehen kann, kann ich nicht feststellen, ob die Korrektur eindeutig ist oder nicht.
A—C
75
Optimismus anführen; erstens empfiehlt sich seine Hypothese (s. das letzte Zitat) durch ihren prinzipiellen Charakter, d. h. durch die Möglichkeit, Ordnung und Einheit in viele Phänomene der empirischen Physik zu bringen; zweitens aber ist sie nicht bloß zur Erklärung einzelner Erscheinungen hinreichend, sondern — und hier kommt nun wieder der Fundamentalsatz des Entwurfs ins Spiel — ihre Annahme ist überhaupt notwendig, weil ohne sie unbegreiflich ist, wie es Bewegung in der Natur überhaupt geben könne. Anders ausgedrückt; mit der Existenz des Wärmestoffs steht und fällt nach Kants Darstellung nicht nur seine eigene Materietheorie, sondern audi die Bedingungen der Möglichkeit der Physik bzw. der Erfahrung in der Physik überhaupt. Dem Physiker soll also das „tua res agitur" vor Augen geführt werden, und deshalb mochte Kant für einen Augenblick hoffen, er werde möglicher Kritik von dieser Seite begegnen können; in der Tat waren sich ja auch, wie wir oben gesehen haben, Physiker und Chemiker aller Schulrichtungen in der Annahme eines besonderen Wärmestoffs einig, und sein Begriff hatte für die soeben durch Lavoisier revolutionierte physikalische Chemie fundamentale Bedeutung. Freilich mußte sich auf die Dauer ergeben, daß man eine Aporie nicht gut als metaphysische Leistung darstellen kann und es auch nicht genügt, allein auf die Notwendigkeit, eine solche Hypothese einzuführen, zu pochen. Mit der Aufgabe, aus diesen Prämissen eine positive und haltbare Theorie zu entwickeln, beschäftigen sich alle weiteren Entwürfe des o.p. Durch dieses Verteidigungsmanöver in Richtung Physik wird Kant erneut mit seinem philosophischen Grundproblem konfrontiert, der Aufgabe nämlich, die Materietheorie in das System seiner Theorie der Erkenntnis a priori einzuordnen, die Prinzipien der Physik daraus abzuleiten und durch den Entwurf eines „Plans zum Ganzen einer Wissenschaft" (KrV Β 109) die Leistungsfähigkeit seiner Philosophie unter Beweis zu stellen. In A — C deutet sich nun zum ersten Mal an, daß Kant zur Lösung dieses Problems ganz neue Wege zu gehen bereit ist. Die drei wichtigsten Belegstellen zum Thema „Ubergang" (cf. 310, 24— 3 1 1 , 1 5 ; 316, 17—22; 330, 19—22) stimmen nämlich darin überein, daß der Übergang nunmehr Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung von Materie liefern soll. Dabei ist es in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, daß Kant an keiner Stelle darüber Auskunft gibt, wie diese Prinzipien nun genau und im einzelnen beschaffen sein sollen4; 4
E s gibt, wie schon gesagt, keine Lösungsversuche des Problems im eigentlichen Sinne; das wenige, w a s K a n t dazu sagt, beschränkt sich auf einige Andeutungen. S o nennt
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Die neue Materietheorie im Rahmen des „Ubergangs"
das bloße F a k t u m , daß er — w e n n auch zunächst bloß terminologisch und ohne greifbare Ergebnisse — den Problemen seines Übergangs mit erkenntnistheoretischen
Mitteln
zuleibe
zu
rücken
versucht,
ist
das
wichtigste Ereignis des E n t w u r f s A — C . D a s N e u e dieses Ansatzes ist darin zu sehen, daß K a n t die Prinzipien v o n D y n a m i k und P h y s i k überhaupt nicht mehr durch bloße Subsumtion unter
die Kategorien
oder G r u n d s ä t z e
seiner
kritischen
Erkenntnis-
theorie zu gewinnen versucht, w i e noch auf den frühen Losen Blättern und im O k . , sondern daß er hier erstmals versuchsweise diese Prinzipien selbst als Bedingungen der Möglichkeit der E r f a h r u n g bezeichnet, d. h. als transzendentale Prinzipien einstuft. D i e Konsequenz dieses Gedankens w ä r e , daß das Unterordnungsverhältnis v o n allgemeiner M e t a p h y s i k der N a t u r und besonderer metaphysischer Naturwissenschaft aufgehoben und die ehemals gesonderte metaphysische Körperlehre in die Theorie der E r kenntnis a priori selbst als genuiner Bestandteil aufgenommen w i r d . Die Gesamtanlage der MA — Absonderung der metaphysischen Körperlehre vom allgemeinen Teil der Metaphysik (cf. IV 477, 14—478, 20) — wie auch ihre Methode — „Anwendung der transzendentalen Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne" (IV 470, 1 1 f.); Durchführung des Begriffs der Materie durch alle vier Funktionen der Verstandesbegriffe (IV 476, 7 ff.; 495, 27 ff.; 523, 6 ff.; y j ι , I i ff.; y y 8, 22 ff.); Entlehnung von Verstandesgrundsätzen aus der allgemeinen Metaphysik in der Mechanik (541, 32 ff.; 543, 22 ff.; $44, 35 ff.) — sind von dieser systematischen Unterordnung durchgängig bestimmt. Auf derselben systematischen Ebene bewegt sich Kant wie gesagt aber audi nodi auf den LB1 und im Ok. A l s Resultat f ü r den E n t w u r f A — C ist festzuhalten, daß K a n t diese f ü r die S t r u k t u r seines philosophischen Systems bedeutsame K o r r e k t u r vorläufig noch nicht v o r n i m m t . er in einer Passage die Elemente des Übergangs „Prinzipien a priori der Anwendung jener rationalen auf empirische" (310, 27 f.) bzw. „Mittelgriffe" ( 3 1 1 , 1 1 ) , d.h. er operiert wie schon im Ok. — und in gewissem Sinne audi im Widerspruch zu der eingangs behandelten Stelle 309, 17 ff. — mit der Schematismusanalogie. — Da die Vorstellung sehr weit verbreitet ist, hinter dieser Ubergangsidee müsse a priori irgendetwas besonderes stecken, und die Sdiematisierungsfunktion prima vista auch so plausibel ist, muß auch hier darauf hingewiesen werden, daß die MA nun einmal kein System apriorischer Begriffe sind; das Ganze bleibt also vorerst ein Instrumentarium ganz inhaltsleerer, formaler Begriffe. Das wird indirekt auch dadurch bestätigt, daß Kant in anderem Zusammenhang mit einer Lösung spielt, die mit der Schematismusfunktion kaum oder gar nicht zu vereinbaren ist: aus 322, 1—8 kann man entnehmen, daß der Begriff der Wärme kein Erfahrungsbegriff ist, sondern eine Idee, sich der Realität des durch sie bezeichneten Objekts ständig zu nähern. — Von einer ausgereiften Konzeption kann jedenfalls in A — C noch nicht die Rede sein.
α—ε ζ.
77
α—ε
Mit demselben Optimismus wie in A — C versucht Kant in α—ε seine Entwürfe in Hauptstücke und Paragraphen zu gliedern. Hier gelingt es ihm jedoch nicht mehr, Form und Inhalt zur Deckung zu bringen und seine Vorstellungen durchzuformulieren. Die Form bleibt vielmehr äußerliche Zutat: unter die beiden vorhandenen Hauptstücktitel werden teils einander widersprechende, teils die Gliederung sprengende Skizzen subsumiert; so ist es nur folgerichtig, wenn Kant die bis zum Schluß von γ fortlaufende Paragraphenzählung schließlich aufgibt, weil ihr kein Fortschritt der Gedanken korrespondiert. Während man also angesichts der Geschlossenheit von A — C den Eindruck gewinnen konnte, als hoffe Kant, seine neue Materietheorie bald fertigstellen zu können, ergibt sich aus α—ε, daß er in eine Krise geraten war und seine Hoffnung auf baldigen Abschluß vorerst einmal aufgeben mußte. Uber die Gründe dafür muß der Entwurf selbst Auf schluß geben. Nach dem Gesagten ist zunächst einmal klar, daß nicht die Form, sondern nur die Inhalte ein Prinzip abgeben können, mit dessen Hilfe man sich in den — allein durch die Bogenbezeichnung α—ε zusammenhängenden — Skizzen orientieren kann. Es sind, grob gesprochen, drei Hauptprobleme, um die Kants Denken kreist: i . Klärung des Verhältnisses zu den ΜΑ 5 , ζ. Herleitung des Begriffs des Äthers bzw. Wärmestoffs aus den Phänomenen der Tropfenbildung, Haarröhren und Erstarrung", 3. Zweck des „Übergangs" und seine Funktion im System (was die Wiederaufnahme des ersten Problems impliziert)7. — In dieser Reihenfolge sollen im folgenden die wichtigsten Momente von α—ε dargestellt werden. Der Bogen α ( X X I I 205—215) Unter den Titeln „Quantität" und „Qualität der Materie" stellt Kant in α u. a. folgende Behauptungen auf: ι . Ein Quantum der Materie ist das G a n z e einer Menge beweglicher Dinge im Raum, ( i o j , 6 f.) 2. Jeder Teil der Materie ist ein Quantum; es gibt nidit metaphysisch einfache Teile: der Ausdruck ,materielle Punkte' des de Laplace enthält buchstäblich verstanden, einen Widerspruch; er soll nur ein Wirkungszentrum der Anziehung und Abstoßung von Materieteilen bedeuten. (205, 7 — 1 4 ) 5
Bogen α.
•
Bogen β — ε S. ι .
7
Bogen ε S. 2 — 4 .
Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs"
78
3. Wie in den M A bemerkt und begründet worden ist, kann jedes Materiequantum einen Raum nur durch den Konflikt der Anziehung und Abstoßung der Substanzen erfüllen; das folgt schon aus dem Begriff von räumlicher Materie. (205, 14—206,2) 4. Die Quantität der Materie muß dynamisch, d. h. durdi die Größe der Bewegung, die eine Materie der andern bei gleicher Geschwindigkeit mitteilt, geschätzt werden, weil Quantität der Materie und Quantität der Bewegung dann einander proportioniert sind. (206, 16—23) 5. Die Einheit der Quantität ist wiederum ein Materiequantum; was Laplace materielle Punkte nennt, sind bloß Stellen für Materieteile, denen in der Realität nichts korrespondiert. (207, 3—10) 6. Die Quantität der Materie kann nur mechanisch, durch die Größe der bewegenden Kraft, die eine Materie auf eine andere ausübt, gemessen werden. (207, 19—24) 7. Einziges allgemeines und dynamisches Schätzungsmittel ist die Gravitation; die Quantität der Materie kann also nur durch eine ursprüngliche bewegende Kraft geschätzt werden. (208, 6—28) 8. a) Aus dem bloßen Begriff von Materie folgt, daß sie nur durch den Konflikt von Anziehung und Abstoßung ihrer Teile möglich ist; „die Existenz der Materie" ist „nichts anderes als ein größeres oder kleineres Ganze materieller Punkte". ( 2 1 1 , 10—20) b) Dritte Bedingung der Möglichkeit von Materie sind beständige Äthervibrationen. ( 2 1 1 , 23—2$) 9. Die Materie besteht nicht aus einfachen Teilen; sie erfüllt den Raum nicht durch ihr bloßes Dasein, sondern durch die Wechselwirkung von Anziehung und Abstoßung ihrer Teile. (212, 2—20) 10. Alle Bildungen der Natur gehen vom Prinzip des flüssigen Zustands, der Wärme, aus; der Wärmestoff ist aber wie der Lichtstoff nur eine Modifikation des Äthers, der die einzige ursprünglich elastische Materie und attraktives allgemeines Medium der ponderablen Materie zugleich ist. (213, 6—215, 28) D i e R e i h e dieser T h e s e n enthält eine F ü l l e eklatanter Widersprüche, s o w o h l innerhalb einzelner Thesen ( N r . 4 . 6 . 9 ) w i e in ihrem V e r h ä l t n i s z u einander; u n d z w a r sind sie so handgreiflich, u n d ζ . T . sind die antithetischen B e h a u p t u n g e n a u f einer u n d derselben Seite des Bogens so h a r t neben einander gesetzt ( c f . z . B . 2 1 1 , 1 8 — 2 2 , m i t 2 1 2 , 2 f f . , oben N r . 8 a u n d 9 ) , d a ß sie nicht bloße Flüchtigkeitsfehler sein können. W i e aber sind sie z u erklären? Zwei
Themenkreise heben sich deutlich v o n einander ab,
nämlich
Q u a n t i t ä t der M a t e r i e u n d Möglichkeit der M a t e r i e überhaupt ( E x i s t e n z materieller P u n k t e ) . D i e z u m (also die N r n .
ersten T h e m a
gehörigen
Widersprüche
1 , 4 , 6, 7 ) lassen sich nun v e r h ä l t n i s m ä ß i g einfach er-
k l ä r e n : sie sind allein dadurch z u s t a n d e g e k o m m e n , d a ß K a n t D e f i n i -
α—ε
79
tionen und Begriffe seiner alten Mechanik wörtlich oder sinngemäß übernimmt und mit seiner neuen, rein dynamischen Erklärung der Quantität der Materie verknüpft; sie sind also zunächst bloß nomineller Art. Wirklich schwerwiegend sind dagegen die Widersprüche im Kernstück der Theorie: die Behauptung von beweglichen Dingen im Raum als konstitutiv für Materie als Quantum (i), von zugleich anziehenden und abstoßenden Substanzen (3), von Materie als einem Ganzen materieller Punkte (8 a) einerseits ist mit der Interpretation dieser Punkte als bloßer Hilfsvorstellung, der nichts Reales korrespondiert, (2, j ) oder mit ihrer ausdrücklichen Leugnung (2, 9 — wo im selben Atemzuge der Fehler der M A wiederholt und das die Existenz materieller Punkte implizierende alte Konfliktmodell benutzt wird) andererseits unvereinbar; und ebenso unmöglich ist es etwa, neben Attraktion und Repulsion (8 a: das alte Konfliktmodell) gleichrangig als dritte Bedingung der Möglichkeit von Materie überhaupt die Äthervibrationen zu setzen (8b). Doch auch dieser scheinbar heillose Wirrwarr läßt sich mit Hilfe folgender Überlegungen durchsichtig und begreiflich machen: Ebenso wie beim Problemkreis der Quantität der Materie ist auch hier die Rücksichtnahme auf die MA, und zwar auf den Wortlaut8 bestimmter Thesen, unverkennbar: daß Kant z.B. das Thema der materiellen Punkte überhaupt aufgreift und vorgeblich Laplacesche Vorstellungen korrigierend interpretiert, hat allein den Zweck, das alte Konfliktmodell vorzubereiten und als nichtwidersprüchlich zu erweisen9; so ist Laplace nur eine Chiffre, und im Klartext ergibt sich als Anweisung an den Leser: Nimm das, was die M A mit ihrem Konfliktmodell aussagen, nicht wörtlich ernst — das führt nur auf einen Widerspruch! Dieselbe Tendenz drückt sich in der Aneinanderreihung des alten Konfliktmodells und der neuen Vorstellung der Äthervibrationen (Nr. 8 a und b) aus; auch hier wird der Eindruck erweckt, als gehe die alte Theorie nahtlos in die neue über. Schließlich gehört auch Kants Versuch hierher, die M A als ein System reiner Begriffe (s. o. Nr. 3 und 8 a) hinzustellen, womit er die im Ok. begönne Umdeutung der M A zu einem 8
α — ε ist einer der wenigen E n t w ü r f e des o.p., die echte Zitate aus den M A , i. e. ausdrückliche Bezüge auf deren Text, enthalten (cf. auch X X I 2 5 7 , 20 f. und 2 6 3 , 9); später gibt es mehrmals unechte Zitate: das sind solche Stellen, an denen K a n t sidi auf Sätze der „metaphysischen Anfangsgründe etc." bezieht, die in dem Buch von 1 7 8 6 nicht vorkommen, z . B . X X I I 606, 9 — 1 4 oder X X I 5 5 2 , 2 2 — 5 5 3 , 3 . Diese Fälle implizieren einen veränderten Begriff von M A , der sich mit dem gleichnamigen Werk nicht deckt.
•
C f . dazu den K o n t e x t X X I I 2 0 5 , 1 0 — 2 0 6 , 2 : ein einziger S a t z !
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Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs"
bloßen Formalismus fortsetzt und verschärft. A l l das dient nur dazu, die Vereinbarkeit von M A und neuer Materietheorie zu belegen. Durch eben diese Rücksichtnahme auf die M A kommen nun alle Widersprüche in die Darstellung hinein; d. h. sie lassen sich alle auf den Grundwiderspruch zwischen den M A einerseits und der sie korrigierenden neuen Theorie andererseits reduzieren — kurz, es ist der Widerspruch, den die Übergangskonzeption als solche impliziert. D a diese Verhältnisse schon aus dem Ok. bekannt sind, braucht das hier im einzelnen nicht mehr begründet zu werden. Neu dagegen ist, daß Kant mit seinem Versuch, zwischen den M A und der neuen Theorie zu vermitteln, nicht mehr (wie im Ok.) im unverbindlichen Allgemeinen bleibt und sich daher auch nicht auf die leeren Formeln der Ubergangsmetaphorik beschränkt, sondern die M A in concreto — nämlich in puncto Konfliktmodell (materielle Punkte) und Quantität der Materie — zu rechtfertigen und mit seinen neuen Auffassungen zu vereinbaren versucht. An diesem Punkt wird nun der — gleichfalls oben schon erwähnte — Umstand relevant, daß sich Kants apologetische Versuche bereits im Ansatz notwendigerweise selbst aufheben: denn gerade das Unterfangen, möglichen Einwänden gegen die MA 1 0 durch ihre Umdeutung in einen metaphysischen Formalismus zu begegnen, nötigt K a n t dazu, die Widersprüche innerhalb der M A selbst wie in ihrem Verhältnis zur neuen Theorie erst recht offenbar werden zu lassen, eben weil die M A erklärtermaßen keine reine Metaphysik sind, weil sie über physikalische Realitäten etwas aussagen sollen, weil ihr Konfliktmodell die Existenz materieller Punkte impliziert usw. Dieser Mechanismus des Widerspruchs in der Apologie aber mußte sich in dem Augenblick voll auswirken, da Kant einsah, daß er seinen Lesern bloß implizite Korrekturen der M A allein nicht zumuten konnte, ohne ein klärendes Wort über Wert und Gültigkeit seiner Thesen von 1786 zu sagen. Aus der Zusammenstellung der Thesen des Bogens α ergibt sich nun, daß dieser Augenblick bereits gekommen ist: Kant sieht sich zu dem Eingeständnis gezwungen, daß sein Konfliktmodell von 1786 wörtlich verstanden widersprüchlich ist (s. die N r n . 2 und 5, im Text besonders X X I I 205, 8 ff.). Das bedeutet einen großen Fortschritt über den Ok. hinaus: aus dem impliziten Widerspruch ist ein expliziter, d. h. er ist 10
Einen Ansatzpunkt — das Beweisverfahren der M A — hatte der Göttingische Rezensent benutzt (s. L B 1 . 2 5 ) ; andere, ebenso günstige boten, wie K a n t ausweislich des Bogens α sehr wohl wußte — die versteckte Behauptung physischer Punkte oder das Verhältnis zwischen M A und neuer Theorie usw.
α—ε
81
Kant selbst als solcher bewußt geworden. Hier bestätigt sich, welche wichtige Rolle das Motiv der Apologie im Prozeß der Klärung von Kants Vorstellungen spielt; die eo ipso mit ihr verbundene Selbstkritik verlangt eine ständige Uberprüfung der Prämissen. Ein letzter Aspekt ist noch zu besprechen: Kant hat seine widersprüchlichen Thesen offenbar ganz bewußt so hart nebeneinander gesetzt. Sie sind charakteristisch für die skeptische Methode, Sätze und ihr Gegenteil zu beweisen (cf. Rfl. 5037, X V I I I 69), die Kant in den 60er Jahren geübt hat und die er in α—ε wie audi in den späteren Entwürfen erneut übt, wobei er audi im o.p. vor folgenreichen „Umkippungen" nicht zurückscheut. Wir werden noch mehrfach Gelegenheit haben, davon zu reden. Auf diese Weise lassen sich die Widersprüche von α zwar nicht auflösen, aber als eine wichtige Durchgangsstufe in der Entwicklung des o.p. begreifen; es wird sich zeigen, daß der oben beschriebene Mechanismus des Selbstwiderspruchs in der Apologie sich in α—ε noch ein weiteres Mal ausgewirkt und Kant den Anstoß zu einer grundsätzlichen Kritik der MA gegeben hat. Die Bogen β — ε ι ( X X I 247, 16—264; 495—504, 19; 521—523; dazu aus ε 2 J 2 J , i6—25) Nach der tiefgreifenden Krise, die in α zutage tritt, zieht Kant sich zunächst in scheinbar ruhigere Gewässer zurück. Die jetzt zu besprechenden Bogen behandeln fast ausschließlich und in ermüdenden Wiederholungen die Themen der Tropfenbildung, Haarröhren und Erstarrung. Inhaltlich erfährt der Leser darüber nichts wesentlich Neues, und sie interessieren hier nur deswegen, weil Kant sie mehrmals als Mittel zur Introduktion der Ätherhypothese benutzt. Wir hatten schon in A — C gesehen, daß Kant die Tropfenbildung als Grund der Annahme eines solchen Stoffs herausstellt; jetzt versucht er, diesen Gedanken in größerem Rahmen auszunutzen. In β ζ. Β. entwickelt er seine Gedanken etwa folgendermaßen: Alle flüssige Materie ist repulsiv- oder attraktiv-flüssig, die attraktive wiederum tropfbar oder nidittropfbar. Letztere ist, ohne eine bestimmte Gestalt zu
bilden,
bestrebt, sich allenthalben und durch alle Materien hindurch zu verbreiten. ( X X I 251, 3 1 — 2 J 2 , 7) Eine solche ursprünglich-expansive Flüssigkeit kann nicht die Luft, aber auch nicht die Wärme sein. (252, 8 — 2 1 ) D a es aber eine derartige Flüssigkeit geben muß, so kann sie nur in der Idee einer
82
Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs"
primitiven Materie zu finden sein, die durch lebendige Kraft ihrer Erschütterungen alle Phänomene der Körperbildung verursacht. (252, 22—253, 7) „Diese ursprünglich-elastische Materie ist nun der Äther, ein hypothetisches Ding, wohin gleichwohl die Vernunft, um zu einem obersten Grunde der Phänomene der Körperwelt zu gelangen, greifen muß. Weil man sich aber zu allen Bewegungen und daraus entstehenden Bildungen einen Anfang denken muß (wenn es auch eben nicht der erste Anfang aller Systeme, d.i. der absolute Weltanfang wäre), so wird dieser Anfang . . . in solchen inneren Bebungen und Erschütterungen gesetzt werden müssen. Daß diese Bebungen als Wirkungen einer lebendigen Kraft vom Druck und Zug als toten Kräften in der Berührung nicht abgeleitet werden können und sonach jene auf die Bildung des Tropfbarflüssigen als Ursache dieser Wirkung hinweisen und dieser idealen Hypothese selbst Realität verschaffen, wird aus Folgendem zu ersehen sein." (253, 8 - 2 3 )
Formal interessant ist der konstruktivistische Zug der Gedankenentwicklung. Man sieht hier sehr schön, welche Funktion die insbesondere von Adickes vielfach kritisierten systematischen Einteilungen haben: sie sind nicht, wie oft behauptet wird, apriorische Konsequenzen des kantischen Systems — das Viererschema der Kategorien spielt hier ζ. B. gar keine Rolle —, sondern regulative oder heuristische Hilfsmittel, ein bestimmtes Material — das übrigens weder als apriorisch noch als empirisch näher qualifiziert wird — nach Vernunftprinzipien zu ordnen. Sachlich relevant wird diese Ordnungsfunktion an dem Punkt, wo Kant aus der Einteilung auf die Notwendigkeit schließt, daß es eine ursprünglich-expansive Flüssigkeit geben müsse. Man mag diesen Schluß in concreto bezweifeln, das Verfahren als solches jedoch ist durchaus legitim: es wird auch in der Naturwissenschaft — bisweilen mit großem Erfolg — angewandt, man denke nur an die Aufstellung des periodischen Systems der Elemente oder an den Schluß auf die Existenz noch nicht entdeckter Planeten als Analogien. Inhaltlich wichtig sind folgende Themen: 1. Der Äther ist der oberste Vernunftgrund der Phänomene der Körperwelt, insbesondere der Erklärungsgrund für den Anfang aller Bildungen, 2. Die Tropfenbildung ist ein empirischer Beweis für die Wirksamkeit des Äthers und verschafft dadurch dieser Hypothese Realität. — Beide Momente werden auch in einer späteren Entwurfskizze (255, 16—256, 23) besonders betont; zum zweiten heißt es dort noch deutlicher: „Die Phänomene der Flüssigkeit werden also nie anders als unter Voraussetzung jenes Ursprünglich-Flüssigen und seiner inneren oszillierenden Bewegung erklärt und die Gesetze derselben allgemein vorgestellt werden können." (256, 20—23)
In den Flüssigkeitsphänomenen glaubt Kant also einen ganz sicheren
α—ε
83
Anhaltspunkt zu besitzen. Berücksichtigt man nun, in welcheAporienKant bisher geraten ist, so wird verständlich, warum er diese Themen im Hauptteil von α—ε so sehr in den Vordergrund rückt, ausführlich behandelt und den Grundbegriff seiner neuen Theorie daraus zu entwickeln versucht; wir werden freilich gleich sehen, daß damit die Schwierigkeiten im Begriff des Äthers und des Wärmestoffs noch keineswegs behoben sind. — Für die spätere Entwicklung interessant ist die Erklärung, daß man sich einen ersten Anfang aller Bildungen denken müsse (im Ok. war noch ganz allgemein vom „Anfang aller Dinge" 378, 23 f. die Rede). Hier zeichnet sich ein weiteres Moment in der Idee eines Weltsystems der Materie und damit die Gefahr ab, daß die neue Theorie wegen der Wiederaufnahme des Weltbegriffs mit der transzendentalen Dialektik der K r V in Kollision geraten könnte, was Kant — wie man seiner Zusatzbemerkung über die Relativität dieses ersten Anfangs entnehmen kann (s. das Zitat aus X X I 253, 8 ff.) — durchaus gesehen hat 11 . Diese Vorstellungen von Äther und Wärmestoff bilden die Basis aller weiteren Darstellungsversuche der zur Debatte stehenden Bogen. Am Ende stellt sich dann aber heraus, daß auch die Flüssigkeitsphänomene keinen Ausweg aus der Sackgasse eröffnen — andeutungsweise schon 521, 4—21, ausdrücklich dann 525, 16—25: „Das
Ursprünglich-Flüssige,
die
Wärmematerie,
ist
qualitas
occulta,
causalitas
phaenomenon, w o die Inhärenz als Subsistenz betrachtet w i r d und immer im Zirkel geschlossen wird. D e r Wärmestoff, die Basis der W ä r m e , bedarf einer W ä r m e , um elastisch zu werden. E r ist eine Materie ohne Schwere und nicht von der Stelle bewegbar, bewegt
aber alle Materie
innerlich, macht Materien
elastisch
und
doch
auch
zusammenhängend und ist gleichwohl ohne Schwere. Ist im ganzen Weltraum ausgebreitet: die W e l t aber hat keinen O r t , woraus sie sich bewegen könne —
permanent
elastisch und doch veränderlich in seinem Einfluß auf K ö r p e r . "
Diese Passage ist ein neuerlicher Beweis für Kants aporetisch-skeptisches Verfahren und die Radikalität, mit der er die Produkte seiner Reflexion einer ständigen Überprüfung unterwirft; sein Blick ist also keineswegs, wie Kuno Fischer einmal behauptet hat, von der „Vorliebe des Greises für das späteste Kind" getrübt. Der Sache nach läuft Kants Einwand gegen sidi selbst auf nichts anderes hinaus, als daß seine neue Theorie den Fehler der alten — nur mit anderen Mitteln — wiederholt, u
Darüber hinaus deutet sich hier der Ansatzpunkt f ü r ein weiteres Problem an: mit den Begriffen der W e l t und des ersten A n f a n g s der Bildungen, d. h. also auch mit dem Ätherbegriff, ist das Problem von R a u m und Zeit untrennbar verknüpft; erst in Elem.Syst. 1 — 7 freilich entwickelt sich Kants Fragestellung bis zu diesem Punkt, von dort an aber w i r d es zum beherrschenden Thema aller E n t w ü r f e bis ins V I I . K o n v o l u t hinein.
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Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs"
indem sie voraussetzt, was sie beweisen will. — Offensichtlich ist hier das — schon aus A — C bekannte — Dilemma im Begriff des Wärmestoffs auf die Spitze getrieben. Jetzt scheint nicht nur, wie in α, der formale Rahmen der Übergangs-Konzeption, sondern der Inhalt der Theorie als soldier fragwürdig geworden zu sein; insgesamt also bietet α—ε ein Bild der Auflösung an allen Fronten, in krassem Unterschied zum vorausgehenden Entwurf A — C . Paradoxerweise aber bringt gerade die schonungslose Selbstkritik, die Kant hier in die Enge treibt, ihn auch wieder weiter; sie führt ihn zu einer erneuten Uberprüfung der Prämissen des ganzen Unternehmens und darüber hinaus zur Erarbeitung neuer Grundlagen — erste Ansätze dazu zeigen sich bereits im folgenden Abschnitt ε 2—4. Bogen ε, ζ.—4. Seite ( X X I 524—528, 19) Unter dem Titel „Vorrede" versucht Kant in diesem Abschnitt, Ziel und Zweck seines Unternehmens zu bestimmen. In der ersten zusammenhängenden Partie (524—525, 15) gibt er zunächst eine Einteilung der Naturwissenschaft in die (schon gelieferten) MA und die Physik und erklärt anschließend, er wolle allein das Feld des a priori Erkennbaren in einem nichtwillkürlichen Vernunftsystem vollständig darstellen, die Physik dagegen, auf die die metaphysischen Vorbegriffe abzielten, anderen zur Bearbeitung überlassen; schließlich entwickelt er den Begriff des Ubergangs folgendermaßen: Metaphysik und Physik sind wechselseitig auf einander angewiesen; mithin ist der Begriff eines Übersdiritts ein a priori in der Elementarlehre der Naturwissenschaft gegebener Begriff. ( A u d i die Physik ist v o n der Metaphysik nicht unabhängig)
sie
handelt nämlich von bewegenden Kräften und Materiewirkungen, „die z w a r samt ihren Gesetzen objektiv betrachtet bloß empirisch, subjektiv aber doch als a priori gegeben gebraucht werden können und müssen, weil ohne sich auf sie zu beziehen keine E r fahrung für die Physik gemacht werden könnte. D e r
Physiker muß jene
Gesetze
gleich als a priori gegeben den übrigen Erfahrungen zu Grunde legen, denn anders kann er die metaphysischen Anfangsgründe mit den physischen nicht in Zusammenhang bringen." (524, 2 8 — 5 2 5 , 1 2 )
Der Gedankengang gibt eine Reihe von Fragen auf, ζ. B.: welches sind die metaphysischen Vorbegriffe, die der Ubergang vollständig darstellen soll? Nach den vorausgehenden Entwürfen kann man nur vermuten, daß es sich um den Äther und die mit ihm zusammenhängenden Vorstellungen handelt. Ferner: was bedeutet es, daß der Übergang in der Elementar lehre der Naturwissenschaft enthalten sein soll? Kann man mit Hilfe der vorausgehenden Einteilung der Naturwissenschaft daraus
α—ε
85
schließen, daß die M A diesen Begriff bereits implizieren, er also analytisch aus ihnen entwickelt werden kann und soll? Schließlich: inwiefern machen die Begriffe, die der Übergang enthalten soll, Erfahrung möglich? Dienen sie nur dazu, in bereits gewonnene empirische Daten Ordnung und System zu bringen oder haben sie darüber hinaus auch die Funktion, zur Entdeckung neuer Daten zu verhelfen; m. a. W. soll der Ubergang bloß regulative oder — wenigstens teilweise — auch konstitutive Prinzipien exponieren? Unterstellen wir vorläufig, daß der Ubergang in der Tat durch die M A impliziert wird, regulative Grundsätze für die Erfahrung in der Physik enthalten und sie damit als System möglich machen soll, so sind dennoch die kritischen Implikationen dieser Konstruktion nicht zu übersehen: bekanntlich sollten bereits die M A eben diese Funktion erfüllt und die metaphysischen Prinzipien der Körperlehre vollständig erschöpft haben — zum Beweis dieser Behauptung genügt es, auf den schon erwähnten § i r der K r V oder die MA-Vorrede (etwa I V 472, 1 — 4 7 3 , 34) zu verweisen —. Mit diesem Anspruch aber ist die These, der Ubergang solle die f ü r die Physik erforderlichen metaphysischen Vorbegriffe vollständig darstellen, unvereinbar, und zwar auch dann, wenn er wirklich bloß analytisch aus den M A folgt (woran berechtigte Zweifel möglich sind). Gegenüber der systematisch orientierten Interpretation ist also abermals festzuhalten, daß auch diese so plausibel erscheinende Ubergangskonstruktion sich selbst aufhebt. Darüber hinaus ist noch ein weiteres Moment des oben dargestellten Gedankenganges zu berücksichtigen, das zum gleichen Resultat führt: der Physiker soll die „metaphysischen Anfangsgründe" mit den physischen verknüpfen können; warum? Offenbar doch deswegen, weil er sich im Felde gewisser metaphysischer Anfangsgründe bewegt und bewegen muß, sobald er seine objektiv-empirischen Begriffe als subjektiv-apriori-gegeben gebraucht, um Erfahrung „machen" zu können 12 . Diejenigen metaphysischen Vorbegriffe also, an denen der Physiker allein interessiert sein kann und die der Ubergang daher über die M A hinausgehend entwickeln soll, sind objektiv nur empirische Begriffe: wie kann dann aber der Ubergang a priori in der Elementarlehre der Naturwissenschaft enthalten sein und aus — nach Voraussetzung — reinen Begriffen und Prinzipien folgen? 12
D a v o n , daß der Physiker bei seiner Arbeit notwendigerweise von metaphysischen Voraussetzungen Gebrauch macht, spricht ebenfalls schon die M A - V o r r e d e ( I V 4 7 2 , 2 7 ff.).
86
Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs"
Allerdings zeichnet sich hier positiv die Möglichkeit ab, das unter dem Titel „Übergang" zu entwickelnde System metaphysischer Vorbegriffe mit „metaphysischen Anfangsgründen" einfach zu identifizieren und dadurch die MA (und mit ihnen die dargestellten Widersprüche) wegfallen zu lassen: daraus ergäbe sich zum ersten Mal eine durchführbare Konzeption — freilich nicht die des ursprünglich geplanten Ubergangs. Nach dieser Auffassung müßte man annehmen, daß der Begriff „metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" nicht mehr notwendigerweise mit dem Werk von 1786 identisch ist. Sieht man nun genauer zu, so stellt man fest, daß Kant in der Tat an der besprochenen Stelle X X I 525, J12 von einer solchen Bedeutungsverschiebung implizit Gebrauch gemacht hat. Nun ist Kant hier zwar noch nicht so weit, daß er die MA endgültig aufgibt und ein neues System „metaphysischer Vorbegriffe" ins Auge faßt, aber der oben wiedergegebene Gedankengang ist interpretierbar als Experiment, Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in der Physik auch explizit zum Thema des o.p. zu machen. Wir haben schon bei Betrachtung der Vorarbeiten gesehen, daß die Wiederaufnahme der Reflexionen zur Materietheorie bestimmt wird von dem Interesse, die Anwendbarkeit der Kategorien auf Begriff und Phänomen der Materie, die Unentbehrlichkeit des Kategoriensystems zur Begründung der Dynamik und Physik als Wissenschaft und damit die Sachhaltigkeit der Theorie der Erkenntnis a priori überhaupt nachzuweisen. Wir haben ferner gesehen, daß Kant dank Kritik und Selbstkritik erkennen mußte, daß die MA eben dies nicht geleistet und damit in dem für den Bestand des kritischen Systems zentralen Punkt versagt haben. Wir haben schließlich gesehen, daß Kant im Entwurf A—C versucht, methodisch neue Wege zu gehen, indem er die für die MA konstitutive Trennung von allgemeiner Metaphysik der Natur und besonders metaphysischer Naturwissenschaft erstmals provisorisch aufhebt und die Ubergangsprobleme als Bestandteil und nicht mehr nur als bloße Folgeprobleme seiner Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zu betrachten beginnt. Dieser Schritt ist für das Konzept der Theorie der Erkenntnis a priori von kaum zu überschätzender Bedeutung. In dem Augenblick nämlich, da Kant ihn endgültig tut, erfährt die Struktur dieser Theorie selbst eine grundsätzliche Veränderung: mit der Aufnahme der Prinzipien von Dynamik und Physik unter die Prinzipien der Erkenntnis a priori überhaupt, muß das systematische Verhältnis der klassischen kritischen Prinzipien des Verstandes und der Sinnlichkeit, der Kategorien bzw. Grundsätze und der
α—ε
87
reinen Anschauungen Raum und Zeit, der transzendentalen Analytik und Ästhetik zur neuen transzendentalen Dynamik und zueinander zum Problem werden. Ersichtlich ist es in ε noch nicht so weit; hier ist lediglich in einer nicht näher spezifizierten Weise von Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung für die Physik die Rede, ohne daß Kant auf das Verhältnis dieser Bedingungen zu den Kategorien und Grundsätzen des reinen Verstandes oder zu Raum und Zeit überhaupt eingeht. Aber diese Reflexionen sind eine weitere Station auf dem Wege zu einer Uberprüfung der Struktur der Theorie der Erkenntnis a priori, die sich Kant dann spätestens von den sogenannten Ätherdeduktionen des Entwurfs Übergang ι — 1 4 an zur Aufgabe macht. Zunächst versucht er, den zutagegetretenen Schwierigkeiten auf andere Weise beizukommen: der zweite Vorredeentwurf (525, 27—527, 16) beginnt mit der Feststellung, für den Ubergang von einer Wissenschaft zur anderen seien „Zwischenbegriffe" nötig; für den vorliegenden Fall des Ubergangs von den M A zur Physik führt Kant folgende Überlegung als Begründung an: Die M A
als System von Begriffen a priori grenzen genau an den Boden der E r -
fahrung. Dennoch madit die A n w e n d u n g dieser Begriffe Schwierigkeiten; Begründung: es besteht die G e f a h r , daß apriorische und empirische Prinzipien miteinander vermengt werden. ( 5 2 6 , 3 — 1 3 )
Diese Motivation, der springende Punkt des Arguments, wird verständlich, wenn man eine von Kant durchgestrichene Zusatzbegründung heranzieht: „ W e i l die Physik audi hypothetische Begriffe zu adoptieren sich genötigt
sieht,
deren Realität unsicher ist und die dodi selbst in Ansehung ihrer Möglichkeit eine Deduktion derselben aus Prinzipien a priori erfordern." ( 5 2 6 , A p p . zu Z . 1 2 )
Soll man das so verstehen, daß die Physik auf metaphysische Anfangsgründe überhaupt angewiesen ist, eben weil sie bei ihrer Arbeit von metaphysischen Voraussetzungen Gebrauch machen muß, daß aber andererseits dieser Gebrauch noch unsicher ist, weil das „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" betitelte Buch den verlangten Nachweis der Realität bzw. die Deduktion der Möglichkeit dieser Begriffe schuldig geblieben ist, m. a. W. diejenigen metaphysischen Anfangsgründe, deren die Physik eigentlich bedarf, gar nicht exponiert hat? — Man muß diese Frage wohl bejahen; unmittelbar anschließend nämlich beschreibt Kant das Verhältnis von MA, Ubergang und Physik folgendermaßen:
88
Die neue Materietheorie im Rahmen des „Übergangs" „In der metaphysischen Naturlehre w a r die Materie bloß als das Bewegliche im
Raum, wie es a priori bestimmbar ist, in der Physik werden die bewegenden Kräfte, wie sie die E r f a h r u n g lehrt, in dem Übergang von der Metaphysik aber w i r d das Bewegliche mit seinen bewegenden Kräften als in einem System der N a t u r aufgestellt, so wie aus diesen Elementen die Form eines solchen den Erfahrungsgesetzen gemäß im allgemeinen gezimmert werden kann. Denn der Bauabriß enthält noch nicht den Bauansdilag, o b z w a r die Materialien d a z u . . . " ( 5 2 6 ,
14—21)
Kant zieht hier also einen deutlichen Trennungsstrich zwischen M A und Ubergang; von einem Identitätsverhältnis ist nicht mehr die Rede. Der kritische Aspekt dieser Unterscheidung ist unverkennbar: die MA sollen allein vom Beweglichen im Raum, also vom phoronomischen Begriff der Materie, nicht aber von bewegenden Kräften und den dynamischen Eigenschaften der Materie gehandelt haben, kurzum bloße Phoronomie gewesen sein. Was das im einzelnen bedeutet — ich nenne das Motiv der Kürze halber Phoronomiekritik —, soll im folgenden Kapitel dargestellt werden. Schon jetzt kann immerhin festgestellt werden, daß hier eine methodische Kritik der M A vorgetragen wird, die über die bisherigen impliziten Korrekturen weit hinausgeht und den inneren Widerspruch in der Übergangskonzeption abermals um einen Grad deutlicher hervortreten läßt 13 . Das bestätigt sich schon in der Schlußpartie dieses zweiten Vorredeentwurfs (527, 1 — 1 5 ) : danach ist es ganz unmöglich, nur mit Hilfe der Mathematik, ohne Metaphysik, die Physik als System aufzubauen. Ebensowenig aber läßt sich das erreichen, wenn man nur mit metaphysischen Vorbegriffen, Mathematik und empirischen Daten ausgerüstet ist; Zusatzbedingung ist ein Plan zum Gatzen der Physik, den nur die Metaphysik und zwar im „Übergang" entwerfen kann, den also offenbar die MA noch nicht geliefert haben. Abschließend ist die folgende Passage aus ε 4 zu besprechen: „ D i e mathematischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft sind die Gesetze der bewegenden Kräfte, die aus der Bewegung hervorgehen. Die physischen sind die, von welchen die Bewegung entspringt. W i r haben es hier mit den ersteren zu tun. Physik, w o z u
die Metaphysik
eine natürliche
Tendenz
hat,
ist der
Inbegriff
— der
Gesetze der bewegenden Kräfte in einem System, dessen Form a priori vorausgehen muß und die nicht fragmentarisch aggregierte, sondern in einem Ganzen vereinigte bewegende K r ä f t e enthalten muß." ( 5 2 8 ,
der
Idee
11—18)
Die These, daß der Ubergang es mit mathematischen Anfangsgründen der beschriebenen Art zu tun habe, widerspricht der folgenden Be13
E s ist unverkennbar, daß das M o t i v eine konsequente Weiterbildung der seit dem O k . bekannten Versuche ist, die M A in einen reinen Begriffsformalismus umzudeuten.
α—ε
89
merkung, nach der der Physik die Form eines Systems der bewegenden Kräfte (die der Bewegung vorausgehen) zugrundeliegen muß. Wir werden sehen, daß Kant im folgenden aus diesem Widerspruch eine scharfe Polemik gegen mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft überhaupt entwickelt; sie spielt, in Verbindung mit der Phoronomiekritik, eine entscheidende Rolle in dem Klärungsprozeß, der schließlich zur Aufgabe der MA führt. Ferner wird sich zeigen, daß das hier erstmals auftauchende Motiv, die Metaphysik habe eine (wie es später heißt: natürliche, unvermeidliche) Tendenz zur Physik14, dieser Entwicklung zwar entgegenwirkt, sie aber nicht aufzuhalten vermag.
14
Im folgenden kurz „Tendenzmotiv" genannt.
V. Phoronomiekritik ι.
Vorbemerkung
Abweichend vom bisherigen Verfahren werde ich in diesem Kapitel ausnahmsweise Belegmaterial aus mehreren Entwürfen unter sachlichen Gesichtspunkten zusammenfassen und auswerten. Das empfiehlt sich aus folgenden Gründen: In den nach α—ε niedergeschriebenen Entwürfen entwickelt Kant eine Reihe von Motiven, in denen der Aspekt der Selbstkritik weit deutlicher als bisher zutagetritt. Kant greift auf diese Motive immer wieder zurück und variiert dabei sehr häufig ihre Formulierung; der sachliche Kern der Argumente bleibt jedoch durchgängig derselbe, wovon sidi der Leser anhand der Belegstellen, die ich vollständig anzugeben hoffe, selbst überzeugen kann. Um nun unnötige Wiederholungen zu vermeiden, werde ich das gesamte Material der Entwürfe vom Umschlag des IV. Konvoluts an bis zum Beginn von Übergang ι — 1 4 aus dem Kontext herauslösen, zusammenfassen, mit den MA konfrontieren und auf diese Weise zu erklären versuchen. Bei der Darstellung der positiven Seite der neuen Theorie im nächsten Kapitel wird dann die deskriptive Methode wieder zu ihrem Recht kommen, dort werden also die zur Debatte stehenden Motive, soweit es sachlich notwendig ist, wieder im Zusammenhang der übrigen Themen besprochen werden, wobei ich den Leser gewisse, dann doch unvermeidliche Rückgriffe und Wiederholungen zu entschuldigen bitte.
2. Übersicht über das Belegmaterial Folgende Motive sollen hier behandelt werden: ι. Die Phoronomiekritik. Darunter verstehe ich alle diejenigen Stellen, an denen Kant wörtlich oder sinngemäß sagt, den MA habe nur der Begriff von Materie als Beweglichem im Raum zugrundegelegen, im
Übersicht über das Belegmaterial
91
Übergang dagegen solle Materie als das Bewegliche mit seinen bewegenden Kräften dargestellt werden (die Belege werden der Adickesschen Chronologie folgend aufgezählt) : X X I 526, 1 4 f f . ; 4 7 8 , I I ff.; 4 8 3 , 1 4 ff.; 286, 1 ff.; 2 8 7 , 2 ff.; 289, 18 ff.; 290, 2 1 ff.; 1 6 4 , 8 ff.; 1 6 6 , 2 2 ff.; 1 7 3 , 1 1 ff.; 3 5 2 , 4 ff.; 3 6 2 , 2 7 — 3 6 3 , 9 ; 366, 3 ff.; 504, 2 2 ff.;
512, 12 ff.; X X I I 142, 20 ff.; 149, 8 ff.; 161, 14 ff.; 163, 6 ff.; 164 f . ; 166 f.; 1 7 6 , 26; 189 f.; X X I
616,
i f f . ; 6 2 1 , 2 ff.; 6 2 2 , 7 ff.; 6)6,
9 ff.; 6 3 7 , 1 6 f . ; 2 0 3 , 2 3 ff.; (488,
13 ff·)· 2. die Mathematikpolemik. Unter dieser Bezeichnung fasse idi alle diejenigen Stellen zusammen, an denen Kant mit mehr oder minder polemischem Akzent von der Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft (philosophia naturalis) bzw. der Möglichkeit oder Unmöglichkeit mathematischer Anfangsgründe der Naturwissenschaft handelt: X X I J27, i f f . ; 528, u f f . 1 ; 479, 3 ff.; 484, 9 ff.; 290, 5 ff.; 166, 24 ff.; 352, 2 ff.; 359, 7 ff.; X X I I 219, 18; X X I 366; X X I I 150, 3 fr.; 163 f . ; 176, 26 (200, 17 fr.); X X I 627, 5 ff.; 636, 9 ff.; X X I I 240, 16 ff.; X X I 194, 1 ff.; 19$, 7 ff. (197, j ff.); 203, 23 ff.; 206, 7 ff. (488, 1 3 ff.).
In einer Variante 2 bezieht sich die Polemik ausdrücklich auf Newton und seine Principia mathematica; meine Bezeichnung: Newton-Polemik: X X I 4 8 1 f . ; 2 8 6 f . ; 2 9 2 , i f f . ; 1 6 1 , 7 ff.; 166, 29 s . ; 3 5 2 , 2 ff.; 355 f . ; 3 6 6 ; 505, 10 ff.; X X I I 137, 13 ff.; 164, 25 ff.; 167 f . ; 190, 16 ff.; 191 f . ; X X I 616; 622, 6 ff.; 1 9 0 f . ; 204 f . ; 2 0 7 ff.; 2 3 8 f . ; 2 4 1 ff.; 5 5 4 ff.;
3. die Kritik an der These, die Zentralbewegungen stellten ursprünglich-bewegende Kräfte dar; damit verbunden sind häufig Ausführungen über den Unterschied bzw. über das Kriterium der Unterscheidung ursprünglicher und abgeleiteter Kräfte; meine Bezeichnung: Phänomenologiekritik (zur Begründung s. das Folgende): X X I 316,29; X X I I 209, 3 ff.; 210, 9 ff.; X X I 479, 3 ff.; 482, 10 ff.; 286, 19 ff.; 290, 5 ff.; 2 9 2 , i f f . ; i 6 j , 2 3 f r . ; 1 6 6 f . ; 1 7 0 , 6 ff.; 1 7 3 , 1 1 ff.; 1 7 4 , 1 0 ff.; 3 5 5 f . ; 3 5 9 ,
7 ff.; 266; 299, 9 ff.; $04 f . ; X X I I 137, 13 ff.; iyo, 3 ff.; 1 J 2 , 19 ff.; 161, 27 ff.; 163 f . ; 164, 2 1 ff.; 1 6 7 f . ; 190, 1 6 ff.; 1 9 1 f . ; X X I 6 1 6 f . ; 6 2 2 , 6 ff.; 6 2 7 , 5 ff.; 190, 1 7 f . ; 488, 1 3 fr. 1
2
Der Sache nach gehören drei Belege auf LB1. 6 hierher, nämlich X X I 475, 1 1 ; 4 7 j , 1 7 — 2 9 ; 4 7 7 , 2 1 f . ; ich möchte das Blatt daher, abweichend von Adickes, unmittelbar anschließend an ε 4 zeitlich einordnen, weil hier nämlich zum ersten Mal „mathemat.Anf.Gr.d.Physik" als Problem behandelt werden, was v o r Beginn der Polemik gegen die Mathematik (in 6 3 + 4) kaum denkbar, danach hingegen sehr gut zu verstehen ist. Eine weitere Variante, in der K a n t gegen Kästner, insbesondere gegen dessen Theorie des Hebels polemisiert, soll im folgenden Abschnitt kurz besprochen werden.
92
Phoronomiekritik
4. die sehr zahlreichen Stellen, an denen Kant von der (natürlichen, unvermeidlichen etc.) Tendenz der M A zur Physik spricht; Bezeichnung: Tendenzmotiv (ich habe mich um Vollständigkeit bemüht, da das Register in X X I I nicht alle Stellen verzeichnet): X X I (Vorstufen: 524, 26 u. 29) $28, 1 5 ; 478, 1 1 ; 481, 26—482, 3; 482, 1 9 ; 485, 23; 287, 16; 289, 1 2 ; 291, 2 1 ; 1 6 1 , 5; 163, 15 („Hinsicht" statt „Tendenz"); 164, 12 („Zweck"); 360, 10 („Absicht"); 366, 29; 528, 22; 532, 8; 504, 23; 505, 4 („Endabsicht"); 508, 9 u. 1 7 („Prospekt"); 508, 29; X X I I 136, 16; 140, 26; 142, 2 1 ; 149, 10; 149, 18; 156, 5; 1 6 1 , 24; 162, 1 0 ; 164, 1 4 ; 166, 1 1 ; 166, 23; 172, 7 („Bestimmung»); 172, 24; 174, 4 („Aufgabe", „Hinweisung"); 175, 2 u. 1 2 ; 178, 22 u. 27; 188, 22 ff.; 189, 16; 193, 1 5 ; 195, 28; 197, 20; 200, 1 3 ; X X I 615, 1 0 ; 616, 4; 617, 1 7 u. 30; 620, 14/25/28; 621, 7 u. 26; 623, 1 0 ; 624, 14; 630, 1 6 ; 6 3 1 , 1 1 ; 632, 1 5; 633, 1 ; 635, 8 u. 18; 636, 1/22; 637, 10; 638, 4 / 1 1 ; 639, 25; 640, 25; 641, 7; 642, 25; 183, 6; 186, 7; 190, 3; 198, 1 ; 568, 12 („Hinweisung"); 569, 1 (dto); 571, 6 (dto); 597, 22.
