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German Pages 307 [308] Year 1995
Metamorphosen des Politischen
Metamorphosen des Politischen Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren Herausgegeben von Andreas Göbel, Dirk van Laak und Ingeborg Villinger
Akademie Verlag
Abbildung auf dem Einband: Gert Arntz, Wahldrehscheibe (1932) Der Band wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Metamorphosen des Politischen : Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren / hrsg. von Andreas Göbel . . . - B e r l i n : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002790-8 NE: Göbel, Andreas [Hrsg.]
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: Frank Hermenau Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei D. Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Dirk van Laak Einleitende Bemerkungen
7
I. Ausgangsdiagnosen Carl Schmitts Henrique Ricardo Otten Der Sinn der Einheit im Recht Grundpositionen Carl Schmitts, Gustav Radbruchs und Hans Kelsens
25
Andreas Koenen Visionen vom "Reich" Das politisch-theologische Erbe der Konservativen Revolution
53
Raphael Gross Jesus oder Christus? Überlegungen zur "Judenfrage" in der politischen Theologie Carl Schmitts . . . .
75
Günter Meuter Die zwei Gesichter des Leviathan Zu Carl Schmitts abgründiger Wissenschaft vom "Leviathan"
95
II. Alternativen in Weimar Ingeborg Villinger Der Souverän verläßt den Turm Hofmannsthals Dramatisierung des Verlustes politischer Einheit nach Carl Schmitt
119
Wolf gang Eßbach Das Formproblem der Moderne bei Georg Lukäcs und Carl Schmitt
137
Marcus Llanque Die Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar und die Logik von Einheit und Vielheit (Rudolf Smend, Carl Schmitt, Hermann Heller)
....
157
6
Inhalt
Ulrich K. Preuß Die Weimarer Republik - ein Laboratorium für neues verfassungsrechtliches Denken
177
III. Anknüpfungen und Abgrenzungen in der Bundesrepublik Thomas Vesting Die permanente Revolution Carl Schmitt und das Ende der Epoche der Staatlichkeit
191
Horst Firsching Am Ausgang der Epoche der Staatlichkeit? Ernst Forsthoffs Sicht der Bundesrepublik Deutschland als paradigmatischer Staat der Industriegesellschaft
203
Dirk van Laak Die fehlende Staatsidee Eine Dokumentation von Martin Draths unvollendeter Abrechnung mit dem "Begriff des Politischen"
219
Reinhard Mehring Bürgerliche statt demokratische Legitimität Dolf Sternbergers Auseinandersetzung um den Begriff des Politischen
233
IV. Aktuelle Diagnosen und Prognosen Friedrich Balke Das Zeichen des Politischen
249
Andreas Göbel Paradigmatische Erschöpfung Wissenssoziologische Bemerkungen zum Fall Carl Schmitts
267
Armin Adam Deutscher Patriotismus? Zwei Anmerkungen zur Diskussion über die deutsche Nation
287
Personenregister
297
Über die Autoren
305
Dirk van Laak
Einleitende Bemerkungen
I. Die Beiträge zu diesem Sammelband handeln von einem klassischen Thema der politischen Theorie. Für die meisten Beiträger, überwiegend eines Alters, ist freilich die Frage nach der politischen Einheit und den Mechanismen ihrer Herstellung lange ohne größere Bedeutung gewesen. Der "Staat" erschien uns Bewohnern der (alten) Bundesrepublik als das größte aller Dienstleistungsunternehmen, "Nation" hat uns nichts mehr gesagt, und die "Verfassung" machte sich, wenn sie im Namen der "Freiheitlich-demokratischen Grundordnung" und mit Hilfe ungeliebter Erlasse gehütet wurde, vornehmlich als Repressionsgrundlage bemerkbar. Charakteristisch war uns das Wort des Bundespräsidenten Gustav Heinemann auf die Frage eines Reporters, ob er den Staat liebe: "Ich liebe meine Frau". Von der aktuellen Evidenz des Themas sind wir alle noch immer überrascht. Für jemanden, der "Einheit" eher mit Beengung und Uniformierung assoziierte, der "Verwestlichung" als etwas Unaufhaltbares erfuhr, mußte etwa das Festhalten an nationalen Grenzen als Anachronismus erscheinen. Jetzt dämmert es auch unserer Generation, wie stark diese einheitsfernen, ja -feindlichen Vorstellungen von unbegrenztem Wirtschaftswachstum und zivilisatorischem Optimismus getragen waren, deren Berechtigung nicht erst seit heute füglich in Frage gestellt werden können. Bislang für selbstverständlich gehaltene Konnotationen politischer Einheits-Instanzen mit der gerechten Verteilung des Sozialprodukts, mit gesellschaftlicher Liberalisierung, politischer Demokratisierung und individueller Selbstverwirklichung haben sich verwischt. Sicher hätte die neu entfachte Debatte um das Nationale nicht diese Dynamik, wenn sich ihr nicht längerfristige Umorientierungen zugesellt hätten, vor allem die wachsende Abwendung vom 'social engineering' spätbürgerlicher Zivilgesellschaften, das in der "sozialliberalen Epoche" der 70er und 80er Jahre nahezu europaweit praktiziert wurde. Seit langem scheint sich die Frage nach der "technischen Realisation" eher zu stellen als die nach dem Wesen des Politischen, besonders nach der einheitsstiftenden Bedeutung von fürsorgender Verwaltung und von Infrastrukturen aller Art, die in diesem Jahrhundert vielleicht mehr zur räumlichen und sozialen Integration getan haben als alle Politik dies vermochte. 1 1
Hierzu der Rückblick bei Thomas Vesting: Politische Einheitsbildung und technische Realisation. die Expansion der Technik und die Grenzen der Demokratie, Baden-Baden 1990.
Über
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Dirk van Laak
Die Errungenschaften dieser pragmatischen Sozialpolitik werden zwar in allen Gesellschaften weithin akzeptiert, ihr Hang zu Hypertrophie und Seelenlosigkeit aber haben stets auch Widerstand hervorgerufen. Gegen technokratische Zentralisierungstendenzen und eine als schrankenlos empfundene Modernisierungseuphorie wurden, namentlich seit den 70er Jahren, erneut stärker regionale und partikulare Orientierungen ins Feld geführt. An die Stelle politischer Integrationsinstanzen setzte sich zunehmend ein subnational und eher kulturell verstandener Begriff von Identität. Als Symbol eines einheitlichen Anmutungsempfindens nachmoderner Gruppenorientierungen war er derart erfolgreich, daß er freilich schon binnen kurzem bis zur Unkenntlichkeit inflationierte. Auch in der DDR war der Begriff der "Einheit" von Beginn an für viele diskreditiert, weil er stets auch mit erzwungener Alternativlosigkeit konnotiert worden ist: Einheitspartei, EmAetogewerkschaft, Einheit der Arbeiterklasse und des sozialistischen Lagers usw. - nicht von ungefähr lief die fuhrende Theoriezeitschrift der Staatspartei unter diesem Etikett. "Identitätsbildung" sollte hier im rousseauistischen Verständnis auf eine Einheit von Regierenden und Regierten hinauslaufen. Doch sowenig sich dies in die Tat umsetzen ließ, ja der Abstand zwischen beiden Herrschaftsebenen statt dessen bis zur gegenseitigen Wahrnehmungslosigkeit wuchs, sowenig löste sich auch nach außen hin die Hoffnung auf einen proletarischen Internationalismus ein. Das "Deutschland einig Vaterland" aus der Becherschen "National"-Hymne durfte nicht mehr gesungen werden. Die DDR begann, unter ihrer Nichtanerkennung als eigenständiger Staat zu leiden, sie pochte empfindsam auf die Nichteinmischung und wandte sich zunehmend dem sog. "nationalen Erbe" zu. Aber kann man dies schon als Beweis für die Existenz von gegen Nivellierung resistenten Kernen der Einheitsbildung werten? Seit der wiedererlangten deutschen Einheit fallen einmal mehr neugierige Blicke auf Deutschland als Paradigma staatlicher Entwicklungen, wenn es auch im Lande selbst so aussieht, als würden vornehmlich die "Folgen der Einheit" thematisiert. Nicht nur an den Rändern der Mitte werden - jenseits des technischen "Anschlusses" - seit 1989 mit Vehemenz die einheitsbildenden Kräfte diverser politischer Mythen beschworen, deren Existenz in der windstillen Phase des Kalten Krieges fast überwunden (oder doch jedenfalls verschwunden) schienen. Neuerliche Evokationen einer "selbstbewußten Nation" 2 blenden konkretere Ausführungen über die Struktur eines solchen Deutschland aber einstweilen noch aus. Ist der aktuelle Nationalismus als ein Zurückfallen in überkommene kollektive Identitäten zu werten, das man vor allem in Osteuropa abwiegelnd und etwas zynisch auf vorläufige Anschlußprobleme an den internationalen Markt zurückführen sollte? Sind "Staat", "Nation", "Vaterland" etc. überhaupt noch adäquate Begriffe unserer Zeit oder sind sie Begriffsfetische und Kampfformeln einer abgelaufenen Epoche? Ist nicht das vereinigte Europa - als Beispiel der überwundenen Souveränitäts- und Autonomiegläubigkeit gedacht - bei der Suche nach vorpolitischen Gemeinsamkeiten der Europäer durchaus erfolgreich gewesen?
2
Heimo Schwilk u. Ulrich Schacht (Hg.): Die selbstbewußte Nation. "Anschwellender Bocksgesang" und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin/Frankfurt a.M. 1994.
Einleitende Bemerkungen
9
Die Reflexionen der letzten Jahrzehnte über ein plurales Europa der Regionen und der schubhafte Abbau der Akzeptanz von Staatssymbolik und Einheitsrepräsentanzen in allen europäischen Ländern ließen diesen Schluß jedenfalls zu.3 Die historischen Wissenschaften der westeuropäischen Staaten orientierten ihre Forschungen immer stärker auf Grenzüberschreitendes und gingen dabei stillschweigend von der Annahme aus, das Zeitalter der Nationalstaatlichkeit neige sich seinem Ende zu. Mit dem Abschied vom "Zeitalter der Ideologien", so glaubte man, würden alle Politikmodelle an Kraft verlieren, deren Telos sich weltanschaulich definiere. Auch in Teilen der Sozialwissenschaften herrschte seit längerem die Überzeugung vor, daß die postmoderne Gesellschaft - ob national oder international - nicht mehr normativ integriert wird noch werden kann. Vielmehr läßt sich dort eine starke Vorliebe zu Denkmodellen feststellen, die systemische statt inhaltliche Integrationsmechanismen beschreiben. Die Luhmannsche Systemtheorie hat die vielleicht elaborierteste Soziologie dieser Art von Einheitsbildung vorgelegt. Die "kritische Theorie" hat das kommunikative Handeln gleichfalls als Mechanismus einer Übereinkunft von Fall zu Fall beschrieben, nicht als Abstimmungsmodus mit der ideologischen Gruppenräson vorgegebener politischer Einheiten. Neuere kultursemiotische Theorien behaupten analog, nicht die Nationen hätten den Nationalismus geschaffen, sondern umgekehrt: "Nation" sei ein ideeller Signifikant für die Gemeinsamkeit von Leuten, die sich nicht kennen, auf die aber gemeinsame Gefühle und Affekte übertragen werden können.4 Nation hat ganz offenbar etwas mit Gefühl zu tun, und wenn das Nationale kollektive Erregungen nach wie vor hoch schlagen läßt, so ist dies auch auf das darin angelegte, unhintergehbare und periodisch wiederkehrende Motiv eines aggressiven Egalitarismus zurückzuführen, der die Grenzen in Zeiten der Not lieber nach außen als nach innen zieht.5 Gegen den aufgeladenen Nationalismus steht nach wie vor das "Projekt Europa", welches jetzt anstelle von Staaten sämtliche Widersprüche des "Nation-building" zwischen
3
Konterkariert worden ist die Europabegeisterung stets von Befürchtungen, es werde hier ein bürokratischer Moloch genährt (vgl. jüngst Hermann Lübbe: Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, Berlin 1994. Das Motto, so Lübbe, müsse lauten: "So wenig Einheit wie nötig, so viel Selbständigkeit kleiner und kleinster Einheiten wie möglich."). Auch von staatsrechtlicher Seite gibt es eine Fülle berechtigter Einwände (vgl. etwa Joseph H. Kaiser: "Deutschland im Schatten von Maastricht. Unvereinbare Prinzipien in den politischen Konzepten zu einer europäischen Währungsunion", Wirtschaft und Wissenschaft, 2. Jg., Heft 2 [Mai 1994], S. 2-9).
4
Hans Petschar: "Nation? Volk? Rasse? Antwort auf die Frage: Wie man Kollektive (Identifikationen) schafft", in: ders. (Hg.): Identität und Kulturtransfer. Semiotische Aspekte von Einheit und Wandel sozialer Körper, Wien/Köln/Weimar 1993, S. 223-250, hier S. 226 f. sowie ders.: "Ansichten des Volkes. Über die Transformationen von Kollektivvorstellungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert", in: Karl Käser u. Karl Stocker (Hg.): Clios Rache. Neue Aspekte strukturgeschichtlicher und theoriegeleiteter Geschichtsforschung in Österreich, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 173-199; s. auch Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts [1983], Frankfurt a.M. 1988 sowie Eric J. Hobsbawm u. Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983.
5
So Heinz Bude: "So groß sind wir gar nicht. Zwischen Nation und Gesellschaft: Wie die Bundesrepublik neu erfunden werden müßte", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Januar 1994, Nr. 24, Beilage Bilder und Zeiten.
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Dirk van Laak
Souveränitätssplitting und Norm(durch)setzung auszugleichen hat.6 Kann im Angesicht von Maastricht und Währungsunion überhaupt noch zu partikularen, geschlossenen und raumgebundenen Gemeinschaften zurückgekehrt werden? Sind die zu Universalismen neigenden, pluralen und offenen Gesellschaften nicht schon unwiderruflich? Oder sind die Polaritäten, wie sie zwischen notwendigen Selbstbehauptungs- und Handlungseinheiten auf der einen Seite sowie allem Individuellen, was sich gegen Vereinnahmung sperrt, auf der anderen Seite bestehen, nicht unaufhebbar? Jedenfalls sind die Entfremdungsgefühle sicher ernst zu nehmen, die durch immer längere Handlungsketten supranationaler Einheiten entstehen, die den Einfluß des politischen Individuums immer stärker schwinden lassen. Sie äußern sich in Deutschland vielleicht am heftigsten beim Festhalten am Surrogat ihrer Staatssymbolik, der Deutschen Mark. Es spricht vieles dafür, daß wir es mit einer immer schon gegebenen Frontstellung zu tun haben, mit einer Dialektik von Einheit und Vielheit, bei der das Einende bald auf seiten der Technik oder der Wirtschaft, das Spaltende bald auf Seiten der Politik oder der Lebensstile steht, bald ist es umgekehrt. Sind zwischen normativen, diskursiven und systemischen Integrationsmodellen vermittelnde Lösungen denkbar, wie der in den USA debattierte "Kommunitarismus" dies anzubieten scheint? Auf dem Weg fort von den klassischen Feldern des gesellschaftlichen Ausgleichs sieht der öffentliche Raum, in dem sich diese Wandlungen vollziehen, vornehmlich Metamorphosen des Politischen: die Elemente scheinen bekannt, aber ihre Konfiguration ändert sich. Fragt sich nur, wie.
II. Die politischen Wissenschaften, deren Aufgabe es ist, solche Prozesse deutend zu begleiten, scheinen vor einer Situation zu stehen, wie sie in dieser Offenheit zuletzt wohl in den 20er Jahren bestand. Jede aktuelle Irritation, zumal wenn sie so stark emotional unterfüttert ist, ruft historische Besinnung und Rückvergewisserung hervor, und ein Großteil der folgenden Beiträge versucht dies zu leisten und Linien in die Gegenwart zu ziehen. Eingesetzt wird dabei mit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Damit wird auf eine Zeit zurückverwiesen, die über Deutschland hinaus eine Laboratoriumsphase unterschiedlichster Einheitsvorstellungen bildete, die ihrerseits zurückgriff auf eine lange Tradition der politischen und Staats-Theorie. Reflexionen über politische Einheitskonzepte im Sinne von 'polis' oder 'demos', 'populus' oder 'civitas', 'imperium', 'regnum' oder 'res publica' gab es seit Piaton und Aristoteles und von Cicero bis zu Jean Bodin. Dabei ging es zumeist um die Regierungsformen, die Art des guten Regierens oder um die Staatsräson.7 Die Einheit war in diesen älteren Vorstellungen oft stillschweigend vorausgesetzt oder konstituierte sich in Ab-
6
Vgl. Richard Münch: Das Projekt Europa. Zwischen Nationalstaat, regionaler Autonomie und Weltgesellschaft, Frankfurt a . M . 1993. Zum Begriff "Nation-building" Karl W. Deutsch: Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972.
7
Vgl. den ideengeschichtlichen Abriß von Alexander Passerin d'Entreves: "The State", Dictionary the History of Ideas, V o l . IV, N e w York 1973, S. 3 1 2 - 3 1 8 .
of
Einleitende Bemerkungen
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grenzung zu Nachbar-Poleis, in denen schon die Griechen potentiell stets die Barbaren vermuteten. Reinhart Koselleck hat gezeigt, wie diese Abgrenzungen zu einem fremden Äußeren hin über die Jahrhunderte an Schärfe zugenommen haben: aus dem Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren wurde der Unterschied zwischen Christen und Heiden, um sich schließlich in die Trennung von Mensch und Unmensch, von Übermensch und Untermensch zu radikalisieren.8 Hierin liegt die Feststellung eines fatalen Mechanismus', der Integration durch Abgrenzung nämlich, die stets in Gefahr ist, in ideologisches Sendungsbewußtsein umzuschlagen. Als das langfristig verhängnisvollste der modernen Einheitstheoreme in diesem Sinne muß die neuzeitliche völkische Ideologie der Menschenrassen gelten. Sie basiert auf einer vermeintlich wissenschaftlichen Ausarbeitung der mittelalterlichen Vorstellung, die Unterschiede zwischen den Völkern seien auf klimatische Einflüsse oder die unterschiedliche Nahrung zurückzuführen und hätten sich manifestiert in wertbesetzten und nicht mehr nivellierbaren kulturellen Auseinanderentwicklungen. In einer solchen, auf der Prävalenz von Erbanlagen gegründeten Gedankenwelt findet freilich jede Staatstheorie ein Ende, denn Fragen des menschlichen Zusammenlebens geraten hier außerhalb des Kommunizierbaren. Die politischen Einheitstheorien der Moderne aber haben zumeist andere Wurzeln: zwar beruhen auch sie auf einem anthropologischen Werturteil über das gute oder böse Wesen des Menschen, doch bleiben hier gegenüber allen Determinationen die Möglichkeiten von Gesellschafts- und Umweltgestaltungen zum Besseren hin bestehen. Gerade die Konfrontation mit dem Fremden im Gefolge der europäischen Expansion in die neuen Welten forderte außerdem eine Begründung für schon bestehende kulturelle oder zivilisatorische Differenzen heraus. Der scheinbar fortschreitende Zerfall öffentlicher Ordnungen in nachreformatorischen Gesellschaften ist eine weitere Ursache des neuzeitlichen Nachdenkens über den Staat. Nach einer Phase, die auf die "konfessionellen Bürgerkriege"9 des 16. und 17. Jahrhunderts mit Theorien machiavellistischer Machtoptimierung antwortete, setzte das aufklärerische Denken des 17. und 18. Jahrhunderts demgegenüber beim Naturzustand des Menschen an und sah zumeist Vernunftgründe am Werk, wenn die Menschen den Zustand individueller Gefährdung in einem einheitlichen Gemeinwesen zu überwinden versuchen. Vor allem englische und französische Theorien haben das Sich-Vertragen der Menschen in einem solchen Staat im Bild eines Vertrages symbolisiert. Staatsgründungen dieser Periode, etwa die Vereinigten Staaten, operierten folglich mit der Idee eines solchen Vertrages - einer rational durchkonstruierten Verfassung nämlich, die zugleich in ihrem Menschenrechtsteil bereits über sich hinauswies auf potentiell 8
Reinhart Koselleck: "Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe", in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a . M . 1989, S. 2 1 1 - 2 5 9 . Carl Schmitts Unterscheidung von "Freund und Feind" hat Koselleck übrigens in diesem Zusammenhang ausdrücklich für seinen formalen und andeutenden Charakter gelobt. Dieser erlaube es, die Bestimmung des Politischen von Funktionalismen und Ideologemen zunächst einmal freizuhalten (ebd., S. 2 5 8 f.).
9
Diese auch von Carl Schmitt gepflegte Epochenbezeichnung ist sicher nicht unproblematisch und bedarf einer Reihe komplementärer Kennzeichnungen, um das Zeitalter ausreichend zu charakterisieren.
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Dirk van Laak
universalistisch zu denkende Einheiten.10 "Menschheitlich" zu denken gehört zur Bestimmung des aufklärerischen Denkens, und seit Kant und Goethe (wenn auch bisweilen paradoxerweise in Geheimgesellschaften) ist das "Weltbürgertum" selbst in Deutschland nicht mehr abgerissen. Ob der Universalismus der Menschenrechte freilich zum Friedensgaranten zwischen unterschiedlichen politischen Einheiten taugt, ist bekanntlich stark umstritten. Historisch gesehen trat seit Mitte des 18. Jahrhunderts dagegen als Erbe der Territorialstaaten die Nation als Einheitsgebilde hervor - eine Vorstellung vom kollektiven Gemeinsamen, die sich auf Artverwandtschaft, Kultur- oder politische Schicksalsgemeinschaft gründete11 und gerade in politisch zersplitterten Landschaften programmatischen, ja propagandistischen Charakter bekam. Weil es zunächst als Banner der von politischer Partizipation Ausgeschlossenen figurierte, besaß Nation als Konzept stets eine enge Verbindung zu homogenen Gesellschaftskonzepten und zur Demokratie. Als Funktionsmedium dachte die politische Theorie dieser Zeit weiterhin den Staat, der, von wem auch immer regiert, die Einheit von Wirtschaft und Gesellschaft herzustellen und zu wahren bzw. den 'Willen zur Vernunft' (Hegel) zu verwirklichen hatte. Unterhalb der Momente nationalen Pathos' aber mutierte der Staat im 19. Jahrhundert vorwiegend zu einer rational-bürokratischen, entpersonalisierten Organisation, die sich über alle Partikularismen wenigstens mit einer einheitlichen Gesetzgebung hinwegzusetzen versuchte. Konfessionelle, soziale und politische Gegensätze freilich vermochte er nicht einzuebnen.12 Ein Begleitphänomen dieser Prozesse ist die Herausbildung der westeuropäischen Soziologie; als wissenschaftliche "Politikberatung" gedacht, prognostizierte sie in der Regel noch recht optimistisch eine evolutionär oder revolutionär, sozialtechnisch oder politisch hergestellte Wiedervereinigung der Gesellschaft in der baldigen Zukunft, zumeist unter Führung einer planenden Intelligenz. Zugleich - und nicht zuletzt durch das Ausbleiben dieser irdischen Nah-Erwartungen - bekam die Vorstellung der Nation ihre besondere Dynamik nach außen, weil sie aufgeladen war durch die Idee, diese trüge ihre Geschichtsmächtigkeit als kollektiver Handlungsträger in sich selbst und namentlich in ihrer Stärke. Die Folgen des Umschlags von einem friedlichen Patriotismus in aggressiven Nationalismus - zumal in der "verspäteten Nation" Deutschland - brauchen hier nicht ausgeführt zu werden.13 Was
10 Vgl. Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Von Hobbes bis zur Gegenwart, Darmstadt 1994, dort u.a. zu den modernen amerikanischen Fortsetzern James Buchanan, John Rawls und Robert Nozick. Das Selbstbild der U S A scheint bis heute davon auszugehen, daß in der Geschichte des Landes Einheitsbildung ohne Feindbilder nach außen, also gleichsam ohne universalistischen Sündenfall, vollzogen worden ist (vgl. den Tagungsbericht von Michael Jeismann in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v o m 23. Februar 1994, S. N5). 11 "Nation" hieße eine "vereinigte Anzahl Bürger, die einerley Gewohnheiten, Sitten und Gesetze haben", definierte beispielsweise der "Zedier" (Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 23, 1740, S. 902). 12 Vgl. den instruktiven Essay von Thomas Nipperdey: "Einheit und Vielfalt in der neueren Geschichte", Historische Zeitschrift, Bd. 2 5 3 (1991), S. 1-20. 13 Nach Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne, Berlin 1990 (zuerst 1983) ist dieser Umschlag in den Nationalismus ein notwendiges Begleitphänomen der Modernisierung eines Staates.
Einleitende Bemerkungen
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als nationale Einigung unter "Kaiser und Reich" begann, tauchte nach 1933 unter der Parole "Führer und Reich" und unter sich verschiebenden Kriterien wieder auf. Dabei entfernte sich die maßgebende Einheitsidee fort von jeder Normorientierung und Verfassungsbindung und tendierte zu einer flexibilisierten und "Bewegungs"-geleiteten Reichsvorstellung, die zunehmend radikaler in der Wahl ihrer Integrations- und Ausschlußkriterien wurde. Doch vom Ziel eines organischen Volks-Ganzen blieb allein der Macht- und schon kurz darauf der Überlebens-Wille übrig. Dieser Weg war nicht zwingend, und deshalb setzt unser Band in den 20er Jahren ein, einer Zeit, die gedanklich eine Fülle von politischen EinheitsVorstellungen durchspielte. Neben dem gewaltsamen Ende des zweiten Reiches war für die hier erinnerten lebhaften Debatten in Weimar der Durchbruch von Zeitdiagnosen verantwortlich, die den sich immer schneller vollziehenden Wandel von homogenen Gemeinschaften in die anonyme Gesellschaft als Begleiterscheinung der Moderne deuteten - und mehrheitlich beklagten. Wenn Stefan Breuer festgestellt hat, den rechtskonservativen Theoretikern der 20er Jahre sei außer einem diffusen "neuen Nationalismus" inhaltlich nichts gemeinsam gewesen,14 so stimmten sie in ihrer Diagnose doch mehrheitlich überein: Elegien über den Verlust von Einheit und Ganzheit sowie den rasanten Abbau ihrer Symbole, Formen und Repräsentanzen war ein obligatorisches Element nicht nur der rechten Kulturkritik. Von der Kunst wurde dieser Tatbestand oft produktiv gewendet, und die legendär lebhafte Geistigkeit von der Jahrhundertwende bis in die 30er Jahre hinein entsprang sicher eben dieser Irritation. Für das Weimarer Staatswesen aber erwies sich diese Unsicherheit als verhängnisvoll. Trotz vieler Angebote gelang die Übertragung eines affektiv unterfütterten Einheitsbewußtseins auf die Bevölkerung nicht. Die Verfassung, so gut sie ausgearbeitet war, blieb ein Normengefuge, dem seine Integrität und Würde immer wieder abgesprochen wurde. Statt dessen wurde der Weimarer Staat nicht selten als seelenloser "Betrieb" empfunden, dessen sich partikulare Interessen von Fall zu Fall und nach Gutdünken bedienen. Eine Stabilisierung über historisch gewachsene Milieus und Lebenswelten gelang kaum noch, und weder Wirtschaft noch Außenpolitik brachten überzeugende Erfolge hervor, die über diese Defizite hätten hinweghelfen können. Die theoretische Suche nach Alternativen, nach neuen Identifikationen "höherer Ordnung", neigte zu Synthesen staatlicher und gesellschaftlicher Problemlösungsstrategien. Charakteristisch für die Zeit waren auch Entwürfe technischer Großprojekte, die eine zerstrittene politische Landschaft in einem gemeinsamen Aufbauwerk erneut zu integrieren versuchten. 15 Im folgenden soll jedoch die Einheitsbildung als eine politische Frage bzw. eine Aufgabe der Politik Geltung behalten, keine, die sich sachtechnisch über die
14 Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993: "Dieser extreme Nationalismus ist sozial inklusiv, er durchschlägt die gesellschaftliche Gliederung wie die Eigentumsordnung, zertrümmert die checks and balances, die das liberale Zeitalter errichtet hatte, und schmilzt die Individuen in ein Kollektiv ein, das zu einem Großsubjekt mit charismatischen Attributen hypostasiert wird. Er ist, wenn man so will, eine politische Religion unter den Bedingungen der Säkularisation." (Ebd., S. 194) 15 Erinnert sei an das von Richard Graf Coudenhove-Kalergi und seinem "Paneuropa"-Konzept inspirierte "Atlantropa"-Projekt des Münchner Architekten Herman Sörgel.
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Dirk van Laak
Ökonomie, die Technik, die Infrastrukturausstattung etc. lösen ließe, wie dies viele der sozialphilosophischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts erhofft hatten. Die politische Theorie Weimars verstand sich meist zu Entwürfen eines "dritten Weges", der die einheitsstiftenden Elemente eines Staates, einer Nation oder Verfassung je unterschiedlich konfigurierte. Die Weimarer Verfassung schien hier uneindeutig, auf halbem Wege steckengeblieben zu sein, so daß die regen politischen sowie staats- und verfassungsrechtlichen Debatten ihre Ursache nicht lediglich in der Orientierungslosigkeit nach dem Ende des "zweiten Reiches" hatten, sondern auf der Basis realer Gestaltungserwartung standen. Die für solche Fragen "zuständige" Staatsrechtslehre konstatierte diesen Mangel Weimars zwar frühzeitig. Doch statt ihn zum status quo hin auszugleichen, suchte ihn die überwiegende Mehrheit ihrer Träger durch eigene Zielvorgaben zu überwinden. Ihnen war i.d.R. gemeinsam, daß sie den allgemeinen Vergesellschaftungsprozessen ein diffuses Gemeinschafts-Sehnen gegenübersetzten, das zwar nicht mit Anti-Moderne schlechthin gleichzusetzen ist, das sich aber doch meist dazu unterstand, eine neue und kritische Bewertung der "Moderne" vorzunehmen. Ihr wurde unterstellt, viele der kohärenzstiftenden Institutionen der Gesellschaft aufgelöst zu haben, vor allem die Religion, aber auch die soziale Gliederung, die repräsentative Herrschaft unhinterfragter Autoritäten oder die Souveränität selbständiger Staaten. An ihre Stelle sei immer stärker ein partikularer oder individueller Wunsch nach Autonomie getreten und habe einen ebenso autonomen Bereich des Politischen hervorgebracht. 16 Die einflußreichsten Analysen dieses mit der Reformation in Verbindung gebrachten Prozesses (Max Weber, Ernst Troeltsch) machten für die politische Verdrängung der Theologie und für die Durchsetzung einer säkularen Wirtschaftsgesinnung meist die nicht-katholischen christlichen Derivate verantwortlich. Stimmt man dieser Diagnose im wesentlichen zu, bestehen die zentralen Fragen seitdem letztlich in der Definition, wo diese Autonomie endet, an welcher Stelle sie sich nicht weiter differenziert und abgrenzt, wie Gesellschaften gegen diese Trends dennoch integriert werden können und auf welcher Ebene eine homogene Einheit fortan herzustellen ist. Diese Probleme haben die politische Theorie seitdem bestimmt, und man wird nicht behaupten können, daß es der politischen Praxis noch einmal gelungen sei, eine ungebrochene Einheitsbildung zu vollziehen.
III. Was man aber sehr wohl behaupten kann, ist, daß bei aller Theoriebildung über Staat und Politik in Deutschland und darüber hinaus Carl Schmitt fortan irgendwie immer mit am Verhandlungstisch gesessen hat. Schon in den 20er Jahren ist er einer der profiliertesten Vertreter dieser Diskussionen gewesen; zugleich war er einer der am längsten nachwirkenden. Sich auf Carl Schmitt zu beziehen scheint heute zwar die Erfüllung
16 Hans-Georg Flickinger (Hg.): Die Autonomie des Politischen. digten Begriff, Weinheim 1991.
Carl Schmitts Kampf um einen beschä-
Einleitende
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Bemerkungen
einer Prophezeiung zu bedeuten, die Schmitt selbst durch die Namensgebung seines Hauses in Plettenberg beschworen hat, daß er nämlich dereinst wie der heilige Cassian von seinen Schülern mit ihren Griffeln erstochen wird - allzu zahlreich sind inzwischen die Untersuchungen über ihn. Noch immer aber spielt die Beschäftigung mit Schmitt ihre besonderen Vorteile aus: in Auseinandersetzung mit seinem Werk bekommt man eine ganze Epoche des Nachdenkens über politische Einheitsbildung in den Griff, die eben skizzierte Epoche der modernen Staatlichkeit nämlich, die Schmitt wie kaum ein zweiter in allen möglichen Facetten durchleuchtet hat. Das Erstaunliche ist daneben, daß - soweit wir das übersehen - die Frage der von Schmitt imaginierten letzten Einheit bislang kaum als geklärt gelten kann. War es die rechtsetzende Verfassung als Ausdruck einer politischen Entscheidung? War es der Staat im eher vormodernen, absolutistischen Sinne? Oder war es die ins Mittelalter rückweisende, katholische ita'c/w-Vorstellung? Mal wird Schmitt als Etatist, mal als Nationalist bezeichnet, an beidem aber sind Zweifel angebracht. Daß Schmitt nicht im Staat die letztgültige Einheit erblickte, scheint schon die Tatsache zu erhellen, daß seine völkerrechtlichen Konstruktionen die Integrität und Souveränität von Staaten hinter die Nichteinmischung in Einflußsphären großräumig ausstrahlender Reiche zurücktreten ließ. Schmitt, der "Staatsrat" und Theoretiker des "totalen" Staates, verstand sich als politisierender Jurist, dem in einer Art von translatio definitionis die Nachfolge der Theologen zukam. Seine Aufgabe sah er darin, sich über die Grundspannungen und -begriffe des säkularen Zeitalters klarzuwerden. Dazu arbeitete er an politischen Symbolen und an einer Sprache, die ihn von seinen Gegnern oft spürbar abzusetzen verstand. Die folgenden Beiträge sind durchaus nicht einheitlicher Ansicht über das, was Schmitt als oberste Einheit vorgeschwebt hat. Doch werden einzelne seiner Argumentationsstränge deutlicher sichtbar und ergänzen sich zu einem Kaleidoskop der Grundfragen politischer Einheitsbildung, wie sie seit den 20er Jahren (wenn auch vornehmlich in Deutschland) diskutiert worden sind. In den meisten Beiträgen erscheint Schmitt kaum noch als aktueller, dennoch aber als ein lohnender Denker, weil er zur verworrenen Problematik der Einheitsbildung im 20. Jahrhundert die vielleicht vielfältigsten Beiträge geliefert hat. Deshalb ist er auch für das Verständnis gegenwärtiger Diskussionen nach wie vor instruktiv, auch wenn seine Analysen nicht immer zutreffend gewesen sind. Die Frage nach der politischen Einheitsbildung wird in diesem Band vornehmlich nach innen hin gestellt, nicht in Abgrenzungen nach außen - auch hier lohnten die von Schmitt ausgegangenen Impulse sicher einen weiteren Sammelband, etwa die Frage nach der Intervention in fremde politische Einheiten, nach dem Prinzip der "Nichteinmischung" etc. Ein erster Block versucht, in deutlicher Abgrenzung zu bisherigen Definitionen, Carl Schmitts Einheitsvorstellungen in der für ihn maßgeblichen Zeit der 20er/30er Jahre zu rekonstruieren. Alle Beiträge sind sich mit einer Reihe neuerer Wertungen darin einig, den politischen Theologen Schmitt ins Zentrum zu stellen, vermeiden es aber, seine Positionen zu einer ausschließlichen Glaubenssache zu stilisieren. 17 Sie basieren auf
17 So Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung und Politischer Philosophie, Stuttgart 1994.
von Politischer
Theologie
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Dirk van Laak
allerneuesten und z.T. unveröffentlichten Untersuchungen, deren Ergebnisse - ohne jede Übertreibung gesagt - den künftigen Forschungsstand zu Schmitt mitdefinieren werden. Henrique Ricardo Otten erinnert in seinem Beitrag an den Vorlauf der Weimarer staatsrechtlichen Debatten, an die Auseinandersetzungen um den Rechtspositivismus, der noch um die Jahrhundertwende, der Zeit bürgerlichen Einheitsvollzugs über das Gesetz, nahezu uneingeschränkt die juristischen Meinungen zu beherrschen schien. Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 wurde zum Symbol dieser lange erhofften Einheit des Rechts. Die späteren Weimarer Justizgrößen Gustav Radbruch und Carl Schmitt haben in ihren ersten, noch in der letzten Phase des Kaiserreiches erschienenen Werken ihre späteren Standpunkte in Auseinandersetzung mit Positivismus und Naturrechtsvorstellungen entwickelt. Wer setzt das Recht und wie sichert man es ab? Wie ist es mit der Geltung des Rechts beschaffen? Wie muß Souveränität definiert werden und wer soll ihr Träger sein? Rechtsphilosophische und rechtsdogmatische Fragen bildeten nicht nur für Schmitt den Einstieg in die politische Theorie, die bei Schmitt jedoch, anders als bei vielen anderen, auf eine politische Theologie hinauslief. Andreas Koenens Beitrag handelt von der Schmitts Werk insbesondere seit dem Ende der 20er Jahre zugrundeliegenden Vision vom Reich in einem katholisch-abendländischen Verständnis. Die Säkularisierung des Politischen versuchte Schmitt in Zusammenhang mit anderen Reichstheologen mit einer Wiederbelebung des "Sacrum Imperium" des Mittelalters zu beantworten. Koenen stellt dar, wie die Nationalsozialisten in Begriff und Mystik des "Dritten Reiches" eine gezielte Einbindungspolitik dieser Teilgruppe der Konservativen Revolution betrieben, freilich mit der zugrundeliegenden Theologie nichts zu schaffen hatten. Nur kurz sollte es gelingen, nach 1933 so etwas wie eine schlagkräftige Einheit nahezu sämtlicher Konservativen Revolutionäre zu schmieden: schon am 30. Juni 1934 folgte dem aufbruchs-visionären Zuckerbrot der erste unübersehbare Peitschenhieb. Schmitts Schriften verfielen gerade von 1934 bis 1936 in ihren radikalsten Ton. Der Beitrag von Raphael Gross verweist darauf, wie Schmitts Denken über die Möglichkeiten von Homogenität sich schon frühzeitig in einer Grenzziehung verfing, die nicht lediglich rechtlich-staatsbürgerlich definiert war, sondern völkisch. Diese Bestimmung wurde von Schmitt zwar nicht positiv gefüllt, doch stimmte er mit vielen seiner Vorläufer seit dem 19. Jahrhundert, etwa mit Bruno Bauer, darin überein, daß jedenfalls die Juden nicht zu dieser Einheit dazugehören sollten. Erinnert sei hier an Treitschkes Wort, das jüdische Volk sei eine "Nation ohne Staat". Daß im Ausschluß eine tödliche Unausweichlichkeit liegen kann, wenn keine Alternativen für die aus dem homogenen Volkskörper Ausgeschlossenen bedacht oder sie mit dem Feind-Kriterium belegt werden, mag nicht jedem Reichstheologen und Propagandisten eines "völkischen Nomos" bewußt gewesen sein. Man wird sich hier vor nachträglichem besseren Wissen des Geschichtsverlaufs hüten müssen. Im Falle Carl Schmitts jedoch wird man zweifelsfrei bleiben können, daß er jede Konsequenz der gedanklichen Kompromißlosigkeit in dieser Frage mitbedacht hat. Dem selbstgestellten Zwang seines intellektuellen Temperaments unterworfen, auch getäuschte Erwartungen in einen kontinuierlichen Denkweg einzubauen, sah sich Schmitt nach den Ereignissen von 1934-36 zu einer Bearbeitung seiner Optionen genötigt. Seine
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Texte wurden z.T. "abgründig" und vieldeutig. Am Beispiel des Leviathan, seines vielleicht enigmatischsten Buches von 1938, zeigt Günter Meuter, wie Schmitt, nach einer Phase des durchaus weltlichen Engagements für das "Dritte Reich", gleichsam zurückfindet zum theologischen Gehalt der Formel vom "totalen Staat". An Thomas Hobbes, dem Staatsdenker am Beginn der Epoche der säkularen Staatlichkeit, zeigt Schmitt die Vieldeutigkeit dieser historischen Zäsur und verbindet damit eine in ihrer Subtilität kaum noch wahrnehmbare Kritik an der Realität des "Dritten Reiches". Der nationalsozialistische Leviathan wird als Erscheinungsform des Bösen benannt und durch mehrdeutiges Schweigen beantwortet, ein Schweigen, das von Schmitt selbst in der Nachkriegszeit als Schritt zum Widerstand interpretiert werden sollte. Der lebhaften und auf hohem Niveau geführten, durch die Zeitumstände aber abgebrochenen Debatte um politische Einheitsbildung in den 20er und frühen 30er Jahren wendet sich ein zweiter Block zu. Schmitts Ruf, die Aufmerksamkeit, die er auf sich zog, basierte vornehmlich auf seinen diagnostischen Frühschriften bis etwa zum Begriff des Politischen Mitte/Ende der 20er Jahre. Sie enthielten schlagende Analysen der bestimmenden politischen Kräfte einer Zeit, die von intellektuellen Kreisen aller Lager als ablaufende empfunden wurde. Schmitts kühn reduzierte Verständnisangebote wurden auch von denjenigen gerne aufgegriffen, die um dichterische Gestaltung ihrer Zeit rangen. Im Falle Hugo von Hofmannsthals läßt sich die Wirkung der Lektüre Schmitts genau belegen: Ingeborg Villinger weist nach, wie die zweite Fassung des Schauspiels Der Turm an begrifflicher und gedanklicher Präzision entschieden gewann, nachdem ihr Autor sich der Anregungen aus Die Diktatur und Politische Theologie vergewissert hatte. Hofmannsthal und Schmitt verband sicher das Bedauern über den Verlust der klassischen Souveränität miteinander, während Schmitt und Georg Lukäcs, wie Wolfgang Eßbach beschreibt, biographisch zwar überraschende Parallelen verbanden, die auch zu ähnlichen Analysen über die Formprobleme der Moderne gelangten, sie letztlich aber diametral unterschiedliche Visionen verfolgten. In Reaktion auf die nationalsozialistische "Bewegung", deren schiere Dynamik jeder politischen Theorie Hohn sprach, wurde gerade auf der Linken - und in bezeichnend ausführlicher Auseinandersetzung mit Carl Schmitt - über Alternativen zu dieser Art politischer Integration nachgedacht. Sie äußerten sich in totalitären Gegenthesen, vor allem aber in einer bewußten und in dieser Zeit nahezu hoffnungslos erscheinenden Hinwendung zum Pluralismus als einheitsbedingender politischer Organisationsform. Marcus Llanque stellt die staatsrechtlichen Debatten Weimars der für die heutige Diskussion noch wesentlichen Hauptkontrahenten Rudolf Smend, Hermann Heller und Carl Schmitt als Auseinandersetzung um das Verhältnis von Einheit und Vielheit dar. Schmitt habe hierzunehmend radikaler werdende Homogenitäts Vorstellungen vertreten, während Smend und Heller versucht hätten, die bestehenden Spannungsverhältnisse integrativ auszutarieren, statt sie aufzulösen. Das immer entschiedener und existentieller Werdende seiner Entwürfe brachte Schmitt in verhängnisvolle Nähe zum Nationalsozialismus und zu dessen Utopie völkischer Homogenität, die durch einen integrativen Gewaltakt die Politik nach innen insgesamt zu überwinden hoffte.