Mit Ausnahme von N r . 3 (erste Belege in A — C und α) tauchen alle Motive etwa gleichzeitig, am Ende von α—ε und auf den zeitlich folgenden Losen Blättern des I V . Konvoluts, auf; allein das legt schon die Vermutung nahe, daß sie demselben Problemkreis angehören, wovon Näheres sogleich; nicht berücksichtigt habe ich übrigens die Belegstellen aus den letzten vier Konvoluten Χ , X I , V I I und I, w o alle vier Gruppen, wenn auch nicht so gehäuft und meistens in veränderter Bedeutung, nochmals erscheinen.
3. Phoronomiekritik
im engeren Sinne
Als erstes ist das Motiv der Phoronomiekritik im engeren Sinne (Gruppe 1) zu besprechen; zur Information gebe ich zunächst einige Beispiele (cf. auch den am Ende des vorigen Kapitels zitierten ältesten Beleg aus E3, X X I 526, 14 ff.): „Die Met: A . G. haben eine Tendenz zur Physik als einem System der bewegenden Kräfte der Materie. Ein solches System kann nicht aus bloßen Erfahrungen hervorgehen, denn das gibt nur Aggregate, denen die Vollständigkeit eines Ganzen mangelt, auch nicht a priori allein Zustandekommen, denn da wären es metaphysische Anfangsgründe, welche aber keine bewegenden Kräfte enthielten." (LB1. 3/4, X X I 478, 1 1 —16) „Die metaphysische Naturwissenschaft legte dem Begriff der Materie überhaupt nur das Prädikat des Beweglichen im Raum bei. Der Mittelbegriff aber, der von jener bloß a priori begründeten Wissenschaft zur Physik als (wenigstens zum Teil) empirischer Wissenschaft führen sollte, mußte einen Begriff der Materie unterlegen, der in der einen Beziehung empirisch, in der anderen aber ein a priori statthabender Begriff wäre, und dieser liegt in dem Begriff der Materie, sofern sie bewegende Kräfte hat." (c, X X I 289, 18—25)
Phoronomiekritik im engeren Sinne
93
„In den metaphysischen Anfangsgründen ward die Materie bloß als das Bewegbare im Raum vorgestellt, und diesem Begriffe gemäß wurden Gesetze der Bewegung, die vor aller Erfahrung vorhergehen, in einem System aufgestellt. Der Zweck aber dieser Naturwissenschaft ist im Grunde die Physik, d. i. Naturwissenschaft, die Eigenschaften der Materie, welche durch die Erfahrung erkannt werden müssen, in einem System vorzutragen, welches nicht anders geschehen kann, als indem man die Materie sich nun als das Bewegliche denkt, sofern es zugleich bewegende Kraft hat." (No. ι , X X I 164, 8—16) „Das System der bewegenden Kräfte der Natur, die zu den Eigenschaften derselben, nicht zum Akt der Bewegung selbst gehören (ζ. B. vis centrifuga), welche zur Phoronomie gehören." (No. 2, X X I 173, 1 1 ff.). „Von den mathematischen Prinzipien der Naturwissenschaft. Die bewegenden Kräfte der Materie, und mit dieser auch der Körper, können nach dem Förmlichen, den Gesetzen der Bewegung derselben, als Veränderungen ihrer örter im Raum (phoronomisch) oder audi nach ihrer Energie, als wirkende Ursache dieser Veränderungen, d. i. ihrem Gehalt nach, erwogen werden, welcher, wenn er nur durch Erfahrung erkennbar ist, physisch-dynamische Anfangsgründe enthält; da dann diese von den mathematischen, als welche gänzlich auf Prinzipien a priori beruhen (z. B. Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica), abzusondern sind, indem sie bloß das Formale der bewegenden Kräfte enthalten. (No. 3, X X I 352, 2 — 1 3 )
Wie aus den Belegen zu ersehen, treten alle vier Gruppen in verschiedenen Kombinationen miteinander auf; ich konzentriere mich dennoch zunächst auf den ersten Aspekt, der zusammenfassend etwa folgendes Bild ergibt: Die M A enthalten nicht, wie sie vorgeben und jeder Leser annehmen muß, eine Darstellung der bewegenden Kräfte (478, 1 1 ff.). Sie legten der Materie nur das Prädikat des Beweglichen im Raum bei (289, 18 ff.). Sie haben daher ihren Zweck im Grunde nicht erreicht (164, 8 ff.), insgesamt bloß eine Phoronomie, aber keine Dynamik geliefert, womit sie anscheinend nichts anderes leisten, als Newtons Principia mathematica auch ( 3 5 2 , 4 if.; auf diesen Aspekt werde ich später ausführlich eingehen). Auf eine kurze Formel gebracht, besagt diese Kritik also, die M A seien mit ihrem ersten Hauptstück identisch, der Inhalt der übrigen, sofern er überhaupt noch brauchbar ist, lasse sich auf die Phoronomie zurückführen. Das klingt zunächst recht paradox; jeder Leser der M A wird einwenden, die Dynamik sowie Teile der Mechanik und Phänomenologie handelten doch von nichts anderem als von bewegenden Kräften der Materie. Und so findet sich denn audi dieser Einwand in der Literatur. Gerhard Lehmann z. B. tut den gesamten Komplex der Phoronomiekritik mit der folgenden apodiktischen Feststellung ab: „Es wird dabei aus den metaphysischen Anfangsgründen der N . W., die Kant nunmehr (objektiv unrichtig) auf die Stufe der Phoronomie (Materie als das ,Beweg-
Phoronomiekritik
94
lidie im Raum') herabdrückt, die Dynamik philosophisdie
Grundproblem
im engeren Sinne herausgelöst."
in Kants Nachlaßwerk,
Blätter
für Deutsche
(Das Philo-
sophie Ii, 1937/38, S. 61)
Adickes urteilt folgendermaßen: „In Wirklichkeit definiert sdion die D y n a m i k . . . der M . A . d. N . die Materie als ,das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt'
und stellt durch apriorischen Beweis
fest, daß die Materie dazu nicht durch ihre bloße Existenz, sondern nur durch besondere bewegende Kräfte imstande ist . . . Die Abgrenzung zwisdien den M. A . d. N . und der Wissenschaft vom ,Übergange' ist eben in Wahrheit durchaus nicht so einfach, wie es den Anschein hat, wenn man sich nur an die künstlichen begrifflichen Schemata des o.p. hält, nach denen zwischen den M . A . d. N., welche die Materie bloß als das Bewegliche im Raum a priori behandeln und bestimmen, und der Physik, die sich nur mit den bewegenden Kräften der Materie, wie die Erfahrung sie lehrt, beschäftigt, als dritte Wissenschaft, gleichfalls mit eignem Gebiet, die v o m .Übergang' steht . . . V o m Standpunkt der M. A . d. N . aus muß diese ganze dritte Wissenschaft als völlig überflüssig bezeichnet werden, da jene audi mit Bezug auf den Begriff der Materie, sofern sie bewegende Kräfte hat, schon alles a priori Feststellbare glaubten erledigt zu haben." (a.a.O., A n m . 2 zu S. 162)
Um sich das Absonderliche dieses Interpretationsstandpunktes klarzumachen, vergegenwärtige man sich einmal, zu welchen Ergebnissen man gelangen müßte, wollte man die K r V vom Standpunkt der Dissertation von 1770 aus beurteilen; sie wäre ebenso überflüssig wie die Wissenschaft vom Ubergang. Daher verfehlt Adickes selbst da, wo er — im Verhältnis der M A zum o.p. — den wunden Punkt trifft, das Richtige, weil er aufgrund seines Ansatzes das Problem einfadi auf den Kopf stellen mußte; es könnte und wird sich nämlidi erweisen, daß die M A — ebenso wie die Dissertation durch die K r V — durch das o.p. vom systematischen (nicht vom historischen) Standpunkt aus überflüssig geworden sind. Diesen Schluß kann freilich keine systematisch orientierte Interpretation zugeben, weil sie sich damit selbst aufheben würde; um dem zu entgehen, bleibt ihr nur die Alternative, den unleugbaren Widerspruch zwischen M A und o.p. entweder überhaupt nicht zu erklären (wie Lehmann, s. o.) oder (wie Adickes) zu einem zweifelhaften Rettungsmittel Zuflucht zu nehmen, nämlich anzunehmen, Kant habe im o.p. nicht mehr so genau gewußt, was er in den M A geschrieben habe — dies und nichts anderes implizieren die Adickesschen Wendungen wie „in Wirklichkeit" oder „in Wahrheit". Dieser Ausweg ist allerdings trügerisch; denn eine Interpretation, die ihren Autor intellektuell nicht ernstnimmt, hebt s idi gleichfalls selbst wieder auf. Einen dritten Weg versucht Mathieu, der ja ebenfalls Systematiker
Phoronomiekritik im engeren Sinne
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ist, zu gehen: er erkennt die Unterscheidungen des o.p. zwischen einer bloß formalen Konstruktion von Materie als Bewegung (MA) und der Materie selbst als Inbegriff bewegender Kräfte an und stellt fest, daß der Terminus der „Anwendung" das Verhältnis des ersten zum zweiten Begriff nicht wiederzugeben vermag (a.a.O. S. 1 1 8 ) — die Konsequenz freilich, daß das Systemschema der alten Ubergangskonzeption mitsamt den MA aufgegeben werden muß, hat er nicht gezogen und konnte er, aus den genannten Gründen, auch nicht ziehen. Dennoch geht Mathieu einen wichtigen Schritt über seine Vorgänger hinaus, indem er den fraglichen Gedanken des o.p. einen „zufriedenstellenden Sinn" (a.a.O. S. 1 1 6 ) zu unterlegen versucht. Macht man sich diese Forderung zu eigen und unterstellt man zunächst hypothetisch die Richtigkeit der Thesen des o.p., so ergibt ihre Überprüfung, daß Kant seine M A sehr genau und gewiß besser kannte als mancher Interpret. Um dies zu zeigen, greife ich zunächst auf die oben wiedergegebenen Beispielbelege zurück. Sie enthalten, oberflächlich betrachtet, zwei verschieden schwere Einwände: einmal heißt es, die MA enthielten gar keine bewegenden Kräfte, bzw. sie handelten nur vom Beweglichen im Raum (478, 1 1 ff. — anders aber 478, 16—22; 289, 18 ff.; 164, 8 fï.); zum anderen lautet die Kritik, die MA hätten von bewegenden Kräften zwar gehandelt, aber nur insofern, als sie zum Bewegungsvorgang gehören (173, 1 1 ff.; 352, 2 ff.; sinngemäß auch 478, 16 ff.). — Die zweite, mildere Form des Arguments ist schon seit dem Ok. als Formalismusumdeutung der MA bekannt. Ferner hatten wir oben schon gesehen, daß die Kritik des Göttingischen Rezensenten an eben diesem Punkt ansetzt, indem sie die Herleitung der bewegenden Kräfte aus dem Phänomen der Bewegung für unzulässig erklärt (cf. nochmals X X I 415 und X X I I 809). Und schließlich hatte sich bereits ergeben, daß die abgeschwächte Form der Kritik die schärfere impliziert; denn sie enthält das Eingeständnis, daß die M A von bewegenden Kräften, als physikalischen Realitäten, nicht gehandelt haben; da nun aber unter bewegenden Kräften zunächst einmal nichts anderes zu verstehen ist als eine dynamisch-physikalische Realität, — das gilt durchgängig auch für die MA —, so kann man auch begründet behaupten, daß die M A „keine bewegenden Kräfte enthielten" (478,16). Aus diesem Sachverhalt sind Kants Versuche, die M A auf einen apriorischen Formalismus zu reduzieren, und darüber hinaus die ursprüngliche Konzeption eines Ubergangs von den MA als reiner Bewegungslehre zur Lehre von den empirischen bewegenden Kräften zu erklären.
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Phoronomiekritik
Dennoch bedarf die scharfe Formulierung der Phoronomiekritik, zu der sich die Umdeutung der M A in einen Formalismus entwickelt hat, einer genaueren Untersuchung. Den Punkt, an dem die Interpretation ansetzen muß, findet man ζ. B. aufgrund folgender Überlegung: Aus der Erklärung Kants, die M A hätten der Materie bloß das Prädikat des Beweglichen im Räume beigelegt, ist zu folgern, daß sie ihr nicht das Prädikat der bewegenden Kraft beigelegt haben. Zieht man nun zwecks Überprüfung dieser Folgerung die M A zurate, so ergibt sich, daß zwar — der Vorrede zufolge — die Dynamik die Bewegung „als zur Qualität der Materie gehörig unter dem Namen einer ursprünglich bewegenden Kraft in Erwägung zieht" (IV 477, 7 f.), daß aber die grundlegende Erklärung ι der Dynamik in der Tat der Materie dieses Prädikat nicht beilegt (496,6 ff.). Statt dessen erscheint der Terminus erst in Erklärung 1 Medi.: dort aber handelt es sich, wie aus IV 536, 6—537, 4 zu folgern ist, nicht um die ursprünglich-dynamischen, sondern um die abgeleiteten mechanischen Kräfte. In der Phänomenologie schließlich taucht dieser Begriff weder in der Erklärung noch in den drei Lehrsätzen, sondern nur in den Beweisen auf. Die Feststellung des o.p. ist also zunächst insofern korrekt, als die M A den fraglichen Begriff von Materie nicht zugrundelegen bzw. sie nicht so definieren. Wie aber kommt er in die Darstellung hinein? Nun, er ist das Resultat eines Beweises, nämlich des Ls. 1 Dyn. Eben diesen Lehrsatz hatte ja die Göttingisdie Rezension der M A zum Angelpunkt ihrer Kritik gemacht; sie sowohl wie die Phoromoniekritik des o.p. zielen also auf denselben Punkt ab; mithin ist zu erwarten, daß eine kritische Überprüfung dieses Lehrsatzes den Schlüssel zum Verständnis der scheinbar paradoxen Äußerungen Kants über seine M A liefern wird. Bemerkenswert ist bereits das Faktum, daß die bewegende Kraft der Materie hier überhaupt zum Gegenstand eines Beweises gemacht wird. Denn nach der oben zitierten Ankündigung der Vorrede (477, 7 f.) handelt die Dynamik von ursprünglichen Kräften; zudem soll die Durchführung der Dynamik zeigen, daß Materie ohne solche Kräfte nicht möglich ist; und IV 513, 2 ff. schließlich heißt es: „ D a ß man die Möglichkeit der Grundkräfte begreiflich machen sollte, ist eine ganz unmögliche Forderung; denn sie heißen eben darum Grundkräfte, weil sie v o n keiner anderen abgeleitet, d. i. gar nicht begriffen werden können."
Lehrsatz 1 der Dynamik soll jedoch nicht bloß ihre Möglichkeit, sondern sogar ihre Wirklichkeit beweisen; sie werden dort zwar nicht aus
Phoronomiekritik im engeren Sinne
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anderen Kräften, aber aus dem Phänomen der Bewegung hergeleitet und als notwendige Bedingung von etwas Wirklichem (sc. der Materie) scheinbar begreiflich gemacht. Das bedeutet aber: schon dieser Beweisversuch als soldier steht mit sich selbst im Widerspruch, weil sein Gegenstand erklärtermaßen unbeweisbar ist. Noch merkwürdiger aber ist der Beweisgrund, aus dem das Unableitbare abgeleitet werden soll: es sind der Begriff der Bewegung und ein Bewegungsgesetz, nämlich der phoronomische Lehrsatz. Das impliziert einen weiteren Widerspruch, wie sidi aus Erkl. ι Mech. zweifelsfrei ergibt: „Es ist aber klar, daß das Bewegliche durch seine Bewegung keine bewegende Kraft haben würde, wenn es nicht ursprünglich-bewegende Kräfte besäße, dadurch es vor aller Bewegung in jedem Orte, da es sidi befindet, wirksam i s t . . . " (IV 536,
ij—18) Wenn die bewegenden Kräfte vor aller Bewegung gegeben sein sollen, dann sind sie — wenn überhaupt — mit Sicherheit nicht aus der Bewegung und ihren Gesetzen ableitbar. Die bewegende Kraft also, die lt. Beweis von Ls. 1 Dyn. als „Ursache einer Bewegung" (497, 26) deduziert werden soll, ist selbst nichts anderes als Bewegung, aber nicht eine unabhängig und vor aller Bewegung gegebene reale Eigenschaft der Materie, die über deren „bloße Existenz" (497, 28) hinausführt: „Das Eindringen in einen Raum . . . ist eine Bewegung. Der Widerstand gegen Bewegung ist die Ursache der Verminderung, oder auch Veränderung derselben in Ruhe. Nun kann mit keiner Bewegung etwas verbunden werden . . . als eine andere Bewegung eben dasselben Beweglichen in entgegengesetzter Richtung (Phoron. Lehrs.). Also ist der Widerstand . . . eine Ursache der Bewegung . . . in entgegengesetzter Richtung. Die Ursache einer Bewegung heißt aber bewegende Kraft. Also usw." (497, 1 8 — 2 7 ; Hervorhebungen von mir)
Somit bestätigt dieser Beweis die schon zitierte Ankündigung der Vorrede (477, 7 f.), nämlich daß hier nur ein neuer Name für die Bewegung, nicht aber ein neues Prädikat der Materie synthetisch eingeführt wird; Ls. 1 Dyn. ist also allenfalls ein analytischer, über die Phoronomie nicht hinausführender Satz. Schließlich läßt sich zeigen, daß es sich hier nidit um einen Widerspruch zwischen zwei zufälligen Aussagen, sondern um einen ganz prinzipiellen Fehler handelt: dieser Lehrsatz will etwas von vornherein Unmögliches, indem er sich anheisdiig macht, das Dasein bewegender Kräfte aus einer Anschauung a priori von Bewegungsverhältnissen zu beweisen; damit widerspricht er zwei auch in den MA formulierten Fundamental-
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Phoronomiekritik
sätzen der kritischen Philosophie: ,Dasein ist kein konstruierbarer, d. h. in einer Anschauung a priori darstellbarer Begriff' (IV 469, 26 fi.) und .Metaphysik ist Erkenntnis durch bloße Begriffe, nicht durch ihre Konstruktion'. Ls. ι Dyn. aber versucht zugleich, etwas Nichtkonstruierbares zu konstruieren und Erkenntnis aus bloßen Begriffen wie aus ihrer Konstruktion zu sein; er ist also insgesamt ein Unding. Vorläufiges Fazit: Die — vielleicht von Johann Tobias Mayer herrührende — Kritik in der Göttingischen Rezension hat in der Tat den nervus probandi der M A getroffen und einen prinzipiellen Fehler im Fundament der Dynamik von 1786 freigelegt, der alle weiteren Sätze, die Kant darauf aufgebaut hat, zunichte macht. Spätestens mit Niederschrift der Phoronomiekritik hat Kant sich dieses Urteil zu eigen gemacht3 und die M A auf bloße Phoronomie reduziert, was nicht, wie Lehmann behauptet objektiv unrichtig, sondern objektiv richtig ist. Denn die späteren Sätze der M A , soweit sie überhaupt noch haltbar sind, stellen bestenfalls Implikationen der Bewegungsgesetze dar, aus der Phoronomie herleitbar vermittelst der Thesen, daß die dynamische Erklärung der Materie die phoronomische, die mechanische die dynamische und die phänomenologischen Lehrsätze die drei vorausgehenden Hauptstücke voraussetzen (496, 1 1 f.; 536, 9 ff.; 556, 27 f.; 557, 28 f.; 558, 22 f.); Basis aller Ableitungsbeziehungen aber ist der — innerlich unmögliche — Lehrsatz 1 der Dynamik. Gegen die hier entwickelten Folgerungen ist nun nodi ein letzter Einwand möglich: muß man nicht auch den M A , selbst in ihren anscheinend widerspruchsvollen Aussagen, Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem man ihnen einen zufriedenstellenden Sinn unterlegt? — In der Tat hat die Phoronomiekritik, ebenso wie die früheren Umdeutungsversuche, neben dem kritischen auch einen apologetischen Aspekt: so verstanden besagt das Motiv etwa folgendes: die M A sollen nichts anderes als Phoronomie vorstellen und dürfen daher durchgängig nur als Phoronomie aufgefaßt werden. Die Frage ist also: lassen sich z . B . der erste dynamische Lehrsatz als Aussage über bloße Bewegungsvorgänge und der Terminus der bewegenden K r a f t nur als Bezeichnung f ü r gewisse Bewegungen 4 interpretieren, so daß also offenbleibt, ob diesen a priori 3
Sofern man nicht annehmen will, das gelte schon für die Umdeutungsversuche des Ok.
4
E t w a im Sinne von X X I 1 6 7 , j — 1 0 „. . . und wenn . . . von Zentrifugal- und Z e n tripetalkräften gesprochen wird, so bedeutet das nicht gewisse der N a t u r einer Materie eigene K r ä f t e . . . , sondern bloß Bewegungen, die in gewissen anderen Bewegungen schon enthalten sind."
Phoronomiekritik im engeren Sinne
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beschreibbaren Bewegungsvorgängen irgendetwas in der Realität korrespondiert oder nicht? Denn wenn aus einer solchen Anschauung a priori nicht auf ein Dasein (von Kräften als realen Eigenschaften der Materie) geschlossen wird, dann fallen alle bisher dargestellten Widersprüche — zwischen dynamischer und korpuskularer Auffassung von Materie, zwischen Erkenntnis aus bloßen Begriffen und durch Konstruktion der Begriffe — fort. Eine derartige Auffassung der M A impliziert, daß ihr Anspruch, „Principien der Nothwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört" (469, 27) bzw. „die Möglichkeit bestimmter Naturdinge" (470, 19) gezeigt zu haben, aufgegeben werden muß. Die widerspruchfreie Darstellung der M A müßte also auf jeden Fall damit erkauft werden, daß ihr Wert in einem entscheidenden Punkt relativiert wird. Diesem Umstand hat Kant im Tendenzmotiv (cf. die obige Ubersicht über das Belegmaterial, Ziffer 4) auch Rechnung getragen; es versichert dem Leser in ermüdenden Wiederholungen, der eigentliche Zweck der M A sei die Physik als System — die Tendenz der Bewegungsgesetze zum System der bewegenden Kräfte führe unvermeidlich zum Übergang usw. — Das soll natürlich in erster Linie dazu dienen, die M A und zugleich ihre Ergänzung durch ein besonderes System zu rechtfertigen. Aber gerade dadurch, daß dieses Motiv deutlich zu verstehen gibt, die M A hätten ihr eigentliches Ziel, nämlich metaphysische Anfangsgründe der Körperlehre zu bieten, nicht erreicht, hebt sich auch dieser Rechtfertigungsversuch wie schon seine Primitivform im Ok. bereits im Ansatz selbst auf. Davon abgesehen scheitert die phoronomische Interpretation aber auch in der konkreten Durchführung; das Beispiel gibt wiederum Ls. 1 Dyn. ab. Phoronomisch aufgefaßt besagt er: wenn eine Materie einen Raum erfüllen und einer anderen Bewegung (dem Eindringen einer anderen Materie in denselben Raum) widerstehen soll, so ist das aufgrund phoronomischer Bedingungen nur möglich, wenn ihr selbst eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung zugeschrieben werden kann. Diese Bewegung wird dann die Ursache einer Bewegung der eindringenden Materie sein, die deren ursprünglicher Bewegungsrichtung entgegengesetzt ist, ihre Bewegung also vermindert, aufhebt oder umkehrt. Jene den Bewegungszustand der eindringenden Materie ändernde Ursache kann man bewegende K r a f t nennen; ob es sie gibt, kann aufgrund bloß phoronomischer Bedingungen nicht entschieden werden. Kurz: der erste dynamische Lehrsatz ist nach dieser Deutung ein bloß hypothetischer Satz. Das stimmt nun zwar mit dem Wortlaut des Beweises, nicht aber mit
100
Phoronomiekritik
dem Text des Lehrsatzes (497, 15 f.) bzw. der Konklusion (ib. 27 f.) überein, die beide eine bewegende Kraft der Materie nicht hypothetisch annehmen, sondern ihre Existenz als Grund der physikalischen Raumerfüllung von Materie kategorisch behaupten. Davon abgesehen, ist Ls. 1 Dyn. selbst als hypothetischer Satz wertlos; denn die Konklusion kommt nur heraus, wenn das Antecedens richtig ist. Es ist jedoch falsch, denn wir haben oben schon gesehen, daß die Raumerfüllung von Materie nicht unbedingt gleichbedeutend mit ihrer Undurchdringlichkeit ist, daß sie mithin nicht eo ipso dem Eindringen einer anderen Widerstand entgegensetzt. Das Beweismittel von Ls. 1 Dyn., nämlich die Entgegensetzung zweier Bewegungen in einer geraden Linie, ist vielmehr nur unter der Zusatzbedingung anwendbar, daß es sich um die Bewegung fester Körper handelt; also beweist dieser Satz für die Raumerfüllung von Materie überhaupt, unangesehen ihrer Aggregatzustände, gar nichts. Der Versuch, die M A durch phoronomische Deutung zu retten, scheitert also ebenso wie alle seine Vorläufer; weiter unten soll gezeigt werden, daß das prinzipiell gilt, weil nämlich Phoronomie, soweit sie nicht strikt von allen Eigenschaften der bewegten Objekte, deren Bewegung sie beschreibt, abstrahiert, notwendigerweise auf einen Widerspruch führt.
4. Konsequenzen für die MA Nunmehr können die Konsequenzen für die M A in concreto gezogen werden (ich wähle allerdings nur die wichtigsten Beispiele aus): ι. Schon im O k . hatte sich ergeben, daß sich das Problem der materiellen Substanz über kurz oder lang stellen würde. Die Phoronomiekritik entwertet nunmehr endgültig die betreffenden Thesen der M A ; denn aus dem prinzipiell phoronomischen Ansatz resultiert eine bloß phoronomische Erklärung der materiellen Substanz (IV 502, 31 ff., 503, 11 ff.) — der Begriff der ursprünglich-bewegenden Kräfte tritt gar nicht in ihr auf, eine dynamische Erklärung fehlt — . Eine Neufassung dieses Teils der Theorie ist also unerläßlich und im nächsten Kapitel wird zu zeigen sein, daß Kant diese Aufgabe gesehen und in Angriff genommen hat. 2. Der Fehler im Substanzbegriff geht in den folgenden Lehrsatz 4 ein (IV J03, 20 ff.), wo sich herausstellt, daß dieser Begriff selbst die Existenz physischer Punkte impliziert, mithin dem dynamischen Prinzip widerspricht:
101
Konsequenzen für die M A „Die
Materie
ist
undurchdringlich
und
zwar
durch
ihre
ursprüngliche
Aus-
dehnungskraft (Lehrs. 3), diese aber ist nur die Folge der repulsiven Kräfte eines jeden Punkts in einem v o n Materie erfüllten R a u m . " ( 5 0 3 , 24 ff.) „ . . . daß in einem erfüllten R a u m kein Punkt sein könne, der nicht selbst nach allen Seiten Zurückstoßung außer jedem anderen
ausübte, sowie er zurückgestoßen
zurückstoßenden
an sich selbst beweglich w ä r e . . ( 5 0 4 ,
Punkte
wird, mithin als ein
befindliches gegenwirkendes
Subjekt
2 2 ff.)
Die — wenn auch verklausulierte — mechanistische Auffassung des Begriffs von materieller Substanz geht also ebenfalls auf den phoronomischen Grundansatz zurück. 3. Daß Lehrsatz 5, der die Notwendigkeit einer ursprünglichen Attraktion beweisen soll, sein Ziel nicht erreicht — Grundgedanke ist wie in Ls. 1 die Vorstellung, daß einer Bewegung nichts anderes als Bewegung in entgegengesetzter Richtung widerstehen könne — bedarf keiner weiteren Erläuterung. Hingewiesen sei nur auf das merkwürdige Unternehmen, eine Grundkraft aus einer anderen abzuleiten, was abermals der Erklärung, die ursprünglichen Kräfte seien unableitbar, widerspricht. 4. Auf die übrigen dynamischen Lehrsätze und den Anfang der Mechanik möchte ich nicht nochmals eingehen; nachzutragen ist nur noch, daß auch die sogenannten drei Gesetze der Mechanik (Ls. 2—4) vom prinzipiellen Fehler der Dynamik affiziert werden: Lehrsatz 2, weil der bloß phoronomische Begriff von materieller Substanz zugrundeliegt; Lehrsatz 3 und 4, weil sie über eine bloß phoronomische Aussage ebenfalls nicht hinauskommen: die Bedingungen der Möglichkeit einer physikalischen Ursache von Veränderungen bzw. die einer dynamischen Gemeinschaft aller Materien werden gar nicht gezeigt. — Nun mag man all diese Mängel als belanglos ansehen, weil der Trägheitssatz und das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung im Stoß auch ohnedies gesichert sind; für Kants Materietheorie aber haben sie dennoch wichtige Konsequenzen: weil das dritte Gesetz der Mechanik nicht gezeigt hat, daß die Gemeinschaft aller Materien im Raum notwendig und wie sie möglich ist, erreicht auch der dritte Lehrsatz der Phänomenologie sein Beweisziel nicht. Danach ist „in jeder Bewegung eines Körpers, wodurch er in Ansehung eines anderen bewegend ist, . . . eine entgegengesetzte gleiche Bewegung des letzteren" (558, 8 ff.) nur phoronomisch notwendig. Das bedeutet: wenn physikalische Bewegungsvorgänge phoronomisch beschreibbar sein sollen, dann müssen sie dieser Bedingung genügen; daß sie ihr genügen, ist jedoch gar nicht bewiesen worden; daß also dieser
102
Phoronomiekritik
Lehrsatz die Modalität der Bewegung der Materie in Ansehung der Mechanik bestimme, wie 558, 23 fï. erklärt wird, ist eine grundlose Behauptung5.
5. Reine Bewegungslehre und Materietheorie Ich habe oben den ersten Lehrsatz der Dynamik als Ausgangspunkt gewählt, um dem Leitfaden der Phoronomiekritik folgend die Fehler der MA zu entwickeln; nunmehr soll der Ansatz für die Kritik um ein weiteres Stück zurückverlegt werden. Dazu betrachte man ein letztes Mal eben jenen Ls. 1 Dyn.: wir haben oben gesehen, daß die von Kant gewählte Konstruktion des phoronomischen Lehrsatzes (Entgegensetzung zweier Bewegungen in einer geraden Linie) den gewünschten Schlußsatz nur unter der Bedingung ergibt, daß die beteiligten Materien dem Eindringen der jeweils anderen notwendigerweise widerstehen; wir wissen bereits, daß diese Annahme falsch ist, aber Kant muß doch einen triftigen Grund für sie gehabt haben. Und in der Tat gibt der schon mehrfach benutzte Lehrsatz 3 die gewünschte Auskunft: „Ich habe . . . gleich zu A n f a n g s angenommen, daß eine ausdehnende K r a f t , je mehr sie in die Enge getrieben worden, desto stärker entgegenwirken müsse. Dieses würde nun z w a r nicht so für jede A r t elastischer Kräfte, die nur abgeleitet sind, gelten; aber bei der Materie . . . läßt sich dieses postulieren. Denn expansive K r a f t , aus allen Punkten
nach allen Seiten
hin ausgeübt,
macht sogar den Begriff
derselben
aus."
(501, 1 8 — 2 4 )
Das wird durch Erklärung 1 Dyn. unmißverständlich bestätigt: „Materie
ist das Bewe%li auch der der Undurdidringlidikeit (ibid. und 2.27.3, w 0 die Undurchdringlichkeit bzw. das wediselseitige Sidi-Aussthließen zweier Körper von ein und demselben Ort als Bedingung der Möglichkeit der Individuation genannt wird) für den Materiebegriff eine entscheidende Rolle. Bei Euler heißt es lapidar: „Sur la nature & l'essence des corps; ou bien sur l'étendue, la mobilité & l'impénétrabilité des corps" (Lettres à une Princesse d'Allemagne, 1770, Inhaltsverzeichnis S. VIII zu Brief 69; im Text S. 289 wird die impénétrabilité als „un caractère général, qui convient à toute matiere, & par conséquent à tout
120
Phoronomiekritik
und ebenso einleuchtend ist nunmehr auch, warum dieser Begriff — und mit ihm die MA — der Kritik so lange standgehalten hat. Um so bewundernswerter ist es, daß Kant sich nodi im hohen Alter von diesem Vorurteil befreit und einen Begriff, der ihm lange Zeit als denknotwendig gegolten hat, aufgibt. Mit ihm entfällt die Grundvoraussetzung für jenes Vermittlungsprogramm einer Metaphysica cum geometria iuncta; stattdessen versucht Kant nunmehr, allein auf seine eigenen kritischen Prinzipien gestützt und ohne Rücksicht auf die Mathematik bloß metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft zu entwickeln. Daraus erklärt sich auch das scheinbare Paradoxon, daß das o.p. gegenüber den MA im Grunde keine neuen Gegenstände enthält: schon 1786 besaß Kant sowohl formal — in der Unterscheidung mathematischer und dynamischer Grundsätze des reinen Verstandes, von reiner Anschauung und Dasein, von mathematischer und metaphysischer Erkenntnis — wie auch material — in der dynamischen Materievorstellung und der Ätherhypothese — diejenigen Voraussetzungen, aus denen er im o.p. seine neuen Theorie-Bildungen herleitet. Neu sind also nicht die Gegenstände, sondern die Art, in der Kant sie behandelt; er unterwirft sie ständiger Kritik, und zwar so rigoros, daß er seine Ergebnisse immer wieder überprüfte und das o.p. nicht abschließen konnte. Damit erweist sich die Phoronomiekritik, die oberflächlich betrachtet völlig unverständlich, ja sogar unbegründet erscheint, als das vielleicht wichtigste Ereignis des o.p. überhaupt; in ihr befreit sich Kant vom Vorurteil für die Newtonische Mechanik und dadurch von einem Verstoß gegen den wichtigsten Grundsatz seines Philosophierens überhaupt, gegen die Maxime des kritischen Selbstdenkens. Das Resultat dieses kritischen Verfahrens aber, angewandt auf die schon 1786 gegebenen Prämissen, mußte eine Materietheorie sein, die nicht nur konsequent dynamisch, sondern ebenso konsequent metaphysisch ist. Die Erforschung der „Prinzipien der Nothwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört" mußte, von den Anleihen bei der Mathematik und damit vom Widerspruch zu ihren eigenen Prinzipien durch Kritik befreit, Kant dazu führen, die Begründung einer dynamicorps" bezeichnet; cf. audi Brief 92 und 93). Kurz: Der von den M A zugrundegelegte Materiebegriff war im 18. Jahrhundert durchaus geläufig und keineswegs spezifisch newtonisch. Aber anscheinend hat sich Kant in der Materietheorie von Newton in besonderer Weise abhängig gefühlt; das bestätigt u. a. jene Äußerung im Herderkolleg ebenso wie die M A , die ja in gewissem Sinne audi nodi „nach newtonischen Grundsätzen abgehandelt" worden sind.
Philosophische versus mathematische Erkenntnis
121
sehen Materietheorie als rein metaphysisches, d. h. aber als transzendentales Problem zu behandeln. Hier wird der Grund sichtbar, weshalb die Scheidung von allgemeiner Metaphysik der Natur und besonderer metaphysischer Naturwissenschaft, die für Kant von A — C an problematisch wird, nicht aufrecht erhalten werden kann: Prinzipien der Materietheorie und der Begründung von Dynamik und Physik lassen sich nach Kant nur entwickeln mit Hilfe rein philosophischer Mittel, d. h. durch Erkenntnis aus bloßen Begriffen, nicht aus ihrer Konstruktion; m. a. W. allein die in der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori bereitgestellten Begriffe, Grundsätze und Methoden und nicht die Mathematik liefern das Instrumentarium für die Bearbeitung der Grundprobleme der Physik. Damit erhält die ursprüngliche Aufgabe der MA, aber auch der frühen Partien des o.p., sc. die Sachhaltigkeit und Unentbehrlichkeit der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori nachzuweisen, einen neuen tieferen Sinn: der fragliche Nachweis kann nicht mehr dadurch geführt werden, daß die apriorischen Erkenntnisprinzipien auf den Gegenstand des äußeren Sinnes bloß „angewandt" werden, er kann nur so geführt werden, daß die Möglichkeit des bestimmten Naturdings Materie nunmehr aus bloßen Begriffen a priori gezeigt wird. Und das bedeutet eben nichts anderes, als daß diese Möglichkeit nur innerhalb der Theorie der Erkenntnis a priori selbst oder gar nicht gezeigt werden kann bzw. daß die metaphysischen Anfangsgründe der Dynamik und Physik in die kritische Theorie selbst aufgenommen werden müssen und nicht mehr auf einer systematisch darunter liegenden Ebene behandelt werden können. Daher ist es auch kein Zufall, wenn Kant von U. ι — 1 4 an in immer neuen Deduktionen nachzuweisen versucht, daß der Äther, die Materie, das Reale der Empfindung zu den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gehört. Das ist nicht, wie Adickes meint, eine unkritische und unzulässige Erweiterung im Gebrauch des obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile a priori (so Adickes o.p. 389—97; N f . II 182), sondern eine zwingende Konsequenz aus der tieferen Einsicht in die Struktur der Theorie der Erkenntnis a priori, die Kant inzwischen gewonnen hat: wenn der Widerspruch zwischen mathematischer und philosophischer Erkenntnis aus der Metaphysik der körperlichen Natur eliminiert werden soll, dann muß die Materietheorie Bestandteil der allgemeinen Erkenntnistheorie werden, dann müssen die Prinzipien, die für synthetische Sätze a priori allgemein gelten, audi auf die Lehrsätze dieser metaphysischen Materietheorie angewandt werden.
122
Phoronomiekritik
Von hier aus erscheint nicht nur die Vaihingersdie Zwei-WerkeTheorie, sondern auch die Adickessche Einteilung des o.p. in einen „vorwiegend naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen" (a.O. S. I X ) und einen „metaphysisch-erkenntnistheoretischen Teil" (S. X V I ) als undurchführbar. Denn Naturphilosophie bzw. (im strengen Wortsinn) metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft einerseits und Erkenntnistheorie im oben beschriebenen Sinne andererseits erweisen sich hier als zwei Aspekte ein und desselben Problems 14 .
14
Die Adickes'sdie Gliederung, mit ihrer Zäsur zwischen dem X I . und dem V I I . K o n volut, Iäßt sich nidit einmal äußerlich aufrechterhalten : zu der Einsicht, daß D y n a mik und Erkenntnistheorie zusammenfallen und daß mithin seine Theorie der E r kenntnis a priori erweitert werden müsse, wenn das Problem der D y n a m i k metaphysisch gelöst werden soll, ist K a n t lange v o r dem V I I . K o n v o l u t — nämlich schon in Übergang ι — 1 4 , spätestens jedoch im X . / X I . K o n v o l u t — gekommen.
V I . Ansätze zu einer transzendentalen Dynamik und Auflösung der Ubergangskonzeption
ι. Vier Lose Blätter des IV.
Konvoluts
In diesem Kapitel soll die positive Weiterentwicklung von Kants Überlegungen zur Dynamik in den Entwürfen von den Losen Blättern 3/4,516 und 7 an 1 bis zum Schluß von A . Elem. Syst. 1—6 dargestellt werden. Dazu ist es erforderlich, daß man sich das Resultat des — unmittelbar vorauf gehenden — Entwurfs α—ε nochmals vergegenwärtigt: Kant ist dort, wie wir sahen, in eine anscheinend aussichtslose Situation geraten, denn sowohl der formale Rahmen (die alte Ubergangskonzeption) als auch der Inhalt der neuen Materietheorie (bzw. ihr Schlüsselbegriff vom WärmestofF) sind grundsätzlich fragwürdig geworden. Welche Mittel besaß Kant, um aus der Krise herauszukommen? Oben ist, vorwegnehmend, das wichtigste bereits genannt worden — Kritik und Selbstkritik mußten ihm auf lange Sicht den einzig möglichen Ausweg, nämlich die erkenntnistheoretische Behandlung des Materieproblems, eröffnen. Wir hatten dazu aber schon festgestellt, daß dieses Mittel sich nicht sofort, sondern nur allmählich auswirkt; denn Kant erweist sich auch im o.p. bei aller Bereitschaft zu radikaler Selbstkritik als sehr vorsichtiger und — im ursprünglichen Wortsinn — konservativer Denker, der alte Positionen auch dann nicht sofort aufgibt, wenn er sie als unhaltbar erkannt hat. Stattdessen bewährt sich eine andere 1
Den Umschlag des I V . Konvoluts bespreche ich nicht besonders ( X X I 3 3 7 — 3 5 1 ) ; er bietet eine Materialsammlung zu Themen aller Art, darunter astronomische Notizen sowie einen umfangreichen „Beschluß" (344 ff.), der (lt. Adickes) ursprünglich für die Anthropologie bestimmt war und das Thema des Fortschreitens des menschlichen Geschlechts zum Besseren behandelt. Für die Materietheorie im besonderen enthält er jedoch nichts Interessantes — Kant operiert hier zum letzten Mal ausschließlich mit dem alten (phoronomischen) Materiebegriff — X X I 3 3 7 , 4 ; 340, 25 ff.; 341, i l ff.; 347, j ; 350, 22 ff. —, was für die weitere Entwicklung keine Folgen gehabt hat.
124
„ U b e r g a n g " oder transzendentale D y n a m i k ?
Methode, nämlich das Experimentieren mit den verschiedensten Lösungsmöglichkeiten. Davon macht Kant in den jetzt zu besprechenden Entwürfen in großem Stil Gebrauch. Den Anfang machen eine Reihe von Vorrede-Entwürfen auf den genannten Losen Blättern des IV. Konvoluts, wo Kant versucht, Aufgabe, Umfang und Inhalt seines „Ubergangs" zu bestimmen, und zwar nach folgendem schon bekannten Grundschema: Ohne die Metaphysik würde die Physik „bloß ein Aggregat (Farrago) von Beobachtungen der Natur" ( X X I 4 7 7 , 31 f.), aber kein System sein; denn ein solches „kann nicht aus bloßen Erfahrungen hervorgehen" (478, 12 f.; cf. 485,22—29; 486, 5—16; 487,2—8; 4 8 8 , 7 — 1 1 ; 475, 1 5 — 2 1 ; 476,16 f.). Nun hat aber der Naturforscher ein natürliches Interesse daran, daß seine Wissenschaft eine „sichere Begrenzung oder Umriß" (478, ι f.) besitzt und ein System ist, denn sonst kann seine Beschäftigung nicht „empirische Naturwissenschaft heißen" (485, 1 1 ) ; Kant bringt diesen Gedanken ζ. B. auf folgende Formel: „Ich muß vorher forschen, wie ich die Naturgesetze aufsuchen und in einem System a priori denken soll, ehe idi zur Physik schreite, um sie nach der E r f a h r u n g zu betrachten." (486, 2 5 — 2 7 ; cf. 4 8 8 , j f.)
Ein solches System also ist für die empirische Naturforschung unerläßlich, wenn sie wahre Wissenschaft sein soll; dies zu ermöglichen ist die vornehmste Aufgabe des Ubergangs. Wir hatten gesehen, daß Kant diese Gedanken schon in den M A benutzt, im Ok. wieder aufgreift, in A — C gegen die zu erwartende Kritik an seiner neuen Lehre ausspielt und dort mit ihm erste Ansätze einer erkenntnistheoretischen Behandlung des Problems verknüpft. In ε ι — 4 kommt diese Tendenz zum Ausdruck in der These, der Naturwissenschaftler sei auf „metaphysische Anfangsgründe" angewiesen, weil nur durch sie Erfahrung in der Physik möglich sei. Eben dieses Moment tritt auch hier zutage, ζ. B. in der eben zitierten Formel (486, 25 ff.) oder in folgender Bemerkung: „ D e r Übergang enthält „ein System der A n w e n d u n g der Begriffe a priori auf E r fahrung, d. i. der Naturforschung . . . D e r Übergang ist eigentlich eine Doktrin der Naturforschung." (478, 2 3 — 2 6 )
Dieses Argument bildet auch in den folgenden Entwürfen die Basis der Überlegungen Kants; er hat es angesichts der Schwierigkeiten, in die er bei seiner Arbeit immer wieder geriet, offenbar als den einzig sicheren Punkt angesehen, der ihm die Gewißheit gab, daß seine Beschäftigung
Vier Lose Blätter des I V . Konvoluts
125
sinnvoll ist: die apriorischen Prinzipien der Naturforschung müssen entwickelt werden — von diesem Motiv gehen immer neue Anstöße aus, die schließlich zur Ausarbeitung einer erweiterten Theorie der Erkenntnis a priori führen, in der jener Versuch einer Doktrin der Naturforschung dann aufgeht. Demgegenüber sind die Mittel, mit denen Kant seine Aufgabe zunächst (d. h. auf den zur Debatte stehenden Losen Blättern) zu lösen versucht, nur von sekundärem Interesse. So führt er hier ζ. B. den Begriff der „Topik der bewegenden Kräfte der Materie" ein, „ w o jeder dieser Kräfte ihr O r t (locus communis) im System angewiesen wird, und es wird eine besondere Wissenschaft möglich und nötig sein, welche bloß mit diesen Gemeinörtern der Naturforschung beschäftigt ist." (483, 20—24)
Der Übergang soll also Klassifikationsprinzipien liefern und dadurch die Physik als ein mögliches System begründen (484, 3 ff.). Neben dieser seiner eigentlichen hat der Übergang aber noch eine zweite Aufgabe, nämlich die M A mit der Physik zu verknüpfen oder in Einklang zu bringen, und zwar durch „Zwischenbegriffe" (486,9) oder „Mittelbegriffe" (487,9). Auch darauf braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, weil schon gezeigt worden ist, daß diese Versuche notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sind.2 Weiterführend dagegen sind einige Gedanken, die Kant auf dem LBl. 6 ausgeführt hat — oben habe ich begründet, weshalb das Blatt m. E. erst nach dem Ok., ja sogar nach α—ε datiert werden sollte. Eine Bestätigung dafür sehe ich in der Passage X X I 4 7 5 , 1 7 — 2 9 ; sie enthält nämlich: ι. die Phoronomiekritik: die bewegenden Kräfte der Materie werden vom Themenkreis der M A kategorisch ausgeschlossen3 (475,17 f.) 2. folgende Beschreibung von der Funktion der „Topik" der bew. Kr.: man kann sich Begriffe a priori v o n Kräften „willkürlich denken und dann in der Natur nachsuchen . . . , welche Beispiele sich dazu vorfinden, und so logische ö r t e r für Begriffe bezeichnen (topice), v o n denen man a priori bestimmen kann, welche Erscheinungen sich in den einen oder anderen schicken," (475, 26—29) 2
478, I i ff. tritt der innere Widerspruch dieser Konzeption besonders deutlich zutage; nachdem K a n t erklärt hat, die M A enthielten gar keine bewegenden Kräfte, fährt er f o r t : „ A l s o kann der Ubergang v o n der Metaphysik zur Physik . . . nur durch das, was beiden gemein ist, durch die bewegenden Kräfte (geschehen) . . (478, 1 6 — 1 9 ) .
'
Andererseits nodi nicht die Mathematikpolemik: die mathematischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft werden erst am Ende des Blattes (477, 21 f.) erstmals problematisch behandelt.
Übergang" oder transzendentale Dynamik?
126
W i e diese Bestimmungsiunküon
der T o p i k des näheren zu denken ist,
ergibt sich aus dem folgenden: „Allen Erfahrungsurteilen und -begriffen liegt immer ein Begriff a priori zum Grunde, unter den wir Erscheinungen subsumieren, wenn das Objekt unter eine Art von Dingen subsumiert werden soll." (476, 23 ff.) „ . . . man muß immer Begriffe von bewegenden Kräften a priori zum Grunde legen, um jene (sc. Phänomene) darunter zu ordnen, weil diese das Formale der synthetischen Vorstellungen enthalten, unter dem selbst die Begriffe der Physik allein Erkenntnisse eines Objekts (durch den Verstand) abgeben können." (477, 2—6; ferner 7—14 und schließlich) „Wir können die bewegenden Kräfte a priori aus Begriffen einteilen und so Eigenschaften der Materie vor der Erfahrung vollständig aufzählen, weil die synthetische Einheit der Erscheinungen noch vor derselben im Verstände liegen muß, ζ. B. Abstoßung, innere und äußere. Das ist Übergang, wenn ich diese nicht in metaphysischen, sondern physisch-dynamischen Funktionen auf wirkliche Körper anwende." (477, 15—20) D a s ist sehr viel mehr, als auf den älteren Losen Blättern, im O k . , in A — C und α — ε , aber auch auf den Blättern 3 / 4 , j und 7 (die Adickes später ansetzt) gesagt w i r d : z u m ersten M a l im o.p. versucht K a n t hier, die bewegenden K r ä f t e der Materie als Begriffe a priori zu behandeln, die aus der synthetischen Verstandeseinheit der Erscheinungen entwickelt werden müssen b z w . ihrerseits das „ F o r m a l e der synthetischen V o r s t e l lungen enthalten" und dadurch allein Erkenntnis eines Objekts abgeben können. D a m i t geht K a n t einen wichtigen Schritt über die bisherigen Klassifikationsversuche (zu denen ja schon die M A zu zählen sind) hinaus; denn die bewegenden K r ä f t e werden hier — deutungsweise —
w e n n auch nur a n -
in den R a n g v o n Erkenntnisprinzipien erhoben, die
im Prozeß der Synthesis des Verstandes eine R o l l e zu spielen haben. Wichtig ist dabei zweierlei: ι . die Betonung des Umstandes, daß es hier um physisch-dynamische Funktionen geht; zur E r k l ä r u n g sind drei weitere Stellen heranzuziehen: „Es gibt in dieser Tafel (der bewegenden Kräfte) keinen Unterschied der mathematischen und dynamischen Funktionen." (479, 8 f.), sinngemäß das Gleiche (483, 5 f.) „Die vier Klassen von Kategorien . . . geben die Einteilung an . . . Die Kategorien haben hier nur zwei Begriffe, weil sie einander nur wie a und —a entgegengesetzt und alle dynamisch sind, d. i. auf die Existenz der Dinge hinauslaufen." ( X X I 179, 1 1 — 1 5 ) In V e r b i n d u n g mit den Überlegungen v o n L B l . 6 ergibt sich also: K a n t entwickelt hier den G e d a n k e n , daß synthetische Verstandeseinheit einerund Existenz der D i n g e andererseits miteinander v e r k n ü p f t werden müs4
Zur Rechtfertigung des Terminus vergleiche 485, 25.
Vier Lose Blätter des IV. Konvoluts
127
sen, wenn Erkenntnis von Objekten in der Physik zustande kommen soll. — Das klingt zunächst recht trivial, enthält aber dennodi eine innerhalb der kantischen Philosophie neuartige Vorstellung, nämlich von einer besonderen A r t des Subsumtion des Empirischen unter die Begriffe des Verstandes: Das „Schema" 5 dieser „ T o p i k " bezieht nicht, wie das transzendentale Schema der K r V , Verstand und Anschauung, sondern Verstand und Existenz der Dinge aufeinander. Wie das möglich sein soll, wird freilich noch nicht sichtbar; im Gegenteil scheint das Problem vorläufig unlösbar zu sein, denn aus demselben Kontext ergibt sich, daß Kant die Existenz nach wie vor zum Eigentlich-empirischen zählt (cf. ζ. Β. 476, 26 ff.) und als a priori unerkennbar behandelt; wie also eine Verbindung von Verstand und Dasein a priori, auf der die Möglichkeit empirischer Erkenntnis eines Objekts beruhen soll, zu denken ist, bleibt vorerst offen. Dennoch ist der bloße Tatbestand dieser Entwurfskizze (auch wenn sie unzulänglich ist) wichtig genug; denn sie exponiert erstmals dasjenige Problem, an dessen Lösung die späteren Äther- und fast alle weiteren Deduktionen des o.p. arbeiten. 2. Diese Ideen entwickeln sich nicht etwa im Abstrakten, sondern im Anschluß an ein brennendes (weil seit den M A ungelöstes) Sachproblem der kantischen Naturphilosophie; die Reflexionen über die Subsumtion der Erscheinungen unter Verstandesbegriffe erscheinen nämlich in folgendem Kontext: „Wie aus der Materie ein (physischer) Körper wird, zum Unterschiede von der Materie, die keinen Körper abgibt, weil sie mit ihrer Raumeserfüllung (Abstoßung) nicht subsistent, sondern bloß inhärent ist. Wärmestoff, welcher nicht elastisch ist, sondern nur andere Materien elastisdi macht. Nicht ponderabel relativ, sofern sie eine Weltmaterie ist. Allen Erfahrungsurteilen und -begriffen liegt immer ein Begriff a priori zum Grunde . . . (etc. s. o. 126) Physik ist die Lehre von den Gesetzen der bewegenden Kräfte der Materie. — Da diese wie alles, was zum Dasein der Dinge gehört, durch Erfahrung müssen erkannt werden, so — (bricht ab) — Wie bringt Materie einen Körper zustande?" (476, 18—29)
Wir werden sehen, daß die Probleme der Substanz (bzw. Substantialität überhaupt), der Körperbildung und der Modalität des Äthers (oder Wärmestoffs) untrennbar miteinander verknüpft sind und die wichtigsten Anstöße zur Untersuchung der Bedingungen geben, unter denen Verstandessynthesis, Erkenntnis des Objekts und Einheit der Erfahrung möglich sind. Auch hier also erweist sich, daß eine scheinbar triviale, 5
Zur Rechtfertigung des Terminus vergleiche 48J, 2$.
.Übergang" oder transzendentale Dynamik?
128
bloß-naturphilosophisch-physikalische Einzelfrage (sc. die der Körperbildung) für die Theorie der Erkenntnisbedingungen a priori interessant zu werden beginnt; schon in a — c kommt Kant, mitten in einer Erörterung über die Möglichkeit der Starrheit ( X X I 273 f.) auf diesen Punkt zurück, worüber unten mehr zu sagen ist. Zusammenfassend ist also festzustellen, daß das Lose Blatt 6 nicht ,eine sehr unterentwickelte apriorische Einteilung' der bewegenden Kräfte enthält (weil nämlich nur Anziehung und Abstoßung erwähnt werden: Adickes o.p. 53), sondern ein sehr wichtiges Dokument darstellt, weil es belegt, in welchem Zusammenhang und aus welchen Gründen sich die erkenntnistheoretische Tendenz des o.p. weiter entwickelt und schließlich durchsetzen mußte: von einer auf den ersten Blick ganz unscheinbaren Detailfrage führt ein einziger (wenn auch schwieriger und keineswegs gradliniger) Weg zu einem ungelösten Problem der kritischen kantischen Philosophie. Die ersten Schritte auf diesem Wege aber konnte Kant erst tun, als er eingesehen hatte, daß die M A von bewegenden Kräften und der Möglichkeit existierender Dinge überhaupt nicht gehandelt haben; und in der Tat setzt das LB1. 6, wie gezeigt wurde, die Phoronomiekritik bereits voraus. 2. Der Bogen II 3 Der unsignierte Bogen 3 des II. Konvoluts ( X X I 174—181) ist für die Gesamtentwicklung des o.p. uninteressant und kann daher kurz abgetan werden; er enthält drei gut aufgebaute und durchformulierte Vorrede-Entwürfe, die die Notwendigkeit des Übergangs von den M A zur Physik erweisen sollen. Sachlich erfährt der Leser nichts Neues; Kant zieht sich vielmehr nach dem Vorstoß auf LBl. 6 zunächst wieder auf alte Positionen zurück. Erwähnenswert ist allein folgender Absatz: „Die bewegende Kraft, d. i. die Ursache der Bewegung, erklärt nichts, sondern ist qualitas occulta, Etwas, was Bewegung w i r k t und was wir nicht kennen 26
..(175,
ff.)
Einen ähnlichen Kommentar Kants zum Begriff des Wärmestoffs haben wir schon in ε ζ kennengelernt; hier wird nun der wichtigste aller Grundbegriffe des o.p. in Frage gestellt, und wir werden sehen, daß Kant sich noch mehrfach um eine Klärung bzw. eine Definition des Kraftbegriffes bemüht — ein weiterer Beweis dafür, daß das o.p. nicht von unerschütterlichen dogmatischen Positionen ausgeht, sondern prinzipiell alle Thesen der Kritik unterwirft.
129
Der Entwurf a—c
j . Der Entwurf
a—c
a — c , der nächstfolgende F o l i o e n t w u r f , behandelt erstmals seit α — ε wieder den gesamten Themenkreis des „ U b e r g a n g s " , mit H a u p t s t ü c k einteilung und § § - Z ä h l u n g , die bis ins zweite Hauptstück hinein f o r t läuft. H i e r gerät K a n t ins Stödten, setzt zu einem — bezeichneten —
ausdrücklich so
zweiten Versuch über Starrheit der Materie an, bear-
beitet dann noch den Titel „ R e l a t i o n " (Kohäsion, Reibung), beschränkt sich aber unter dem 4. Kategorientitel (wie bisher stets) auf einige Stichw ö r t e r ; den dritten und letzten Bogen des E n t w u r f s , c, füllen abermals V o r r e d e - E n t w ü r f e mit eingestreuten N o t i z e n zu diversen Themen. D a s erwähnte Stocken der Darstellung ereignet sich nun interessanterweise an demselben Punkt, der auf dem L B l . 6 den A n s t o ß zu den Reflexionen über eine mögliche erkenntnistheoretische Funktion der Begriffe v o n bewegenden K r ä f t e n gegeben hat: „Wie ist Starrheit der Materie möglich? Einige flüssige Materien nehmen beim Starrwerden einen größeren (wie Gips, Schwefel, Eisen), andere (die meisten Metalle) einen kleineren Raum ein, als den sie in ihrem flüssigen Zustande einnehmen. Das sind aber Erfahrungen, die zur Physik gehören. Die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Qualität zu erörtern wird hier verlangt, welche a priori, d. i. von Begriffen zu Erfahrungen zu schreiten, die Prinzipien enthalten sollen." ( X X I 273, 9—17) E s schließt sich die schon aus den frühen E n t w ü r f e n bekannte Theorie der Erstarrung an; die zitierte Einleitung hat K a n t jedoch mit folgenden Randbemerkungen erläutert: „Alle bewegenden Kräfte sind entweder abstoßend oder anziehend oder was beides macht, vires originariae. — Alle diese Begriffe sind nidit empirisch gegeben, sondern nur a priori denkbar im Raum. Die Begriffe a priori müssen vorausgehen, denn sonst kann man auch nicht durch empirische synthetisch bestimmen. Raum und Zeit sind die Bedingungen: ι . Die Quantität der Bewegung, gemessen durch den Druck (Gewicht), unendlidiklein gegen 2. die Quantität der Bewegung durch den Stoß, lebendige Kraft. Wir können das Zusammengesetzte gleich als etwas, das gegeben werden kann (dabile), nicht anschauen, sondern uns nur der Zusammensetzung (compositio) bewußt werden (ut apprehensibile), also geht die compositio vor dem Begriff des compositi vorher, und danach muß sich der Begriff des compositi richten in allem durch Erfahrung Erkennbaren. Die Form des Zusammengesetzten geht also vor diesem als der Materie, welche ein empirisches Datum ist, vorher. Wir können einen Körper als einen solchen nicht anschauen, sondern ihn nur aus der Materie machen und durch Zusammensetzen bilden.
130
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
Wie aus der Materie ein Körper wird, dessen Materie sich selbst beschränkt oder von anderer beschränkt wird . . . (274, 20—275, 6; cf. audi das folgende bis Z . 15)
Zweifellos in Anknüpfung an die Überlegung von LBl. 6 gelangt Kant hier zu einer bemerkenswerten Änderung der ursprünglich bloß naturphilosophischen („Wie ist Starrheit der Materie möglich?") Fragestellung: aus der alten Formulierung „Wie ist ein fester Körper möglich?" ist hier die neue geworden „Wie ist es möglich, ein Compositum empirisch durch den Begriff des Körpers zu erkennen?". Die Antwort gibt der Grundgedanke der zweiten transzendentalen Deduktion der Kategorien ( K r V Β § ι j f.): Verbindung und synthetische Einheit der Vorstellungen sind ein Produkt der Spontaneität des Verstandes und Bedingung der Möglichkeit, vermittelst der analytischen Einheit im Begriff (des Zusammengesetzten) das Verbundene (Zusammengesetzte, compositum) als solches zu erkennen. In einem wichtigen Punkt jedoch geht Kant hier über die Position der K r V hinaus: es sind nicht mehr ausschließlich die reinen Verstandesbegriffe (von ihnen muß das hier als selbstverständlich angenommen werden), sondern die Begriffe a priori von bewegenden Kräften, die hier als Bedingung der Möglichkeit empirischer Synthesis bezeichnet und damit in den Rang von Verbindungsbegriffen erhoben werden. Dieses Motiv — compositio vor compositum — das Kant hier erstmals im o.p. aus der K r V aufnimmt, spielt in den Erörterungen der späteren Konvolute eine entscheidende Rolle. Hier, an seinem Ausgangspunkt im o.p., ist es ein Beleg dafür, daß Kant sich der Identität des Problems der Dynamik einerseits und einer die Existenz der Dinge miteinbeziehende Theorie der Erkenntnis a priori andererseits bewußt zu werden beginnt. Mit dieser Formel, in der Kant die Ansätze von LBl. 6 zu prinzipieller Geltung erhebt, tut Kant einen weiteren wichtigen Schritt von einer bloßen Klassifikation empirisch-physikalischer Gegenstände nach Vernunftprinzipien fort auf eine neue Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung hin. Aber eben doch nur einen Schritt: denn vorläufig — und nodi auf lange Zeit hinaus — ist Kant bemüht, mit den Mitteln der alten Ubergangskonzeption auszukommen; ein interessanter Beleg dafür ist z . B . die Passage X X I 285, 22—286, j . Danach soll der Übergang nicht einen logisdien, sondern realen Mittelbegriff enthalten, „welcher einerseits an einen Begriff des Objekts a priori, andererseits an die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, in der dieser Begriff realisiert werden kann, geknüpft i s t . . . Dieser Begriff ist nicht der von der Materie überhaupt (dem
Beweg-
131
Der Entwurf a — c liehen im Raum), sondern den bewegenden
Kräften
der Materie nach besonderen Be-
wegungsgesetzen (der Erfahrung), deren spezifischer Unterschied aber als wirkender Ursachen sich durch im Räume mögliche Verhältnisse (der Anziehung und Abstoßung) als Glieder der Einteilung der Bewegung a priori erkennen läßt. (285, 26—286, 6)
Hier gehen der erkenntnistheoretische Aspekt des Übergangs, die Phoronomiekritik, der alte Begriff v o n Naturwissenschaft als Bewegungslehre und die energetisch-dynamische Betrachtungsweise wirkender Ursachen im Raum, Erkenntnis durch Konstruktion der Begriffe und durch bloße Begriffe eine eigenartige (und zweifellos unhaltbare) Verbindung miteinander ein — das ist nur eines aus einer langen Reihe von Experimenten, in denen sich K a n t allmählich auf eine grundsätzlich neue Behandlung seiner Probleme vorbereitet. In a — c kündigt sich aber noch ein weiteres wichtiges Moment der späteren Theoriebildung an: erstmals (soweit ich sehe) wird hier die Frage nach Inhärenz oder Subsistenz des Wärmestoffs unter dem vierten Kategorientitel erörtert: „4te Kategorie. Der Wärmestoff ist keine Flüssigkeit, macht aber doch alles flüssig. Ist nicht elastisch und doch Ursache aller Elastizität. Durchdringt alle, inkoerzibel, ist aber nidit für sich subsistierende, sondern nur inhärierende Materie. Wärmematerie ist notwendig, Wärme zufällig." (282, 22—26)
Hier bleibt die Subsumtion noch ganz äußerlich, aber k u r z darauf bereits deutet sich in einer Übersicht über die Formen der Verhältnisse der bewegenden K r ä f t e an, woran K a n t bei der Kombination des Substanzproblems und des Modalitätstitels denkt: „ D . dem inneren (sc. Verhältnis) der Dauer nach: unabänderlich wie die Schwere. Perpetuierlich." (288, j f.; die ersten 3 Kategorientitel werden durch „ A " bzw. „ B " bzw. „ C " eingeleitet)
Perpetuität b z w . Notwendigkeit der beharrlichen Wirksamkeit der bewegenden K r ä f t e sind die Schlüsselbegriffe für die Korrektur der Substanzvorstellung, die in den beiden folgenden Entwürfen (No. 1 — 3 η und Elem. Syst. ι — 7 ) erfolgt; sie ist ihrerseits die Vorbedingung für die Deduktionsversuche, die am Schluß von Elem. Syst. 1 — 7 einsetzen.
4. Entwurf
No. 1— j η
Der immerhin 10 Foliobogen umfassende Entwurf 1 — 3 η, enthält eine solche Fülle von Ansätzen, Skizzen und Notizen, daß es aussichtsund sinnlos ist, eine zusammenfassende Ubersicht darüber geben zu wol-
132
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
len; es handelt sich vielmehr geradezu um ein Exerzierfeld für spekulative Experimente, von denen jeweils nur einige Beispiele zur Sprache kommen können. Da alle folgenden Entwürfe (von Redactio ι — 3 abgesehen) denselben Tatbestand erfüllen, bitte ich dies als methodische Vorbemerkung für die gesamte anschließende Interpretation anzusehen. Generell ist festzustellen, daß alle wichtigen bisher erwähnten Motive in No. ι — 3 η auftauchen, variiert und weiterentwickelt werden; ich werde im folgenden zwei Gruppen besonders besprechen, nämlich die Übergangskonzeption und das Substanzproblem (sowie natürlich alle damit zusammenhängenden Themen). Wir hatten oben schon mehrfach beobachtet, daß in Kants Versuchen, sein Unternehmen eines Ubergangs zu rechtfertigen, das Argument, der Naturwissenschaftler sei bei seiner Arbeit in jedem Falle auf metaphysische Prinzipien angewiesen, eine entscheidende Rolle spielt; dementsprechend nennt er den Übergang auch geradezu eine Doktrin der Naturforschung. Diese Konzeption — nennen wir sie der Kürze halber: Naturforschungskonzeption — liegt auch den Vorrede-Entwürfen von 1 — 3 η zugrunde; sie läuft, wie bereits gesagt, darauf hinaus, daß der Übergang die bewegenden Kräfte klassifizieren und damit der Physik einen Leitfaden bzw. regulative Prinzipien für eine Systematik der Naturforschung liefern soll. Neben diese tritt seit dem LBl. 6 und a — c eine zweite Vorstellung vom Ubergang, nach der er Prinzipien der empirischen Synthesis der Erscheinungen, Formen der Zusammensetzung als Bedingung der Möglichkeit empirischer Erkenntnis des Zusammengesetzten, mithin in gewisser Weise konstitutive Prinzipien enthalten soll. In N o ι — 3 η versucht Kant nun, aus beiden Vorstellungen eine einzige Konzeption zu gewinnen; daraus resultiert eine Reihe interessanter Versuche — der erste dieser Art steht an der Spitze des ganzen Entwurfs ( X X I 161 f.): Einleitend erklärt Kant, in den M A liege eine Tendenz zur Naturforschung; nach einer Polemik gegen mathematische Anfangsgründe und gegen Versuche, aus bloß empirischen Begriffen ein System zu zimmern, heißt es, der „philosophische Naturforscher" verlange, daß der Schritt von den M A zur Physik geschehe (cf. dazu die Formel von ε 2, oben S. 84); und zwar sollte „das Fachwerk der Einteilung der bewegenden Kräfte . . ., mithin das Formale aller physischen Erörterung a priori vollständig" aufgestellt werden (162, 2 if.). Begründet wird diese Formel nun aber folgendermaßen: „denn man kann keines derselben (sc. der Naturobjekte), selbst nicht in der empirisdien Vorstellung, ζ. B. den Begriff eines Steins sich nicht verständlich machen, ohne
133
Entwurf N o . 1—3· η
den Begriff der bewegenden Kräfte, als da sind: . . . dabei zu gebrauchen, welche Begriffe völlig a priori aus unserem auf äußere Erscheinungen angewandten
Verstände
hervorgehen und durch welche w i r durchgehen müssen, um selbst empirische Vorstellungen als Wahrnehmungen in Erfahrungen von der Beschaffenheit der Phänomene der Materie in R a u m und Zeit zu verwandeln." ( 1 6 2 , 5 — 1 3 )
Zunächst einmal ist unmittelbar klar, daß hier das regulative Ubergangskonzept durch eine konstitutive Funktion seiner Begriffe gerechtfertigt werden soll — ein an sich schon redit merkwürdiger Gedanke. Noch merkwürdiger — für den Leser, der die „klassische" kantische Erkenntnistheorie vor Augen hat, geradezu befremdlich — ist die Erklärung Kants, die fraglichen Begriffe gingen „völlig a priori" aus dem Verstände hervor; wie soll man das verstehen? Nun, die Beschreibung ihrer Funktion — die mit der auf Blatt 6 und Bogen b gegebenen im wesentlichen übereinstimmt — gibt einen Hinweis: die Begriffe bewegender Kräfte sollen dazu dienen, die empirische Wahrnehmung, ζ. B. eines Steins, „verständlich" zu machen, d. h. das Mannigfaltige seiner empirischen Anschauung zusammenzusetzen, die Vorstellung der Einheit dieses Objekts durch Verbindung und damit die Erkenntnis dieses Objekts bzw. Erfahrung von ihm und seiner Beschaffenheit möglich zu machen. Bestätigt wird diese Interpretation durch die folgende Randbemerkung Kants: „ D a s Zusammengesetzte
kann als ein soldies niemals durch bloße
Anschauung,
sondern nur durch Zusammensetzen mit Bewußtsein der Einheit dieser Verbindung erkannt werden. A l s o geht diese jenem v o r und ist a priori denkbar, wodurch sich der dadurch erzeugte Begriff zum Schematism der Begriffe (des Zusammengesetzten überhaupt) qualifiziert. — Z u m Übergang w i r d erfordert, Begriffe a priori von bewegenden Kräften den formalen Bedingungen zur Möglichkeit eines empirischen nämlich der Erfahrung, anzupassen." ( 1 6 2 ,
Systems,
14—21)
Die Begriffe von bewegenden Kräften sollen also in ziemlich undurchsichtiger Art und Weise die Aufgabe von Verbindungsbegriffen übernehmen. In welchem Verhältnis, so wird man ζ. B. fragen müssen, stehen sie denn zu den klassischen Verbindungsbegriffen, den Kategorien? Und inwiefern qualifizieren sie sich zum Schematism der Begriffe? Und schließlich: was haben derartige Verbindungsbegriffe mit einer Klassifikation empirischer Kräfte, die hier doch begründet werden soll, zu tun — einem Unternehmen, das eher zum Linneschen System botanischer Grundbegriffe als zum System der reinen Verstandesbegriffe in formaler Analogie steht? Auf solche Fragen darf man hier keine eindeutige Antwort erwarten, weil Kant selbst diese Beziehungen nicht restlos klar waren; das bezeu-
134
„Ubergang" oder transzendentale Dynamik?
gen seine wiederholten
Versuche,
seine neuen
erkenntnistheoretischen
Reflexionen deutlicher zu formulieren — ich gebe eine Übersicht über die wichtigsten Resultate: Es gibt a priori denkbare Begriffe von bewegenden Kräften, vom Verstand selbst gemacht „als Akte* der möglidien tätigen Bewegung einer Materie, wodurch diese die Kausalität in sich enthält (16$, 3 f.; *„Akte des Zusammensetzens" lt. Apparat von K . durchstrichene Fassung) (164, 26—10) Die Begriffe von bewegenden Kräften sind a priori denkbare Formen der Zusammensetzung; das Zusammengesetzte wird nicht „durch Anschauung erkannt, sondern nur durchs Zusammensetzen erzeugt" etc. (166, 12—19) Der Übergang, eine rein intellektuelle Beschäftigung, ist die Verbindung von Begriffen, die aufs Subjekt, mit solchen, die aufs Objekt bezogen sind, zu einer Einheit. „Für das Objekt sind Begriffe a priori in dem System der bewegenden Kräfte überhaupt enthalten . . . Für das Subjekt sind in den Kategorien die Bedingungen . . . der Annäherung" an systematische Naturerkenntnis (Physik) anzutreffen. Die Antizipationen der Wahrnehmung enthalten die systematische Form der Naturforschung, subjektiv a priori, obgleich objektiv empirisch. Der Übergang ist „Physiologie . . . in der möglichen Anwendung der Phänomene auf Gegenstände der Erfahrung nach Prinzipien eines dadurdi möglichen Systems der Wahrnehmungen", „nicht Bestimmung des Subjekts in Ansehung der Rezeptivität, sondern ein Akt der Spontaneität." (172, 1 2 — 1 7 3 , 10) Der Übergang „enthält das Formale der Naturforsdiung nach Begriffen des Zusammensetzens der empirischen Vorstellungen, um zum Zusammengesetzen zu gelangen, welches sidi in der Erfahrung darbietet . . . " (359, 1 1 — 1 7 ) „Die reine Physiologie hat es mit den bewegenden Kräften zu tun, die generisch zu jeder Erfahrung, entweder bejahend oder verneinend erfordert werden, die Physik, d. i. empirische Physiologie, nur mit spezifischer Erfahrung." ( X X I I 254, 4—7) Der Übergang antizipiert formal die bew. Kraft, klassifiziert das Empirisch-Allgemeine, „um die Bedingungen der Aufsuchung der Erfahrung zum Behuf eines Systems der Naturforschung danach zu regulieren (regulative Prinzipien)." ( X X I I 263, 1—6) D a z u ist anzumerken: ι . D i e erkenntnistheoretischen Reflexionen K a n t stehen durchgängig noch im Zeichen der Rechtfertigung des Ü b e r g a n g s ; sie sind also noch nicht selbständig und thematisch geworden. Dennoch läßt sich (besonders deutlich in X X I 1 7 2 f.) beobachten, daß das Verhältnis der Erkenntnisbedingungen des Subjekts einerseits zu den N a t u r b e d i n g u n g e n des O b jekts andererseits f ü r K a n t problematisch w i r d : gesucht w i r d ein medius terminus, ein neuartiger Mittelbegriff, der nicht die bloße Korrespondenz, sondern die systematische V e r k n ü p f u n g v o n Erkenntnis- und
Natur-
bedingungen garantiert. In Konsequenz dieser Überlegung taucht jetzt das Problem der Möglichkeit eines Systems der W a h r n e h m u n g e n ( 1 7 2 f.) b z w . der bewegenden K r ä f t e als Bedingungen der Möglichkeit aller E r f a h r u n g überhaupt ( X X I I 2 5 4 ) auf. E s verstärkt sich also die T e n d e n z
Entwurf No. 1 — 3 η
135
zu einer Theorie dynamischer, d. h. auf die Existenz der Dinge unmittelbar bezogener, Prinzipien möglicher Erfahrung. Bemerkenswert ist schließlich, daß Kant in diesem Zusammenhang erstmals ein Lehrstück der K r V , nämlich die Antizipationen der Wahrnehmung, als mögliche Basis für seinen Ubergang ins Auge faßt; das bleibt freilich ein vorläufig ganz isolierter Versuch. 2. Wie eingangs schon gesagt, konkurriert mit solchen erkenntnistheoretischen Ansätzen die Naturforschungskonzeption alten Stils; in den wiedergegebenen Zitaten wird immer wieder sichtbar, daß K a n t beides, mehr oder minder glücklich, miteinander zu vereinbaren versucht. Wie schwierig das ist, ergibt sich audi aus folgender Passage: „Dieser Begriff eines Übergangs von der Metaphysik der Natur zur Physik ist in dem der Naturforschung enthalten, welche jene metaphysischen Begriffe objektiv aufs Empirische der Naturerkenntnis bezieht, subjektiv aber, d. i. in der Art, wie und nach welchen Prinzipien die Naturforsdiung anzustellen sei, Grundsätzen folgt, die a priori nadi Verstandesbegriffen bestimmend sind." ( X X I i68, 15 ff.)
Hiernach soll also der Übergang analytisch aus dem Begriff der Naturforschung hergeleitet werden können — man erinnere sich des analogen Versuchs von ε 2, wonach der Ubergang ein a priori in der Elementarlehre der Naturwissenschaft (was nach dem Kontext auf die M A zu beziehen ist) gegebener Begriff sein soll. Doch so plausibel das auch hier wieder erscheint, so problematisch erweist es sich bei näherem Zusehen; denn erstens ist der Begriff von bewegenden Kräften vorläufig noch zweideutig, da sie einerseits empirisch, andererseits a priori sein sollen, und zweitens führt die apriorische Begründung immer wieder dazu, daß diesen Begriffen eine Funktion zugeschrieben wird, die gewiß nicht im völlig harmlosen Sinne regulativ ist (nämlich im Sinne bloßer Ordnungsprinzipien f ü r empirisches Material, das als solches bereits vorgegeben ist), sondern zumindest in der Bedeutung so heißt, die auch auf die sogenannten dynamischen Grundsätze der K r V zutrifft, nämlich im Sinne einer Regel, „nach welcher aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung (nicht wie Wahrnehmung selbst, als empirische Anschauung überhaupt) entspringen soll." (B 222) Und für diese Grundsätze gilt: „Wir haben in der transzendentalen Analytik unter den Grundsätzen des Verstandes die dynamischen, als bloß regulative Prinzipien der Anschauung, von den mathematischen, die in Ansehung der letzteren konstitutiv sind, unterschieden. Diesem ungeaditet sind gedachte dynamische Gesetze allerdings konstitutiv in Ansehung der Erfahrung, indem sie die Begriffe, ohne welche keine Erfahrung stattfindet, a priori möglich machen." (B 692)
136
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
In genau diesem Sinn bezeichnet Kant die Prinzipien des Übergangs als generisch für alle Erfahrung überhaupt; in Verbindung mit der ganz allgemein und unverbindlich-regulativen Naturforschungskonzeption resultiert daraus eine Mißhelligkeit, die in Nr. ι — 3 η nicht aufgelöst bzw. beseitigt wird. Davon abgesehen, gerät die Naturforschungskonzeption ohnehin im Verlaufe dieses Entwurfs in eine Krise, und zwar wegen der oben genannten Zweideutigkeit im Begriff von bewegender Kraft. Schon X X I 358,18—25 spridht Kant von den Ubergangs-Begriffen als a priori gemachten bzw. bloß gedachten, problematischen Begriffen, deren objektive Realität unausgemacht bleibe; kurze Zeit später ( X X I I 264,12—265, 28) diskutiert er dann das eigentliche Problem, das sich hinter jener Zweideutigkeit verbirgt: U m v o n den M A zur Physik zu gelangen, muß man das Dasein bewegender Kräfte voraussetzen; da aber die bewegenden Kräfte nur empirisch sind, können sie nicht zur Begründung der Physik a priori vorausgesetzt werden. A u s w e g aus diesem Zirkel: die Idee eines subjektiven Systems. — In den beschriebenen Zirkel gerät ζ . B. der Mathematiker: er muß „schon physische Anfangsgründe vor sich haben, indem er allererst zur Physik, als einer systematischen Lehre schreiten will." Es bedarf also eines Prinzips, die Kräfte auszusuchen, zu klassifizieren, in ein System zu bringen, d. h. gewisser Begriffe a priori v o n „bewegenden Kräften, welche auf die Zusammensetzung jener Kräfte zum Behuf der Erfahrung hinweisen"; es müssen „Präliminarbegriffe" sein, ein „Schematism des Systems der bewegenden Kräfte, sofern es a priori gedacht werden kann."
Aber auch diese so einleuchtend erscheinende Idee eines subjektiven Systems führt nicht aus dem Zirkel heraus; denn: „Übergang ist das System der bewegenden Kräfte der Materie nach Begriffen a priori der möglichen Bewegung . . . Physik ist das System der Gesetze der Bewegung, sofern sie eine Erfahrungslehre der Naturforschung möglich machen . . . Die bewegenden Kräfte . . . müssen durch Erfahrung gegeben werden, aber ihre Wirkung ist a priori unter Gesetzen." (265, 9 — 1 7 )
Ihre Wirkung: das sind die Bewegungen, deren Gesetzmäßigkeit a priori beschreibbar ist; das Dasein von Ursachen der Bewegung jedoch kann a priori auf keine Weise herausgebracht werden, und von jener schönen Idee eines a priori erkennbaren Systems bewegender Kräfte bleiben nur „Begriffe a priori möglicher Bewegung" übrig; m. a. W. der Versuch, den Übergang als System der Prinzipien der Naturforschung zu entwickeln, gleitet in das alte Fahrwasser der M A ab: die Naturwissenschaft ist hier wieder durchgängig reine oder angewandte Bewegungslehre (cf. die Definition für Ubergang und Physik im letzten Zitat), und Kant bewegt sich mit dieser mathematischen Konzeption in demselben Zirkel, den
Entwurf No. 1 — 3 η
137
er soeben im V e r f a h r e n des Mathematikers kritisiert hat; denn v o m B e wegungsbegriff f ü h r t kein Schritt, keine Brücke, kein Ü b e r g a n g a priori zur E x i s t e n z bewegender K r ä f t e ; die zitierten kantischen Sätze bestätigen das nur aufs neue. D e r Bewegungsbegriff taugt also nicht zur Lösung des Problems, w i e den Begriffen a priori v o n bewegenden K r ä f t e n objektive Realität gesichert werden kann — zu dieser Einsicht (mit der das N i v e a u der K r i t i k der Göttingischen Rezensenten der M A endgültig erreicht ist) hat K a n t sich im weiteren V e r l a u f v o n N o . ι — 3 η endgültig durchgerungen; denn nach einigen Ausweichmanövern® stellt er in N o . 3 δ seine bisherigen Überlegungen z u m Beweisproblem auf eine skeptische Probe, indem er alle wichtigen M o t i v e w i e Mosaiksteinchen zu z w e i sich antithetisch zu einander verhaltenden Skizzen zusammenfügt. N a c h der ersten (auf der ersten Seite des genannten Bogens) enthält der Ü b e r g a n g Zwischenbegriffe ( X X I $28, 29) als Bedingung der Möglichkeit eines Erfahrungssystems der körperlichen Natur (529, 1 ff.), sc. der Physik. Die Prinzipien dieser Naturforschung „sollen hier nicht logisch und formal sein, die Ordnung im Denken überhaupt vorzuzeichnen, sondern genetisch, die Objekte (das Materiale der Erkenntnis) betreffend, wodurch die Naturwissenschaft an Erfahrungserkenntnis erweitert wird." (529, 8 — 1 1 ) Dabei handelt es sich um Begriffe, „die man sich a priori selbst schaffen, die man aber auch andererseits . . . dem Ganzen der Erfahrung an Naturgegenständen beifügen muß, um eine Physik nach Prinzipien a priori als System zustande zu bringen . . ( 5 2 9 , 12—16) Dieses , M o s a i k ' nimmt also f ü r den Ü b e r g a n g eine v o r w i e g e n d konstitutive Funktion an: die Begriffe sind nicht bloß logisch, sondern genetisch, die Entgegensetzung der K r ä f t e nicht logisch, sondern real ( 5 3 0 , 1 ) , und die zu liefernden Prinzipien der N a t u r f o r s c h u n g sind „nicht logische, die das Subjekt in Ansehung der Methode angehen, sondern Elementarbegriffe, die das Objekt betreffen . . . Zum Übergang gehört die Antizipation gewisser empirischer Vorstellungen, die zu der Möglichkeit einer Physik als System erforderlich sind." (530, 20—24) D e n entgegengesetzten S t a n d p u n k t nimmt K a n t in dem unmittelbar f o l ' X X I 3 6 2 , 2 7 — 3 6 3 , 1 3 ; 366, 29—367, 19; 369,15—20; „Der Übergang . . . muß nicht ganz in Begriffen a priori . . . auch nicht ganz aus empirischen Vorstellungen bestehen . . . " (362 f.) — „Der Übergang . . . ist . . . eine Brücke . . . von Begriffen, die einerseits a priori gedacht, andererseits empirisch gegeben werden müssen . . . " (366 f.) — „Der Ü b e r g a n g . . . , der weder von bloßen Prinzipien a priori ausgeht, noch aus den physischen Wahrnehmungen, die bloß empirisch sind (ζ. B. Chemie) etwas entlehnt." (369)
138
„ Ü b e r g a n g " oder transzendentale D y n a m i k ?
genden zweiten ,Mosaik' (auf der zweiten Seite desselben Bogens, X X I 530 ff.) ein: „ M a n kann sich die bewegenden Kräfte der Materie, die ihrer N a t u r
anhängen,
a priori nach gewissen tätigen Bestimmungen (functiones) modifiziert denken . . . ohne daß nodi ausgemacht wird, ob sie wirklich in der W e l t angetroffen werden möchten oder nicht, und sie in einer logischen Einteilung aufstellen, v o n der man es allenfalls, ob sie vollständig sei oder nicht, unausgemacht lassen kann." (530, 2 6 — 3 1 )
Geliefert
werden „problematische, einander entgegengesetzte Urteile" ( 5 3 1 , 1 f.), „problematische Antizipationen der Naturforschung" ( — , 8 ff.) in logischer, nicht realer Entgegensetzung der Begriffe ( — , 1 2 ff.), die bloß „propädeutisch" und „den Übergang vermittelnd" sind ( — , 20 f.).
Wie in dem frühen Entwurf A — C wird hier der Übergang zu einer bloß logisch-terminologischen Hilfswissenschaft herabgedrückt, ja, Kant gibt sogar den Anspruch auf Vollständigkeit ( 5 3 2 , 6 ff. wird er wieder erhoben) vorübergehend auf; der Grund für solche Bescheidenheit ist eben jenes Problem der objektiven Realität der Übergangsbegriffe, um dessen Lösung sich Kant seit X X I 3 5 8 , 1 8 ff. und X X I I 2 6 4 ^ (s. die vorigen beiden Seiten) bemüht: „die bewegenden Kräfte der Materie, die insgesamt nur empirisch gegeben werden können", sollen „dennoch einem Prinzip a priori ihrer V e r k n ü p f u n g und vollständigen Einteilung zum Behuf eines Systems" untergeordnet werden ( 5 3 2 , 9 — 1 2 )
In dieser Skizze zieht K a n t also aus den Überlegungen von X X I I 264 f., wonach die Annahme a priori von realen bewegenden Kräften unvermeidlich auf einen Zirkel führt, eine skeptische Konsequenz, indem er überhaupt darauf verzichtet, die objektive Realität seiner Begriffe nachzuweisen, sondern sie vielmehr als bloß problematisch behandelt. Die Antithetik, die Kant in den beiden Entwürfen des Bogens No. 3 δ konstruiert, ist in zweierlei Hinsicht charakteristisch: ι . in Ansehung der Methode: Kant benutzt erneut hier sein altes skeptisches Verfahren, „Sätze und ihr Gegenteil zu beweisen" (cf. Rfl. s037, X V I I I 6 9 ) , nunmehr in großem Stil, indem er dieselben Elemente und Motive einmal zu einem kategorisch behauptenden und anschließend zu einem bloß problematisch erwägenden Argument arrangiert. Gerade das bewußte Experimentieren mit Begriffen und Sätzen, die hier zunächst bloß willkürlich verschiebbare Steindien eines gedanklichen Spiels sind, zeigt wieder einmal, daß es a priori unmöglich ist, irgendwelchen Termini oder Gedanken des o.p. einen konstanten, von ihrem Kontext unabhängigen Sinn zu unterlegen; so haben hier etwa „Antizipation" ( 5 3 0 , 2 3 ; 5 3 1 , 1 0 ) , „Prinzipien der Naturforschung"
Entwurf No. 1—3 η
139
( j 3 0 , 2ο; 53 2 >9)j »Zwischen-" bzw. „vermittelnde Begriffe" (528,29; 5 3 1 , 2 1 ) je nach dem Zusammenhang, in dem sie erscheinen, eine ganz vage (problematische) oder eine bestimmte (kategorische) Bedeutung. — Das o.p. ist also alles andere als eine systematische Konstruktion a priori, und eine Interpretation, die von dieser Voraussetzung ausgeht, verfehlt notwendigerweise den Text. — Dennoch ist dieses Spiel ständiger Abwandlung der Formulierungen und Gedanken nicht unfruchtbar und ohne alle Resultate; vielmehr zieht Kant immer wieder gewisse Konsequenzen, die später nicht mehr oder wenigstens nicht völlig rückgängig gemacht werden; nur stehen sie nicht a priori fest, sondern ergeben sich allein aus dem Prozeß der Versuche selbst und sind auch nur von daher zu verstehen. 2. in Ansehung des Gegenstandes: aus der hier vorgeführten Antithetik wie auch aus den vorhergehenden skeptischen Versuchen, in dieser oder jener Richtung ergibt sich die Perspektive einer Antinomie der mit der Naturphilosophie beschäftigten Vernunft: Einerseits ist an dem Satz, daß die bewegenden K r ä f t e nur empirisch gegeben werden können, nicht zu rütteln; denn er ist nur eine Folge des kantischen Prinzips: Dasein ist kein konstruierbarer, in einer Anschauung a priori darstellbarer Begriff. Andererseits müssen Begriffe a priori von bewegenden Kräften angenommen werden, weil sonst die Physik als System nicht begründet werden kann. Es soll hier nicht erörtert werden, ob diese Antinomie objektiv oder nur ein Scheinproblem ist; für die Interpretation ist es hinreichend zu wissen, daß Kant sie ernst nahm und ernst nehmen mußte, weil sie sich aus seinem Versuch, die Physik metaphysisch zu begründen, zwingend ergeben hat. Mit diesem skeptischen Experiment enden Kants Bemühungen in N o . ι — 3 η, seinem Übergang eine neue, vernünftige Basis zu geben; was folgt ( X X I 3 0 5 , 2 — 5 ; 3 0 5 , 2 5 — 3 0 6 , 1 7 ) , sind bloße Wiederholungen alter, ζ. T. längst überholter Vorstellungen; die skizzierte Antinomie bleibt also vorläufig ungelöst stehen. Während so die Entwicklung der Übergangs-Konzeption in N o . 1 — 3 η in einer Aporie endet, ergeben sich f ü r den Begriff von materieller Substanz Fortschritte, die vor allem an den verschiedenen Formulierungen des 4. Kategorientitels abzulesen sind; cf. dazu vor allem die folgenden Belegstellen: X X I 166, 3 ff.; 1 7 2 , 1 — 5 ; 1 7 4 , 1 1 — 1 4 ; 357, 2; X X I I 252,
140
„ Ü b e r g a n g " oder transzendentale D y n a m i k ?
1 0 — 1 4 ; 2 5 4 , 1 3 — 1 7 ; 257, ι—5/24 f.; 2 5 8 , 2 2 ff.; 265, 29 f.; X X I 3 6 8 , 1 ; 531,9; 303,13—20. Beginnen wir mit dem negativen Resultat: „ w i r erkennen die Materie als Bewegliches im R a u m durch Anziehung und
Ab-
stoßung. D a s abstoßende Subjekt (substantia noumenon) kennen w i r durch Erscheinungen und können auch nicht verlangen, nach dem, w a s es an sich sei, sondern nur, w a s es für unsere Sinne ist, zu erkennen." ( X X I I 2 $ 2 ,
10—14)
Das ist eine deutliche Absage an den Substanzbegriff der M A ; cf. dazu nochmals I V 503,5 ff. insbesondere 1 1 — 1 9 : „ A l s o ist Materie als das Bewegliche im Räume die Substanz in demselben. A b e r eben so werden auch alle Theile derselben . . . Substanzen, mithin selbst wiederum Materie heißen müssen. Sie sind aber selbst Subjecte, wenn sie für sidi beweglich und . . . etwas im Räume Existirendes sind. A l s o ist die eigene Beweglichkeit der Materie . . . zugleich ein Beweis dafür, daß dieses Bewegliche . . . Substanz sei."
Im Abschnitt über die Phoronomiekritik wurde gezeigt, daß dieser Substanzbegriff die Existenz materieller Punkte impliziert und damit dem Prinzip der Dynamik widerspricht. Daraus zieht Kant hier die Konsequenz, indem er die Vorstellung von einem abstoßenden Subjekt für bloß intelligibel erklärt und damit als nicht-empirisch aus der Materietheorie verbannt; als Qualität und Kriterium von Materie bleiben allein die bewegenden K r ä f t e übrig — und mit dem Substanzbegriff hat natürlich auch der Materiebegriff der M A endgültig als überholt zu gelten. Darüber hinaus zeichnet sich hier auch die Revision des Substanzbegriffs der K r V ab. Denn die These, daß für unsere Sinne nur die Kräfte, nicht aber ihr Subjekt erkennbar sei, impliziert die weitere, daß der Substanzbegriff nicht mehr schematisierbar und auf eine einzelne empirische Anschauung anwendbar, mithin nicht mehr der Begriff „von einem Gegenstande überhaupt" ist, „dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird" ( K r V Β 128), d . h . keine Kategorie im klassischen Sinne mehr ist.7 Fragt man nun, was positiv als Ersatz f ü r den alten Substanzbegriff eintritt, so kann man eben aus obigem Zitat nur folgern: es sind einzig und allein die K r ä f t e , also etwas, was im klassischen Sinne nicht als Substanz, sondern nur als Akzidens (bzw. Grund der Inhärenz der Akzidenzen) gelten und dessen Anschauung in der Erfahrung keineswegs „immer nur als 7
C f . die folgende N o t i z , die in dieselbe Richtung deutet, freilich nicht als Beleg gelten kann, da sie ganz isoliert dasteht: „ 3 ) relatio als Erfahrungsobjekt nicht substistierend, sondern inhärierend" ( X X I 2 9 7 , 25 f.).
141
Entwurf No. 1 — 3 η
Subjekt, niemals als bloßes Prädikat betrachtet werden müsse" (KrV Bl29). Diese Korrektur des Substanzbegriffes wird nun bestätigt durch die oben wiedergegebenen Belegstellen zum Titel der Modalität; sie stimmen mit zwei Ausnahmen ( X X I 3 3 7 , 1 und 297,25 f.) darin überein, daß Kant — wie in a—c — das Problem der Subsistenz oder Inhärenz des Wärmestoffs nicht unter dem Titel Relation, sondern oben unter dem vierten Kategorientitel behandeln will. Wichtiger aber ist, daß Kant — ebenfalls anknüpfend an eine Idee von a—c: cf. das Zitat X X I 288, 3 f. oben S. 1 3 1 — die Funktion des alten Substanzbegriffes unter dem Titel der Modalität auf den Wärmestoff bzw. das System der bewegenden Kräfte überträgt; so heißt es erstmals X X I 357, 2: „4) Modalität: permanent-wirkende oder transitorisdi" (ähnlich 368, 1 ; 531, 9)
und deutlicher: „4) Modalität ist die Notwendigkeit der Bewegung der Kräfte der Materie im Weltganzen durch die einzige Art der Bildung desselben aus einem elastisdien Zustand durdi die immer fortdauernde Konkussion, seit dem Anfange der Bewegung im Äther aufgelöst, der in Licht und Wärme besteht." ( X X I I 254, 1 3 — 1 7 ) „Die Perpetuität — sit venia verbo — oder Permanenz der bewegenden Kräfte. Das Korrespondierende der Notwendigkeit." ( X X I I 26j, 29 f.)
Perpetuität, Permanenz, Beharrlichkeit oder beharrliche Wirksamkeit der bewegenden Kräfte werden hier also als notwendig oder als Korrespondierendes der Notwendigkeit (später heißt das dann „Schema") bezeichnet. Nun fehlt es zwar noch an jeglicher Begründung für diese Vorstellung, aber die Absicht Kants ist dennoch unverkennbar: der Inhalt des alten Substanzbegriffs — nämlich die Funktion der Beharrlichkeit — wird hier unter den Titel der Modalität bzw. Notwendigkeit subsumiert. Zwar wird auch dieser neue Zug der Theorie bisweilen skeptisch behandelt — charakteristisch ist etwa die kurze Notiz: „4) permanent: nie ganz" ( X X I 298,1) —, aber im Gegensatz zur Frage der Ubergangskonzeption ist Kant in diesem Punkt entschlossen, den sich bereits abzeichnenden Lösungsweg zu wählen; dafür ein Beleg vom letzten Bogen des Entwurfs (No. 3 η): „,Ein wärmeleerer Raum ist undenkbar' (Gehler) Warum ι. Das Bewegliche im Raum
nicht?
2. Das Bewegliche, sofern es bewegende Kraft hat 3. Sofern seine Kräfte in einem System miteinander verbunden sind . . . 4. der Modalität nadi ist die Notwendigkeit und ihre empirische Funktion die Permanenz der bewegenden Kräfte vermittelst des Wärmestoffs. Unveränderlithkeit." ( X X I 303, I i — 2 0 )
142
.Ubergang" oder transzendentale D y n a m i k ?
Diese Überlegungen sind methodisch und inhaltlich bemerkenswert, methodisch wiederum in zweierlei Hinsicht: einmal sieht man an diesem Beispiel sehr schön, in welcher Weise K a n t von einem äußeren Anstoß abhängig b z w . auch unabhängig ist; er nimmt den Gehlerschen Satz auf und benutzt ihn dann dazu, um selbständig und unabhängig von seiner Quelle darüber zu reflektieren und das Resultat in den K o n t e x t seiner übrigen Vorstellungen einzuarbeiten 8 . Zweitens ist charakteristisch, daß er noch immer alte und neue Elemente miteinander zu kombinieren versucht, v o n denen man mit Sicherheit sagen kann — und K a n t wußte das vermutlich auch — , daß sie unvereinbar miteinander sind; auch diese T a f e l ist also kein ausformuliertes systematisches Konzept, sondern nur ein —
wenn auch sehr interessantes —
experimentelles
Durchgangs-
stadium auf dem Wege zur endgültigen K l ä r u n g der Vorstellungen von Substanz, Materie usw. Inhaltlich bestätigt das Zitat die bisherige Entwicklung in Sachen Substanzbegriff: wie in a — c und an den angeführten Stellen
von
N o . ι — 3 η behauptet K a n t — im Anschluß an Gehler, wie wir jetzt sagen können — die permanente Wirksamkeit der bewegenden K r ä f t e b z w . des Wärmestoffs als notwendig; neu ist, daß erstmals die Frage nach der Begründung aufgeworfen und — besonders interessant — die Beharrlichkeit der dynamischen Wirkungen als empirisches Korrelat der N o t wendigkeit bezeichnet wird. Darin deutet sich nicht nur ein neuartiges Schema für den Begriff der Notwendigkeit, sondern, noch allgemeiner, eine neue Funktion des Begriffs der Notwendigkeit für die Erfahrung überhaupt an, worüber im folgenden mehr zu sagen sein wird.
j.
Elementarsystem
ι—7
Wie im vorausgehenden Entwurf so sind auch in Elementarsystem ι — 7 " die Ubergangskonzeption und die Überlegungen zum Substanz8
C f . d a z u L e h m a n n s . A n m e r k u n g e n X X I I 806 f . ( z u X X I 303, 1 1 f.) u n d 8 1 1 ff. ( z u X X I 480, 9 — 4 8 1 , 24).
9
Ich ü b e r g e h e h i e r d a s Bogen
(XXI
„Zwischenspiel"
504—51a),
d a es nichts
(Adickes
117)
entscheidend
auf
Neues
dem mit bringt.
„1"
signierten
Erwähnenswert
ist n u r , d a ß K a n t sich e r n e u t u m eine K l ä r u n g des K r a f t b e g r i f f s b e m ü h t ( X X I 507 f . ) . —
D i e B e z e i c h n u n g „ E l e m . S y s t . " e r g i b t sich a u s d e m s y s t e m a t i s c h e n T i t e l , d e n die
n e u e M a t e r i e t h e o r i e n u n m e h r t r ä g t ; er g e h t a u f A n s ä t z e in N o . 1 — 3 η ( X X I I 26—29; zurück.
l67>
J—7; X X I
53 2 > M f f · .
J33>
1
6
u
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„1"
(XXI
$10,
z66,
29—511,9)
Elementarsystem l 1 — 7
143
bzw. Wärmestoffbegriff die interessantesten Themenkreise; das Material soll daher auch hier zunächst nach diesen beiden Gruppen getrennt behandelt werden. Die frühesten Formulierungen zur Ubergangskonzeption ( X X I I 1 3 6 , 1 6 — 2 1 und 142, 20—24) operieren mit den hinlänglich bekannten Vorstellungen — ein System der bewegenden K r ä f t e der Materie ist notwendig 10 , es ist formal a priori, material aber empirisch — bei dieser Feststellung läßt es Kant vorerst bewenden, und es gibt keinerlei Hinweis darauf, wie der Zirkel im Beweis dieser formal-apriorischen Prinzipien vermieden werden kann bzw. wie es mit ihrer objektiven Realität bestellt ist. In einem dritten Anlauf ( 1 4 9 , 7 — I 2 ) verschärft Kant dieses Problem noch durch die ausdrückliche Bemerkung, daß die Benutzung empirischer Prinzipien ganz unvermeidlich sei, weil die bewegenden K r ä f t e ihrem Dasein nach erfahren werden müßten. Auch die folgenden Versuche führen über diesen Punkt nicht hinaus ( 1 4 9 , 1 4 — 150,20; 152,15—27; 162,6—17). Daß Kant selbst diese Situation als unbefriedigend empfand, ergibt sich schon daraus, daß er den f ü r seine Arbeit zentralen Begriff der bewegenden Kraft, abermals zu definieren versucht ( 1 6 1 , 2 0 — 2 9 ; cf. auch die späteren Versuche 192, 28—30; 193, 2 und 20 f.) und sich fragt, wie man das System der bewegenden K r ä f t e , das der Ubergang liefern soll, denn nun vollständig erkennen könne ( 1 6 1 , 30 f.). Im Anschluß daran unternimmt Kant (auf den folgenden Bogen) energische Versuche, aus der Sackgasse herauszukommen; dabei verstärkt sich zunehmend seine Neigung, die anstehenden Fragen als transzendentale zu behandeln. Als erstes wird das compositio-vor-compositum-Motiv, das in a—c und den folgenden Entwurfskizzen zunächst nur dazu diente, die Ubergangsbegriffe (von bewegenden Kräften) zu beschreiben auf das System der K r ä f t e selbst übertragen: „ E i n System der bewegenden Kräfte der Materie ist dem Materialen nach aus empirischen Datis zusammengesetzt, die Zusammensetzung derselben aber und die Form nach Prinzipien a priori geordnet und verbunden, und so muß es auch dargestellt werden, damit das Mannigfaltige der Begriffe von jenen in einem Ganzen möglicher Erfahrung (also auch systematisch) verbunden sei." ( X X I I 1 6 5 , 1 9 — 2 4 )
Auf einer weiteren Stufe ( 1 7 1 , 2 4 — 1 7 3 , 7 ; ich übergehe hier den uninteressanten Versuch 166 f.) tritt dasselbe Motiv in einem noch prinzipiel10
D . h. methodisch, für die Möglichkeit der Physik, notwendig, nicht in dem objektiven Sinne, wie es die eben besprochenen Formulierungen des Modalitätstitels verlangen.