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Auch Ulrich K. Preuß erscheint die Weimarer Republik als ein Laboratorium für neues verfassungsrechtliches Denken. Sie habe unmittelbarer als das Kaiserreich vor der Aufgabe gestanden, Demokratie und Kapitalismus miteinander in Deckung bringen zu müssen. Der dabei geradezu notwendig entstandene Pluralismus von Klassen und Verbänden kam im Weimarer Parlamentarismus jedoch zu einem Austrag mit großen Reibungsverlusten. Daher mußte er bisweilen als äußerst ineffektiv erscheinen. Mehr noch: Carl Schmitt und anderen erschien die Weimarer Verfassung als in ihrem Einheitsentwurf so unentschieden, daß dahinter vermeintlich stets die Möglichkeit einer Diktatur lauere, was von ihm als eine Variante der Selbstbehauptung des ethnisch homogenen Volkes aber durchaus begrüßt wurde. Hermann Heller indes habe dieser Vorstellung einer vorpolitisch definierten Gemeinschaft das Bild einer pluralen, aber integrativen Gesellschaft gegenübergestellt. Seine Labordiagnose einer "sozialen Demokratie" sollte sich aber erst nach 1945 als weitreichender erweisen als die Entwürfe Schmitts. Wohl selten war die Vorstellung von politischer Einheit derart prekär wie in der frühen Bundesrepublik. Zwar trat die Bundesrepublik die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches an. Durch ihre unmittelbare Vorgeschichte und die Situation der Teilung bedingt, war aber nicht nur der Begriff "Nation" diskreditiert, auch derjenige des "Staates" drängte sich nur eingeschränkt auf, und statt von einer "Verfassung" sprach man lieber von einem vorläufigen Grundgesetz. Erst mit der deutschen Einheit, so tröstete man sich damals, sollten alle drei Begriffe wieder uneingeschränkt zur Geltung kommen, dann nämlich, wenn über eine vom Volk sanktionierte gesamtdeutsche Verfassung ein einheitlicher Staat deutscher Nation wiederhergestellt sein würde. Die Grundfragen der politischen Einheitsbildung waren damit nicht aufgehoben, doch konnten sie jetzt nur noch vor den Abgründen einer Selbstlegitimation von Macht gestellt werden. Anders als in Weimar legten sich nach 1945 daher die meisten Theoretiker auf einen Antitotalitarismus fest, der sich ablehnend gab gegenüber jeder substantiellen Integrationsbemühung, sei sie politisch, rassisch oder sonstwie geprägt. Der Universalismus der Menschenrechte galt als Garant gegen überzogene Nationalstaatlichkeit. In der Bundesrepublik und in der DDR fanden (nicht nur aus nationaler "Schwäche") internationalisierende Bestrebungen zunehmenden Widerhall in der Bevölkerung: im proletarischen Internationalismus im Osten, in der Europabegeisterung im Westen. Selbst die allenthalben zwischen den Machtblöcken des "Kalten Krieges" grassierenden Vorstellungen eines "dritten Weges" gaben sich überwiegend friedlich bis pazifistisch. Auch die Geschichte als einheitsstiftende Kraft schien nicht mehr zu funktionieren, an ihre Stelle setzte sich eine problembesetzte "Vergangenheit", die heute gern als "negativer Nationalismus" gebrandmarkt wird.18 Seit 1945 völlig konturlos geworden ist auch das Wort "Volk" - ungeachtet es seitdem immer wieder in der Diskussion gestanden hat und vom Grundgesetz keineswegs aufgegeben wurde. Doch hat sein Gebrauch den Beigeschmack des Revisionistischen und Revanchistischen nicht mehr abwerfen können. Es taugt schon deshalb kaum noch als Einheitskriterium, weil in den Industriestaaten Millionen von Ausländern, denen man es weder leicht macht, Inländer
18 Als neuere Bestandsaufnahme Petra Braitling u. Walter Reese-Schäfer (Hg.): Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen. Philosophen und die Politik, Frankfurt a . M . 1991.
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zu werden, noch ihnen das Wahlrecht einräumt, jeder ethnischen Homogenitätsvorstellung Absagen erteilen. Trotz gewalttätiger Versuche auf dem Balkan deutet nichts darauf hin, daß sich dieser Prozeß einer zunehmenden Vermischung jemals wird zurückdrehen lassen. Das Jahrhundert der Flucht, der Vertreibung und der Migration scheint alle "völkischen" Einheitskonzepte endgültig in die Vergangenheit zu verdammen. Zukunftsträchtig scheinen allein Definitionen zu sein, die den stattgehabten historischen Prozessen dieses Jahrhunderts Rechnung tragen, die Einheit nicht mehr über Ausschließlichkeit herzustellen versuchen, sondern einer abgestimmten Pluralität das Wort reden. Selbst Carl Schmitt ging ja nach 1945 davon aus, daß die Einheit der Welt zwar von der planetarischen Raumrevolution und ihren Beschleunigern (der Luftfahrt, der Kommunikationstechnik etc.) über kurz oder lang hergestellt sein würde. Dennoch sah er diese Vereinheitlichung politisch auch als Chance zu einer neuen, nicht näher definierten Vielheit. 19 Das Zeitalter der Staatlichkeit freilich war für ihn abgeschlossen. Thomas Vesting greift diesen Befund auf und schreibt ihm durchaus eine diagnostische Qualität zu, wie sie die Ausläufer der Weimarer Kulturkritik an den Erscheinungen der modernen Gesellschaft ja auch sonst besaßen. Gegen deren Tendenz, Pluralisierungen nach innen zugleich als Auflösungssymptome zu deuten, wendet sich Vesting aus heutiger Sicht gleichwohl deutlich. "Staat" sei hier als etwas begriffen worden, das gegenüber der Summe des Gesellschaftlichen einen politischen Mehrwert besaß, einen einheitlichen Willen, den er, bei nüchterner Betrachtung, freilich niemals besessen hat. Als Koordinationsinstanz der fortschreitenden Binnendifferenzierung war seit dem 19. Jahrhundert die Verwaltung an seine Stelle getreten, die neben ihrer traditionellen Eingriffs- zunehmend auch Leistungsfunktionen übernahm. Für Schmitt war dies ein Zerfall, eine Erosion staatlicher Herrschaft, und er überließ die Analyse dieser nachstaatlichen Epoche weitgehend Jüngeren. Unter Schmitts direkten Schülern ist Ernst Forsthoff vielleicht der einflußreichste gewesen. Wie viele junge Staatstheoretiker hatte er in den 30er Jahren zunächst gehofft, mit dem "Dritten Reich" sei der nationale Einigungsprozeß in Abkehr vom liberalen und rechtsstaatlichen Weg endgültig vollzogen. In seiner Lehre vom "Staat als Leistungsträger" gedachte die Verwaltung das Politische als Einheitsmedium nach innen abzulösen - eine Konzeption, die jedoch auf die Voraussetzungen des "totalen Staates" setzte. Der "demokratische und soziale Bundesstaat", als den sich die Bundesrepublik dann konstituierte (GG Art. 20, Abs. 1), schien dagegen den Partikularinteressen, der "Herrschaft der Verbände" (Theodor Eschenburg) hilflos preisgegeben. Als der wohl profilierteste Staata-Rechtler der frühen Bundesrepublik beurteilte Forsthoff, wie Horst Firsching zeigt, die Überlebenschancen dieser Form politischer Einheit in der Industriegesellschaft daher zunehmend skeptischer. Der Beitrag von Dirk van Laak dokumentiert die bislang unbekannte Abgrenzung von Schmitt durch einen direkten Antipoden Forsthoffs, durch den Staatsrechtler und Bundesverfassungsrichter Martin Drath. Als Linker und Schüler Hermann Hellers trug er, trotz minoritärer Position zunächst in Ost-, dann in Westdeutschland, mit dazu bei, ein
19 Carl Schmitt: "Die Einheit der Welt", Merkur,
Heft 1 (1952), S. 1-11.
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Gegengewicht zur vorherrschend konservativen Staatsdeutung der Bundesrepublik in den 50er Jahren zu bilden. Die Weimarer Debatten fanden somit eine Fortsetzung, unterschieden sich aber darin, daß die Mehrzahl der Diskutanten nun doch ein grundsätzlich affirmatives Verhältnis zur Verfassung zum Ausdruck brachte. Grundgesetzkonform zu sein hieß, sich nicht gegen den Buchstaben der Verfassung zu stellen, wohl aber, ihren Sinn zu interpretieren. Es mag historisch paradox erscheinen, daß die Weimarer Reichsverfassung, auf langen Bestand hin konzipiert, schon nach kurzem ihren Geist aufgab, während das Grundgesetz, als Provisorium konzipiert, seinen Bestand über den Verfassungsauftrag einer Revision hinaus und bis heute hat wahren können. Der Grund dafür liegt sicher in dem besonderen, zwar nicht-nationalen, aber dennoch "wohlständigen" Charakter dieser Verfassung, die im Laufe von Jahrzehnten eine spezifische Art von Zutrauen generierte, ein Ethos, das bisweilen durchaus an antike Vorbilder der "neuen Politie" gemahnte. Beim Versuch, der bloßen Legalität des Grundgesetzes die Legitimität eines mehr als nur vorläufigen Einheits- und Friedensgaranten zu verleihen, hat sich besonders Dolf Sternberger hervorgetan. Reinhard Mehring verfolgt den Weg seiner politischen Philosophie, die sich wie diejenige Draths und vieler anderer politischer Wissenschaftler in der Nachkriegszeit gerade in Abgrenzung zu Carl Schmitts Begriff des Politischen vollzog. Auf Sternbergers Begriff des "Verfassungspatriotismus" schien man sich gerade geeinigt zu haben, als die deutsche Wiedervereinigung dieser prekären Vernunftzuneigung wieder starke Irritationen zufügte und sie einer nationalen Bestandsprüfung unterzog. Die letzten Beiträge des Bandes versuchen eine Inventur der aktuellen Relevanz Schmittscher Fragestellungen bzw. des aktuellen Standes der Frage nach politischer Einheitsbildung. Sie kehren damit zu unseren Ausgangsbemerkungen zurück und transzendieren die Wiedergängerei des Nationalen und einheitsbeschwörender politischer Mythologeme überwiegend kritisch. Friedrich Balke fragt mit Foucault nach dem historischen Apriori von Schmitts Theoriebildung und spezifiziert diese Frage auf das in ihr implizierte Einheitsdesiderat. Die These, daß moderne Gesellschaften sich zunehmend nicht vereinheitlichen lassen, führt zu dem Argument, daß Schmitts Rekurs auf politische Einheit eine nur noch "imaginäre Suspension des Differenzierungsrasters der modernen Gesellschaft organisiert", deren Effekte auf die damit einhergehenden Modifikationen der Subjektpositionen mit Deleuze/Guattari theoretisch encadriert werden. Auch Andreas Göbel, der Schmitts Diagnose vom Ende des Zeitalters der Staatlichkeit zum Ausgangspunkt genommen hat, erweist mit dem soziologischen, und das heißt hier: auf die Formen gesellschaftlicher Kommunikation hin orientierten Werkzeug der Systemtheorie Schmitts begriffliche Verschiebung vom Staatlichen zum Politischen als Übergangssemantik. Zwar hat sich für Schmitt das eine Paradigma erschöpft, das andere aber noch nicht derart zu sich gefunden, um nicht noch in vielem der Rhetorik des Staates verpflichtet zu sein. Die Frage ist, ob das Politische sich überhaupt noch einmal zu einer solchen einheitsstiftenden Sprache fortentwickeln läßt, oder ob es nicht vielmehr der polyzentrischen Komplexität moderner Gesellschaften längst inadäquat geworden war. Armin Adam schließt den Band mit Reflexionen über den gegenwärtigen Stand des deutschen Einheitsbewußtseins nach der Wiedervereinigung ab. Die alte Bundesrepublik
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mit ihrem gebrochenen Verhältnis zur Nation brachte zwei Angebote ein: die Identifikation mit der ökonomischen Erfolgsgeschichte ("Wohlstandspatriotismus") und einen Republikanismus westlicher Prägung, der von der Überzeugung mitgetragen wird, den deutschen historischen "Sonderweg" endgültig überwunden zu haben. Der vorliegende Sammelband basiert auf einer Tagung, die im März 1994 in der bewährt gastfreundlichen Atmosphäre des Kulturwissenschaftlichen Instituts in EssenHeisingen stattfand. Aus dem Kreis der Diskutanten wurden einige neue Beiträger gewonnen, so daß zwar nicht mehr von einem Tagungsband im engeren Sinne gesprochen werden kann, dennoch aber von einer Einheit der Fragestellung. Wie jeder Sammelband (und jede einleitende Bemerkung dazu) kann er nur subjektive Schneisen in ein überaus komplexes Themenfeld schlagen. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses möchten sich die Herausgeber ausdrücklich beim Kulturwissenschaftlichen Institut bedanken. Mai 1995
I. Ausgangsdiagnosen Carl Schmitts
Henrique Ricardo Otten
Der Sinn der Einheit im Recht Grundpositionen Carl Schmitts, Gustav Radbruchs und Hans Kelsens
I Carl Schmitt gilt als Apologet staatlicher Einheit. Zugleich eilt ihm der Ruf des treffsicheren Analytikers und Kritikers voraus, der die Auflösungstendenzen staatlicher Einheit, die Verwischung der Grenze zwischen Staat und Gesellschaft, genau und eloquent diagnostiziert habe. Die daran anknüpfende Debatte soll hier nicht aufgerollt werden,1 vielmehr soll die Frage nach der "Einheit" in diesem Beitrag einmal aus einer anderen Perspektive gestellt werden, die ich zunächst erläutern will. Die "Einheit" zeigt sich im großen Singular "des" Rechts und "des" Staates. Was soll die betonte Notwendigkeit dieser Einheit, wozu ist sie überhaupt nötig? Wo liegt der Unterschied, wenn nicht von Regierungsakten und Handlungen staatlicher Behörden, sondern von "dem" Staat die Rede ist, wenn nicht "die" Rechte und "die" Gesetze gemeint sind, sondern "das" Recht im Blickpunkt steht? Ist hier zugleich die Frage nach "dem Rechten" überhaupt gestellt? Gibt es vielleicht ganz unterschiedliche Gründe für die Frage nach der "Einheit" des Staates und seiner Gewalt? Speziell die Frage nach der Bedeutung dieser "Einheit" im Verhältnis zum Recht soll hier weiter behandelt werden, und zwar im Hinblick auf dessen Geltung und Verpflichtungscharakter. In diesem Falle ist es nicht so leicht, sich auf pragmatische Antworten aus einer Soziologie und Politologie "kollektiver Akteure" zu beschränken. Innere Geschlossenheit und das Auftreten als "Einheit" nach außen bringen Vorteile in der Auseinandersetzung mit anderen Akteuren. Solche Geschlossenheit, Zentralisierung und Personalisierung in der öffentlichen Darstellung wird tendenziell auch denjenigen Gruppen aufgezwungen, deren Mitglieder sich aus grundsätzlichen Erwägungen dagegen verwehren wollen. Konzentriert man sich also "realpolitisch" auf "den" Staat als Machtfaktor, so scheint eine plausible Forderung nach "Einheit" aus innen- und außenpolitischen Handlungs- und Entscheidungsnotwendigkeiten heraus schnell gewonnen zu sein. Natürlich bewegen sich dann auch die Einwände
1
Vgl. dazu als neueren Beitrag mit weiterführenden Überlegungen Thomas Vesting: "Erosionen staatlicher Herrschaft. Zum Begriff des Politischen bei Carl Schmitt", Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 117 (1992), S. 4-45. Siehe auch ders.: Politische Einheitsbildung und technische Realisation. Über die Expansion der Technik und die Grenzen der Demokratie, Baden-Baden 1990.
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auf dieser Ebene, wird z.B. internationale Verflechtung als Argument gegen die Fiktion vom unabhängigen außenpolitischen Akteur "Staat" zu bedenken gegeben etc. 2 Bei der Frage nach dem Recht, seinem Verpflichtungsanspruch und seiner Gewährleistung durch die staatliche Einheit treten nun andere Überlegungen auf den Plan. Es eröffnet sich aber damit der Zugang zu einer fundamentalpolitischen Dimension des Problems, bei dem sich wieder einmal - ganz unabhängig von Zustimmung oder Ablehnung seinen Positionen gegenüber - die Schriften Carl Schmitts als Wegweiser bewähren. Schärfer und bestimmter als viele andere Autoren fragt Schmitt nach jener Einheit, welcher der einzelne Mensch unterworfen ist und unterworfen sein soll.3 In jüngster Zeit ist vermehrt auf jene durch die selbstgewählte Pose des bloßen Diagnostikers hindurchschimmernde, fundamentalistische Radikalität hingewiesen worden, mit welcher der katholische Staatsdenker Schmitt die individualistische Auflösung der modernen "Gesellschaft", die Autonomisierungen der "Kulturgebiete", Relativismus und glaubenslosen Skeptizismus zu attackieren versucht hat. 4 Es mag also bei seiner Frage nach Staat und Recht um mehr gehen als um eine bloße "Machttechnik", auf die allein gestellt, wie Schmitt versichert, ein politisches System ohnehin nicht überleben könnte. 5 Um Schmitts Position von ihren Anfängen her zu bestimmen und damit die vielbegangenen Pfade der Debatte um die Weimarer Staatsrechtslehre einmal zu verlassen, 6 bietet es sich an, seine rechtsphilosophische Grundlegungsschrift von 1914, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, näher zu betrachten. Seine Antworten sollen mit denen
2
Eine scharfe Kritik der "Nationalstaatsillusion" findet sich beispielsweise bei Rolf Knieper: Nationale Souveränität. Versuch über Anfang und Ende einer Weltordnung, Frankfurt a.M. 1991.
3
Vgl. Günter Meuter: Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994, S. 491. Die "politische Theologie" Schmitts, auf ihren Kern gebracht, bedeutet hiernach: "Das Subjekt soll wahrhaft subjectum sein, nämlich unterworfen."
4
Die von Kritikern Schmitts bereits in den 20er Jahren geäußerten Zweifel an der religiösen Bedeutung dieses "Katholizismus" ziehen sich freilich bis in die neuesten Beiträge eines Tagungsbandes zu eben diesem Thema hinein; Bernd Wacker (Hg.): Die eigentlich katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994. Einen Überblick in Sachen "CarlSchmitt-Forschung" mit Hinweisen auf weitere Literaturübersichten gibt dort Manfred Lauermann: "Carl Schmitt - jenseits biographischer Mode. Ein Forschungsbericht 1993", S. 295-319. Schmitts Geschichtstheologie erörtern jetzt auch Martin Meyer: Ende der Geschichte?, München/Wien 1993 und sehr detailliert Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 1994.
5
"Kein politisches System kann mit bloßer Technik der Machtbehauptung auch nur eine Generation überdauern. Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung." (Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form [1923], Nachdruck der 2. Aufl. von 1925, Stuttgart 1984, S. 28).
6
Vgl. zur Vorgeschichte des "Methoden- und Richtungsstreits" in der Weimarer Staatsrechtslehre auch Stefan Korioth: "Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich Anmerkungen zu frühen Arbeiten von Carl Schmitt, Rudolf Smend und Erich Kaufmann", Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 117 (1992), S. 212-238. Korioth datiert den Beginn der Krise des staatsrechtlichen Positivismus bereits auf das Jahr 1900, nicht erst auf das Jahr 1918, und sieht in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine in der heutigen Wissenschaftsgeschichte häufig vernachlässigte Übergangsphase (vgl. hier S. 212).
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zweier prominenter Gegenspieler verglichen und damit in den Kontext der zeitgenössischen Debatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestellt werden. Hans Kelsens umfassendes Frühwerk Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze erscheint 1911. Gustav Radbruchs Schrift über die Grundzüge der Rechtsphilosophie erscheint ebenso 1914 wie Schmitts Wert des Staates. Ich möchte die Grundpositionen der drei Autoren im Schnittpunkt von Rechtstheorie, Ethik und Politischer Theorie speziell anhand der Frage untersuchen, wie die Verpflichtung der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft auf deren Rechtsgebote jeweils in ihnen verstanden wird. Zunächst soll jedoch die klassische Lösung dieses Problems aufgezeigt werden. Gibt es über den faktisch ausgeübten Zwang hinaus eine normative Begründung, warum dem Recht Folge geleistet werden soll? Die Begründung könnte lauten: Weil die Sätze des Rechts aus sich heraus gültige Sollensforderungen ausdrücken, weil sie Normen einer höheren Ordnung formulieren. Mit anderen Worten, die klassische Begründung für die ethische Pflicht zum Rechtsgehorsam ist in der Naturrechtslehre unschwer zu finden. Um hier im zeitgenössischen Bild zu bleiben, wäre etwa an das zu erinnern, was der Neuscholastiker Victor Cathrein 1909 in seiner Untersuchung über Recht, Naturrecht und positives Recht schreibt - Ausführungen, nebenbei bemerkt, welche die offizielle katholische Position dieser Zeit darzustellen suchten.
II Nach Cathrein ist das Naturrecht als objektives Recht oder Rechtsnorm (die Frage der subjektiven Rechte oder Rechtsbefugnisse einmal beiseitegelassen) "eine Summe von solchen bindenden Normen, die für die ganze Menschheit durch die Natur selbst, und nicht erst infolge positiver Satzung, sei es von seiten Gottes oder von Seiten der Menschen, gelten". 7 Dieses Naturrecht ist nicht nur ein "Ideal" oder eine ethische Forderung an das Recht, es ist vielmehr selbst existierendes, bindendes, sogar "notwendiges" und "unveränderliches" Recht und umfaßt die Grundgebote, nämlich "jedem das Seinige" zu geben (suum cuique tribuendum) und niemandem Unrecht zu tun, sowie die daraus "notwendig" abzuleitenden Gebote und Verbote, etwa: "Du sollst nicht ungerecht töten, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht Ehebruch begehen, Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen; ferner das Gebot, [...] die rechtmäßig eingegangenen Verträge zu halten, der rechtmäßigen Obrigkeit zu gehorchen u. dgl." 8 Das Naturrecht bildet die Grundlage des positiven Rechts, das zu ihm nicht in Widerspruch stehen darf. "Widersprechen Gewohnheit oder positives Gesetz dem Naturrecht, so sind sie eitel und nichtig, d.h. sie haben keinerlei Rechtskraft." 9 Es ist folgerichtig auch nicht alles im eigentlichen Sinne "Gesetz", was als Gesetz erlassen wird, sofern es nicht den Minimalanforderungen an ein "vernünftiges" Gesetz entspricht, nämlich von der "höchsten Ge7
Victor Cathrein: Recht, Naturrecht und positives Recht. Eine kritische Untersuchung der Grundbegriffe der Rechtsordnung [1901], unveränd. Nachdruck der 2. Aufl. von 1909, Darmstadt 1964, S. 222.
8
Ebd., S. 223.
9
Ebd., S. 206.
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walt" ausgeht, d e m " G e m e i n w o h l " nützt und g e n ü g e n d bekannt g e m a c h t ist. 1 0 D i e allg e m e i n e n R e c h t s g r u n d s ä t z e des Naturrechts, d i e alle M e n s c h e n "von N a t u r aus" eins e h e n und "die j e d e r V e r n ü n f t i g e als gültig und v e r p f l i c h t e n d anerkennt", liefern den M e n s c h e n "den M a ß s t a b , mit d e m sie die tatsächlichen Institutionen beurteilen". 1 1 D a s gilt e b e n s o für d i e R e c h t s p r a x i s , d . h . der Richter darf z w a r nicht g e g e n d i e b e s t e h e n d e n G e s e t z e urteilen, andererseits j e d o c h nicht, w i e auch sonst n i e m a n d , an der A u s f ü h r u n g eines G e s e t z e s , das "offenbar ungerecht" ist, m i t w i r k e n . 1 2 D a s i m naturrechtlichen Sinne "wahre" R e c h t ist dann aber z u g l e i c h sittlich v e r p f l i c h t e n d . 1 3 D i e s e s Naturrecht, w i e e s n o c h v o n Cathrein o d e r in der M o r a l t h e o l o g i e Joseph M a u s b a c h s 1 4 vertreten w u r d e , w a r u m d i e Jahrhundertwende unter d e n Juristen e i n e A u ß e n s e i t e r p o s i t i o n . 1 5 D i e e n t s c h e i d e n d e E n t w i c k l u n g hin z u m R e c h t s p o s i t i v i s m u s ist die Verdrängung d e s D u a l i s m u s v o n faktisch g e s e t z t e m , "positivem" R e c h t einerseits und "natürlichem" R e c h t andererseits. D i e s e w u r d e n bis dahin in e i n e r d e f i n i e r t e n Verbindung g e s e h e n , 1 6 sei e s , daß das natürliche R e c h t das universal g ü l t i g e , "von Natur aus Gerechte" (physei dikaion) war o d e r das aus der g ö t t l i c h e n W e l t o r d n u n g b z w . , w i e v o n der P h i l o s o p h i e der A u f k l ä r u n g vertreten, das d e n Grundsätzen der Vernunft e n t s p r i n g e n d e R e c h t . D i e s e r D u a l i s m u s w i r d i m L a u f e d e s 19. Jahrhunderts
10 Vgl. Victor Cathrein, Recht, S. 60 ff. 11 Vgl. ebd., S. 136. 12 Vgl. ebd., S. 286 ff. 13 Vgl. ebd., S. 68 ff. oder S. 308: Das Recht ist "ein wesentlicher Teil der sittlichen Ordnung". Den Zusammenhang mit anderen "Naturrechtsthesen" zeigt z.B. S. 322: "Das Gesetz ist eine im Gewissen verpflichtende soziale Regel", daher muß aber die "Gerechtigkeit" zum "Wesen des Gesetzes" gehören, da eine solche Verpflichtung sonst nicht möglich wäre; dies unterscheidet das wahre und echte Recht vom "bloßen Scheinrecht". 14 Vgl. etwa Joseph Mausbach: Die katholische Moral und ihre Gegner. Grundsätzliche und zeitgeschichtliche Betrachtungen, Köln 1911, S. 357; außerdem ders.: Katholische Moraltheologie, 3. Bd.: Spezielle Moral [1918], zweiter Teil: "Der irdische Pflichtenkreis", 2./3. Aufl., Münster 1920. Sehr deutlich ist in diesem theologischen Lehrbuch formuliert, daß "die Rechtsnorm ein Ausschnitt und Teil der Sittennorm sei" (S. 90) und "im Rechte nur eine Seite des Sittlichen, und nicht die vornehmste, sich verwirklicht" (S. 92). 15 Vgl. dazu auch Franz-Xaver Kaufmann: "Wissenssoziologische Überlegungen zu Renaissance und Niedergang des katholischen Naturrechtsdenkens im 19. und 20. Jahrhundert", in: Franz Böckle u. Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.): Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, S. 126-164. 16 Vgl. Theodor Viehweg: "Positivismus und Jurisprudenz", in: Jürgen Blühdorn u. Joachim Ritter (Hg.): Positivismus im 19. Jahrhundert. Beiträge zu seiner geschichtlichen und systematischen Bedeutung, Frankfurt a.M. 1971, S. 105-111, hier S. 105 f. Mit dieser etwas pauschalen Aussage über eine rechtsphilosophische Tradition ist von mir selbstverständlich nicht gemeint, daß Naturrechtsvorstellungen seit der Antike tatsächlich in größerem Maße rechtspraktisch wirksam gewesen seien; vgl. dazu die Negativauskunft von Wolf Rosenbaum: Naturrecht und positives Recht. Rechtssoziologische Untersuchungen zum Einfluß der Naturrechtslehre auf die Rechtspraxis in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Neuwied/Darmstadt 1972, S. 214 ff. Die Frage eines ius divinumpositivum sei hier ganz ausgeklammert; zur katholischen Sicht des Vorrangs des durch die Offenbarung geschaffenen positiven göttlichen Rechts im Konfliktfall vor dem Naturrecht vgl. etwa Georg May: "Das Glaubensgesetz", in: Audomar Scheuermann u. Georg May (Hg.): Ius sacrum. Festschrift für Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag, München/Paderborn/Wien 1969, S. 349-372, speziell S. 357 f.
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abgelöst durch einen Rechtsbegriff, der - auch einhergehend mit der Aufnahme naturbzw. vernunftrechtlicher Forderungen in die großen Kodifikationen 17 - das Recht im wesentlichen auf die geschriebenen Rechtssätze reduziert, die von einer machthabenden Autorität durch einen Willensakt in bestimmten, festgelegten Formen beschlossen und in Geltung gebracht worden sind. Dann endet die Frage der Rechtsbegründung entweder mit dem Hinweis auf das geltende Gesetz oder bei der "Legitimation durch Verfahren" (Luhmann) bzw. durch die Autorität des Gesetzgebers. Die weitgehende Ausrichtung des Rechtsbegriffs auf ein kontingentes Faktum, nämlich die lex scripta, fördert das relativistische Bewußtsein, daß das Recht als Produkt geschichtlicher Umstände so ist, wie es ist, aber auch anders sein könnte. Wie sehr die Historische Schule diesem Bewußtsein vorgearbeitet hat, zeigt sich in Bernhard Windscheids Greifswalder Rede über "Recht und Rechtswissenschaft" aus dem Jahre 1854: "[...] das Recht, welches wir haben, welches wir bilden, ist nicht das Recht. Es gibt für uns kein absolutes Recht. Der Traum des Naturrechts ist ausgeträumt und die titanenhaften Versuche der neueren Philosophie haben den Himmel nicht gestürmt. 18 Die Positivierung, mit der schließlich das historistische wie das gesetzespositivistische Denken sich verbünden, gipfelnd in der radikalen Absage an das Naturrecht wie an jede Rechtsmetaphysik überhaupt, bedeutet tendenziell die Trennung von Recht und Moral, verbunden mit einer Art "Entsakralisierung" des Rechts, wie dies besonders Karl Bergbohm in seinem dezidiert antinaturrechtlichen Werk über Jurisprudenz und Rechtsphilosophie von 1892 deutlich macht. Hier ist Recht schließlich nur noch die faktisch anerkannte und wirksame Norm: "[...] nur was
als Recht funktioniert, das ist Recht, sonst nichts; und alles das ist Recht, ohne Aus-
nahme."19 Fragen nach dem "richtigen" Recht, nach einer "Begründung" des Rechts oder der Möglichkeit "gesetzlichen Unrechts" werden einer solchen Rechtstheorie zufolge sinnlos. Die Frage nach einem übergeordneten "Sollen" weicht völlig der Untersuchung des faktischen Funktionierens. Die vorherrschende rechtspositivistische Abwehr aller weitergehenden Begründungsund Prinzipienfragen, an deren Stelle höchstens die rechtsvergleichende Faktensammlung oder die Zusammenstellung einiger Rechtsgrundsätze in der "Allgemeinen Rechtslehre" tritt, kennzeichnet also die Ausgangslage der erneuten rechtsphilosophischen Diskussion der Jahrhundertwende. 20 Diese entzündete sich an den rechtsphilosophischen Beiträgen
17 Theodor Viehweg: "Positivismus" (FN 16), S. 107, weist darauf hin, daß bereits im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794, insbesondere dann im Code civil von 1804 und auch im Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 eine "Positivierung" des Vernunftrechts stattgefunden hatte, die dazu beitrug, daß "transpositive" Überlegungen aus der Rechtspraxis verschwanden und die Naturrechtsphilosophie zur "Rechtsphilosophie", nämlich zur "Philosophie des positiven Rechts" wurde (um schließlich diesem gegenüber nahezu bedeutungslos zu werden). 18 Bernhard Windscheid: Gesammelte
Reden und Abhandlungen,
Leipzig 1904, S. 9.
19 Karl Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Kritische Abhandlungen, Abhandlung: "Das Naturrecht der Gegenwart", Leipzig 1892, S. 81.
1. Bd.: Einleitung,
1.
20 Darüber scheint, wenn auch in letzter Zeit mit mehr Einschränkungen und Relativierungen als früher, Einigkeit zu bestehen. Auch wenn Klenner im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Kontrast zum "aphilosophischen" Positivismus der mit den Namen Gerber und Laband verbundenen Ausformung "innerhalb der juristischen Grundlagenforschung" Richtungen entstehen sieht, "denen man eine philoso-
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der Neukantianer, i n s b e s o n d e r e an der R e c h t s t h e o r i e R u d o l f S t a m m l e r s . Im Selbstverständnis vieler B e t e i l i g t e r ist der A n f a n g des 2 0 . Jahrhunderts e i n e Z e i t , in der die r e c h t s p h i l o s o p h i s c h e D e b a t t e nach j a h r z e h n t e l a n g e r D o m i n a n z e i n e s "ideenlosen", nämlich b e g r ü n d u n g s f e i n d l i c h e n P o s i t i v i s m u s w i e d e r a u f g e l e b t war. 2 1
III Schmitts Schrift v o n 1 9 1 4 v e r f o l g t in d i e s e r Situation e i n e p o s i t i v i s m u s k r i t i s c h e A b s i c h t . Antipositivistisch ist s e i n e W e i g e r u n g , die F r a g e nach d e m "Rechte d e s Rechts" an einer äußerlichen T a t s a c h e a b b r e c h e n z u lassen: "Wer d i e B e h a u p t u n g aufstellt, alles R e c h t sei n o t w e n d i g p o s i t i v , w e r die B e g r ü n d u n g des R e c h t s mit d e n p o s i t i v e s R e c h t e r z e u g e n den V o r g ä n g e n abschließt, bekennt sich e b e n damit zur M a c h t t h e o r i e und verneint den unvereinbaren G e g e n s a t z v o n R e c h t und Tatsache." 2 2 Ist darin e i n e naturrechtliche Position zu s e h e n , kann der Katholik Schmitt gar als Vertreter e i n e s Naturrechts in
phische Dimension nicht wird abstreiten können", wenn bei ihm sogar von der "Wiedergewinnung eines rechtsphilosophischen Standortes" die Rede ist - wofür aber nur der Name Rudolf von Jhering angeführt wird, so finden sich doch die "neuen Rechtsphilosophien, jedenfalls solche mit Wirkung, [...] erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts"; vgl. Hermann Klenner: "Rechtsphilosophie im Deutschen Kaiserreich", in: Gerhard Sprenger (Hg.): Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900. Zugleich ein Beitrag zur Gründungs geschickte der internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR), Stuttgart 1991 (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 43), S. 11-17, hier S. 14 f. Vgl. jetzt auch Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd.: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, München 1992. Stolleis sieht die "Tradition des metaphysisch begründeten Naturrechts" im 19. Jahrhundert zwar schwächer werden, aber nicht ganz abgerissen (S. 426); auch habe die "dem sog. Gerber-Laband-Positivismus üblicherweise zugeschriebene Vertreibung der historischen, politischen und philosophischen Elemente aus der Jurisprudenz [...] in der immer wieder behaupteten Entschiedenheit gar nicht stattgefunden" (S. 456). Dennoch kommt auch Stolleis zu dem Befund: "Je mehr das Vertrauen in die Erkennbarkeit letzter Werte wie der Gerechtigkeit und des Staatszwecks schwand, desto mehr trat die Allgemeine Rechtslehre an die Stelle einer materiell verstandenen Rechtsphilosophie." (S. 438) 21 Signifikant ist die Übereinstimmung Schmitts mit seinen Kollegen Erich Kaufmann und Julius Binder in diesem Punkt. 1914 konstatiert Schmitt das "neuerwachte Interesse an rechtsphilosophischen Fragen" und nennt die Werke Stammlers und Cohens, mit denen "für die Rechtswissenschaft [...] der Beginn eines neuen Lebens angezeigt" werde (Carl Schmitt: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 12). Erich Kaufmann stellt fest, "daß wir seit der Jahrhundertwende doch wieder so etwas wie eine Rechtsphilosophie hatten, ja daß die rechtsphilosophischen Interessen in starkem Wachsen begriffen waren" und setzt den Anfang mit Stammlers erstem Werk von 1896 (Erich Kaufmann: Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung Uber die Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft, Tübingen 1921, S. 3). Julius Binder lobt - trotz ihrer Unvollkommenheiten - die "junge kritische Rechtsphilosophie unter Führung Rudolf Stammlers" als Erneuerung der Rechtsphilosophie aus dem kantischen Geist (vgl. ders.: Philosophie des Rechts, Berlin 1925, S. LI f.), während zuvor in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rechtsphilosophie als eine Art "allgemeine Rechtslehre" zur "Sammelstelle für die Allgemeinbegriffe der empirischen Rechtswissenschaft" herabgesunken, die "Idee aus der Welt verbannt" gewesen sei (vgl. S. XLVIII f.). Bei Binder findet sich auch die Abwertung des Positivismus als "ideenlos" (S. XLIX), bei Kaufmann hat die "empiristische Flut" alle Metaphysik "verschlungen" (vgl. Erich Kaufmann: Kritik, S. 1). 22 Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 20.