144
,Übergang" oder transzendentale D y n a m i k ?
leren Zusammenhang auf: Kant erörtert dort erstmals im o.p. die Frage der Gesetzmäßigkeit der Natur überhaupt, womit die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung grundsätzlich zu einem selbständigen Thema innerhalb des o.p. werden können. Allerdings macht Kant davon noch nicht sofort Gebrauch, vielmehr soll der Übergang nach wie vor Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung bloß für die Physik liefern, indem er das Formale der Verbindung des Empirischen durch systematische Zusammenstellung der bewegenden K r ä f t e darstellt (im selben Rahmen bewegen sich auchnoch die Skizzen 1 7 4 , 3 — 8 / 1 1 — 2 0 ) . Aber derGedanke, daß sich aus dem Begriff des Zusammensetzens ein Prinzip a priori der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt im Ubergang entwickeln lasse (174, 27—30), läßt Kant nicht mehr los; gleich darauf formuliert er die kühnen Sätze: „ D i e Tendenz zur Physik macht, daß Prinzipien a priori des Überganges dazu vorangehen, und diese können nur im System der bewegenden Kräfte der Materie aus Prinzipien a priori quoad materiale et formale angetroffen werden. D a s System der bewegenden Kräfte der Materie 1. subjektiv betraditet: empirischer Begriff; dann objektiv rationales und a priori (oder umgekehrt) nach den Kategorien a) quoad formale, b) quoad materiale einer dadurch möglichen Physik." ( 1 7 5 ,
2—9;
cf. audi 1 0 — 1 5 )
Hier ist die Tendenz vom ursprünglichen regulativen Konzept fort zu einem konstitutiven hin deutlich erkennbar: nicht allein die Form, sondern auch der oder zumindest gewisse Inhalte der Physik sollen im Übergang antizipiert werden — wie das möglich sein soll, bleibt allerdings offen. Dieses anspruchsvolle Programm skizziert Kant auch 1 7 8 , 2 2 — 3 3 , wo er den Übergang ausdrücklich als „das konstitutive Prinzip des Systems der empirisch gegebenen bewegenden K r ä f t e der Materie" bezeichnet(i78, 30 f.).Wie ein solches Konzept verwirklicht werden könnte, deutet sich erstmals in folgenden Gedanken an: „ D i e Idee des a priori erkennbaren Systems der empirisch gegebenen bewegenden Kräfte der Materie als Ausfüllung einer Lücke durdi das regulative Prinzip der synthetischen Erkenntnis. 4) Nicht die bloß analytische und distributive, sondern auch die kollektive und synthetische Allgemeinheit des Ganzen der bewegenden Kräfte, d. i. die N o t w e n d i g keit. Prinzipien a priori f ü r die Physik als System bewegender Kräfte der Materie muß es geben, denn ohne System gibt es keine P h y s i k . " ( 1 8 2 , 2 2 — 2 9 )
Sieht man von der Frage, ob der Übergang denn nun regulative oder konstitutive Prinzipien exponieren soll, ab, so stehen doch offenbar folgende
Elementarsystem 1 — 7
145
Grundmomente der kantischen Auffassung fest: ι. Von der Notwendigkeit der Aufgabe und damit von der prinzipiellen Bedeutung seiner Arbeit ist Kant fest überzeugt. 2. Als Zielpunkt kristallisiert sich die Idee eines Ganzen 11 , eines Gesamtsystems der bewegenden Kräfte der Materie heraus. 3. Dieses System wird hier zum ersten Mal nicht ausschließlich als Naturobjekt beschrieben, sondern als Erkenntnisinhalt verstanden, und dementsprechend ist seine Notwendigkeit nicht bloße Naturnotwendigkeit, d. h. im naiven Sinne natürliche und somit vorgegebene Eigenschaft des empirischen Gegenstandes Materie, sondern sie folgt vielmehr aus der kollektiv-synthetischen Allgemeinheit dieses dynamischen Ganzen, d. h. sie ist der Ausdruck dafür, daß das System der bewegenden Kräfte nicht bloß analytisch und distributiv, d. h. in einzelnen empirischen Anschauungen, sondern notwendigerweise und durchgängig Gegenstand der synthetischen Erkenntnis, mithin der empirischen Anschauung des erkennenden Subjekts ist. In dieser knappen Skizze zieht Kant eine erste Summe aus den bisherigen, seit dem LBl. 6 zutagegetretenen Ansätzen. Die Fülle der Implikationen, die in diesen wenigen Sätzen stecken, hat Kant auf lange Zeit hinaus beschäftigt; sie kann und soll daher hier auch nicht vorwegnehmend erörtert werden. Festzustellen ist nur eines: die Aufgabe, den Übergang als ein formales System bewegender Kräfte a priori als notwendig für die Physik zu erweisen, fällt fortan prinzipiell — wenn auch noch nicht durchgängig in Kants Entwürfen — mit der weiteren, bisher getrennt davon behandelten zusammen, nämlich die Notwendigkeit der Wirkung dieses Systems bzw. des ihm zugrundeliegenden „Stoffs" (Äther oder Wärmestoff) zu deduzieren: das ist der Sinn der oben zitierten Formel von den Prinzipien quoad formale und materiale einer möglichen Physik. Bevor wir die Entwicklung weiter verfolgen, müssen die übrigen vorhergehenden Resultate von Elem. Syst. 1 — 7 , soweit es die Modalität des Systems der Kräfte bzw. den Ersatz für die alte Substanzvorstellung angeht, kurz besprochen werden. Die ersten Notizen zum fraglichen Themenkreis können übergangen werden ( 1 3 7 , 5 — 1 4 1 , 9 f.); bemerkenswert ist die folgende Fassung des 4. Kategorientitels: „ V o n der Modalität der (Bewegung und den) 12 bewegenden Kräften der Materie
11 12
C f . dazu die vorbereitende N o t i z X X I I 137, 5 — 7 . C f . den A p p a r a t zu X X I I 155, 3.
146
„Obergang" oder transzendentale Dynamik?
§ Sie besteht in der Perpetuität
ihrer Wirksamkeit, welche (Permanenz) das der Sinn-
lichkeit entsprechende Schema des Begriffs der Notwendigkeit
ist." (155, 3—8)
Hier haben sich die vorsichtigen Ansätze der vorausgehenden Entwürfe (man vgl. die entschuldigende Formulierung von X X I I 265, 29 f.; oben S. 1 4 1 ) zu einer kategorischen Behauptung verfestigt; ohne zu zögern subsumiert K a n t nunmehr die alte Substanzvorstellung der Beharrlichkeit als Schema unter die Kategorie der Notwendigkeit. In Konsequenz der Korrektur des Substanzbegrifïs von X X I I 2 5 2 , 1 0 ff., der zufolge das Subjekt der K r ä f t e nunmehr als substantia noumenon zu betrachten ist, bedeutet Beharrlichkeit nicht mehr die beharrliche Existenz eines statischen Etwas in der empirischen Anschauung (ζ. B. eines Körpers) wie in der K r V 1 3 , sondern die beharrliche Wirksamkeit eines dynamischen Phänomens. Die alte Substanzvorstellung löst sich also endgültig in einen „Inbegriff von lauter Relationen" ( K r V Β 3 2 1 ) , in ein kontinuierliches Spiel bloß dynamischer Wirkungen auf, deren Subjekt als solches in der Erfahrung nicht mehr erkennbar ist. — Freilich fehlt es in diesem Zusammenhang noch an einem Nachweis der Rechtmäßigkeit solcher Behauptungen; festzuhalten bleibt immerhin, daß die Weiterentwicklung der metaphysischen Anfangsgründe der Dynamik struktuelle Veränderungen innerhalb der klassischen Theorie der Erkenntnis a priori — wie in Kapitel I V 1 bereits entwickelt wurde — erforderlich macht. Zwei weitere Belegstellen ( 1 6 3 , 2 6 — 1 6 4 , 8 ; 1 7 8 , 9 — 2 0 ) legen zunächst nahe anzunehmen, Kant habe seine alte Vorstellung von materieller Substanz doch noch nicht endgültig fallengelassen. Aber das bleibt nur Episode; die allgemeine Entwicklung der kantischen Vorstellungen vom System der K r ä f t e — die, wie wir sahen, mit der der Übergangsproblematik überhaupt konvergiert — verläuft in der entgegengesetzten Richtung, wie die an neuen Ideen reiche Endphase von Elem.Syst. 1 — 7 zeigt. Die Grundidee f ü r den ersten Versuch, den Äther zu beweisen, formuliert Kant in dem Satz: „Es könnte wohl etwas bewegende Kraft haben, ohne selbst beweglich zu sein, ζ. B. der ganze Äther." (174, 9 f.) 13
Cf. das Körperbeispiel in der Erläuterung der Kategorienfunktion B. 128 f.; cf. ferner die Formeln „beharrliches Bild der Sinnlichkeit" und „beharrliches Objekt der sinnlichen Anschauung" Β 553 f. bzw. B. 800 als Definition der Substanz in der Erscheinung, wobei unter Substanz ganz konkret ein einzelner, empirisch gebbarer oder gegebener Gegenstand verstanden wird.
147
Elementarsystem 1 — 7
Mit H i l f e dieses Gedankens" soll dann der folgende Grundsatz der Modalität erwiesen werden: „Von der Modalität der bewegenden Kräfte der Materie
§
Sie ist unter der Kategorie der Notwendigkeit
begriffen, welche wiederum den Cha-
rakter der Allgemeingültigkeit im Räume und der beständigen Fortdauer in der Zeit bei sich führt, und ist Notwendigkeit
in der Erscheinung.
(Perpetuitas
est necessitas
Phaenomenon)." (i88, 3—9)
DerBeweisversuch als solcher ( 1 8 8 , 1 0 — 1 9 ) , in dem Kant aus der Unmöglichkeit der Bewegung des Weltganzen (als Folge des Trägheitssatzes) auf die Unveränderlichkeit des Weltzustandes als eines dynamischen Ganzen schließt, braucht hier nicht weiter zu interessieren, da er in der Folge keine Rolle mehr spielt 15 . Wichtiger ist, daß die Perpetuität der bewegenden K r ä f t e — man beachte die lateinische Formel, die offensichtlich und bewußt an K r V B 186 anknüpft — nunmehr ausdrücklich auf Raum und Zeit bezogen wird, worin sich das wichtigste Ereignis von Elem. Syst. 1 — 7 , die Einführung des Raum-Zeit-Arguments (darüber sogleich mehr), ankündigt. Von nun an überstürzen sich Kants Reflexionen geradezu: unmittelbar vor dem Modalitätsabschnitt stellt Kant erstmals im o.p. die methodische Gretchenfrage seines Übergangsunternehmens, auf die die Entdeckung des Zirkels im bisherigen Beweise der Apriorität der bewegenden K r ä f t e früher oder später führen mußte: „Wie kann ich aus dem Empirisch-Gegebenen synthetische Sätze a priori weben
...
— durch die Kategorien, denen ich sie als Formen der Zusammensetzung . . . unterordne. Denn ich habe einen Gegenstand vor mir, den ich nicht als compositum unmittelbar anschauen, sondern mir nur der Komposition bewußt werden kann, welche a priori vorausgeht. Die bewegenden Kräfte der Materie stehen unter den Formen von Raum und Zeit wie aller Fortschritt von Erkenntnissen a priori zum empirischen der Apprehension, sofern es dem System der Kategorien untergeordnet wird . . . Wie ist es möglich, synthetische Erkenntnis a priori von dem zu haben, was sich nur auf Erfahrung gründen kann? Ζ. B. von den Gesetzen der Gravitation, von der Wärme?" (187, 3 — 2 1 )
Das Dilemma scheint in der Tat nach wie vor unauflöslich zu sein, und dennoch schreitet Kant, von der Dynamik seiner neuen Ideen getrieben, unbeirrt fort. 14
15
Der das Prädikat der Beweglichkeit als Grundvorstellung von Materie überhaupt erneut infrage stellt. Von der vereinzelten Passage X X I I 194, 1 7 — 2 0 sehe ich dabei ab.
,Übergang" oder transzendentale Dynamik?
148
Im nächstfolgenden Einleitungsentwurf ( 1 8 8 , 2 0 — 1 8 9 , 1 0 ) revidiert er die irrige Auffassung der M A von der „Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll" ( I V 4 7 6 , 9 ff.) folgendermaßen: „Was ein Gegenstand äußerer Wahrnehmung ist, ein jeder Körper, der auf unsere Sinne wirkt, gibt uns irgendeine bewegende Kraft der Materie — diese also empirisch — zu erkennen, indessen daß die metaphysischen Anfangsgründe nur das, was a priori von der Bewegung der Materie gedacht werden kann, der Vernunft nur das Formale der Bewegungen darbietet." (189, 6—10)
Das bleibt fortan die vorherrschende Grundauffassung Kants von Materie bzw. vom Gegenstande äußerer Sinne überhaupt, von der alle Erklärungen und Deduktionsversuche ausgehen; wiederum verbirgt sich hinter scheinbar harmlosen Sätzen eine Fülle von Problemen, mit denen Kant sich im folgenden nodi ausführlich zu beschäftigen hatte. Kurz darauf entwickelt Kant aus bereits vorliegenden Gedanken zwei weitere wichtige Thesen: ι. Jeder Körper kann als System bewegender Kräfte betrachtet werden (190, 8 f.) — eine im Grunde längst fällige Konsequenz aus der Weiterentwicklung der Dynamik im ο.ρ.1β. 2. Der Ubergang hat danach die Aufgabe, das, „was a priori die Denkbarkeit eines solchen Systems ausmacht, unter dem Titel der allgemeinen physiologischen Anfangsgründe der N W .
zusammenzufas-
sen." ( 1 9 0 , 9 fr.) 17 Die beschriebene Entwicklung kulminiert in der Einführung des Raum-Zeit-Arguments 18 , mit dem sowohl die Ubergangskonzeption als auch die Reflexionen über die Notwendigkeit des Systems der bewegen18
17
18
Im Zusammenhang mit dieser Neufassung des Körperbegriffs ist audi die Tatsache zu sehen, daß Kant in Elem. Syst. 1—7 ( X X I I 1 7 9 , 1 — 2 0 ) seine ursprüngliche Entscheidung zurücknimmt, die organischen Phänomene im Übergang nicht zu behandeln. Darauf ist bei der Besprechung von A. Elem. Syst. 1—6 zurückzukommen, wo die Organismusprobleme erstmals ausführlich dargestellt werden. In dieser Zielsetzung ist der Niveauunterschied gegenüber den M A auf eine prägnante Formel gebracht: während letztere zwar den Namen einer metaphysischen Körperlehre tragen, ihn der Sache nadi aber nicht verdienen, weil sie über die Möglichkeit physischer Körper nichts aussagen wollen und können, macht das o.p. die Erkennbarkeit der Körper, d. h. ihre Möglichkeit metaphysisch zum Problem. Obwohl bei seiner Einführung zunächst nur vom Raum die Rede ist, nenne ich das Motiv Raum-Zeifargument, weil Kant es in der Folge auch auf die Zeit ausdehnt (cf. 193, 8 f f . / i 7 Í f . ; 200, 20; für die spätere Entwicklung: X X I 219 f.) und es in dieser Fassung in den Deduktionen von Übergang 1 — 1 4 usw. eine entscheidende Rolle spielt.
Elementarsystem 1 — 7
149
den K r ä f t e in ein neues Stadium treten; es bildet von Übergang ι — 1 4 an ein Standard-Argument des o.p.: „Da der leere Raum gar kein Objekt der Erfahrung ist, mithin weder durch das innerlich- nodi äußerlidi-Leere in der Materie irgendein Phänomen erklärt werden kann: so ist es keine Hypothese, sondern Gewißheit, daß das Ganze aller Weltmaterie ein stetiges Ganze (continuum) ist, d. i., daß selbst die Attraktion im leeren Räume nur eine Idee sei, indem man von der repulsiven Kraft der Materie . . . bloß abstrahiert, indem die Erfüllung des Raums durch Repulsion gar nichts zu ihr beiträgt . . . — so wird alle Materie (mit ihren bewegenden Kräften) zusammengedacht Ein System ausmachen, in welchem ich einerseits bloß die Teile, ihre Mannigfaltigkeit sparsim, hernach aber auch dieselbe Materie als ein absolutes, nicht zu einem größeren gehöriges Ganzes coniunctim betrachte. — Hieraus wird die Einteilung des Systems der bewegenden Kräfte in das Elementarsystem und das Weltsystem folgen." (192, 14—27)
Ich muß darauf verzichten, die Entwicklung dieses Arguments aus seinen Vorstufen — also insbesondere aus den vorausgehenden Formulierungen des 4. Kategorientitels und der Idee des a priori erkennbaren, kollektivund synthetisch-allgemeinen Systems der K r ä f t e — im einzelnen zu zeigen und beschränke mich nur auf seine inhaltlichen Momente; es sind zwei Hauptthesen darin enthalten: ι . alle Materie bildet ein Kontinuum, d. h. ein dynamisches System, und als solches ein absolutes Ganzes. 2. These 1 ist nicht Hypothese, sondern Gewißheit; Grund: der leere Raum ist kein Objekt möglicher Erfahrung. Zunächst ist ohne weiteres klar, daß mit der zweiten These die M A abermals korrigiert werden: dort (IV 532 ff.) ist die dynamische Erklärungsart bekanntlich nur eine Hypothese, die gegenüber dem Atomismus zwar gewisse Vorteile bietet, aber nicht prinzipiell vor ihm ausgezeichnet ist. Dodi auch das o.p. hatte bisher diesen Standpunkt geteilt; nur zehn Seiten zuvor kann man lesen, daß die Wärmmaterie „ein bloß hypothetischer S t o f f " sei, wozu Kant bemerkt: „Letzteres ist für den Fortschritt von der Metaphysik der Natur zur Physik hinreichend." ( 1 8 2 , 1 5 ff.) Zu fragen ist also, worauf die neue Gewißheit — an der K a n t übrigens auch später noch des öfteren zweifelt — beruht. Zur Begründung bezieht sich Kant allein auf den Satz „der leere Raum ist kein Objekt der Erfahrung." Räumt man das zunächst einmal ein, so wird das Argument auf folgende Art verständlich: Alle Weltmaterie, als Gegenstand einer empirischen Wissenschaft (z. B. der Astronomie) betrachtet, ist ein stetiges Ganzes, ein kontinuierliches System, denn: als Gegenstand einer empirischen Wissenschaft ist alle Weltmaterie notwendigerweise ein Gegenstand möglicher Erfahrung. Da nun nach
150
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
Voraussetzung der leere Raum es nicht ist, so können die Weltkörper (wiederum als empirische Gegenstände betrachtet) nicht durch leere Z w i schenräume voneinander getrennt sein; wollte man nämlich behaupten, es sei möglich, z . B . von der Sonne Erfahrung durch den leeren Raum hindurch zu haben, so würde man ihn zu einem Gegenstand möglicher Erfahrung erklären, was der Voraussetzung widerspricht; ergo etc. Einfacher ausgedrückt: insofern Erfahrung von der Materie im Weltraum außer uns möglich ist, insofern wirken auch ihre Teile wechselseitig aufeinander ein und bilden in dieser Hinsicht ein stetiges Ganzes (andernfalls wäre eben Erfahrung von der Materie unmöglich). — Der Grund der Gewißheit also, mit der K a n t die Weltmaterie als ein dynamisches Kontinuum behauptet, ist, daß die Annahme des Gegenteils, sc. des leeren und zugleich empirischen,
i. e. wahrnehmbaren
(Welt-)Raums
einen
Widerspruch mit sich selbst bedeutet. Hieraus kann man nun folgern: ι . Der leere Raum, von dem man in der Astronomie oder der Physik redet, ist eine bloße Abstraktion; in der Erfahrung gibt es immer nur komparativ-leere Räume. 2. D a der empirische Gegenstand „Weltmaterie"
nunmehr als stetig
vorausgesetzt werden kann, so sind zwei Erklärungsarten von diesem Ganzen denkbar, eine von den Teilen zum Ganzen, die andere v o m Ganzen zu den Teilen fortschreitend (Elementar- und Weltsystem; cf. dazu X X I I 266, 26 ff. — X X I 5 3 2 , 1 4 ff. usw.). Das klingt alles sehr überzeugend, und die Gültigkeit dieser Überlegungen hängt, wie es scheint, allein von der oben hypothetisch zugestandenen Prämisse ab, daß der leere R a u m kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Dennoch liegen, bei Licht besehen, die eigentlichen Schwierigkeiten nicht hier, sondern im Hauptargument: es gibt sich, um nur einen Aspekt aufzugreifen, einmal ganz objektiv als Aussage über einen empirischen Gegenstand (die Weltmaterie), dann wiederum wird von den Erkenntnisbedingungen des Subjekts aus argumentiert und geschlossen. Daraus ergeben sich u . a . folgende Fragen: Wie verhalten sich objektive und subjektive Aussage zueinander? Wie verhält sich insbesondere der subjektive reine Anschauungsraum (Gegenstand der Mathematik) zum objektiven empirischen Weltraum (Gegenstand der Physik)? In den späteren Fassungen des Arguments (bis zum Sdiluß von Elem. Syst. ι — 7 ) vermeidet K a n t eine solche Zweideutigkeit der Aspekte; inhaltlich kommt er allerdings über ein freies Experimentieren mit verschiedenen, ζ. T . sehr interessanten Ansätzen noch nicht hinaus:
Elementarsystem 1—7
151
Die Tendenz der MA zur Physik ist „die Bestimmbarkeit des Raumes und der Zeit durch den Verstand a priori in Ansehung der bewegenden Kräfte", der Übergang „die Erfüllung des Leeren durdi die Formen, welche alle möglichen Gegenstände der Erfahrung in ihrer Einheit betrachten. Ein Geschöpf der Idee des Ganzen der sich selbst bestimmenden durchgängigen Anschauung seiner selbst." (193, 8—14) Die mathematische Einheit von Raum und Zeit — den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung als System der Wahrnehmungen — begründet den Begriff des Elementarsystems (zum Beweis folgt das Raum-Zeit-Argument: 193, 17—194, 15) Das System der bewegenden Kräfte bzw. die uranfängliche Bewegung der Materie ist der Grund aller Wechselwirkung und Gemeinschaft und damit der Gesetzmäßigkeit d e r B e w e g u n g e n (194, 1 7 — 2 9 ; 1 9 J , 2 0 — 2 6 ) .
Alle Punkte des Weltraums sind dynamisch erfüllt, sonst wäre der leere Raum wahrnehmbar, was sich widerspricht (195, 5—9). Das Elementarsystem kann nicht empirisdi erkannt, sondern muß a priori durch Begriffe in die Naturforschung gelegt werden (195, 27—196, 6). Die Existenz einer alldurchdringenden Materie kann postuliert werden „aus der Idee einer sich im Anfange aller Bewegung zu einem nie aufhörenden Spiel der bewegenden Kräfte derselben vereinigenden Materie, gerade darum, weil es der Anfang einer allgemeinen kollektiven Einheit ist" und alle Körper sind als zu einem absoluten Ganzen vereinigt zu denken „vermittelst einer Idee, welche ein allgemeines Prinzip der Möglichkeit aller Erfahrung enthält." (197, 10—24) „Postulat der Dynamik: alle Teile der im Raum verbreiteten Materie beziehen sidi aufeinander als Glieder eines allgemeinen mechanischen Systems der Materie uranfänglich und beharrlich agitierender Kräfte" (199, 23—200, 3). Raum und Zeit sollen „realisiert" werden (200, 20), und: „Die kollektive Idee des Ganzen aller bewegenden Kräfte der Materie geht a priori vor der distributiven aller besonderen Kräfte, als die nur empirisch sind, voraus." (—, 23 ff.) Diese Ansätze antizipieren in einer A r t Materialsammlung einige der Motive, die dann in den späteren Deduktionsversuchen von Übergang ι — 1 4 an wichtig werden, so ζ. B. das der kollektiven Einheit — in Ubergang ι — 1 4 wiederkehrend als Forderung, daß das Objekt aller möglichen äußeren E r f a h r u n g analytisch und synthetisch eine Einheit sein und die Materie zur Einheit möglicher E r f a h r u n g
zusammenstimmen
müsse (so X X I 2 4 1 U . Ö . ) ; den Gedanken, daß das Elementarsystem a priori durch Begriffe in die Naturforschung gelegt werden müsse, benutzt K a n t im X . / X I . K o n v o l u t in der ständig variierten Formel, daß das die Eindrücke zusammenfassende Subjekt nicht mehr aus den empirischen Vorstellungen aushebe, als es in die Erfahrung hineingelegt habe ( X X I I 3 5 3 , ι — 5 , Beleg willkürlich gewählt); und schließlich ist „das Geschöpf der Idee des Ganzen der sich selbst bestimmenden durchgängigen A n schauung seiner selbst" ein V o r l ä u f e r der späteren Selbstsetzungslehre des V I I . Konvoluts — abgesehen.
vom allgemeinen R a u m - Z e i t - A r g u m e n t
ganz
152
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
Freilich gilt wie schon so oft, daß es sich zunächst bloß um fruchtbare Möglichkeiten, aber noch nicht um realisierte Konzeptionen handelt. Dennoch bedeuten diese Versuche, bei aller Unzulänglichkeit in der Ausführung einen wichtigen Fortschritt: In den bisherigen Entwürfen, vom LB1. 6 angefangen, hatte Kant immer nur damit gespielt, den bewegenden Kräften bald diese, bald jene Funktion im Erkenntnisprozeß zuzuschreiben, und das alles zu dem Zweck, das Unternehmen des Ubergangs als notwendig nachzuweisen; zudem blieb es fast durchweg bei bloßen Behauptungen. Mit der Einführung des Raum-Zeit-Arguments dagegen exponiert Kant erstmals Prinzipien einer ernstzunehmenden Deduktion des Elementarsystems bzw. des Elementarstoffs; damit wird zugleich ihre Funktion im Erkenntnisprozeß zu einem selbständigen Thema und dient nicht mehr allein dazu, den Übergang und seine Darstellung formaler Prinzipien a priori der Naturforschung zu rechtfertigen. Dieser Fortschritt ist vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen: erstens hatten Kants Reflexionen über die Notwendigkeit des Systems der bewegenden Kräfte, wie wir gesehen haben, ein Stadium erreicht, in dem er dem Versuch einer Deduktion oder eines Beweises nicht mehr ausweichen konnte; und das hatte zweitens zu einer Erneuerung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori — nunmehr bezogen auf einen an sich bloß empirischen Gegenstand — geführt. Daraus hatte Kant dann die Konsequenz gezogen, indem er im Raum-Zeit-Argument und seinen Varianten zum ersten Mal im o.p. den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori — „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteil a priori" — (B 197) auf das System der bewegenden Kräfte angewandt hat: nur dann, wenn es den Raum zum Gegenstand möglicher Erfahrung macht (oder Raum und Zeit realisiert) und damit Erfahrung von Gegenständen im empirischen Raum (ζ. B. Weltkörpern im Weltraum) ermöglicht, ist das dynamische Kontinuum notwendig, und nur dann kann audi seine Existenz in einem synthetischen Urteil a priori behauptet werden, ohne daß man — wie Kant selbst in den M A oder der Mathematiker in seiner Hebelerklärung" — in den sonst unvermeidlichen Zirkel im Beweis gerät. 19
Cf. die Polemik gegen Kästner X X I 294 samt ihren Vorstufen X X I 529, 25 ff.; 534, 20; J3J, 8, wozu im weiteren Sinne audi die Polemik gegen „den" Mathematiker von X X I I 264, 20 ff. zu rechnen ist, wo Kant das Zirkelproblem zum ersten Mal erörtert. Darauf ist bei Besprechung von Farrago 1—4 zurückzukommen.
Elementarsystem 1 — 7
153
Damit ist implizit bereits gesagt, daß der auf den letzten Bogen von Elem. Syst. ι — 7 erreichte Fortschritt einen qualitativen Sprung bedeutet. Denn mit der Einführung des Raum-Zeit-Arguments erreichen Kants Reflexionen ein Niveau, das deutlich über demjenigen liegt, auf dem sich die M A bewegen. Natürlich hatten auch die M A das Ziel, gewisse Grundprinzipien der Physik und insbesondere der Dynamik als Erkenntnisse a priori zu erweisen; aber die Methode, der sie sich bedient haben, ist dodi eine ganz andere: zugrundegelegt wurde ein empirisches Datum, nämlich der empirische Begriff von Materie, und untersucht wurde dann nur der „Umfang der Erkenntniß, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist" (IV 470, 6 f.); m. a. W. der Gegenstand dieser apriorischen Naturwissenschaft wurde als von außen kommend, mithin als vorgegeben — oder auch: als ,naturgegeben' — angenommen, und diese Wissenschaft ist daher auch als Naturphilosophie im engeren und eigentlichen Sinne, als „besondere metaphysische Naturwissenschaft" (IV 470,10) und höchstens ,secundum quid', nicht ,simpliciter' als Erkenntnis a priori zu bezeichnen — im Gegensatz etwa zur Geometrie, die nach kantischen Begriffen simpliciter und uneingeschränkt Erkenntnis a priori ist. Dagegen sollen die apriorischen Prinzipien der Physik, die Kant nunmehr sucht, nicht bloß bedingterweise a priori sein, nämlich nicht bloß Applikationen von Vernunftprinzipien auf einen Gegenstand, der dem Subjekt vorgegeben ist; vielmehr wird der Beweisgrund, aus dem diese Prinzipien — bzw. in concreto: das System der bewegenden Kräfte — deduziert werden sollen, jetzt in das Subjekt und die Bedingungen seiner „kollektiven und synthetischen Einheit des Ganzen der bewegenden Kräfte" ( X X I I 182, 25 ff.) verlegt. Diese Subjektivierung aber — sie wird allerdings in den Skizzen von Elem. Syst. 5 — 7 nur andeutungsund versuchsweise formuliert und erst in späteren Entwürfen scharf herausgearbeitet — eröffnet erstmals die Möglichkeit, die Grundprinzipien der Physik in den Rang von Erkenntnissen ,a priori simpliciter', also auf dieselbe Ebene zu erheben wie die Geometrie. Diese Entwicklung der kantischen Reflexionen bestätigt, was am Ende von Kapitel IV 1 und V 7 gesagt wurde: Die Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Metaphysik der Natur und einer besonderen metaphysischen Naturwissenschaft, die für die M A , aber auch noch für das frühe o.p. systematisch und methodisch konstitutiv ist, muß aufgegeben werden. Denn es hat sich herausgestellt, daß das Problem einer Dynamik a priori durch bloße Anwendung transzendentaler Prinzipien
154
.Übergang" oder transzendentale Dynamik?
auf einen Gegenstand, der als solcher empirisch vorgegeben ist, nicht gelöst werden kann. Wenn es überhaupt lösbar ist, dann anscheinend nur, sofern es im Rahmen der Theorie der Erkenntnis a priori selbst behandelt werden kann. Die Aufnahme von Prinzipien der Dynamik würde freilich die kritische Theorie der Erkenntnis a priori in ihrer klassischen Gestalt grundlegend ändern und hätte daher vorerst nicht absehbare Konsequenzen. Aber der Versuch mußte gewagt werden. Denn es ging, wie mehrfach gesagt, um den Bestand des kritischen Systems insgesamt. Kant hat noch geraume Zeit gezögert, den entscheidenden Schritt zu tun; am Ende wurde er durch die innere Logik seiner Überlegungen dazu gezwungen.
6. Farrago
ι—4
Fürs erste jedenfalls, nämlich in Farrago 1 — 4 , erfolgt, f ü r das vorsichtig-experimentierende Verfahren des o.p. sehr bezeichnend, der Rückzug; was wir in N o . 3 δ im kleinen beobachten konnten wiederholt sich hier im großen: nach den zum Teil kühnen, mit dem Anspruch auf Gewißheit vorgetragenen Behauptungen von Elem. Syst. 6 und 7 ist Kants Haltung in Farrago 1 — 4 durchweg vorsichtig-zurückhaltend. Er greift im wesentlichen auf längst Bekanntes und ζ. T. auch Überholtes zurück, so auf das phoronomische Abgrenzungskriterium — M A : Materie bloß als Bewegliches im Raum / • Ubergang: Materie mit ihren bewegenden Kräften betrachtend ( X X I 616, f.; 6 2 1 , 2 ff.; 636,9 ff.; 638, 6 ff.) —, auf die Mathematikpolemik (616, 8 ff.; 6 2 2 , 1 5 ff.), auf das Tendenzmotiv (das schier zu Tode geritten wird), und vertritt durchgängig wieder die regulative Ubergangskonzeption: der Ubergang ist Propädeutik (620, 17/24/25), hat Leitungsfunktion ( 6 3 9 , 1 7 i f · ) , liefert Mittelbegriffe (616, 21 ff.; 6 1 7 , 23) und dient in der altbekannten Weise dazu, die Physik als System zu begründen. Im Gegensatz zu Elem. Syst. 6 und 7 macht Kant nicht nur nicht den Versuch, das Elementarsystem zu deduzieren, sondern bestreitet wieder ganz ausdrücklich, daß es möglich sei, a priori etwas über das Materiale der K r ä f t e (d. h. über sie selbst bzw. ihre Existenz) etwas auszumachen; a priori ist nur ihr Formale, ihre Realität ist bloß empirisch ( 6 2 3 , 1 2 — 1 9 ; 625, 6 ff.; 6 2 7 , 2 1 f.; 629,4 ft.; etc.) — an einer Stelle geht er sogar so weit zu sagen, a priori lasse sich nicht einmal die Möglichkeit denken, daß Materie bewegende K r ä f t e haben und dadurch ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung begründen könne
Farrago 1 — 4
155
(624,16—20). Zwar ist an zwei Stellen von „materialen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" bzw. vom „Materialen der bewegenden Kräfte im System" die Rede (622, 8 bzw. 628, 30/629, i), aber dodi nur in Abhebung vom rein formalen System der MA und nicht in dem Sinne, daß die bewegenden Kräfte selbst, sondern nur ihre Begriffe klassifiziert werden sollen20; die Kräfte als solche sind allein Gegenstände der Erfahrung (625,6 f.), und der Übergang bleibt daher notgedrungen „bei der Verbindung der Elementarbegriffe, die sich a priori denken lassen, in einem System stehen." (—, 17 ff.) Der Standort von Farrago 1 —4 wird am besten bezeichnet durch die 628, 20 ff. formulierte Frage: „ W i e nun ein empirisches Erkenntnis, dergleichen das der bewegenden Kräfte der Materie ist, dodi a priori dem Erkenntnis zum Grunde gelegt werden könne und müsse, läßt sich jetzt . . ( b r i c h t ab)
Zweifellos hatte Kant mit dieser Frage dasselbe im Sinne wie in Elem. Syst. 6 ( X X I I 1 8 7 , 3 ff.), nämlich: wie sind synthetische Urteile a priori von etwas bloß-Empirischem möglich? Er ist also zurückgekehrt auf die Ebene der Erörterung, auf der er sich vor Einführung des Raum-ZeitMotivs bewegt hat. Man sieht also, daß das Zirkelproblem noch keineswegs endgültig gelöst ist, und Kant ignoriert das audi nicht, sondern versucht in diesem Entwurf, es auf deutliche Begriife zu bringen. So diskutiert er z. B. 623, ι — 1 9 den methodischen Fehler einer μετάβασισ ε'ις αλλο γένος der in der Naturwissenschaft darin bestehe, bei der Physik Anleihen zu machen, bevor die Elementarbegriffe systematisch gesichert sind; er führt die Neigung, in einen solchen Fehler zu verfallen, darauf zurück, „daß Begriffe von den bewegenden Kräften der Materie ihre Realität nur empirisch erwerben können." (—,18 f.). Beispielfälle in concreto sind die mechanischen Maschinen: „ U m die Bewegung aus den bewegenden Kräften der Materie der E r f a h r u n g darzulegen, braucht man äußerlich Maschinen. A b e r diese Instrumente bedürfen selbst anderer innerer bewegender Kräfte, vermittelst derer sie mechanisch wirken können. Die Starrigkeit des Hebels . . .
die Zähigkeit des Seils . . .
sind selbst innere bewegende
Kräfte der Materie, ohne die selbst eine dergleichen Materie kein bewegliches Mittel abgeben w ü r d e . " (628, 7 — 1 6 )
20
Ein neuerlicher Beweis dafür, daß die Termini des o.p. unabhängig von ihrem K o n text nichts besagen.
156
„ Ü b e r g a n g " oder transzendentale D y n a m i k ?
Schließlich wird der Terminus der Amphibolie zur Bezeichnung des Zirkelproblems eingeführt (erstmals 6 3 7 , 1 4 ff.); als Beispiele dienen wiederum die sogenannten mechanischen Potenzen, insbesondere die mathematische Vorstellung des Hebels, in welcher die Existenz des Zusammenhangs als Bedingung der Möglichkeit des physischen Hebels stillschweigend postuliert wird. (644,4—645,9). Der Terminus der Amphibolie im Begriff der bewegenden K r a f t bezeichnet also genau den Punkt der schon erwähnten Kritik Kants an Kästners Hebelerklärung (s. o. S. 1 5 2 ) ; daraus zieht Kant für sich selbst die Konsequenz: „ D e r Übergang . . . enthält ein Prinzip der Verhütung einer Amphibolie, im System der bewegenden Kräfte das Subjektive (Materiale) nicht mit dem Objektiven (dem F o r malen) in der Zusammenordnung zu verwechseln und so in die Physik einzugreifen und so mechanisch-bewegende Kräfte, deren Begriff empirisch ist, den
dynamischen
stillschweigend zur Erklärung unterzulegen und diese dann unbedingt (gratis) zu postulieren" (643, 2 9 — 6 4 4 , 4 ; es folgt das Hebelbeispiel).
Hier wird endgültig deutlich, daß das Problem der Möglichkeit des physischen Hebels — mit dem sich Kant seit N o . 1 — 3 η beschäftigt, in Elem. Syst. ι — 7 unter dem Stichwort „subjektive oder objektive Wägbarkeit"; X X I I 138 ft.; 1 5 7 f.; 196 ff. — das Zirkelproblem, die im Anschluß an beide sich entwickelnde Polemik gegen Kästner und schließlich der Begriff einer Amphibolie der mechanisch- und der dynamisch-bewegenden K r ä f t e auf denselben Punkt abzielen, um den auch die Phoronomiekritik und die allgemeine Mathematikpolemik kreisen: auf den Zirkel im Beweisverfahren, in den eine bloß mathematisch orientierte Erklärung physikalischer Phänomene nach Kants Meinung unvermeidbar gerät. Wenn Kant also hier die Verhütung einer derartigen Amphibolie zum methodischen Programm erhebt, so setzt er damit den Schlußpunkt hinter seine bisherigen Versuche, auf dem Wege mathematischer Anfangsgründe der Naturwissenschaft zu einer Begründung der Physik zu gelangen. 21 21
Das im Kapitel „Phoronomiekritik" gewonnene Resultat w i r d hier erneut bestätigt; denn die im letzten Zitat gegebene Besdireibung der Amphibolie deckt sich mit dem Tatbestand der M A ; dort hat K a n t den hier kritisierten Fehler begangen, indem er den Zusammenhang im Begriff einer beweglichen, v o n einem Zentrum aus W i d e r stand der leistenden Materie postulierte, dadurch eine bloß-mechanisdie Erklärung der Materie herausbrachte, dynamische K r ä f t e stillschweigend voraussetzte und dadurch eine petitio principii beging. D i e Kästner-Polemik wird also verständlich als ein anderer Ausdruck der allgemeinen Mathematikpolemik und, mittelbar, der Kritik Kants an sich selbst. — Es ist im übrigen kein Z u f a l l , daß e t w a gleichzeitig mit den Zirkel-Hebel-Amphibolie-Reflexionen sich auch die allgemeine Mathematik-
157
Farrago 1 — 4
Das ist immerhin ein konkretes Resultat, wenn auch nur ein negatives; denn K a n t entwickelt, wie schon gesagt, keine positive Lösung für das Zirkelproblem. Aber das gehört auch nicht zu der bescheidenen Zielsetzung des Entwurfs, die sich schon in seiner Bezeichnung „farrago ante redactionem systematis" ausdrückt 22 ; Kant erläutert sie folgendermaßen: „Eine bloße Sammlung . . . der Begriffe v o n den bewegenden Kräften der Materie ohne ein Prinzip ihrer Vollständigkeit und ohne Redaktion in ein System (als w o z u die Notwendigkeit der Vereinbarung der Begriffe von diesen Kräften erfordert wird) ist Farrago, nicht Wissenschaft (orbis scientiae)." ( 6 1 5 , 2 — 6 )
Schon Adickes hat in dieser Passage den Anlaß f ü r die Bezeichnung des ganzen Entwurfs gesehen (o.p. 1 2 2 Anm. x); ich glaube, daß man darüber hinausgehend folgern darf, daß Kant sich wohl bewußt war, noch immer nicht über ein solches Prinzip der Vollständigkeit und eine klare Einsicht in „die Notwendigkeit der Vereinbarung der Begriffe etc." zu verfügen. Der Inhalt des Entwurfs deckt sich jedenfalls mit dieser Beschreibung, und daraus scheint auch jene vorsichtig abwartende, auf positive Lösungen und kühne Konstruktionen verzichtende Haltung Kants zu folgen, die man in Farrago 1 — 4 durchgängig beobachten kann. N o d i ein weiteres — ebenfalls bloß negatives — Resultat ergibt sich m. E. unmittelbar aus dem Bewußtsein Kants, daß es an einem Prinzip für das Kräftesystem noch mangelt: die Erkenntnis, daß im System der metaphysischen Naturwissenschaft eine Lücke klafft, die allein durch Entdeckung eines solchen Prinzips geschlossen oder überbrückt werden kann; hören wir Kant selbst: „ N B . D a ß diese Abhandlung dazu bestimmt ist, das, w a s in der reinen Naturlehre und überhaupt in dem System aus Prinzipien a priori nodi Lücke ist, auszufüllen und so meine metaphysische Arbeit vollständig zu verrichten." (626,
8 — 1 1 ; cf. ferner 640,
4-6) und: „ D a ß (der) Obergang v o n einer Lehre zur anderen, wie der von der Metaph. der N a t u r zur Physik, als bloßer Verhältnisbegriff des — wie es den Anschein hat — kon-
22
polemik verschärft: in Elem. Syst., X X I I 190, 1 6 — 2 2 bezeichnet K a n t die math. A n f . G r . erstmals als widersprüchlich. Wenn audi die Ansprüche entsprechend herabgestimmt sind, so werden dodi diejenigen Resultate von Elem. Syst. 1 — 7 , die K a n t als gesichert ansieht, getreulich verzeichnet; dazu gehören insbesondere: ι.
die Formulierung des vierten Kategorientitels 6 2 7 , 19 f . ; 6 4 5 , 1 2 . ) ;
( 6 1 8 , 2 3 f . ; 626, 6 f . ; 616,
2.
D i e Vorstellung v o m K ö r p e r als a priori erkennbaren 3 — 6 ; 6 2 7 , 26 ff.; 630, 20 ff.; 6 3 3 , 5 f . ; 639, 1 ff.)
Kräftesystems
14; (618,
158
.Ubergang" oder transzendentale Dynamik?
tinuierlichen Fortschreitens dodi eine besondere Wissenschaft von gewissem Umfange und Grenzen ausmachen solle, kann man sich nicht erklären, wenn man sich nidit eine Lücke zwischen beiden denkt, die durdi ein Mittleres ausgefüllt wird, und das ist die Lehre von den bewegenden Kräften der Materie, sofern sie nadi einem Prinzip (coniunctim) zusammengebracht aufgestellt werden, denn durch diese Kräfte, deren Auffindung empirisdien Ursprungs ist, kann man allein zur Lehre des Systems der bewegenden Kräfte der Materie (zur Physik) gelangen." (642, 15—24)
Das Rätsel der Interpreten, w o denn nun die „Lücke im System der kritischen Philosophie", von der K a n t in einem Brief an Garve vom 2 1 . 9 . 9 8 spricht23, zu suchen sei, löst sich auf folgende einfache und an sich naheliegende Weise auf: In Ubereinstimmung mit allen bisher vorgeführten Belegen und Resultaten des o.p. erklärt Kant hier unmißverständlich, w o die Lücke zu suchen und wie sie zustandegekommen ist. Es handelt sich nicht um eine von vornherein vorgesehene Leerstelle in der ,Topik' des kantischen Systems. Z w a r hat es zunächst, nämlich vom Standpunkt der M A aus gesehen — den Anschein, als sei der Ubergang von ihnen zur Physik ein „bloßer Verhältnisbegrifi des . . . kontinuierlichen Fortschreitens"; nach eingehender Prüfung dieses Verhältnisses — im o.p. nämlich — hat sich jedoch herausgestellt, daß es an einem Prinzip mangelt, ohne das man zur Lehre des Systems der bewegenden K r ä f t e (zur Physik) nicht gelangen kann. In unzweideutiger Weise also macht Kant hier das Versagen der M A vor ihrer vornehmsten Aufgabe, als metaphysische Körperlehre die Physik als System der Dynamik vermittelst eines Prinzips zu begründen, f ü r die Existenz der Lücke in der kritischen Philosophie verantwortlich. Wie es dazu gekommen ist, ist durch die Phoronomiekritik, die durch Kants Reflexionen über die Amphibolie in den Begriffen der mechanisch- und der dynamisch-bewegenden K r ä f t e erneut bestätigt worden ist, hinreichend bekannt. Nach 640,4 ff. gilt es nunmehr, „eine Lücke im System der reinen Naturwissenschaft (philosophia naturalis pura)" auszufüllen und den „Kreis alles dessen, was zum Erkenntnis a priori der Natur gehört" zu 23
X I I 2 J 7 , 10 f.; cf. auch 258, 19—27 (an Kiesewetter, am 19. 10.98): „Mein Gesundheitszustand ist der eines alten . . . ausgedienten Mannes, der dennoch ein kleines Maas von Kräften in sich fühlt, um eine Arbeit, die er unter Händen hat, noch zu Stande zu bringen; womit er das critische Geschäft zu beschließen und eine nodi übrige Lüdce auszufüllen denckt; nämlidi ,den Übergang von den metaph. A . Gr. der N . W. zur Physik', als einen eigenen Theil der philosophia naturalis, der im System nicht mangeln darf auszuarbeiten." Diese Formulierung widerspricht der bekannten Erklärung der K d U (V 170, 20 f.). „Hiermit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werden ungesäumt zum doctrinalen schreiten . . . " .
Farrago 1 — 4
159
schließen. Kombiniert man das mit der schon zitierten Erklärung von 626, 8 ff., wonach das, „was in der reinen Naturlehre und überhaupt in dem System aus Prinzipien a priori noch Lücke ist" (Hervorhebung von mir) ausgefüllt werden muß, so ergibt sich m. E. nur folgende Konsequenz: Kant erklärt hier erstmals unzweideutig, daß in der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori selbst noch eine systematische Lücke klafft. Ich hatte oben bereits mehrfach konstatiert, daß die Tendenz der kantischen Reflexionen auf diesen einen Punkt zuläuft: Aufhebung der Grenze zwischen allgemeiner und besonderer Metaphysik der Natur. Die angeführten Gedanken aus Farrago 1—4 sind für mich der Beweis, daß Kant diesen Punkt nunmehr erreicht hat und sich damit die Möglichkeit eröffnet, zur Lösung des Problems der Dynamik und der Erkenntnis a priori der Natur methodisch neue Wege zu gehen, die freilich den bisherigen systematischen Rahmen sprengen. Einen ersten Beleg dafür, daß Kant von dieser Methode tatsächlich Gebrauch macht, sehe ich schon in den Erörterungen von X X I 640, die unmittelbar an das o.a. Zitat anschließen: sie versuchen die Frage zu beantworten, „warum die Lehre dieses Teils der Naturwissenschaft, welcher das System der bewegenden Kräfte der Materie seiner Form nach aufstellt, anstatt die Objekte . . . (die bewegenden Kräfte) zu benennen, das Verfahren des Subjekts . . . zur Betitelung schicklicher und nötig findet, anstatt von dem Materiale der bewegenden Kräfte der Materie empirisch auszugehen und objektiv die Verbindung derselben als des Physiologisch-Mannigfaltigen, in der Wahrnehmung Gegebenen voranzuschicken, hier vielmehr von dem Formalen des Verbindens in der Zusammensetzung subjektiv ausgehen m ü s s e . . . " (640, 6 — 1 9 ; Hervorhebungen = Sperrungen i. O.)
Die methodische Differenz gegenüber den MA wird hier deutlich herausgearbeitet: nicht Anwendung apriorischer Prinzipien auf empirisch gegebene Objekte, sondern Untersuchung der Bedingungen der Erkenntnis a priori des Subjekts ist das Problem, vor das sich Kant nunmehr gestellt sieht. Allerdings geht Kant auch hier noch nicht mit letzter Konsequenz vor: immer noch versucht er, an der Ubergangskonzeption und den MA festzuhalten (cf. dazu die Fortsetzung der zitierten Reflexion, 640 ff.). Erst nach Aufgabe dieser systematischen Fessel, in Ü. 1 — 1 4 , konnte er daran gehen, seinen neuen systematisch-methodischen Ansatz fruchtbar zu machen. An der Lücke-Problematik zeigt sich übrigens erneut, daß die Begriffe und Sätze des o.p. keinen a priori bestimmbaren und unveränder-
160
.Übergang" oder transzendentale Dynamik?
liehen Sinn besitzen. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob Kant ζ. B. auf dem LBl. 5 von einer „Lücke" zwischen M A und Physik ( X X I 482, 25 ff.) oder hier in Farrago von einer „Lücke" „in der reinen Naturlehre und überhaupt in dem System aus Prinzipien a priori" ( X X I 626, 8 ff.) spricht; denn zwischen beiden Äußerungen liegt nichts Minderes als die Entdeckung, daß die M A ein gänzlich unhaltbares System sind, aber auch, daß der klassische Begriff von materieller Substanz korrigiert werden muß usw. Die Voraussetzungen der betreffenden Aussagen und damit diese selbst sind also grundsätzlich von einander verschieden; eine von systematischen Konstruktionen a priori ausgehende Interpretation kann aber solche Voraussetzungen überhaupt nicht berücksichtigen und wird daher den Sinn des Textes notwendigerweise verfehlen.
γ. Al Β Übergang Schon in dem unmittelbar anschließenden Entwurf A/B Übergang hat Kant erste Konsequenzen aus den methodischen Forderungen von Farrago 1—4 gezogen. So liest man ζ. B. mitten im Kontext des zweiten Hauptstücks (Qualität der Materie): „Aber auf diesen Stufenunterschied, der samt seinen wirkenden Ursachen in die Physik hineingehört, kann sich der Übergang . . . nicht einlassen, indem dieser bloß Begriffe a priori, welche Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung enthalten . . . in gegenwärtigem System aufzustellen hat . . . Es sind Begriffe a priori, die wir uns selber machen, um sie empirischen Gegenständen anzupassen." ( X X I I 2 3 1 , 1 — 1 3 )
Das Grundmotiv dieser Passage ist an sich erheblich älter als die Überlegungen von Farrago 1—4; aber in ihrer Nachfolge beginnt Kant nunmehr, die Themen seines Ubergangs kritisch zu sichten und eigentlichphysikalisdhe Gegenstände auszusondern. Hier wirkt sich also erneut die erkenntnistheoretische Tendenz im Sinne einer Konzentration auf Prinzipien möglicher Erfahrung aus. Das bestätigt ein Versuch, das Problem der Amphibolie im Begriff der Kräfte aufzulösen und ihr einen positiven Sinn abzugewinnen: „Zur mechanischen
Ponderabilität
der Materie wird erfordert, daß sie
dynamisch
imponderabel sei, denn ohne diese innere . . . Kraft würde auch das Wägen unmöglich sein. Ebenso wird dazu, daß die Materie . . . koerzibel sei, eine inkoerzible (nämlich dynamisch), die Wärmmaterie, erfordert . . . 2) Von der bewegenden Kraft der Materie durch die Koerzibilität des Wärmestoffs, als mechanisch- oder dynamisch-wirkende Kraft. Das eine ist das Phänomen vom andern oder das Mittel zu der Darstellung des andern." (242, j — 1 6 )
A / B Obergang
161
Hier kommt wieder jene Zweiteilung in eine primäre und eine sekundäre Materie, mit der K a n t schon im O k . operiert hatte, zur Geltung, nunmehr im Sinne einer scharfen Trennung, und z w a r nicht nur der dynamischen und der mechanischen Eigenschaften der Materie als eines physikalischen Gegenstandes, sondern auch ihrer Beschaffenheit als Erscheinung und Gegenstand der Erkenntnis überhaupt: eine Klasse von Qualitäten ist das Phänomen oder die Erscheinungsform einer anderen Klasse ursprünglicherer Qualitäten und dadurch das Mittel zur Darstellung der letzteren in der empirischen Anschauung. Damit wird die in Farrago ι — 4 kritisierte Amphibolie in der Weise positiv aufgelöst, daß beiden Begriffen von bewegender K r a f t
bzw.
Klassen von Materiequalitäten (und nicht nur, wie bisher, allein den dynamischen) eine eigenständige Funktion zugeschrieben w i r d ; anders ausgedrückt: K a n t entwickelt hier eine Lehre v o n zwei prinzipiell v o n einander unterschiedenen phänomenalen Aspekten oder Erscheinungsebenen der Materie, deren jede in den dynamischen b z w . den mechanischen Kräften ihr legitimes Beschreibungsmittel hat. — Hier wird also, zum ersten M a l im o.p., die Vorstellung der sogenannten Erscheinungsstufung, die Unterscheidung in direkte oder indirekte, in Erscheinungen und Erscheinungen der Erscheinungen, exponiert, die dann im X . / X I . Konvolut eine große Rolle spielt; nicht zufällig tritt dort auch der Gedanke an eine möglich Amphibolie im selben Zusammenhang wieder auf 24 , denn aus ihm ist, wie hier in Β Ubergang zu sehen, die Lehre von der Erscheinungsstufung ursprünglich hervorgegangen. 25 Die methodischen Einsichten und Forderungen von Farrago
1—4
wirken sich jedoch nicht nur in den genannten Einzelzügen, sondern auch im Ansatz eines Konzepts f ü r den Ubergang aus, mit dem K a n t — von anderen Prämissen als in Elem. Syst. 6 und 7 ausgehend — dem Zirkelproblem zu Leibe zu rücken versucht: 24
25
Freilich nicht mehr im Sinne einer methodisch anfechtbaren Zweideutigkeit in der Erklärung bloß physikalisch-empirischer Gegenstände, sondern einer Verwechslung verschiedener Ebenen b z w . Prinzipien der Erkenntnis (so erstmals in Übergang 8, X X I 545 f.)· Wir hatten oben festgestellt, daß der Schluß von Elem. Syst. ι — 7 eine A r t Materialsammlung für spätere Entwürfe darstellt; hier tritt nun eine weitere Vorstufe (für das Motiv der Erscheinungsstufung) hinzu. Aus diesem Tatbestand ergibt sich für jede Interpretation des o.p. das methodische Gebot, für jeden Begriff, jeden Gedanken und jedes Motiv den O r t seines ersten Auftauchens aufzusuchen; denn sie alle haben nicht nur einen Stellenwert in ihrem unmittelbaren Kontext, sondern eine Perspektive im Gesamtzusammenhang des o.p., und allein daraus, d. h. insbesondere aus der Motivation ihrer Einführung ins o.p., sind sie gründlich zu verstehen.
162
.Ubergang" oder transzendentale Dynamik?
„Der Übergang von den met.A.Gr. der NW. zur Physik ist der Inbegriff aller a priori gegebenen Verhältnisse der bewegenden Kräfte der Materie, welche zum empirischen System, d. i. zur Physik erforderlich sind. — Es sind also Elementarbegriffe der NW., die . . . in einem Ganzen a priori dargestellt werden können. Wie ist ein solches formales Elementarsystem aus bloßen Begriffen (ζ. B. Anschauungen axiom. Antizipationen der Wahrnehmung . . . Analogien der Erfahrung; — systematische Einheit des Ganzen des Empirischen) möglich?" (239, 21 f.; dann 240, 5—14; dies ist der von Kant intendierte Zusammenhang, den die A A durch Abdruck eines s-Zusatzes unterbricht) H i e r ist das N i v e a u der Fragestellung v o n E l e m . Syst. 6 / 7 wieder erreicht, ja vielleicht sogar schon überschritten, weil K a n t sie — in dem erwähnten Z u s a t z — noch präziser auf Begriffe bringt: „wenn er (sc. der Übergang) durch Erfahrung geschähe, wäre er selbst die Physik; aber geschieht er durch Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, so geht er vor der Physik a priori vorher und enthält Prinzipien a priori, sie anzustellen." (239, 23— 240, 2) K a n t ist sich also o f f e n b a r endgültig darüber im klaren, daß es aus dem circulus vitiosus der bisherigen A n s ä t z e nur diesen einen A u s w e g über die Prinzipien möglicher E r f a h r u n g geben k a n n ; im Unterschied zu E l e m . Syst. 6/7 w ä h l t er nun aber nicht die reinen Anschauungsformen, R a u m und Zeit, als A u s g a n g s p u n k t , sondern versucht stattdessen, ein formales Elementarsystem aus bloßen Begriffen zu entwickeln (s. das erste Zitat), und z w a r aus dem S y s t e m der Grundsätze des reinen Verstandes. W i e er sich das inhaltlich denkt, ist schwer festzustellen (cf. dazu die schwierigen Skizzen 2 4 0 , 1 7 — 2 4 und 2 4 0 , 2 9 — 2 4 1 , 4 ) ; folgende E i n z e l züge sind immerhin zu erkennen: ι. Der Übergang soll „Prinzipien a priori der synthetischen Einheit der bewegenden Kräfte in der Naturwissenschaft" (241, 8 f.), „das a priori gegebene Ganze der Möglichkeit einer Physik" (241, 16 f.), „regulative Prinzipien, die zugleich konstitutiv sind" (—, 19) liefern: ganz offenbar werden hier Motive von Elem. Syst. 6/7 — z . B . das einer kollektiven Einheit des Systems der Kräfte — variiert. 2. Dieses System aus bloßen Begriffen (den Grundsätzen des reinen Verstandes: die Ableitungsbeziehung zum Elementarsystem ist dabei nicht immer ganz klar) wird hier ausdrücklich mit der Apperzeption in Verbindung gebracht und zugleich mit den seit den Losen Blättern des IV. Konvoluts immer wieder apostrophierten Prinzipien der Naturforschung identifiziert: „Der Übergang enthält die subjektiven Bedingungen der Apprehension (empirisch), verbunden mit der Apperzeption (synthetisch a priori) im Begriff der Physik als System. Also enthält er die Prinzipien der Naturforschung, insofern diese selbst ein Ganzes ausmachen." (243, 27—244, 2; cf. auch 244, 9—15) 3. Wie in Elem. Syst. 6/7 kommt auch hier das Thema der Grundbestimmung eines Etwas als Gegenstand äußerer Sinne auf Tapet:
A / B Übergang
163
„Sie (sc. Prinzipien a priori) sind Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung der die Sinne affizierenden bewegenden Kräfte (also subjektive und dadurch objektive) in einem System aus empirischen datis." (244, 6 — 9 ) Ein weiteres Mal setzt K a n t also zur A n t w o r t auf die Frage an, die sich seit dem LB1. 6 und a — c ständig stellt, nämlich: Wie ist es möglich, einen Körper durch Verbindungsbegriffe des Verstandes zu erkennen b z w . das (in der empirischen Anschauung eines Körpers gegebene) Mannigfaltige durch Begriffe des Verstandes zusammenzusetzen und dadurch die empirische Erkenntnis des Zusammengesetzten (eines Körpers) möglich zu machen? U n d als eigentlicher Punkt des kantischen Interesses erweist sidi immer wieder die Frage, welche Rolle die Kräfte in diesem Prozeß spielen, woraus sich für den Übergang die A u f g a b e ergibt, die Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung erneut zu untersuchen. U n d z w a r glaubt K a n t anscheinend 4. die „Elementarbegriffe" (244, 20) von bewegenden Kräften als Erkenntnisprinzipien unmittelbar aus dem System der Grundsätze des reinen Verstandes herleiten zu können. Inhaltlich ist dieser Ansatz nicht sonderlich interessant; denn erstens bleibt er ganz unbestimmt, und zweitens spielt er keine Rolle mehr, bis er im X . / X I . K o n v o lut vorübergehend nochmals aufgenommen wird. Bemerkenswert dagegen ist die Form des Arguments: „ U m zur Physik . . . zu gelangen, müssen vorher Prinzipien a priori der synthetischen Einheit der bewegenden Kräfte . . . der Form nach in dem Übergang . . . vollständig entwickelt werden (Axiomen der Ansdiauung, Antizipationen der Wahrnehmung etc.), welche eine Propädeutik der Physik als einen Übergang zu derselben a priori enthalten und analytisch aus dem bloßen Begriffe derselben abgeleitet wird."
(241,
7—14)
Zunächst eine philologische Bemerkung: Ich weiche hier v o m T e x t der Akademie-Ausgabe ab; dort lautet der Schluß dieses Zitats nämlich „abgeleitet werden". Bei dieser Lesart würde sich aus dem K o n t e x t folgende Aussage ergeben: ,Prinzipien a priori der synthetischen Einheit der bewegenden K r ä f t e . . . enthalten eine Propädeutik der Physik . . . und werden aus dem bloßen Begriff derselben' — nämlich entweder der bewegenden K r ä f t e oder der Propädeutik oder der Physik — ,abgeleitet'. A l l e diese möglichen Lesarten für ,derselben abgeleitet werden' führen jedoch m. E. auf einen Zirkel. Daher ziehe idi den ursprünglichen Wortlaut des Manuskripts (cf. den Textapparat zu X X I I 2 4 1 , 1 4 ) , der z w a r einen Bruch in der Satzkonstruktion (durch Subjektwechsel), aber einen durchaus befriedigenden Sinn ergibt, vor und lese: ,Prinzipien a priori der synthetischen Einheit der bewegenden K r ä f t e . . . enthalten eine Propädeutik . . . , und diese (sc. die Propädeutik) wird aus dem bloßen Begriff derselben' — nämlich dieser Prinzipien synthetischer Einheit oder auch der K r ä f t e — ,abgeleitet'. Das heißt also: die genannten Prinzipien der synthetischen Einheit implizieren logisch eine Propädeutik der P h y -
164
„ Ü b e r g a n g " oder transzendentale D y n a m i k ?
sik, die daher auch analytisch aus dem bloßen Begriff dieser Prinzipien gefolgert werden kann. Damit reiht sich dieses Argument in die Folge der kantischen Versuche ein, den Ubergang aus bloßen Begriffen analytisch abzuleiten: Wir haben oben gesehen, daß zunächst der Begriff der Elementarlehre der Naturwissenschaft ( X X I 525, 2 f., in Kombination mit 5 2 4 , 1 0 — 1 6 aller Wahrscheinlichkeit nach auf die M A zu beziehen; s. o. S. 84 f.), dann der der Naturforschung ( X X I 168, 15 ff.; s. o. S. 135) zu diesem Zweck benutzt worden sind; da hier nun Prinzipien der Naturforschung und Grundsätze des reinen Verstandes miteinander identifiziert werden, läßt sich die Form dieses Arguments ganz zwanglos audi in die neue Konzeption einordnen. — Diese Beweisstruktur hat Kant bis in die spätesten Entwürfe hinein immer wieder verwendet; so z.B. in Übergang 1 — 1 4 , wo das System der bewegenden Kräfte bzw. die Existenz des Subjekts dieses Systems, nämlich des Wärmestoffs oder Äthers, aus dem bloßen Begriff der Möglichkeit der Erfahrung folgen soll (erstmals schon A. Elem. Syst. 5, X X I I 598,5—13; dann X X I 2 2 5 , 1 2 — 1 9 ; 226,16—20; 227,27—228,3; 2 2 8 , 9 — 1 3 etc. etc.). Die Vorteile dieser Form liegen auf der Hand: Wenn der Übergang ζ. B. analytisch aus den Grundsätzen des reinen Verstandes folgt, dann ist er ein bloßes Corollarium der K r V , erweitert nicht den in ihr abgesteckten Rahmen einer allgemeinen Metaphysik der Natur oder Erkenntnistheorie und kann auch nicht in Widerspruch zu ihr geraten. Schließlich verschafft eine solche bzw. eine analoge Argumentation einen vorzüglichen Beweisgrund für die Deduktion des Elementarsystems oder -stoffs; sie können aus anderweitig bereits gesicherten Begriffen und Sätzen gefolgert werden, ihre Behauptung ist also kein synthetisches Urteil a priori28. Daß das im Einzelfall zu Schwierigkeiten führen kann, ist klar und braucht hier nicht in abstracto erörtert zu werden. Fazit für A/B Übergang: einige neue und interessante Ansätze, aber noch keine geschlossene Konzeption in Sicht. 8. A. Elementarsystem
1—6
A. Elementarsystem 1—6 ist der letzte in der Reihe der Entwürfe, die in diesem Kapitel besprochen werden sollen. Auf den ersten beiden Bogen 26
Dies gilt allerdings nidit für das Argument aus dem .bloßen Begriff der Möglichkeit der E r f a h r u n g ' ; denn das ist nichts anderes als die A n w e n d u n g des obersten G r u n d satzes aller synthetischen Urteile a priori.
Α . Elementarsystem 1 — 6
165
dieses Entwurfs wird zum ersten Mal im o.p. der Komplex der organischen Phänomene, den Kant bisher kategorisch vom o.p. ausgeschlossen hatte, als selbständiges Thema ausführlich behandelt. Aus welchem Grunde — so ist zu fragen — revidiert Kant seine ursprüngliche Entscheidung? Die Antwort ergibt sich aus der oben schon erwähnten vorbereitenden Passage in Elem. Syst. 5 ( X X I I 1 7 9 , 1 — 2 0 ) , wo K a n t erste Ansätze einer positiven Behandlung der fraglichen Phänomene skizziert 27 ; dort heißt es u. a.: „Jene (sc. organisierten) Wesen sind entweder vegetierende oder lebende Wesen. Beide sind Systeme von Kräften, die ihre Species erhalten, jene nach Gesetzen der Rezeptivität, diese der Spontanität." (179, 18 ff.)
Hier liegt derselbe Begriff vom physischen Körper als System von K r ä f ten zugrunde, aus dem Kant, wie wir bereits sahen, kurze Zeit später die neue Aufgabenstellung für seinen Übergang herleitet: „. . . was a priori die Denkbarkeit eines solchen Systems ausmacht . . . zusammenzufassen . . . " ( X X I I 190, 9 ff.)
Diese Zielsetzung macht es notwendig, auch die organischen Bildungen aus dem Elementarsystem der bewegenden K r ä f t e als Prinzipien der Möglichkeit physischer Körper überhaupt herzuleiten, andernfalls wäre das System unvollständig. Daß dieser Gesichtspunkt für Kant ausschlaggebend war, bestätigt auch der Titel, unter dem die Organismusprobleme in A . Elem. Syst. 1 eingeführt werden: „Vom System der bewegenden K r ä f t e der Materie Erster Teil: Das Elementarsystem der bewegenden K r ä f t e der Materie Erster Abschnitt" ( X X I 1 8 1 , 6 — 1 1 , der Obertitel zum folgenden:) „III Der Vollständigkeit der Einteilung des Kräftesystems nach. Man kann nämlich, ohne die a priori bestimmten Grenzen des Übergangs zur Physik zu überschreiten . . . , auch noch den Begriff der organischen im Gegensatz der unorganischen Natur dazuziehen . . . . . . Denn die Endursachen gehören gleichfalls zu den bewegenden Kräften der Natur, deren Begriff a priori vor der Physik vorausgehen muß als ein Leitfaden für die Naturforschung . . . " (184, 2 — 1 6 ; cf. ferner: 186, 7 — 1 2 ; 188, 9—20; 197, 2 1 — 3 0 ; 198, ι — 1 0 )
Der Inhalt der Entwürfe zu diesem Themenkreis braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Viel wichtiger ist das Auftauchen des Problems 27
Gelegentliche frühere Versuche, etwa X X I I 210, 20—23; X X I 264, 1—4 oder X X I 496—J03 passim können hier außer Betracht bleiben.
166
.Übergang" oder transzendentale Dynamik?
als solches, weil sich dadurch der H o r i z o n t des o.p. um ein beträchtliches Stück erweitert; das hatte sich schon in der V o r f o r m von Elem. Syst. 5 gezeigt, sie beginnt nämlich folgendermaßen: „Das Leblose wirkt, das Lebende handelt, das freie Wesen tut; agit, operatur, facit, und wenn seine Handlung hinreichend zur vorgestellten Wirkung ist, verrichtet
(effi-
cit)." ( X X I I 179, ι — 3 ) 2 8
Im Anschluß daran gibt K a n t dann die erste Definition organischer Wesen ( — , 13 ff.)· Man kann also feststellen, daß mit der Einführung dieses Problemkreises auch das Feld der freien Handlungen des Menschen, die Ethik, zumindest ein mögliches Thema des o.p. geworden ist. U n d wenn K a n t von dieser Möglichkeit auch erst im V I I . K o n v o l u t tatsächlich Gebrauch gemacht hat, so geht doch der sogenannte erweiterte Plan des o.p., den einige Interpreten für die letzten beiden Konvolute annehmen, im Prinzip auf den revidierten konsequent-dynamischen Körperbegriff und die aus ihm spätestens in Elem. Syst. 6 entwickelte
erweiterte
Aufgabenstellung des o.p. zurück. Eine zweite ebenfalls durch die A u f n a h m e der Organismusprobleme ermöglichte Erweiterung der Perspektive wird in A . Elem. Syst. 1 — 6 sichtbar: hier tritt nun auch der Gottesbegriff in den Themenkreis des o.p. ein ( X X I 1 8 3 , 2 1 — 2 3 ; 1 8 5 , 4 fi.; 1 8 6 , 1 9 ff.; 1 8 7 , 1 2 fr.; 188,18 ff.; 190, ι ff./7 ff.; 1 9 3 , 1 3 ff.; 1 9 4 , 1 7 ff.; 1 9 6 , 1 ff.; 198 f.; X X I I 2 7 2 , 4 ff.). Freilich bleibt auch das eine zunächst folgenlose Episode; in Übergang 2 lehnt K a n t die Erörterung des Gottesbegriffs mit folgenden W o r ten ab: „Einem ersten Beweger (primus motor) müßte man Spontaneität, d. i. ein Wollen beilegen, welche der Materialität völlig widerspricht." ( X X I 218, 5 ff.)
Danach ist denn auch bis ins V I I . K o n v o l u t hinein v o m Gottesbegriff positiv nicht mehr die Rede; erst dort werden Theologie und Ethik als Glieder eines neu konzipierten Systems der Transzendentalphilosophie ausdrücklich zum Thema des o.p. V o n diesem Tatbestand bleibt jedoch die hier aufgestellte These, daß die Möglichkeit solcher Erweiterungen auf wesentlich ältere Begriffe und Konzeptionen zurückgeht, völlig unberührt. Denn da bekanntlich aus einer bloßen Möglichkeit nicht auf eine korrespondierende Wirklichkeit geschlossen werden kann, so be-
28
C f . dazu die Metaphysikvorlesung Κ 2 (Anfang der neunziger Jahre), in: M a x Heinze, Vorlesungen Kants über Metaphysik aus 3 Semestern, A b t . der phil.-hist. Classe der K g l . Sachs. Akademie X I V 6, Leipzig 1894, S. 604.
167
Α. Elementarsystem 1—6
darf es f ü r das Eintreten dieser Wirklichkeit zusätzlicher Bedingungen: sie sind in der weiteren E n t w i c k l u n g der kantischen Gedanken, v o r allem im X . / X I . K o n v o l u t , zu suchen und w ä r e n f ü r eine E r k l ä r u n g des f r a g lichen
Phänomens
heranzuziehen;
da
dies
jedoch
außerhalb
meines
Planes liegt, kann ich hier nicht weiter darauf eingehen. Drittens tritt im selben Z u s a m m e n h a n g eine Vorstellung
erstmals
a u f , die als V o r s t u f e der Idee eines sensiblen und eines intelligiblen W e l t systems (in den beiden letzten K o n v o l u t e n ) zu betrachten ist: die Idee eines Weltsystems organischer Bildungen, z u m ersten M a l formuliert in A . E l e m . Syst. i29: „Da eine jede Maschine als eine solche gedacht ein aus festen Teilen bestehender Körper ist, der eine auf Zwecke gegründete und gerichtete bewegende Kraft hat, so muß man sie nach der Analogie mit einem Kunstprodukt als Werk einer wirkenden Ursache, die Verstand hat, d. i. eines Urhebers, beurteilen, wenn gleich keine solche Ursache wirklich dazu anzutreffen wäre: als einen Körper, dessen jeder Teil um des anderen willen in ihm da ist, denn das ist nur die Definition eines organischen Körpers überhaupt. Und sollten auch solche abgesonderten Systeme von Materie als organische Körper (Pflanzen und Tiere) nicht anders ihrem Ursprung nach erklärt werden können, als daß eine Gattung derselben, selbst der Mensch, um des anderen willen da ist, so würde ein Weltsystem nach der Analogie solcher Wesen gedacht werden und die bewegenden Kräfte bloß in der Materie gedacht werden." (193, 13—25) 28
Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der auf dem Umschlag des IV. Konvoluts überlieferte, Adickes zufolge ursprünglich der Anthropologie von 1798 zugedachte „Beschluß" ( X X I 344 ff.), der das Fortschreiten des menschlichen Geschlechts zum Besseren zum Gegenstand hat und ebenfalls schon mit der Idee eines Weltsystems organischer Wesen (ohne freilich diesen Terminus zu gebrauchen) spielt, zur Beschäftigung Kants mit diesen Themen beigetragen hat. Denn auf der 3. Seite von Übergang 10 erörtert Kant unter demselben Titel „Beschluß: Prinzipien des Obergangs vom Natursystem zum Weltsystem" die Idee eines Weltsystems organischer Körper (cf. 568, 1—8 und 568, 20—571, 9). Und für diese spätere Phase läßt sich sogar beweisen, daß Kant jenen im IV. Konvolut erhaltenen „Beschluß" wirklich benutzt hat: In Ubergang 10 (568, 9 — 1 1 ; 571, 7—9) und nur dort kommt Kant auf die Miltonsche Vorstellung vom männlichen Licht in Verbindung mit der Frage, ob die Fortpflanzung organischer Geschöpfe durch zwei Geschlechter notwendig sei, zurück; diese Kombination erscheint sonst nur noch in den Notizen, die Kant unmittelbar anschließend an jenen älteren „Beschluß" auf dem Umschlag des IV. Konvoluts niedergeschrieben hat ( X X I 349, 14—16). Inhaltlich ist also die Idee eines Weltsystems organischer Wesen abhängig von Vorstellungen (ζ. B. der Idee des Fortschreitens des menschlichen Geschlechts und damit zusammenhängender Fragen), die Kant bereits außerhalb des o.p. entwickelt hat. Aber das ist m. E. noch kein hinreichender Grund für das Auftauchen dieses Themas im Elementarsystem der bewegenden Kräfte, d. h. im Haupttext des o.p. selbst. Das ist, wie ich oben darzustellen versuche, allein aus der Neufassung des Körperbegriffs, der daraus resultierenden neuen Konzeption des Übergangs und der daran anschließenden Einführung der organischen Phänomene in den Themenkreis des Elementarsystems begreiflich zu machen.
—
168
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
Man vergleiche dazu ferner X X I 1 9 6 , 1 — 1 2 , wo diese Idee zur Vorstellung vom ,Erdglob' als einem ,organischen Körper von höchstem Range' modifiziert wird (weiter fortgesetzt X X I I 276, 2 2 — 2 7 ; X X I 2 1 1 , 5 — 2 1 1 , 2 8 — 2 1 2 , 2 7 ; 2 1 3 , 1 8 — 2 1 4 , 2 ; 2 1 4 , 1 3 — 2 1 5 , 1 1 ; 566, 22—568,27; 5 7 0 , 1 3 — 2 3 ) . — Die Schritte, die zu dieser Ideenbildung führen, stellen sich schematisch also folgendermaßen dar:
Definition des Körpers als dyn. System
Aufgabe des Übergangs, Denkbarkeit a priori eines solchen > Prinzipien a priori dafür zu entwickeln Systems
Aufnahme des Organismusproblems
• Idee eines übergreifenden Gesamtsystems der Organismen als Parallele zur Unterscheidung eines Elementarund eines Weltsystems der (leblosen) Materie
Zu dem zuletzt genannten Punkt ist nochmals das zuletzt wiedergegebene Zitat X X I 1 9 3 , 1 3 if., insbesondere dessen letzter Satz, heranzuziehen: Die Idee des Weltsystems organischer Wesen dient dort zu allererst der Erklärung „solcher abgesonderten Systeme von Materie als organischer Körper". Das heißt: ebenso, wie im Falle der ,toten' Körper die Bedingung der Möglichkeit der Einzelsysteme (der Einzelkörper) im dynamischen Gesamtsystem aller Materie überhaupt gesucht werden, wird hier der organische Einzelkörper auf ein Gesamtsystem (oder einen „organischen Körper vom höchsten R a n g " ) organischer Bildungen als Bedingung seiner Möglichkeit bezogen. — Dies ist, wie mir scheint, der entscheidende Anstoß zu dem Gedanken eines organischen Weltsystems
Α . Elementarsystem 1 — 6
169
gewesen, der dann seinerseits die Keimzelle für spätere spekulative K o n zeptionen gewesen ist30. Wie die oben angegebenen Belege zeigen, haben diese Ideen K a n t audi in der folgenden Zeit nachhaltig beschäftigt. Die stärksten Motive der unmittelbaren Weiterentwicklung jedoch sind in anderen, schon zum traditionellen Bestand des Übergangs gehörenden Ansätzen zu suchen, wie im folgenden zu zeigen sein wird. Kants Versuche, das Elementarsystem der bewegenden K r ä f t e zu begründen und den Begriff des Äthers oder Wärmestoffs weiter zu entwickeln, durchlaufen in A-Elem. Syst. ι — 6 grob gesprochen drei Phasen. Die erste vollzieht sich im Rahmen v o n Einteilungs- und Klassifikationsversuchen, mit denen die ersten beiden Bogen des Entwurfs fast völlig ausgefüllt sind; folgende Momente sind insbesondere zu berücksichtigen: ι . Unter dem Titel der Modalität der bewegenden Kräfte notiert Kant, im Anschluß an die schon bekannte Perpetuitätsformel: „Das, dessen Wirklichkeit a priori erkennbar ist." (183, 1 f.) 2. „Endlich: die bewegenden Kräfte der Materie, insofern sie die Basis aller Bewegung in einer ursprünglichen Einheit enthält. Elementarstoff." (183, 12 ff.) 3. „Bewegende Kraft ist die Beschaffenheit einer Materie, Ursache der Bewegung zu sein. — Die ursprünglich-bewegenden Kräfte der Materie sind die, v o n denen die Bewegung anfängt, d. i. vom Ganzen der Bewegung." (190, 1 5 — 1 8 ) 4. Das Problem einer Amphibolie im Begriff der bewegenden K r a f t (das Stichwort fällt übrigens nicht) wird nunmehr so gelöst, daß zur „Möglichkeit aller Körper als Maschinen" die Existenz einer (ohne alle methanischen Eigenschaften) bloß dynamischen Materie postuliert w i r d ; sie ist alldurchdringlich, stetig, ins Unendliche unverändert wirksam, nicht hypothetisch, nicht empirisch. (192, 15—30) 5. „ A l l e die Sinne bewegenden Kräfte der Materie begründen Vorstellungen derselben nur als Erscheinungen, nicht als von Dingen an sich selbst." (195, 21 ff.) 6. Unter den „Begriffen a priori" (201, 17), nach denen die bewegenden Kräfte eingeteilt werden sollen, erscheinen neu: „prehensibel" und „imprehensibel" (202, 1 f.), ,0
Für den Zusammenhang zwischen der Idee eines organischen Weltsystems, dem Gottesbegriff und der Idee bewegender K r ä f t e der moralisch-praktischen Vernunft vergi, im V I I . K o n v o l u t ζ. Β. X X I I 59, 10—27 oder 61, 26—62, 1 j . — Übrigens hat die Idee eines moralischen Weltsystems ebenso wie ihr dynamisch-physikalisches Pendant ihren vorkritischen Vorläufer, nämlich im 1. Teil der „Träume eines Geistersehers", w o K a n t die Parallele zwischen dem newtonischen Weltsystem der Gravitation und einer sittlichen Welt der Geister ausführlich exponiert und ebenso wie im späteren o.p. bereits mit der Analogie zwischen der „allgemeinen Tätigkeit der Materie" und den „sittliche(n) Antriebe(n) in den denkenden Naturen, wie solche sich auf einander wechselweise beziehen, . . . als . . . Folge einer wahrhaftig tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einfließen" operiert (II 335, 16—26 und das folgende; cf. dazu etwa X X I I 104, 13 ff.). — D a ß diese Skizze u. a. audi durch Kants Programm der Vermittlung zwischen Leibniz und N e w t o n (s. Monadologia physica) angeregt worden sein dürfte, sei hier nur angedeutet.
170
.Übergang" oder transzendentale Dynamik?
gleichbedeutend mit „perzeptibel" bzw. „imperzeptibel" (202, 17 f.). Dazu führt Kant erläuternd aus: „Die Materie ist entweder ein Gegenstand möglicher Wahrnehmung oder kein spürbarer Gegenstand . . . Nur das erste findet statt; denn sonst wäre sie gar kein Sinnenobjekt und für die empirische Anschauung, auf welcher Erfahrung überhaupt beruht, Nichts." (203, 3—7)
Daraus ergibt sich zusammenfassend etwa folgendes Bild: Der Ubergang macht sich nunmehr anheischig, etwas notwendig-Existierendes bzw. eine Wirklichkeit a priori darzustellen — nach Begriffen der bisherigen kritischen Philosophie ein unerhörtes und a priori unmögliches Unternehmen 31 . Der solchermaßen ausgezeichnete „Elementarstoff" ist gleichbedeutend mit der Idee eines Ganzen der Bewegung bzw. eines alldurchdringenden usw. dynamischen Kontinuums als Bedingung der Möglichkeit aller mechanischen Phänomene — vom Standpunkt der K r V aus ein dialektisches Unding, bestenfalls eine leere, zum Zwecke irgendwelcher Erkenntnis unbrauchbare Idee. Davon abgesehen, scheinen diese Ansätze auch miteinander im Widerspruch zu stehen: denn wenn eine absolut-unspürbare Materie für die empirische Erkenntnis nichts ist, was kann dann eine bloß-dynamische, alldurchdringliche — und das heißt: unsperrbare, empirisch nicht faßbare —, a priori als wirklich erkennbare Materie f ü r eben diese empirische Erkenntnis bedeuten? Soll dies der gesuchte Ausweg aus dem Zirkel, das bloß-Empirische als a priori gegeben annehmen zu müssen, um das bloß-Empirische a priori erklären zu können, sein? Setzt man diese auf der Hand liegenden Einwände vorerst beiseite, so ist doch zumindest ein sicheres Resultat, aus dem unter 5 wiedergegebenen Zitat, zu gewinnen; wie in den vorausgehenden Entwürfen sind audi hier die bewegenden K r ä f t e die Grundbestimmung eines jeden Gegenstands äußerer Sinne. Dazu erfährt man Genaueres in den Erläuterungen zu den Termini „prehensibel" und „imprehensibel": „Könnte auch durch die Ausdrücke perzeptibel
und imperzeptibel
(immediate) be-
nannt werden. Raum und Zeit können nicht empfunden werden. Die Form der Anschauung der Gegenstände in denselben ist nicht empirisch, sondern a priori gegeben. Die bewegenden Kräfte der Materie enthalten das Materiale der Empfindung, welches durch das Bewußtsein des Zusammensetzens das Mannigfaltige in dieser Anschauung den Erfahrungsbegriff derselben ausmacht und das Reale der Sinnenvorstellung darbietet, wodurch der Gegenstand perzeptibel (perennierend) wird." (202, 1 7 — 2 4 ) 51
Freilich ist dieser revolutionäre Satz nur die Konsequenz der schon in Elem. Syst. 6/7 benutzten Methode, das Prinzip synthetischer Urteile a priori auf das „Materiale" der bewegenden Kräfte anzuwenden und für die Deduktion ihres Systems auszunutzen.
Α . Elementarsystem 1 — 6
171
Die Funktion der K r ä f t e als Erkenntnisprinzipien zeichnet sich also deutlicher ab als bisher: als .Materiale der Empfindung' b z w . ,Reale der Sinnenvorstellung' sind sie gleichbedeutend mit dem eigentlich-Empirischen b z w . mit jenem Materiebegriff, v o n dem die Antizipationen der Wahrnehmung in der K r V handeln — ein Ergebnis, das nach der mehrfach genannten Neubestimmung des Begriffs v o m Gegenstande äußerer Sinne nicht sonderlich überraschen kann, für den Klärungsprozeß der kantischen Reflexionen jedoch wichtig ist. Darüber hinaus wird in obigem Zitat erstmals beschrieben, wie sich K a n t den A k t der Wahrnehmung und insbesondere die Funktion der bewegenden K r ä f t e im A k t des Zusammensetzens des Mannigfaltigen zur empirischen Vorstellung eines Zusammengesetzten — kurz: die empirische Synthesis vermittelst bewegender K r ä f t e — nunmehr denkt, von der er in den Ansätzen seit dem LBl. 6 immer wieder spricht: Die Zusammensetzung der reinen Anschauungsformen von Gegenständen in R a u m und Zeit ist eine intellektuelle Funktion, angewandt auf ein bloß empirisches, durch Einwirkung von Kräften auf die Sinne dem Verstand zur V e r k n ü p f u n g dargebotenes ,Materiale' oder ,Reale'. Durdi dieses Zusammenwirken von Verstand und reinen sinnlichen Formen einerseits und Materie andererseits kommt ein empirischer Begriff (ζ. B. von bewegenden Kräften; cf. dazu auch 2 0 4 , 1 9 — 2 2 ) b z w . die empirische Vorstellung eines Gegenstandes zustande. Der Begriff von bewegender K r a f t hat also einen formal-apriorischen und einen materialempirischen Aspekt — so weit, so gut, und schon bekannt (und mit den Vorstellungen der K r V durchaus vereinbar). Das N e u e verbirgt sich hinter der unscheinbaren Formel „wodurch der Gegenstand
perzeptibel
(perennierend) w i r d " . Z u r Erläuterung: die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit und von Gegenständen in ihnen sind an sich leer und müssen durch bewegende K r ä f t e , als Realität in der Erscheinung, erfüllt, „realisiert"
(so schon Elem. Syst. 7, X X I I
200,20),
„peren-
nierend" und damit wahrnehmbar gemacht werden. Anders ausgedrückt: nur durch beharrliche Einwirkung bewegender K r ä f t e auf die Sinne des Subjekts und daraus resultierende „ E r f ü l l u n g " der leeren Formen von Raum und Zeit durch ein Kontinuum von Realität kann „der Gegenstand" perennierend werden, Gegenstand der Wahrnehmung und empirischen Erkenntnis überhaupt sein; das heißt aber: die „Perpetuität" der bewegenden K r ä f t e ist die conditio sine qua non der Wahrnehmung irgendwelcher Gegenstände und damit (von Seiten des Materials oder
172
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
der Realität) eine a priori notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt. W i r hatten oben (in Abschnitt 4 und 5) gesehen, daß mit der Korrektur des Substanzbegriffs und der Subsumtion der Vorstellung v o n Beharrlichkeit unter die Kategorie der Notwendigkeit die Möglichkeit entfällt, eine Klasse empirischer Einzelgegenstände als beharrlich v o r anderen, die es nicht sind, auszuzeichnen, indem als „beharrlich" nunmehr allein das ,immerwährende' Spiel der Kräfte bezeichnet wird. Hier zeigt sich nun, warum das notwendig ist: die Beharrlichkeit der bewegenden K r ä f t e ist eine Funktion, die die Erkenntnis ausnahmslos aller Gegenstände als empirischer ermöglicht, indem sie allein sie zu Gegenständen der Wahrnehmung macht. V o n hier aus stellt sich der in A-Elem. Syst. 1 und 2 skizzierte „Elementarstoff" oder Inbegriff der bewegenden K r ä f t e , der objektiv verstanden v o m Standpunkt der K r V aus als ein dialektisches Unding erscheinen muß, in etwas anderem Lichte dar; man sieht, daß ihm eine durchaus einsichtige, ja anscheinend unentbehrliche A u f g a b e im System der kantischen Erkenntnisprinzipien zukommt. Freilich ist zuzugeben, daß jene Widersprüche und Schwierigkeiten nicht allein aus diesem Grunde aus der W e l t geschafft sind; aber es w i r d begreiflich, warum K a n t an seinen Reflexionen über diesen Elementarstoff so beharrlich weiterarbeitet:nicht aus dogmatischer Starrköpfigkeit eines alten Mannes, sondern aus der Einsicht, daß der Begriff dieses Stoffes den Schlüssel zu einem anscheinend bisher nicht oder nicht befriedigende gelösten Problem seiner Theorie der Erkenntnis a priori bildet. Für K a n t zeichnet sich also die A u f g a b e ab, die Funktion dieses „Stoffs" im Gesamtzusammenhang der kritischen Erkenntnisprinzipien so eindeutig wie möglich zu klären. Zunächst geht K a n t dieser A u f g a b e noch aus dem Wege und setzt stattdessen zu einer neuerlichen Formulierung der vier Hauptstücke seines Elementarsystems an ( X X I I 267 ff.). Dabei gerät er nun — in Wiederholung der Entwicklung des frühen Entwurfs α — ε — im zweiten H a u p t stück bei Erörterung der Flüssigkeitsphänomene in den alten Beweiszirkel und zieht daraus abermals für den Wärmestoff skeptische Konsequenzen (man erinnere sich an die qualitas-occulta-Stelle
XXI525,
1 6 — 2 j ) , womit die zweite der oben genannten Entwicklungsphasen in A-Elem. Syst. erreicht ist 32 : cf. dazu X X I I 2 7 0 , 1 2 — 2 7 1 , 7 ; 32
273,1—9
Idi übergehe dabei eine merkwürdige Zwischenstufe, auf der K a n t das System des Weltgebäudes allein aus der Newtonschen Attraktion zu begründen versucht
Α . Elementarsystem 1 — 6
—
ja,
der
Wärmestoff
soll
sogar
gänzlich
173
aus
dem
Übergang
in
die
P h y s i k v e r b a n n t w e r d e n ( X X I I 2 7 6 , 3 f.). D o c h d a s ist n u r ein D u r c h g a n g s s t a d i u m . S c h o n in X X I I spielt K a n t
mit
der Möglichkeit,
den
Äther
als
275,6—13
Erschütterungsprinzip
a u f z u f a s s e n u n d d a d u r c h aus d e m Z i r k e l , eine besondere M a t e r i e ( 2 7 0 , 2 1 ) als B e d i n g u n g der Möglichkeit der Flüssigkeit der M a t e r i e herauszukommen.
Von
diesem
Lösungsmittel
macht
er
anzunehmen, dann
dritten u n d letzten P h a s e des E n t w u r f s ( X X I I 5 8 5 — 6 0 9 )
in
der
reichlich
Ge-
b r a u c h ; u n d z w a r p a c k t er d e n S t i e r d o r t bei d e n H ö r n e r n , i n d e m er d a s Zirkelproblem
namentlich
aufgreift und
ihm
die folgende
unerwartete
W e n d u n g gibt: „ D i e s e bewegende K r a f t k a n n nicht in der M a t e r i e der Maschine selbst
gesetzt
w e r d e n , w e i l sonst die S t a r r i g k e i t , v o n welcher das medianische V e r m ö g e n der W a a g e abhängt, z u m E r k l ä r u n g s g r u n d e des Wägens gebraucht und so im Z i r k e l geschlossen w ü r d e . — A l s o muß es eine i m p o n d e r a b l e M a t e r i e sein, vermittelst d e r u n d
ihrer
B e w e g u n g die S t a r r i g k e i t des W a a g e b a l k e n s (vectis) selbst b e w i r k t w i r d . " ( X X I I
586,
5-12) E s i s t h ö c h s t i n t e r e s s a n t z u s e h e n , w i e K a n t a n s c h e i n e n d sich s e l b s t der
Notwendigkeit
wieder
nämlich
imponderable
Annahme
zu
setzt er z u W e n d u n g e n
Materie
587, ι — 1 0 — 2 1 ; Wichtiger
seiner
sein
588,1—28;
..."
u. ä.
vom
Typ
„Es
muß
von
immer
also
eine
586,10—12—18;
589, 20; 592, 28; J 9 3 , 1 3 ;
595, 20; 607, 20).
s t i m m u n g e n des E l e m e n t a r s t o f f s
33
(cf.
versucht;
X X I I
a b e r als dieses s u b j e k t i v e
an
überzeugen
Moment
sind
die inhaltlichen
Be-
:
er ist ein durchdringendes, inkoerzibles, allverbreitetes, f ü r sich bestehendes
Kon-
tinuum, insbesondere „ d a s W e r k z e u g der S i n n e " , das als soldies kein G e g e n s t a n d der Sinne sein k a n n , mithin nicht empirisch, sondern eine bloße Idee a p r i o r i ist (587, 21—29); er ist als „alldurchdringende(r) Ä t h e r gleichsam der perzeptible R a u m " (596, 18 f . ) ; er ist nicht hypothetisch, w e i l er nicht empirisch, durch Beobachtung und E x p e r i -
33
( X X I I 269, 4 — 8 ; 2 7 6 , 1 9 — 2 1 ) , ein G e d a n k e , auf den er a m Schluß dieses E n t w u r f s ( X X I I 608, 2 6 — 6 0 9 , 7) und d a n n erst w i e d e r im X . / X I . K o n v o l u t ( X X I I 3 1 5 , 16—10; 3 5 3 , 9 ; 479, 4 — 1 3 ; 4 8 3 , 27 f . ; besonders 5 1 9 , 1 3 — 2 1 ; 520, 9 — 1 5 ; 5 2 1 f . ; $ 2 8 — 5 3 1 ; 538, 26 ff.), im V I I . ( X X I I 66, ΐ}—ι6·, 68, τζ u. f f . ; 1 0 7 , 1 — 7 ) u n d I. K o n v o l u t ( X X I 68, 1 4 — 2 5 ) z u r ü c k k o m m t ; er findet sich bekanntlich bereits in der N o v a dilucidatio (I 4 1 5 , 5 — 1 6 ) . Sein N a m e ist charakteristischerweise höchst v a r i a b e l : „ u n t e r dem N a m e n des Ä t h e r s " (587, 25 f . ) ; „vielleicht Ä t h e r g e n a n n t " (599, 6 ) ; „dieser Ä t h e r " ( 6 0 5 , 2 2 ) ; „ e r heiße nun W ä r m e s t o f f o d e r Ä t h e r " (606, 1 7 f . ) ; „ W ä r m e s t o f f genannt, ohne dodi hierbei eine gewisse W i r k u n g a u f s G e f ü h l dabei einzumischen" (607, 28 f . ) ; „es sei unter dem N a m e n des W ä r m e s t o f f s oder Ä t h e r s " (608, 1 6 ) .
.Übergang" oder transzendentale D y n a m i k ?
174
ment, erkennbar ist, sondern kann „nur aus dem Begriffe der Möglichkeit der E r f a h rung hervorgehen" ($98, 5 — 1 3 ) ; er macht als Inbegriff dynamisch-bewegender K r ä f t e b z w . als bloß-dynamische U r flüssigkeit die mechanischen K r ä f t e a priori möglich, wobei das „Oberschweifen in die P h y s i k " (i. e. die Amphibolie im K r a f t b e g r i f f ) vermieden w i r d (598, 20—599, 1 0 ) ; seine Wirksamkeit ist perpetuierlich (perpetuitas est etc.) und unerschöpflich; er gehört „wirklich nicht" in die Physik (!) als hypothetischer S t o f f ; er ist die (aus ständiger Attraktion und Repulsion bestehende) Agitation einer Materie ohne alle positiven Eigenschaften, „welche als Prinzip der Möglichkeit der E r f a h r u n g des Raums und der Zeit in dem absoluten Ganzen
der bewegenden K r ä f t e der Materie in ihrer Bewegung
so, wie sie, nachdem sie angefangen hat, sich forthin unvermindert erhält, postuliert w i r d . " . (605, 1 2 — 6 0 6 , 2) er ist „ein durch seine inneren K r ä f t e verbundenes und sich selbst begrenzendes G a n z e " , als solches Bedingung der Denkbarkeit eines ersten A n f a n g s der Bewegung der Materie im Weltraum, ein „aller physischen Beschaffenheiten" beraubter Stoff (606, 9 — 1 9 ) ; „er ist bloß ein Gedankending; kein Gegenstand möglicher E r f a h r u n g , aber der Inbegriff von dem einzig-möglichen Mittel, E r f a h r u n g anzustellen, insofern diese selbst primitive Wirkung der bewegenden K r ä f t e der Materie auf unsere Sinne sein kann." (606, 2 3 — 2 6 ) er w i r d als „ein absolutes, f ü r sich bestehendes Ganze der Materie", als „Basis des Elementarsystems aller dynamisch-bewegenden K r ä f t e " und „Prinzip der Totalität der uranfänglich und immerwährend-agitierenden Bewegung durdi die Vernunft in einem System ursprünglich-bewegender K r ä f t e postuliert" (608, 7 — 2 1 ; c f . auch dazu 607, 20—608, 6)
Beginnen w i r mit den einfacheren, nämlich den bloß negativen Aussagen Kants. D e r Elementarstoff, so heißt es, erhalte „durch keine Beobachtung oder Experiment als ein hypothetischer Stoff seine Bewährung
..weil
er über alle E r f a h r u n g der Maschinerie hinausreicht." ( X X I I 5 9 8 , 9 ff.). M i t dieser Erklärung widerspricht K a n t den Behauptungen
früherer
E n t w ü r f e , die den Äther oder Wärmestoff durchgängig als ein „hypothetisches D i n g " ( X X I 2 5 3 , 8 f.) o. ä. bezeichnet hatten. W a r u m es notwendig ist, jene früheren Erklärungen rückgängig zu machen, w i r d auf folgende A r t begreif lidi: Wenn man, wie Kant, von der Voraussetzung ausgeht, daß eine Hypothese f ü r empirisch-physikalische
Tatbestände
einen Erklärungsgrund angibt, der z w a r noch unbekannt, aber doch prinzipiell möglicher Erfahrungsgegenstand ist, dann ist es zwingend, das imponderable, inkoerzible, inkohäsible und inexhaustible E t w a s , von dem hier die Rede ist, als nichthypothetisch zu bezeichnen und aus dem Kreis der Gegenstände möglicher Erfahrung auszuschließen. D a s Prädikat ,nichthypothetisch', bezogen auf den Äther, impliziert also, daß dieser Grundbegriff der von K a n t exponierten apriorischen D y n a m i k einen .Gegenstand' bezeichnet, der erstens empirisch weder verifiziert noch
175
Α . Elementarsystem 1 — 6
falsifiziert werden und mithin zweitens prinzipiell kein Gegenstand der Physik sein kann. Daher kann K a n t nunmehr auch mit apodiktischer Gewißheit erklären, „dieser Ä t h e r " dürfe nicht „in die Physik willkürlich eingeschoben werden, wohin er wirklich nicht gehört." ( X X I I 6 o j , Dieser Ä t h e r unterscheidet sich also prinzipiell v o n dem hypothetischen Äther, der „materia subtilis", der Physiker, den K a n t seinen bisherigen Versuchen im o.p., eine neue metaphysische Körperlehre zu entwikkeln, zugrundegelegt hatte, ohne diesen Begriff kritisch zu überprüfen. Diese Feststellung impliziert, daß es unmöglich ist, diesen Gegenstand mit
den
Begriffen und
experimentellen
Verfahren
der
empirischen
Physik zu erfassen: er ist kein Erfahrungsgegenstand, mithin ist es sinnlos, ihn in der E r f a h r u n g aufsuchen oder ¡seine Existenz mit H i l f e empirischer Daten feststellen zu wollen 3 4 ; ferner daß es ausgeschlossen ist, die in der naturwissenschaftlichen Diskussion entwickelte Alternative z w i schen S t o f f - und Vibrationstheorie auf diesen Ä t h e r anzuwenden, wie Adickes das tut (s. u. die Schlußbetrachtung). Denn diese immanentphysikalische Begriffsbildung, setzt die empirischen Beweismethoden und damit die Möglichkeit voraus, den Streit empirisch zu entscheiden. D e r nichtempirische Äther ist kein „ S t o f f " in dem Sinne wie etwa der Wasseroder Sauerstoff. Was aber ist denn nun dieser Äther? Was ist überhaupt ein nichtempirischer Gegenstand? Wie unterscheidet er sich von einem bloßen Hirngespinst? Welchen Inhalt, welche Realität kann die „bloße Idee" ( X X I I 587, 27) von einem Gegenstand haben, der ohne „alle positiven Eigenschaften" (605, 26) bzw. „aller physischen Beschaffenheiten beraubt" (606, 1 5 f f . ) sein soll, mithin ein reines „ G e d a n k e n d i n g "
(606,
2 3 ) ist? K a n n eine Idee überhaupt objektive Realität haben und Begriff v o n einem angebbaren Gegenstande sein? A l l diese Fragen lassen sich in eine einzige zusammenfassen: Ist dieser Begriff eines nichtempirischen Gegenstandes ein innerhalb der klassischen kritischen Theorie der E r kenntnis a priori überhaupt möglicher Begriff? Die A n t w o r t ist ein klares N e i n . Diese Theorie in ihrer in der K r V vorliegenden Gestalt kennt nur reine Verstandesbegriffe, d. h. „ B e g r i f f e v o n einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen — reine oder empiri34
Dieses Ergebnis ist über die immanente Entwicklung von Kants Denken im o.p. hinaus von Bedeutung: die zahlreichen Versuche der Naturwissenschaftler im 18. und 19. Jahrhundert, die Existenz eines solchen Weltstoffs mit empirischen Methoden nachweisen zu wollen, sind aus erkenntniskritischen Gründen sinnlose Untersuchungen gewesen. Darüber mehr am Schluß dieser Arbeit.
176
.Obergang" oder transzendentale Dynamik?
sehe — Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird" (B 128), und Ideen, d.h. reine Vernunftbegriffe, denen „kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann", deren „objektiver Gebrauch" mithin „jederzeit transzendent" ist (B 383) — tertium non datur. Aus den positiven, oder besser: den affirmativen Bestimmungen35 jedoch, die Kant seinem Elementar-„Stoff" beilegt, ergibt sich, daß er im o.p. ein solches die Systematik der klassisch-kritischen Transzendentalphilosophie sprengendes Tertium als möglich ins Auge faßt; er charakterisiert diesen „Stoff" insbesondere als allverbreitetes Kontinuum; als Werkzeug der Sinne; als bloßdynamische Urflüssigkeit, die die Bedingungen der Möglichkeit der mechanischen Kräfte enthält; als Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung von Raum und Zeit bzw. als perzeptiblen Raum; als Begriff von dem einzig möglichen Mittel Erfahrung anzustellen, insofern sie primitive Wirkung der Kräfte auf unsere Sinne ist; usw. s. die o. a. Belege. Aus all diesen Bestimmungen folgt unzweideutig: Dieser Elementars t o f f " ist für Kant Bedingung a priori möglicher Erfahrung von Raum und Zeit, in Raum und Zeit und von Gegenständen in Raum und Zeit. Und zwar ist die Idee dieses „Stoffs" der Begriff von einem Gegenstand, der weder in einer sinnlichen Anschauung (rein oder empirisch) gegeben werden kann, nodi transzendent ist, sondern — um nur einige Formulierungen des nächstfolgenden Entwurfs U 1 — 1 4 , wo die Ansätze von A-Elem. Syst. 6 weiterentwickelt werden, zu zitieren — : ein „kategorisch a priori erweislicher Stoff, für die Vernunft im Ubergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik identisch enthalten" ( X X I 223, 6 ff.) die „Eine Materie, in welcher alle Bewegung angetroffen wird. Das reale und objektive Prinzip der Erfahrung, welche ein einziges Ganze der Form nach ausmacht" (224, 3 ff.) 35
Die fraglichen Bestimmungen sind natürlich nicht in derselben Weise positiv wie die „positiven Eigenschaften", die K a n t 6o6, i j ff. dem Elementarstoff gerade abspricht; sie sind also nicht positiv im Sinne von „physischen", „realen", „empfindbaren" oder „empirischen" Eigenschaften bzw. Bestimmungen. Vielmehr soll damit nur gesagt werden, daß diesem Stoff gewisse Eigenschaften nicht nur abgesprochen, sondern auch bejahend beigelegt werden können; ob solchen Sätzen dann auch .objektive' Gültigkeit zukommt, mithin ob sie nicht bloß logisch und formal, sondern auch inhaltlich positiv sind und über reale Sachverhalte etwas aussagen — die nach dem Gesagten freilich nicht empirisch sein können — , bleibt dabei nodi unausgemacht.