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einem klassischen, im damaligen Katholizismus ja auch noch oder wieder präsenten Sinne verstanden werden? Steht nicht schließlich, wie ein genauer Kenner der protestantischen ebenso wie der katholischen Anschauungen dieser Zeit bemerkte, im "Mittelpunkt des katholischen Denkens [...] das Naturgesetz", d.h. das Gesetz der Natur, "die nicht in sich selbst ruht, sondern nach dem Allgemeinen, nach dem Ewigen, Gültigen, sich richtet, gerichtet ist"?23 Gemeinsamkeiten zwischen Schmitt und dem Naturrechtler Cathrein drängen sich in jenen Passagen auf, in denen Cathrein die Frage behandelt, ob der Staat "die Quelle allen Rechts" sei. Bei Cathrein findet sich ein Satz, der exakt so, d.h. wortwörtlich auch in Schmitts Staatsschrift stehen könnte: "Wer alles Recht vom Staat herleitet, entzieht dem Staat jede rechtliche Grundlage und degradiert ihn zu einem bloßen Machtverhältnis."24 Für Schmitt steht fest, daß der Staat, der mehr sein soll "als eine sinnlose Macht", seine Stellung einer "Gesetzlichkeit" verdanken muß, "die nicht von ihm sich herleitet, der gegenüber vielmehr seine Autorität derivativ bleibt", was bedeutet, "daß das Recht nicht aus dem Staat, sondern der Staat aus dem Recht zu definieren, der Staat nicht Schöpfer des Rechts, sondern das Recht Schöpfer des Staates ist: das Recht geht dem Staate vorher".25 Übereinstimmend ist zudem die Position beider Autoren in der Frage, ob "Zwang" bzw. "Erzwingbarkeit" in den Begriff des Rechts gehört und etwa einen Unterschied zwischen Recht und Ethik liefern könnte. Laut Cathrein kommt das verpflichtende Rechtsgesetz vor dem Zwang, der nur nötigenfalls seine äußere Erfüllung bewirken soll, also bildet "der Zwang kein konstituierendes Element des objektiven Rechts".26 Ganz ähnlich lehnt Schmitt eine "Tendenz zur Erzwingbarkeit" als Merkmal zur Erklärung des Rechts ab, "da die Norm unabhängig von der Wirklichkeit und der Erzwingbarkeit ihre Geltung und ihren Wert behält".27 Die entscheidende Differenz liegt aber in der klaren Absage, die Schmitt dem Grundgedanken des (klassischen) Naturrechts erteilt. Schmitt postuliert zwar die Existenz eines Rechtsgedankens, der als "abstraktes Recht" dem Staat vorausliegen soll und das eigentliche "Recht" als reine "Norm" ausmacht, und dazu verhält sich das staatliche als "vermittelndes", von den empirischen Bedingungen geformtes Recht. Damit ist jedoch keineswegs gemeint, "daß sich zwei abgeschlossene Massen inhaltlich bestimmter Satzungen entgegenständen".28 Vielmehr soll innerhalb jedes einzelnen "empirischen" Rechtssatzes der originäre Rechtsgedanke von den Momenten der "Verwirklichung und Durchführung" unterschieden werden; dieser Dualismus zieht sich also durch jede 23 Alfred de Quervain: Gesetz und Freiheit, Stuttgart 1930, S. 96 u. S. 115. 24 Victor Cathrein: Recht (FN 7), S. 138. 25 Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 46. 26 Victor Cathrein: Recht (FN 7), S. 98. 27 Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 37, vgl. auch S. 55 f. 28 Vgl. ebd., S. 75 f. Hier dürfte eine der Konstanten im Werk Carl Schmitts zu sehen sein. Obwohl Schmitt sich selbst nie als Positivist verstanden hat, hält er doch stets daran fest, daß es "kein anderes als positives Recht" gebe, wie er noch 1972 in einem Rundfunkgespräch erklärte. Siehe "Carl Schmitt im Gespräch mit Dieter Groh und Klaus Figge", in: Piet Tommissen (Hg.): Over en in zake Carl Schmitt, Brüssel 1975 (Ecléctica, 5. Jg., Heft 21-23), S. 89-119, hier S. 105.
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positive B e s t i m m u n g hindurch u n d konstituiert k e i n e u n t e r s c h i e d l i c h e n R e c h t s b e r e i c h e . Ein Naturrecht, das aus e i n e m C o r p u s angebbarer, universal g ü l t i g e r R e c h t s s ä t z e b e steht, ist hier g e r a d e nicht g e m e i n t . D a z u paßt a u c h , daß S c h m i t t d i e k a t h o l i s c h e L e h r e ablehnt, die d e m Papst das R e c h t zuspricht, staatliche G e s e t z e , d i e d e m "natürlichen Sittengesetz" w i d e r s p r e c h e n , für "nicht i m G e w i s s e n verpflichtend" erklären zu können, 2 9 w i e überhaupt, nach Schmitt, R e c h t und Sittlichkeit "nichts miteinander zu tun haben"?0 A u s g u t e m G r u n d e hat Schmitt später den V o r w u r f z u r ü c k g e w i e s e n , e s h a n d e l e sich im Wert des Staates u m "Naturrecht alten A n g e d e n k e n s " . 3 1 D a s naturrechtliche D e n k e n galt zu B e g i n n des Jahrhunderts w e i t h i n als w i s s e n s c h a f t l i c h antiquiert und politisch gefährlich. Für d i e d o m i n i e r e n d e p o s i t i v i s t i s c h e R e c h t s a u f f a s s u n g , hört m a n dazu e t w a die A u s f ü h r u n g e n B e r g b o h m s o d e r d i e b e s o n d e r s e i n f l u ß r e i c h e Staatslehre G e o r g Jellineks, w a r das Naturrecht, auch w e n n s e i n e Vertreter d i e s anders s e h e n m o c h t e n , im Kern b l o ß e i n K a t a l o g v o n Forderungen an das R e c h t b z w . an d i e r e c h t s s e t z e n d e M a c h t , der s o w o h l reaktionäre w i e revolutionäre Z ü g e a u f w e i s e n k o n n t e . 3 2 F ü r M a x W e b e r ist das Naturrecht als e i n E n s e m b l e v o n N o r m e n , " w e l c h e nicht kraft ihres Ursprungs v o n e i n e m l e g i t i m e n G e s e t z g e b e r , sondern kraft rein i m m a n e n t e r Qualitäten l e g i t i m sind", die e i n z i g e nach d e m V e r l u s t des G l a u b e n s an O f f e n b a r u n g s w a h r h e i t und traditio-
29 Vgl. Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 82. Zum Eingreifen der Kirche in weltliche Dinge und zu möglichen Konflikten zwischen Kirche und Staat siehe auch Joseph Mausbach: Katholische Moral (FN 14), S. 316-320 u. 338-343. "Wenn heutige Theologen und Kanonisten von einer indirekten Gewalt der Kirche über das Zeitliche reden, so verstehen sie darunter meist dasselbe, was andere als potestas directiva bezeichnen, die Aufgabe der Kirche nämlich, das Gewissen der Völker darüber aufzuklären, was etwa in einer staatlichen Forderung der Sittlichkeit, dem göttlichen Gesetze, widerspricht. Eine solche Verurteilung oder Korrektur staatlicher Gesetze oder Verordnungen enthält aber strenggenommen keine Ausübung einer potestas im Sinne von Regierungsgewalt, sondern eine lehrhafte Geltendmachung dessen, was nach Gottes Willen gut oder böse ist [...]" (S. 320). Genau gegen diese Auffassung, auch unter dem Titel einer "potestas directiva", wendet sich Schmitt. In ihr steckt nämlich ein "Mißtrauen gegenüber der Kraft des Guten und Richtigen" (Carl Schmitt, Wert des Staates [FN 21], S. 83), von der die staatliche Verwirklichung des Rechts getragen sein soll. Der Hüter des Rechts braucht keine neuen Hüter und keine Sittlichkeitsvorbehalte. 30 Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 67; Hervorhebung von mir. 31 Vgl. Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf [1921], 4. Aufl. (unveränd. Nachdruck der 2. Aufl. von 1928), Berlin 1978, S. XX. Freilich gehört Schmitt von Anfang an keinesfalls zu den eingeschworenen Kämpfern gegen jedes "Naturrecht". Siehe etwa ders.: Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis [1912], 2., unveränd. Aufl., München 1969, S. 16: "Es ist möglich, heute vom Naturrecht zu reden, ohne für einen Ideologen oder Phantasten gehalten zu werden r...]"; Schmitt bezieht sich dort (S. 16, FN 1) unter anderem auf Stammlers "Richtiges Recht" als, wie dieser es nannte, "Naturrecht mit wechselndem Inhalt". Bezeichnend auch z.B. Carl Schmitt: "Politische Theorie und Romantik", Historische Zeitschrift, Bd. 123 (1921), S. 377-397. Dort erklärt Schmitt, die "fundamentale Unfähigkeit" Adam Müllers, ein "Naturrecht" zu begreifen, sei Symptom der romantischen "Unfähigkeit zu normativer Bewertung" und bewußter, aktiv parteinehmender Entscheidung; vgl. hier S. 394 ff. 32 Vgl. Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre [1900], unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. von 1914, Kronberg/Ts. 1976, S. 344 f.
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nale Autorität noch verbleibende "konsequente Form der Legitimität des Rechts".33 Obgleich Weber sieht, daß die unterschiedlichsten Arten von Ordnungen und Gewalten naturrechtlich legitimiert worden sind, betont er die revolutionäre Seite des Naturrechts, die Legitimierung "der revolutionär geschaffenen Ordnungen" wie der Rebellion gegen den status quo: "Berufung auf 'Naturrecht' ist immer wieder die Form gewesen, in welcher Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechtsschöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Normen und Offenbarungen stützten. "34 Einerseits befürchtet Weber akute Gefährdungen der "formalen Qualitäten" des modernen Rechts, die unter anderem dem politischen Druck materialer Gerechtigkeitsforderungen auf die Rechtspraxis zuzuschreiben sind, und bezieht daher eine kritischabwehrende Position gegen die immer wieder aufgestellten "metarechtlichen" Postulate. Andererseits ist - rechtsfachlich gesehen - jede Art axiomatischen Naturrechts geradezu als erledigt zu betrachten oder, wie Weber formuliert, "in tiefen Mißkredit geraten", was aus der "fortschreitenden Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen Axiome überhaupt", dem "juristischen Rationalismus selbst", wie auch der "Skepsis des modernen Intellektualismus im allgemeinen" zu erklären sei; demzufolge sei der Rechtspositivismus in "vorläufig unaufhaltsamem Vordringen".35 Das "Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen" hat nach Weber "die Möglichkeit, das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde auszustatten, prinzipiell vernichtet: es ist heute allzu greifbar [...] als Produkt und technisches Mittel eines Interessenkompromisses enthüllt".36 Nun will Schmitt, ganz im Gegensatz zu Weber, sich nicht mit einem begründungsskeptischen Fazit zufrieden geben, das mit der "überempirischen Würde" des Rechts auch diejenige des Staates negieren müßte. Gleichwohl zeigen diese Einschätzungen die Schwierigkeiten, denen sich rechtsphilosophische Versuche wie der von Schmitt unternommene gegenübersahen. Die Rückkehr zur alten Naturrechtsdogmatik schien nicht möglich und angesichts der politischen Ambivalenz naturrechtlichen Denkens, so steht zu vermuten, auch nicht wünschenswert.37 Die Antwort Schmitts auf die Frage nach dem "Rechte des Rechts", also nach der Rechtsbegründung, deren Ziel, genau besehen, die Begründung des "Werts" des Staates ist,38 versucht dieses Dilemma eben durch eine
33 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß revidierte Aufl., Tübingen 1985, S. 497.
der verstehenden
Soziologie
[1922], 5.
34 Ebd., S. 497. 35 Vgl. ebd., S. 502. 36 Ebd., S. 502. 37 Vgl. Gary L. Ulmen: Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991. Wie Ulmen der Tendenz nach richtig bemerkt, versuchte Schmitt, "das Problem seiner gleichzeitigen Kritik am Naturrecht und am positiven Gesetz zu beseitigen, oder besser beide konzeptionell zu verfeinern, indem er sie neu bestimmte" (S. 115). 38 Das eigentliche Interesse Schmitts - allerdings nicht, wie der Autor nahelegt, bloß in diesem Buch liegt "in der Frage nach dem Staat, während vom Recht nur das ausgeführt wird, was auf eine rechts-
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rein formale Konstruktion zu vermeiden: Das prästatale "Recht" besteht aus den überempirischen "Normen" des Rechtsgedankens, die weder begründbar sind, noch an irgendeiner Stelle näher expliziert werden. Dieses vor-konkrete "Naturrecht ohne Naturalismus",39 gewissermaßen die Lichtquelle, in deren Schein die positiven Bestimmungen erst als "Recht" sichtbar werden, ist tatsächlich nur der abstrakte Bezugspunkt einer metaphysischen Konstruktion.40 Diese läßt den Staat, der als Mittler einer transzendenten "Idee" auftritt, das Recht, das dem Reich der reinen "Norm" angehört, "verwirklichen", also überhaupt erst in die Welt der Faktizität und der Macht einbringen. Der Gewinn aus dieser Konstruktion ist eine Legitimationsfigur. Der Staat ist legitimiert "als erster Diener des Rechts", und da dieses Verhältnis für den Begriff des Staates konstitutiv ist, "gibt es keinen anderen Staat als den Rechtsstaat".41 Das Recht aber kann "nur von der höchsten Gewalt ausgehen", die "ihrem Wesen nach eine Einheit" ist, nicht als die schiere, in einem rein empirischen Verständnis stärkste, sondern als die höchste Macht.42 Eine solche Zuschreibung kann nur durch "wertende Kriterien" begründet werden, welche "einen zu vernünftiger Einheit zusammengefaßten Willen", eine sinnhafte Kontinuität aus der Beliebigkeit der Einzelerscheinungen herausheben.43 Der Staat als die eine höchste Gewalt erkennt an, daß die Normen, die er
philosophische Definition des Staates hinleitet." Siehe Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 10; im gleichen Sinne auch S. 14: Hierzu muß das Verhältnis von Recht und Staat geklärt werden. 39 Ebd., S. 76. Dieser Ausdruck taucht allerdings nur an dieser Stelle im Werk Schmitts auf, seine völlige inhaltliche Unbestimmtheit wird nirgendwo behoben. Ein weiteres Zeichen für die Bedeutung dieses "Naturrechts" bei Schmitt mag man in dem folgenden Vers des Glossariums finden: "Göttliche Macht und irdische Macht wird im Naturrecht zur Einheit gebracht, freilich Naturrecht nur ganz relativ, sonst geht Naturrecht absolut schief." Siehe Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, S. 234. Vgl. auch Günter Meuter: Der Katechon (FN 3), S. 228 f., FN 88. Geht man dem Hinweis auf Troeltsch nach, den Schmitt in seinem Glossarium gibt, so findet man folgende bemerkenswerte Passage: Die "Fiktion des christlichen Naturrechts, die Staat und Gesellschaft als von einem christlichen Gesetz aus geordnet zu betrachten ermöglicht, wird das Mittel sein, durch das überhaupt allein von einer christlichen Einheitskultur die Rede sein kann und man eine solche sich glaubhaft machen kann". Vgl. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 1. Bd.: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen [1912], 2. Neudruck der 1922 erschienenen Ausgabe, Aalen 1965, S. 173; Hervorhebung von mir. Das "christliche relative Naturrecht" ermöglichte es, daß die Kirche "die Naturbasis, wie sie sie vorfand, als Erzeugnis des relativen Naturrechts unverändert erduldete und schließlich vom Mittelalter ab bei der Aenderung des allgemeinen Lebens als auf den christlich-kirchlichen Lebenszweck hingeordnet betrachtete" (S. 174; Hervorhebung von mir). 40 Vgl. auch Michele Nicoletti: "Die Ursprünge von Carl Schmitts 'Politischer Theologie'", in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum - Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 109-128. Wie Nicoletti genau gesehen hat, liegt "Schmitts Position außerhalb des traditionellen metaphysischen Ansatzes, in dem die Transzendenz des Naturrechts gegenüber den konkreten Ordnungen von der Ordnung des Seins gewährleistet wurde" (S. 119; Hervorhebung von mir). 41 Vgl. Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 53. 42 Vgl. Ebd., S. 47. Vgl. hierzu auch Günter Meuter u. Henrique Ricardo Otten: "Constantin Frantz ein bonapartistischer Vorläufer Carl Schmitts? Überlegungen zur Geschichte eines konservativ-antiliberalen Motivs", in: Michael Th. Greven, Peter Kühler u. Manfred Schmitz (Hg.): Politikwissenschaft als Kritische Theorie. Festschrift für Kurt Lenk, Baden-Baden 1994, S. 151-194, hier S. 168. 43 Vgl. Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 48.
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selbst formuliert, nicht deshalb Recht sind, weil sie seinem faktischen Willen entspringen, sondern umgekehrt, "daß er sie nur deshalb ausspricht, weil sie Recht sind und daß er sich ihnen nur aus eben diesem Grunde unterwirft". 44 Der Staat ist machtvolle Realität und zugleich "im Recht", da er, "seiner Idee nach", ausschließlich Träger der Aufgabe ist, Recht zu verwirklichen: "Vom Recht bis in jedes Element beherrscht, kann der Staat nur das Recht wollen."45 Entscheidend ist es, zu erkennen, daß in der Rigorosität, mit der das "Recht" von allem "Empirischen" abgesondert wird, der beherrschende Gestus der Schmittschen Theorie sich Bahn bricht. Schmitt denkt konsequent "von oben". Aus den faktischen Willensverbindungen irgendwelcher empirischer einzelner ist kein Recht als absolute "Norm" zu erhalten, und der "Zweck ist so wenig Schöpfer des Rechts oder des Staates, wie die Sonne damit definiert ist, daß sie ein Feuer sei, von frierenden Wilden angezündet, um die Glieder daran zu wärmen". 46 Im Gegensatz hierzu ist bei Schmitt ausschlaggebend für den Rechtsbegriff stets die "Norm", die auch dem Einzelmenschen erst eine rechtliche Relevanz zumißt. Der einzelne kommt damit nicht mehr in seiner faktischen Existenz, die in diesem Sinne ebenso wenig überhaupt etwas begründen kann wie irgendein "Wollen", sondern nur als "Konstruktion" des Rechts in Betracht. Mitunter wird die frühe Werkphase Schmitts bis zum ersten Weltkrieg als vom Neukantianismus geprägt verstanden, vor allem aufgrund dieser scharfen Trennung von "Norm" und "Empirie", "Sollen" und "Sein".47 Der zentrale Punkt jedoch, in dem sich Schmitt von den rechtsphilosophischen Theorien der Neukantianer absetzt, liegt in seiner These von der unüberbrückbaren Kluft zwischen Recht und Ethik bzw. Recht und Sittlichkeit begründet. Im Verhältnis zum Neukantianismus bedeutet dies, daß Schmitt auf jene Forderung nach kritischer Prüfung des positiven Rechts verzichtet, der etwa Stammler dadurch Genüge leisten will, daß er dem erkenntnistheoretischen "Begriff des Rechts" die "Idee des Rechts" als ein normatives Regulativ gegenüberstellt.48 Bei 44 Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 50. Vgl. auch S. 44, wo sich der, wie Schmitt meint, "überaus richtige Gedanke" findet, "daß es nur Eine Wahrheit, aber auch nur Eine höchste Gewalt geben kann". 45 Ebd., S. 54. Auch die Macht gehört freilich zum Begriff des Staates, vgl. S. 68 f. 46 Ebd., S. 93. 47 Michael Stolleis: Geschichte (FN 20) konstatiert, Schmitts Wert des Staates betreffend: "Über den antiindividualistischen Tönen dieser Schrift wird leicht vergessen, daß sie methodisch dem Neukantianismus nahesteht" (S. 449). Vgl. auch Hasso Hofmann: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts [1964], 2. ergänzte Aufl., Berlin 1992. Hofmann hatte in seinem Werk, das heute schon einen "Klassiker" der Schmitt-Literatur darstellt, Schmitts "Naturrecht ohne Naturalismus" bereits "dem transzendentalen Idealismus Rickerts viel näher als der katholischen Naturrechtslehre" gesehen (S. 58), allerdings auf der anderen Seite in Schmitts Suche nach einer Legitimation der Staatsgewalt und in der Ausrichtung seiner Fragestellung auf den Staat als "Realität" eine "unzweideutige!] Ablehnung des neukantianisch fundierten Normativismus" festgestellt (S. 17). 48 Vgl. Rudolf Stammler: "Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft", in: Paul Hinneberg (Hg.): Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Teil II, Abteilung VIII: "Systematische Rechtswissenschaft", von R. Stammler u.a., 2. Aufl., Leipzig/Berlin 1913, S. 1-65. Der "Begriff" des Rechts "grenzt eine Klasse des menschlichen Wollens von anderen ab"; die "Idee" des Rechts ordnet diese "logisch bestimmten Willensinhalte" nach einem "unbedingt einheitlichen Blickpunkte" (S. 37).
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Stammler behält das Recht seinen Zusammenhang mit dem allgemeinen Bereich menschlicher Zwecke und ist an dem "sozialen Ideal" der "Gemeinschaft frei wollender Menschen" als seiner Richtlinie zu messen.49 Weiterhin besteht unter den Neukantianern Übereinstimmung darin, daß das - wie immer formulierte - Ideal seine Begründung nur in der Selbstgesetzgebung der Vernunft finden kann. Es liege, wie Stammler formuliert, bereits in der Vorstellung des "rechtlich verbindenden Wollens" ein Antrieb zur "idealen Beurteilung", gleichgültig, ob dies aus der Perspektive des Richters, des Gesetzgebers, einer Streitpartei oder eines sonstigen Beobachters geschehe.50 Klar und scharf ist hingegen die Trennlinie, die von Schmitt gezogen wird: "Die Heteronomie läßt sich mit der Autonomie auf keinem Wege vereinigen", keine Überbrückung oder gar Versöhnung ist hier möglich.51 Entschieden distanziert Schmitt sich aber von einem Verständnis dieser Dichotomie, welche, etwa orientiert an der Lutherschen Zwei-Reiche-Lehre, die Ethik auf den einzelnen in seinem Gewissen als das eigentlich Wertvolle, das Recht hingegen auf die bloß äußerliche und damit minder wichtige Ordnung des Zusammenlebens beziehen wollte.52 Vielmehr liegt die Betonung bei Schmitt auf der eigenen Dignität dieses Normreichs des "Rechts" und seines "exactors", des Staates, die beide keinesfalls nur als "Rahmen" oder Anstalten zum Schutz der ungehinderten Entfaltung des Individuums und seiner privaten Sittlichkeit und Innerlichkeit zu verstehen sind. Bei Schmitt wird die Ethik, nur noch auf die Gesinnung des einzelnen bezogen, zur bedeutungslosen, für die Rechtsphilosophie unbeachtlichen Randgröße. Die Eigentümlichkeit der Schmittschen Position liegt in dieser Einseitigkeit abstrakter, aber zugleich absolut gültiger Heteronomie. Werden demgegenüber die zufälligen Ansprüche und Subjektivismen des einzelnen gleichermaßen auch von den Neukantianern abgelehnt, so bleibt doch zumindest der grundsätzliche Anspruch auf Einheit und Autonomie der Vernunft bestehen. Damit ist aber, wie sich in Stammlers Forderung nach der Das "richtige" Recht ist "ein nach der Rechtsidee gerichtetes Recht", welche selbst "nur eine Bewährung der Idee des freien Wollens überhaupt" darstellt (S. 44). Bereits in seiner Schrift von 1896 benutzt Stammler die Formulierung vom "Naturrecht mit wechselndem Inhalte", dies sind "solche Rechtssätze, die unter empirisch bedingten Verhältnissen ein theoretisch richtiges Recht enthalten"; vgl. Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung [1896], 3. Aufl., Leipzig 1914, S. 174. 49 Vgl. etwa Rudolf Stammler: Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, 2 Bde., Bd. 2: 1914-1924, Charlottenburg 1925, S. 14 ff. Die vielfach, beispielsweise auch von Max Weber, heftig kritisierten Vagheiten bzw. Ungenauigkeiten der Stammlerschen Konstruktionen sollen hier, wo es nur um eine Darstellung möglicher Grundstrukturen geht, nicht eingehender diskutiert werden. 50 Vgl. Rudolf Stammler: Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1970, S. 204.
unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. von 1928,
51 Vgl. Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 66. 52 Vgl. etwa Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 65. Vgl. zur Zwei-Reiche-Lehre jetzt auch Andreas Großmann: "Demokratische Loyalität und Ungehorsam. Perspektiven der lutherischen Zweireichelehre", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 78 (1992), S. 68-93. Im Gegensatz zu der Auffassung, die in Luther den Inbegriff deutscher Obrigkeitsfrömmigkeit finden will, stellt Großmann die "Entsakralisierung des Rechts" heraus, welche durch den von Luther betonten Abstand zwischen menschlichem Recht und göttlicher Gerechtigkeit induziert wird (S. 76).
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"idealen Beurteilung" des Rechts erweist, einer Kritik, deren Maßstab die vernünftige Realisierung einzelmenschlicher Zwecke ist, zumindest die prinzipielle Möglichkeit eröffnet. Von entscheidender Bedeutung ist, daß zu einer solchen Beurteilung grundsätzlich jeder Mensch imstande sein soll. Das abstrakte "Recht" der Schmittschen Konstruktion, das allein den Staat wie alle konkreten Rechtssätze begründet, ist hingegen für Vernunftforderungen wie für Gerechtigkeitskriterien unzugänglich. Das Recht insgesamt bildet einen geschlossenen Bereich mit eigenen Regeln. Dieser letzte Satz beschriebe allerdings nichts Ungewöhnliches, sondern eine Auffassung, die von allen strikten Rechtspositivisten vertreten wird, hätte nicht jenes Recht sein Fundament im Absolutheitsanspruch der unbedingt geltenden "Norm", unabhängig von jeder faktischen Satzung. So entschieden, wie Schmitt die Existenz inhaltlicher, "überpositiv" gültiger Kriterien zur Beurteilung des positiven Rechts ablehnt, so deutlich gilt für ihn: Es gibt eine Begründung für die Rechtsqualität des positiven Rechts, jenseits aller faktischen Gegebenheit. Die formale Konstruktion Schmitts "erhebt" den Staat über die schiere Machtorganisation hinaus, indem sie ihn zu einer Einheit besonderer Art, zur "Mittelsinstitution" zwischen zwei Welten,53 zum einzigen "Diener" und Vollstrecker des "Rechts" macht, das zugleich erst durch den Staat wahrnehmbare, konkrete Form gewinnt. Die rechtliche Qualität der positiven Rechtssatzung ist nicht denkbar ohne den Staat als Träger dieses Dienstethos.
IV Wenden wir uns jetzt Radbruchs im gleichen Jahr wie der Wert des Staates erschienenen Buch über die Grundzüge der Rechtsphilosophie zu. Radbruch verbindet den prinzipiellen weltanschaulichen "Relativismus"54 seiner wissenschaftlichen Haltung, in welchem er sich übrigens mit Georg Jellinek und Max Weber einig sieht,55 mit einem positivistischen Verständnis des Rechts,56 ohne dabei den rechtsphilosophischen Grundlegungsfragen auszuweichen. Bei Radbruch findet sich eine auf den ersten Blick frappierende
53 Vgl. zur Struktur dieser Vermittlung Carl Schmitt: "Die Sichtbarkeit der Kirche", Summa, 1. und einziger Jg. (1917/18), S. 71-80, bes. S. 75 f. u. S. 79. Der Dualismus von "konkret-faktischer] Realität" und "Idee" findet sich auf S. 77. 54 Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge der Rechtsphilosophie,
Leipzig 1914, S. 91.
55 Vgl. ebd., S. 24; vgl. dort auch FN 23. Persönlich war Radbruch ein engagierter Republikaner und Kriegsgegner, der sich bereits 1913 öffentlich zur Sozialdemokratie bekannt hatte und die Revolution von 1918 euphorisch begrüßte; vgl. etwa Arthur Kaufmann: "Die Bedeutung Gustav Radbruchs für die Rechtsphilosophie im Ausgang des Kaiserreichs", in: Gerhard Sprenger (Hg.): Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, S. 101-110, bes. S. 102. Wenn im folgenden von der Position Radbruchs die Rede ist, so ist damit zunächst nur die Rechtsphilosophie von 1914 gemeint. 56 Gäbe es nämlich ein wissenschaftlich erkennbares Naturrecht, so dürfte alles "Recht" nicht schlechthin qua autoritativer Setzung, sondern nur insoweit gelten, als es von diesem "Naturrecht" nicht abweicht. Nur aus der relativistischen Auffassung von der "Unmöglichkeit eines Naturrechts kann die Geltung des positiven Rechts begründet werden"; siehe Gustav Radbruch: Grundzüge (FN 54), S. 170 f.
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Übereinstimmung mit dem sich selbst als antipositivistisch verstehenden Autor Schmitt: Das Recht steht zunächst "fremd" neben und außerhalb der Sittlichkeit. Recht bedeutet Heteronomie, Unterwerfung unter ein fremdes, nicht von der Einsicht des einzelnen bestimmtes Sollen, Sittlichkeit faßt Radbruch dagegen im Sinne des Neukantianismus als die Selbstverpflichtung der sittlichen Persönlichkeit auf.57 Kelsen hat wiederum in seinem Werk über die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre diese Trennung in vergleichbarer Weise vertreten. Auch Kelsen stellt der "autonomen Moral" das "heteronome Recht" gegenüber.58 Während die sittliche Pflicht nur durch die Selbstverpflichtung des Individuums realisiert werden kann, zeigt sich "die streng heteronome Natur des Rechtssatzes" darin, daß dieser "seine verpflichtende Funktion unabhängig vom Wollen des Individuums ausübt".59 Die "Macht", von welcher der Rechtssatz ausgeht und welche die Menschen der faktischen Herrschaft unterwirft, "ist der Staat", der zwar nicht "Schöpfer", aber "Träger des Rechtes" ist und "nicht unrecht handeln", sondern "nur das Recht wollen" kann.60 Es scheint also, als ob Schmitt mit den entsprechenden Passagen im Wert des Staates nur Gemeingut des zeitgenössischen Rechtspositivismus ausgesprochen habe. Um so aufschlußreicher sind die Differenzen im Umgang mit dem Problem, inwieweit und mit welcher Begründung der einzelne durch das Recht verpflichtet wird. Die Position Kelsens steht hier paradigmatisch für einen strikten Positivismus: Die Fragestellung nach dem Geltungsgrund des Rechts zerfällt in die psychologische bzw. soziologische Frage, warum die Menschen sich faktisch (mehr oder weniger) an das Recht halten, und die moralphilosophische Frage, warum sie das Recht befolgen sollen; beide Fragen hält Kelsen für "juristisch irrelevant" .61 Kelsen nimmt in den Versuchen, speziell die letztere Frage zu beantworten, naturrechtliche Relikte auch bei den Vertretern einer Philosophie des positiven Rechts wahr und konstatiert hier einen Widerspruch zum "innersten Wesen der Erkenntnis des positiven Rechtes".62 Die Methode der "neueren Jurisprudenz", die dadurch gekennzeichnet sei, daß alle rechtlichen Begriffe nur aus dem positiven Recht abgeleitet werden, "verlassen aber alle jene Theoretiker, [...] die das subjektive Recht und die subjektive Rechtspflicht [...] aus den Normen irgendeiner auch über dem Rechte stehenden Ordnung ableiten und somit rechtfertigen zu müssen glauben" - mit "dem Rechte" ist bei Kelsen stets die positive Rechtsordnung als "allerletzte Instanz" gemeint; hier werde "die für die Wissenschaft des positiven Rechts unverrückbare Grenzlinie zwischen Recht und Gerechtigkeit" überschritten.63 Damit bleibt jedoch, wie Kelsen in seinen späteren Schriften immer wieder betont hat, die
57 Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge (FN 54), S. 54 ff. 58 Vgl. Hans Kelsen: Hauptprobleme Tübingen 1911, S. 46 59 Vgl. ebd., S. 41. 60 Vgl. ebd., S. 40, S. 49 u. S. 246. 61 Vgl. ebd., S. 351 ff. 62 Vgl. ebd., S. 327 f. 63 Vgl. ebd., S. 328.
der Staatsrechtslehre,
entwickelt
aus der Lehre vom
Rechtssatze,
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Frage nach der ethischen Beurteilung des bestehenden Rechts völlig offen, nur die Rechtswissenschaft als solche kann ein derartiges Urteil nicht begründen. "Rechtspflichten" sind einfach bloß die durch Gesetz begründeten Pflichten der Rechtssubjekte, deren sittlicher Wert unbestimmt und für den Juristen unbestimmbar bleibt. Die Überlegungen der Rechtsphilosophie Radbruchs führen nun dichter an die Frage aus dem Wert des Staates nach dem (transpositiven) "Grund" der Geltung positiven Rechts und des mit dem Recht erhobenen Anspruchs auf seine Befolgung sowie an den dort unternommenen Versuch ihrer Beantwortung heran. Da Radbruch, anders als Kelsen, die Rechtspflicht in Analogie zur sittlichen Pflicht denkt und damit auch nur als eine Art der Selbstverpflichtung verstehen kann, stellt eine "heteronome Verpflichtung" für ihn allerdings ein Paradoxon dar.64 Radbruch löst das Problem in zwei Schritten: Erstens, wie ist die Verbindlichkeit des heteronomen Rechts überhaupt möglich? Die Antwort lautet: Rechtspflichten und sittliche Pflichten unterscheiden sich durch die Instanz, welche den Inhalt der Verpflichtung bestimmt. Zwar ist letztlich auch die Rechtspflicht auf die Anforderungen der Sittlichkeit zurückzuführen. Während jedoch der Inhalt der "direkten" sittlichen Pflichten im Gewissen des einzelnen erkannt werde, unterstelle sich im Falle der "indirekt-ethischen Pflichten [...] die Sittlichkeit einer fremden Gesetzgebung, überläßt sie sich der spezifischen Dialektik eines andern Vernunftgebiets, signiert sie gleichsam durch Blankoakzept einen erst von anderer Seite festzustellenden Pflichtinhalt".65 Damit ist der Heteronomie und der Autorität ihre Stelle "mitten im Reiche der Autonomie" nach einem Muster angewiesen, mit dessen Hilfe, wie Radbruch ausdrücklich vermerkt, sich auch die Einordnung des einzelnen in eine "Parteidisziplin" rechtfertigen läßt.66 Zweitens, wie ist die Verbindlichkeit der positiven Rechtsordnung zu begründen? Grob gesagt, läuft die Antwort auf eine Abwägung der Grundwerte Gerechtigkeit und Rechtssicherheit hinaus. Der "Relativismus" Radbruchs zeigt sich darin, daß er den Streit um die "Gerechtigkeit" und die entsprechenden Naturrechtsforderungen für wissenschaftlich unentscheidbar hält und der Auseinandersetzung verschiedener Weltanschauungen überläßt. Umso mehr tritt dem Gerechtigkeitsgedanken gegenüber der Wert der Rechtssicherheit hervor, dessen Würdigung auch von ganz unterschiedlichen weltanschaulich-politischen Positionen aus möglich erscheint. Diesen Wert besitzt das positive Recht "schon vermöge seiner Positivität ohne Rücksicht auf die Gerechtigkeit seines Inhaltes".67 Das Streben nach Rechtssicherheit liefert die Rechtfertigung dafür, daß das Recht sich nach der stärksten Macht richtet, wobei eben zu verlangen ist, "daß eine Macht die stärkste sei".68 Hier liegt auch der Grund für die Forderung nach der "Einheit der Staatsgewalt", die notwendig ist, um "den Widerstreit entgegengesetzter Rechts-
64 Wörtlich heißt es: "Aber eine heteronome Verpflichtung, eine Verpflichtung durch fremden Willen ist ein Widerspruch in sich." (Gustav Radbruch: Grundzüge [FN 54], S. 54) 65 Vgl. ebd., S. 57. 66 Vgl. ebd., S. 58. 67 Ebd., S. 176. 68 Ebd., S. 173.
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anschauungen durch einen autoritativen Machtspruch zu beenden"; Radbruch nennt explizit Hobbes, den Schmitt erst in den 20er Jahren zu einem Kronzeugen seiner Theorie macht, als Vertreter einer einseitigen Betonung der Rechtssicherheit gegenüber der inhaltlichen Gerechtigkeit. 69 "Es gibt sogar eine ganze Reihe von Rechtssätzen, welche durch ihre Positivität, durch ihr bloßes Dasein ihren Zweck bereits voll erfüllen, ohne ihrem Inhalte, ihrem Sosein nach überhaupt unter der Herrschaft eines Zweckes zu stehen, Rechtssätze, deren Gegenteil genau so gerecht wäre, die nur eine einheitliche, gleichviel welche, Regelung, die nur Rechtssicherheit, nicht auch Gerechtigkeit bezwekken, z. B. die Polizeiverordnung 'Rechts fahren!' welche ihren Zweck, Zusammenstöße zu vermeiden, nicht besser erfüllt, als die entgegengesetzte Anordnung 'Links fahren!' ihn erfüllen würde. Solcher Rechtssätze würde es auch in einer Gemeinschaft vollkommener Wesen bedürfen, welche die Pflichten der Gerechtigkeit restlos kennten und erfüllten." 70
Diese eigentlich unspektakulären Ausführungen interessieren hier vor allem deshalb, weil sie scheinbar völlig mit der für Schmitt so charakteristischen Hervorhebung der "Entscheidung an sich" und ihres Eigenwertes 71 übereinstimmen, der Notwendigkeit, "daß in jedem positiven Gesetz dies Moment des bloßen Festgestelltseins zur Geltung kommt, wonach es unter Umständen wichtiger ist, daß überhaupt Etwas positive Bestimmung wird, als welcher konkrete Inhalt dazu wird". 72 In Gesetz und Urteil hatte Schmitt sogar dasselbe Beispiel wie Radbruch gegeben, nämlich das Rechtsfahrgebot, um zu veranschaulichen, "daß es häufig nicht so sehr auf die Art und Weise der Regelung, als auf eine Regelung überhaupt ankommt", daß "das Gesetz in erster Linie überhaupt festsetzen will". 73 Das "Postulat der Rechtsbestimmtheit" betont die Wichtigkeit eines Moments "abstrakter Regelung", das "scheinbar den 'Inhalt' der Rechtsordnung zur Seite drängt, in Wahrheit aber gerade zu ihrem Inhalt gehört". 74 Bei Radbruch führt der Wert der Rechtssicherheit allerdings keine Sonderexistenz; im Gegensatz dazu rückt Schmitt jedoch die "Rechtsbestimmtheit" als "Ingredienz aller rechtlicher Erscheinungen" ins Zentrum seiner Rechtsauffassung. 75 Für Radbruch bleibt der Wert, der dem positiven Recht qua Positivität zukommt, als Wert, wertphilosophisch verstanden, dem übergeordneten Urteil sittlicher Reflexion in seinem Verhältnis zum Wert der Gerechtigkeit unterworfen. Keinesfalls ist gemeint, "es sei dieses Problem [...] im Sinne der Gültigkeit jedes 'Schandgesetzes', jedes auch noch so unrichtigen positiven Rechts entschieden": 76 Die Gerechtigkeit dürfe nicht einfach der Rechtssicherheit geopfert werden.