Α . Elementarsystem 1 — 6
177
das „Prinzip der Möglichkeit der Einheit des Ganzen möglicher Erfahrung" (224,12 f.) die „Basis aller möglichen Wahrnehmungen der bewegenden Kräfte der Materie im Raum und in der Z e i t . . . " (225,12 f.) usw. d. h. dieser Begriff ist weder Kategorie, noch Vernunftbegriff (Idee) im klassischen Sinne, sondern eine Idee neuen Typs. Mit der Einführung dieses neuen Begriffstyps bzw. Prinzips in die Theorie der Erkenntnis a priori zieht Kant nunmehr jene Konsequenz in praxi, von deren Notwendigkeit er sich theoretisch und methodisch in den vorausgegangenen Entwürfen, expressis verbis im letzten Entwurf, Farrago 1 — 4 überzeugt hatte. Indem Kant diesen Begriff entwickelt und ihn auf den Gegenstand seiner metaphysischen Dynamik anwendet, überschreitet er endgültig seinen Rubikon: er hebt die Trennung zwischen der Transzendentalphilosophie oder allgemeinen Metaphysik der Natur und ihrem ursprünglich so genannten Anwendungsgebiet, der Metaphysik der körperlichen Natur, durch die Tat auf und verleibt die Prinzipien a priori der Dynamik dem System der transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung als selbständigen Teil (neben der trsz. Ästhetik und Analytik) ein — überflüssig zu betonen, daß in diesem neuen System weder für die M A von 1786 noch für die Hilfskonstruktion des Ubergang Platz ist. Man mag diesen Schritt als unkritische Verirrung oder Rückfall auf vorkritische Positionen bedauern — das ändert am Tatbestand, der einfach nicht wegzudeuteln ist, gar nichts. Man begibt sich dann nur der Möglichkeit, diesen Tatbestand verständlich zu machen. Damit sollen die Widersprüche zu bestimmten Positionen der K r V nicht etwa weggeleugnet, sondern im Gegenteil gerade deutlich gemacht werden. Dazu genügt hier ein erster kurzer Vergleich; K r V Β 384 heißt es: „das absolute Ganze aller Erscheinungen ist nur eine Idee, denn, da wir dergleichen niemals im Bilde entwerfen können, so bleibt es ein Problem
ohne alle Auflösung."
(Hervorhebungen = Sperrungen i. O.)
Im Widerspruch dazu bemüht sich Kant im o.p., das „Problem ohne alle Auflösung" dennoch aufzulösen, so wenn er in A-Elem. Syst. 6 vom „absoluten Ganzen der bewegenden Kräfte der Materie" und vom „Prinzip der Totalität der . . . Bewegung" handelt (cf. die o. a. Belege), oder wenn er in U i — 1 4 und v. a. im X./XI. Konvolut in immer subtiler werdenden Deduktionen die objektive Realität des „Urstoffs", des Ele-
178
„Übergang" oder transzendentale Dynamik?
mentarsystems der bewegenden Kräfte oder der Materie überhaupt nachzuweisen versucht. Auch gegenüber diesem Faktum versagt der Einwand, daß es sich hier um einen billigen Beweistrick oder um eine unkritische Ausdehnung der Anwendung kritischer Prinzipien (so Adickes N f . II 179, 182, bzw. o. p. 389—396) handelt. Denn es ist kein Zufall, sondern logische Konsequenz der immanenten Weiterentwicklung von Kants metaphysischer Dynamik und Erkenntniskritik, daß genau an dieser Stelle des o.p. die Deduktionen mit genau diesen begrifflichen Mitteln einsetzen: nachdem sich herausgestellt hatte, daß das Problem metaphysischer Anfangsgründe der Naturwissenschaft, wenn überhaupt, nur im Rahmen der Transzendentalphilosophie selbst und nicht auf dem Wege bloßer Anwendung transzendentaler Prinzipien auf einen vorgegebenen Gegenstand gelöst werden kann, mußte die Methode der kritischen Transzendentalphilosophie audi auf den Gegenstand der Dynamik angewandt und in Form einer Deduktion der Nachweis versucht werden, daß er als transzendentales Prinzip und Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung objektive Realität besitzt. Das ist die Problemstellung, mit der Kant in den späteren Teilen des o.p. fertig zu werden versucht. Die Versuche, die Kant unter dem Titel eines Übergangs unternommen hat, enden also paradoxerweise mit der Erkenntnis, daß ein kontinuierlicher Übergang von der Metaphysik der Natur zur Physik unmöglich ist: Gebiet, Gegenstand und Methode der metaphysischen Dynamik einerseits und der Physik andererseits sind durch eine prinzipielle Grenze von einander geschieden. Es ist die Grenze zwischen Erkenntnis a priori und a posteriori. Die metaphysische Dynamik (oder metaph. Anf. d. Nw.) gehört nunmehr zur Transzendentalphilosophie, ihr Gegenstand ist nicht empirisch und ihre Methode die transzendentale Deduktion, die wie für die klassischen Elemente der Erkenntnis a priori, Raum, Zeit und Kategorien, so auch entsprechend für das neue Element, das dynamische Kontinuum, geführt werden muß. Die Physik ist und bleibt empirische Wissenschaft, ihre Gegenstände sind in der empirischen Anschauung gegeben, ihre Methode ist die Entwicklung von Hypothesen und ihre Uberprüfung durch empirische Beobachtung und Experiment. — Über diese „Kluft" führt keine Brücke, kein Übergang.
Schlußbetrachtungen: Transzendentale Dynamik und kritische Theorie der Erkenntnis a priori χ. Der Beginn der Arbeit am o.p. ist, wie ich zu zeigen versuchte, motiviert durch die Einsicht, daß die M A ergänzungs- und korrekturbedürftig sind und daher die ihnen gestellte Aufgabe, eine metaphysische Grundlegung der Physik nach Prinzipien der kritischen Theorie der Erkenntnis a priori zu liefern, nicht erfüllt haben. Angeregt durch einige wenige kritische Äußerungen und vor allem durch die Grundsatzdiskussion der Naturwissenschaftler, die sich der theoretischen und praktischen Bewältigung der Energiephänomene im weitesten Sinne zugewandt hatte und eo ipso die M A mit ihrer einseitig mechanistischen Betrachtungsweise der Physik als rückständig erscheinen ließ, unterwarf sich Kant einem Prozeß permanenter Selbstkritik, dessen verschiedene Phasen und Stadien im o.p. minutiös verzeichnet sind. Erstes Resultat dieses Prozesses ist eine Materietheorie, die auf den ältesten LB1. des IV. K v . in zunächst ganz lockeren Reflexionen skizziert wird, im O k . aber in den Grundzügen bereits ausgebildet vorliegt. Die Elemente dieser Theorie finden sich so gut wie vollständig schon in den Reflexionen der 70er Jahre zur Physik 1 , wie das in X I V zusammengestellte Material beweist. Die Konzeption einer metaphysischen Begründung von Dynamik und Physik, die Kant im o.p. aus diesem Material entwickelt, hat jedoch eine grundsätzlich andere Struktur als die Theorie der M A . Dort setzt Kant bei der Vorstellung der einzelnen Materie, genauer: des Einzelkörpers und seiner kleinsten Teile an, die durch den Konflikt von ursprünglicher Attraktion und Repulsion konstituiert sein sollen. Im o.p. wird diese „distributive" Betrachtungsweise aufgegeben, weil sich erwiesen hat, daß sie einen immer noch mechanistischen Mate1
Wenn man von nodi früheren Phasen einmal absieht.
180
Schlußbetrachtungen
riebegriff, der die Existenz physischer mit dynamischen Zutaten versehener Punkte impliziert, zugrundelegt und damit zur behaupteten dynamischen Kontinuität der Materie unvermeidlich in Widerspruch gerät. Anstelle des „distributiven" nimmt Kant im o.p. von Anfang an methodisch den „kollektiven" Standpunkt ein und macht das Materiekontinuum als Ganzes zum Grundbaustein seiner Materietheorie; das Konfliktmodell der bewegenden Kräfte wird auf das Kontinuum übertragen, die Oszillationen des Äthers oder Wärmestoffs werden zum Konstitutivum von Materie überhaupt, während der Konflikt aus Attraktionen und Repulsionen in der Einzelmaterie (bzw. dem Einzelkörper) nicht mehr als ursprünglich aufgefaßt, sondern aus den Erschütterungen des Kontinuums abgeleitet wird. Obwohl in dieser frühen Phase des o.p. die Reflexionen zu Details der Materietheorie den größten Raum einnehmen, ist das philosophische Interesse Kants an dieser Arbeit das durchgängig bestimmende Motiv. Der Ausfall der MA macht jene vielzitierte und oftmals weginterpretierte „Lücke" sichtbar, und zwar an einem für Kants System besonders kritischen Punkt: danach bleibt Kant den Nachweis immer nodi schuldig, daß seine Theorie der Erkenntnis a priori durch ihr System von Begriffen und synthetischen Sätzen a priori die exakten Naturwissenschaften auf eine sichere Grundlage zu stellen vermag. Dieses fundamentale Interesse Kants dominiert in den späteren Entwürfen des o.p. so sehr, daß es die naturphilosophisch-physikalischen Themen fast vollständig verdrängt; aber auch in den Vorarbeiten und im Ok. braucht es nicht bloß erschlossen zu werden, sondern ist eindeutig nachweisbar, z.B. auf den LBl. 39/40, im „Anhang. Vom Ganzen der Natur im Räume und der Zeit" (Ok. X X I 4 0 4 f.), in verschiedenen Einzelreflexionen. Aus diesem Grunde ist es nicht möglich, selbst das frühe o.p. ausschließlich oder vorwiegend als Beitrag zur Lösung von immanent naturwissenschaftlichen Problemen zu betrachten. Das systematische Interesse der Arbeit Kants — systematisch im Sinne der Ausfüllung jener fundamentalen Lücke im kritischen System — ist grundlegend für jeden Versuch, das o.p. zu interpretieren. Das Verständnis wird zwar dadurch erschwert, daß Kant in den frühen Entwürfen an den MA als systematischem Bezugspunkt äußerlich noch festhält, sie in einen Formalismus umzudeuten und dadurch als weiterhin gültige metaphysische Basis seiner neu strukturierten Materietheorie zu legitimieren versucht; da aber dieser Rechtfertigungsversuch mit sich selbst im Widerspruch steht, läßt er die Unvereinbarkeit von alter und neuer Theorie und damit zugleich die für
Schlußbetraditungen
181
das System der Erkenntnis a priori grundsätzliche Problematik immer deutlicher hervortreten. Das geschieht in zwei Phasen: in der ersten ist Kant mit dem Aufbau seiner neuen Theorie beschäftigt, entwickelt die Übergangskonzeption, läßt aber eben dadurch die Gegensätze unvermittelt nebeneinanderstehen; systematisch bewegt er sich audi insofern noch auf demselben Niveau wie 1786, als er die alten M A nur durch neue und in sich konsistente ersetzen, d.h. auch weiterhin die Prinzipien seiner kritischen Theorie der Erkenntnis a priori auf den Gegenstand äußerer Sinne lediglich anwenden und somit an der systematischen Trennung von „allgemeiner Metaphysik der Natur" und „besonderer metaphysischer Naturwissenschaft" festhalten will. Das ändert sich in der zweiten Phase — die sich übrigens nicht säuberlich von der ersten trennen läßt: wir haben gesehen, daß sich erste Andeutungen für einen systematischen Neuansatz schon in A — C finden und von da an häufen — : in Entwicklung der Phoronomiekritik und der Polemik gegen mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (Mathematik- und Newtonpolemik) gelangt Kant zur Erkenntnis, daß das Verfahren der MA, in dem philosophische Erkenntnis aus bloßen Begriffen und mathematische Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe zu einem Durcheinanderlaufen „metaphysischer und mathematischer Construction" geführt haben, als solches kritisiert und durch eine konsequent philosophische Methode ersetzt werden muß. Etwa gleichzeitig zieht Kant aus der Revision des mechanistischen Materiebegriffs der M A die Konsequenz für die Vorstellung von materieller Substanz: es gibt fortan nicht mehr, wie noch in den MA, „bewegliche Subjekte", die in der Natur empirisch erkennbar wären (etwa mit Hilfe des Kriteriums der Eigenbeweglichkeit), sondern das Subjekt der beobachtbaren Veränderungen von Bewegungszuständen wird nunmehr zur substantia noumenon erklärt; was beharrt und damit das sinnliche Schema des Begriffs der Notwendigkeit, d. h. der Notwendigkeit in der und für die Erfahrung, abgibt, ist allein das beständige Wechselspiel der Kräfte und dynamischen Zustandsänderungen des Materiekontinuums im ganzen, das gewissermaßen als Ersatz an die Stelle der alten „distributiven" Vorstellung von materieller Substanz als beweglichem Subjekt in der Natur tritt. Zugleich resultiert daraus eine Schwierigkeit für die klassische Kategorie der Substanz: ihr Schema der Beharrlichkeit entfällt, ohne daß sich im o.p. ein Ersatz dafür andeutet. Beides, die methodische Kritik wie auch die Korrektur der Substanz-
Schlußbe trachtungen
182
Vorstellung, z w i n g K a n t dazu, die M A und damit audi das systematische ad-hoc-Konzept
des U b e r g a n g s endgültig fallen zu lassen. W e n n
er
f o r t a n im o.p. noch den „Metaphysischen A n f a n g s g r ü n d e n der N a t u r wissenschaft" spricht, dann ist damit nicht mehr die Schrift v o n
1786,
sondern eine im o.p. selbst erst zu entwickelnde Theorie gemeint, die innerhalb der kritischen Philosophie einen g a n z neuen
systematischen
O r t hat; d a f ü r einige Belege: „Wenn ein erster Anfang der Bewegung der Materie im Weltraum gedacht wird, so muß man sich auch ein durch seine inneren Kräfte verbundenes und sich selbst begrenzendes Ganze derselben denken; denn ohne ein solches anzunehmen, würde audi kein Anfang der Bewegung gedadit werden können; ein Satz, der zu den metaphysischen Anf. Gr. der N.W. g e h ö r t . . ( X X I I 606, 9—14; cf. audi Ζ. 3 ff.) „Lehrsatz. Die uranfänglidi bewegenden Materien setzen einen den ganzen Weltraum durchdringend erfüllenden Stoff voraus als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung der bewegenden Kräfte in diesem Räume, welcher Urstoff nicht als hypothetischer zur Erklärung der Phänomene ausgedaditer, sondern kategorisch a priori erweislicher Stoff für die Vernunft im Übergange von den metaph. Anf. Gr. der N.W. zur Physik identisch enthalten ist." ( X X I 223, 1—8) „Das Ganze als Gegenstand möglicher Erfahrung, welches also nicht aus der Zusammensetzung des Leeren mit dem Vollen atomistisch und also nicht mechanisch (gedadit werden kann), sondern muß (sie!) als Verbindung von äußerlich wechselseitig einander agitierenden Kräften (durch uranfänglich einander durdi Anziehung und Abstoßung des im Räume durchgängig und gleichförmig verbreiteten Elementarstoffes als alle Bewegung zuerst anhebend und so ins Unendliche gleidimäßig fortsetzend) dynamisch hervorgehen. — Dieser Satz gehört noch zu den metaphysischen Anf. Gr. der N.W. in Beziehung auf das Ganze Einer möglichen E r f a h r u n g . . . " ( X X I 552, " — 5 5 3 . 3) E i n e weitere F o l g e derselben E n t w i c k l u n g ist, daß K a n t die systematische T r e n n u n g v o n allgemeiner Theorie der Erkenntnis a priori und metaphysischer Grundlegung der D y n a m i k definitiv aufgibt, den G e g e n stand der D y n a m i k als nicht empirisch behandelt und fortan als B e d i n gung der Möglichkeit der E r f a h r u n g zu deduzieren versucht. K a n t zieht damit die Konsequenz aus der Einsicht, daß nicht e t w a unterhalb der systematischen Ebene v o n transzendentaler Ästhetik und A n a l y t i k , im Bereich der bloßen A n w e n d u n g der transzendentalen Prinzipien auf den Gegenstand äußerer Sinne, sondern auf eben dieser Ebene selbst eine Lücke im S y s t e m zu schließen ist, so w i e er es schon in F a r r a g o
1—4
formuliert und gesehen hat: „N. B. Daß diese Abhandlung dazu bestimmt ist, das was in der reinen Naturlehre und überhaupt in dem System aus Prinzipien a priori nodi Lücke ist, auszufüllen und so meine metaphys. Arbeit vollständig zu verriditen." ( X X I 616, 8 — 1 1 )
183
Schlußbetrachtungen
Das wichtigste systematische Ergebnis, das paradoxerweise von der systematisch orientierten Interpretation nicht festgestellt worden ist und audi nicht festgestellt werden kann, ist aber die Einsicht in die Korrekturbedürftigkeit der systematischen Struktur der Theorie der Erkenntnis a priori überhaupt. Dieser Punkt der Entwicklung ist wie gesagt am Ende des Entwurfs A. Elem. Syst. ι—6 bzw. zu Beginn von „Übergang ι — 1 4 " erreicht. Das kommt auch in einer entscheidenden Veränderung der Thematik und der Form der Darstellung zum Ausdruck: Ungefähr gleichzeitig mit Übergang 1 — 1 4 unternimmt Kant in Redactio 1—3, einer redaktionellen Überarbeitung seiner bisherigen Reflexionen zur Materietheorie, zum letzten Mal den Versuch, in vier Hauptstücken von Quantität, Qualität, Relation und Modalität der Materie, d. h. von den Detailphänomenen wie Gewichtsbestimmung, Aggregatzuständen und Kohäsion, Adhäsion, Reibung usw. zu handeln. Statt dessen tritt von Ubergang 1 — 1 4 an das Problem der Deduktion des Materiekontinuums selbst in den Mittelpunkt, zunächst in Form von Existenzbeweisen, dann von Reflexionen über die Funktion des Kontinuums bzw. der bewegenden Kräfte im Erkenntnisprozeß selbst (so vor allem im X./XI. Κν.). Mit der Erweiterung des Systems der Transzendentalphilosophie um die metaphysischen Anfangsgründe der Dynamik und der Physik beginnt ein neuer Abschnitt im o.p., ja in Kants Denken überhaupt; sie stellt Kant, aber auch den Interpreten des o.p. vor völlig neue Probleme, und zwar ι . systematischer A r t :
das Verhältnis dieses neuen zu den klassischen
( D y n a m i k versus Ästhetik, A n a l y t i k , Dialektik) und Gegenständen
Gebieten
(Materie versus
Raum, Zeit, Kategorien und Ideen) bedarf dringend der Klärung. W i r haben oben schon gesehen, daß K a n t im o.p. an mindestens zwei Punkten mit Positionen der K r V in Konflikt gerät (durch den F o r t f a l l der Beharrlichkeit als Schema der
Substanz-
kategorie, deren A n w e n d u n g auf empirische Gegenstände damit unmöglich wird, und durch die Einführung eines neuen T y p u s v o n Idee, der der klassischen
Konzeption
des Vernunftbegriffs widerspricht). Weitere Punkte lassen sich mühelos finden, so ζ. B. das Verhältnis der neuen Deduktionsversuche
zu den klassischen Deduktionen
von
R a u m und Zeit, zum System der Kategorien, Verstandesgrundsätze (insbesondere zu den Analogien) und Antinomien, v o r allem aber zur transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. — Die Lösung dieser A u f g a b e n hat K a n t im o.p. nicht in Angriff genommen, wenn man v o n den ganz späten Versuchen, ein völlig neues System der
Transzendental-
philosophie zu entwickeln, absieht. 2. methodischer
und
inhaltlicher
Natur:
Dazu
gehören
u.a.
folgende
Fragen:
Welcher Charakter kommt diesem eigentümlichen nichtempirischen „Gegenstand"
zu?
W a s heißt Beweisbarkeit a priori eines solchen Gegenstandes und mit welchen Mitteln könnte er geprüft werden? Welche Rolle spielt dieses „ O b j e k t " f ü r Erkenntnisbedin-
184
Sdilußbetraditungen
gungen a priori des Subjekts? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Begründung der Physik als systematischer Wissenschaft? usw. D e r Bearbeitung dieser Fragen hat K a n t seine ganze K r a f t gewidmet; zu einem Absdiluß ist er nidit gekommen.
Für den Interpreten ist schon die immanente Betrachtung dieser ständig neu ansetzenden Deduktionsversuche sehr schwierig, weil sie, wie Adickes zu Recht urteilt, zum „Subtilsten" gehören, was Kant „überhaupt produziert hat" (Adickes o.p. S. 142). Aber natürlich ist eine bloß immanente Interpretation eo ipso unzulänglich: So wie für die Interpretation des frühen o.p. der Vergleich mit den MA unumgänglich war, ebenso notwendig ist für die späteren Phasen die Konfrontation mit der KrV. Das bedeutet, daß der Interpret die klassische Theorie der Erkenntnis a priori als Ganze darstellen und auswerten muß, um die theoretischen Neuansätze Kants kritisdi würdigen zu können. Zur Erfüllung einer solchen Aufgabe im Rahmen dieser Arbeit bin ich zur Zeit nicht imstande. Idi würde mein Ziel als erreicht ansehen, wenn es mir gelungen sein sollte, den Leser des o.p. von der Radikalität der neuen Problemstellung und der Stringenz der Entwicklung, die zu ihr geführt hat, zu überzeugen.
2. Wer den Versuch unternimmt, Kants Altersdynamik in größere historische Zusammenhänge einzuordnen, muß dabei auf die Arbeit von Adickes zurückgreifen, der einer der besten Kenner der Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts und sicherlich der Experte überhaupt ist, soweit es Kants Arbeiten und Reflexionen zur Physik betrifft. Es schmälert sein Verdienst nicht, wenn man feststellt, daß Adickes das ungeheure Material, das er zur Erläuterung des Physiknachlasses in Bd. X I V , im sog. Wärmeaufsatz in den Kantstudien 27 (1922) und in den beiden Bänden „Kant als Naturforscher" dargestellt oder abgedruckt hat, letzten Endes völlig falsch interpretiert. Für die Bereitstellung dieses Materials, das andernfalls nur schwer oder aber überhaupt nicht mehr zugänglich wäre, kann der Interpret nur dankbar sein. Die Fehleinschätzung Kants bei Adickes beruht auf einem grundsätzlichen MißVerständnis: er will und kann Kant nicht anders denn als „Naturforscher" oder Naturwissenschaftler ansehen und beurteilen, aber nur, um immer wieder festzustellen, daß Kant gerade kein empirischer
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Sdilußbetraditungen
Forscher®, sondern Philosoph ist, für den Resultate der Naturwissenschaft immer nur Material für philosophische Überlegungen sind, auch wenn er selbst, wie etwa in der Kosmogonie, durch geniale Intuition bisweilen selbständige Beiträge zur Naturwissenschaft liefert. Unter diesem falschen Gesichtspunkt kommt Adickes zu rigorosen Zensuren für Kant, die bisweilen sachlich berechtigt sind, oft aber auch die historische Beurteilung Kants grob entstellen. Einen Beispielsfall — sc. die Darstellung der Lavoisier-Rezeption durch Kant bzw. in Deutschland überhaupt — haben wir oben schon kennengelernt. Ähnlich ist es, wie im folgenden zu zeigen ist, mit der Würdigung der Äther- bzw. Wärmestofftheorie im o.p. bestellt. Nach Adickes standen in der Theorie der Wärmephänomene „seit Bacon, Gassendi und Descartes, zwei Auffassungen über Wesen und Ursache der W ä r m e einander in scharfem K a m p f g e g e n ü b e r . . . : die Einen hielten die W ä r m e für einen besonderen Stoff und leiteten aus ihm und seinen Bewegungen die Erscheinungen ab, die A n d e r n
sahen in der W ä r m e nur einen Zustand der Materie
und
betrachteten sie als eine innere Bewegung der kleinsten Körperteildien. Jene bezeichne idi als S t o f f - oder Substantialitätstheorie, diese als Vibrations- oder Bewegungstheorie." (Wärmeaufsatz, a.a.O. 3 2 8 f.)
Vertreter der Stofftheorie sind nach Adickes u. a. Gassendi, Wolff, Hamberger, Voltaire, Euler, Crusius, Silberschlag, de Luc, Baader, Gren, Pictet, Lavoisier, Laplace, Gehler, Vertreter der Vibrationstheorie u. a. Bacon, Descartes, Hobbes, Locke, Bayle, Newton. Das Gros der Forscher habe, besonders seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die Stofftheorie vertreten. Auch Kant gehöre diesem Gros an, könne daher nicht als Vorläufer der heute herrschenden mechanischen Vibrationstheorie betrachtet werden (a.a.O. 329). Und ähnlich apodiktisch lautet das Urteil über das o.p.: „Solche vereinzelte Gegnerschaft gegen den Wärmestoff berechtigt aber ebensowenig wie die häufigere Betonung
seines rein hypothetischen
Charakters
dazu, K a n t
als
V o r k ä m p f e r f ü r die Vibrationstheorie und als V o r l ä u f e r R . Mayers zu feiern, wie A . Krause das getan hat. Jene wenigen Stellen verschwinden ja völlig unter
den
massenhaften Bekenntnissen zur Stofftheorie in allen Teilen des O p . p . " ( N f . I I , 1 6 9 )
Freilich wird schon aus Adickes' eigener Darstellung deutlich, daß der Trennungsstrich zwischen beiden Auffassungen keineswegs so scharf ist, wie er es hinzustellen versucht. So hätten sich etwa Lavoisier und Laplace trotz Verwendung des Terminus calorique für beide Theorien offen 2
C f . ζ . Β . N f . I I 64, 7 0 f., 7 2 ff., 204 f.
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Sdilußbetraditungen
gehalten, wenn auch die Analogie zu den übrigen Stoffen des Lavoisierschen Systems die Stoffauffassung nahegelegt habe (348 f.). Und wenig überzeugend wirkt die Adickessche Argumentation, wenn er erklärt, die Rüdeführung der Wärmephänomene auf Oszillationen oder Wellenbewegungen des Wärmestoffs, wie sie sich u. a. bei Kant in de igne und anderen Autoren finde, sei dennoch keine Abart der Vibrationstheorie, sondern nur eine Konzession der Anhänger der Stofftheorie an die „Wucht der Tatsachen" (366). Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, daß Adickes den Gegensatz zu verschärfen sucht, um Kants Ansichten auf jeden Fall als obsolet hinstellen zu können. Die Verhältnisse werden nun dadurch kompliziert, daß der Wärmestoff immer wieder mit dem Äther in Zusammenhang gebracht wird. Das ist wie bei einer Reihe anderer Autoren (cf. dazu im einzelnen den Adickesschen Wärmeaufsatz) auch bei Kant der Fall, der seit de igne den Wärmestoff bald mit dem Äther identifiziert, bald ihn als Modifikation des Äthers betrachtet, dann aber auch beide als getrennt voneinander oder auch im Konflikt miteinander wirkende Stoffe ansieht (cf. dazu im einzelnen die verschiedenen Reflexionen in X I V ) , und im o.p. ist die Lage so, daß nach anfänglichen Schwankungen vom Ok. an beide Termini meist promiscue gebraucht werden und eine sachlich-systematische Fassung beider Begriffe nicht mehr intendiert ist. Durch den Ätherbegriff wird nun die Lage insofern kompliziert, als damit die Probleme der Theorie des Lidits, der Gravitation und der Kohäsion, der Streit zwischen der Wellentheorie des Lidits (Huyghens, Euler) und der Emanations· oder Korpuskulartheorie (Newton), zwischen der streng mechanistischen, auch die Gravitationsphänomene auf Stoß oder Druck des Äthers zurückführenden Materieauffassung (Descartes-Schule, Crusius, Euler) und der attraktionistisch-dynamischen Theorie der Newton-Schule, der Kant spätestens seit der Nova dilucidatio zuneigt, ins Spiel kommt3. Dabei ist eine reinliche Trennung der Parteien in Mechanisten und Dynamisten kaum möglich, wenn man bedenkt, daß der Äther-,.Mechanist" Euler die der dynamischen Auffassung näherliegende Wellentheorie des Lichts behauptet, während umgekehrt der Vater des dynamischen Attraktionismus, Newton, die mechanistisch-korpuskulare Emanationstheorie entwickelt hat. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird die Situation eher noch un® Uber die verschiedenen Standpunkte und Richtungskämpfe unterriditet Adickes detailliert insbesondere in den Erläuterungen zu Refi. 4 3 , X I V 2 3 4 — 2 5 8 ; s. dort w e i tere Querverweise.
Schlußbetraditungen
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durchsichtiger: sowohl der dogmatische Attraktionismus-Dynamismus (cf. den oben S. 42 Anm. zitierten § 1 1 3 b aus Erxleben-Lichtenberg, ferner die einschlägigen Artikel „Attraktion", „Cohäsion", „Zurückstoßen" bei Gehler) als auch der Äthermechanismus (cf. den Artikel „Äther" bei Gehler) werden skeptisch kritisiert; und die Annahme eines besonderen Wärmestoffs findet nur deswegen allgemeinen Beifall, weil man die Fülle neu entdeckter Phänomene, insbesondere der spezifisch verschiedenen Wärmekapazitäten und der Energievorgänge bei Änderungen des Aggregatszustands, sich damals nicht anders zu erklären vermochte, und nicht etwa aus einer besonderen Vorliebe für die Stofftheorie im Unterschied zur Vibrationstheorie. Diesem Sachverhalt werden begriffliche Unterscheidungen wie Stoffversus Vibrationstheorie, aber auch wie mechanistisdie versus dynamische Auffassung nicht völlig gerecht. Man muß wohl alle diese verschiedenen, einander teils scheinbar teils wirklich widersprechenden Ansätze und Begriffsbildungen als Versuche auffassen, das ständig zunehmende experimentelle Material auf dem Felde der Energievorgänge (Licht, Wärme, Magnetismus, Elektrizität) theoretisch zu bewältigen. Die Unterscheidung zwischen mechanistischer und dynamischer Materieauffassung kommt der Sache allerdings insofern näher, als damit die Entwicklungsrichtung innerhalb der Naturwissenschaft von den in engerem Sinne mechanischen Bewegungs- und Stoßvorgängen weg zu den mit mechanistischen Mitteln allein nicht mehr beschreibbaren Energievorgängen hin schlagwortartig beschrieben wird. In genau diese Entwicklung gehört nun auch Kants o.p. hinein: im Unterschied zu den MA mit ihrer einseitig mechanistischen Auffassung von Naturwissenschaft als reiner oder angewandter Bewegungslehre und ihrem im Grunde noch korpuskularen Materiebegriff ist das o.p. ein großangelegter Versuch, die „dynamische" Tendenz in der Naturwissenschaft auf einen Begriff zu bringen und vom Standpunkt der Theorie der Erkenntnis a priori eine Begründung dieser um den Komplex der Energiephänomene erweiterten Naturwissenschaft zu liefern. So gesehen reiht sich Kant durchaus in die Entwicklungslinie ein, die von Newton bis zu Robert Mayer, Joule, Helmholtz und dem Energieerhaltungssatz führt. Und es mag zwar falsch sein, „Kant als Vorkämpfer für die Vibrationstheorie und als Vorkämpfer R. Mayers zu feiern, wie A. Krause es tut" (Adickes, o.p. 462), aber Adickes irrt wieder einmal in dem Bestreben, Kants Versuche als hoffnungslos veraltet und obsolet hinzustellen. Denn abgesehen davon, daß es noch lange
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Schlußbetrachtungen
nach Kant ganze Generationen von Physikern gegeben hat, die Anhänger der „Stofftheorie" waren — und zwar in dem Sinne, daß sie den Äther als Träger der Energiephänomene für einen empirisch nachweisbaren „Stoff" gehalten haben (cf. dazu ζ. B. Max Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1964, S. 92 ff. bes. 100 ff.) —, hätte Adickes mit etwas weniger parteilichen Augen sehen können und müssen, daß Kants Beitrag nicht der eines Naturforschers, sondern eines Naturphilosophen und Theoretikers der Naturwissenschaft zur Geschichte der Theoriebildungen und des begrifflichen Verständnisses der materiellen Vorgänge ist; daß vom erkenntniskritischen Gesichtspunkt aus der Gegensatz von dynamisch-energetischer und mechanistisch-atomarer Betrachtungsweise relativiert und der Gegensatz zwischen Stoff und Vibrationstheorie sogar hinfällig wird, insofern er sich dem dynamischen Kontinuum gegenüber als inadäquat erweist; daß schließlich Kants eigentümlicher — wenn auch nicht wirksam gewordener — Beitrag zur Geschichte der Theorie der Naturwissenschaft in eben dieser Entdeckung besteht, daß der „Äther" bzw. das Kontinuum mit empirischen Methoden nicht erfaßt, sondern als transzendentaler „Gegenstand" allenfalls im Rahmen eines Systems der Erkenntnis a priori theoretisch bewältigt werden kann. Zumindest den negativen Aspekt dieser Entdeckung möchte ich als sicheres Resultat ansehen, das übrigens auch mit Kants kritischem Standpunkt in Einklang und im besten Sinne erkenntniskritisch ist — würde es als solches anerkannt, so wäre vielleicht mancher Wortstreit und manche Amphibolie in Erörterungen über theoretische Physik vermeidbar. Was die positive Seite, sc. die Möglichkeit der Lösung des Problems im Rahmen einer Theorie der Erkenntnis a priori, angeht, so gibt es natürlich gute Gründe, skeptisch zu sein. Setzt man ζ. B. die historische Entwicklungslinie über Mayer, Joule und Helmholtz hinaus fort und betrachtet das o.p. vom heutigen Standpunkt aus, so könnte man zu dem Schluß kommen, daß sein Scheitern nicht bloßer Zufall, sondern in der Struktur des Problems begründet und daher notwendig gewesen ist. Heute nämlich gelten die mechanistisch-atomare und die dynamisch-energetische Auffassung als gleichberechtigte Beschreibungsmittel verschiedener experimenteller Befunde, die nicht mehr in einer einheitlichen qualitativen Interpretation zusammengefaßt werden können, weil das auf anscheinend unvermeidliche Widersprüche führt. Eine einheitliche qualitative Materie-Energie-Theorie ist nach dieser Auffassung unmöglich.
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So gesehen wäre die Lücke im System der kritischen Philosophie aus einem Grunde unausgefüllt geblieben, der an sich außerhalb ihres Feldes liegt und daher von ihr nicht zu vertreten ist; denn zu Kants Zeiten und mit seinen Mitteln waren die Materie-Energie-Problematik und der Dualismus Welle — Korpuskel sicher nicht auflösbar. Aber auch diese Kritik greift vielleicht noch zu kurz; betrachten wir abschließend noch einmal die Entwicklung im o.p.: Um den Bestand seines Systems und seine Sachhaltigkeit zu sichern, bemüht sich Kant, die Realität des dynamischen Kontinuums a priori zu deduzieren und nachzuweisen, daß es zu den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gehört. Durch eben diese „kollektive" Betrachtungsweise (im Gegensatz zur distributiven der K r V und der MA) aber gerät er in Gefahr, mit fundamentalen Lehrstücken dieses seines Systems, das er zu sichern versucht, zu kollidieren: mit der Lehre von den Ideen, mit den Antinomien, vielleicht sogar mit dem transzendentalen Idealismus. Könnte es sich hier nicht um eine unvermeidliche und unauflösliche Antinomie der über die Natur reflektierenden Vernunft handeln? Dann wäre wohl eine systematische Theorie der Erkenntnis a priori in der Tat nicht möglich.
Anhang Vorbemerkung Die folgenden vier Texte bzw. Textausschnitte sind im 4. und $. Abschnitt des III. Kapitels dieser Arbeit zur Interpretation des kantischen Opus postumum herangezogen worden. Da sie im allgemeinen schwer zugänglich sind, habe ich sie hier abdrucken lassen, soweit es mir erforderlich erschien. Uber den unmittelbaren Zweck, als Interpretationsmaterial für das o.p. zu dienen, hinaus können sie dem Leser einen Eindruck davon verschaffen, auf welchem Niveau und mit welchen begrifflichen Hilfsmitteln theoretische Fragen der Naturwissenschaft von den Fachleuten unter Kants Zeitgenossen diskutiert wurden. Die beiden ersten Texte stammen aus Joh. Samuel Traugott Gehlers „Physikalischem Wörterbuch"; es sind der Artikel „Zurückstoßen" aus Band I V S. 892 ff. und der gleichnamige Zusatzartikel aus dem Supplementband V S. 1033 ff. Die beiden anderen Texte sind als Artikel in Grens „Journal der Physik" erschienen. Die vollständigen bibliographischen Angaben sind im Literaturverzeichnis dieser Arbeit enthalten. I. Aus: Gebler, Phys. Wörterbuch IV 892 ff. Zurückstoßen, Abstoßen, Repulsion, Repulsio, Repulsion. Man bezeichnet mit diesem Namen das Phänomen, da Körper oder Theile derselben sich von einander entfernen, oder wenn sie aufgehalten werden, sich zu entfernen streben, und der Annäherung widerstehen, ohne daß man eine äußere Ursache davon gewahr wird. Es ist also das Zurückstoßen das Entgegengesetzte des Anziehens, s. Attraction. Das Abstoßen läßt sich keineswegs als ein allgemeines Phänomen der Körper ansehen. Vielmehr scheint gerade das Entgegengesetzte desselben, nemlich die Anziehung aller Materie gemein zu seyn. Auch lehrt die Erfahrung, daß Repulsionen nur bey besondern Stoffen, oder unter besondern Umständen statt finden, z. B. bey elastischen Flüßigkeiten, deren Theile sich abzustoßen scheinen, bey gleichartigen Elektricitäten, gleichnamigen Magnetismen u. s. w. wo man offenbar sieht, daß eine fernere Ursache dieser Erscheinungen vorhanden seyn müsse, wofür man z. B. Wärmestof, elektrische, magnetische Materie u. dgl. annimmt, Stoffe, welche blos ihrer Feinheit halber nicht in die Sinne fallen. Man muß daher die Bemühungen, solche Repulsionen aus weitern physischen Ursachen zu erklären, auf alle Weise billigen. Eine andere Frage aber ist es, ob man bisher in diesen Bemühungen glücklich gewesen sey. Mir scheint es fast, als ob diese Frage schlechterdings verneint werden müßte. Alles, was man zu Erklärung der Elasticität flüßiger Materien, ingleichen der elektrischen und magnetischen Repulsionen zu sagen pflegt, und wovon man das vornehmste bey den Worten Elasticität (Th. I. S. 701 u. f.) Elektricität (Th. I. S. 7 j y. 757. 759) Magnet (Th. III. S. 119 u. f.) findet, ist nur so lang erträglich, als man sich darauf einschränkt, es als bloße Erklärung aus gewissen Gesetzen, nicht aus den physischen Ursachen, zu betrachten. Nimmt man nemlich als ein Gesetz an, daß Verbindung mit mehrerem Wärmestof die Elasticität vermehrt; daß im franklinischen System die Theile der elektrischen | Materie sich unter einander abstoßen, von den Theilen der Körper aber angezogen werden; daß in der Hypothese von zwo elektrischen oder von zwo magnetischen Materien die Theile der gleichnamigen Materien sich abstoßen u. s. w., so lassen sich zwar daraus die Phänomene selbst ganz leicht
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und richtig herleiten. Aber was sind denn jene Voraussetzungen anders, als allgemeine Sätze, in die man blos eine Menge Erfahrungen zusammengefaßt hat, welche sich denn ganz natürlich wieder daraus müssen herleiten lassen? Derjenige, der in diesen Erklärungen die letzten physischen Ursachen der Repulsionen zu finden vermeinte, würde sich doch wahrlich nur in einem Kreise herumdrehen. Wenn das Abstoßen der Lufttheile vom Wärmestoffe, die elektrische und magnetische Repulsion von gewissen feinen Materien u. s. w. bewirkt werden soll, so muß man doch annehmen, Wärmestoff und diese Materien seyen selbst elastisdie Stoffe, deren Theile sich abstoßen. Und nun tritt augenblicklich die Frage ein, was für eine neue Ursache denn das Abstoßen dieser Theile bewirke? So ist ja die Repulsion durch nichts weiter, als durch eine neue Repulsion, erklärt, deren Grund wieder eben so dunkel ist, als es vorhin der Grund jener ersten war. Noch weniger geht es an, das Zurückstoßen für die Wirkung einer in dem Körper wesentlich wohnenden Kraft oder Eigenschaft zu erklären. Eine solche Behauptung wäre nicht nur allen den Einwürfen ausgesetzt, mit welchen die Anziehung, als wesentliche Eigenschaft der Materie, bestritten werden kan, s. Gravitation (Th. II. S. 527.), sondern sie hätte auch nodi das wider sich, daß man so einem und eben demselben Körper auf gut Glüdt bald Anziehung bald Abstoßung beylegen müßte, je nachdem man entweder das eine oder das andere nöthig hätte. Zwar äußert Newton in einer Stelle seiner Optik, die man beym Worte Elasticität (Th. I. S. 704.) angeführt findet, den Gedanken, daß sich vielleicht die Anziehung eben so in zurückstoßende Kraft verwandeln könne, wie in der Algebra positive Größen durch Null in negative übergehen. Dies sieht ziemlich (894) so aus, als nähme er in den Körpern wesentlich re- | pellirende Kräfte an. Allein man hat seine der Optik angehängten Fragen nicht schlechterdings für Behauptungen anzusehen; in den Principien (L. II. Prop. 23.), wo er die Theorie elastischer Flüßigkeiten abhandelt, erinnert er selbst, man habe die Vorstellung von repellirenden Kräften der Theile blos als mathematische Idee, nicht als Erklärung einer physischen Ursache anzusehen. In der That muß man sich audi darauf einschränken, die Idee von Repulsion blos als eine bequeme Vorstellungs- oder Bezeichnungsart der Phänomene zu betrachten. Der Schein ist freylich so, als ob bisweilen Körper oder Theile der Körper sich wechselseitig abstießen, und diese Vorstellung reicht oftmals hin, eine Menge einzelner Erscheinungen und Wirkungen begreiflich zu machen, die gleichsam in ihr zusammengefaßt liegen; aber die wahre Ursache dieser Erscheinungen ist damit nodi nicht erklärt. Eine allgemeine Ursache aller scheinbaren Repulsionen giebt es gewiß nicht: in vielen Fällen mag das, was Abstoßung scheint, vielmehr Folge einer Anziehung nach der entgegengesetzten Seite seyn, und manche Arten des Abstoßens haben offenbar verschiedene physische Ursachen, obgleich immer fast alles, was sich von diesen Ursachen sagen läßt, blos hypothetisch bleibt. Viele scheinbare Repulsionen lassen sich sehr füglich auf Anziehungen nach der entgegengesetzten Seite bringen, so daß man gar nicht nöthig hat, dabey zu einer zurückstoßenden Kraft seine Zuflucht zu nehmen. Ein Beyspiel hievon giebt der niedrigere Stand des Quecksilbers in Haarröhren, s. Haarröhren (Th. I I S. $47·)· Wenn aber ein mit Fett oder Oel bestrichener Körper auf Wasser, oder Eisen auf Quecksilber, schwimmt, und dabey gleichsam eine Grube in die Oberfläche der flüßigen Materie drückt, so daß es scheint, als ob der feste Körper die Theile des flüßigen ringsum zurückstieße, so ist es nicht ganz so leicht, dieses Phänomen aus bloßen Anziehungen zu erklären. Inzwischen drückt doch die Redensart, daß die Theile des Wassers und Fettes,
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oder des Quecksilbers und Eisens, einander zurückstoßen, nichts weiter, als das | Phänomen selbst aus, dessen wahre Ursache und Mechanismus dabey unbekannt bleiben.
(89$)
II. Aus: Gehler, Phys. Wörterbuch V 1033 ff.
Zurückstoßen. Zusatz zu Th. I V . S. 892—895. Daß alle bisherige Beweise für die Existenz wirklich zurückstoßender Kräfte unzulänglich sind, ist von Herrn Hofrath Mayer (Ob es nöthig sey, eine zurückstoßende Kraft in der Natur anzunehmen, in Grens Journ. der Physik, B. V I I S. 208. u. f.) sehr überzeugend dargethan worden. Man kan alles Zurückstoßen in der Natur entweder auf Anziehung oder auf andere bekannte Kräfte zurückführen, mithin ist es den Regeln der physikalischen Erklärungskunst ganz entgegen, deswegen eine besondere Repulsionskraft anzunehmen. Die Phänomene der mit Fett oder Bärlappsaamen bestrichenen Kügelchen, die auf dem Wasser schwimmend, den Rand des Gefäßes oder andere nicht bestridiene Kügelchen zu fliehen scheinen, erklären sich hinlänglich aus dem Wasserberge, der sich am Rande des Gefäßes, oder um das unbestrichene Kügelchen herum, bildet, und den das bestridiene nicht ersteigen kan, oder wenn es mit Gewalt darauf gebracht wird, davon, wie von einer schiefen Ebne wieder herabrollt. Quecksilber tritt von dem Rande des Glases zurück, und bildet an demselben eine Vertiefung, nicht weil es vom Glase abgestoßen wird, sondern weil die Quecksilbertheilchen unter sich stärker, als mit dem Glase, zusammenhängen, | und vermöge dieses Zusammenhangs, der der ganzen Masse Rundung und Kugelgestalt zu geben strebt, da eine Convexität annehmen, wo dieses durch keine überwiegende Anziehung nach der entgegengesetzten Seite verhindert wird. Eben daraus erklärt sich auch, warum ein mit Fett bestrichenes Kügelchen gleichsam eine Grube um sich her in das Wasser drückt; es trennt nämlich die Contiguität der Wassertheile, und bringt an die Stelle des Wassers etwas, das die benachbarten Theile nicht mehr so stark anzieht, daher diese blos der Anziehung des übrigen Wassers folgen, und an dieser Stelle eine convexe Fläche bilden. Dieses Phänomen aus bloßen Anziehungen zu erklären, ist also gar nicht so schwer, als ich mit Unrecht im Art. S. 894. behauptet hatte. Man hat eine der Materie wesentliche Repulsionskraft aus ihrer Undurchdringlichkeit beweisen wollen. Weil alle Materie, sagt man, anderer, die in ihren Raum eindringen wolle, widerstehe, dieser Widerstand aber als Ursache einer entgegengesetzten Bewegung eine Kraft sey, so erfülle die Materie den Raum nicht durch bloße Existenz, sondern durch zurückstoßende Kraft. Der bloße Satz des Widerspruchs könne keine Materie zurücktreiben, und nur dann, wenn man dem, was sich im Räume befindet, eine Kraft beylege, alles Aeußere zu entfernen, verstehe man, wie es einen Widerspruch enthalte, daß in den Raum, wo ein Ding ist, zugleich ein anderes eindringen könne (Man s. Kants metaphysische Anfangsgr. der Naturwissenschaft. Riga, 1787. 8.). Hr. Mayer erinnert dagegen mit Recht, es sey doch hier blos von demjenigen Räume die Rede, den die Materie vollkommen erfülle, mit Ausschluß der zerstreuten Leere. Diesen noch vollkommner zu erfüllen, sey doch eine absolute Unmöglichkeit, und selbst eine unendliche Kraft würde nicht vermögend seyn, mehr Materie in diesen Raum zu bringen. Daher
(1034)
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sey die Existenz der Materie in diesem Räume vollkommen hinreichend, die materielle Undurchdringlichkeit zu erklären, durch eine angenommene Repulsionskraft werde diese Erklärung um nichts deutlicher, und dann könne man doch das, was verhindere, (1035)
daß das Seyn eines Dinges zugleich das Seyn eines andern Dinges sey, unmöglich Kraft j nennen. Audi würde diese Kraft noch nicht das Phänomen der Elasticität erklären, oder beweisen, daß alle Materie ursprünglich elastisch sey (Kant a. a. O. S. 37. u. f.). Denn das Bestreben, angenäherte Theile zu entfernen, sey doch etwas ganz anders, als das Bestreben, nach erfolgter Verdrängung aus dem Orte den vorigen Ort wieder einzunehmen. Zur Erklärung der Elasticität fester Körper braucht man blos anziehende Kraft in Verbindung mit der Figur der Theildien oder audi nur der Art ihrer Zusammenfügung. Wird ein Lineal gebogen, und kommen dadurch die Theilchen auf der convexen Seite in größere Abstände, als zuvor, oder berühren sie einander nicht mehr in soviel Punkten, als zuvor, so wird das Lineal sich wieder gerade richten, so wie jene Theilchen durch ihre Ziehkraft wieder zur vorigen Art ihrer Berührung gelangen. Wird ein Schwamm in einen kleinern Raum zusammengepreßt, so wird jede Faser desselben gebogen, und verhält sidi, wie jenes Lineal. Die Elasticität flüßiger Materien durch bloße Anziehung zu erklären, scheint etwas schwerer zu seyn. Herr Mayer aber hebt diese Schwierigkeit sehr glücklich durch die Atmosphären von Wärmestoff, welche sidi, nach seiner im Zusätze des Art. Wärme (oben S. 956.) vorgetragenen Vorstellung, um die Theildien der Körper bilden. Diese Atmosphären entstehen durch die Verwandtschaft, oder gleichsam durdi die Schwerkraft des Wärmestoffs gegen die Theilchen des Körpers, und ihre Dichtigkeit hat in jedem Abstände von dem Körpertheilchen, von dem die Atmosphäre gezogen wird, ein durch die Ziehkraft selbst bestimmtes Maximum, welches ohne Anwendung äußerer Kräfte oder ohne eine vermehrte Ziehkraft des Theildiens nicht überschritten werden kan. Drüdct man eine solche Atmosphäre durdi äußere Gewalt zusammen, so wird nach Aufhören dieses Drucks jene Dichtigkeit wieder in ihre vorigen Grenzen zurückgehen, weil diejenige Quantität des Wärmestoffs, welche in jeder Schicht der Atmosphäre durdi die Ziehkraft des Körpertheilchens erhalten werden kan, nothwendig
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diejenige Quantität aus der Stelle verdrängen muß, welche über den | gehörigen Grad daselbst angehäuft worden ist. Hiezu kommt, daß eine solche Atmosphäre von Wärmestoff audi ihre bestimmte Gestalt hat, welche von der Figur des Körpertheilchens abhängt, und sich, wenn sie durch einen äußern Drude abgeändert wird, eben so wieder herstellen muß, wie die Figur eines Quecksilbertropfens, den man platt gedrückt hätte. Hier ist also die Wiederherstellung der Figur blos ein Erfolg des Strebens nach Gleichgewicht in der Anziehung. Die specifische Elasticität der verschiedenen Luftarten ist aus dem mehrern oder mindern Umfange und der verschiedenen Dichte der Atmosphären, womit die Grundtheilchen nach dem Maaße ihrer verschiedenen Verwandtschaft zum Wärmestoff umgeben sind, leicht herzuleiten. Sollte man bey diesen Atmosphären des Wärmestoffs Anstoß finden, so läßt sich audi noch auf andere Art zeigen, wie die Gesetze der Anziehung allein hinreichend sind, die Elasticität luftförmiger Stoffe begreiflich zu machen. Gesetzt, eine Luftart bestehe in der Auflösung eines Stoffes im Wärmefluidum, und werde in einem Gefäße zusammengedrückt, dessen Zwischenräume undurchdringlich für die Grundtheildien der Basis, nicht aber für den Wärmestoff sind. Hier wird also der Wärmestoff genöthiget werden,
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durch diese Zwischenräume zu entweichen. Dies wird im Anfang leidit gehen, so lange nur der locker anhängende Wärmestoff ausgetrieben wird; im Fortgange aber wird immer mehr Gewalt nöthig seyn, bis man endlich gar nicht mehr im Stande ist, den die Theildien zunächst umgebenden sehr fest anhängenden Wärmestoff abzusondern. Läßt man aber mit dem Drucke nach, so wird der Stempel zurückgetrieben, nicht weil die Luft ursprüngliche Elasticität hat, sondern, weil sie jetzt soviel Wärmestoff, als sie verloren hatte, wieder einsaugen kan, wodurch sie in einen größern Raum ausgebreitet werden muß. Wollte man mit Herrn de Luc den Wärmestoff selbst für zusammengesetzt halten, so ließe sich denken, daß derselbe beym Zusammendrücken der Luft blos eines Antheils seiner fortleitenden Flüßigkeit beraubt würde, welcher durch die Zwischenräume des Gefäßes entweiche; übrigens bliebe die Erklärungsart, wie vorhin. Diese Erklärung | der Elasticität hat Herr Mayer schon bey mehrern altern Naturlehrern, unter andern beym de Lanis (Magisterium naturae et artis. Brixiae, 1684 f. To. II. p. 222.) gefunden.
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Das elektrische Abstoßen insbesondere läßt sich ebenfalls ganz leicht aus Anziehungen erklären. Herr Mayer erinnert hier vorläufig, daß allerdings die Luft Antheil daran habe, weil im luftleeren Räume, wie die genausten Versuche lehren, gar keine Repulsionen statt finden. Im luftleeren Räume verlieren die Korkkügelchen und der Drath sogleidi ihre Elektricität, welche sich in großen und schönen Stralen mit der entgegengesetzten des Tellers der Luftpumpe vereiniget; die Luft aber läßt die Stoffe der elektrischen Materie schwer durch, und verstattet also, daß sie sich in Gestalt einer Atmosphäre um die Körper herum anhäufen können. Sind nun zwey Körper mit Atmosphären von einerley Flüßigkeit umgeben, so können sich die Atmosphären nicht mit einander vereinigen, weil sie ihre Gestalt ändern müßten, dieses aber wegen ihrer Anziehung zu den Substanzen, welche sie umgeben, nicht geschehen kan. Diese Anziehung widersteht einer jeden Aenderung in der regelmäßigen Gestalt dieser Atmosphären, also einer jeden Annäherung der Körper, welche mit ihnen umgeben sind. Bringt man diese mit Gewalt zusammen, so müssen sie sich nothwendig wieder von einander entfernen, und also sich abzustoßen scheinen. Dieses Abstoßen kan durch die Luft begünstiget werden; denn zwey Körper von einerley Elektricität müssen um so mehr einander zu fliehen genöthiget werden, als sich ihre Elektricität mit der entgegengesetzten der umgebenden Luft zu vereinigen strebt, weil dieses Bestreben am stärksten auf denjenigen Seiten beyder Körper statt finden muß, welche von einander abgekehrt sind. Diese Betrachtungen werden hinreichen, die Unzulänglichkeit der bisherigen Beweise für die Existenz einer wirklich zurückstoßenden Kraft in der Natur zu erweisen. Es muß daher alles, was von solchen repellirenden oder ursprünglich expandirenden Kräften gesagt wird, blos als allgemeiner Ausdruck der Phänomene betrachtet werden. Herr Gren (Grundriß der Naturlehre. 1793. § 336.) nimmt zwar die | Expansivkraft oder Dehnkraft für eine eigne Grundkraft der Natur an, weil man dieselbe nicht weiter zergliedern könne, und doch ihr Daseyn aus unläugbaren Phänomenen folge, daher es erlaubt seyn müsse, sie als eine letzte Grundursache so lange zu betrachten, bis man ihre Zusammensetzung aus andern bekannten Kräften werde dargethan haben. Dieses kan als Vorstellung zwar zugelassen werden, und heißt alsdann nur soviel, daß wir die fernere Ursache der Elasticität nicht wissen: man darf sich aber darum nicht verstatten, eine solche der Materie inhärirende Kraft als wirklich vorhanden anzusehen, da die obigen Betrachtungen wenigstens die Möglichkeit einer fernem Erklärung außer allen Zweifel setzen. |
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III. Aus: Journal der Physik, hrsg. v. Gren, V 2, 1792, 222 ff. 3-
Ideen über Festigkeit und Flüssigkeit, zur Prüfung der physikalischen Grundsätze des Hrn. Lavoisier. Franz
von Baader,
D.
Ehe für jeden einzelnen Fall entschieden werden kann, ob eine gegebene Erklärung befriedigend ist, oder nicht, wird man erst darüber einig seyn müssen, was denn eigent(223)
lieh von einer Erklärung verlangt, d. h. wie weit in der generellen Physik mit dem Er- | klären gegangen werden kann und soll? — daß man nicht dabey stehen bleiben kann, wenn man eine Reihe Phänomene ihrer Aehnlichkeit wegen zusammenfaßt, und sie unter die Rubrik Eines sogenannten Naturgesetzes
bringt, läßt sich leicht absehen
—
denn ein Gesetz erklärt nichts; und wenn gleich derlei Generalisirungen dem Experimentator eben so unentbehrlich sind, als ζ. B. dem Naturaliensammler ein künstliches System in Ermangelung eines natürlichen, so lehrt doch die Erfahrung, daß diese Z u sammenstellung der Phänomene nach ihren größten Aehnlichkeiten manchmal zu großen Irrthümern A n l a ß giebt. — Unter dem Worte Attraktion ζ. B. welche verschiedenartige Phänomene stellte man nicht zusammen — Gravitation, Cohäsion, und warum nicht auch das Zusammenhalten der Guerikischen Halbkugeln? — aller Erinnerungen ungeachtet blieb man lange dabey stehen, Attraktion sey ein allgemeines Naturgesetz, sah sie eben darum überall als Wirkung einer und derselben Ursache an, suchte nach letzter und fand sie — in dem Zauberworte der anziehenden Kraft — die Körper ziehen sich an, sagte man, wie Herzen sich anziehen, und haften an einander, wie Herzen an einander hangen, und nun w a r man zufrieden. Wenn also doch ja erklärt werden soll, so dringt sich uns wohl natürlich zuerst der Gedanke auf, ob wohl eine andere Erklärungsart, als die sogenannte mechanische hier verlangt werden kann? — denn wenn auch sie freylich nur wieder eine Generalisirung ist, so ist sie doch die höchste, zu der wir gelangen können, indem sie alle Phänomene
in einfache Gesichtsideen
auflöset.
— Wirk-
lich gehen auch auf diesem Wege schon seit geraumer Zeit verschiedene der größten mathematischen Naturforscher unsers Zeitalters mit erwünschtem Erfolge, und besonders (224)
läßt uns H r . de Luc | vermuthen, wie fruchtbar diese Erklärungsart bei der A r t Phänomene sey und werden könne, welche gegenwärtig so sehr alle Naturforscher beschäftigen, bei denen wir aber keinen Schritt vorwärts zu thun im Stande sind, ohne gleichsam wider Willen den Ursachen der allgemeinsten Phänomene, nämlich der Schwere, der Cohäsion, Festigkeit und Flüssigkeit der Elastizität u. d. gl. nachforschen
zu
müssen*. Aber sollte auch dieser Weg nicht der richtige seyn, und sollten wir vergebens erwarten, daß er uns der Auflösung dieser großen Probleme unfehlbar näher bringen wird? —
Ehe noch Hrn. Kants
Metaphysische
Anfangsgründe
der
Naturwissenschaft
* Die Chemie, die uns seit ihrer Aufnahme von diesen Untersuchungen ganz abführte, führt uns jetzt wieder auf sie zurück — daß sie aber ihre Gränzen bereits überschritten hat, davon wird man sich leicht überzeugen, wenn man nur die schwankenden, weit umfassenden Definitionen dieser systematischen Kunst in den vielen Handbüchern vergleicht.
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erschienen waren, würde der mathematische Naturforscher vielleicht diese Frage kaum einer Beantwortung werth gehalten haben, aber seit Erscheinung dieses Buches, was nodi lange die Sensation nicht gemacht zu haben scheint, die es (wie alle Kantische Schriften) über kurz oder lang unfehlbar machen muß, hat die Sache freylich eine andere Gestalt gewonnen. Dieser große Mann erklärt sich nämlich in mehrern Stellen desselben so nachdrücklich gegen die mechanische Naturphilosophie, der Er seine dynamische entgegensetzt, daß auch der hartnäckigste Atomistiker, wie ich glaube, stutzig werden muß. So weit ich indeß Hrn. Kant verstehe, scheint es mir nun freilich, daß man seine Meinung sehr mißdeuten würde, wenn man glaubte, Er sey darum | gegen alle mechanisehe Erklärung überhaupt. Man bediene sich immer dieser Erklärungsart, so weit man sich ihrer bedienen kann, man gebe sie aber auch nicht für das aus, was sie nicht ist, d. h. für eine Metaphysik derNaturwissenschafl, und räume dem dinamischen Naturphilosoph ein, daß das letzte Ziel und die Gränze aller Erklärungen noch weiter gehe, als bis zu den Molecules primitives — und daß die Annahme der letztern allerdings noch einer Rechtfertigung bedarf, folglich nicht als eine unbedingte ursprüngliche Position gelten kann, wie uns die mathematischen Naturforscher bisher glauben machten. Da auch Hr. Lavoisier sich der atomistischen Erklärung bedient, so wird es nöthig seyn, statt einer Einleitung einiges über diesen Gegenstand hier voranzuschicken. Hr. Kant lehrt uns die Möglichkeit eines originellen flüssigen, ohne alle Viscosität, was ein vollkommnes Kontinuum ist, und keinesweges aus discreten festen Theilchen besteht. Aber Er giebt zugleich zu, daß irgend eine palpable (sperrbare und wiegbare) Flüssigkeit, z. B. die Luft, allerdings aus discreten Theilchen bestehen mag, und daß folglich ihre Flüssigkeit so wenig, als ihre Elastizität originell ist"'. — Hiermit ist nun aber der Atomi- | stiker vor der Hand schon zufrieden, und da Groß und Klein keinen Unterschied hier macht, so sehe ich nicht, wie man es ihm wehren könnte, auch von diesen und jenen palpablen und wägbaren, und so fort auch von unwägbaren Flüssigkeiten dasselbe zu behaupten, und ihre Flüssigkeit sowohl, als ihre Elastizität aus der Figur und Bewegung ihrer Theilchen zu erklären. Eben so verhält es sich mit der Idee, die uns Hr. Kant von der radicalen Auflösung giebt, welche nicht blos als Nebeneinanderseyn, sondern als wahre Durchdringung gedacht, wenn schon nicht begriffen werden soll, indem kein Grund vorhanden sey, warum z. B. ein noch so kleines Klümpchen des aufgelösten Körpers weiter unaufgelöset in seinem Menstruum schwimmen soll, von dem es ja rund umflossen sich befindet — denn theils wird hier schon stillschweigend vorausgesetzt, daß dieses Menstruum ein originell flüssiges, d. i. ein völliges Kontinuum sey; theils giebt Hr. Kant selbst zu, daß es Auflösungen ohne Durchdringung allerdings giebt. * S. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Zweite Auflage 1787, S. 80. Alle Materie ist nach H . Kant expansiv elastisch, und keineswegs, wie der mechanische Naturphilosoph will, absolut undurchdringlich, sondern compressibel. — Originelle Elastizität wäre also solche, die als unmittelbare Aeusserung der repulsiven Grundkraft sich durch ihre Unveränderlichkeit und ihre Zunahme im umgekehrten kubischen Verhältnis der Compression erwiese. — Originell flüssig heißt Hr. Kant einen flüssigen Körper, der nicht etwa nach dem Bernouillischen Begriff aus bewegten (festen) Theilchen besteht, sondern durch und durch | ein wahres Kontinuum ist. Indem Hr. Kant uns übrigens zeigt, daß sich ohne repulsive und anziehende Kraft zusammen, keine Erfüllung eines Raums und also keine Materie denken läßt, so vernichtet er, wie durch einen wohlthätigen Lebenshauch, alle Matiere brute in der Natur, und in ihr ist überall nur Matiere vive vorhanden.
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Das Phänomen der Gravitation allein macht indeß eine merkwürdige Ausnahme, denn da uns Hr. Kant gezeigt hat, daß es als unmittelbare Aeusserung der aller Materie wesentlichen Grundkraft der Anziehung nicht anders sich zeigen kann, als es sich wirklich zeiget, so überhebt er uns nicht allein aller weitern Hypothesen darüber, als einer wahrhaft überflüssigen Mühe, sondern er sichert audi den | Gebrauch der Wage wider alle Einwürfe des Skepticismus in alle Zeiten hinaus. —* Aber die vorzüglichste Schwierigkeit, die Hr. Kant dem Atomistiker zu lösen gab, scheint mir die zu seyn, die sich aus seiner Bemerkung ergiebt, daß Festigkeit oder Starrheit nichts weniger, als ein einfaches Phänomen sey, was sich also keinesweges an einer einartigen Materie, als solcher, vermöge ihrer eigenen Kräfte (selbst die der Cohäsion) begreifen lasse. — Der Atomistiker setzt aber gerade das Gegentheil voraus, indem er, sowohl um das Vorhandenseyn seiner ersten Körperdien genetisch zu erklären, als ihre Bestandheit zu sichern, eine und dieselbe gleichartige Materie vermöge ihrer eigenen Kräfte den leeren Raum nicht nur auf verschiedene Art erfüllen, sondern ihn audi bleibend erfüllen, d. h. eine zahllose Menge absolut fester und vollkommen starrer Körperdien bilden läßt, welche in nichts als ihrer Figur verschieden sind und ewig durch keine andere Kraft, als die des Stoßes, auf einander zu wirken vermögen. Die Leichtigkeit, mit welcher der Atomistiker den wirklichen Uebergang eines und desselben Stoffes aus dem festen in den flüssigen Zustand und wechselweise begreiflich macht, kommt ihm folglich nur darum zu statten, weil er | einen dieser Zustände (nämlich den festen) wirklich unerklärt läßt. So natürlich es nun aber auch hierbey zugehen mag'1', * Welche Modification diesemnadi des Hrn. Le Sage mechanisches System erleiden dürfte, wird sich nach Bekanntmachung desselben zeigen. Wirklich wäre es einmahl Zeit, die willkührlidie Annahme eigner impalpabler Stoffe durch kritische Gesetze im Zaum zu halten — denn wenn für jede einzelne Kraftäußerung wieder eine eigene Materie angenommen werden soll, so sehe idi das Ende dieser chemischen Personifikationen nicht ab, und wir werden noch einer materiemachenden Materie am nöthigsten haben, da wir sie ja als solche aller eigenen Kraftäußerung für unfähig erklären. | * Wenn man sagt, daß Flüssigkeit (mit allen ihren Unterarten) und Festigkeit nur zweierley Zustände oder Arten zu seyn sind, die ein und derselbe Stoff eingehen, und unter denen er wechselweise erscheinen kann, so giebt man entweder gar keine Ursache an, warum er nun in dieser oder jener Form erscheint, oder man schreibt jede derselben gewissen Verbindungen zu, die er in verschieden Umständen mit andern Stoffen eingeht, oder sie verläßt, welche letztere dann entweder selbst palpable sind, wie dies bei den gewöhnlichen Auflösungen der Fall ist, oder nicht, wie beim einfachen Schmelzen. Wobei er zugleich gewissen Einwirkungen stets auf ihn wirkender Kräfte, es mögen nun diese in oder außer ihm vorhanden seyn, wechselweise ausgesetzt, oder ihrer verlustig gemacht wird. — Fragt man nun aber nach dem bleibenden Ding, was, indem es z. B. bald Eis, bald Kristallisationswasser, bald Wasser, bald Dampf wird, selbst weder das eine noch das andere seyn kann — und nadi der Art, wie der wirkliche Uebergang dieses bleibenden Dings aus einem dieser Zustände in den andern begreiflich wird, so läßt man diese Frage abermahl entweder ganz unbeantwortet, oder man nimmt stillschweigend einen dieser Zustände (und zwar den festen) selbst als bleibend bei all diesen Metamorphosen an, weil sich eine formlose Materie gar nicht denken läßt, d. h. man denkt sich den Körper schon in (feste) Atome getheilt. Hiegegen hat nun Hr. Kant gezeigt, daß man wohl eher beim flüssigen Zustande die Erklärung anheben kann, aber schlechterdings nicht beim festen. — Die Anwendung des Gesagten auf die bases der antiphlogistischen Theorie ergiebt
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und wenn man ihm selbst das Vorhandenseyn erster Körperchen einräumt, (wie man ζ. B. Kristalkeime zugiebt) so wird er dodi ge- | stehen müssen, daß sie selbst nur ein sekundaires Phänomen sind, und daß also ihr Entstehen so lange unbegreiflich, und ihr Verschwinden oder Zerfließen so lange möglich ist, bis es ihm nidit gelingt, eine dinamische Erklärung dieses Phänomens zu geben. Ob hiezu gar keine Hofnung vorhanden sey. werden wir in der Folge noch sehen. Ich komme nun zu dem eigentlichen Zwecke dieses Aufsatzes, nämlich zur Betrachtung der Art, wie Hr. Lavoisier sich den dreifachen Zustand der Körper (den festen, tropfbarflüssigen und elastisch-flüssigen) so wie ihren wechselweisen Uebergang erklärt. Hr. Lavoisier geht bey seiner Theorie von der Annahme aus, daß alle (palpable) Stoffe wie das Wasser nicht nur allein des festen, tropfbarflüssigen und elastischflüssigen Zustandes fähig sind, sondern daß sie audi jeden derselben nur zufolge eines gewissen Wärmegrades, dem sie sich ausgesetzt befinden, annehmen und behalten, so wie dies beim Wasser der Fall ist*. Er sieht aber nidit nur allein alles Flüs- | sigseyn für eine Folge der Erwärmung an, sondern er hält auch dafür, daß es mit dieser Wirkung der Wärme auf eben dieselbe Art zugeht, wie mit einer andern, nämlich der Ausdehnung, und daß sich die eine wie die andere aus dem Abstände erklären lasse, in welchem sich die einzelnen Körpertheilchen gegen einander befinden, welcher .Abstand dann, so lange der Körper nodi fest ist, aus dem Verhältnisse der Cohäsionskraft zur ausdehnenden oder trennenden der Wärme*, in jedem andern seiner | Zustände aber aus dem der letztern zu einer
sich von selbst; und man sieht schon hieraus, wie wenig Grund man haben würde, die Existenz dieser Basen darum in Zweifel zu ziehen, weil sie sich aus den Luftarten nicht so isolirt darstellen lassen, als etwa — die Butter aus der Milch. * Das Wasser giebt zwar ein gutes Beispiel für die sogenannten einfachen Schmelzungen ab, wo nämlich der geschmolzene Körper beim Wiederfestwerden, unverändert seine vorige Natur annimmt, aber nicht so gut für jene Schmelzungen, wo der entgegengesetzte Fall statt findet, und entweder palpable Stoffe, (Flüsse) augenscheinlich sich mit ihm verbinden, oder seine veränderte Natur beim Wiederfestwerden eine ähnliche Einwirkung, inpalpabler Stoffe vermuthen läßt, (wie z. B. im condensirten Sonnenlichte). — Im letztern Falle wird aber das Flüssigseyn weder durch die Wärme allein, wie im ersten, nodi auf dieselbe Art bewürkt. S. Hrn. de Luc's Ideen zur Meteorologie. Eben so wenig geht es aber audi an, unbedingt von allen palpablen Stoffen zu behaupten, daß sie | aller drei oder vier Zustände oder Formen fähig sind. S. I. B. I. Stüde dieses Journals den ersten Aufsatz vom Hrn. Herausgeber. * Indem Hr. Lavoisier hier alle Wirkungen der Wärme durch eine zu erklären sucht und von dem Calorique selbst nur als einer Force expansive spricht, die noch überdies beinahe gränzenlos wirken soll, so giebt er allerdings zu bedenklichen Folgerungen Anlaß, die den Vorstellungen, die sich dieser Naturforscher sonst von dem Calorique macht, keineswegs günstig sind. — Am besten wird sich das durch eine Bemerkung zeigen lassen, die idi hierüber von meinem verehrungswürdigen Freunde, dem jüngern Hrn. v. Humboldt erhielt — „Wozu nämlich bedarf es einer eignen Materie, welche die Zu- und Abnahme der Expansion aller übrigen Materie durch ihren Zu- und Abtritt bewirken soll, da wir vielmehr der Ursache nachzuforschen haben, warum die aller Materie als solcher wesentlich eigne und ihr stets inwohnende Expansionskraft sich nicht, oder nur bis zu einer gewissen Gränze äußert, und also mehr Recht vorhanden zu seyn scheint, eine kaltmachende Materie, die die übrige Materie zusammenhält, als eine warmmachende, die sie aus einander treibt, anzunehmen. „ — Ich glaube nidit, daß sich den Folgerungen dieses Einwurfes anders
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dritten Kraft (die nach Ihm nur der Druck einer palpablen Flüssigkeit seyn kann) bestimmt wird. Sowohl der Kürze wegen, als um midi bei einigen meiner Leser vor dem Verdacht einer Mißdeutung zu sichern, werde ich die hieher gehörige Stelle aus Hrn. Lavoisier's Traité elementaire de Chimie ganz hersetzen.
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Nous venons de voir (heißt es S. 7. T. I.) que le même Corps devenoit solide ou liquide, ou fluide aeriforme, suivant la quantité de Calorique, dont il etoit pénétré, ou, pour parler d'une maniere plus rigoureuse, suivant que la force repulsive du Calorique étoit egale à l'attraction de ses molécules, ou qu'elle etoit plus forte, ou plus foible qu'elle. Mais s'il n'existoit que ces deux forces, les Corps ne seroient liquides qu' à un degré indivisible du thermomètre, et ils passeraient brusquement de l'état de solide à celui de fluide elastique aeriforme. Ainsi l'eau, par exemple, | à l'instant même, ou elle cesse d'être glace, commencerait à bouillir : elle se transformerait en un fluide aeriforme, et ses molécules s'ecarteroient indéfiniment dans l'espace: s'il n'en est pas ainsi, c'est qu'une troisième force, la pression de l'atmosphere, met obstacle à cet ecartement, et c'est par cette raison, que l'eau demeure dans l'état fluide depuis zero jusqu' à 80 degrés du thermometre français: la quantité de Calorique, qu'elle reçoit dans cet intervalle, est insuffisante pour vaincre l'effort occasionné par la pression de l'atmosphère. On voit donc que, sans la pression de l'atmosphère, nous n'aurions pas de liquide constant; nous ne verrions le corps dans cet état qu' au moment precis ou ils se fondent: la moindre augmentation de chaleur qu'ils recevraient ensuite, en ecarteroit sur le champ les parties et les disperserait. Il y a plus, sans la pression de l'atmosphère, nous n'aurions pas à proprement parler, des fluides aeriformes. En effet au moment ou la force de l'attraction serait vaincue par la force repulsive du calorique, les molécules s'eloigneroient indéfiniment, sans que rien limitât leur ecartement, si ce n'est leur propre pesanteur qui les rassemblerait pour former une atmosphere. Wenn fest und flüssig sich, wie Hr. Lavoisier hier annimmt, blos dadurch unterschieden, daß die Kontinuität bei erstem als Folge eigentlichen Zusammenhangs (die Ursache desselben mag nun seyn, welche sie will, bey letztern aber nur als ein Zusammenhalten vermöge eines Druckes jeder andern sie berührenden palpablen (elastischen) Flüssigkeit statt fände, so würde sich zwar bey letztern ein Widerstand gegen die Trennung ihrer Kontinuität allenfalls noch begreifen lassen; aber nur unter der Bedingung, daß dieser Widerstand mit seiner Ursache, | nämlich jenem Drucke, stets in genauem Verhältnisse begegnen läßt, als dadurch, daß man theils zeigt, daß das Vorhandenseyn eines eigenen Wärmestoffs keinesweges aus dem Phänomen der Expansion allein geschlossen werden darf, so wenig als die etwas zu metaphysische Darstellung dessel- | ben als einer bloßen Force expansive hinreicht, alle Wirkungen des Calorique zu erklären — theils daß dieß Phänomen der Expansion selbst von der Art ist, daß es auf keine Weise für Aeußerung der repulsiven Grundkraft der Materie genommen werden kann. — Newton hatte dieselbe Idee im Sinne, indem er eine wahre Auflösung aller übrigen Körperstoffe in (und zu) Wärmematerie wahrscheinlich hielt, die er sich blos zufolge einer Zertheilung oder Verfeinerung der ersten dachte. Eine Idee, die auch nodi darum merkwürdig ist, weil sie in ihrer allgemeinen Anwendung dem mechanischen Naturphilosophen immer Schwierigkeiten genug macht, so lange er keine innere speeifisdie Verschiedenheit der Materie zugiebt, indem er derlei Metamorphosen, als nach ihm bloßen Metamorphosen der Form, nichts in den Weg zu legen weis, als das Faktum der Beständigkeit der Naturerscheinungen, das aber eben hierbei unbegreiflich wird. ¡
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stünde, und dasselbe müßte von allen übrigen Aeußerungen der Fluidität gelten. — N u n zeigen uns aber die bekanntesten Erfahrungen von dem allen gerade das Gegenteil — denn eine Metallplatte reist nicht nur gleich schwer oder gleich leicht von der Oberfläche einer Flüssigkeit, es mag nun diese unter einer luftvollen oder luftleeren (d. i. mit einem ungleich d ü n n e m , elastischen Fluido erfüllten) Glocke sich befinden"" — sondern dieses Fluidum w i r d auch noch im luftleeren Räume eben so schnell zusammenfließen*"" und Tropfen bilden, als im luftvollen — welche beiden letztern Phänomene sich überdies als Folgen eines Druckes nicht einmal begreifen lassen. Schon hieraus würde also folgen, daß die Annahme, die H r . Lavoisier seiner Erklärung des Flüssigen zum Grunde legt, falsch ist, aber deutlicher wird dieses durch folgende Betrachtungen werden, die uns zeigen sollen, d a ß man nicht nur keinen G r u n d hat, den flüssigen Körpern allen Zusammenhang abzuläugnen, sondern | überhaupt auch nur den Unterschied des Festen und Flüssigen in dem Mehr oder Minder desselben zu setzen. — Auch sie verdanken wir H r n . Kant, der uns mit ihnen, wie ich glaube, zuerst den richtigen C h a r a k t e r der Fluidität gab. Die Stärke des Zusammenhangs (als Widerstand gegen die Trennung) w i r d zwar mit Recht durch die Größe der trennenden Kraft geschätzt, allein diese Schätzung kann nur unter der Bedingung der gegebenen, und w o es auf Vergleich ankommt, völlig gleichen Zerreißungsfläche gelten. Letztere kann aber bei zweyen Körpern unter diesen Umständen nur dann gleich seyn, wenn sie beyde in gleichem Grade starr oder weich sind, d. h. der Verschiebung ihrer Theile ohne Aufhebung der Kontinuität, gleich großen oder geringen Widerstand entgegensetzen. Wollte man folglich daraus, d a ß z. B. ein ziehbares Metall von einem kleinern angehangenen Gewichte reißt als ein weniger ziehbares, oder daß ein Stab Wachs sich leichter von einander reißen läßt, als ein gleich starker Stab Holz, auf einen verhältnißmäßig schwächern Zusammenhang bey erstem beyden Körpern schließen, so würde dieser Schluß nothwendig falsch seyn, indem eben vermöge der größern Verschiebbarkeit der Theile sowohl des weichern Metalles als des Wachses, beyde sich erst dünner ziehen, und also in einer kleinern Fläche, als die man zum Vergleich annahm, reißen. Wenn sich nun ein T r o p f e n Wasser von einer größern Wassermasse, vermöge seiner eigenen Schweere losreißt, so giebt es schon der Augenschein, daß dieß derselbe Fall, wie beym Wachse, und nur dem Grade nach von ihm verschieden ist, indem vermöge der ungleich leichtern Verschiebbarkeit der Theile des Wassers die eigentliche Zer- I reißungsfläche fast unmerklich wird* und da bey jeder wirklichen Trennung * Man erinnere sich nur an die Morveau'sehen Versuche hierüber. ** Das Zusammenfließen oder das Bestreben getrennter flüssiger Körper, sich auf eine zwar kleine aber doch noch merkliche E n t f e r n u n g zu nähern und dadurch ihre vorige Kontinuität wieder herzustellen, giebt allerdings, wie H r . de Luc in seinen Ideen zur Meteorologie bemerkt, einen merkwürdigen Character der Fluidität ab, da den festen Körpern diese Eigenschaft ganz fehlt, welche einmahl getrennt auch bei der genauesten Berührung (und möglichsten Zerkleinerung) entweder gar nicht, oder dodi nur sehr schwach zusammenhangen, und ihre einmahl verlohme Kontinuität nicht anders als durch ein neues Flüssigwerden (sey es nun Schmelzen f ü r sich, oder Auflösung) wieder erlangen. | * Bey einem Fluido ohne alle Viscosität scheint sie aber wirklich = o zu werden, d. i. die Zerreißung nur in einem (physisch oder mathematisch) untheilbaren P u n k t e geschehen zu müssen. Das Phänomen der Tropfenbildung zeigt übrigens sehr deutlich, daß fest und flüssig sich durch was anders als Kleinheit der Theile unterscheiden, denn man denke sich einen festen Körper in noch so feinen Staub zertheilet, so wird
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flüssiger Körper was ähnliches, als bey der Tropfenbildung vorgeht, so folgt hieraus wohl unleugbar, daß sich von der Kleinheit der Kraft, die man bey einigen derselben zu ihrer Zerreißung im Vergleich mit festen Körpern braucht, keineswegs auf einen verhältnis(236) mäßig I schwächern Zusammenhang schließen läßt. Aber eben darum, weil man diese Eigenschaft flüssiger Körper (nämlich die außerordentlich leichte Verschiebbarkeit ihrer Theile) theils übersah, theils sie von der wirklichen Trennung nicht so unterschied, wie man dies doch bey festen Körpern that, geschah es, daß man sidi beynahe allgemein bis auf Kant berechtigt hielt, sogar den Charakter der Fluidität in einen schwächern Zusammenhang zu setzen, welcher Naturphilosoph uns dagegen zuerst zeigte, daß feste und flüssige Körper sich wohl durch den Grad der Verschiebbarkeit ihrer Theile*, keines(237) weges I aber durch den Grad ihres Zusammenhanges unterscheiden, indem jener mit diesem, wie der Augenschein sowohl bey festen als flüssigen Körpern lehrt, in gar keinem (unmittelbaren) Verhältnisse steht. Und es fehlt folglich so viel daran, daß wir die Erdieser Staub doch keinen Tropfen bilden. Wenn nun ein einzelner Tropfen wieder von neuem getrennt wird, so kann dies nur in kleinere Tropfen geschehen, und diese kleinern Tropfen werden bey der Trennung selbst erst erzeugt. — Soll aber diese Theilung physisch begränzt seyn, so muß angenommen werden, daß die Anziehung (als Widerstand gegen die Trennung) mit der Zerkleinerung selbst in solchem Verhältnisse zunimmt, daß sie am Ende größer wird, als jede gegebene oder vorhandene Naturkraft (mechanische oder diemische?) — Wollte man also in diesem Sinne behaupten, alle Materie bestünde aus ferner untheilbaren Elementen, so würde dieß nur so viel heißen, als alle Materie ballt sich bey ihrer Trennung in (zuletzt) unauflösliche (obschon mathematisch theilbare) Atome, die dann in ihrer Größe und spezifischen Elastizität, nicht aber in ihrer Figur verschieden seyn könnten, ob sie schon (als flüssig) nodi Bewegbarkeit ihrer Theile unter sich behielten, und also unzählicher Figuren fähig seyn würden. — Und wir hätten folglich hier einen ersten Versuch, eine dynamische Erklärung der Molecules primitives zu Stande zu bringen, und zwar sähen wir diese Atome sich im mikroskopischen Universum nach demselben Gesetze bilden, nach welchem wir die Welten als Atome des teleskopisdien Universums geformt (236)
sehen. — | * Am besten läß sich dies in jenen Fällen bemerken, wo der Uebergang aus dem festen in den flüssigen Zustand nicht momentan ist, sondern erst den Mittelzustand der Weichheit durchgeht, wie z. B. bei harzichten Körpern, dem Wachse etc. bey ihrer stufenweisen Erwärmung. Denn das Phänomen des Einsinkens bey sehr weichem Wachse ist augenscheinlich nur dem Grade nach von dem ihm folgenden Zerfließen desselben verschieden — in beyden Fällen braucht es nämlich so wenig Kraft, die Form oder Gestalt der Masse zu ändern, als sie eben so schnell zu zerstören. — Sobald nun aber die Weichheit oder Versdiiebbarkeit der Theile (bey zunehmender Wärme) jenen Grad erreicht hat, daß sie der Schwerkraft einer jeden nodi so kleinen und unmerklidien Masse augenblicklich nachgiebt, so muß natürlich der Körper mit ebner Oberfläche fließen und die Form des Gefäßes annehmen, d. h. flüssig erscheinen. Ein flüssiger Körper ist also nur darum formlos (im Gegensatze der Stabilität des festen) weil die Kraft der Schwere alle Augenblicke die ihm gegebene Form wieder zu zerstören strebt, und ohne ihr würde er blos den weichsten Körper vorstellen. Ueber diesen ersten Grad der Fluidität, den wir so eben angaben, muß es aber allerdings mehrere geben, was auch Hrn. Lichtenbergs Meinung ist, die sich dem Ideale desselben wohl sehr nähern, es aber vielleicht bey keinem (palpablen) Stoffe erreichen; so wenig
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als einer derselben vollkom- | men starr oder eigentlich spröde angetroffen werden mag. (Vergi. Hrn. de Luc's Ideen zur Meteorologie I. B. S. 147.)
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klärung, die Hr. Lavoisier von fest und flüssig uns giebt, könnten gelten lassen, daß sich im Gegensatze durch Zusammenhang allein, wohl Flüssigkeit, keinesweges aber Festigkeit begreifen läßt — denn an einer völlig gleichartigen Materie läßt sich wohl völlige Gleichartigkeit des Zusammenhangs, und, dieser mag nun so groß oder so klein seyn, als man will, jener Grad der Verschiebbarkeit ihrer Theile unter einander denken, der hievon eine nothwendige Folge ist, und den Charakter der Fluidität ausmacht — keinesweges aber der Widerstand, den feste Körper bey vielleicht geringerm Zusammenhange, dem Verschieben ihrer Theile in der Maaße entgegensetzen, daß sie nicht anders, als durch Aufhebung des Zusammenhangs aller Theile in einer gegebenen Fläche zugleich sich trennen lassen. — „Wie also starre Körper möglich seyn, sagt Hr. Kant, das ist immer noch ein unaufgelöstes Problem, so leicht als auch die gemeine Naturlehre damit fertig zu werden glaubt" — [ Ich gehe nun zur Betrachtung der Art über, wie Hr. Lavoisier die Erzeugung elastischer Flüssigkeiten erklärt, und obschon dieser Naturforscher keinen weitern Unterschied unter ihnen bemerkt, indem er sie alle unter dem Namen Gas zusammenfaßt, ohne der Permanenz oder Nichtpermanenz zu erwähnen, so finde ich es doch für nöthig, zuerst nur von der Erzeugung nicht permanenter elastischer Flüssigkeiten, oder der Dämpfe zu reden. Ich werde mich aber hier um so kürzer fassen können, theils weil nach Widerlegung des Lavoisier'sthen Begrifs | vom festen und tropfbarflüssigen alle aus ihm gezogene Folgerungen schon von selbst wegfallen, theils weil Hr. de Luc sowohl in seinen frühern Schriften, als neulich in seinen Briefen an Hrn. la Metherie, die Theorie der Dampferzeugung des Hrn. Lavoisier, wie ich glaube, bereits völlig widerlegt hat.
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Obschon bisher bey der Gegeneinanderstellung des festen und flüssigen hauptsächlich nur von einer Unterart des letztern, nämlich dem tropfbar flüssigen die Rede war, so * Die Erklärung, die Hr. Lavoisier vom Flüssigwerden als einem bloßen mehrern Auseinandertreten der Molécules des festen Körpers etc. giebt, fällt also von selbst, wenn sie auch nicht an sich, wie Hr. de Luc bereits in seinen Ideen zur Meteorologie sehr ausführlich gezeigt hat, unmittelbar dem Phänomen selbst widerspräche, da ja mehrere feste Körper beym Flüssigwerden einsinken, und eine kleinere Ausdehnung annehmen. Auch scheint es, als handelte Hr. Lavoisier gewisser- | maaßen seinen eigenen Grundsätzen zuwider, wenn er erst alle Wirkungen des Calorique durch seine die Körpertheilchen auseinandertreibende d. i. die Körper ausdehnende Kraft erklärt, und in der Folge von einem eigentlich gebundenen Wärmestoff, (als Bestandheit der Solidité) spricht. Denn eben der Umstand, daß eine gewisse Menge Wärme einem Stoffe unter gewissen Umständen zugesetzt, diesen gar nicht ausdehnt (so wenig als erwärmt) sondern eine ganz andere "Wirkung (das Flüssigseyn) in ihm bewirkt, eben dieser Umstand berechtigt uns allein, die Art des Zustandes, in welchem sich die Wärme (als eigner Stoff betrachtet) in beyden Fällen (als ausdehnend und als flüssigmachend) befindet, zu unterscheiden, und ich glaube darum, daß man sehr unrecht hatte, hie und da wider die Ausdrücke latentes Feuer oder Wärme Einwendungen machen zu wollen, indem sie ja das Phänomen selbst bezeichnen, was ein seynsollendes Naturgesetz der Kapazitäten nicht thut. Die Wirkungskraft des Wärmestoffs müßte aber obigen Betrachtungen zufolge hier blos als erweichend betrachtet werden, wie z. B. Wasser trocknen und spröden Thon erweicht, und ihn dem flüssigen Zustande wenigst näher bringt. Erweichung setzt aber Adhäsion, und diese wenigst einen Grad chemischer Einwirkung voraus — eine wahre Auflösung irgend eines Stoffes in Wärmematerie würde die seyn, wo jener völlig so inpalpabel würde wie diese selbst — ob sie statt findet oder nicht, ist so leicht nicht auszumachen. |
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sieht man doch leicht, daß sich ohne den Hauptcharakter der Flüssigkeit, d. i. der ungemein leichten Bewegbarkeit der Theile, zufolge
ihres völlig
gleichartigen
Zusammen-
hangs, so wenig ein elastisch, als ein tropfbarflüssiger K ö r p e r denken läßt, wenn w i r anders nicht, wie H r . Lavoisier
zu thun scheint, diese Elastizität als eine K r a f t ansehen
wollen, die bei jeder Temperatur, wobey nur noch die flüssige Form bestehen mag, f ü r sich z w a r ein gränzenloses Vermögen besitzen, und dann doch von jeder andern sehr (240)
begränzten K r a f t (als dem Druck der Atmosphäre) überwogen werden soll"'. — ] Zusammenhang und Elastizität sind vielmehr jedem Flüssigen eigen, und tropfbare Flüssigkeiten unterscheiden sich von den eigentlich elastischen hauptsächlich nur in dem G r a d e ihrer spezifischen Elastizität; denn offenbar ist nur das Uebermaas dieser K r a f t bey letztern, so wie der verhältnißmäßig nur ungemein kleine G r a d derselben bey erstem daran schuld, daß wir bey den tropfbaren Flüssigkeiten ihre Elastizität beynahe gar nicht, und um so deutlicher dagegen die K r ä f t e des Zusammenhangs und der Schwere
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wahrnehmen, wogegen sich bey den | elastischen Flüssigkeiten, da wir sie nicht anders, als mehr oder minder zusammengedrückt
zu beobachten im Stande sind, ihre elastische K r a f t
den beyden übrigen natürlich überall vordrängt. — Eine Luftmasse, die durch Verdünnung dem Maximum
ihrer Ausdehnung (bey einer gegebenen Temperatur) so nahe ge-
bracht seyn würde, daß ihre Elastizität (oder Ausdehnungsvermögen) der des Wassers gleich käme, müßte aber, vorausgesetzt, daß sich mit ihr hierüber Versuche anstellen ließen, eben so wohl mit ebner Oberfläche aus einander fließen und T r o p f e n bilden, als
* Denn so und nicht anders kann ich die obige Stelle verstehen: Il y a plus, sans la pression de l'atmosphère nous n'aurions à proprement parler des fluides aeriformes etc. N u n sehe ich aber wohl ein, daß es ohne den Druck der Atmosphäre oder überhaupt ohne Schwere keine zusammengedrückte, nicht aber daß es gar keine elastische Flüssigkeiten geben könnte — denn die oberste Schicht jeder Atmosphäre kann doch nicht wieder von einer andern zusammengehalten werden, und gäbe es folglich kein Maximum der Ausdehnung f ü r jede elastische Flüssigkeit, so müßte eine Schicht unserer Atmosphäre nach der andern, so wie sie die oberste würde, sich wirklich so, wie H r . Lavoisier will, in die endlosen Räume des Weltalls zerstreuen, und folglich gar keine (240)
Atmosphäre vorhanden seyn — Expansive Elastizität einer (flüssigen) | Materie kann nur als das Vermögen gedacht werden, nach jeder Zusammendrückung in ihr größeres Volum sich auszubreiten, und so lange nicht von Materie überhaupt, sondern von irgend einer besondern wirklich vorhandenen die R e d e ist, so muß dies Volum bey allen möglichen Arten des Zusammenseyns dieser Materie mit andern sowohl in ihrem Minimum als Maximum begränzt gedacht werden. U m so weniger läßt sich also von Flüssigkeiten, deren Elastizität nicht ursprünglich ist, behaupten, daß ihr Ausdehnungsvermögen sich selbst überlassen, gränzenlos wirken würde. D a übrigens alle Materie als solche expansiv elastisch ist, so würde es eben so überflüssig seyn, eine weitere E r k l ä r u n g dieser G r u n d k r a f t geben zu wollen, als selbst die Annahme einer eigenen Wärmematerie sehr unnöthig seyn würde, w o f e r n sich alle Wirkungen derselben auf die der Elastizität und z w a r der ursprünglichen zurückführen ließen. — Wenn nun aber schon dies nicht angeht, und Ausdehnung, Erweichung und Flüssigmachung palpabler Stoffe in allen jenen Fällen, w o kein anderer ähnlicher Stoff mit im Spiele ist, nicht wohl anders, als zufolge der Einwirkung eines inpalpablen Stoffes (der Wärmematerie) erklärt werden können, so folgt daraus doch keinesweges, daß nicht mehrere inpalpable Stoffe vorhanden seyn könnten, die ganz oder zum Theil ihr D a s e y n uns auf ähnliche A r t zu erkennen gäben. Vergi, was H r . Lavoisier über Elastizität und ihre Ursache am Ende des ersten Kapitels sagt. |
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Wasser, und in allem, ihre Dichtigkeit (und Compressibilität) ausgenommen, einem Tropfbarflüssigen ähneln. So falsch nun audi die Behauptung an sich wäre, daß jedes Elastischflüssige nur ein comprimirtes Tropfbarflüssiges sey, weil es ja durch bloße Expansion die Natur des letztern anzunehmen scheint, so würde sie doch noch mehr Schein der Wahrheit für sich haben, als die entgegengesetzte des Hrn. Lavoisir, daß jedes Tropfbarflüssige ein comprimirtes Elastisches sey. Aber dieser Naturforscher glaubt, in dem Phänomen der Verdunstung tropfbarer Flüssigkeiten im luftleeren Räume einen direkten Beweis für die Erzeugung elastischer Flüssigkeiten aus ihnen durch bloße Expansion zu geben, und es liegt uns also noch ob, diesen Beweis ganz für sich zur prüfen. Die Worte in der oben angeführten Stelle von s'il n'en est pas ainsi an bis pour vaincre l'effort occasionée par la pression de l'atmosphère lassen keinen Zweifel darüber, daß Hr. Lavoisier jeden tropfbarflüssigen Körper als eine zusammengedrückte Stahlfeder betrachtet wissen will, deren Expansion (als Uebergang in die elastischflüssige oder Dampfform) nur unter zweyen Bedingungen möglich sey, nämlich entwe- j der durch Aufhebung des Drucks, oder durch Vermehrung der Elastizität dieser Stahlfeder bis zu dem Grade, daß sie jenen Druck zu heben vermag. — Ersteres geschähe nun im Vacuum, und zwar so lange, bis das sich in ihm erzeugte elastische Fluidum dem Expansionsvermögen des noch zurückbleibenden Tropfbaren wieder das Gleichgewicht hält*. — Letzteres geschehe im lufterfüllten Räume nur dann, wenn das tropfbare Fluidum bis zur Siedehitze erwärmt ist, wo die sich aus ihm erzeugenden Dämpfe selbst größere specifische Elastizität als die Luft haben, und diese also völlig austreiben. Diesem zufolge dürfte sich also kein Atom Wassers in Verbindung mit dem Calorique in elastischer, d. h. Gasform von seiner Oberfläche erheben, so lange diese dem Drucke der Atmosphäre und dabey jedem Wärmegrad unter der Siedhitze ausgesetzt bliebe, und die Verdunstung tropfbarer Flüssigkeiten im luftvollen Räume müßte von der im eigentlich luftleeren""1' * Wasser wäre sohin eigentlich nur komprimirter Wasserdampf, und dieser kein neuerzeugtes Ding — Auch wäre es unbegreiflich, warum stets nur ein Theil des tropfbaren Fluidums sich expandirt, und warum nicht das Ganze nach Verhältnis des Raums mehr oder minder, aber doch stets gleichförmig sich ausdehnte. Haben uns denn nicht so viele Versuche längst gelehrt, daß zwar jedes tropfbare Fluidum kompressibel ist, aber in einem so ungemein kleinen Grade, daß von der Aufhebung eines Drucks wie der der Atmosphäre sich eine kaum noch merkbare Vergrößerung ihres Volums erwarten lassen kann? Läßt sich aber ohne Hinzukunft einer neuen Kraft eine andere Wirkung von dieser Aufhebung des Drucks erwarten? Ich meine hier die Torizellische Leere, wie ζ. B. bei dem Versuche, den Hr. de Luc in seinen Briefen an Hrn. la Metherie anführt. — Der neueste Vertheidiger der Theorie der Auflösung des Wassers in der Luft, Hr. Hube, glaubt so sehr seiner Sache | gewiß zu seyn, daß er diese Verdünstung des Wassers im luftleeren Räume von der in einem Räume, der nur mit verdünnter Luft erfüllt ist, gar nicht unterscheidet. Nun ist es schon unbegreiflich genug, wie eine Auflösung durch bloße Ahnahme des Menstruums in demselben Räume zunehmen soll, wie dies beim Verdünsten im Vacuum der Luftpumpe geschieht, aber bei dem Versuche, wo das Wasser in der Torizellischen Leere über dem Quecksilber verdünstet, ist dieses Menstruum nicht einmal erweislich, und die Auflösung soll doch nur um so besser vor sich gehen — Die Vertheidiger dieser Theorie schaden sich selbst am meisten dadurch, daß sie zween ganz verschiedene Dinge, (wie nämlich die Auflösung fester oder tropfbarflüssiger Körper in tropfbarflüssigen, und jene Auflösungen, wo das Menstruum ein elastisch flüssiges ist, offenbar sind,) nicht gehörig unterscheiden — und in dieser Hinsicht dürfte sich nodi
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nicht I blos dem Grade nach, sondern spezifisch verschieden seyn — Man braucht aber blos das Verdunsten eines tropfbaren Fluidums ζ. B. des Wassers im luftleeren Räume mit seinem Sieden in der Aeolipile und dann mit seinem Verdunsten bey jeder Temperatur unter seiner Siedehitze, und bey jedem Grade der Erfüllung jenes Raumes mit Luft, zu vergleichen, um sidi von dem Einerleyseyn des Phänomens in diesen dreien Fällen, und folglich der Unrichtigkeit obiger Voraussetzung zu überzeugen. Erkältung des verdünstenden oder verdampfenden Fluidums, also Wärmebindung ist in allen dreyen Fällen bemerklich, und wenn sich im ersten und zweyten Falle das Vorhandenseyn eines elastischen Fluidums (im Verhältnisse mit der Abnahme des Tropfbaren, woraus sich jenes
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erzeugte) sowohl durch medianische Kräfte offenbart, als durch seine [ Zersetzbarkeit, durch Drude, Kälte oder Berührung hygroskopischer Substanzen zu erkennen giebt, so treten ja alle diese Phänomene auch bey dem gewöhnlichen Verdünsten in der Luft ein. — Diese wird nämlich durch Verdünstung, wenn sie sich nicht auszubreiten vermag, elastischer, und außerdem spezifisch leichter, und es hat sich folglich ein elastisches Fluidum mit ihr verbunden, welches sie zwar nicht ganz, wie dies beim Sieden geschieht, aber dodi zum Theil aus ihrer Stelle treibt, um sich selbst Platz in ihr zu schaffen. Ist endlich das Gefäß, weldies den Dampf oder Dunst aufnimmt, verschlossen, so ist wieder in allen dreien Fällen die Dampf- oder Dunsterzeugung begränzt, und zwar nicht darum, weil das bereits erzeugte und über dem tropfbaren Fluidum sich befindende elastische auf dieses vermöge seiner Elastizität drückt, sondern darum, weil, wie uns Hr. de Luc gezeigt hat, jeder Dampf oder jedes nidit permanente elastische Fluidum, das sich bey irgend einer Temperatur erzeugt und erhält, nur bis zu einer gewissen Gränze ohne Zersetzung zu erleiden, verdichtet werden, und weil also jeder gegebene Raum, er sey nun mit diesem elastischen Fluidum allein, oder außerdem mit mehrern erfüllt, nur eine bestimmte Menge des erstem fassen und erhalten kann"'. Man denke sich den Druck des elastischen Fluidums auf die Oberfläche des verdünstenden tropfbaren völlig weg, und lasse nur | den Druck des erstem in so weit wirksam, als seine Kompressibilität begränzt wird, so wird ganz dasselbe erfolgen. Man sieht übrigens leicht, daß es bey diesem ganzen Raisonnement eigentlich nicht darauf ankommt, wie man sich die Erhaltung des einmal erzeugten Wasserdunstes in der Luft denkt. Man mag nun diese Erhaltung, nach dem Bernoullischen Begrif des Flüssigen, sich mit Hrn. de Luc als ein Gegeneinanderwerfen zweierley Sandes vorstellen, oder nach Kantischen Ideen, beyde Flüssigkeiten sich als wahre Kontinua denken, und ihr Zusammenseyn für ein mechanisches oder chemisches (nur nicht für Durchdringung, wozu auch gar kein Grund vorhanden ist) ausgeben, so wird die erste Erzeugung des Dunstes oder Dampfes doch in jedem Falle auf eine ähnliche, und in keinem Fall nach Hrn. Lavoisier's Art erklärt werden können, und es ist kein Grund gegen die Wahrheit der Saussur'sdien und de Luc'sehen Behauptung vorhanden, daß das unmittelbare Produkt jeder Verdun-
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eher die Auflösung (nämlich letztere) durch die Verdünstung, als diese durch A u f lösung (d. i. die der erstem Art) erklären lassen, wie idi sogleich zeigen will. | * Es steht dahin, ob die Kapazität der Luft für den Wasserdunst, da sie mit ihrer Kompression abnimmt, nicht bei einem gewissen Grade der letztern völlig = o werden, und ob dieses o früher eintreten würde, als die Gränze der Kompressibilität der Luft selbst? — Ueber letztere als einen nicht blos vermeintlichen Dinge wird mein Bruder in seiner Beschreibung des englischen Cylindergebläßes dem deutschen Publikum bald ausführlichere Nachricht geben. |
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stung nicht minder ein elastisches Fluidum (Gas) sey, als das Produkt des Siedens. — Es scheint mir, zufolge der Kantischen Ideen vom Festen und Flüssigen, sehr wahrscheinlich, daß jede Auflösung sich damit anhebt, da β der aufzulösende Körper die Form des auflösenden annimmt, und also aus dem festen Zustande entweder in den tropfbarflüssigen, oder aus diesem in den elastischflüssigen übergeht, und daß er in keinem Falle, wie man sich die Sache gewöhnlich dachte, mit bleibender Form, blos zertrennt wird*. — ¡ Wenn nun aber ein tropfbarflüssiger Körper in einem elastischen wirklich aufgelöst wird, so sehen wir wenigst, daß die erste Bedingung zur Auflösung, nämlich die Formumwandlung nicht unmittelbarer dem Menstruum zugeschrieben werden kann, als dies Hr. de Luc gethan hat. Das den ausdünstenden Körper berührende Medium sey nämlich im ersten Momente der Berührung wärmer oder kälter, oder gleich warm mit ihm, so wird auch in dem letztern Falle ein erstes Ausströmen des Wärmestoffs in selbes, und also ein erstes Losreißen der Theilchen des tropfbaren Fluidums und so fort ihre Umwandlung zu einem elastischen begreiflich, wenn nur die Leitungskraft des Mediums größer ist*, und da wir die spezifische Elastizität des auf diese Art erzeugten elastisdien Fluidums, wenn dieses mit einem andern (auch nur mechanisch) gemischt sich befindet, nie unmittelbar kennen zu lernen im Stande sind, so brauchen wir auch wegen Zersetzung desselben im vorhandenen Falle nicht in Verlegenheit zu seyn, wenn schon dieses andere elastische Fluidum (die Luft) als völliges Kontinuum in allen Punkten und nach allen Richtungen mit ihrer ganzen Elastizität drückte. — Die Assimilazion der Form des aufgelösten Stoffes, und also der erste Anfang der Auflösung selbst wäre folglich hier eigentlich das Werk eines dritten unsichtbaren Agens, und sollte dies | wohl bey allen Auflösungen der Fall seyn? — Spielen nicht ähnlich wirkende Agentien (z. B. das Licht, das elektrische Fluidum) ähnliche Rollen dabey?* — Die weitere Ausführung dieser Idee gehört nicht hieher. Die Fortsetzung
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* Man gab zwar bisher die Ziehkraft des Menstruums als die Ursache an, welche den aufgelöseten Stoff seiner spezifischen Schwere gemäß in jenem sich emporzuheben, oder zu sinken hinderte, aber Hr. Kant erinnert dagegen mit Recht, daß ja diese Ziehkraft als | von allen Seiten gleichstark würkend hieran nicht Schuld seyn kann. * Es ist allerdings möglich, daß zween Körper einzeln gegen einen und denselben dritten Körper zwar keine Disposition äußern, ihm Wärme zu geben oder zu nehmen, und daß doch bei ihrer Berührung unter sich das Gleichgewicht ihrer Wärme gestört wird, und eine neue Vertheilung ihres Wärmegehalts vor sich geht. Idi verweise den Leser auch hier an Hrn. de hue's Schriften. | * In meiner Probeschrift über den Wärmestoff führte ich die Idee, diesen als Anneigungsmittel bei allen Auflösungen anzusehen, ziemlich weitläufig aus, und hier wäre nun ein Versuch, das Wie bei dieser Naturoperation begreiflich zu machen — Dürfte ich übrigens nicht hoffen, daß das deutsche Publikum diese meine Schrift bereits vergessen und als eine meiner Jugendsünden mir vergeben haben wird, so würde ich mit Freude diese Gelegenheit ergreifen, einer Stelle wegen, die die antiphlogistische Theorie betrift, dem berühmten Stifter derselben feierliche Abbitte zu thun, und Ihm dadurch meine Achtung und meinen Dank für das große Werk der Revolution, das Er in Gang brachte, zu bezeugen.