69 Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge (FN 54), S. 173; zu Hobbes vgl. S. 120, FN 23. 70 Ebd., S. 172. 71 Vgl. Carl Schmitt: Gesetz und Urteil (FN 31), S. 49. 72 Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 79. 73 Vgl. Carl Schmitt: Gesetz und Urteil (FN 31), S. 48 u. S. 52. 74 Vgl. ebd., S. 50 ff.; Hervorhebung von mir. 75 Vgl. ebd., S. 50, FN 1 von S. 49. 76 Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge (FN 54), S. 175 f.
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Das Resultat der Überlegungen Radbruchs entspricht hier, was die Rechtspraxis angeht, der positivistischen Rechtsauffassung. Radbruch trennt zwischen einer soziologischen Bedeutung der Rechtsgeltung im Sinne sozialer Wirksamkeit, die für ihn außer Betracht bleibt, sowie einer juristischen und drittens einer rechtsphilosophischen. Für den Juristen ist der von der gesatzten Rechtsordnung vorgegebene Sinn verbindlich. Die positive Geltung ist aber nicht das letzte Wort, "der grausige Wahnwitz, den der Ausleger als den wahren Sinn des 'Hexenhammers' anerkennen muß", bindet zwar das deutende Erkennen, aber nicht das praktische Urteil: der Geltungssinn des gesatzten Rechts muß nicht zugleich als "Wahrheit" anerkannt werden.77 Was dem juristischen Sachverstand schlechthin vorgegeben und für diesen verpflichtend ist, wird damit nicht dem Gewissensentscheid des Rechtsgenossen und der rechtsphilosophischen Geltungsfrage entzogen. Wie deren Abwägung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit im einzelnen ausfällt, bleibt offen. In einer, gewissermaßen als Kontrapunkt zur Schmittschen Rechtstheorie, bemerkenswerten Formulierung wendet sich Radbruch gegen jede Verabsolutierung des positiven Rechts: "Über die wirkliche, nicht nur von ihr selbst vorgegebene Verbindlichkeit der Rechtsordnung handelt ausschließlich die philosophische Geltungstheorie, und wenn sich heute die juristische Geltungslehre wie das letzte Wort über die Geltungsfrage zu gebärden pflegt, so ist das ein typisches Beispiel scholastischer Denkweise, die, wie sie überall den 'wahren Sinn', z.B. des Aristoteles oder der Bibel, zur Wahrheit zu hypostasieren geneigt war, auch den Geltungssinn des Gesetzes unversehens in wirkliche Geltung verwandelt".™
Allerdings macht Radbruch von dem Grundsatz, daß der einzelne vom positiven Recht nicht per se auch in seinem praktischen Handeln gebunden sei, eine schwerwiegende Ausnahme. Vom Richter verlangt er, als "Diener nicht der Gerechtigkeit, sondern nur der Rechtssicherheit" sei dieser "bedingungslos" verpflichtet, "das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern" - daß der Streit ein Ende nimmt, ist wichtiger, als daß er ein gerechtes Ende findet.79 Bekannt geworden ist der Satz: "Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsempfinden in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt [,..]." 80 Hier wird Radbruch den eigenen Voraussetzungen untreu: als sittliches Postulat läßt sich diese bedingungslose Auslieferung des richterlichen Berufsstandes an das positive Gesetz nicht rechtfertigen. Radbruch wie Kelsen beschränken also die Bindungswirkung des (positiven) Rechts auf die Rechtserkenntnis des Fachjuristen und lehnen es ab, dem Recht eine aus diesem selbst heraus gegebene ethische Qualität zuzubilligen. Die Differenz zwischen beiden liegt darin, daß die rechtsethische Frage von Kelsen ganz aus dem juristischen Diskurs hinausgewiesen wird, während Radbruch sie immerhin noch als Problem akzeptiert und
77 Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge (FN 54), S. 181. 78 Ebd., S. 182. 79 Vgl. ebd., S. 182 f. 80 Ebd., S. 183.
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zum Gegenstand metarechtlicher Erörterung der Rechtsphilosophie macht. Es bestätigt sich, daß eine ethische Pflicht zum Rechtsgehorsam von einer naturrechtlichen Position aus bejaht wird, für den Rechtspositivisten hingegen nicht von vornherein gegeben ist, falls das Problem aus dieser Richtung überhaupt als legitime Fragestellung angesehen wird: Soweit eine Antwort versucht wird, schlägt hier die Tendenz zur Relativierung der Rechtsgeltung durch. Das Recht ist aus positivistischer Sicht, wie Radbruch es ausdrückt, nur "Menschenwerk", dessen Gültigkeit trotz des hohen Werts der Rechtssicherheit immer nur begrenzt sein kann.81 Es liegt daher auch in der Konsequenz dieser Relativierung, wenn Radbruch dem Recht, das notabene immer nur das positive Recht ist, trotz Anerkennung der in ihm ausgesprochenen Heteronomie, letztlich seinen begrenzten Platz im Reich sittlicher Autonomie zuweist. Die Schmittsche "Rechtsbestimmtheit", so nahe sie Radbruchs "Rechtssicherheit" zu sein scheint, führt in eine ganz andere Richtung. Alle in diesem Punkt relevanten Stellen der Schmittschen Staatsschrift widersprechen der Annahme, Schmitt könne das Recht irgendwelchen Gesichtspunkten der "Sekurität" untergeordnet haben. Das Recht darf weder "Zweck" noch "Wollen", erst recht aber kein Mittel für irgendwen oder irgendetwas sein, noch nicht einmal ein Mittel zum äußeren Schutz innerlicher Sittlichkeit, soll nicht "dem Gedanken der Sekurität in seiner materiellsten Bedeutung Einlaß" gewährt werden.82 Wer, wie Schmitt, "die Anerkennung einer überpersönlichen Dignität des Staates" fordert, kann zudem auch diesen weder als "Sekuritätsanstalt" noch als "Wohlfahrtseinrichtung" ansehen.83 Die Stellung Schmitts zur rechtsethischen Frage ist im Verhältnis zu allen individualistischen Ethiken gekennzeichnet durch die völlige Umkehr der Rechtfertigungslast. Das Recht bedarf keiner Rechtfertigung vor dem Individuum, auch nicht durch die Herstellung äußerer Sicherheit. Im Unterschied zu Radbruch hat Schmitt einfach deswegen keine Schwierigkeiten mit der "heteronomen Verpflichtung", weil er keiner kantischen abstrakten Vernunftethik anhängt. Schmitt proklamiert zwar eine Art Ethik des "Ethos",84 aber genau genommen auch nicht in einem Hegeischen Sinne als Ethos einer sittlich-vernünftigen Lebensform, sondern als abstraktes Ethos des "Dienstes", gewissermaßen unter Streichung jedes wärmenden Pathos der Gemeinschaft und der persönlichen Entfaltung ebenso wie aller vernünftiger Kriterien. Der Wert eines Menschen liegt dann in der Sache, von der er "ergriffen" ist, er "besteht in der Hingabe an den überindividuellen Rhythmus einer Gesetzlichkeit"; dies macht das "Grundprinzip aller Erscheinung des Wertes" aus.85 Dieses allgemeine Prinzip auf das Recht angewandt, heißt die verpflichtende Kraft des Rechts darin zu sehen, daß es nicht bloß ein faktischer "Imperativ", ein "Befehl" ist, der von einem Zwangsapparat exekutiert
81 Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge (FN 54), S. 175 f. 82 Vgl. Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 35. 83 Vgl. ebd., S. 85. 84 Diesen Ausdruck übernehme ich von Kurt Kluxen: Ethik des Ethos, Freiburg/München 1974. 85 Vgl. Carl Schmitt: Wert des Staates (FN 21), S. 90 u. 92 f.
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wird.86 Vielmehr ist das Recht, wie Schmitt seinen Dichterfreund Däubler paraphrasiert, "Gebot, demgegenüber der einzelne Mensch als Gegenstand der Welt der Wirklichkeit später kommt". 87 Wenn das Recht im eminenten Sinne "Norm" ist, so gilt es, weil es "gut und richtig" ist, nicht um der Einzelmenschen willen: "Wichtiger als daß es Menschen gibt, ist, daß es gute und gerechte Menschen gibt." 88 Das Recht verpflichtet bei Schmitt demnach, ohne der Stützung durch andere Normen zu bedürfen, aber in einer Form, die von den bisher aufgeführten Positionen auf markante Weise abweicht. Man kann resümieren: Einerseits fehlt, genau wie bei den Rechtspositivisten, die Einbettung der Rechtsnormen in einen sittlichen ordo, der ihnen, wie am Beispiel des neuthomistischen Naturrechts Cathreins zu sehen war, aus dieser Sicht unbedingte Gültigkeit verleiht. Ebenso wird von Schmitt jede Unterordnung des Rechts unter ein umfassenderes ethisches Konzept, jede Beurteilung nach Maßgabe irgendwelcher materialer, etwa neukantianisch gedachter Kriterien abgelehnt. Dennoch ist das Recht etwas Mehr-Als-Faktisches mit absoluter Geltung, was jeder strikte Rechtspositivist als "Metaphysik" ablehnen würde. Die Verpflichtung tritt bei Schmitt auf in einer existentiell-essentialistischen Form, in der Forderung an das Individuum, die eigene subjektiv-empirische Wirklichkeit zu negieren, "um teilzunehmen an einem außerindividuellen Wert, der allein das zum wertenden gewordene Prädikat "Sein" verdient.89 Wie weit die doch so ähnlich klingenden Begriffe "Rechtsbestimmtheit" und "Rechtssicherheit" in ihren Konsequenzen divergieren können, zeigt sich offen nach 1933. Der Satz Radbruchs, der Richter solle "nicht Diener der Gerechtigkeit, sondern nur der Rechtssicherheit" sein, wird von Schmitt 1934 wörtlich zitiert und als Beispiel des - in Anführungszeichen gesetzten - "rechtsstaatlichen" Denkens angeführt. Der "liberale Individualist", welcher Radbruch nun typischerweise sein soll, "denkt gesetzesstaatlich, normativistisch, weil er keinem Menschen, keinem König und keinem Führer traut, sondern sich an fixierte, unverbrüchliche, vorherbestimmte, berechenbare, feste Regeln
86 Allerdings ist die so bezeichnete Auffassung v o m Recht als "Imperativ" nur diejenige des älteren Positivismus, nicht die Kelsens. Dieser findet die "einzig korrekte Erfassung" der Rechtspflicht im Rechtssatz als einem konditionalen Sollsatz, einem "hypothetischen Urteile, das an das rechtswidrige Verhalten der Subjekte den Willen des Staates zu Strafe und Exekution knüpft"; vgl. Hans Kelsen: Hauptprobleme ( F N 58), S. 2 3 3 f. Siehe dazu auch Peter Koller: "Meilensteine des Rechtspositivismus im 20. Jahrhundert: Hans Kelsens Reine Rechtslehre und H . L . A . Harts 'Concept of Law'", in: Ota Weinberger u. Werner Krawietz (Gesamtredaktion): Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, W i e n / N e w York 1988, S. 129-178, hier S. 137 ff. 87 Carl Schmitt: Wert des Staates ( F N 21), S. 37. Diese ist eine Anspielung auf das Zitat aus Däublers Nordlicht, das Schmitt als Motto seiner Staatsschrift voranstellt: "Zuerst ist das Gebot, die Menschen kommen später." 88 Ebd., S. 99. Übrigens hat Radbruch Schmitts damals gerade erschienene Schrift als eines der "Beispiele für die gegenwärtige Tendenz zur Abkehr v o m Individualismus" angesprochen; vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge ( F N 5 4 ) , S. 154, F N 40. 89 Carl Schmitt: Wert des Staates
( F N 21), S. 87.
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hält. D a n n erst sieht er sich in Sicherheit und spricht v o n e i n e m 'Rechtsstaat'". 9 0 B e kanntlich hat Schmitt d e m Führer "getraut" und in "Führertum" und "Artgleichheit" die Garantie für "wirkliche Rechtssicherheit" g e s e h e n . 9 1 In S c h m i t t s "konkretem Ordnungsdenken" 9 2 ist nun e r s t a u n l i c h e r w e i s e der "Rechtsbegriff mit G e r e c h t i g k e i t u n d Sittlichkeit untrennbar verbunden"! 9 3 Stellt dies nicht e i n e v ö l l i g e K e h r t w e n d u n g Schmitts dar? Besieht m a n sich d i e s e V e r b i n d u n g freilich g e n a u e r , s o stellt sich heraus, daß Schmitt auch hier keinesfalls e i n e n " A u s w e g in abstrakt Vernunft- o d e r naturrechtliche Forderung e n , in e i n e u t o p i s c h e M o r a l o d e r in e i n richtiges Recht" (in A n s p i e l u n g auf S t a m m l e r ) sucht. 9 4 M i t der v o n Schmitt benutzten F o r m e l v o m "substanzhaften R e c h t der g u t e n Sache", 9 5 mit der E n t g e g e n s e t z u n g des, w i e e s w ö r t l i c h heißt, "unmittelbar gerechten", d . h . des nationalsozialistischen Staates g e g e n d e n "Rechtsstaat", 9 6 w i r d j e d e n f a l l s eines
90 Carl Schmitt: "Nationalsozialismus und Rechtsstaat", Juristische Wochenschrift, 63. Jg. (1934), S. 713-718, hier S. 714. Stärker als die hier eher antibourgeoisen Untertöne sind die antisemitischen Konnotierungen, welche an diversen Stellen der Schmittschen Schriften dieser Zeit "Normativismus", abstraktes Gesetzesdenken und "Rechtssicherheit" als geradezu existentiell "jüdische" Denkweisen erscheinen lassen. Besonders deutlich wird dies in einer Passage, in der Schmitt ausführt, es habe "das Einströmen des jüdischen Gastvolkes die Entwicklung weiter in die Richtung eines normativistischen Gesetzesdenkens" getrieben. "Erstens wegen der Eigenart des jüdischen Volkes, das seit Jahrtausenden nicht als Staat und auf einem Boden, sondern nur im Gesetz und in der Norm lebt, also im wahrsten Sinne des Wortes 'existenziell normativistisch' ist. Zweitens aber versteht es sich von selbst, daß ein Fremder, ein Gast, ein Metöke, das Recht des Volkes, bei dem er zu Gast ist, normativistisch und nur unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit sieht. Er gehört ja nicht zu der Wirklichkeit des Volkes, in der er lebt. [...] Er setzt infolgedessen an die Stelle des Rechts das Gesetz im Sinne einer vorher bestimmten, berechenbaren Norm." (Carl Schmitt: "Nationalsozialistisches Rechtsdenken", Deutsches Recht, 4. Jg. [1934], S. 225-229, hier S. 226 f.) 91 Siehe vor allem das Kapitel "Führertum und Artgleichheit als Grundbegriffe des Nationalsozialistischen Rechts", in: Carl Schmitt: Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1934, S. 32-46. Vgl. z.B. Carl Schmitt: "Der Weg des deutschen Juristen", Deutsche Juristen-Zeitung, 39. Jg. (1934), S. 691-698. Die "wirkliche" Rechtssicherheit ist nicht im "Festhalten an einem sinn- und situationslos gewordenen Gesetzeswort" zu finden, sondern nur "in der Festigkeit einer staatlichen Gesamtordnung, von deren Geist und Weltanschauung jeder mit der Anwendung und Gestaltung des Rechts betraute Jurist durchdrungen sein muß" (S. 695). 92 In Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, werden die Grundsätze des "konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenkens" (S. 8) entwickelt. Vgl. dazu auch Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 59-76. Wie Rüthers feststellt, wurde "der Geist des Nationalsozialismus zur Leitidee des Rechts und zur idée directrice aller konkreten Ordnungen erhoben" (S. 75). 93 Carl Schmitt: Nationalsozialismus
und Völkerrecht, Berlin 1934, S. 16.
94 Vgl. ebd., S. 17. 95 Ebd., S. 16. Dieses Zitat steht für eine Reihe ähnlicher Formulierungen; das "Recht der guten Sache" und "wirkliche Rechtssicherheit" setzt Schmitt gegen "die 'Rechtssicherheit' der berechenbaren Norm" etwa in Carl Schmitt: "Unsere geistige Gesamtlage und unsere juristische Aufgabe", Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 1. Jg. (1934), S. 11 f. Vgl. ganz ähnlich ders.: "Nationalsozialistisches Rechtsdenken" (FN 90), S. 227, mit der Forderung, "dem Recht der konkreten Wirklichkeit zum Siege zu verhelfen". Siehe auch ders.: "Nationalsozialismus und Rechtsstaat" (FN 90), S. 713. 96 Vgl. Carl Schmitt: "Was bedeutet der Streit um den 'Rechtsstaat'", Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 95 (1935), S. 189-201, hier S. 190. Auch hier ist vom "Gegensatz eines bloßen Gesetzesstaates gegen einen auf Recht und Gerechtigkeit gerichteten, Recht und Sittlichkeit nicht mehr
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nach w i e v o r nicht g e l i e f e r t : e i n M i t t e l , e i n Kriterium, das der einzelne g e g e n die "Rechtsverwirklichung" d e s Staates in A n s c h l a g b r i n g e n könnte. 9 7 A u s d e m abstrakten "Rechtsgedanken", d e m ü b e r p o s i t i v e n "Recht" als "Idee", ist j e t z t d i e W e l t a n s c h a u u n g einer allerdings sehr "konkreten" B e w e g u n g g e w o r d e n , w e l c h e d i e "individualistische B e s c h l a g n a h m e d e s R e c h t s g e d a n k e n s " 9 8 ü b e r w i n d e n s o l l . A u f d i e s e r B a s i s k ö n n e n auch Recht und Sittlichkeit w i e d e r v e r s c h m o l z e n w e r d e n , o h n e daß individualistische und moralistische M i ß d e u t u n g e n befürchtet w e r d e n müßten. Im Dritten R e i c h a m t s e n t h o b e n , w e i t g e h e n d o h n e P u b l i k a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n und isoliert, 9 9 hat Radbruch nach 1 9 4 5 rechtstheoretische K o n s e q u e n z e n aus d e m G e s c h e h e nen g e z o g e n , d i e v i e l f a c h als U m k e h r g e g e n ü b e r s e i n e m ursprünglichen P o s i t i v i s m u s verstanden w o r d e n sind. D i e als "Radbruchsche F o r m e l " berühmt g e w o r d e n e Ä u ß e r u n g aus d e m Jahre 1 9 4 6 lautet: "Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat." 100 D i e Lektüre der R e c h t s p h i l o s o p h i e Radbruchs legt nahe, auch g e g e n ü b e r der F a s s u n g v o n 1 9 1 4 hier k e i n e n Bruch, sondern e h e r d i e Berichtigung e i n e r I n k o n s e q u e n z - nämlich in b e z u g auf d i e v ö l l i g u n e i n g e s c h r ä n k t e Bindung d e s Richters an das p o s i t i v e R e c h t - und e i n e andere A k z e n t s e t z u n g zu sehen. 1 0 1 W o r i n liegt aber für Radbruch die "Ge-
trennenden Weltanschauungsstaat" die Rede, von der "weltanschaulich begründeten Einheit von Recht, Sitte und Sittlichkeit" im Nationalsozialismus (S. 198 f.). 97 Daß dies auch gar nicht beabsichtigt ist, wird besonders deutlich in Carl Schmitt: Über die drei Arten (FN 92), S. 32 ff. Die "rechtsphilosophische Begründung" des von Schmitt heftig abgelehnten Positivismus "führt [...] in die Gedankengänge eines individualistischen Rechtssicherheits-Interesses und beruft sich darauf, daß es ungerecht wäre, die durch das Gesetz hervorgerufene Erwartung der Rechtsgenossen, die expectation, das 'Vertrauen' zu enttäuschen". Das heißt aber nichts anderes, als daß im Positivismus "das Interesse der Rechtssicherheit an die Stelle der Gerechtigkeit" gesetzt wird (S. 35). 98 Carl Schmitt: "Die Rechtswissenschaft im Führerstaat", Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 2. Jg. (1935), S. 435-440, hier S. 437. 99 Vgl. hierzu Arthur Kaufmann: Gustav Radbruch. Rechtsdenker, Philosoph, Sozialdemokrat, Zürich 1987, S. 133-145.
München/
100 Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 3: Rechtsphilosophie III, Heidelberg 1990, S. 83-93, hier S. 89. Zur weiteren Diskussion sei verwiesen auf Robert Alexy: Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 1992. Die Aktualität dieses Problems liegt auf der Hand. Der Bundesgerichtshof hat unlängst in seinem "Mauerschützenurteil" an Radbruchs Überlegung angeknüpft, im Falle des "unerträglichen" Widerspruchs zwischen Gerechtigkeit und positivem Recht müsse das letztere weichen. Vgl. auch: Kurt Seelmann: Rechtsphilosophie, München 1994, S. 37 ff. u. S. 107 f. 101 Die Frage des Wandels in Radbruchs Rechtsphilosophie ist vielfach diskutiert worden; vgl. die Literaturauswahl in Arthur Kaufmann: Gustav Radbruch (FN 99), S. 215-217. Zur Abwägung von "Rechtssicherheit" und "Gerechtigkeit" in den "Grundzügen" tritt später mit der "Zweckmäßigkeit" des Rechts eine dritte Seite der "Rechtsidee". Vgl. zu den "Antinomien der Rechtsidee" Gustav
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rechtigkeit", auf welche man sich offensichtlich in ganz unterschiedlicher Absicht berufen kann? In der Frage, was denn heißen soll, "daß Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen" 102 und damit eben keinen Rechtscharakter aufweisen, zeigt sich der Sozialdemokrat Radbruch dann ab 1945 tatsächlich als "Individualist". Als fester Bestand überpositiven "Vernunftrechts" müssen die "in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte" gesammelten Grundsätze gelten. 103 Die Betonung des Werts der "Rechtssicherheit" wird zugunsten dieses "übergesetzlichen Rechts" deutlich zurückgenommen, wenn auch keineswegs aufgegeben. 104 Radbruchs Diktum von der notwendigen "Einheit der Staatsgewalt" scheint ohnehin seine stärkste Annäherung an eine "hobbistische" Formulierung seiner Position gewesen zu sein. In der kurz Rechtsphilosophie genannten, überarbeiteten dritten Auflage der Schrift 1932 fehlt diese Passage. 105
V Die erforderliche "Einheit" staatlicher Herrschaft muß in Schmitts Gedanken einer "Verwirklichung" des Rechts andere Züge annehmen, einem anderen Muster folgen, als dem eines bloß notwendigen und nützlichen "Machtspruchs", wie Radbruch sich ausgedrückt hatte. In seiner Politischen Theologie von 1922 hat sich auch Schmitt auf das Hobbessche "Autoritas, non veritas facit legem" berufen. 106 "Autoritas" heißt bei Schmitt freilich nicht "voluntas". Der Spruch der obersten Autorität ist mehr als ein beliebiger Befehl, weil es gar keine Autorität geben kann, die nicht in der Repräsentation einer ihr vorausliegenden "Idee" gründet. Repräsentation und Verwirklichung der Idee kann aber immer nur durch Menschen geschehen; keine Norm und keine Normen-"Ordnung" kann sich selbst verwirklichen. Die "Lehre von der Souveränität" zeigt, daß jede wirkliche "Einheit" auf persönlicher Repräsentation und Entscheidung beruht.
Radbruch: Rechtsphilosophie, in: ders.: Gesamtausgabe, 1993, S. 206-450, hier S. 302-307. 102 Gustav Radbruch: Fünf Minuten Rechtsphilosophie
Bd. 2: Rechtsphilosophie
(1945), in: ders.: Gesamtausgabe,
II, Heidelberg Bd. 3, S. 78 f.
103 Vgl. ebd., S. 79. 104 Vgl. Gustav Radbruch: Vorschule der Rechtsphilosophie S. 121-227, hier S. 153 f.
(1948), in: ders.: Gesamtausgabe,
Bd. 3,
105 Vgl. Gustav Radbruch: Grundzüge (FN 54), S. 171-174 mit ders.: Rechtsphilosophie (FN 101), S. 312 ff. Jedoch bleibt auch nach 1945 die Verbindung von Relativismus, dem Gedanken der Rechtssicherheit und einer "hobbistischen" Komponente im Grundsatz erhalten. Denn da, zumindest im Sinne einer verbindlichen Feststellung ethisch richtiger Rechtszwecke "das richtige Recht nicht festgestellt werden kann, muß es festgesetzt werden, und zwar durch eine Macht, die das Festgesetzte auch durchzusetzen vermag" (Gustav Radbruch: Vorschule [FN 104], S. 147). 106 Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität 11922], 2. Aufl., München/Leipzig 1934, S. 44. Im Original heißt es: "In civitate constituta, legum naturae interpretatio non a doctoribus et scriptoribus moralis philosophiae dependet, sed ab authoritate civitatis. Doctrinae quidem verae esse possunt; sed authoritas, non veritas, facit legem." (Siehe Thomas Hobbes: Opera Latina, Bd. 3, Neudruck der Ausgabe 1839-45, Aalen 1966, S. 202).
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Dies ist der grundlegende Sinn des Schmittschen "Dezisionismus" in seiner Politischen Theologie. Als eigentlicher Gegenpol wird von Schmitt explizit die Staatslehre Kelsens benannt. In seinen Schriften über Das Problem der Souveränität von 1920, über den soziologischen und den juristischen Staatsbegriff von 1922 sowie in seiner Allgemeinen Staatslehre von 1925 hat Kelsen seine Ansichten verdeutlicht. Für Kelsen gibt es keinen Staat "hinter" der Rechtsordnung und damit auch keinen "Verwirklichungsgedanken" im Sinne Schmitts. Der Staat ist, soweit er überhaupt für die juristische Erkenntnis in Betracht kommt, identisch mit der Rechtsordnung und "Ausdruck ihrer Einheit". 107 Die Einheit der Rechtsordnung als des Systems der positiven Rechtssätze ist wiederum zurückzuführen auf eine hypothetische Grundnorm, deren einzige Funktion es ist, die Deutung einer effektiven Zwangsordnung als Rechtsordnung zu ermöglichen. 108 Die "Einheit" des Rechts ist also letztlich bloß der "Einheit des Erkenntnisstandpunktes" geschuldet.109 Es zeigt sich hier ein Verhältnis von besonderer Nähe bei gleichzeitigem intensivsten Gegensatz zwischen Kelsen und Schmitt.110 Der Clou bei der Kelsenschen Grundnorm ist, daß sie die Reduktion des Rechts auf ein Faktum vermeiden hilft. Insoweit ist seine Position gerade nicht positivistisch im Sinne des älteren Positivismus, sondern entspricht der auch von Schmitt in seiner Staatsschrift geforderten Trennung vom "Recht" als reiner "Norm" von allem Faktischen. 111 Eine auf den ersten Blick ebenso deutliche Parallele zwischen beiden Autoren liegt in der Trennung von Recht und Moral, die freilich bei Schmitt dazu dient, das Recht und den Staat mit einer aller "Privatmoral" enthobenen Eigenwürde zu versehen. Im Gegensatz zu Kelsen kann Schmitt das "Recht" jedoch nicht als ein reines "Normensystem" verstehen. Die unumgehbare rechtliche Frage sei, wer die Norm anwendet, wer das Subjekt der Entscheidung ist: quis iudicabit? Schmitt verhehlt nicht, daß hinter der Frage nach der konkreten Instanz der Rechtsverwirklichung, insbesondere nach dem "letztinstanzlichen Garanten", der das Recht in seiner Gesamtheit schützt, daß also hinter der Frage nach der "Souveränität" die Gedankenwelt einer autoritären Staatstheorie
107 Hans Kelsen: Allgemeine Staatslehre [1925], Berlin/Zürich 1966, S. 16. Vgl. auch schon Hans Kelsen: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beiträge zu einer Reinen Rechtslehre [1920], unveränd. Neudruck der 2. Aufl. von 1928, Aalen 1960, S. 9 f., S. 13 f. u. S. 85 f. sowie Hans Kelsen: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht [1922], Neudruck der 2. Aufl. von 1928, Aalen 1962, S. 86 f. 108 Zu den Problemen, die auch bei Kelsen selbst in der Lehre von der Grundnorm auftreten, vgl. Horst Dreier: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986, insbes. S. 42-56. 109 Diese ist nach Kelsen zugleich das "Kriterium für Wissenschaftlichkeit der auf Staat und Recht gerichteten Erkenntnis" (vgl. Hans Kelsen: Allgemeine Staatslehre [FN 107], S. 130). 110 Vgl. bereits Hasso Hofmann: Legitimität gegen Legalität (FN 47), S. 41-54. Zum Verhältnis Schmitt - Kelsen siehe jetzt auch Reinhard Mehring: "Staatsrechtslehre, Rechtslehre, Verfassungslehre: Carl Schmitts Auseinandersetzung mit Hans Kelsen", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 80 (1994), S. 191-202, mit weiterer Literatur zum Vergleich der beiden Autoren. 111 Distanziert klingt aber bereits die Einschätzung in Carl Schmitt: Politische Theologie (FN 106), S. 27.
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steht.112 Nicht zufällig ist in seiner Politischen Theologie mit Hobbes ein an der Möglichkeit des Bürgerkriegs orientierter Theoretiker des absoluten Staates der Gewährsmann für Schmitt. Von Hobbes übernimmt Schmitt die Überlegung, daß in der Bürgerkriegssituation alle Seiten Recht und Wahrheit beanspruchen, daß es aber darauf ankomme, wer entscheidet. Daher lobt Schmitt Hobbes' "Personalismus", den Blick auf die konkrete Person, die zugleich sozialer Machtträger und legitime Rechtsinstanz ist und den Streit der Parteien durch autoritative Entscheidung beendet.113 Die Positionen Schmitts und Kelsens spiegeln sich wechselseitig: In Kelsens Theorie sieht Schmitt den fatalen Versuch, jede Form personaler und zugleich öffentlicher Macht zugunsten der "Herrschaft" eines bloßen Regelwerks theoretisch zu eskamotieren und politisch-praktisch zu zerstören. Kelsen ist für Schmitt der modernste Vertreter des rechtsstaatlichen Denkens, das Schmitt, hierin Bonald und Donoso Cortés als Kronzeugen gegenrevolutionärer Argumentation folgend, mittels einer Analogisierung religiöser und politischer Vorstellungen charakterisiert. Dem Glauben an den persönlichen Gott entspricht die persönliche Autorität des Monarchen, dem Deismus, der "Gott nichts außer der Ordnung" tun läßt (Leibniz), entsprechen die Systeme des Vernunftnaturrechts der Aufklärung, die gleichsam die unwandelbaren göttlichen Gesetze zu imitieren versuchen. Diese Entwicklung gipfelt darin, daß der göttliche Konstrukteur der großen Maschine schließlich verschwindet: "Die Maschine läuft jetzt von selbst."114 Dem entspricht im politischen Bereich das Aufkommen von Immanenzvorstellungen, die Transzendenz durch Identität ersetzen: "[...] die demokratische These von der Identität der Regierenden mit den Regierten, die organische Staatslehre mit ihrer Identität von Staat und Souveränität, die rechtsstaatliche Lehre Krabbes und ihre Identität von Souveränität und Rechtsordnung, endlich Kelsens Lehre von der Identität des Staates mit der Rechtsordnung."115 Das Immanenzdenken endet aber im Anarchismus, der es ablehnt, "ein fremdes, von außen kommendes Sollen" der (vermeintlich) "natürlichen und immanenten Wahrheit und Schönheit menschlichen Lebens künstlich" aufzuzwingen.116 Der Kampf gegen die Heteronomie setzt mit seiner Leugnung jeder transzendent begründeten Autorität bei der Theologie an und endet in seinen "letzten Konsequenzen", wie Donoso Cortés schon prophezeit hatte, mit der "Auflösung der auf väterlicher Gewalt beruhenden Familie".117 Kelsen hingegen warnt grundsätzlich vor der politischen Ausbeutbarkeit jeder Staatsmetaphysik als Rechtfertigung eines außerrechtlichen Eingreifens "von oben". Die 112 Allerdings wählt Schmitt hier die für ihn typische indirekte Form, indem er sich auf Wolzendorff bezieht, den nach seiner Auffassung die Logik der Sache in die "Nähe" einer autoritären Staatstheorie geführt habe; vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie (FN 106), S. 36. 113 Vgl. ebd., S. 44 f. u. S. 61. Das gewissermaßen Ultra-Hobbistische bei Schmitt liegt allerdings darin, daß mit der höchsten niemals bloß die stärkste Macht gemeint ist. Zum zwiespältigen Verhältnis Schmitts zu Hobbes vgl. auch den Aufsatz von Günter Meuter in diesem Band. 114 Ebd., S. 62. 115 Ebd., S. 63. 116 Vgl. ebd., S. 81. 117 Vgl. ebd., S. 82.
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imaginäre Verdopplung eines Staates des positiven Rechts und eines Staates jenseits der Rechtsordnung ermögliche es, so Kelsen, "aus Nichtrecht Recht, aus einem nackten Machtakt einen Rechtsakt zu deuten". Dieser Staatsbegriff habe somit eine "rechtsfeindliche Bedeutung", die dazu gedient habe, das Eingreifen des Monarchen und seiner Exekutive gegen die bestehende Rechtsordnung zu legitimieren. 118 Bei allem inhaltlichen Relativismus, der es Kelsen - ungleich konsequenter als Radbruch - ablehnen läßt, irgendeinem gegebenen Recht anhand außerjuristischer Normen den Rechtscharakter abzusprechen, wird hier doch die politische Bedeutung der Kelsenschen Rechtslehre sichtbar. Die Einheit von Staat und Rechtsordnung zu postulieren, heißt nämlich, alle rechtliche Legitimation auf die geregelten Verfahren zu beschränken und damit - den Absichten Schmitts genau entgegengesetzt - jede Berufung auf eine "höhere" Einheit abzuschneiden. Darin liegt natürlich jene Affinität zur demokratischen Willensbildung begründet, welche den Relativismus Kelsens ebenso wie denjenigen Radbruchs auszeichnet.119 Kelsen hat selbst, jedoch mit umgekehrten Wertvorzeichen wie Schmitt, die Parallele von Gott und Staat - beide sind "nur existent, wenn und sofern man an sie glaubt" - sowie von Atheismus und Anarchismus gezogen und seine eigene Position als "erkenntniskritischen" Anarchismus bezeichnet. 120 Dieser beseitigt mit der "[...] Reduktion des Staatsbegriffs auf den Rechtsbegriff [ . . . ] die Vorstellung, daß der Staat eine absolute Realität sei, die dem einzelnen als ein schlechthin Gegebenes, von ihm Unabhängiges, schicksalhaft entgegentritt. Indem er den Staat als die bloße Rechtsordnung begreifen lehrt, bringt er dem einzelnen zum Bewußtsein, daß dieser Staat Menschenwerk ist, von Menschen für Menschen gemacht, und daß darum aus dem Wesen des Staates nichts gegen den Menschen gefolgert werden kann."121
Beinahe alles läßt sich in diesem Vergleich umkehren: Wo Schmitt die fundamentale Analogie der Ordnungsvorstellungen von Gott, Staat und Familie erkennen will, vermutet Kelsen, in Aufnahme Freudscher Motive, die Projektion ursprünglich dem übermächtigen Vater geltender Affekte, die Hypostasierung des "anthropomorphen Denkbehelfls] der Personifikation". 122 Schmitt findet im Staat "die maßgebende politische Einheit", weil und sofern er ein offenes Verfügungsrecht über das Leben von Menschen besitzt,123 etwas, das "kein Programm, kein Ideal, keine Norm und keine Zweckhaftig-
118 Vgl. Hans Kelsen: "Gott und Staat", Logos, Bd. XI (1922/23), S. 261-284, hier S. 277 ff. 119 Vgl. Kurt Lenk: "Freiheit und Kompromißbildung. Zum Demokratiekonzept Hans Kelsens", in: Herfried Münkler (Hg.): Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, München/Zürich 1992, S. 114-125. 120 Vgl. Hans Kelsen: "Gott und Staat" (FN 118), S. 282. Die Hypostasierung der "Staatsperson" hat Kelsen schon 1920 kritisiert. Vgl. ders.: Die Souveränität (FN 107), S. 16-21. Dort erscheint auch die Analogie von Gott und Staat (S. 21). Vgl. natürlich ders.: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (FN 107), passim; mit Anknüpfung an Freud: S. 19-33. 121 Hans Kelsen: "Gott und Staat" (FN 107), S. 283. 122 Zit. nach ebd., S. 270. 123 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 46. In der Ausgabe von 1933 ist dann die "politische Einheit" die "maßgebende Einheit, total und souverän [Hervorhebung von mir]", die den Menschen "in seiner politischen Teil-
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keit" 124 verleihen kann. 125 Kelsen vermag demgegenüber in solcher Auffassung nichts anderes zu sehen als eine Gelegenheit für den "Kulturmenschen", "hinter der Maske seines Gottes, seiner Nation oder seines Staates alle jene Instinkte aus[zu]leben, die er als einfaches Gruppenglied, innerhalb der Gruppe ängstlich zurückdrängen muß", d.h. als Gelegenheit, in der Verquickung von Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung mit höchstem "Recht" im Namen eines Gottes, des Staates oder der Nation, "die er gerade darum als 'seinen' Gott, seine Nation und seinen Staat liebt", andere Menschen "zu zwingen, zu beherrschen oder gar zu töten". 126 Die Zumutung, die Kelsens "Staatslehre ohne Staat" nicht nur für die durchaus gegenläufig, nämlich zur /^Politisierung ihrer Begriffe hin orientierte Weimarer Staatstheorie darstellte, liegt in dem Verzicht auf jegliche dem Individuum vorgängige "Unverfügbarkeit", wozu auch das Naturrecht gehört, das Kelsen immer wieder einer radikalen Kritik unterzogen hat. 127 Für Schmitt ist eine "Einheit" unnachvollziehbar, die aus einem "System von Zurechnungen auf einen letzten Zurechnungspunkt" 128 bestehen soll, der auch noch nichts anderes darstellt, als eine (rechts)erkenntnisleitende, subjektive Hypothese. Es gibt für ihn keine "Einheit", die diesen Namen verdient, ohne einen objektiven Sinn ihrer Ordnung und ohne absolute Geltung. Daraus erklärt sich ebenso der Vorwurf Schmitts in seiner Verfassungslehre an Kelsen, für die Einheit der verfassungsgesetzlichen Bestimmungen kein "Prinzip" angeben zu können, 129 wie die 1931 geführte Kontroverse zwischen beiden Autoren um den Hüter der Verfassung. Ebenso wie für Kelsen klar ist, daß der beste Schutz der Verfassung als eines Normensystems durch ein Verfassungsgericht gewährleistet werden kann, 130 kommt für Schmitt zur Behauptung der Einheit als objektiver, sinnhafter Entscheidung und Ord-
nahme ganz und existenziell erfaßt f...]. Die Politik ist das Schicksal" (vgl. die Ausgabe Hamburg 1933, S. 21). 124 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen
(FN 123), S. 49.