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IV. Aus: Journal der Physik, hrsg. v. Gren, VII 2, 1793, 208 ff. [Johann Tobias Mayer, Hofrat und Professor in Erlangen] O b es nöthig sey, eine zurückstoßende K r a f t in der N a t u r anzunehmen Man nimmt gewöhnlich an, daß zwey Körper von gleichnahmigter Electricität einander abstoßen, weil die Theilchen der electrischen Materie (von einerley Art) einander selbst abstießen, und dadurch die Annäherung derjenigen Körper, worinnen sie sich angehäuft, wiederständen. 2. Allein mir ist kein Versuch bekannt, der diese angeblichen Repulsionskräfte in den Theilchen der electrischen Materie selbst ganz unzweydeutig bewiese. Da viele Repulsionen offenbar nur Erfolge von Anziehungen nach der entgegengesetzten Seite, oft auch bloß Wirkungen eines gewissen Drucks oder Strebens nach Gleichgewicht sind; so läßt (209) sich n a c h der Analogie schließen, daß sich auch das | electrische Zurückstoßen werde erklären lassen, ohne eine andere Kraft nöthig zu haben, als die anziehende, deren reelle Existenz nun einmahl erwiesen ist, wenn wir gleich den Mechanismus ihrer Wirkung nicht weiter zergliedern können. 3. Kann man Zurückstoßen überhaupt, auf Anziehung, oder andere bekannte Kräfte zurückführen, so befolgt man ohnstreitig das Gesetz der Sparsamkeit, und dies ist Pflicht eines jeden Naturforschers, der sich überzeugt hat, daß die Natur selbst sich nach diesem Gesetze richtet. Ich halte es daher für keine überflüssige Mühe zu zeigen, daß wir wenigstens bis jetzt nicht nöthig haben, in der Natur eine Repulsionskraft anzunehmen. 4. Ich wende midi ernstlich zu einigen einfachem Repulsionen, deren nähere Ursache so gleich in die Augen fällt. Wenn ein mit Fett oder Bärlappsamen bestrichenes Kügelchen von Wachs den Rand eines Gefäßes, worinn Wasser ist, zu fliehen scheint, so bedarf es kaum einer Erörterung, daß die Ursache davon in dem Wasserberge liege, der sich von dem Rande des Gefäßes erhebt, und den das Kügelchen nicht ersteigen kann, weil es eine der Schwere entgegengesetzte Bewegung annehmen müsse. Bringt man es mit Gewalt auf jenen Wasserberg, so muß es wie von einer schiefen Ebene herabrollen, und also den Rand zu fliehen scheinen. Hat das Kügelchen aber auch einen Wasserberg um sich herum, z. E. ein (nicht mit Fett bestrichenes) Korkkügelchen, so wird es angezogen, in so ferne sich die Wasserberge des Randes und Kügelchens durch die Cohäsionskraft vereinigen; und so ziehen denn (210) aus einem ähnlichen Grunde auch zwey Korkkügelchen | auf dem Wasser einander an, aber ein Wachskügelchen flieht ein Korkkügelchen, wie vorhin den Rand des Gefäßes. Quecksilber tritt von dem Rande eines Glases zurück, und bildet rings um dasselbe eine Vertiefung, nicht weil es von dem Glase abgestoßen wird, sondern weil die Quecksilbertheilchen unter sich selbst stärker, als mit dem Glase zusammenhängen, oder vielmehr, weil das Quecksilber, wie alle flüssige Materien, eine sphärische Oberfläche annehmen muß, wenn keine andern Kräfte, als bloß die Cohäsionskräfte ihrer Teilchen, in Betrachtung kommen. Jede bestimmte Portion einer flüssigen Materie strebt nemlich nach Rundung oder Kugelgestalt, und nimmt sie vollkommen an, wenn sie durch keinen Widerstand oder sonst etwas daran gehindert wird, weil nicht eher ein Gleichgewicht der Anziehung zwischen den einzeln Theilen derselben statt finden kann, als bis das Ganze jene Gestalt angenommen hat. Befindet sich aber eine Portion einer flüssigen Materie in einem Gefäße, so kann sie begreiflich sowohl wegen des Widerstandes der Wände des
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Gefäßes, als auch wegen der Schwerkraft, und dem Drucke der Luft, ihre Kugelgestalt nicht annehmen, aber doch muß das Bestreben nach Rundung sich auf ihrer Oberfläche zeigen, welche convex ist, so bald keine überwiegende Anziehung nach dem Rande des Gefäßes, sie entweder völlig in eine ebene Fläche, oder gar in eine concave verwandelt, wie bey Wasser in einem gläsernen Gefäße; aber nicht bey dem Quecksilber der Fall ist. Aus einem ähnlichen Grunde erhellet denn auch, warum ein mit Fett bestrichenes Kügelchen auf dem Wasser rings um sich herum eine Vertiefung hat, und gleichsam das Wasser von sich abzustoßen scheint. Warum zwey mit Fett bestrichene Kügeldien einander anziehen, so bald sie einander so nahe kom- | men, daß jene Vertiefungen gleichsam eine einzige bilden, ist nicht schwer einzusehen. j . Daß elastische Körper, wenn sie durch einen äußern Druck eine Aenderung ihrer Gestalt erfahren haben, wiederum in ihre vorige Figur zurückspringen, haben mehrere Naturforscher gleichfalls für einen Beweis zurückstoßender Kräfte ihrer Theilcben ansehen wollen. Man hat sich vorgestellt, daß wenn Theilchen eines Körpers vermittelst einer äußern Gewalt einander gar zu nahe gebracht würden, ihre anziehenden Kräfte sich in zurückstoßende verwandelten, wie in der Algebra bejahte Größen durch Null in verneinte übergiengen, und daß nun diese zurückstoßenden Kräfte die Figur des Körpers herstellten — das heißt doch wirklich mit Kräften umgehen, wie man sie zur Erklärung der Phänomene nöthig hat. Am kürzesten kommt man da freylich davon. — Andre haben die zurückstoßende Kraft sogar als eine wesentliche Eigenschaft der Materie betrachtet, und ihr reelles Daseyn, aus dem Phänomen der Undurchdringlichkeit erweisen wollen. Weil nemlich alle Materie anderer widerstehe, die in ihren Raum eindringen will, dieser Widerstand aber eine Ursache der Bewegung der letztern in entgegengesetzter Richtung sey, Ursache einer Bewegung aber bewegende Kraft heiße, so erfülle alle Materie ihren Raum durch Kraft, und nicht durch bloße Existenz, und diese Kraft sey eine zurückstoßende, weil sie nicht verstatte, daß in dem Räume, wo die Materie sich befinde, zugleich andere sey. Denn der bloße Satz des Widerspruchs könne keine Materie zurück treiben. Nur alsdenn, wenn man dem, was einen Raum einnimmt, eine Kraft beylege, alles äußere Bewegliche, welches sich annähert zu entfernen, verstehe man, wie es einen Widerspruch enthalte; daß in dem Räume, wo ein Ding | ist, zugleich ein anderes von derselben Art eindringen könne u. d. gl.*. Meine Meinung ist, daß wenn Materie den Raum, den sie wirklich einnimmt, vollkommen, d. h. mit Stetigkeit erfüllt (und das müssen wir doch annehmen, weil hier bloß von dem Räume die Rede ist, den sie wirklich erfüllt, nicht von dem, den sie mit Inbegriff des zerstreuten leeren Raumes einzunehmen scheint) es eine absolute Unmöglichkeit sey, ihn noch vollkommener zu erfüllen, und daß daher selbst eine unendliche Kraft nicht vermögend seyn würde, mehr Materie in diesen Raum hineinzubringen, oder welches auf eins hinausläuft, den Raum, den sie würklich erfüllt, zu verringern. Braucht demnach Materie außer ihrer Existenz in dem Räume, den sie erfüllt, wohl noch eine besondere Kraft, um alles andere Aehnliche, was in diesen Raum eindringen will, auszuschließen? Thut sie es nicht bloß durch ihre Existenz in diesem Räume, und ist diese nicht vollkommen hinlänglich die materielle Undurchdringlichkeit zu begreifen? Will man das, was man sonst Undurchdringlichkeit genannt hat, als eine Kraft, und zwar als eine zurückstoßende betrachten, so ist dadurch die Erklärung der Undurchdringlichkeit um nichts deutlicher, und eine qualitas occulta durch eine andere erklärt — und dann kann doch warlich das, was verhindert, daß das * Kants Anfangsgründe der Naturwissenschaft 1787. ]
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Seyn eines Dinges nicht zugleich das Seyn eines andern Dinges ist (und das wäre doch der Fall, wenn sich gedenken ließe, daß an dem Orte, wo Materie ist, zugleich andere seyn könnte) nicht Kraft genannt werden. 6. Aber gesetzt auch, man wolle annehmen, die Materie habe eine zurückstoßende Kraft in dem bisherigen Sinne, nemlidi daß sie dem Eindringen | anderer Materie widerstehe, so ist dodi durch diese zurückstoßende Kraft noch keineswegs das Phänomen der Elasticität erklärt, oder bewiesen, daß alle Materie ursprünglich elastisch sey*; denn unter Elasticität versteht man diejenige Eigenschaft mancher Körper, vermöge welcher die Theilchen derselben ein (von der Schwerkraft unabhängiges) Bestreben haben, den Ort wieder einzunehmen, aus welchem sie durch eine äußere Gewalt verdrängt worden sind. Daraus nun, daß an dem Orte, wo Materie ist, nicht zugleich andere seyn kann, folgt nun zwar, daß ein materielles Theilchen m durch ein anderes η vermittelst einer äußern Gewalt nach einer andern Stelle hingedrängt werden kann, aber nicht, das ersteres m alsdann ein Bestreben habe, den vorigen Ort wieder einzunehmen und η wieder zurückzutreiben. Wenn demnach die Theilchen eines elastischen Körpers aus ihrer natürlichen Lage gebracht worden sind, so versetzen sie sich wieder in die vorige, aber zuverlässig durch eine ganz andere Kraft, als diejenige repulsive, der sie ihre Undurchdringlichkeit zu verdanken haben sollen. 7. Ich behaupte, es sey zur Erklärung der Elasticität fester Körper, gar nicht nöthig, auf irgend eine Art repulsive Kräfte in den Theilchen derselben anzunehmen. Anziehende Kraft in Verbindung mit der Figur der Körpertheilchen, oder auch nur der Art ihrer Zusammenfügung, ist vollkommen hinreichend, das Phänomen der Elasticität zu bewürken. Man setze die Struktur eines Körpers sey so beschaffen, daß Theilchen desselben durch eine äußere Gewalt sich nicht bloß über einander verschieben, sondern wirklich auch etwas außer der Berührung mit ihren benachbarten bringen ließen: zur | Erläuterung setze man, die Theilchen seyen ζ. E. kleine Würfel, welche mit ihren Seitenflächen an einander schlössen. Durch eine äußere Gewalt seyen einige dieser Seitenflächen von dem benachbarten, mit denen sie in Berührung standen, um einen kleinen Winkel getrennt worden, doch so, daß die getrennten Theilchen noch innerhalb der Sphären ihrer gegenseitigen Anziehung bleiben, so ist klar, daß sie sich vereinigen müssen, so bald die Ursache nachläßt, die sie trennte, und der Körper wird also elastisch seyn, d. h. mit dem Bestreben seiner Theildien sich zu vereinigen, seine vorige Gestalt wiederum herstellen. Wenn ich ζ. E. ein Linial biege, und die Theilchen des Holzes auf der convexen Seite des Liniais kommen dadurch in größere Abstände als zuvor, oder berühren einander nicht mehr in so viel Punkten, als vorhin, so wird das Linial sich wieder gerade richten, so wie jene Theilchen durch ihre Ziehkräfte wieder zur vorigen Art ihrer Berührung gelangen. Hier braucht man also keine zurückstoßenden Kräfte in den Theilchen anzunehmen, welche auf der concaven Seite des Liniais einander etwa zu nahe kommen. Hier rückt bloß Anziehung zwischen denjenigen, welche die äußere Gewalt in eine größere Entfernung als zuvor gebracht hatte. Je größer diese Gewalt ist, desto mehr Theilchen werden aus ihrem gegenseitigen Zusammenhange gebracht, eine desto größere Summe von Ziekräften würkt also jener Gewalt entgegen, desto größer ist folglich auch das Bestreben, mit dem sich die Figur des ganzen Körpers wieder herstellt. Ist indessen die äußere Gewalt so groß, daß mehrere Theilchen ganz aus den Wirkungskreisen ihrer gegenseitigen Anziehung verschoben werden, so kann sich freylich die Figur des Körpers nicht wieder * Kant a. a. O. S. 37 u. f. |
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herstellen, das Linial zerbricht entwe- | der, oder richtet sich doch nicht ganz wieder gerade. 8. Die Anwendung des bisherigen auf Körper welche nicht bloß gebogen, sondern durch eine äußere Kraft wirklich in einen kleinern Raum zusammengepreßt werden, ist leicht. Ich will zur Erläuterung den Schwamm nehmen. Dieser besteht aus einem faserichten Gewebe. Beym Zusammendrücken desselben wird nun jede Faser gebogen, und verhält sich wie obiges Linial (7). Es bedarf keiner Erläuterung, wie hier der ganze Körper wegen seiner größern Zwischenräume in einen kleinern Raum zusammengepreßt werden kann, und doch einzelne Theilchen seiner Fasern in größere Abstände als zuvor, kommen können, wie demnach durch die gegenseitigen Ziehkräfte dieser Theilchen, die Fasern sich wieder gerade richten, und der ganze Körper seine Figur wieder annehmen muß, sobald man mit dem Drucke nachläßt. 9. Wie weit sich übrigens ein Körper zusammendrücken, oder audi die Figur desselben abändern läßt, daß die gegenseitigen Ziehkräfte seiner Theilchen sie nicht mehr herzustellen vermögen, das hängt von der Beschaffenheit seiner Zusammenfügung und jenen Ziehkräften ab, so wie denn daraus sich auch die verschiedene spezifische Elasticität der Körper erklären läßt. Bey manchen festen Körpern lassen sich die Theilchen bloß über einander verschieben, es bleibt aber dieselbe Summe von Berührungspunkten, oder vielmehr keine Theilchen kommen in größere Abstände als zuvor. Ein solcher Körper wird keine Elasticität zeigen, die Gestalt desselben wird sich wegen der Verschiebbarkeit seiner Theilchen zwar ändern lassen, aber sie wird sich nach gehobenem Drucke nicht wieder herstellen. | So hat denn meines Erachtens die Erklärung der Elasticität fester Körper, und ihrer Modificationen, keine besondern Schwürigkeiten. Uebrigens ist wohl nicht nöthig, zur Erklärung dieser Erscheinungen mit Hrn. Metternich (m. s. das 2te Heft des iten Bandes dieses Journals S. 212.) anzunehmen, daß die Elementartheile der K ö r per, nur an gewissen Stellen, die Hr. M. Pole nennt, und nidit in dem ganzen Umfange derselben einander anziehen. Schon die verschiedene Figur der Bestandtheile läßt einsehen, wie an gewissen Stellen derselben (z. E. an der flachen Seite eines Würfels) die Anziehung stärker, als an den Kanten desselben seyn muß. Idi habe indessen nichts dagegen, wenn man audi jene Polkräfte für wahrscheinlich hält. 10. Etwas schwerer scheint die Elasticität flüssiger Materie nach den bisherigen Gründen erklärbar zu seyn. Dürfte man sich die Lufttheilchen als unendlich kleine Faserchen vorstellen, deren Gestalt sich beym Zusammendrücken ohngefähr wie beym Schwämme (8) änderte, so wäre die Elasticität der Luft so leicht wie beym Schwämme erklärt. Allein diese Vorstellung hat keinen Beyfall gefunden, wie wohl noch Niemand gezeigt hat, wie die Lufttheilchen eigentlich gestaltet sind. Denselben ursprünglich zurückstoßende Kräfte zuzueignen, vermöge deren sie sich nur immer einem gewissen Abstände von einander erhalten (und das muß doch wohl seyn, weil die Luft nicht zusammengedrückt werden könnte, wenn sich die Theilchen unmittelbar berührten) verträgt sich wieder mit andern Erscheinungen nicht z. E. daß Luftarten sich in concrete Substanzen verwandeln können u. d. gl. Es wird also nöthig seyn, auf eine andere Art die Elasticität der Luft begreiflich zu machen. I 1 1 . Es scheint nach unsern gegenwärtigen Einsichten so ziemlich ausgemacht zu seyn, daß eine jede Luftart durch den Wärmestoff gebildet wird, indem sich derselbe mit irgend einer Substanz verbindet, und sie auflöst. Wollte man nun dem Wärmestoff selbst Elasticität zuschreiben, so wäre ohne weitere Umstände auch die der Luft erklärt. Allein dann könnte man weiter fragen, was den Wärmestoff elastisch machte. Idi will also versuchen,
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ob man nicht die Elasticität der Luft erklären kann, ohne diese Eigenschaft bey dem Wärmestoffe selbst vorauszusetzen. Idi will dem letztern bloß Compressibilität zueignen (und compressibel muß er doch wohl seyn, weil es sonst die Luft nicht seyn könnte, deren Bestandtheil er ist) und zeigen, wie hiedurch, und durch seine Verwandtsdiaft oder Anziehung gegen diejenige Substanz, mit der er sich zu einer Luft verbunden hat, die Elasticität der letztern erklärt werden könne. 12. Eine jede compressible Substanz, welche von den Theilchen eines gewissen Stoffes angezogen wird, muß um diese Theilchen ein Art von Atmosphäre bilden, d. h. sich dergestalt um dieselben herum anhäufen, daß sie, näher bey diesen Theilchen dichter als weiter davon ist. J e stärker die Ziehkraft eines solchen Theilchens ist, desto dichter muß sich eine soldie compressible Flüssigkeit um dasselbe herum ansammeln, und desto ausgedehnter muß die Atmosphäre seyn, die sie um dasselbe herum bildet. 13. Es ist kein Zweifel, daß nicht der Wärmestoff, würklidi solche Atmosphäre um die Theilchen eines Körpers, mit denen er sich zu einer Luft verbunden hat, formire. Seine Verwandtschaft, oder gleichsam seine Schwerkraft zu diesen Theilchen, und | seine Compressibilität macht diese Atmosphäre apriori wahr, wenn sie sich gleich nicht unmittelbar den Sinnen darstellen lassen. Auch haben bereits mehrere Naturforscher diese Vorstellungsart angenommen, und sich derselben glücklich zur Erklärung verschiedener Erscheinungen bedient, welche auf Bindung und Entbindung des Wärmestoffs Bezug haben. 14. Die Dichtigkeit des Wärmestoffs ist in jedem Abstände von dem Körpertheildien, von dem er gezogen wird, ein durch die Ziehkraft selbst bestimmtes Maximum, welches ohne Anwendung äußerer Kräfte, oder ohne eine vermehrte Ziehkraft des Theilchens nicht überschritten werden kann, so wenig als die Quantität des Wärmestoffs, welche das Theilchen vermöge seiner Anziehung fassen kann. An einer jeden Stelle einer solchen Atmosphäre ist gleichsam vollkommene Sättigung mit Wärmestoff, und diese Sättigung richtet sich nach der daselbst statt findenden Ziehkraft oder Verwandtschaft des Wärmestoffs zu dem Körpertheildien, das er umgiebt. Wollte man durch eine äußere Gewalt eine solche Atmosphäre zusammendrücken, so hieße das ihre Diditigkeit in demselben Abstände von dem Körpertheildien vergrößern, also daselbst mehr Wärmefluidum zusammendrängen, als die Ziehkraft des Theilchens fassen kann. Der Erfolg wird seyn, daß nach Aufhören dieses Drucks, jene Dichtigkeit wieder in ihre vorigen Gränzen zurückgehen muß, weil diejenige Quantität des Wärmestofs, weldie an jeder Stelle der Atmosphäre oder in jeder concentrischen Schicht derselben, durch die Ziehkraft des Körpertheilchens erhalten werden kann, nach mechanischen Gesetzen nothwendig diejenige Quantität aus der Stelle verdrängen muß, welche über den Sättigungs- | grad daselbst angehäuft worden ist, und diese Würkung wird so lange dauren, bis das zusammengedrückt gewesene Wärmefluidum sich wieder wie zuvor, durch die ganze Anziehungsphäre des Körpertheildiens vertheilt hat, d. h. alle Schichten der obigen Atmosphäre wiederum diejenige Dichte angenommen habe, die ihnen nach ihrem respectiven Abstände von dem Körpertheildien zukommen kann. Hier dehnt sich also Wärmestoff wieder in den vorigen Raum aus, nicht weil er an und für sidi elastisch ist, sondern weil die Vertheilung desselben durch den ganzen Würkungskreis des Körpertheildiens, das ihn zieht, nicht anders, als nach den angeführten Gesetzen erfolgen kann. 15. Hierzu kommt noch, daß eine solche Atmosphäre von Wärmestoff auch ihre bestimmte Gestalt hat, welche ohne Zweifel mit von der Figur des Körpertheildiens abhängt, welches der Wärmestoff als eine flüssige Materie umgiebt. Wäre dieses Theilchen sphärisdi, so wird es auch die Atmosphäre seyn, womit es umgeben ist, und dies folgt
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aus den Gesetzen des Gleichgewichts, und weil kein Grund vorhanden ist, warum der Wärmestoff in diesem Falle auf einer Seite mehr, als auf der andern angehäuft seyn sollte. Würde diese von der Figur und Ziehkraft des Theildiens abhängende Gestalt der Atmosphäre durth einen äußern Druck abgeändert, so würde sich auch diese wieder herstellen, wie die Figur eines Quecksilbertropfens, den man platt gedrückt hätte. Noch Niemand hat deswegen die Quedksilbertheilchen für ursprünglich elastisch gehalten, oder ihnen gar zurückstoßende Kräfte zugeschrieben. In beyden Fällen sieht man ohne weitere Erläuterung, wie die Herstellung der Figur ein Erfolg des Strebens nach Gleichgewicht ist. I 16. Nunmehr wird klar seyn, wie die Luft elastisch ist, ohne daß man den Lufttheilchen oder den Theilchen des Wärmestoffs, der jene als Atmosphären umgiebt, ursprünglich zurückstoßende Kräfte zuzuschreiben nöthig hat. Will man eine Portion Luft zusammendrücken, so muß man die Atmosphäre der Lufttheilchen, so wohl ihrer Gestalt als Dichtigkeit nach, ändern (14. 15). Aber beyde Aenderungen können nach den (14. i j . ) angeführten mechanischen Ursachen nicht bleiben, so bald man mit dem Drucke nachläßt, und die ganze Luftmenge muß sich demnach wieder in den vorigen Raum ausdehnen. Hier ist also die Elasticität im Grunde bloß ein Erfolg von der Ziehkraft der Lufttheilchen oder ihrer Verwandtschaft zum Wärmestoffe, und der Compressibilität des letztern. Ohne diese Ziehkraft könnte der Wärmestoff keine Atmosphäre um die Lufttheilchen bilden, und innerhalb dieser Atmosphären die oben angeführten Gesetze des Drucks und Gleichgewichts befolgen, die dem Wärmestoffe das Ansehen einer elastischen Flüssigkeit geben. Diese Elasticität ist also hier keine ursprüngliche, sondern bloß eine abgeleitete. Wollte man indessen den Wärmestoff, wie man aus verschiedenen Gründen zu schließen Ursache hat, schon an und für sich als eine elastische Flüssigkeit betrachten, d. h. demselben ein Bestreben sich auszubreiten, zueignen, wenn er auch gleich in einem Räume ganz allein existirte, ohne von Körpertheilchen gezogen zu werden, um die er sich in Atmosphärengestalt anhäufte, so müßte man doch wieder auf eine Vorstellung wie die bisherige kommen, nemlich den Wärmestoff selbst als eine Flüssigkeit betrachten, deren Theilchen mit Atmosphären einer andern ζ. E. etwa des in dem all- | gemeinen Welträume verbreiteten Aethers umgeben wären. Wer dies thun will, dagegen habe ich nichts zu erinnern. Aber die Elasticität des Wärmestoffs zu erklären, brauchte man alsdenn den Aether selbst, nicht elastisch zu setzen, so wie es oben zur Erklärung der Elasticität der Luft, nicht nöthig war, dem Wärmestoffe ursprünglich diese Eigenschaft zu ertheilen. Ich habe nur zeigen wollen, daß man überhaupt Elasticität erklären kann, ohne zurückstoßende Kräfte in der Materie anzunehmen. 17. Die Luft nahe an der Erdfläche wird von der sämmtlich darüber stehenden zusammengedrückt. Es ist also klar, daß hier die Atmosphären der Lufttheilchen nicht ihre wahre Gestalt annehmen können, sondern sich immer in einer Art von Zwange befinden. Die Luft ist also hier in einem beständigen Bestreben, sich auszubreiten, und folgt demselben, wenn der Widerstand gehoben wird, nach dem Maaße, wie es jener Atmosphäre verstattet ist, ihre eigenthümliche Gestalt anzunehmen. Es läßt sich leicht einsehen, warum das Bestreben der Luft sich auszubreiten, in einer größern Höhe über der Erdfläche abnehmen muß. 18. Die spezifische Elasticität der verschiedenen Luftarten ist aus dem mehr oder mindern Umfange und der verschiedenen Dichte der Atmosphären, womit die Grundtheilchen dieser Luftarten nach Maasgabe ihrer verschiedenen Verwandtschaft zum Wärmestoffe umgeben sind, leicht herzuleiten.
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19. Wollte man indessen die bisherige Erklärungsart der Elasticität luftförmiger Substanzen nicht ganz genugthuend finden, und insbesondere an den Atmosphären des (222)
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Wärmestoffs Anstand nehmen, so will idi hier nodi auf eine andere Art zeigen, wie | bloß die Gesetze der Anziehung hinreichend sind, die Elasticität luftförmiger Stoffe zu begreifen. Es ist immer angenehm, sich in das Reich der Möglichkeiten zu verliehren, und daselbst Erklärungsarten zu suchen, unter denen vielleicht einmahl eine durch einen unvorhergesehenen Versuch zu vollkommener Wahrheit wird. 20. Gesetzt demnach, eine Luftart bestehe bloß in der Auflösung eines gewissen Stoffes in dem allgemein verbreiteten Wärmefluidum, und eine Portion dieser Luft sey in einem Gefäße eingeschlossen, worinn man dieselbe vermittelst eines wohl anschließenden Stempels in einen kleinen Raum zusammendrücken wollte. Für die materiellen Grundtheilchen dieser Luft, weldie in dem Wärmestoffe sich aufgelöst befinden, seyen die Zwisdienräume des Gefäßes undurchdringlich, aber nicht für den höchst feinen Wärmestoff, welcher sich mit jenen Grundtheilen zu einer Luft verbunden hat. Was wird geschehen, wenn man in diesem Gefäße die Luft zusammendrücken will? Man wird den Wärmestoff, der an die Basis dieser Luft gebunden ist, nöthigen durch die Zwisdienräume des Gefäßes zu gehen. Im Anfange wird dies leicht gehen, weil hier erst derjenige Wärmestoff, weldier die Lufttheilchen nidit zunächst umgiebt, und ihnen also nur locker anhängt, zu entweichen genöthigt wird. Aber so wie man mit dem Zusammendrücken fortfährt, wird die Gewalt, die man anwenden muß, immer größer, bis sie endlich nicht mehr im Stande ist, den die Lufttheilchen zunächst umgebenden und ihnen also sehr fest anhängenden Wärmestoff, von denselben abzusondern, und durch die Zwischenräume des Gefäßes zu treiben. Nun hört die weitere Zusammendrückung auf, und man sagt, die Luft I in dem Gefäße sey im höchsten Grade gespannt. Allein man sieht leidit, daß dieser Ausdruck nicht so verstanden werden muß, als wenn die Lufttheilchen ein Bestreben hätten, einander abzustoßen. Man sollte vielmehr sagen, die zusammengedrückte Luft ist um eine gewisse Quantität ihres fortleitenden Fluidums, nemlich des Wärmestoffs, beraubt worden, und sucht nun begierigst, vermöge ihrer Ziehkrafl zum Wärmestoffe, sich mit dieser Quantität wiederum zu sättigen. So lange sie in jenem zusammengedrückten Zustande ist, kann sie dies nicht, weil die Lufttheilchen einander zu nahe sind, so viel Wärmestoff zwischen sich aufzunehmen, als sie nach ihren Ziehkräflen vermögen. Läßt man, durch Nachlassung jenes Drucks den Lufttheilchen völlige Freyheit, so wird der Stempel zurückgetrieben, nicht, weil die zusammengedrückte Luft ursprüngliche Elasticität hat, sondern weil sie jetzt so viel Wärmestoff, als sie verlohren hatte, aus dem Apparat und der umgebenden Luft wiederum einsaugen, und sich damit sättigen kann, wodurch sie denn in einem größern Raum ausgebreitet werden muß, wie ein jeder Körper, der in seine Zwisdienräume ein Fluidum aufnimmt, wie ein Schwamm, der Wasser einsaugt. 2 1 . Ich finde in dieser Erklärungsart gar nichts widersprechendes, ja sie scheint mir viel zu einfach und der Beschaffenheit der Natur angemessen zu seyn, als daß ich sie für eine bloße Hypothese halten könnte. Ueberdem ist ja auch durch Thatsacben erwiesen, daß Luft beym Zusammenpressen würklich Wärmestoff fahren läßt. Schon Boerhahaave (Elem. Chem. p.II.pag. 480) behauptete, daß zusammengedrückte Luft die Wärme, wie ein Schwamm das Wasser von sich gebe. Hieher ge- | hören auch die Versuche, welche die Herren Fox und Strutt zu Derby (M. s. Erasm. Darwins Versuche über die Erzeugung der Kälte u. s. w. Phil. Trans. 1788. und Hrn. Prof. Grens Journ. der Phys. I. B. 1790. S. 74) angestellt haben, da sie bey der Verdichtung der Luft in einem Reci-
Anhang
215
pienten an beyden Enden der Compressionsröhre einen sehr merklichen Unterschied der Temperatur fanden, so wie denn audi umgekehrt Luft, wenn sie Freyheit bekömmt, sich auszudehnen, würklich von den umgebenden Körpern Wärmestoff einsaugt, und in diesen eine Verminderung der Temperatur bewiirkt, wie aus verschiedenen merkwürdigen Erfahrungen erhellet, welche idi in meiner Abhandlung über die Gesetze und Modificationen des Wärmestoffs (Art. 15 5 u. f.) angeführt habe. 22. Daß, wenn die Luft nicht sehr stark und sànell zusammengedrückt wird, freylidi keine merkliche Aenderung der Temperatur in den umgebenden Körpern, welche den durch den Druck losgewordenen Wärmestoff einsaugen, wahrgenommen werden kann, erhellet daraus, weil dieser Wärmestoff sich durch die ganze Masse des Apparats und der umgebenden Luft vertheilt, und also nur eine geringe Quantität desselben auf die Kugel eines außen angebrachten Thermometers würken kann. Der Einwurf, daß innerhalb des Raumes, wo die Luft zusammengedrückt worden ist, eine Verminderung der Temperatur entstehen müßte, wenn aus diesem Räume vermittelst des Drucks Wärmestoff vertrieben wird, kann ebenfalls nicht statt finden, weil die Temperatur nicht von der Quantität des Wärmestoffs allein abhängt, wie aus meiner oben angeführten Schrift gleichfalls mit mehreren ersehen werden kann. | 23. Wollte man mit Hrn. de Luc den Wärmestoff selbst für eine zusammengesetzte Flüssigkeit halten, für eine Art von Dunst, der aus der Verbindung eines gewissen Stoffes mit irgend einem andern Fluido ζ. E. dem Lichtstoffe oder Hrn. Eulers Aether, zusammengesetzt wäre, so ließe sich auch gedenken, daß beym Zusammendrücken der Luft, das mit ihr verbundene Wärmefluidum bloß eines Antheils seiner fortleitenden Flüssigkeit, nemlidi des Lichtstoffs oder Aethers beraubt würde, weither durch die Zwischenräume des Gefäßes entwiche, wie vorhin der Wärmestoff selbst. Dann würde in Ansehung des Bestrebens, was die Luft hat, sich auszubreiten, wenn man mit dem Drucke nadiläst, dieselbe Erklärungsart bleiben, wie vorhin. Nemlidi es würde der an die Lufttheilchen gebundene Wärmestoff aus dem Apparat und den umgebenden Körpern, wiederum das fortleitende Fluidum anziehen, was er verlohren hatte, und dadurch selbst, so wie die Luft, deren Bestandtheil er ist, wieder in den vorigen Raum ausgedehnt werden. 24. Idi finde wirklich schon diese Erklärungsart bey mehrern ältern Naturlehrern, und glaube, daß man sie zu bald vergessen hat. So sagt ζ. E. der sinnreiche Jesuit Lanis in seinem magisterio naturae et artis (Brixiae 1684) Tom. II. pag. 222. Prop. IX. Vis elastica est impetus aetheris vel etiam alterius, subtilis materiae, quae poris corporum se intrudens eos conatur dilatare et partes corporis a se invicem removere u. s. w. Den Aether selbst setzt er nicht elastisch, sondern sagt von ihm, quod sit perfectissime fluidum, homogeneum et continuum, quod nullos poros habeat, sed poros omnium corporum, sicut spongia aquam, penetret (p. 362. sqq.). Ueber die Möglichkeit einer solchen Flüssigkeit, | welche ein vollkommenes Continuum ist, kann man in Hrn. Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, die Beweise finden. Mir ist hinreichend, gezeigt zu haben, wie der Wärmestoff, als eine Flüssigkeit, welche mehr als Hypothese ist, die Elasticität der Körper bewürken kann, ohne daß man nöthig hat, eine zurückstoßende Kraft anzunehmen. Idi glaube, daß die gegebenen Erklärungsarten nichts Gezwungenes enthalten. Idi wende mich nun insbesondere zu den electrischen Repulsionen . . .
(225)
(226)
Literatur
I.
Ausgaben
Kants gesammelte Schriften, herausgegeben v o n der Königlich Preußischen (Preußischen, Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 191 o ff. Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, hrsg. v o n Raymund Schmidt, Philos. Bibliothek 37a, Hamburg 1956 Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern, hrsg. v. M a x Heinze, A b handl. d. philol.-hist. Klasse d. K g l . Sachs. Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1894
Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants, hrsg. v . Arnold Kowalewski, München und Leipzig 1924 Immanuel Kants Vorlesungen über Enzyklopädie und Logik, hrsg. von Gerhard Lehmann, Berlin 1961 (darin als Anhang die sogenannte Berliner Physiknachschrift) II.
Abhandlungen
Adickes, E.: Kants Opus postumum, dargestellt und beurteilt, Berlin 1920 Oers.: Z u r Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant, in: Kant-Studien 27, 1922, S. 328 ff. Ders.: K a n t als Naturforscher, 2 Bände, Berlin 1924 f. Albrecht, W . : Die sogenannte neue Deduktion in Kants Opus postumum, in: Archiv für Philosophie j , 19J4, S. 57 ff. Allgemeine
Literaturzeitung,
Jena 1785 ff. ( A L Z )
Baader, F.: Ideen über Festigkeit und Flüssigkeit, zur Prüfung der physikalischen Grundsätze des Herrn Lavoisier, in: Grens Journal der Physik V i , Leipzig 1792, S. 2 2 2 ff. Born, M.: D i e Relativitätstheorie Einsteins, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1964 Daval, R . : L a métaphysique de Kant, Paris 1951 Gehler, J. S. T . : Physikalisches Wörterbuch, 4 Bände und 1 Supplementband, Neue A u f l a g e Leipzig 1799 ff. (unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. 1789 ff.) Hoppe, H . : Kants Theorie der Physik, Frankfurt/Main 1969 Hübner, K . : Leib und Erfahrung in Kants Opus postumum, in: Zeitschr. f. philos. Forschung 7, 1953, S. 204 ff. Ders.: Das transzendentale Subjekt als Teil der Natur, Diss. Kiel 1951 Lachièze-Rey,
P.: L'idéalisme kantien, 2. Aufl. Paris 1950
Literatur
217
Lehmann, G . : Ganzheitsbegriff und Weltidee in Kants Opus postumum, in: Kant-Studien 4 1 , 1936, S. 307 ff. D e « . : Das philosophische Grundproblem in Kants Nachlaßwerk, in: Blätter f. dte. Philos. I i , 1937/38, S. 5 7 f f . Ders.: Kants Nachlaßwerk und die Kritik der Urteilskraft, Berlin 1939 (Neue deutsche Forschungen Bd. 247) Ders.: Zur Problemstellung von Kants Nachlaßwerk, in: Il Pensiero 6, Milano-Varese 1961 Ders.: Erscheinungsstufung und Realitätsproblem in Kants Opus postumum, in: KantStudien 45, 1953/54, S. 140 ff. Ders.: Zur Frage der Spätentwicklung Kants, in: Kant-Studien 54, 1963, S. 491 ff. Lichtenberg, G.C.: J . C. P. Erxleben, Anfangsgründe der Naturlehre, 4. Aufl. bearbeitet v. Lichtenberg, Göttingen 1787 Lienhard, F.: Die Gottesidee in Kants Opus postumum, Diss. Bern 1923 Lüpsen, F.: Das systematische Grundproblem in Kants Opus postumum, in: Die Akademie II, Erlangen 1925 Mathieu, V. : La Filosofia trascendentale e 1" Opus postumum di Kant, Turin o. J (Biblioteca di Filosofia 12) Mayer, Joh. Tobias: Ob es nöthig sey, eine zurückstoßende Kraft in der Natur anzunehmen, in: Grens Journal der Physik V I I 2, Leipzig 1793, S. 208 ff. de Vleescbauwer, H . J . : La déduction transcendentale dans l'oeuvre de Kant, Bd. 3, Antwerpen/Paris/Den Haag 1937, S. 552 ff. Vuillemin, J . : Physique et métaphysique kantiennes, Paris 1955 Ψ arda, Α . : Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922
Namenregister Adickes 3, 4, 5, 6, 8, 9, 12, 15, 19, 21, 22, 23, 24, 27, 30, 32, 33, 34, 36, 37, 43, 44, 46, 52, 53, 55, 61, 82, 91, 94, 121, 122, 123,128,142,157, 167, 178, 184— 188 Albredit 12 Allgemeine Literaturzeitung 39, 40, 41, 43, 44
Helmholtz 187, 188 Hermbstädt 43 Heyne 41, 47 Hobbes 185 Hoppe 12, 13 Hübner 12 Huyghens 186
Baader 40, 44, 49, 51, 185 Bacon 185 Bayle 185 Beck 31, 37, 46, 50, 53 Berlinische Monatsschrift 41 Born 188 Bosco wich 41
Jachmann 44 Joule 187, 188
Chladny 52 Crawford 44 Crusius 185, 186 Daval 12 Descartes 119, 185, 186 Dohna 43 Einstein 28 Erxleben 42, 187 Euler 29, 55,119 f., 185,186 Fischer 83 Gassendi 185 Gehler 29, 41, 42 f., 45 f., 49, 52—55, 56, 141, 187 Gensichen 41 Girtanner 43, 45 Göttingische Anzeigen 16, 40, 47 Göttingischer Rezensent 16, 40, 47—49, 80, 95, 96, 98, 137 (s. audi: Mayer) Gren 40, 43, 44, 45, 48, 49, 53, 185 Hagen 45 Hamberger 185
Kästner 91, 152, 156 Kiesewetter 31, 158 Krause 185 Lachièze-Rey 12 Lambert 38, 116 Lanis 55 Laplace 27, 52, 57, 77, 78, 79, 111, 185 Lavoisier 40, 43, 44, 45, 47, 49, 75, 185 Lehmann 4, 8, 11, 12, 13, 32, 53, 62, 93 f., 98 Leibniz 27, 118, 169 Lichtenberg 41, 42, 43, 47, 187 Lienhard 12 Linck 40 Linné 133 Locke 119, 185 de Luc 43, 55, 185 Lüpsen 12 Malebranche 119 Mathieu 4, 9, 11, 22, 94 f. Mayer, Joh. Tobias 40, 43, 44, 46, 47, 48, 49, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 98 Mayer, Robert 185,187 de la Metherie 44 Michelson 28 Milton 167 Morley 28
220
Namenregister
Natorp 3 Newton 42, 91, 93,109,110,118,119,120, 169, 172 f., 181, 185
Schulz 8 Silberschlag 185
Pictet 44 185 '
Vaihinger 9, 122 de Vleesdiauwer 12 Voltaire 185 Vuillemin 61, 70
D
" Reicke 5 Scheele 52 Schütz 42, 47
Windelband 3 Wolff 185
Sachregister
Äther, Wärmestoff (Ganzes bzw. System der bew. Kräfte, dynamisches Kontinuum) als „Randthemen" der MA 31, 36 f. als Strukturelement der Materietheorie des o. p. 17 f., 25—27, 28, 29 f., 45, 52, 55, 61, 69—71, 73—76, 77—79, 81—84, 123, 127, 131, 141 f., 143—147, 148—153, 160—164 pass., 169, 180 als Strukturelement der Materietheorie der 70er Jahre 33 f., 45 Eigenschaften und Unterschiede dieser „Stoffe" problematisch 17 f., 26 f., 34, 54 f., 71, 73—75, 82 f., 170,172 als physikalischer (hypothetischer) Stoff 52, 54, 172 f. Verhältnis zum Substanzbegriff 127, 131, 141 f., 146, 172, 181 als Begriff bzw. Idee mit transzendentaler Funktion 145, 151—154, 169—177, 181, 183 f. als solcher einer transzendentalen Deduktion bedürftig 146 f., 148—153, 177 f., 183 f. wissenschaftlich überholte Begriffe 28, zu Kants Zeiten jedoch legitim 29 f. und Thema der wissenschaftlichen Diskussion 43—46, 51, 54 f. „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" 41, 118 Antiphlogistische
Chemie 42—44
bewegende Kräfte als (Verbindungs-) Begriffe a priori 125—127, 129 f., 132—135, 137, 143 f., 151 f., 163, 169—172 (s. audi: Äther) als problematische Begriffe, deren objektive Realität fraglich ist 136, 138, 143 f., 154 f. als Grundbestimmung des Gegenstands äußerer Sinne 148 als qualitas occulta 128 Dynamik:
s. Materietheorie, Obergang
dynamistische Auffassung von Materie bei Baader 49 f., 196 ff. s. im übrigen: mechanistische Auffassung, Materietheorie der MA Gott (27), 166 Kategorien als Systemschema zur Begründung der Materietheorie bzw. der Systematik der Physik 19, 20—22, 23 f., 34, 37—39, 69, 77, 86 f., 129, 131, 183 als Begriffe vom Gegenstand überhaupt 22 problematisches Verhältnis zu den neuen „Verbindungsbegriffen" der bew. Kräfte 87,126 f., 133 f.; bzw. zur Idee des dyn. Kontinuum 175—178, 183; s. auch: Substanz „Kritik der reinen Vernunft" 3, 38, 65, 72, 75, 85, 94, 119, 127, 130, 135, 140, 146, 147, 152, 164, 170, 171, 172, 175, 176, 177, 183, 189
Sachregister
222
s. audi: Theorie der Erkenntnis a priori „Kritik der Urteilskraft"
3, 13
Manuskript des o. p. Entstehungszeit, Beschaffenheit, Interpretationsprobleme 4—14 mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft 88 f., 91, 93, 106—121, 125, 136 f., 152, 154, 181 Materietheorie (allgemein) Kants philosophisches Interesse an ihr 19, 37—39, 86, 180, 183 frühe Spekulationen zur M. 32—34 Tendenz, ihre systematische Unterordnung unter die Transzendentalphilosophie zu beseitigen 75 f., 84—87 nur als transzendentales Problem auf der Ebene der Transzendentalphilosophie zu behandeln 75 f., 120—122, 143 f., 153 f., 159, 162 f., 172, 177—179, 182 f. (s. auch : Materietheorie im o. p.) Materietheorie der MA Korrektur von Einzelpositionen 17, 19, 31, 47—56 pass., 56—61, 69—71, 79—81, 90—122 pass., 137, 140, 148, 149, 153, 179 f. „Randthemen" (wichtig für das frühe o. p.) 30—33 verglichen mit älteren Reflexionen 32—34 Funktion der Kategorien in der M. 34 f., 37 f. Kants Einschätzung der M. 34—37 ihre Funktion in der Transzendentalphilosophie 37—39 Zirkel in der M. 46 f. Kräftemodell der Materie kritisiert 60 f., 69 f., 103 Repulsionslehre kritisiert (v. Mayer) 47—49, 52—54 Dynamik gelobt (v. Baader) 49 f., (v. Mayer) 51 impliziert die Existenz materieller Punkte 57—60, 77—81, 100 f., 102—105, 140, 179 f. ihr Substanzbegriff mechanistisch 100 f., 103, 140 ihr Materiebegriff mechanistisch 102, 106, 181 auf Formalismus a priori reduziert 62—65, 79 f. auf Phoronomie reduziert 88, 90 f., 92—100, 105 f., 117, 125, 154, 156 am phoronomisdien Grundkonzept gescheitert 105 f. Konzeption der Naturwissenschaft als Bewegungslehre gescheitert 116 f. mit „mathematischen Anfangsgründen" identisch, an der Unvereinbarkeit mathematischer und philosophischer Erkenntnisprinzipien gescheitert 108—120 struktureller Unterschied zur Theorie des o. p. 179 f. Materietheorie im o. p. Frühform (älteste Lose Blätter) 16—19 Ok 24—27, 57—61 unmoderne Terminologie 28—30 neues Konfliktmodell der Kräfte 60 f., 69—71, 78 A—C 70—75 β—ε 1 81—84 spätere Lose Blätter 123—128 entwickelt sich seit „a—c" allmählich zu einer transzendentalen Disziplin 129—131, 132—135, 137, 143—154, 160—162, 169—172, 173—178, 180—183 umfaßt seit „A. Elem. Syst. 1" audi Organismusphänomene 164—169
Sachregister
223
unterscheidet sich strukturell von der Theorie der MA 179 f. Detailprobleme zurückgedrängt 183 ihre historische Einschätzung 185—189 mechanistische versus dynamische Auffassung von Materie unklare Frontenbildung im 17. und 18. Jahrhundert 184—188 mechanistische Restbestände in den MA: s. Materietheorie der MA „Metaphysik der Sitten" 64 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (in allgemeiner Bedeutung als metaphysische Grundlegung der Physik) Unentbehrlidikeit für die Physik 84 f., 87, 124 f., 132 f., 143—145 mit dem „Ubergang" identifizierbar 86, identifiziert 148 neue, im o. p. erst noch zu entwickelnde Theorie 86, (148), 182 (vgl.: Materietheorie, Theorie der Erkenntnis a priori) „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" (Kants Buch von 1786) Göttingisdie Rezension der MA 16, 40, 47—49, 95, 98, 137 Rezeption 39—42, 44—46, 47—56 Apologie der MA (s. audi: Übergang) 64 f., 79—81, 84—89, 98—100 ihr Scheitern und seine Gründe 35—39, 90—122, insbes. 117—122 Stellung im kantischen System (s. auch: Theorie der Erkenntnis a priori) 76, 177, ihr Wegfall öffnet Lücke im System 157—160, 180 implizieren angeblich den „Übergang" 84 f., 135, 164 „unechte Zitate" 182 Mayers Kritik 208 fi., Mayers Kritik referiert v. Gehler 193 ff. Würdigung bei Baader 196 ff. („Monadologia physica") 118, 169 „Nova dilucidado"
118
Phlogiston 42 Physik s. Materietheorie, Übergang Substanz materielle S. (und Masse) als intensive Größe 18—20, 27, 33, 50 klassischer Begriff korrigiert (117), 131,139—142,146 f., 160, 172, 181 f. Begriff von materieller S. in den MA mechanistisch, impliziert die Existenz materieller Punkte 100 f., 103, 117, 140 Verhältnis zum Begriff des Äthers bzw. Wärmestoffs 127, 131, 141 f., 146, 172, 181 skeptisches Verfahren Kants 35 f., 65, 78—81, 83 f., 123 f., 137—139, 154 Theorie der Erkenntnis a priori, Transzendentalphilosophie muß um Prinzipien der Dynamik erweitert werden 75 f., 86 f., 120—122, 130, 132— 135, 146, 153 f., 158—160, 177 f., 181—184 synthetische Urteile a priori vom eigentlich-Empirischen? 147, 152, 155, 162 Lücke im System 157—160, 182 f. „Träume eines Geistersehers° 169 „Uber die Vulkane im Monde" 41
224
Sachregister
Übergang alsTitel des geplanten Werks 8, 10, 15, 21, 31, 61 f. als Systemproblem 8, 19, 21, 31 f., 61—65, 75 f., 77, 157—159 als ad-hoc Lösung 31 f.; als in sich widersprüchliche apologetische Konstruktion 61— 65, 80 f., 84 f.; muß aufgegeben werden 117, 178, 181 f. liefert Systematik für die Physik, enthält (regulative) Prinzipien der Naturforsdiung 63 f., 71 f., 124 f., 132, 134,135—137, 138, 143 f., 154, 162—164 enthält Bedingungen der Möglidikeit der Erfahrung 75 f., 84 f., 86 f., und entwickelt sidi zu einer transzendentalen Dynamik 132—135, mit konstitutiver Funktion 137, 143 f., 162—164 (s. auch: Materietheorie im o. p.) Wärmestoff s. Äther