125 Vgl. auch Armin Adam: Rekonstruktion des Politischen. Carl Schmitt und die Krise der Staatlichkeit 1912 - 1933, Weinheim 1992, S. 68 f.: Adam erkennt in der "Rede von der politischen Einheit allererst mythische Rede". Danach wird bei Schmitt im Begriff des "Existenziellen", der zur Überhöhung der politischen Einheit dient, etwas "benannt, was jenseits der normierten Ordnungen einerseits, der bloßen Tatsächlichkeiten andererseits auf eine höhere Wirklichkeit verweist, die doch ganz diesseitig ist". 126 Vgl. Hans Kelsen: "Gott und Staat" (FN 107), S. 267. 127 Hierzu sei exemplarisch verwiesen auf Hans Kelsen: "Das Problem der Gerechtigkeit", in: ders.: Reine Rechtslehre [1934], unveränd. Nachdruck der 2., bearb. und erw. Auflage, Wien 1976, S. 355-444. Beim Erscheinen dieser Ausgabe der Reinen Rechtslehre hieß es, Kelsen habe einen "Bereich der Freiheit aufgewiesen, in dem der Mensch in eigener Verantwortung zu entscheiden hat, in dem er sich nicht hinter angeblichen Autoritäten verstecken oder rückversichern kann [...1" (vgl. Hans-Ulrich Evers: "Die Reine Rechtslehre als individualistisches Extrem", Zeitschrift für Politik, Neue Folge, 9. Jg. [1962], S. 62-66). 128 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 106), S. 28.
129 Vgl. Carl Schmitt: Verfassungslehre
[1928], 5. unveränd. Aufl., Berlin 1970, S. 8 f.
130 Vgl. Hans Kelsen: Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Berlin-Grunewald 1931; vgl. hier insbes. S. 38.
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nung nur der mit persönlicher Autorität ausgestattete Reichspräsident in Frage.131 Worin die "Substanz" solcher "Einheit" und "Ordnung" gefunden werden kann, welche Wendungen Schmitt mit seinen Theoremen in dieser Frage vollzieht, ist hier nicht weiter zu untersuchen. Die fundamentale Verschiedenheit der Positionen zeigt sich also darin, daß in der "Einheit" die Antwort auf gänzlich unvereinbare Fragen liegt. Die Einheit von Staat und Recht in der "Rechtsordnung" bei Kelsen ist gegen alle Mystifikationen und Personifikationen gerichtet, gegen jede Vermischung der faktisch gesatzten Sollordnung mit einem "höheren" Sollen. Der ethische Verpflichtungscharakter des Rechts bleibt offen; Kelsens epistemologische Einheit läßt eben nur eine Verpflichtung im Sinne der existierenden Rechtsordnung erkennen, keine in irgendeinem weiteren Sinne. Auch die pragmatisch"hobbistisch" verstandene Einheit, wie Radbruch sie in seinen "Grundzügen der Rechtsphilosophie" um der Rechtssicherheit willen gefordert hat, relativiert zumindest den Anspruch auf Rechtsgehorsam, und zwar an Kriterien der sittlichen Vernunft. Beide Auffassungen erreichen nicht jene Unbedingtheit und "Objektivität" des Gebots an den einzelnen, auf die Schmitt nicht verzichten will. Erst diejenige Einheit, deren personalistische und "dezisionistische" Prägung ihre Grundlage in einer Metaphysik der "Verwirklichung" der Idee findet, kann für Schmitt einen Gehorsam fordern, der sich "zu Recht" vor etwas beugt, was mehr ist als eine faktisch existierende Macht.
131 Vgl. Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung [1931], 2. Aufl., Berlin 1969. Nach Auffassung Schmitts will die Verfassung dem Reichspräsidenten die Möglichkeit einräumen, sich "unmittelbar" mit dem "politischen Gesamtwillen des deutschen Volkes zu verbinden und eben dadurch als Hüter und Wahrer der verfassungsmäßigen Einheit und Ganzheit des deutschen Volkes zu handeln" (S. 159). Kelsen hat dies mit dem Satz kommentiert: "An Stelle des positivrechtlichen Verfassungsbegriffes schiebt sich die Einheit."
Andreas Koenen
Visionen vom "Reich" Das politisch-theologische Erbe der Konservativen Revolution
1. Reichsideologie in der Neuen Rechten Noch vor wenigen Jahren konnte konstatiert werden, daß die Reichsideologie der Zwischenkriegszeit nicht nur eine "höchst merkwürdig anmutende", sondern auch eine lediglich "kurzlebige Nachblüte der Bemühungen" gewesen sei, "die Reichsidee unter Bezugnahme auf das Mittelalter zu erneuern". 1 Seit der Wiedervereinigung jedoch zeichnet sich immer deutlicher eine Renaissance der Reichsideologie ab. Weitgehend unbemerkt von Wissenschaft und Publizistik hat sich am Rande sonstiger Diskurse in Kreisen der Neuen Rechten eine Diskussion entfacht, die aufhorchen läßt. 2 So sind seit Ende der 80er Jahre erste Anzeichen eines Umbruchs in den Einheitsvorstellungen auszumachen, etwa in einem Artikel Karlheinz Weißmanns, einem Meilenstein auf dem Weg der Neuen Rechten zu ihrem Bekenntnis zum "Reichsgedanken". Die Deutschen im "Herzen des Kontinents" werden darin an eine ofthin unbekannte, historische Wirklichkeit, die des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sowie die damit eng verbundene deutsche Vorrangstellung erinnert: "Ohne die Frage nach seinem Woher beantwortet zu haben, kann kein Volk sich der Frage nach seinem Wohin stellen. Die Verkürzung der gemeinsamen Erinnerung auf einen Zeitraum von höchstens zweihundert, in vielen Fällen von wenig mehr als fünfzig Jahren, schließt die Möglichkeit einer sinnvollen Antwort von vornherein aus." 3 Diese Äußerungen sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Weißmanns Beitrag gehöre, so der Schriftsteller Gert-Klaus Kaltenbrunner, "zum Gründlichsten, Verständnisvollsten
1
Franz-Josef Jakobi: "Mittelalterliches Reich und Nationalstaatsgedanke. Zur Funktion der Mittelalterrezeption und des Mittelalterbildes im 19. und 20. Jahrhundert", in: Karl-Ernst Jeismann (Hg.): Einheit - Freiheit - Selbstbestimmung. Die Deutsche Frage im historisch-politischen Bewußtsein, Bonn 1987, S. 155 ff., hier S. 156.
2
Vgl. bes. Alain de Benoist: "Der Reichsgedanke. Das imperiale Modell für die zukünftige Struktur Europas", in: Hellmut Diwald (Hg.): Handbuch zur Deutschen Nation, Bd. 4: Deutschlands Einigung und Europas Zukunft, Tübingen 1992, S. 587 ff.; Karlheinz Weißmann: "Das Herz des Kontinents. Reichsgedanke und Mitteleuropa-Idee", Mut (Januar 1987), S. 24 ff.; Heinz Magenheimer: "Der alte Traum vom Reich. Dem modernen Staat fehlt die Transzendenz", Junge Freiheit vom 11.03.1994, S. 12. Vgl. auch Peter Claus Hartmann: "Bereits erprobt: Ein Mitteleuropa der Regionen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation von 1648 bis 1806: Ein Modell für Europa?", Das Parlament vom 03.10.1993, S. 21 sowie unten FN 128.
3
Karlheinz Weißmann: "Herz des Kontinents" (FN 2), S. 35.
Andreas Koenen
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und Tiefschürfendsten, was zu diesem Thema in den letzten Jahren, man muß schon sagen: Jahrzehnten, gesagt worden ist". 4 Alain de Benoist, Vordenker der "Nouvelle Droite", hat in diesem Zusammenhang im Handbuch der deutschen Nation ausgeführt, die Reichs-Tradition beruhe auf drei Komponenten: dem antiken Bezug, dem christlichen Bezug sowie dem "Deutschtum". 5 Wie Weißmann hat auch Benoist keinen Zweifel daran gelassen, daß die politische Entwicklung nach 1945 - vom Reich zur Republik umgekehrt, der im 19. Jahrhundert verwurzelte Nationalstaat in ein Europa jenseits von Maastricht eingebunden werden müsse - in ein ethnisch orientiertes "Europa der Vaterländer". 6 Viele der der Reichsideologie nahestehenden Neuen Rechten berufen sich in ihren Ausführungen auf die Konservative Revolution der Zwischenkriegszeit, insbesondere auf Carl Schmitt, die "Schlüsselfigur" 7 dieser politischen Bewegung - das jedoch, ohne zu bedenken, daß die programmatische Basis derjenigen, die sich im Umkreis Schmitts zusammenfanden, eine Theologie des "Reiches" war, Schmitt selbst das Erscheinungsbild der Konservativen Revolution bereits seit Ende der 20er Jahre reichstheologisch geprägt hatte und seine zehn Jahre später entworfene "Völkerrechtliche Großraumordnung" lediglich der letzte reichstheologische Sinnstiftungsversuch des "Dritten Reiches" war. So soll, bevor die Neue Rechte sich das bislang weitgehend im Verborgenen gebliebene politisch-theologische Erbe der Konservativen Revolution aneignet, zu instrumentalisieren versucht und auf diesem Wege vielleicht sogar erneut eine politische Entwicklung heraufbeschwört, die der apokalyptischen Vision des "Reiches" ein Stück näher zu kommen scheint, im folgenden gefragt werden, was der vornehmlich politisch-theologisch orientierte, im besonderen der katholische Teil der Konservativen Revolution unter "Reich" verstand, auf welche Traditionen er sich berief, oder anders ausgedrückt: inwieweit sich die Neue Rechte mit Recht auf diese Tradition wird berufen können. 8
4
Gert-Klaus Kaltenbrunner: Leserbrief, Mut (Februar 1987), S. 3.
5
Vgl. Alain de Benoist: "Reichsgedanke" (FN 2), S. 588.
6
Zum "Europa der Vaterländer" vgl. Benno Hafeneger: "Rechtsextreme Europabilder", in: Wolfgang Kowalsky u. Wolfgang Schroeder (Hg.): Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1994, S. 212-227 sowie Jürgen Hatzenbichler u. Andreas Mölzer (Hg.): Europa der Regionen, Graz 1993, u.a. S. 22 ff.
7
Armin Möhler: Die Konservative Darmstadt 1989, S. 319.
8
Die folgenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf eine umfangreiche Untersuchung, die ich auf der Grundlage von rechtskonservativer Publizistik seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre sowie von biographischen Zeugnissen abgeschlossen habe und die im Sommer 1995 unter dem Titel Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum "Kronjuristen des Dritten Reiches" bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erscheinen wird.
Revolution
in Deutschland
1918-1932.
Ein Handbuch,
3. Aufl.,
Visionen vom "Reich"
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2. Reichstheologie in der Konservativen Revolution a) Wiederbelebungsversuche des "Sacrum Imperium" Der "Reichs"-Begriff war und ist in Vergangenheit und Gegenwart einer der kompliziertesten Begriffe politischen Denkens, 9 der dadurch von vornherein eine erhöhte Gefahr der Instrumentalisierbarkeit im Hinblick auf politisch motivierte Geschichtsspekulation in sich birgt. Zu den wirkmächtigsten Rezeptionssträngen dieses "Reichs"-Begriffes gehören die Reichsideologie und -theologie der Zwischenkriegszeit, in denen er eine starke bewußtseinsprägende Wirkung entfalten konnte. Hinter dieser der damaligen Begriffsverwendung zugrundeliegenden europapolitischen Vision stand das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als Fluchtpunkt politischer Erwartungen, Sehnsüchte und Hoffnungen, im besonderen das mittelalterliche "Imperium", dessen Faszinationskraft mit dem tiefen Einschnitt von 1918/19 keineswegs erloschen war. In der Wiederbelebung genau dieses "Sacrum Imperium" 10 sah die weitgehend katholisch geprägte Reichstheologie der 20er und 30er Jahre das politische Gegenbild zur staatlichen Wirklichkeit der Weimarer Republik. Die Anknüpfung an den Reichsgedanken erschien den Reichstheologen als einzig mögliche Rettung des Staates vor seiner modernen Bedrohung durch ökonomisches Denken und pluralistische Organisationen. Sie protestierten gegen die "Säkularisierung der Politik" sowie gegen einen "rein innerweltlichen säkularen Staatsbegriff". 11 Durch das "Reich" wollten sie den Staat "taufen" und "erlösen", ihn "von seiner gefährlichen Absolutheit" befreien, ihn so für den Christen annehmbar machen. Im "Reich", so hofften sie, sei der Prozeß der Säkularisierung aufzuhalten, wenn nicht sogar rückgängig zu machen. 12 In dieser Erbfolge sahen sich die katholischen Reichstheologen als Garanten einer "Humanität", wie sie sich im christlich gewordenen Abendland herausgebildet hatte. Sie hofften, der mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches einhergehenden katho-
9
Zur Vielschichtigkeit des "Reichs"-Begriffs vgl. Peter Moraw, Karl Otmar Freiherr von Aretin, Notker Hammerstein, Werner Conze u. Elisabeth Fehrenbach: "Reich", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 423-508.
10 So auch der Titel bei Alois Dempf: Sacrum Imperium. Geschichtsalters und der politischen Renaissance, München/Berlin 1929.
und Staatsphilosophie
des Mittel-
11 Wilhelm Stählin: Das Reich als Gleichnis, Schriften zur Förderung der Westfälischen WilhelmsUniversität zu Münster, Münster 1933, S. 17. 12 Robert Grosche: "Die Grundlagen einer christlichen Politik der deutschen Katholiken", Die Schildgenossen, 13. Jg. (1933/34), S. 46 ff. Vgl. auch Waldemar Gurian (unter dem Pseudonym Walter Gerhart): Um des Reiches Zukunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion?, Freiburg i.B. 1932, S. 150 ff.; Richard Faber: Die Verkündigung Vergib. Reich - Kirche - Staat. Zur Kritik der "Politischen Theologie", Hildesheim 1975; Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Kirche und demokratisches Ethos, Freiburg 1988, S. 60 f.
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lischen Minoritätsrolle ein Ende bereiten zu können. 13 Die Anhänger der apokalyptischen "Reichs"-Vision 14 setzten sich zum Ziel, den "Grabenbruch" 15 des 19. Jahrhunderts zu überwinden und so den gegenrevolutionären Kampf zu vollenden, den u.a. Donoso Cortés lange vor ihnen aufgenommen hatte. 16 Hierin schien ihnen die vermeintlich einzige Rettung zu liegen, die Rettung vor dem von Oswald Spengler prognostizierten Untergang des Abendlandes,17 Keimzelle dieser katholischen Erneuerungsbewegung war der "Abendland"-Kreis, in dem neben Carl Schmitt besonders der Redakteur der gleichnamigen Zeitschrift, Alois Dempf, wegweisend wirkte. Ausgehend von Köln, Bonn und Maria Laach, den geistigen Zentren der damaligen Reichstheologie, entstand damals eine "abendländische Bewegung", in der Schmitts Einfluß auf die Ausprägung des Begriffes "Reich" als "einheitsbildende Kraft und Idee" 18 zunächst kaum sichtbar, nichtsdestotrotz bereits deutlich spürbar war. Entscheidendes Ereignis im Hinblick auf einen gemeinsamen Weg der Reichstheologen war eine Tagung im Sommer des Jahres 1932. Ein weiter Kreis junger Intellektueller hatte sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit unter der geistigen Führung Carl Schmitts versammelt. "Gemeinsam bekannten wir uns zum weltgeschichtlichen Beruf des deutschen Volkes als einer nur religiös erfaßbaren Bestimmung. [...] Sprechen wir von einem Weltberuf des deutschen Volkes [und - A.K.] knüpfen wir mit der gläubigen Begründung und Deutung des Wortes "Reich" an die ältesten deutschen Überlieferungen an [...]". 19 Mit unter anderen diesen Worten wurden die Ergebnisse dieser im Juni
13 Zur Entstehung und Bedeutung der Minoritätsrolle im 19. Jahrhundert vgl. bes. Ulrich von Hehl: "StaatsVerständnis und Strategie des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik", in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke u. Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik - Wirtschaft - Gesellschaft, Bonn 1987, S. 238 ff. 14 Im Hinblick auf die apokalyptische Dimension der aufkommenden Reichstheologie ist insbesondere die Rezeption des Apokalyptikers Léon Bloy (1846-1917) im "Abendland"-Kreis sowie bei Carl Schmitt zu berücksichtigen. Vgl. hierzu bes. Martin Meyer: Ernst Jünger, München/Wien 1990, S. 503 ff.; Piet Tommissen: "Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode: 1888-1933)", in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschuleßr Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1988, S. 71 ff., hier S. 80; sowie Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, 2. Aufl., München 1925, S. 25 f. 15 So u.a. Albert Mirgeler: Rückblick auf das abendländische
Christentum,
16 Vgl. hierzu José María Beneyto: Apokalypse Stuttgart 1988.
Die Diktaturtheorie
der Moderne.
Mainz 1961.
17 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie München (Band 1 erschien 1918, Band 2 im Jahre 1922).
von Donoso der
Cortés,
Weltgeschichte,
18 Waldemar Gurian: Um des Reiches Zukunft (FN 12), S. 127. 19 So der Bericht "Drucksache Nr. 1" zu dieser bislang weitgehend unbekannten Tagung mit dem Titel "Ergebnis und Bedeutung der Aussprache von Lobeda." Der von Rudolf Craemer erstellte Bericht im wesentlichen handelt es sich um dessen Schlußwort - befindet sich im Anhang eines von Max Habermann im Anschluß an die Tagung verfaßten Rundschreibens an die Tagungsteilnehmer (im Nachlaß Carl Schmitt: Nordrhein-westfálisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf [HStAD], RW 265-204). - Zu den Teilnehmern der Tagung gehörten neben Schmitt, Albert Mirgeler, Max Habermann und
Visionen
vom
"Reich"
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1 9 3 2 v o m D e u t s c h n a t i o n a l e n H a n d l u n g s g e h i l f e n - V e r b a n d ( D H V ) auf Burg L o b e d a veranstalteten "politischen Führertagung" anschließend dokumentiert. Im Z u s a m m e n h a n g mit der anvisierten R e i c h s r e f o r m hatten d i e a n w e s e n d e n K o n s e r v a t i v e n R e v o l u t i o n ä r e in den Vordergrund g e s t e l l t , daß d i e "Erhaltung föderativer Kräfte, d i e Erneuerung der Landschaften in D e u t s c h l a n d selbst" V o r a u s s e t z u n g der "übernationalen Bindekraft" Mitteleuropas s e i . 2 0 Horst M i c h a e l 2 1 und Karl L o h m a n n , 2 2 b e i d e A u t o r e n s o w o h l i m "Ring" als auch im "Deutschen Volkstum" s o w i e Schüler Carl Schmitts, hatten im Hinblick auf diese Tag u n g "Grundsätze für d i e Prüfung der W e i m a r e r V e r f a s s u n g " erarbeitet. 2 3 Z i e l dieser V e r f a s s u n g s r e f o r m p l ä n e w a r d i e W i e d e r b e l e b u n g des R e i c h e s , d e s "von der G e s c h i c h t e d e m d e u t s c h e n V o l k e a u f e r l e g t e n I m p e r i u m s , unter d e s s e n Herrschaft e s s e i n e politische S e n d u n g in der W e l t erfüllen" s o l l e . 2 4 N u r w e n i g e W o c h e n nach dieser L o b e d a - T a g u n g ließ e i n E r e i g n i s bereits erahnen, w i e die konkrete U m s e t z u n g der " R e i c h " - V i s i o n a u s s e h e n sollte: d e r "Preußen-Schlag", aus r e i c h s t h e o l o g i s c h e m B l i c k w i n k e l der erste Schritt auf d e m W e g zur Erfüllung der H o f f n u n g auf das "Reich". In d i e s e n für d i e K o n s e r v a t i v e R e v o l u t i o n s o e n t s c h e i d e n d e n M o n a t e n z w i s c h e n Juli 1 9 3 2 und Januar 1 9 3 3 bekannte sich Carl S c h m i t t erstmalig in aller Ö f f e n t l i c h k e i t zu s e i n e r V i s i o n v o m "Reich" und g a b s o das A r c a n u m s e i n e r Staatsphilosophie preis. 2 5 E s w a r der 18. Januar 1 9 3 3 , als er anläßlich der R e i c h s g r ü n d u n g s -
Craemer auch Albrecht Erich Günther, Adolf Morsbach, Friedrich Vorwerk, Giselher Wirsing und der Chef der Hanseatischen Verlagsanstalt (HAVA), Benno Ziegler, die u.a. den von Habermann vorgeschlagenen und durch "Akklamation" gebilligten "Vertrauensrat" bildeten, sowie Schmitt-Schüler wie Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber. - Die besondere Bedeutung Schmitts resultierte nicht zuletzt daraus, daß die HAVA-Zeitschrift Deutsches Volkstum ihre "Leimrute" - insbesondere seit dem Wechsel Friedrich Vorwerks 1931/32 in die eigens für ihn geschaffene Berliner Redaktion (vgl. hierzu Siegfried Lokatis: "Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im 'Dritten Reich'", Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 38 [1992], S. 1-189) - mit großem Erfolg in Schmitts Freundes-, Schüler- und Bekanntenkreis ausgelegt hatte. 20 Rudolf Craemer: "Drucksache Nr. 1" (FN 19). 21 Horst Michael stand ursprünglich der "Berneuchener Bewegung" nahe, wurde nach 1934 Mitglied des Bruderrats der Bekennenden Kirche Berlin-Brandenburg, Kirchenberichterstatter der Täglichen Rundschau sowie englischer Zeitungen, trat 1950 zur römisch-katholischen Kirche über und wurde Mitarbeiter der "Herderkorrespondenz" (zit. nach Armin Möhler: Konservative Revolution [FN 7], Ergänzungsband, S. 15). Michael hatte sich schon seit 1930 sehr intensiv für Friedrich Gogarten interessiert, in dem er den einzig rechten Ansatzpunkt im protestantischen Lager zur Wiedergewinnung des Reichsgedankens sah; vgl. den Brief Michaels an Schmitt vom 18.05.1930 (HStAD/RW 265-59). 22 Zum Lebensweg Karl Lohmanns vgl. die Hinweise bei Armin Möhler: Konservative Revolution (FN 7), S. 15. Lohmann hatte bei Schmitt eine Dissertation über Die Delegation der Gesetzgebungsgewalt im Verfassungsstaate verfaßt. 23 So der Vermerk auf dem Exemplar Carl Schmitts in: HStAD/RW 265-430. Vgl. auch den von Michael und Lohmann verfaßten Mahnruf an die evangelische Kirche mit dem Titel Der Reichspräsident ist Obrigkeit! (Hamburg 1932). 24 "Drucksache Nr. 1" (FN 19), S. 5. 25 Zu diesem Vortrag über "Reich und Bund" vgl. bes. Schmitts Tagebuch-Eintrag vom 18.01.1933 sowie die für seine Antrittsvorlesung in Köln (am 20.06.1933) ausformulierte Fassung dieses Vortrags (vgl. Carl Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923-1939, Hamburg
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feier in seiner Festrede über "Bund und Reich als Probleme des öffentlichen Rechts" eindringlich an den mit "unwiderstehlicher Kraft" vordringenden "Reichsgedanken" appellierte, der den seit dem "traurigen Ende des alten Deutschen Reiches 1806" herrschenden Dualismus von Reich und Preußen überwinden müsse. 26 Doch einen konkreten Ausweg aus dieser "traurigen Situation", die das Urteil des Staatsgerichtshofs im Prozeß "Preußen contra Reich" herbeigeführt habe, 27 vermochte Carl Schmitt an diesem Abend des 18. Januar noch nicht zu sehen. "Der 20. Juli ist dahin", so schrieb Schmitt eine Woche später in sein Tagebuch. 28 Der "unheilvolle" Prozeß29 und das sich anschließende Urteil der Leipziger "Justizjuristen"30 enttäuschten seine metaphysische Naherwartung auf das "Reich". Diese Enttäuschung schlug sich auch in der konservativ-revolutionären Publizistik nieder. In einer Art "grellem Schlaglicht" habe sich im Konflikt Preußen - Reich das "Nichtverstehenkönnen" der "großen Idee" des "Reiches" gezeigt, ließ das "Deutsche Volkstum" nach dem Urteil verlauten. Deutschland sei "Erbe einer großen, einmaligen, einzigartigen Idee", die sich im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ein "großartiges Gefäß der Verwirklichung" geschaffen habe.31 Die Chance sei vertan, so der "Ring", Preußen zum Träger einer "Reichspolitik" zu machen, um so dessen "geschichtliche Sendung im Reich und für das Reich" wiederherzustellen. 32 Die Konservativen Revolutionäre deuteten dies als eine schwere Niederlage.
1940, S. 316) über "Reich - Staat - Bund" (abgedr. ebd., S. 190 ff.). Einen der Gründe, warum Schmitt dieses sein Arcanum weitestgehend verborgen hielt, deutete er in seiner Antrittsvorlesung an: "Unsere Vorstellungen vom Reich wurzeln in einer tausendjährigen großen deutschen Geschichte, deren mythische Kraft wir alle fühlen. Darüber brauch ich hier nicht weiter zu sprechen" (ebd., S. 195). Schmitt hatte Zweifel daran, daß Fragen des Glaubens und der Offenbarung sich überhaupt für eine Erörterung mit Ungläubigen eigneten. Denn bei der Beantwortung dieser Fragen komme es schließlich nicht auf Argumente, nicht auf "Unwiderleglichkeit", sondern auf die Wahrheit des Glaubens an, Carl Schmitt: "Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung", Summa, 1. Jg. (1917/1918), S. 71 ff., hier S. 71. 26 So die Deutsche Allgemeine Zeitung in ihrem Bericht über den Vortrag vom 19.01.1933. 27 Tagebuch-Eintrag vom 18.01.1933. 28 Tagebuch-Eintrag vom 25.01.1933; zur aus Schmitts Sicht "verheerenden" Wirkung des Prozesses vgl. auch das am 6. Februar 1972 vom Südwestfunk ausgestrahlte Interview von Dieter Groh und Klaus Figge (die transkribierte Fassung ist abgedr. bei Piet Tommissen: Over en in zake Carl Schmitt, Brüssel 1975, S. 89-109). 29 Carl Schmitt: Positionen und Begriffe (FN 25), S. 196. 30 Schmitt polemisierte des öfteren gegen die "Justiz-Juristen", deren "gedankliche Gewöhnung" durch die "Bahnen" der Zivil- und Strafprozeßordnung bestimmt war (vgl. u.a. Carl Schmitt: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 48 f.). 31 Karl Gustav Bittner: "Reich und Staat", Deutsches S. 325.
Volkstum, 1. Halbj. (1933), S. 325-332, hier
32 So in einem Aufruf "Für das Reich!" über die reichsideologie Bedeutung Preußens (vgl. Der Ring, 4. Jg., Heft 17 vom 25.04.1931; Hervorhebung im Orig.); zum Thema "Ring" und "Preußenschlag" vgl. auch Yuji Ishida: Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1988, S. 101 ff.
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b) Der reichstheologische Brückenbau ins "Dritte Reich" Carl Schmitt glaubte d e n n o c h auch w e i t e r h i n f e s t daran, daß das "Reich" d o c h noch "eines T a g e s v i e l e n M i l l i o n e n D e u t s c h e n eine e i n f a c h e Selbstverständlichkeit" sein würde.33 Zunächst ließ i h m d i e n e u e p o l i t i s c h e Situation j e d o c h nur w e n i g H o f f n u n g auf e i n e Erfüllung seitens der n e u e n M a c h t h a b e r . D o c h s c h o n knapp drei M o n a t e später, E n d e April 1 9 3 3 , nach e i n e m f o l g e n s c h w e r e n Perzeptions- und S t e l l u n g s w e c h s e l , hatte sich dies g r u n d l e g e n d geändert. Schmitt hatte i n z w i s c h e n e i n e n "ersten Blick" ins Dritte R e i c h g e w a g t und durch s e i n e Mitarbeit a m "Reichsstatthaltergesetz" dazu b e i g e t r a g e n , daß das Urteil des "unheilvollen" 3 4 L e i p z i g e r P r o z e s s e s außer Kraft g e s e t z t w u r d e . 3 5 D i e s e s "Reichsstatthaltergesetz" e r s c h i e n g e r a d e z u als e i n e Art "Zweiter Preußenschlag", 3 6 der die Ü b e r b r ü c k u n g der als "unüberbrückbar" 3 7 g e l t e n d e n "Kluft" z w i s c h e n L a n d e s r e g i e r u n g und R e i c h s r e g i e r u n g d o c h n o c h s c h l i e ß e n z u k ö n n e n schien. E s e r m ö g l i c h t e auf l e g a l e m W e g e s o w o h l d i e lang ersehnte R e i c h s r e f o r m 3 8 als auch die B e s e i t i g u n g der "handgreiflichen" und "phantastischen Fehlkonstruktion" 3 9 des V e r hältnisses v o n R e i c h und Ländern, g e g e n d i e sich Schmitt 1 9 3 2 v o r d e m Staatsgerichtsh o f v e h e m e n t zur W e h r g e s e t z t hatte.
33 So Schmitt in einem am 1. Februar 1933 gesendeten Rundfunkgespräch; der Text dieses Gesprächs ist abgedruckt in: Piet Tommissen: Over en in zake Carl Schmitt (FN 28), S. 113-119, hier S. 119. 34 Carl Schmitt: Positionen und Begriffe (FN 25), S. 196. 35 Ebd., S. 196. Vgl. auch den Tagebuch-Eintrag vom 04.04.1933: "Der Leipziger Spuk ist zu Ende; Bumkes Halbierungsweisheit zergeht in Dunst." (Zit. nach Paul Noack: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993, S. 174) 36 Vgl. Jürgen Bay: Der Preußenkonflikt 1932/33. Ein Kapitel aus der Vetfassungsgeschichte der Weimarer Republik (Jur. Diss.), Erlangen 1965, S. 267 ff.; Sabine Höner: Der nationalsozialistische Zugriff auf Preußen. Preußische Staats- und nationalsozialistische Machteroberungsstrategie 1928-1934, Bochum 1984, S. 409 ff. Zum Zusammenhang zwischen Reichsstatthaltergesetz und "Preußenschlag" vgl. auch Ulrich Scheuner: "Die nationale Revolution. Eine staatsrechtliche Untersuchung", Archiv des öffentliches Rechts, Neue Folge, Bd. 24 (1934), S. 166-220 u. S. 261-344, hier S. 289 ff. Zum Reichsstatthaltergesetz als Erfüllung des "Preußenschlags" vgl. Carl Schmitt: Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934, S. 47 ff.; ders: "Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts", in: Deutscher Juristentag 1933. 4. Reichstagung des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen e.V., zusammengestellt und berarb. von Rudolf Schraut, Berlin 1933, S. 242-252, hier S. 250; ders.: "Das neue Verfassungsgesetz", Völkischer Beobachter vom 01.02.1934, S. 1 f.; ders.: Positionen und Begriffe (FN 25), S. 194, S. 97 u. S. 315. 37 Carl Schmitt: Positionen und Begriffe (FN 25), S. 195. 38 Vgl. hierzu Ludwig Biewer: Reichsreformbestrebungen inder Weimarer Republik. Fragen zur Funktionalreform und zur Neugliederung im Südwesten des Deutschen Reiches, Frankfurt a.M./Bern/Cirencester 1980. 39 Carl Schmitt: "Konstruktive Verfassungsprobleme. Rede auf der Hauptversammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands e.V. am 4. November 1932", Manuskriptdruck, 15 S., Berlin o.J., S. 4 f.; ders.: "Gesunde Wirtschaft im starken Staat", Mitteilungen des Vereins zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnamverein), Nr. 1, S. 13-32, hier S. 14.
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Die katholischen Reichstheologen, die sich im Jahre 1933 gleich zwei Mal in ihrer "Hochburg", der Abtei Maria Laach, versammelten, erlagen jetzt reihenweise der trügerischen Hoffnung auf Mitgestaltung. Der Konflikt zwischen der alten Reichsidee und der neuzeitlichen Nationalstaatlichkeit (wie Helmuth Plessner später meinte: ein "Grundkonflikt" der deutschen Geschichte) schien sich jetzt zugunsten des alten Reiches zu verschieben, die von nationalsozialistischer Seite offiziell bekundete gegenrevolutionäre Stoßrichtung der "Nationalen Revolution" nährte die Vorstellung - wie sich später herausstellte, eine verhängnisvolle Illusion - , das Jahr 1933 könne die Gegenrevolution vollenden. Die erste dieser reichstheologischen Tagungen fand Ende April 1933 statt: die "Führertagung" des am 3. April 1933 unter der Schirmherrschaft Franz von Papens gegründeten Bundes "Kreuz und Adler". 40 Ein Kreis von etwa 20 "katholischen Gelehrten, Volkserziehern und Jungakademikern", 41 zu denen auch die führenden Reichstheologen Alois Dempf, 42 der katholische Philosoph und Historiker Albert Mirgeler und Carl Schmitt gehörten, kamen zusammen, um "die Idee, die geschichtlichen Voraussetzungen und den politischen Aufbau des Reiches der Deutschen" 43 zu erörtern. Der Bund "Kreuz und Adler" verfolgte seiner Satzung entsprechend das Ziel, durch die Entfaltung "christlich-konservativen Gedankenguts" der "Idee des Reiches der Deutschen" zu "politischem Gestaltungswillen" zu verhelfen. 44 Unterstützt wurde dieser Bund, der sich als Speerspitze der "konservativen Gegenrevolution" verstand, von Konservativen Revolutionären wie Franz von Papen, der im Nationalsozialismus die Überwindung des Liberalismus und im "Dritten Reich" eine "christliche Gegenrevolution zu 1789"45 sah, Robert Grosche und Pater Damasus Winzen, die hinter der Idee standen, daß die "deutsche konservative Revolution von 1933" in der "Abkehr von den geistigen Gesetzen, welche die liberale Revolution 1789" beherrscht hätten, 46 ihren
40 Zu dieser Tagung des Bundes "Kreuz und Adler" in Maria Laach vgl. bes. Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1924-1934), München 1969, S. 225 ff., 240 ff. 41 Kreuz und Adler. Führerbriefe,
Nr. 1 (Mai 1933), S. 14.
42 Alois Dempf hielt ein Referat über "Die Geschichte des Reichsgedankens", vgl. Damasus Winzen OSB: "Gedanken zu einer 'Theologie des Reiches'", Catholica. Vierteljahresschrift für Kontroverstheologie, 2. Jg. (1933), S. 97-116, hier S. 97. Obwohl der Inhalt dieses Referates nicht bekannt ist, ist anzunehmen, daß es vermutlich wesentliche Gedanken seines schon 1931 im Hochland veröffentlichten Aufsatzes über "Das Dritte Reich. Schicksale einer Idee", Hochland, 29. Jg., Bd. 1 (1931/32), S. 36 ff. u. S. 158 ff. enthielt. 43 Kreuz und Adler. Führerbriefe
(FN 41), S. 14.
44 Vgl. den Gründungsaufruf "An die katholischen Deutschen!" sowie das Programm "Kreuz und Adler. Bund katholischer Deutscher", abgedr. als Dokument Nr. 4 bei Klaus Breuning: Vision (FN 40), S. 326-329. 45 Franz von Papen: Appell an das deutsche Gewissen. Reden zur nationalen Revolution, S. 71; das Treffen fand statt am 15.06.1933 in Berlin.
Oldenburg 1933,
46 Vgl. Robert Grosche: "Grundlagen" (FN 12), S. 45; Damasus Winzen: "Gedanken" ( F N 4 2 ) , S. 116. Drei Gedanken - "Führertum", "organische und universale Bindung" und "nationale Arbeit" - stellten für Winzen ein "Erwachen echten Reichsbewußtseins" dar.
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Charakter als "Gegenrevolution" bewährt habe, sowie Carl Schmitt, der der Französischen Revolution mit ihren "liberalen 'Ideen von 1789' und ihrer Auflösung des Ordnungsdenkens" den "höchsten und deutschesten Ordnungsbegriff", das "Reich", als eine "konkret-geschichtliche [...] politische Einheit", 47 als "mythische Kraft" einer "tausendjährigen großen deutschen Geschichte" 48 entgegen stellte. "Kreuz und Adler" - ein Name, mit dem Luigi Valli 1928 in der Europäischen Revuew und Albert Mirgeler 1930 im Ring50 ihre Rezeptionen des "konservativen Reichstheoretikers" Dante Alighieri betitelt hatten51 allein dieser Name verdeutlichte die reichstheologischen Wurzeln des Bundes und führte darüber hinaus vor Augen, daß der in "Kreuz und Adler" zum Ausdruck kommende "Gestaltungswille" der Zielsetzung der katholisch-konservativen Revolutionäre genau entsprach. 52 Das "'Sacrum Imperium' als Idee" sei die "totale Einschmelzung des gesamten Volkskörpers in einen einzigen Willen", nämlich den, nun seine "geschichtliche Aufgabe zu erfüllen", kommentierte von Papen in den Führerbriefen, dem ab Mai 1933 erscheinenden Organ des Bundes. Die "Befreiung des deutschen Katholizismus aus den liberalisierten Parteiformen" sowie die "Herstellung einer gemeinsamen Front beider christlicher Konfessionen für den geistigen Neubau des Reichs" seien jetzt die vordringlichsten Aufgaben. "Wenn ich mich zur geistigen deutschen Revolution bekenne, so bekenne ich mich zum Geistesgut und zur Haltung jener Kräfte, die seit Jahren, z.B. im Verein kath. Akademiker, in Maria Laach oder Grüßau, eine Pflegestätte fanden - jener Männer, die wie Moeller van den Bruck, Max Hildebert Böhm, Edgar J. Jung oder Leopold Ziegler seit langem um eine konservative Neugestaltung ringen. Ihrer und der Geistesverwandten unermüdlichen Vorarbeit und geistigen Unerbittlichkeit verdankt die
47 Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, Hamburg 1934, S. 44.
48 Kölner Antrittsvorlesung "Reich - Staat - Bund" vom 20.06.1933, zit. nach Carl Schmitt: Positionen und Begriffe (FN 25), S. 195. 49 Luigi Valli: "Kreuz und Adler bei Dante", Europäische Revue, 4. Jg., 2. Halbbd. (1928/29), S. 767573. Es handelt sich dabei im wesentlichen um eine Wiederaufnahme der Thematik seines bereits 1922 in italienischer Sprache erschienenen Werkes II segreto della Cruce e dell' Aquilla nella Divina Commedia. 50 Albert Mirgeler: "Kreuz und Adler", Der Ring, 3. Jg. (1930), S. 906-908. Zur Frage der historischen Bedeutung dieses Artikels für den Bund "Kreuz und Adler" vgl. Klaus Breuning: Vision (FN 40), S. 227. 51 Alois Dempf: "Das Dritte Reich" (FN 42), Bd. 1, S. 36 ff. u. S. 158 ff., hier S. 43. Der gesamte "Symbolismus" der "Göttlichen Komödie", so war bei Valli in der Europäischen Revue zu lesen, stelle sich "als eine Reihe von überraschenden Symmetrien von Kreuz und Adler" dar; Luigi Valli: "Kreuz und Adler" (FN 49), S. 769 f. 52 Vgl. Franz von Papens Beitrag über die "Konservative Revolution" in den "Führerbriefen", Kreuz und Adler. Führerbriefe (FN 41), S. 2-4, der die Handschrift Edgar Julius Jungs deutlich durchscheinen läßt. Der Begriff des "Gestaltungswillens" war einer der zentralen Begriffe und wurde die Basis von Schmitts "Konkretem Ordnungs- und Gestaltungsdenken". Aus diesem "Gestaltungswillen" resultierte dann die Forderung zur "Mitarbeit" (vgl. auch FN 101).
62
Andreas Koenen konservative Idee wesentlich ihre neue Prägung. An uns ist es, diese Position nun heute wahrzunehmen." 53
Auch wenn die Lebensdauer des Bundes "Kreuz und Adler" nur kurz und seine unmittelbare politische Wirkung gering waren, so vermochte er doch sowohl Wahrnehmung als auch Wirklichkeit des "Dritten Reiches" zu verändern und war insofern besonders im Hinblick auf die Motivation der katholischen Jungkonservativen von nicht unerheblicher Bedeutung. Er nährte die Hoffnung, daß sich das Jahr 1933 zu einem "Triumph"54 der Politischen Theologie entwickeln, die am 30. Januar 1933 scheinbar gescheiterte Konservative Revolution doch noch vollendet werden könnte. Carl Schmitt mußte sich in dieser neuen Situation, dem Beginn des konservativrevolutionären "Brückenbaus" in Deutschland, entscheiden, ob er seiner Position als Hoffnungsträger der Reichstheologie entsprechend nun auch zu den Mitgestaltern des "Dritten Reiches" gehören wollte. An diesbezüglichen Aufforderungen fehlte es nicht. So war beispielsweise Joachim Moras, Schriftleiter der Europäischen Revue, der Auffassung, niemand könne "bessere Direktiven" geben als er.55 Doch ließ sich Schmitt - anders als Albrecht Erich Günther oder Edgar J. Jung, Heinrich von Gleichen oder Franz Schnabel, Hans Freyer oder Karl Gottfried Hugelmann56 - vorerst nicht zu weiteren inhaltlichen Präzisierungen des Reichsbegriffs verleiten. Erst nach seiner Entmachtung als Gestalter des innerdeutschen "Reiches", dem Fall des "Kronjuristen des Dritten Reiches" im Jahre 1936, sollte Schmitt sich stärker auf die aus den Reihen seiner Anhänger längst von ihm erwartete konkrete Gestaltung dieses
53 Franz von Papen: "Konservative Revolution" (FN 52), S. 3 f. In den "Führerbriefen" vom Juni 1933 wurde die "nächste Verwandtschaft" zwischen "christlich-konservativem Denken" und "nationalsozialistischer Revolution" explizit betont (S. 25). 54 Zum Ausdruck "Triumph der politischen Theologie" vgl. Klaus Scholder: "Kirche und Staat in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts (1918-1948)", in: Georg Denzler (Hg.): Kirche und Staat auf Distanz. Historische und aktuelle Perspektiven, München 1977, S. 102-109, hierS. 107. - Folgende Sekundärliteratur ist für die Frage des reichstheologischen "Brückenschlags" von grundlegender Bedeutung: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Katholizismus im Jahre 1933 (FN 12), bes. S. 55 ff.; Richard Faber: Verkündigung (FN 12), bes. S. 314 ff.; ders.: Abendland. Ein "politischer Kampfbegriff", Hildesheim 1979, bes. S. 14 ff.; ders.: Roma Aeterno. Zur Kritik der "Konservativen Revolution", Würzburg 1981, bes. S. 80 f., S. 43 ff., S. 228 ff. u. S. 242 ff.; ders.: "Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach", in: Hubert Cancik (Hg.): Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 136 ff. (S. 139 ff., u. S. 153 ff.); Jean F. Neurohr: Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 1957, S. 181 ff.; Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934, Frankfurt a.M./Berlin 1986, S. 536 f. 55 Joachim Moras in seinem Brief an Schmitt vom 07.07.1933 (HStAD/RW 265-206). Auch Hans Keller, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft "Deutscheuropa", die sich die Förderung "überstaatlicher Völkerrechtsgesinnung" zur Aufgabe gemacht hatte, wandte sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mit der Bitte um konkrete reichspolitische Gestaltung der anvisierten "Konservativen Revolution" Europas an Schmitt (Brief an Schmitt vom 15.10.1933 [HStAD/RW 265-206]). Dieser Arbeitsgemeinschaft gehörten unter anderen Karl Anton Rohan, Leopold Ziegler und Alois Dempf an. 56 Vgl. hierzu meine Untersuchung zum Fall Carl Schmitt (FN 8).
Visionen
vom
63
"Reich"
"schwierigen n e u e n S y s t e m s " überstaatlicher Ordnung k o n z e n t r i e r e n . 5 7 N u n endlich konnte er sich intensiv w i e d e r mit d e m T h e m e n s p e k t r u m b e f a s s e n , das i m Z e n t r u m seines r e i c h s t h e o l o g i s c h e n B e k e n n t n i s s e s stand und i h m E n d e der 2 0 e r Jahre d e n W e g für den A u f s t i e g z u m "Kronjuristen der Präsidialregierungen" g e e b n e t hatte. 5 8 "Der neue O r d n u n g s b e g r i f f e i n e s n e u e n Völkerrechts", konstatierte Schmitt in seiner Völkerrechtlichen Großraumordnung aus d e m Jahre 1 9 3 9 , "ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht [...] In ihm haben wir den Kern einer neuen völkerrechtlichen Denkweise, die vom Volksbegriff ausgeht und die im Staatsbegriff enthaltenen Ordnungselemente durchaus bestehen läßt, die aber zugleich den heutigen Raumvorstellungen und den wirklichen politischen Lebenskräften gerecht zu werden vermag; die 'planetarisch', d.h. erdraumhaft sein kann, ohne die Völker und die Staaten zu vernichten und ohne, wie das imperialistische Völkerrecht der westlichen Demokratien, aus der unvermeidlichen Überwindung des alten Staatsbegriffs in ein universalistisch-imperialistisches Weltrecht zu steuern. "59 Schmitt knüpfte damit an s e i n e bereits 1 9 3 3 g e t r o f f e n e F e s t s t e l l u n g , der B e g r i f f des Staates habe "das alte R e i c h zerstört", an und rief nun, E n d e der 3 0 e r Jahre, das E n d e des v o m 16. bis 2 0 . Jahrhundert w ä h r e n d e n "Zeitalters der Staatlichkeit" aus. 6 0 Im letzten Kapitel seiner Völkerrechtlichen Großraumordnung w i e s er unter d e m Titel "Der R e i c h s b e g r i f f i m Völkerrecht" 6 1 darauf hin, daß "dem b i s h e r i g e n Z e n t r a l b e g r i f f d e s Völkerrechts, d e m Staat, e i n e i n f a c h e r völkerrechtlich brauchbarer, aber durch s e i n e G e g e n w a r t s n ä h e ü b e r l e g e n e r , höherer Begriff" - das "Reich" - e n t g e g e n z u s e t z e n sei. 6 2 Schmitt hatte d i e "Sonne d e s R e i c h s b e g r i f f s " a u f g e h e n sehen 6 3 u n d hielt jetzt die Zeit für g e k o m m e n , 6 4 den " R e i c h s " - B e g r i f f endlich v o n v ö l k e r r e c h t l i c h e r S e i t e her zu
57 Mit der Schaffung eines dem Völkerbund entgegenzusetzenden "politischen Gebildes" gelange man, so wußte Schmitt, in die "ganze Problematik" eines "neuen politischen Systems". So äußerte sich Schmitt in der Völkerrechtsausschußsitzung der Akademie für Deutsches Recht vom 19.06.1936 (das Protokoll dieser Sitzung befindet sich in: Bundesarchiv Koblenz/Abt. Potsdam: Akademie für Deutsches Recht, Nr. 28, Bl. 192). 58 Vgl. Verf.: Fall Carl Schmitt (FN 8), Kapitel 2 u. 3. 59 Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin/Wien/Leipzig 1939, S. 87 f. 60 Carl Schmitt: "Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit", Das Reich und Europa, Leipzig 1941, S. 91 ff. Schmitt beklagte sich bereits 1933 darüber, daß der Begriff des Staates "das alte Reich zerstört" habe; vgl. Positionen und Begriffe (FN 25), S. 191. 61 Der Titel dieses Kapitels ist beinahe identisch mit dem Titel eines für die reichsideologische Zeitschrift Deutscheuropa (vgl. FN 55) geplanten Beitrages von 1933. 62 Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung
(FN 59), S. 74.
63 So Schmitt in ebd., S. 70; ders.: "Der Reichsbegriff im Völkerrecht", Deutsches Recht, 9. Jg. (1939), S. 341-344, hier S. 341; ders.: Positionen und Begriffe (FN 25), S. 303. 64 "Als ich im Herbst 1937 meinen Bericht über die 'Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff' [...] vorlegte, war die politische Gesamtlage von der heutigen noch wesentlich verschieden. Damals hätte der Reichsbegriff nicht, wie das jetzt hier geschieht, zum Angelpunkt des neuen Völkerrechts erhoben
64
Andreas Koenen
klären, ihn als "neuen Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts" einzuführen. "Reich" sei die "führende und tragende Macht", deren politische Idee in einem bestimmten Großraum "ausstrahlt" und die "für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte" "grundsätzlich ausschließt". 65 Zum Begriff des "Reiches" gehöre zwangsläufig eine vom "Volk getragene [...] volkhafte Großraumordnung", eine Ordnung, die nur vom "Reichsbegriff" ausgehen könne. 66 In ihm liege der "Kern einer neuen völkerrechtlichen Denkweise", die die im "Staatsbegriff enthaltenen Ordnungselemente durchaus bestehen" lasse, zugleich aber auch "den heutigen Raum Vorstellungen und den wirklichen politischen Lebenskräften gerecht" werde, wobei der Raum-Begriff "integrierender Bestandteil der Lehre vom Reich" war, so der Schmitt-Freund Albert Mirgeler.67 Doch war den Konservativen Revolutionären im Laufe der Zeit die Möglichkeit zur Begriffsbestimmung mehr und mehr entzogen worden, mehr und mehr war ihr anfänglich vorhandener Einfluß geschwunden, mehr und mehr hatte sich statt des an der christlich-abendländischen Geschichte orientierten raumhaft-europäischen der universalistisch-imperialistische Reichsbegriff durchgesetzt. Die Konservativen Revolutionäre, die sich in den ersten Jahren nach der Machtergreifung - nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den innerkatholischen Kritikern der Reichstheologie 68 - besonders um eine Begriffsbestimmung bemüht hatten, mußten nun eingestehen, daß ihr Vorhaben von nur geringem Erfolg gekrönt war. So knüpften sie zu Beginn des neuen Jahrzehnts letzte Hoffnungen zur Reaktivierung ihrer Vorstellungen eng an die im Frühjahr 1940 unter federführender Mitwirkung des Propagandaministeriums gegründete Wochenzeitung Das Reich. Bereits seit den 20er
werden können. [ . . . ] Heute kann ich die Antwort geben." (Carl Schmitt: "Reichsbegriff im Völkerrecht" [FN 63); Völkerrechtliche Großraumordnung [FN 59], S. 87; Positionen und Begriffe (FN 25), S. 312) 65 Carl Schmitt: Völkerrechtliche
Großraumordnung
(FN 59), S. 35.
66 Ebd., S. 87 f.: "Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht. In ihm haben wir den Kern einer neuen völkerrechtlichen Denkweise, die vom Volksbegriff ausgeht und die im Staatsbegriff enthaltenen Ordnungselemente durchaus bestehen läßt, die aber zugleich den heutigen Raumvorstellungen und den wirklichen politischen Lebenskräften gerecht zu werden vermag; die 'planetarisch', d.h. erdraumhaft sein kann, ohne die Völker und die Staaten zu vernichten und ohne, wie das imperialistische Völkerrecht der westlichen Demokratien, aus der unvermeidlichen Überwindung des alten Staatsbegriffs in ein universalistisch-imperialistisches Weltrecht zu steuern." 67 Zu diesem Zusammenhang vgl. Albert Mirgelers Beitrag mit dem Titel "Der Raum als geschichtliche Macht", Europäische Revue, 9. Jg., 2. Halbbd. (1933), S. 390-394. Zum konservativen Raum-Verständnis vgl. auch Karl Mannheim: "Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland", Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 57 (1927), S. 68-142 u. S. 470-495, bes. S. 99 ff.; Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus, Frankfurt a.M./New York 1989, S. 158 ff. 68 Zu den schärfsten Kritikern der Reichstheologie gehörte Carl Schmitts Freund Erik Peterson. Dessen Monotheismus-Traktat gegen die Politische Theologie ist letztlich nur als Kampf gegen die geschichtlich bedeutsam gewordene Reichstheologie zu verstehen; vgl. hierzu im einzelnen die Untersuchung des Verf. zum Fall Carl Schmitt (FN 8).
Visionen
vom
"Reich"
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Jahren hatte sich Joseph G o e b b e l s v o n M o e l l e r v a n d e n B r u c k s "prophetischer Schau", 6 9 v o n d e s s e n Schrift Das dritte Reich,™ inspirieren lassen, 7 1 und w a r g e n ü g e n d mit den Ideen der K o n s e r v a t i v e n R e v o l u t i o n ä r e vertraut, u m d i e s e in der entscheid e n d e n Situation d e s Frühjahrs 1 9 3 3 u m w e r b e n zu k ö n n e n . M i t der M a g n e t w i r k u n g dieser neuen Z e i t u n g nun, d i e mit knapp 1,5 M i l l i o n e n E x e m p l a r e n b e i n a h e d i e A u f l a g e n h ö h e des Völkischen Beobachters erreichte, 7 2 ließ sich d i e k o n s e r v a t i v e Elite noch ein letztes M a l m o b i l i s i e r e n . Aus dem Spielraum z w i s c h e n Kollaboration und Distanz erwuchs eine Anziehungskraft, die K o n s e r v a t i v e R e v o l u t i o n ä r e w i e Carl S c h m i t t und M a x C l a u s s , einstiger Redakteur der Europäischen Revue,73 erneut in d e n Irrglauben v e r s e t z t e , d i e Gestaltung d e s R e i c h e s d o c h n o c h in ihrem S i n n e b e e i n f l u s s e n z u k ö n n e n . 7 4 A l l e s H o f f e n w a r u m s o n s t . W i e s c h o n d i e v o r h e r i g e n , s o w a r auch d i e s e r k o n s e r v a tiv-revolutionäre S i n n s t i f t u n g s v e r s u c h z u m S c h e i t e r n verurteilt. S c h m i t t , der g l e i c h s a m mit s e i n e m "trojanischen Pferd" 7 5 a m w e i t e s t e n ins G e b ä u d e d e s n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Machtapparats hatte e i n d r i n g e n k ö n n e n , z o g sich nun in d i e "innere E m i g r a t i o n " zurück. S e i n Glaube an d i e W i r k u n g s m ö g l i c h k e i t e n i m "Dritten R e i c h " w a r i h m g e n o m m e n , s e i n e V o r s t e l l u n g , e t w a s "stiften" 7 6 z u k ö n n e n , hatte sich als v e r h ä n g n i s v o l l e r Irrtum
69 Goebbels im Tagebuch-Eintrag vom 18.12.1925 (zit. nach Joseph Goebbels: Tagebücher hg. von Ralf Georg Reuth, 5 Bde., München/Zürich 1992, S. 212).
1924-1945,
70 Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich [Berlin 1923], hg. von Hans Schwarz, 4. Aufl., Hamburg 1931. 71 "So klar und so ruhig, und dabei doch von inneren Leidenschaften ergriffen, schreibt er all das, was wir Jungen längst mit Gefühl und Instinkt wußten." Dies hatte Goebbels bereits am 18. Dezember 1925 seinem Tagebuch über Moellers Werk anvertraut und sich dabei die Frage gestellt: "Warum zog Moeller van den Bruck, warum zieht [!] der Ring und das Gewissen nicht die letzte Konsequenz und proklamieren mit uns den Kampf!" (Tagebuch-Eintrag vom 18.12.1925; zit. nach Goebbels: Tagebücher [FN 69], S. 212) Nachdem ihm zwölf Tage später die "erschütternde" "Wahrheit" (Eintrag vom 30.12.1925; ebd., S. 215) des Inhalts seiner Lektüre aufgegangen war, hatte Goebbels zutiefst bedauert, daß Moeller nicht in seinen "Reihen" gestanden hatte (ebd.). 72 Vgl. Erika Martens: Zum Beispiel "Das Reich", Köln 1972, S. 49. 73 Max Clauss hatte 1939 außerdem eine Schrift mit dem Titel Wiedergeburt des Reiches (Berlin) veröffentlicht. 74 Zur Instrumentalisierung der Reichsideologie in der Wochenzeitung Das Reich seitens der Herausgeber vgl. Erika Martens: Reich (FN 72) sowie Paul Kluke: "Nationalsozialistische Europaideologie", Vierteljahreshrfte für Zeitgeschichte, 3. Jg. (1955), S. 240-275, hier S. 255 sowie Hans Dieter Müller (Hg.): Facsimile-Querschnitt durch Das Reich, eingel. von Harry Pross, München/Bern/Wien. 1964, bes. S. 7 ff. Zu den Autoren gehörten u.a. Theodor Heuss, Margret Boveri sowie Elisabeth Noelle, die als damals 23jährige im Oktober 1940 das Ressort Innenpolitik erhielt; vgl. hierzu bes. Erika Martens: Reich (FN 72). 75 So das Bild von Herfried Münkler: "Besprechung von J. W. Bendersky: Carl Schmitt: Theorist for the Reich", Neue politische Literatur (1984), S. 248-252, hier S. 250. 76 Schmitt selbst verstand - zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg - sein Verhalten als "Sinnstiftung". Bis 1936 habe er es für möglich gehalten, so meinte Schmitt beispielsweise bei einer Vernehmung durch Robert Kempner am 03.04.1947, den Hitlerschen "Phrasen einen Sinn zu geben"; zit. nach Claus-Dietrich Wieland: "Carl Schmitt in Nürnberg" (1947), 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2. Jg. (1987), S.96-122, hier S. 112. Vgl. auch Schmitts Bemerkung
Andreas Koenen
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herausgestellt. Enttäuscht, aber fest davon überzeugt, daß sich das real existierende "Dritte Reich" nicht mehr im Sinne seines "Reichs"-Verständnisses ausbauen ließ, meldete er sich von diesem ab.
3. Konservativ-revolutionäre Politische Theologie a) Die reichskatholische Tradition Die konservativ-revolutionäre Reichstheologie der Zwischenkriegszeit war an eine reichskatholische Tradition gebunden, die nur vor dem Hintergrund des langwierigen und schwierigen Anpassungsprozesses des Christentums, im besonderen des Katholizismus, an die Moderne zu verstehen ist. Auch wenn im Rahmen dieser Ausführungen nicht ausführlich auf diese Problematik eingegangen werden kann, 77 seien im folgenden zumindest einige der Traditionslinien skizziert. Der sich im Zuge der Säkularisation entfaltende Katholizismus, der die freie Aktivität religiöser Gruppen unter wechselnden politischen und sozialen Bedingungen betonte, war nach dem Ende der alten Reichskirche orientierungslos geworden. Und genau hier, in der Zeit nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches, liegen die Wurzeln der Reichstheologie. Massive Einbußen hatten ihre Anhänger dann allerdings durch die "Katastrophe" 78 von 1866 zu verzeichnen, als schlagartig deutlich wurde, daß ein großdeutsches Reich nicht mehr realisierbar war. Es war ein "schwer zu verwindender Schock", 79 der innerhalb des deutschen Katholizismus eine geradezu "apokalyptische Stimmung" 80 auslöste. Mit seltener Einhelligkeit wurde der Kriegsausgang als Sieg des Protestantismus über den österreichischen Ultramontanismus gefeiert. 81 Spätestens in diesem Augenblick war offenbar geworden, daß es zwei Reichsbegriffe 82 und - damit eng verbunden
gegenüber Ernst-Wolfgang Böckenförde, es sei sein "Irrtum" gewesen, zu glauben, "man könnte 1933 etwas stiften"; zit. nach Ernst-Wolfgang Böckenförde: Diskussionsbeitrag in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum (FN 14), S. 336. 77 Vgl. hierzu Verf.: Fall Carl Schmitt (FN 8). 78 Karl-Egon Lonne: Politischer Katholizismus
im 19. und 20. Jahrhundert,
Frankfurt a.M. 1986, S. 128.
79 Klaus Schatz: Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1986, S. 123.
Katholizismus
80 Karl Bachem: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei [Köln 1927], 9 Bde., Aalen 1967, 2. Bd., S. 192. Vgl. hierzu auch Hartmut Müller: "Der deutsche Katholizismus in der Entscheidung des Jahres 1866", Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde, 33. Jg. (1966), S. 46-75, bes. S. 46 f. 81 Gerhard Besier: Religion, Nation, Kultur. Die Geschichte der christlichen Kirchen in den chen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, Neukirchen-Vluyn 1992, S. 64.
gesellschaftli-
82 Zu den "Reichs"-Begriffen, der katholischen und der "borussianischen" Reichsidee, vgl. bes. Horst Gründer: "Nation und Katholizismus im Kaiserreich", in: Albrecht Langner (Hg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn u.a. 1985, S. 65 ff. sowie Winfried Becker:
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- auch zwei Nationen auf großdeutschem Boden gab. Die Folge war ein zerrissenes Deutschland. 83 Protestanten wie der Hofprediger Adolf Stoecker sprachen gar von einem "Heiligen evangelischen Reich deutscher Nation". 84 So tobte im "kleindeutschen Reich" der sich anschließende Kulturkampf gegen die katholischen "Reichsfeinde" 85 vor der Kulisse des Streites um das Reichskonzept. Es war ein politischer "Kampf um die staatliche Neuordnung des mitteleuropäischen Raumes", 86 ein innenpolitischer Präventivkrieg. 87 Hinter Bismarcks Angst vor einer "ultramontanen Verschwörung" 88 steckte das "einzig wahre Ziel" - die "Sicherung des neuen Reiches". 89 Erst in den Jahren zwischen 1895 und 1898 vollzog sich eine Wende im Katholizismus im Hinblick auf eine Identifikation mit dem Nationalstaat Bismarckscher Prägung, eine "Aussöhnung" mit der "Reichsnation". 90 Träger dieser neuen nationalen Politik war der Zentrumsführer Ernst Lieber. Diese neue Richtung, die mit der zunehmenden Regierungsverantwortung einhergehende Annäherung des Zentrums an die "Reichsnation" stellte für diejenigen, die sich mit der Aufgabe der alten katholischen Reichsidee keineswegs abfinden wollten, eine schwere Enttäuschung dar, erleichterte dadurch jedoch Ende der 20er Jahre den Übergang katholischer Konservativer ins Lager der Konservativen Revolution. Mit dem Jahr 1933 schien der seit 1866 eingeschlagene deutsche "Sonderweg" dann endlich überwindbar, die katholisch-großdeutsche Lösung in greifbare Nähe gerückt und die "buchstäbliche Halbheit der neuen Reichsgründung" 91 korrigierbar. Angesichts der Hoffnungen auf eine Revision der Entscheidung von 1866 betitelte die Europäische Revue den Gegenrevolutionär Joseph de Maistre als Vorreiter der Konservativen Revolu-
"Liberale Kulturkampf-Positionen und politischer Katholizismus", in: Otto Pflanze (Hg.): sche Probleme des Bismarck-Reiches, München 1988, S. 47-71.
Innenpoliti-
83 Vgl. Gerhard Besier: Religion, Nation, Kultur (FN 81), S. 64. 84 Vgl. ebd., S. 62 ff. sowie Horst Gründer: Nation und Katholizismus
im Kaiserreich
(FN 82), S. 66.
85 Zu Bismarcks Kampf gegen die katholischen "Reichsfeinde" vgl. u.a. Klaus Schatz: Zwischen Säkularisation und Zweitem Vaticanum (FN 79), S. 134; Winfried Becker: Die Minderheit als Mitte. Die Deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches ¡871-1933, Paderborn 1986, S. 12 sowie KarlEgon Lonne: Politischer Katholizismus (FN 78), S. 155. 86 Georg Franz: Kulturkampf. Staat und Kirche in Mitteleuropa des preußischen Kulturkampfes, München 1954, S. 187. 87 Heinrich Bornkamm: Die Staatsidee 88 W. Becker: Minderheit
im Kulturkampf,
von der Säkularisation
bis zum Abschluß
München 1950, S. 66.
als Mitte (FN 85), S. 12 .
89 Vgl. Heinrich Bornkamm: Staatsidee
(FN 87), S. 65.
90 Vgl. hierzu Rudolf Morsey: "Die Deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg", in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 270298. 91 Wilhelm Schäfer: "Der Raum des Reiches und der deutsche Staat", in: Fritz Büchner: Was ist das Reich? Eine Aussprache unter Deutschen, Oldenburg i.O. 1932, S. 82 ff., hier S. 89.
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tion,92 Freiherr vom Stein,93 der "Erwecker des Reichsgedankens",94 erlebte zu Beginn des "Dritten Reiches" ebenso eine Renaissance wie Joseph von Görres.95 In Übereinstimmung mit Carl Schmitt konstatierte Heinrich von Gleichen, die kleindeutsche Lösung Bismarcks sei, "geschichtlich gesehen", gescheitert. In diesem imperialistischen "Zweiten Reich" habe das deutsche Volk den schweren Fehler begangen, seine Sendung nicht in dem "vom Deutschtum bevölkerten Raum", sondern stattdessen "auf wirtschaftlichen Wegen in aller Welt" zu suchen, womit das Wort "Reich" seinen "alten", ursprünglichen Klang - zeitweilig - verloren habe.96 Nun, 1933, glaubte Schmitt fest daran, daß diese Zeit vorbei sei, daß Hegel, der wie Bismarck am Staat und nicht am Reich orientiert war, in diesem Jahr 1933 endgültig "gestorben" sei.97
b) Die eschatologische Tiefenschicht Im Vordergrund des reichstheologischen Denkens stand die christliche Heilsgeschichte. Mehr als der ansonsten zum Vorbild erhobene mittelalterliche Reichsbegriff war es das "Reich als Heilsgut",98 das die katholisch-konservativen Reichstheologen bewegte. Die christliche Heilsgeschichte wurde dem Naturrecht entgegengesetzt.99 "Wenn wir heute 92
Gerhard Bahlsen: "Joseph de Maistre als Philosoph des politischen Konservativismus", Europäische Revue, 10. Jg. (1934), S. 156-162.
93
Zur konservativ-revolutionären Freiherr vom Stein-Rezeption vgl. bes. Arthur Moeller van den Bruck: Das Ewige Reich, hg. von Hans Schwarz, 1. Bd.: Die politischen Kräfte, Breslau 1933, S. 238 ff. (von Anfang an habe Stein die Voraussetzungen finden wollen "für eine neue konservative Politik", S. 243) sowie die Untersuchung des Verf. zum Fall Carl Schmitt (FN 8), bes. Kapitel 12. Zu Freiherr vom Stein und der Reichsideologie vgl. darüber hinaus Arnold Berney: "Reichstradition und Nationalstaatsgedanke (1789-1815)", Historische Zeitschrift, Bd. 140 (1929), S. 57-86, bes. S. 74 sowie Peter Moraw u.a.: "Reich" (FN 9), bes. S. 487 ff.
94
Ricarda Huch: Stein, der Erwecker des Reichsgedankens,
95
Zur Görres-Rezeption vgl. bes. Alois Dempf: Görres spricht zu unserer feit. Der Denker und sein Werk, Freiburg 1933; Gerhard Ritter: Der Weg des politischen Katholizismus in Deutschland, Breslau 1934, bes. S. 57 ff., sowie Bernd Wacker: Revolution und Offenbarung. Das Spätwerk (1824-1848) von Joseph Görres. Eine politische Theologie, Mainz 1990, bes. S. 32 ff.
Berlin 1932.
96
Heinrich von Gleichen: "Reich und Reichsführung", Europäische Revue, 8. Jg. (1932), S. 768-773, hier S. 768. Zu Schmitts Kritik am Imperialismus vgl. Verf.: Fall Carl Schmitt (FN 8), Kap. 17.
97
In Deutschland, so Schmitt in Staat, Bewegung, Volk sei der am Staat und nicht am Reich ausgerichtete Hegel bereits am 30. Januar 1933 "gestorben" (Hamburg 1933, S. 31 f.). Vgl. auch Schmitts Kommentar zu Hegels "Flucht" aus dem "unbegreifbar gewordenen Reich" in einen "um so einleuchtender gewordenen Begriff des Staates" in seiner Kölner Antrittsvorlesung; vgl. Positionen und Begriffe (FN 25), S. 192; vgl. auch Verf.: Fall Carl Schmitt (FN 8), bes. Kap. 17.
98
So Schmitt in seinem Habilitations-Gutachten über Roger Diener, zit. nach Christian Tilitzki: "Carl Schmitt - Staatsrechtslehrer in Berlin. Einblicke in seinen Wirkungskreis anhand der Fakultätsakten 1934-1944", Siebte Etappe (1991), S. 62-117, hier S. 80.
99
Vgl. Robert Grosche: "Grundlagen" (FN 12), S. 50. Zum geschichtstheologischen Fundament Schmitts vgl. auch Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988, bes. S. 91 sowie Reinhard Mehring: Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989, bes. S. 175 f. u. S. 210 ff.
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"Reich"
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an das R e i c h g l a u b e n und mit der F o r m e l d e s R e i c h e s d e n Inhalt einer katholischen Politik zu u m s c h r e i b e n v e r s u c h e n " , s o faßte der G e i s t l i c h e Robert G r o s c h e das reichstheologische Bekenntnis zusammen, "dann heißt das nichts anderes als: wir glauben als katholische Christen daran, daß die Grundlagen aller christlichen Politik nicht in allgemeinen Wahrheiten liegen, sondern daß der Grund gelegt ist in der Menschwerdung des Sohnes Gottes, d.h. also, daß christliche Politik geschichtlich und nicht naturrechtlich begründet werden muß. [...] Wir sind als Deutsche davon überzeugt, daß gerade in unserem deutschen Volke echte Grundlagen für den Aufbau des Reiches gegeben sind: in dem bündischen Charakter der deutschen Stämme, in der Zerstreuung des deutschen Volkstums im mitteleuropäischen Raum, und vor allem dann auch in unseren im 19. Jahrhundert nicht zu verkennenden Ansätzen zum Aufbau einer neuen ständischen Ordnung." 100 G r o s c h e s Beitrag o f f e n b a r t e die "abendländischen" W u r z e l n der r e i c h s t h e o l o g i s c h e n Option für das "Dritte Reich" und ließ s o die E n t s c h e i d u n g zur Mitarbeit 1 0 1 als konsequente Fortsetzung d e s in den 2 0 e r Jahren a u f g e n o m m e n e n K a m p f e s an der "antisäkularen Front" 1 0 2 e r s c h e i n e n . D i e R e i c h s t h e o l o g e n glaubten an die e s c h a t o l o g i s c h begründete R e i c h s i d e e s o w i e d i e daraus resultierende V o r s t e l l u n g v o n der g e i s t i g e n "Brükke" 1 0 3 z w i s c h e n e s c h a t o l o g i s c h e m Christentum, f r ä n k i s c h - d e u t s c h e m R e i c h und "Drittem R e i c h " . Für das christliche R e i c h des Mittelalters sei w e s e n t l i c h g e w e s e n , so erklärte Schmitt in Nomos der Erde, daß das christliche H e i l i g e R ö m i s c h e R e i c h D e u t scher N a t i o n nie " e w i g e s Reich" g e w e s e n s e i , sondern i m m e r s o w o h l s e i n e i g e n e s E n d e als auch das E n d e "des g e g e n w ä r t i g e n Ä o n " im A u g e behalten habe. 1 0 4 U n d g e r a d e dieses B e w u ß t s e i n w a r nach der f e s t e n Ü b e r z e u g u n g des E s c h a t o l o g e n S c h m i t t nicht nur für das v e r g a n g e n e R e i c h d e s Mittelalters, sondern auch für das real e x i s t i e r e n d e "Dritte Reich" v o n existentieller B e d e u t u n g . D e n n nur durch das "Reich" als "geschichtliche Macht" 1 0 5 k ö n n e das E r s c h e i n e n des Antichristen a u f g e h a l t e n w e r d e n , da e s eine
100 Robert Grosche: "Grundlagen" (FN 12), S. 50 f.; Hervorhebung im Orig. 101 "Mitarbeit" erschien den Reichstheologen als Konsequenz ihrer Einsicht in die christliche Notwendigkeit der Parteinahme, des Primats des Handelns, als konsequente Fortführung ihres Bewußtseins als Laien und des damit verbundenen Konzepts der "Katholischen Aktion". Bezeichnenderweise wurde das Wort "Mitarbeit" auch von Pius XI. häufig gebraucht, ebenso wie das mit der "Katholischen Aktion" verbundene Wort der "Teilhabe" (vgl. Yves Congar: Der Laie. Entwurf einer Theologie des Laientums, Stuttgart 1957, S. 599 ff.). 102 So die Formulierung von Wilhelm Stapel in seinem Christlichen Staatsmann, Hamburg 1932, S. 6: "Wieder bebt der Hügel von Golgotha. [...] Kommt die Stunde, da Gott und Kaiser sich begegnen? Es ist die Zeit, da die Taube ausgesandt ist, das trockene Land zu erspähen, und der Rabe, die Zeichen zu erkunden. Darum ist das Buch [Der christliche Staatsmann] eine praktisch-politische Absicht: die christliche, konservative, imperiale, volkstreue Front, die zum Kampf antritt. Oder, mit einem Wort, das die geschichtliche Stunde bezeichnet: die antisäkulare Front." 103 Schmitt in seinem Gutachten über Roger Diener; zit. nach Christian Tilitzki: (FN 98), S. 79.
Staatsrechtslehrer
104 Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 29. 105 Ebd., S. 29.
Andreas Koenen
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"Kraft" habe, "qui tenet, gemäß den Worten des Apostels Paulus im 2. Thessalonicherbrief, Kapitel 2". 106 Dieser Abschnitt aus dem Thessalonicherbrief war bereits zur Zeit der Weimarer Republik die reichstheologische "Keimzelle", 107 aus der das eschatologische Bewußtsein der Reichstheologen entstanden war. In diesem Bewußtsein fühlten sie sich bestärkt durch eine eschatologische Dichtung, die als Mythos zwischen dem "Beginn der Zeiten" und dem "Ansturm des Widergöttlichen am Ende der Zeiten" spielte:108 das staufische Ludus de Antichristo, "dramatisches Symbol der Weltgeschichte unter theologisch-politischem Aspekt"109 und Basis für den Glauben, daß den Deutschen das "Reich" als "geschichtlicher Auftrag von Gott" gegeben sei, "damit sie sich an ihm bewähren und an ihm schuldig werden" würden. 110 In dem Moment, so konnte man im Ludus de Antichristo erfahren, in dem der "Repräsentant des autoritären Reiches" 111 die Krone niederlegen und damit das Imperium seine "Führung" verlieren würde, bräche die Herrschaft des Antichristen an. Damit war die eschatologische Tiefenschicht freigelegt, fest genug, um den reichstheologischen "Brückenbau" tragen zu können. Auf dieses Fundament stützte sich dann auch der wesentliche Artikel des für den Positionswechsel der Konservativen Revolutionäre so entscheidenden April-Heftes der Europäischen Revue: die Ausfuhrungen über den "heilsgeschichtlichen Zug" des "politischen Strebens der Deutschen" von Albrecht Erich Günther. 112 Der "Reichsauftrag" der Deutschen, so der Schmitt-Freund, bestünde in der "Schirmherrschaft über die abendländische Christenheit bis zur Wiederkunft des Herrn". 113 Das "Wirken des Gegenreiches", mit dessen "Machtmitteln" sich der "Westen" seine "hochkapitalistische" und "politische Monopolstellung" gesichert habe, habe die Deutschen als "Träger des Reiches" in den "Stand der Revolution" versetzt und
106 Carl Schmitt: Nomos (FN 104), S. 29. Der Antichrist wird im Neuen Testament nur an vier Stellen erwähnt (vgl. Gerhard Friedrich: Der erste Brief an die Thessalonicher, in: Jürgen Becker, Hans Conzelmann u. Gerhard Friedrich: Die Briefe an die Galater, Epheser, Philliper, Kolosser, Thessalonicher und Philemon, 17. Aufl., Göttingen/Zürich 1990, S. 203-251, hier S. 267). 107 Gerhard Günther in: Der Antichrist. Gunther, Hamburg 1970, S. 17.
Der staufische Ludus de Antichristo.
Kommentiert
von
Gerhard
108 Vgl. ebd., S. 260. Vgl. auch ders.: Das Reich (Heft 3 der Reihe: Das Reich im Werden. Arbeitshefte im Dienste politischer Erziehung, Geschichtliche Reihe, hg. von Walther Machleidt), Frankfurt a.M. 1934, u.a. S. 5 sowie Wilhelm Stählin: "Das Reich als Gleichnis" (FN 11); ders.: "Die Gestalt des Antichristen und das 'Katechon'", in: Erwin Iserloh u. Peter Manns (Hg.): Glaube und Geschichte. Festgabe für Joseph Lortz, Baden-Baden 1957, S. 1-12. 109 Gottfried Hasenkamp: "Christliche Dramen aus Mittelalter und Neuzeit", Der Katholische 6. Jg. (1933), S. 194-203, bes. S. 196.
Gedanke,
110 Gerhard Günter: Antichrist (FN 107), S. 260. 111 Werner Pleister: Die Aufführung des Ludus de Antichristo, S. 122-126, h i e r S . 123.
Deutsches
112 Albrecht Erich Günther: "Die Deutschen und das Reich", Europäische (1933), S. 210-216, hierS. 211. 113 Ebd., S. 210.
Volkstum,
1. Halbj. (1932),
Revue, 9. Jg., 1. Halbbd.
Visionen
vom
"Reich"
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sie zur "nationalen R e v o l u t i o n " g e g e n das "Europa des G e g e n r e i c h e s " gedrängt. 1 1 4 Unbeirrt v o n den E r e i g n i s s e n der Zeit a m Erhalt des real e x i s t i e r e n d e n "Dritten Reiches" festhaltend s a h e n d i e R e i c h s t h e o l o g e n g e n a u darin, im A u f h a l t e n d i e s e s "Gegenreiches", ihre w e s e n t l i c h e A u f g a b e . Seit 1 9 3 2 g e h ö r t e auch Carl Schmitt zu den Vertretern d i e s e r "Theorie": 1 1 5 "Ich glaube an den Katechon; er ist für mich die einzige Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden. Die paulinische Geheimlehre ist nicht mehr und ebenso viel geheim wie jede christliche Existenz. Wer nicht selber in concreto etwas vom katechon weiß, kann die Stelle [2. Thess, 2. Kap.; A.K.] nicht deuten. [...] Der Platz [des katechon; A.K.] war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden. Jeder große Kaiser des christlichen Mittelalters hat sich mit vollem Glauben und Bewußtsein für den Katechon gehalten, und er war es auch. Es ist gar nicht möglich, eine Geschichte des Mittelalters zu schreiben, ohne dieses zentrale Faktum zu sehen und zu verstehen." 116 Schmitt g i n g s o w e i t , zu z w e i f e l n , o b e s für e i n e n "ursprünglichen christlichen Glauben" ein anderes G e s c h i c h t s b i l d als das des K a t e c h o n überhaupt g e b e n k ö n n e . 1 1 7 D e n n s o l a n g e der G e d a n k e e i n e s K a r e x u v l e b e n d i g s e i , s o l a n g e w ä h r e das "Reich des christlic h e n Mittelalters", der "christliche Ä o n " , d i e letzte P h a s e v o r der Herrschaft d e s "Antichristen". A l l e i n der G l a u b e , "daß e i n A u f h a l t e r das E n d e der W e l t zurückhält", schlag e , s o Schmitt, d i e "einzige Brücke", die v o n der " e s c h a t o l o g i s c h e n L ä h m u n g alles m e n s c h l i c h e n G e s c h e h e n s zu einer s o großartigen G e s c h i c h t s m ä c h t i g k e i t w i e der des christlichen Kaisertums der g e r m a n i s c h e n K ö n i g e " führe. 1 1 8 S o lebte S c h m i t t g e r a d e z u in der N a h e r w a r t u n g , 1 1 9 stets das h e i l s g e s c h i c h t l i c h e Ende im Blick: "Ist der christliche Ä o n zu Ende?", s o s e i n e L e i t f r a g e , fest d a v o n überzeugt, daß dies n o c h nicht der Fall war, fest g l a u b e n d an d e n A u f h a l t e r , d e n n a T e x u v .
114 Albrecht Erich Günther: "Die Deutschen und das Reich" (FN 112), S. 216. 115 Vgl. Schmitt; Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hg. von Eberhard von Medem, Berlin 1991, S. 80. Wenige Monate später, am 23.05.1948, schrieb Schmitt in sein Glossarium, der Grund dafür, daß die jüdische Auserwähltheit Vorbild des mittelalterlichen Reiches gewesen sei, liege zum einen im Johannesevangelium (Kap. 19, 15), zum anderen darin, daß "das christliche Reich der Kaiser des Mittelalters [...] eine Legitimation als ein katechon nach 2. Tess. 6/7" gehabt habe (ebd., S. 153). 116 Schmitt an Gerhard Günther, zit. nach der Glossarium-Eintragung vom 19.12.1947 (Glossarium [FN 115], S. 63). Sogar auch das theologische Scheitern Donoso Cortés' sah Schmitt darin begründet, wie er am gleichen Tag notierte, daß diesem der Begriff des "Katechon" verschlossen geblieben sei. Zum Katechon vgl. nun auch Günter Meuter: Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik derZeit, Berlin 1994. 117 Carl Schmitt: Nomos (FN 104), S. 29. 118 Ebd., S. 29. 119 Das "Schema" der "Naherwartung", das "Problem der Erklärung des Endes" nenne er, Schmitt, "politische Theologie". Die Menschen könnten nicht wissen, "was Gott weiß" und dementsprechend sei die Geschichte nicht so "berechenbar" wie ein Fahrplan. Das ganze Neue Testament, so hob Schmitt hervor, könne nur unter dem Blickwinkel der Naherwartung verstanden werden und auch das "Vater unser" sei "doch von A bis Z eine Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Endes" (Dieter Groh u. Klaus Figge [FN 28]).
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Andreas Koenen
Ausgangspunkt für eine "staatstheologische" Deutung des Karexuv ist die Identifikation des vierten danielischen Weltreiches (Daniel 2, 7) mit dem römischen Reich.120 Nachdem in der jüdischen Literatur etwa im ersten vorchristlichen Jahrhundert das römische Reich an die Stelle des ursprünglich gemeinten makedonischen Reiches Alexanders gerückt war, bildete es als Weltreich und Weltmacht die Summe aller geschichtlichen Kräfte, die gegen Gott und das Gottesvolk Israel, ja gegen das "Gottesreich" gerichtet waren. Ca. 200 n. Chr. trug Hippolyt als erster christlicher Theologe in seinem Werk über den "Antichristen" die apokalyptisch-eschatologischen Texte des Alten und Neuen Testaments zusammen und ordnete sie zu einer Gesamtdarstellung der Endereignisse. Er gelangte zu der Ansicht, daß das Hereinbrechen der Endzeit nicht zu befürchten sei, solange das römische Reich bestehe. Doch blieb die letztendlich entscheidende Frage Hippolyt stellte sie in seinem Daniel-Kommentar (ca. 203/204) - , wer "der bis jetzt Aufhaltende" sei, "wenn nicht das vierte Tier, nach dessen Absetzung und Beseitigung der Verführer kommen" werde. 121 Damit war der Grundstein gelegt für die folgenreiche "staatstheologische" Deutung, der Siegeszug der neuen, auf der geschichtstheologischen Sonderstellung des römischen Reiches basierenden /carexcoi'-Deutung unaufhaltsam. Sie wurde zum dominierenden Auslegungstyp der Westkirche und wirkte allen Umbrüchen zum Trotz bis in die Neuzeit, bis 1806 und noch darüber hinaus.122 Im Laufe dieser Zeit war die Übertragung der Reichsidee ("Translatio Imperii") 123 zunächst auf das Reich Karls des Großen, später dann auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vollzogen worden. Nach dessen Untergang wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts, bestärkt durch die Gegenrevolution und verbunden mit konservativen, kultur- sowie zeitkritischen Interessen, immer wieder versucht, das "Reich" zumindest in ideeller Hinsicht zu erhalten. 124 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese reichstheologische Traditionslinie wieder aufgenommen, erlangte jedoch erst in der Endphase der Weimarer Republik größere Bedeutung. Nachdem das in der Reichstheologie ruhende politische Potential nach 1933 von nationalsozialistischer Seite instrumentalisiert worden war, 125 verloren die politisch-theologischen Traditionsstränge, aus der die Reichstheologie einst ihre Wirkmäch120 Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des zweiten Kapitels im zweiten Thessalonicherbrief vgl. Wolfgang Trilling: Der zweite Brief an die Thessalonicher, Zürich u.a. 1980, S. 95 ff., bes. S. 99 (mit weiteren Nachweisen). 121 Ebd. 122 Ebd., S. 99. 123 Zur Theorie von der "translatio imperii" bei Schmitt vgl. ders.: Nomos (FN 104); darüber hinaus von Bedeutung: Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorie im Mittelalter, Tübingen 1958 sowie Trilling: Der zweite Brief an die Thessalonicher (FN 120), S. 95 ff. 124 Dabei wußten sich auch Theologen vom Rang John Henry Newmans an die Väter-Auslegung des Antichristen gebunden (vgl. Newman: Der Antichrist nach der Lehre der Väter [1835], deutsch von Theodor Haecker, mit einem Nachwort hg. von Werner Becker, München 1951, bes. S. 15 ff.). 125 Unter diesem Blickwinkel ist u.a. die Überführung der mittelalterlichen Reichsinsignien aus Wien nach Nürnberg zu sehen.
Visionen vom "Reich"
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tigkeit bezogen hatte, zunehmend an Überzeugungskraft. So ging mit dem "Dritten Reich" schließlich auch die auf der Politischen Theologie basierende Reichstheologie unter.
4. Schlußbemerkung Von der Diskussion um die Reichstheologie der 20er und 30er Jahre, der konservativrevolutionären Konkretisierung Politischer Theologie, sowie dem vermeintlichen "Triumph" dieser Politischen Theologie im Jahre 1933 hat die Neue Rechte bisher keinerlei Notiz genommen. Selbst wenn einige wenige neurechte Strategen wie Erik von Kuehnelt-Leddihn versuchen, an die katholisch-konservative Tradition anzuknüpfen, 126 selbst wenn einige Protagonisten eines christlichen "Abendlandes" sich in der Nachfolge Carl Schmitts sehen, für die Neue Rechte im Gesamten spielt die aus Schmitts Sicht elementare Herausforderung der christlichen Eschatologie im Hinblick auf die Bestimmung der Sinnperspektiven politischen Handelns überhaupt keine Rolle. Doch kann derjenige, der von der politischen Theorie Carl Schmitts spricht, nicht von dem schweigen, was ihr zugrunde liegt: seinem Glauben an die Offenbarung. Schmitts politische Theorie kann nicht begreifen, wer sie nicht als ein Stück seiner Politischen Theologie begreift. 127 Unbekümmert aber ignorieren die selbsternannten neurechten Jünger dennoch Schmitts Basis - seine Weigerung, die "Nabelschnur" zwischen Politik und Theologie einfach zu durchtrennen - und ruinieren in ihrer Unkenntnis des politischtheologischen Erbes der Konservativen Revolution so das geistige Erbe ihres Meisters. Indessen scheint angesichts der von neurechter Seite forcierten Aktualität von Geopolitik und (Groß-)Raumordnung 128 ein Wiederaufleben des "Reiches" als Legitimationsidee, wenn auch ohne das einst vorhandene politisch-theologische Fundament, nicht
126 Vgl. Erik von Kuehnelt-Leddihn: "Katholischer Glaube-rechts oder links?", Criticón, Nr. 14(1972), S. 265 f. 127 So auch Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 1994.
zur Unterscheidung
Politischer
128 Vgl. beispielweise Heft 7 (1994) der Zeitschrift Transit (Untertitel "Europäische Revue"!) zum Thema "Macht. Raum. Europa". Dort befindet sich u.a. ein bemerkenswerter Beitrag Reinhart Kosellecks ("Strukturen des Nationalstaats. Föderale Strukturen der deutschen Geschichte", S. 63-76): Mit Blick auf das heutige Europa stellt Koselleck darin das Heilige Römische Reich als einen Verbund verschiedenster, einander überlappender "Einigungen" zwischen gleichen, später auch verschiedenen Ständen vor. Die Geschichte der deutschen Völker im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und die Geschichte des deutschen Volkes hätten zumindest gezeigt, daß Staat und Souveränität "nicht zur Gänze konvergieren" müßten (S. 76). Die föderale Lösung dieses Reiches biete den Vorteil, "sich auf ein Mindestmaß an gemeinsamen Recht und gemeinsamer Politik zu einigen, das es erst erlaubt, ein Höchstmaß an Autonomie der Teilhaber zu sichern". "Was immer Europa sein mag, es gibt ein föderales Minimum, das nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch erreicht werden muß und das wir wahren müssen, wenn wir auf diesem Kontinent weiterleben wollen." (Ebd.) In der Einführung von Otto Kallscheuer heißt es dazu: "Was [ . . . ] zu Beginn des 19. Jahrhunderts [ . . . ] als ein ordnungspolitischer Nachteil erschienen sein mag, könnte heute, am Ende des 20. Jahrhunderts durchaus zukunftsweisend sein." (S. 13)
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mehr "für immer unmöglich" 129 - Grund genug, sich intensiv mit der Vergangenheit des "Reiches", der reichsideologischen und -theologischen Basis der Konservativen Revolution zu befassen. Ein Europa als politische Einheitsbildung wird an einer Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit nicht vorbeikommen, einer Vergangenheit, die unlösbar mit dieser Legitimationsidee verbunden ist.
129 So noch Franz-Josef Jakobi: "Mittelalterliches Reich" (FN 1), S. 169.
Raphael Gross
Jesus oder Christus? Überlegungen zur "Judenfrage" in der politischen Theologie Carl Schmitts*
I.
Das 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums beschreibt die Gefangennahme Jesu, seine Präsentierung vor dem römischen Statthalter Pilatus und die nachfolgende Vernehmung.1 Auf die ironische Frage "Bist Du der Juden König?" habe Jesus wie folgt geantwortet: "Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme."2 "Was ist Wahrheit?" antwortend sei Pilatus nun zu den Juden gegangen und habe ihnen gesagt: "Ich finde keine Schuld an ihm."3 Er habe ihnen daher angeboten, Jesus im Rahmen der zu Pessach jährlich stattfindenden Amnestie freizulassen: "Wollt ihr nun, daß ich euch der Juden König losgebe?"4 Die Juden aber hätten geschrien: "Nicht diesen sondern Barrabas!"5 Es mag auf den ersten Blick ungewöhnlich scheinen, einen Artikel zu Grundfragen politischer Einheitsbildung mit einer Erzählung aus dem Neuen Testament einzuleiten. Doch verdichten sich in dieser einfachen Geschichte - die übrigens jahrhundertelang die
*
Dieser Beitrag steht im Rahmen meiner geplanten Dissertation über "Juden und 'das Jüdische' im Denken und Werk Carl Schmitts" am Fachbereich Geschichte der Universität Essen. Vorfassungen dieses Artikels konnte ich im Rahmen des Franz Rosenzweig Zentrums für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte der Hebräischen Universität Jerusalem und im Kolloquium des Instituts für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv besprechen.
1
Das Evangelium nach Johannes, 18, zit. nach der folgenden Ausgabe: Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des alten und des neuen Testaments, nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1964. Exegetische Literatur zu dieser Stelle findet sich in großer Zahl in George R. Beasley u. John Murray: World Biblical Commentary, Bd. 36, Waco (Texas) 1987 und Raymond E. Brown: The Gospel According to John (XI1I-XX1), New York 1970, S. 787-897. Besonders einflußreich war der in der 7. Auflage erschienene kritisch-exegetische Kommentar von Rudolf Bultmann: Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1964.
2
Joh., 18.38. Die Ironie, welche in dieser Frage liegt, wird auch von David Flusser: "What was the Original Meaning of Ecce Homo?", in: ders.: Judaism and the Origins of Christianity, Jerusalem 1988, S. 593-603 aus dem weiteren Kontext heraus erklärt.
3
Joh., 18.38.
4
Joh., 18.39. Zu diesem Brauch, einen jüdischen Gefangenen zu begnadigen vgl. Shmuel Safrai: Die Wallfahrt im Zeitalter des Zweiten Tempels, Neukirchen 1981, S. 206.
5
Joh., 18.40.
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wohl bedeutendste Quelle für christliche Judenfeindschaft bildete - und den auf sie zurückgreifenden Interpretationen durch die herausragendsten Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik entscheidende Fragen, die gleichsam auf einer symbolischen Ebene Grundfragen und Streitpunkte der staatsrechtlichen Diskussionen reflektieren. Die nähere Beschäftigung mit der Johannes-Stelle scheint ferner vielversprechend, da sie von Hans Kelsen, dem prominentesten und überzeugendsten Verfechter einer radikal antimetaphysischen Staatslehre, ins Zentrum seiner Demokratietheorie gerückt wurde. Überhaupt muß eine bestimmte Art der Retheologisierung staatsrechtlicher Diskussionen symptomatisch für die Krise der Staatsrechtslehre der 20er Jahre gelten - einer Krise die hauptsächlich den Labandschen Rechtspositivismus betraf, welcher unter den bedeutenden Juristen der Zeit maßgeblich nur noch von Gerhard Anschütz und Richard Thoma verteidigt wurde und dies, wie auch neuere Forschung zeigt, aus einer wesentlich defensiven Position heraus. 6 Carl Schmitt weist seine Leser in einer für seinen Stil signifikanten, offenen und zugleich verdeckten Form durch den in Klammern gesetzten Hinweis "Arch. f. Soz.-W. 1920, S. 84" auf die entsprechende Stelle bei seinem Hauptgegner Hans Kelsen hin. 7 Dort finde man, so schreibt Schmitt, das Kelsensche "Bekenntnis zur Demokratie", welches bloß Ausdruck eines "politischen Relativismus" einer "wunder- und dogmenbefreiten, auf den menschlichen Verstand und den Zweifel der Kritik gegründeten Wissenschaftlichkeit" sei. 8 Schlägt man nun den bezeichneten Passus im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik nach, so findet sich dort vor allem ein Hinweis darauf, weshalb Schmitt seine Polemik gegen Kelsen gerade hier ansetzt: Im Lichte der bezeichneten Johannes-Stelle entwickelt Kelsen nämlich in seinem dort veröffentlichten Aufsatz Vom Wesen und Wert der Demokratie eine spektakuläre Apologie der (relativistisch-)demokratischen Weltanschauung. 9 Er bezeichnet das 18. Kapitel des JohannesEvangeliums als "tragisches Symbol des Relativismus und - der Demokratie". 10 Eine Äußerung, die nicht nur von Schmitt als Provokation empfunden wurde. Auch sein späterer Rivale im nationalsozialistischen Machtkampf um die "neue Rechtswissenschaft", 11 Otto Koellreutter, meint in seiner Rezension der zweiten Auflage von Kelsens 6
Eine überzeugende Analyse der verfassungstheoretischen Debatten während der Weimarer Republik gibt jetzt Peter Charles Caldwell: Constitutional Theory in the Weimar Republic: Positivists, Antipositivists, and the Democratic Weifare State, Ann Arbor 1993.
7
Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922], 4. Aufl., Berlin 1985, S. 55 (im folgenden zitiert als PT; Zitate aus früheren Auflagen werden mit der entsprechenden Angabe versehen).
8
FT, S. 55.
9
Im selben Band befindet sich auch Benjamins berühmter Aufsatz "Zur Kritik der Gewalt".
10 Hans Kelsen: "Vom Wesen und Wert der Demokratie", Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 47 (1920/21), S. 84. Ebenso in der 2. erw. Aufl., ders.: "Vom Wesen und Wert der Demokratie", Tübingen 1929, S. 103 (im folgenden zitiert nach der ersten Aufl., wenn nicht ausdrücklich die zweite genannt wird). 11 Vgl. Dieter Grimm: "Die 'Neue Rechtswissenschaft' - Über Funktion und Formation nationalsozialistischer Jurisprudenz", in: ders.: Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987, S. 373-395.
Jesus oder Christus ?
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Text, man werde doch "überhaupt leise Zweifel hegen können, ob die Schilderung aus dem Johannesevangelium als Ausklang der Kelsenschen Deduktionen am Platze" sei.12 (Offensichtlich spielten dabei nicht ausschließlich theoretische Einwände eine Rolle, was die Kritiker mehr oder weniger elegant durchscheinen lassen.) Im Zentrum von Kelsens Argumentation steht die Behauptung, daß der römische Statthalter Pilatus wirklich nicht wisse, was Jesus, "der in des Römers Augen nur ein armer Narr sein kann", meinte, wenn er sagte: "Ich bin der König, und bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich der Wahrheit Zeugnis gebe." 13 Pilatus könne sich nämlich nur auf irdische Wahrheit stützen. Deshalb vermochte er, so folgert Kelsen, nur menschliche Erkenntnis über die sozialen Ziele richten zu lassen. Den zu deren Verwirklichung unvermeidlichen Zwang könne er aus demselben Grunde nur dadurch rechtfertigen, daß er mindestens mit der Zustimmung der Mehrheit derjenigen handle, zu deren Heil diese Zwangsordnung errichtet sei. Pilatus, dieser "Mensch einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur", appelliere daher an das jüdische Volk und veranstalte eine Abstimmung. 14 Diese "Volksabstimmung" falle gegen Jesus aus, das Volk entscheide sich dafür, daß - wie der Chronist hinzufügte - der "Räuber" Barrabas in den Genuß der Begnadigung komme. 15 Diese Johannes-Interpretation ist in vielfacher Hinsicht herausfordernd und es stellt sich die Frage, weshalb Kelsen sein Buch vom Wesen und Wert der Demokratie gerade mit dieser Stelle schließt. Vorausgeschickt sei, daß "heilige" Texte oft vieldeutig angelegt sind und unterschiedlichen Interpretationsrichtungen offenstehen, so daß selbstverständlich auch meine Leseweise nur eine von vielen möglichen darstellt. Es erstaunt zunächst, in welchem Maße Kelsen die im Johannes-Evangelium ausgedrückte Judenfeindschaft zu überlesen scheint. Im Evangelium wird mehrfach deutlich, daß Pilatus Jesus nicht zu verurteilen wünscht. Kelsen zitiert sogar selber den wichtigen hervorstechenden Satz des Pilatus: "Ich finde keine Schuld an ihm." 16 Im 19. Kapitel wird noch deutlicher, daß Pilatus Jesus entgegen seinem Willen verurteilen mußte, um das jüdische Volk nicht gegen sich aufzubringen: "Von da an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe. Die Juden aber schrieen und sprachen: Läßt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist wider den Kaiser. [...]
12 Otto Koellreutter: "Rezension von Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. umgearbeitete Aufl.", Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 56 (1929), S. 138-141, hier S. 140. 13 Hans Kelsen: "Wesen und Wert" (FN 10), S. 84. 14 Ebd., S. 85. Die epische Formulierung könnte dazu verleiten, Kelsens Schilderung des römischen Statthalters als bloß kontrapunktisch gesetztes Stilelement zu verkennen. Zudem werden die Römer meist als ein "junges" Volk bezeichnet - im Gegensatz etwa zu den Juden. Tatsächlich steht hinter diesem Satz aber eine von Kelsen auch anderenorts vertretene Auffassung, daß der römische Staat nicht durch Zufall das positive Recht mit "stoischem Gleichmut" auszuhalten im Stande gewesen war: "Ihre Resignation ist die Frucht einer alten Kultur, die alle Phasen der philosophischen Spekulation und politischen Kampfes schon hinter sich hatte und die schon eine gewisse Müdigkeit vor jedem Exzeß des Pessimismus und des Optimismus bewahrte." (Vgl. Hans Kelsen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Wien 1928, S. 74 f.) 15 Hans Kelsen: "Wesen und Wert" (FN 10), S. 85. 16 Joh., 18.38.
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Wir aber haben keinen König denn den Kaiser." 17 Offensichtlich wird im JohannesEvangelium dem Pilatus eine gewisse Sympathie für Jesus unterstellt; bekanntermaßen wird dadurch mehr als in den anderen drei Evangelien die Annahme der "jüdischen Gottesmörder" nahegelegt. 18 Den Zusammenhang, den Kelsen dagegen zwischen Pilatus' angeblich demokratisch-relativistischem Weltbild und der Kreuzigung Jesu' herstellt, ist künstlich. Weder spricht das Johannes-Evangelium von einer "Volksabstimmung", noch hat Pilatus das Volk aus dem von Kelsen supponierten Grund zu befragen, daß er nämlich "nicht weiß, was Wahrheit ist". 19 Genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Kelsen verwandelt einen Streit zwischen den Juden und Jesus in einen Konflikt zwischen Jesus und Pilatus. Der durch die Juden eingeschüchterte Pilatus wird in seiner Darstellung plötzlich zu einem Vorbild demokratischer Gesinnung. Man muß daher feststellen, daß Kelsen diese lapidare Darstellung aus dem Johannes-Evangelium, das er zu dem Großartigsten zählt, was die Weltliteratur hervorgebracht habe, in ziemlich gewaltsamer Weise umfunktioniert. 20 Nicht der Unglaube der Juden steht im Mittelpunkt seiner Darstellung, sondern der von ihm konturierte Gegensatz zwischen der absoluten Wahrheit Jesus' und der relativen Wahrheit Pilatus'. Daraus ergibt sich auch eine doppelte Bedeutung des oben erwähnten "Tragischen" an dem von Kelsen gewählten Symbol des Relativismus und der Demokratie. Die Tragik liegt zunächst darin, daß der politische Relativismus zu keinen absolut richtigen Entscheidungen kommen kann, denn er besitzt grundsätzlich nur eine relative Wahrheit. Der letzte Abschnitt von Kelsens Schrift legt jedoch noch eine ganz andere und viel weitergehende Begründung nahe, weshalb er das Symbol ein tragisches nennt. Er schreibt, daß die politisch Gläubigen sein Beispiel nur in dem Falle gegen die Demokratie wenden könnten, wenn sie ihrer "politischen Wahrheit" so gewiß seien wie "der Sohn Gottes". 21 Dies läßt sich eigentlich nur ironisch lesen, denn Kelsen geht stets davon aus, daß solche absolute Gewißheit menschlichem Wissen unzugänglich ist.22 Falls dies aber doch einmal zutreffen sollte, ergäbe sich eine Situation, die Kelsen anhand des 18. Kapitel des Evangelium Johannis beschreibt. Die Tragik bestünde dann darin, daß eine demokratisch-relativistische Ordnung möglicherweise oder sogar vorzugsweise einen 17 Joh., 19.12/15. Der zuletzt zitierte Satz gilt bis heute in der theologischen Literatur als Beweis, daß das jüdische Volk seinen messianischen Anspruch und damit sich selbst preisgegeben habe; vgl. Rudolf Bultmann: Johannes (FN 1), S. 508; George R. Beasley u. John Murray, World Biblical Commentary (FN 1), S. 343. Vgl. zu dieser Stelle auch Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 3. Aufl., Berlin 1988, S. 33. 18 David Flusser: "What was the Original Meaning of Ecce Homo?" (FN 2), S. 595, verweist darauf, daß der historische Pilatus Jesus wohl freilassen wollte, da er ihn für den ungefährlicheren seiner Gefangenen hielt, der insbesondere keine politischen Ambitionen gegen die römische Herrschaft verfolgte. 19 Hans Kelsen: "Wesen und Wert" (FN 10), S. 85. 20 Ebd., S. 84. 21 Ebd., S. 85. 22 Die Bezeichnung des Neuen Testaments als "Weltliteratur", weist bereits darauf hin, daß Kelsen wie auch sein Biograph Metal bestätigt, religiös indifferent war (vgl. Rudolf Aldar Metall: Hans Kelsen, Leben und Werk, Wien 1969).
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solchen Gott-Menschen erneut töten würde. Das demokratische Modell muß sich seiner Möglichkeit nach immer w i e d e r f ö r den "Gottesmord" entscheiden, weil es politisch und nicht religiös entworfen ist. Es vermag daher absolute Wahrheiten nicht zu integrieren. Diese Lesart wird gestützt durch eine Parallelstelle aus Kelsens Schrift, die im Zusammenhang mit Piatons Politeia steht. Kelsen zitiert eine Sokrates in den Mund gelegte Antwort auf die Frage, was der Idealstaat mit einem Manne tun solle, der ein Genie sei: "Wir würden ihn als ein anbetungswürdiges, wunderbares und liebenswertes Wesen verehren; aber nachdem wir ihn darauf aufmerksam gemacht, daß es einen solchen Mann in unserem Staate nicht gebe, und auch nicht geben dürfe, würden wir ihn, sein Haupt mit Oel salbend und bekränzend - über die Grenze geleiten." 23 Wenn also die Tragik der Demokratie im ersten Beispiel noch darin gesehen werden könnte, daß sie manchmal zu falschen, unwahren Entscheidungen führen kann, dann wird hier deutlich, daß die Demokratie die "absolute Wahrheit" gar nicht erlauben kann und darf. Denn die Demokratie basiere eben darauf, daß auch die Meinung, die gerade von der momentanen Majorität nicht vertreten wird, für möglich gehalten werden muß. Kelsen beschreibt den Relativismus als die dem demokratischen Denken zugrundeliegende Weltanschauung. 24 Nur wenn die momentan herrschende Meinung der Opposition zubilligt, daß deren Auffassungen nicht absolut falsch sind, läßt sich der für die Demokratie bezeichnende Wechsel der Macht erklären. Für einen Zeugen der absoluten Wahrheit, für einen Christus, darf ein solches System gar keinen Raum lassen, was Kelsen bereits 1920 klar gesehen hat. Die solcherart radikale Interpretation der Johannes-Stelle erklärt aber auch, weshalb Kelsen den in ihr inhärenten profunden Antijudaismus übergehen zu können glaubte. Haben doch die Juden - in seiner Lesart - als vernünftiges Stimmvolk gehandelt. Das staatsrechtliche Problem liegt nicht bei ihnen, sondern in dem Glauben, daß Jesus der Christus sei, bzw. der Vermischung der Sphären des Glaubens mit der der Politik. Carl Schmitt nimmt im vierten Kapitel seiner Politischen Theologie dieses "Symbol des Relativismus" auf - ohne jedoch Kelsen namentlich zu nennen - und wendet es im Namen des katholischen Gegenrevolutionärs Donoso gegen den Liberalismus. 25 Die Stelle soll im folgenden ausführlich zitiert werden: "Jener Liberalismus mit seinen Inkonsequenzen und Kompromissen lebt für Cortes nur in dem kurzen Interim, in dem es möglich ist, auf die Frage: Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission zu antworten. Eine solche Haltung ist nicht zufällig, sondern in der liberalen Metaphysik begründet. Die Bourgeoisie ist die Klasse der Rede- und Preßfreiheit und kommt gerade zu diesen Freiheiten nicht aus irgendeinem beliebigen psychologischen und ökonomischen Zustand [ . . . ] Man wußte längst, daß die Idee der liberalen Freiheitsrechte aus den nordamerikanischen Staaten stammt. Wenn in neuerer Zeit Georg Jellinek den nordamerikanischen
23 Piaton: Politeia III. 9, zit. nach Hans Kelsen: "Wesen und Wert" (FN 10), S. 77; in der 2. Aufl. von "Wesen und Wert" auf S. 79. 24 Hans Kelsen: "Wesen und Wert" (FN 10), S. 83. 25 Auf die antiparlamentarische Stoßrichtung, die Schmitt dieser biblischen Episode verleiht, verweist in einer Fußnote Horst Dreier: "Hans Kelsen (1881-1973): 'Jurist des Jahrhunderts?'", in: Helmut Heinrichs u.a. (Hg.): Deutsche Juristen jMischer Herkunft, München 1993, S. 711.
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Raphael Gross Ursprung dieser Freiheiten demonstriert, so ist das eine These, die den katholischen Staatsphilosophen (so wenig übrigens wie Karl Marx, den Autor des Aufsatzes über die Judenfrage) kaum überrascht hätte." 26
Schmitt geht nicht auf die von Kelsen konstruierte Parallele ein, die den Gegensatz zwischen Jesus und Pilatus den Gegensätzen von absoluter und relativer Wahrheit resp. von autokratischer gegenüber demokratischer Staatsform entgegenstellt. Die von ihm formulierte Frage: "Christus oder Barrabas?" ist andererseits bloß eine scheinbare. Denn sie enthält schon die wesentliche Antwort, daß Jesus eben der Christus sei. Zweifellos bedeutet für Schmitt die von Kelsen angeführte Stelle nicht bloß ein Stück Weltliteratur. (Eine derartige Bezeichnung rief in Schmitt gewiß alle Affekte gegen die von ihm ohnedies schon seit seiner Studienzeit bekämpfte seichte Bildungskultur der jüdischprotestantischen "Gesellschaft" hervor.)27 Hingegen ist seine Frage schon von einer implizit christlich-gläubigen Perspektive aus gestellt und läßt sich von daher im eigentlichen Sinne nur auf eine Weise beantworten. In Schmitts Darstellung wendet sich das von Kelsen gewählte Symbol gegen dessen "liberale Weltanschauung", da sie auf eine so eminent wichtige Frage nicht antworten könne und stattdessen mit der Einsetzung einer "Untersuchungskommission" ein "ewiges Gespräch" beginne.28 Da Schmitt den Gedanken der Demokratie in einen eigentümlichen Gegensatz zum "Liberalismus" stellt, und der Demokratie - zumindest in einigen seiner markantesten Äußerungen - bloß verfahrenstechnische Eigenschaften zuschreibt, überträgt er folgerichtig Kelsens Symbol der Demokratie auf dessen "liberale Weltanschauung".29 Wie Donoso, so erkennt auch Schmitt in den Argumenten seiner Geg-
26 PT, l. Aufl., S. 54; vgl. hierzu auch Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 2. Aufl., Leipzig 1904. Schmitt bezeichnet Bruno Bauer in einem nachgelassenen Typoskript - datiert vom Februar 1946 - in ähnlicher Weise als "Autor vor allem der 'Judenfrage' von 1843"; vgl. das Typoskript von Carl Schmitt "Versuch eines Berichtes an P. Erich Przywara" (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Nachlaß Carl Schmitt, RW 265-93). Przywara hat über die "Judenfrage" viel publiziert. Ich nenne hier nur seinen Beitrag "Jude, Heide, Christ", Europäische Revue (August 1932), S. 470476. Eine gewisse biographische Nähe entstand vielleicht zwischen Schmitt und Bauer durch die wenn auch durch ganz unterschiedliche Gründe bedingte - beiderseitig abrupt beendete Hochschullaufbahn. 27 Vgl. nur die ausführliche Verachtung für den bürgerlichen Bildungskanon in Johannes Negelinus Mox Doctor ( = Carl Schmitt; manche Autoren spekulieren auch über eine Mitautorschaft von Fritz Eisler, wofür wohl keine eindeutigen Belege existieren): Schattenrisse, Leipzig 1913. Wenn sich in dieser leicht mißlungenen Parodie überhaupt ein zentrales Thema ausmachen läßt, besteht dies in der offensichtlich neidvollen Polemik gegen die jüdisch-protestantische Bildungselite und den von dieser vorgeschriebenen Bildungskanon. 28 In dem Buch Politische Romantik, das an Adam Müllers Denken die Struktur des romantischen Geistes zu ergründen sucht und damit zugleich eine Diagnose der "Moderne" stellt, entwickelt Schmitt seine Argumentation gegen das "ewige Gespräch" der Liberalen (vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik [1919], 4. Aufl., Berlin 1982, S. 40). Hierzu Karl Heinz Bohrer: "Carl Schmitts Polemik gegen die Romantik als das moderne Bewußtsein", in: ders.: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a.M. 1989, S. 284-311. 29 Zu Schmitts Trennung von Demokratie und Liberalismus vgl. dessen Schrift: Die Lage des heutigen Parlamentarismus [1923], 6. veränderte Aufl., Berlin 1985.
geistesgeschichtliche
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ner ausschließlich die "Theologie des Gegners".30 Seine "entschieden ideengeschichtliche Untersuchung" will in den Postulaten seiner Widersacher stets nur den "metaphysischen Kern" sehen.31 Doch welche Theologie versteckt sich für Schmitt hinter der liberalen Denkstruktur? Es ist kein Zufall - denn Schmitt ist ein äußerst präziser Autor daß er in demselben Abschnitt, in dem er gegen Kelsens Demokratiesymbol polemisiert, neben Georg Jellinek auch Marx' Aufsatz Zur Judenfrage erwähnt.32 Ein Aufsatz, der die politische Emanzipation der Juden zum Prüfstein der liberalen bürgerlichen Emanzipation überhaupt macht. Schmitt wußte selbstverständlich, daß der Begriff des Staatsbürgers zum erstenmal im Emanzipationsedikt von 1812 auftritt. 33 Die damit postulierte Möglichkeit einer vollständigen Trennung von Religion und Politik steht für ihn, wie er später ausführte, in einem direkten Zusammenhang mit dem Wunsch der Juden, sich politisch zu emanzipieren.34 Die liberale Weltanschauung ist somit - in Schmitts Polemik - historisch mit dem sich emanzipierenden Judentum verknüpft. Die "Christus oder Barrabas"-Stelle steht bei Schmitt für den jüdischen Gottesmord gleichermaßen wie für den "metaphysischen Kern" der liberalen Weltanschauung. Für Schmitt ist es der Skandal der liberalen Weltanschauung, daß sie auf die Frage "Christus oder Barrabas?" mit einem ewigen Gespräch antwortet. Der noch weitaus größere Skandal der relativistischen Demokratietheorie, wie sie von Kelsen in Fortsetzung der Arbeiten der von Schmitt erwähnten jüdischen Konvertiten Marx und Jellinek zu einem Höhepunkt geführt wurde, besteht freilich darin, daß jene sich letztlich nicht bloß einer Entscheidung enthalte, sondern daß sie sich gegen Christus entscheidet. Hinter dem liberalen Gespräch steht eine Entscheidung gegen die absolute Wahrheit der christlichen Offenbarung, die in der von Kelsen bezeichneten Stelle ihren Anfang findet. Doch trotz - oder vielleicht gerade auf Grund - der eben entfalteten Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Kelsen scheinen sich die beiden zunächst für ganz ähnlich gelagerte Fragestellungen zu interessieren. Ihre Konfrontation beginnt auf einer diagnostischen Ebene sogar mit einer frappierenden Nähe der Positionen. Nach der weitgehenden politischen Trennung von Kirche und Staat durch die Weimarer Verfassung (Art. 135-141) ging es Kelsen und Schmitt zunächst darum, wie man den Befund werten
30 PT, 1. Aufl., S. 54. 31 Ebd., S. 54. 32 Während Schmitt Jellinek vorwirft, daß er eine "Entdeckung" mache, die längst vor jenem Donoso und Marx evident gewesen sei, polemisiert Marx über genau denselben Punkt bereits gegen Bruno Bauer: "Gegen seine [Bauers] Entdeckung, daß die Menschenrechte nicht 'angeboren' sind, eine Entdeckung, die in England seit mehr als 40 Jahren unendlichemale entdeckt worden ist, ist Fouriers Behauptung, daß Fischen, Jagen etc. angeborene Menschenrechte seien, genial zu nennen." (Karl Marx u. Friedrich Engels: Die Heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, Berlin 1953, S. 204) 33 Vgl. "Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate vom 11. März 1812", in: Ernst Rudolf Huber (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1961, S. 49-51. 34 Vgl. Carl Schmitts "Nachwort", in: Günther Krauß u. Otto von Schweinichen: Disputation über den Rechtsstaat, mit einer Einleitung und einem Nachwort von Carl Schmitt, Hamburg 1935, S. 84-88; Albrecht Wagner in: Deutsche Juristen-Zeitung vom 15. Juni 1935 über den Zusammenhang zwischen dem "Sieg der Begriffe Staatsbürger und Rechtsstaat" und der Judenemanzipation.
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müsse, daß "die Lehre vom Staate", wie Kelsen formuliert, in einer "ganz auffallenden Übereinstimmung mit der Lehre von Gott, der Theologie" stehe.35 Kelsen versteht Religion, ähnlich wie Marx, als soziale Ideologie, die er einer auf Kant, Feuerbach und Freud gestützten radikalen Kritik unterzieht. Von dem so gewonnenen Standpunkt aus greift er die "ganzen älteren wie neueren Staatstheorien" an, die sich in eine "verblüffende Parallele zu jenen der Theologie" gestellt hätten.36 Aus einer an Schmitt geschärften Perspektive könnte man Kelsens letztes Ziel darin erblicken, daß dieser die moderne Staats- und Verfassungslehre systematisch von aus dem Säkularisierungsprozeß gewonnen Begriffen zu befreien sucht. Nicht ohne Ironie bezeichnet Schmitt es als Verdienst Kelsens, daß dieser seit 1920 "mit dem ihm eigenen Akzent auf die methodische Verwandtschaft von Theologie und Jurisprudenz hingewiesen" habe.37 Ganz anders als Kelsen erhebt Schmitt diese Verwandtschaft der Begriffe zu seinem positiven Programm: "Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe." 38 Schmitt stellt apodiktisch fest, daß alle prägnanten, also treffend darstellenden Begriffe der modernen Staatslehre ihre Schärfe, Genauigkeit und Knappheit des Ausdrucks daraus bezögen, daß sie säkularisierte theologische Begriffe seien. Doch die bloße Deskription der genannten Strukturidentität ist keineswegs Ursache für die Brisanz von Schmitts Lehre. Diese muß politische Theologie in einem starken Sinn genannt werden, denn sie befaßt sich nicht nur diagnostisch mit den Analogien von Theologie und Jurisprudenz, sondern stellt sich darüberhinaus selber in ein positives Verhältnis zum Produkt dieses spezifisch christlichen Säkularisierungsprozesses. Gerade darin liegt der Grund für Schmitts Polemik gegen Kelsens Theorie, die befreit ist von jedem theologischen oder politischen Bezug. Schmitts Denken kreist um eine Anzahl von Begriffen, die seiner Meinung nach ihre Prägnanz der Verweltlichung christlicher Formen schulden. Für die Zeitspanne der Weimarer Republik sind - exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die Begriffe Staat, Souveränität, Diktatur, Gesetz, Ausnahmezustand und Entscheidung zu nennen. Mit dem beiläufigen Hinweis auf Marx' Text Zur Judenfrage deutet Schmitt auf die in seinem Konflikt mit Kelsen strukturell entscheidende Debatte. Im folgenden soll diesem in der Forschung bisher fast unbeachtet gebliebenen Verweis nachgegangen werden. Hierzu müssen zunächst einige Aspekte aus dem geistesgeschichtlichen Umfeld 35 Hans Kelsen: "Gott und Staat", Logos, Bd. 11 (1922/23), S. 261-284, jetzt in: Hans Klecatsky, René Marcie u. Herbert Schambek (Hg.): Die Wiener Rechtshistorische Schule. Hans Kelsen, Adolf Merkel, Albert Verdross, Wien 1968, S. 171-193, hier S. 179. Vgl. auch die ausführliche Kritik zu diesem Text von W. Pohl: "Kelsens Parallele: Gott und Staat. Kritische Bemerkungen eines Theologen", Zeitschrift für öffentliches Recht, 4. Jg. (1925), S. 571-609. 36 Hans Kelsen: "Gott und Staat" (FN 35), S. 178 f. Schon früh kritisiert Schmitts Bonner Kollege Kaufmann die Methodik Kelsens: Erich Kaufmann: Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, Tübingen 1921. 37 PT, 1. Aufl., S. 39. Schmitt spielt mit der Doppeldeutigkeit von "Akzent" als einer spezifischen Hervorhebung oder aber auch als einer speziellen Aussprache - denn nur drei Seiten zuvor stellt er fest, daß er im Prinzip selber schon seit 1914 mehrfach auf diese Analogien hingewiesen habe. 38 PT, 1. Aufl., S. 37.
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von Schmitts politischer Theologie näher beleuchtet werden, die bisher ebenfalls noch zu wenig untersucht worden sind.
II. In der von dem Nationalökonomen Melchior Palyi herausgegebenen Erinnerungsgabe für Max Weber von 1923 findet sich unter den Beiträgen über Strukturprobleme des modernen Staates ein Artikel zur Soziologie des Souveränitätsbegriffes und politischen Theologie von Carl Schmitt. 39 Bereits 1922 war dieser Text, um ein Kapitel zur Staatsphilosophie der katholischen Gegenrevolution erweitert, unter dem programmatischen Titel Politische Theologie erschienen. 40 1934 folgte ein weiterer, "unveränderter" Neudruck. Dieser enthält eine vom November 1933 datierte kurze Vorbemerkung, die diesen Text an die Seite der protestantischen, deutschchristlichen politischen Theologie Heinrich Forsthoffs und Friedrich Gogartens stellt und gegen die - allerdings nicht explizit benannte - "unpolitische Lehre" Karl Barths polemisiert. Kürzungen bestünden, wie Schmitt anmerkt, nur darin, daß Stellen, die sich mit "Unwesentlichem" befaßten, gestrichen seien. 41 Tatsächlich war diese Ausgabe systematisch von allen anerkennenden Äußerungen zu Schmitts ehemaligem Bonner Kollegen, dem scharfen Kritiker der neukantianischen Rechtstheorie, Erich Kaufmann, bereinigt worden. 42 Unverändert geblieben war dagegen die kritische Auseinandersetzung mit Hans Kelsen. 43 Beide Autoren, Kaufmann und Kelsen, waren als "Nichtarier" von dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 betroffen. 44
39 Melchior Palyi (Hg.): Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München/Leipzig 1923, S. 3-35. 40 Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade das Kapitel über die gegenrevolutionäre Bewegung mit seinen schärfsten Attacken auf den Liberalismus - und mit dem Hinweis auf Marx "Zur Judenfrage" - in der Erinnerungsgabe für Weber fehlt. 41 PT, S. 7. 42 Die Seiten 14, 15, 19, 26-28 u. 30, der Politischen Theologie von 1922 beschäftigen sich mit Erich Kaufmann, sie wurden alle in der Auflage von 1934 gestrichen. Zu Kaufmann Manfred Friedrich: "Erich Kaufmann (1880-1972). Jurist in der Zeit und jenseits der Zeiten", in: Helmut Heinrichs u.a. (Hg.): Deutsche Juristen (FN 25), S. 693-704. 43 Zu dieser Auseinandersetzung und insbesondere zu Schmitts "politisch-theologischem Verdikt" gegen Kelsen vgl. Reinhard Mehring: "Staatsrechtslehre, Rechtslehre, Verfassungslehre. Carl Schmitts Auseinandersetzung mit Hans Kelsen", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 80, Heft 2 (1994), S. 191-202. 44 Ihre Nennung sollte, nach einer öffentlichen Anregung Schmitts aus dem Jahre 1936, nur in Verbindung mit einer deutlichen Kennzeichnung erfolgen. Schmitts politische Gegner im Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) werteten Schmitts zeitgemäße Streichungen im Rahmen ihrer Recherchen als Ausdruck grenzenlosen, politischen Opportunismus eines NS-Konvertiten. Da diese Beurteilung jedoch als Teil der NS-internen, polykratischen Machtkämpfe interpretiert werden muß, genügt sie für eine wissenschaftliche Beurteilung von Schmitts Textstrategie keineswegs und ist im Gegenteil trügerisch. Jedenfalls hat Schmitt sowohl an seinem Vorwort als auch an den Änderungen von 1934 in den Auflagen nach 1945 festgehalten. Ausführlich dazu Verf.: "Politische Polykratie 1936. Die legendenumwobene SD-Akte Carl Schmitt", Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte (1994), S. 115-143.
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Schmitts Politische Theologie steht, wie bereits ihr Erscheinen in der Erinnerungsgabe anzeigt, in einem direkten Zusammenhang mit dem "ungeheuren soziologischen Material der Schriften Max Webers". 45 Webers rigoroser Wertneutralismus in der Darstellung des abendländischen Säkularisierungsprozesses entspringt der Haltung eines Liberalen, der am Resultat des Entzauberungsprozesses festhalten will. Schmitt teilt einerseits Webers Diagnose, andererseits aber versucht er aus einer "katholischen Grundstellung" (Mehring) heraus den modernen Rationalitätsbegriff und den Prozeß der Säkularisierung zu überwinden. In der Carl Schmitt gewidmeten Forschung wurde verschiedentlich auf dessen Lage im "Schatten Max Webers" hingewiesen. 46 Beinahe unbeachtet blieb dagegen Schmitts Nähe zur politischen Theologie des Protestantismus und zur Glaubensbewegung "Deutsche Christen". 47 Es scheint offenbar attraktiver, Schmitt im Gespräch mit den ganz großen Philosophen und Theologen zu verfolgen und ihm selber auf diese Weise die Aura eines klassischen Denkers einzuräumen, als sich auf die Ebene bisweilen weniger großer oder gar obskurer Zeitgenossen herabzuwagen. Zudem hat Schmitt aber auch einen beträchtlichen Teil seines Spätwerkes darauf verwandt, Leseanweisungen vorzuschreiben, die für eine ideengeschichtliche Zuordnung seiner Gedanken oft nicht unbedingt hilfreich waren. So äußerte er sich 1970 noch einmal zu seiner Lehre: "Meine Schrift Politische Theologie aus dem Jahre 1922 [...] betrifft [...] ein wissenschaftstheoretisches und begriffsgeschichtliches Problem: die Struktur-Identität der Begriffe theologischer und juristischer Argumentationen und Erkenntnisse." 48 Demzufolge bezeichnet Carl Schmitt mit dem Thema seiner Politischen Theologie anscheinend bloß eine spezielle Begriffsgeschichte, welche die Herkunft aller wichtigen Begriffe der modernen Staatslehre aus der Theologie behauptet und daraus eine spezifische Strukturverwandtschaft theologischer und juristischer Begriffe folgert. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat sie daher in Abgrenzung von einer institutio-
45 PT, 1. Aufl., S. 19. Dieser Absatz, der sich mit Erich Kaufmann auseinandersetzt, ist in der Ausgabe von 1934 gestrichen, der zitierte Hinweis auf Max Weber ist dadurch erloschen. Ausführlich zu Weber und Schmitt Gary L. Ulmen: Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991; vgl. auch ders.: "Politische Theologie und politische Ökonomie - Über Carl Schmitt und Max Weber", in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 341-365; Reinhard Mehring: "Politische Ethik in Max Webers 'Politik als Beruf und Carl Schmitts 'Der Begriff des Politischen'", Politische Vierteljahresschrift, 31. Jg. (1990), S. 608-626. Vgl. auch den "Exkurs: Max Weber und Carl Schmitt", in: Fritz Loos: Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 87-92. 46 Vgl. Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten kriegen, München 1989.
Welt. Philosophischer
Extremismus zwischen den Welt-
47 Kirchenpolitisch formte sich die deutschchristliche Bewegung erst 1932, sie findet aber in der protestantischen politischen Theologie, die sich in den Jahren 1917-1930 gebildet hatte, eine entscheidende Vorkämpferin (vgl. Kurt Meier: Die Deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Halle a. d. Saale/Göttingen 1964). 48 Carl Schmitt: Politische Theologie / / . Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970, S. 22. Ausführlich antwortet darauf Hans Blumenberg: "Politische Theologie I und II", in: Säkularisierung und Selbstbehauptung, erw. und überarb. Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit 1. u. 2. Teil, Frankfurt a.M. 1974, S. 103-118 und ders.: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979.
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nellen oder einer appellativen als eine juristische politische Theologie bezeichnet. 49 Es ist sicher verfehlt, wenn die juristische Ausrichtung von Schmitts Denken durch die forciert politisch-theologische Interpretation neuerer Forschung soweit verdrängt wird, daß Schmitts bedeutendste juristische Auseinandersetzungen in Fußnoten verschwinden, doch die Hervorhebung der juristischen Ebene soll umgekehrt auch nicht dazu dienen, Parallelen mit zeitgenössischen theologischen Denkströmungen zu verdecken. 50 Schmitt verstand sich selber stets als Jurist - auch dann wenn er die ihm künstlich erscheinenden Grenzen seines Faches zu überschreiten suchte. Es mag ihm zwar, wie dies Leo Strauss festgestellt hat, um eine "grundsätzliche Kritik" des herrschenden "Kulturbegriffs" und dessen "liberale" Trennung in autonome Sphären, wie Recht, Ethik, Kunst oder Theologie gehen, doch er verläßt dabei in seinen wichtigsten Schriften doch nie wirklich den Boden der Jurisprudenz. 51 Die um den zeitgeschichtlichen theologischen Kontext erweiterte Perspektive auf Schmitts politische Theologie verspricht eine gewisse Klärung von Schmitts Haltung in der Debatte um die sogenannte Judenfrage, wie sie im vierten Kapitel der Politischen Theologie in dem oben zitierten Abschnitt erscheint.52 Eine solche Untersuchung gewinnt zunächst dadurch an Bedeutung, daß Schmitts antisemitisches Engagement der Jahre 1933-45 keineswegs als opportunistischer "lip service" (Bendersky) oder als "NonsensProskynese" (Quaritsch) erklärt werden kann, sondern auf eine viel tiefer mit dem Werk verbundene Problematik hindeutet. 53 Selbst in seiner Vernehmung in Nürnberg im Jahre 1947 durch Robert Kempner hat Schmitt seine antisemitischen Äußerungen nicht zurückgenommen, sondern sie vielmehr weiterhin verteidigt. 54 Dies belegt der Gesprächsver-
49 Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Politische Theorie und politische Theologie. Bemerkungen zu ihrem gegenseitigen Verhältnis", in: Jakob Taubes (Hg.): Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 1: Der Fürst dieser Welt, München 1983, S. 19. 50 Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 1994 nennt Hans Kelsen - mit Ausnahme einer Fußnote auf Seite 259 - in seinem ganzen Buch nicht. 51 Leo Strauss: "Anmerkungen zu Carl Schmitts Begriff des Politischen", in: Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und der "Begriff des Politischen1'. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988, S. 102 u. S. 105. 52 PT, S. 79. 53 Joseph W. Bendersky: Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton (N.J.) 1983, S. 208; Helmut Quaritsch: Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 2. erw. Aufl., Berlin 1990, S. 109. Ähnlich argumentiert auch George Schwab: The Challenge of the Exception. An introduction to the Political Ideas of Carl Schmitt between 1921 and 1936, 2nd ed. with a new introduction, New York 1989. 54 Die von Joseph Bendersky: Carl Schmitt (FN 53), S. 269 zitierte Stelle aus der Vernehmung: "Es ist schauerlich. Es gibt kein Wort darüber zu reden" (bei Bendersky: "It is definitely horrible. Nothing eise can be said about it") bezieht sich nicht auf Schmitts Antisemitismus, sondern nur recht vage auf seine "These", daß die "Rechtsprechung nationalsozialistisch" sein sollte (vgl. Claus-Dietrich Wieland: "Carl Schmitt in Nürnberg" [1947], 1999, Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts [1987], S. 96-122, hier S. 111) Auch wenn sich Schmitts Äußerung - im Rahmen einer Vernehmung - tatsächlich auf seine antisemitischen Äußerungen bezogen hätte, was nicht der Fall ist, so bliebe es dennoch unbegreiflich, weshalb die Forschung ebenfalls "kein Wort" darüber reden sollte. Weitgehend
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lauf der Vernehmungsprotokolle. Kempner forderte von Schmitt eine Erklärung für den "Goebbelsstil" der vierten Auflage von Schmitts Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung. Zu diesem Zweck zitierte er daraus die folgenden Sätze: "Diese jüdischen Autoren [Schmitt nennt zuvor Heinrich Rosin, Paul Laband, Georg Jellinek, Hans Nawiasky, Hans Kelsen und Georg Simmel] haben natürlich die bisherige Raumtheorie so wenig geschaffen wie sie irgend etwas anderes geschaffen haben. Sie waren doch auch hier ein wichtiges Ferment der Auflösung konkreter raumhafter Ordnung."55 Worauf Schmitt antwortete: "Ich bestreite, daß das Goebbelsstil ist nach Inhalt und Form. Ich möchte betonen, den hochwissenschaftlichen Zusammenhang der Stelle zu beachten. Der Intention, der Methode und der Formulierung nach eine reine Diagnose. [ . . . ] Alles, was ich gesagt habe, insbesondere dieser Satz ist nach Motiv und Intention wissenschaftlich gemeint, als wissenschaftliche These, die ich vor jedem wissenschaftlichen Kollegium der Welt zu vertreten wage. "56
Solche Bekundungen sollten eigentlich für sich sprechen. Wenn Schmitt noch nach 1945 seine Äußerungen über die "jüdischen Autoren" als "Ferment der Auflösung" derart nachdrücklich vertritt, dann kann von einer "Selbst-Verurteilung" (Quaritsch), jedenfalls bezüglich des eigenen Antisemitismus, doch eigentlich keine Rede sein.57 Umgekehrt muß vielmehr gefragt werden, inwiefern Schmitts Antisemitismus - seine judenkritische Haltung, wie er es euphemistisch nannte - nicht sogar dazu beigetragen hat, ihm den Beitritt in die NSDAP im Jahre 1933 zu erleichtern. Wenn man nicht davon ausgeht, daß Schmitt 1933 ganz plötzlich zum Antisemitismus konvertierte, dann müssen auch seine Schriften der vorangehenden Jahre bis zu Hitlers Machtergreifung neu analysiert werden. Bei einer solchen Untersuchung muß die Vielzahl der juristischen, politischen, ästhetischen und theologischen Strömungen beachtet werden, die Schmitts Œuvre geprägt haben. Sie beeinflußten auch Schmitts Auseinandersetzung mit "den Juden", die aus diesem Grunde nicht monokausal, etwa als Resultat seines katholischen Antijudaismus, erklärt werden kann. An dieser Stelle soll einer dieser Zusammenhänge entwickelt werden, der zeitgeschichtlich von der Diskussion um die sogenannte "Judenfrage" in der protestantischen politischen Theologie der Weimarer Republik ausgeht und gleichzeitig auf die tiefe Verwurzelung von Schmitts Denken in der Geschichte des 19. Jahrhunderts verweist. Der Bezug auf die in der Weimarer Republik erneut entflammte Debatte um die "Juden-
an die Autorität Schmitts halten sich jedenfalls die 29 Tagungsbeiträge in dem umfangreichen Sammelband von Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum (FN 45). 55 Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, unveränd. Ausgabe der 4. erw. Aufl., 1941, Berlin 1991, S. 78 f. 56 Zit. nach Claus-Dietrich Wieland: "Carl Schmitt in Nürnberg" (FN 54), S. 112. 57 "Selbst-Verurteilung" findet sich auch auf keiner Zeile des gleichzeitig verfaßten Glossariums, welches Aufzeichnungen Carl Schmitts der Jahre 1947-1951 enthält. Im Gegenteil lassen sich darin, soviel ich sehe, ausschließlich Selbstrechtfertigungen finden; vgl. Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991.
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frage" eröffnet eine neue Perspektive auf Schmitts bedeutsame Auseinandersetzung mit Hans Kelsen. Die von Schmitt gegen Hans Kelsen vorgebrachten juristischen und staatsrechtlichen Einwände können als Wiederaufnahme der Kontroverse zwischen Bruno Bauer und Karl Marx interpretiert werden. Dies ergibt sich vorwiegend aus einer Lektüre, die Schmitts politische Theologie als Fortsetzung der verfassungs- und geistesgeschichtlichen Debatte zwischen Karl Marx und Bruno Bauer um die Emanzipation der Juden im "christlichen Staat" des deutschen Vormärz versteht.
III. Im Laufe des ersten Weltkrieges und in der Weimarer Republik fand eine ständig wachsende Gruppe vorwiegend protestantischer Theologen im Begriff des Volkes einen neuen ethischen Bezugspunkt theologischen Denkens. Bekannte Theologen der Zeit wie Paul Althaus, Emanuel Hirsch und später auch Friedrich Gogarten sind dieser Richtung zuzurechnen. Sie orientierten sich nicht mehr am Begriff des Individuums, sondern an einem viel allgemeiner konzipierten Volksschicksal. Unter der Parole "Gott und Volk" rückte das erstrebte Heil des Volkes an die Stelle des bloß privaten, individuellen Heils. 58 Gleichzeitig wurde die politische Entscheidung zu einem wichtigen Kriterium der Theologie erhoben, da ihr ein direkter Einfluß auf das religiöse Heil - des Volkes und der Nation - zugesprochen wurde. Ferner gewann die Frage nach der politischen Einheit eine theologische Dimension, die im deutschen Protestantismus zu einer verschärften Debatte um die sogenannte "Judenfrage" führte. 59 Diese Hinwendung zur politischen Theologie, wie der skizzierte Perspektivenwechsel genannt wurde, war für die protestantische Theologie in erster Linie mit der Übernahme völkischer Ideologien verbunden. 60 Da die völkische Ideologie des Nationalsozialismus bis zum März 1933 von der katholischen Kirche ausdrücklich verboten war, könnte man annehmen, die politische Theologie sei eine rein protestantische Bewegung geblieben. Doch die Politisierung der Ethik war und ist an keine Konfession gebunden. So schlössen sich im Sommer 1933 auch katholische Universitätstheologen als erklärte Anhänger einer katholischen politischen Theologie der nationalsozialistischen Bewegung an. Carl Schmitts Freund, der Braunsberger Theologe Karl Eschweiler, war unter ihnen vielleicht der prominenteste.61 In zahlreichen Schriften popularisierte der protestantische Publizist Wilhelm Stapel diese modern erscheinende politische Theologie, und bettete die "Theologie des Nationa-
58 Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Berlin 1985, S. 125. 59 Ebd., S. 124-150. 60 Vgl. Wolfgang Tilgner: Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube. Kirchenkampfes, Göttingen 1966, S. 88-211.
Ein Beitrag zur Geschichte
des
61 Karl Eschweiler: "Die Kirche im neuen Reich", Deutsches Volkstum (1933), S. 454-456. Vgl. den kritischen Literaturbericht über die Forschung zum Thema Kirchen im 3. Reich von Susannah Heschel u. Robert P. Ericksen: "The German Churches Face Hitler: Assessment of the Historiography", Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte (1994), S. 433-459.
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Iismus" - wie er sie nannte - in seine Lehre vom Volksnomos ein. 62 Die politische Einheit fand nun eine politisch-theologische Begründung im heilsgeschichtlich begriffenen "deutschen Nomos". 63 Dieser wurde in einer scharfen Auseinandersetzung und in Abgrenzung zu dem "Nomos der Juden" entwickelt, der theologisch recht gewaltsam mit der Thora oder dem Alten Testament gleichgesetzt wurde. 64 Eine rechtliche oder politische Einheit aus "Deutschen" und "Juden" widersprach dieser politisch-theologischen Volksnomoslehre von Grund auf. 65 Im Gegenteil erschien dieser die bloße Existenz eines emanzipierten deutschen Judentums als Provokation. Die durch die Artikel 136 und 137 der Weimarer Verfassung verbürgten, von jeder religiösen Gesinnung unabhängigen, staatsbürgerlichen Rechte entsprachen nicht den Homogenitätsvorstellungen der politischen Theologen. 66 Die politische Emanzipation der Juden und der sie erst ermöglichende Begriff der religiös indifferenten Staatsbürgerschaft widersetzte sich dem Grundprinzip der politischen Theologie, die einer Säkularisierung des Politischen entgegentrat. Die Emanzipation der Juden konnte dagegen als letzter säkularer Schritt auf dem Weg zur vollkommenen Enttheologisierung des Politischen verstanden und dementsprechend bekämpft werden. Praktisch bedeutete dies einen Rückschritt zu einem ständischen Ideal, welches im 19. Jahrhundert von Friedrich Wilhelm IV. unter dem Begriff des christlichen Staates vertreten wurde. Dieser sah die politische Verfassung so eng mit der Religion verknüpft, daß ihm jede politische Integration der Juden in den christlichen Staat unmöglich schien.67 Sie sollten daher vielmehr eine eigene politische Korporation außerhalb des
62 Vgl. Heinrich Keßler: Wilhelm Stapel als politischer Publizist. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Nationalismus zwischen den beiden Weltkriegen, Nürnberg 1967. Stapel verstand unter dem Begriff des Nomos eine "gottverordnete, natürliche Konstitution einer Gemeinschaft, die geheiligten Sitten, Bräuche, Verfassungen, Wertungen eines Volkes" (ders.: Sechs Kapitel über Christentum und Nationalsozialismus, Hamburg 1931, S. 13) und bezog sich dafür auf den Jungkonservativen Hans Bogner (ders.: Die verwirklichte Demokratie, Hamburg 1930). Carl Schmitt hat sich später zu beiden geäußert: Der Nomos der Erde (FN 17), S. 39. 63 Wilhelm Stapel: Sechs Kapitel (FN 62), S. 14. 64 Die Übersetzung von Thora (Hebräisch = Lehre) mit "Gesetz" ist nicht korrekt. Der Irrtum läßt sich auf die griechische Fehlübersetzung von Thora = Nomos und die spätere Fehlübersetzung von Nomos = Lex zurückführen. Das traditionelle, christliche Vorurteil, welches im Judentum die "Gesetzesreligion" sieht, hat hier einen wichtigen Ursprung (vgl. Steven T. Katz: Jewish Ideas and Concepts, New York 1977, S. 183). 65 Dem "zionistischen Traum" Herzls stand Stapel dagegen eher positiv gegenüber, da dieser ja in seiner Sicht genau auf die Trennung der "Nomoi" hinauslief; ders.: Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932, S. 7. 66 "Deutsche und Juden haben ein Interesse daran, daß ihre realen Gemeinschaften - nennen wir sie hier kurz Deutschtum und Judentum - unverwirrt bleiben." (Wilhelm Stapel: "Versuch einer praktischen Lösung der Judenfrage", in: Albrecht Erich Günther [Hg.]: Was wir vom Nationalsozialismus erwarten. Zwanzig Antworten, Heilbronn 1932, S. 187) Zur Stellung der Juden in der Weimarer Republik vgl. Peter Pulzer: Jews and the German State, The Political History of a Minority, 1848-1933, Oxford 1992, S. 214-350. 67 Horst Fischer: Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert. staatlichen Judenpolitik, Tübingen 1968, S. 156.
Zur Geschichte
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politischen Staatsverbands bilden. Der einzelne Jude sollte keine Staatsbürgerrechte mehr besitzen, wie dies noch ausdrücklich im Preußischen Emanzipationsedikt von 1812 vorgesehen war, sondern es wurden ihm nur noch Kooperationsrechte zugesprochen. Die Kräfte der erneuerten christlichen Religiosität, das katholische wie die protestantischen Bekenntnisse, sollten den neuen Staat von dem "rationalistischen Verstandesstaat" und von dem Einfluß des Judentums freihalten. Die Vorkämpfer des christlichen Staates bestritten die Möglichkeit einer Emanzipation der Juden in Deutschland aus ähnlichen Gründen, wie die politischen Theologen in der Weimarer Republik, die innerhalb ihres "Nomos Germanikos" keinen Raum für die Juden sahen. 68 Während jedoch die ständischen Pläne von Friedrich Wilhelm IV. weitgehend scheiterten, kam die nationalsozialistische Bewegung in diesem Punkt der politischen Theologie entgegen, indem sie die Juden systematisch aus dem öffentlichen Leben verdrängte. Es kann hier nicht auf die biographischen Verbindungen zwischen Schmitt und einigen Vertretern der theologischen politischen Theologie eingegangen werden. Zu nennen wäre, neben den bereits genannten, in erster Linie der rheinische Bischof und deutschchristliche Aktivist Heinrich Oberheid, dem Schmitt sehr nahe stand. 69 Auch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Schmitts Begriff des Nomos und demjenigen der Volksnomostheologie können hier nicht näher erörtert werden, was sich dadurch entschuldigen läßt, daß dieser Begriff für Schmitt erst nach 1933 eine große Bedeutung erlangte. 70 Es sollen aber einige konzeptionelle Parallelen aufgezeigt werden. Schmitt hat in seiner Vorbemerkung zur zweiten Ausgabe der Politischen Theologie auf den Begriff der "Säkularisierung" verwiesen, der ihn mit den Ideen der protestantischen politischen Theologen verbindet: "Von den protestantischen Theologen haben besonders Heinrich Forsthoff und Friedrich Gogarten gezeigt, daß ohne den Begriff der Säkularisierung ein Verständnis der letzten Jahrhunderte unserer Geschichte überhaupt nicht möglich ist. "71 Heinrich Forsthoff hatte in seiner Untersuchung über die Voraussetzungen von Philosophie und Theologie im "Säkularismus" die Auflösung des Gottesglaubens und das völlige Einmünden in die "humanistische Illusion" gesehen. 72 Diese Illusion
68 Wilhelm Stapel: Der Christliche Staatsmann (FN 65), S. 178. 69 Vgl. Heiner Faulenbach: Ein Weg durch die Kirche. Heinrich Josef Oberheid, Köln 1992. Zu Oberheids Versuchen, die protestantischen Kirchen mit dem NS-Staat gleichzuschalten vgl. Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 2, Berlin 1988, S. 11-36. 70 Dazu Verf.: "Carl Schmitts 'Nomos' und die 'Juden'", Merkur (Mai 1993), S. 410-420. Schmitt hat den Nomos-Begriff in Opposition zum Gesetzesbegriff entwickelt, wobei er letzteren ganz traditionell in enger Verbindung mit dem Judentum gesehen hat. 71 PT, S. 7. 72 Heinrich Forsthoff: Das Ende der humanistischen Illusion. Eine Untersuchung über die Voraussetzungen von Philosophie und Theologie, Berlin 1933, S. 149. Die Nähe zu Gogarten betont jetzt Dietrich Braun: "Carl Schmitt und Friedrich Gogarten. Erwägungen zur 'eigentlichen katholischen Verschärfung' und ihrer protestantischen Entsprechung im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich", in: Bernd Wacker (Hg.): Die eigentlich katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994, S. 203-227. Über Schmitt, Hirsch und Barth vgl. auch John Stoup: "Political Theology and Secularisation Theory in Germany, 1918-1939: Emanuel Hirsch as a Phenomen of His Time", Harvard Theological Review, 80. Jg., Heft 3 (1987), S. 321-368.
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bestehe, so Forsthoff, in dem "Glauben des Menschen an sich selbst" - statt an Gott und Volk, oder wie es in der deutsch-christlichen Parole zu den Kirchenwahlen im Sommer 1933 heißt, an die "Einheit von Evangelium und Volkstum". 73 Eine ähnlich gelagerte "humanistische Illusion" glaubt Carl Schmitt in der "wunder- und dogmenbefreiten, auf den menschlichen Verstand und den Zweifel der Kritik gegründeten Wissenschaftlichkeit" Hans Kelsens aufgedeckt zu haben. 74 Diese als Illusion bezeichnete Ausrichtung ist weniger im Sinne einer irrtümlichen Wunschvorstellung, sondern als eine radikale Täuschung aufgrund der "Theologie des Gegners" zu verstehen. 75 Was die protestantischen politischen Theologen in ein Bündnis mit den völkischen Antisemiten und der Ideologie des Nationalsozialismus treibt, ist die oben skizzierte Volksnomostheologie, welche die politische Einheit und christlich-völkisch verstandene Homogenität nicht mit der Existenz von deutschen Juden in Einklang bringt. Carl Schmitt hält sich mit offenen Stellungnahmen zur "Judenfrage" in seinen Schriften vor 1933 sehr zurück. Das bedeutet natürlich keinesfalls, daß ihn diese Frage nicht interessiert hätte. Wie bereits Hermann Greive über die Haltung der Schmitt nahestehenden Reichstheologie zum Judentum festgestellt hat, scheint es in bestimmten Kreisen des deutschen Katholizismus geradezu ein Tabu der Judenfrage gegeben zu haben. 76 Für Schmitt, der mit zahlreichen Juden befreundet war, galt dies sicherlich in verstärktem Maße. Das Wort "Jude" wird selbst in seinen eindeutig gegen das "jüdische" Denken gerichteten Texten der NS-Zeit oft vermieden, ausgelassen oder verschlüsselt. Dennoch legt eine genaue Lektüre seiner Schriften vor 1933 den Schluß nahe, daß seine damalige Auseinandersetzung mit den assimilierten Juden - nicht nur mit Kelsen, sondern auch mit Paul Laband, Georg Jellinek, Hugo Preuß, Walther Rathenau, Harold J. Laski, Franz Oppenheimer und zahlreichen weiteren - strukturell vor dem Hintergrund der seit dem 19. Jahrhundert schwelenden Debatte um die sogenannte "Judenfrage" gesehen werden muß.
IV. Wenn man die "Judenfrage", wie sie am eindringlichsten von den radikalen Denkern des deutschen Vormärz gestellt worden ist, als verfassungsgeschichtlichen Hintergrund der politisch-theologischen Polemik Schmitts gegen Kelsen versteht, dann muß man auch davon ausgehen, daß Schmitt seine Auseinandersetzung mit Kelsen bereits vor 1933 ganz bewußt als eine Konfrontation mit der Theologie des "jüdischen Autors" angelegt hatte. Zum ganzen Komplex Robert P. Ericksen: Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München/Wien 1986. 73 Heinrich Forsthoff: Das Ende (FN 72), S. 150; Friedrich Gogarten: Einheit von Evangelium und Volkstum?, Hamburg 1933. 74 PT, S. 55. 75 PT, S. 79. 76 Hermann Greive: Theologie und Ideologie. Katholizismus und Judentum in Deutschland und Österreich 1918-1935, Heidelberg 1969, S. 163.
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Die "Theologie des Gegners" wird dabei ausschließlich aus der christlichen, oft massiv antisemitisch gefärbten Perspektive analysiert. Als Jude wird - gegen die traditionelle christliche Lehre, aber in Harmonie mit der protestantischen politischen Theologie jeder bezeichnet, der jüdischer Herkunft ist. Die Konvertiten und assimilierte Juden zählen dabei genauso als "jüdische Autoren", wie sich bewußt in eine jüdische Tradition stellende Gelehrte. Dahinter steht die Angst vor der jüdischen Konspiration, wie sie besonders den katholischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert entscheidend geprägt hat. Gerade der assimilierte - weil unsichtbare - Jude ist in dessen Verschwörungsphantasmen der "wahre Feind". 77 Schmitts Politische Theologie basiert auf Voraussetzungen, die in direktem Gegensatz zur jüdischen - oder von Schmitt als solchen definierten Theologie stehen, und folglich bedarf seine Lehre keiner konzeptionellen Eingriffe, um in Deutschland auch nach 1933 zeitgemäß zu bleiben. 78 Über den Begriff der Säkularisierung bringt Schmitt seine und die protestantische politische Theologie miteinander in Verbindung. Unbestreitbar hängt aber die Emanzipation der Juden mit der Säkularisierung der christlichen europäischen Staaten zusammen. 79 Der gleichzeitig umgekehrt stattfindende Einfluß des sich emanzipierenden europäischen Judentums auf den Säkularisationsprozeß des "christlichen Staates" findet in Marx notorischer Schrift Zur Judenfrage ihren vielleicht provokativsten Ausdruck in dem Satz: "Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind."80 Dieser Satz irritierte Schmitt genauso, wie die folgende Behauptung Benjamin Disraelis, die dieser nur wenige Jahre später in seinem Roman Tancred gemacht
77 Diese Verschwörungskonstruktionen sind für die katholische Judenfeindschaft daher von besonderer Bedeutung, da sie den religiös gefärbten Antijudaismus in einer säkularisierten Form tradieren - damit die vom Antijudaismus bediente Funktion aufrechterhaltend - ohne sich dabei eindeutig auf den offiziell abgelehnten "modernen" Rassismus einzulassen. Vgl. Carl Schmitt: Glossarium (FN 57), S. 18: "Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind." Vgl. dazu immer noch Norman Cohen: Warrant for Genocide. The myth of the Jewish world-conspiracy and the Protocols of the Elders ofZion, London 1967; Joshua Trachtenberg: The Devil and the Jews, the Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modem Antisemitism [1943], 2. Aufl., Philadelphia 1983 und zur spezifisch katholischen Perspektive Olaf Blaschke: "Wider die 'Herrschaft des modern-jüdischen Geistes': Der Katholizismus zwischen traditionellem Antijudaismus und modernem Antisemitismus", in: Wilfried Loth (Hg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, S. 236-265. 78 Die wichtigste Unzeitgemäßheit, die positive Erwähnung Erich Kaufmanns in der ersten Fassung von 1922, wird von Schmitt in der Ausgabe von 1934 gestrichen (vgl. FN 42). Durch einen Brief an das Kultusministerium aus demselben Jahr versucht Schmitt wahrscheinlich diese ehemaligen Ausführungen zu rechtfertigen, indem er nun Kaufmann ob dessen angeblicher "Tarnungskunst" diffamiert. Selbst SA-Leute hätten, so schreibt Schmitt, fest an "Kaufmanns Ariertum" geglaubt und seien sehr erstaunt gewesen, als sie "die Wahrheit" erfahren hätten (vgl. Verf.: "Politische Polykratie" [FN 44], S. 138). 79 Vgl. Jakob Katz: "Die Anfange der Judenemanzipation", in: ders.: Zur Assimilation und Emanzipation der Juden, Darmstadt 1982, S. 83-98. 80 Karl Marx: "Zur Judenfrage", in: Arnold Rüge u. Karl Marx (Hg.): Deutsch-Französische Jahrbücher [1844], Neudruck Leipzig 1981, S. 294. Von den zahlreichen Auseinandersetzungen mit diesem nur schwer zu fassenden und oft widersprüchlichen Text sei nur die überzeugende Analyse von Arnos Funkenstein erwähnt: "The Political Theory of Jewish Emancipation", in: ders.: Perceptions of Jewish History, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993, S. 220-234.
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hat: "Christentum ist Judentum für die Allgemeinheit, aber immer noch Judentum." 81 Wenn Schmitt davon ausgeht, daß alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind, dann meint er christliche theologische Begriffe. Es stellt sich in Anlehnung an Marx oder Disraeli aber die Frage, welchen Einfluß die säkularisierten Begriffe aus der jüdischen Theologie und Religion auf die moderne Staatslehre ausüben. Eine ganz ähnliche Frage nach dem Verhältnis zwischen den Begriffen, die jeweils aus dem Säkularisierungsprozeß der christlichen und dem der jüdischen Religion gewonnen wurden, hatte bereits Bruno Bauer vorgebracht. Er bezweifelte die Möglichkeit der Anwendung christlicher säkularisierter Begriffe auf das sich säkularisierende Judentum - hierin lag das eigentliche Zentrum seiner Kritik an der Judenemanzipation und hier liegt auch einer der Gründe für seinen Disput mit Marx. Die von Schmitt im Jahre 1922 unter dem Titel Politische Theologie verhandelte Säkularisierungsproblematik spiegelt sich in paradigmatischer Weise im Leben und Werk Bruno Bauers. Bauers Insistenz auf der christlich-theologischen Herkunft aller zeitgenössischen liberalen und konservativen Begriffe steht im Zentrum seiner gesamten Kritik und wurzelt ganz existentiell in einer Umwertung seiner ehemaligen Haltung als protestantischer Theologe. Die Kernbegriffe des liberalen Bürgertums, Freiheit, Menschenrechte, Emanzipation, bleiben aus Bauers Perspektive abstrakte Leerformeln, solange sie nicht als Produkte der "Kritik des Christentums" verstanden werden. 82 Auf die Judenemanzipation angewandt, entwickelt sich aus dieser Kritik die folgende Fragestellung: Wie lassen sich die aus der christlichen Theologie in die moderne politische Theorie übersetzten Begriffe auf Juden anwenden? Gleichzeitig stellt Bauer die Frage nach der Möglichkeit einer absoluten Trennung von Recht und Religion, und demzufolge von Jurisprudenz und Theologie der eigentliche Kern der Emanzipationsdebatte zwischen ihm und Karl Marx, der eine vollständige Trennung jener Sphären für möglich hält und sie sogar als Grundlage der menschlichen Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft fordert. 83 Dagegen karikiert
81 "Christianity is Judaism for the multitude, but still it is Judaism" (Benjamin Disraeli: Tancred: or, The New Crusade, VI, London 1847, S. 4); im Text zit. nach Benjamin Disraeli: Tancred oder der neue Kreuzzug, übers, und bearb. v. Julius Elbau, Berlin 1936, S. 281. Elbau berichtet in dieser für die "Jüdische Buchvereinigung" übersetzten Ausgabe (auf S. 13), daß Bismarck - neben einem Portrait des Kaisers und einem seiner Gemahlin - ein Bild Disraelis in seinem Arbeitszimmer aufgehängt habe. Eine Geschichte, die in ähnlicher Weise auch über Schmitt erzählt wird: vgl. Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin 1933 bis 1943 - Ein Bericht, Frankfurt a.M. 1987. Schmitt hat später in seinem Glossarium, (FN 57, S. 268) Disraelis Satz mit Marx' "Religion ist Opium für das Volk" in einen Zusammenhang gebracht. Sombart hat sich später noch ausführlich mit der interessanten Konstellation Disraeli - Schmitt bzw. Viktoria von England - Disraeli vs. Schmitt auseinandergesetzt: vgl. ders.: Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt - ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, Wien 1991, insbes. S. 282-294. 82 Bruno Bauer: Die Judenfrage, Braunschweig 1843, S. 1-2. Vgl. auch Bruno Bauer: "Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden", in: Georg Herwegh (Hg.): Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, 1. Teil: "Zürich und Winterthur 1843", zit. nach dem Neudruck, hg. von Ingrid Pepperle, Leipzig 1989, S. 136-154. 83 Zur Debatte mit Marx Nathan Rotenstreich: "For and against Emancipation. The Bruno Bauer Controversy", Leo Baeck Yearbook, Bd. 4 (1959), S. 3-36.
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Bauer die liberale Hoffnung auf eine Trennung von Kirche und Staat als eine unehrliche Maskerade und hält an der christlichen Erbschaft sämtlicher moderner politischer Begriffe fest. 84
V. Im Jahre 1933 greift Hans Kelsen im letzten Kapitel seiner Schrift Staatsform und Weltanschauung noch einmal auf sein altes Jesus-Pilatus Thema zurück, indem er einige interessante Präzisierungen vornimmt. 85 Es sei daran erinnert, daß Kelsen 1920 in Vom Wesen und Wert der Demokratie von einem "tragischefn] Symbol des Relativismus und der - Demokratie" sprach, welches sich aus dem 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums ergebe. 1933 spricht Kelsen plötzlich von einem "tragischen Symbol des Gegensatzes zwischen einer metaphysisch-autokratischen und einer relativistisch-demokratischen Weltanschauung". 86 Weiter hat Kelsen 1920 im letzten sich mit der Johannes-Stelle beschäftigenden Abschnitt eingeräumt, daß sein Beispiel "vielleicht" für einige "politisch Gläubigen" eher gegen als für die Demokratie sprechen würde. 87 Dagegen schreibt er 1933, die von ihm geschilderte "Volksabstimmung" müsse für die politisch Gläubigen "gewiß" ein gewaltiges Argument gegen die Demokratie sein, und dieses Argument müsse man auch gelten lassen: "Freilich nur unter einer Bedingung: wenn die politisch Gläubigen der politischen Wahrheit, die eventuell mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muß, wenn sie dieser ihrer Wahrheit so gewiß sind, wie der Sohn Gottes." 88 Kelsen hat hierbei vermutlich an Schmitts politische Theologie gedacht. Denn politische Theologie stand spätestens im Ernstfall von 1933 nicht mehr für eine bloße Säkularisierungsdiagnose, sondern vielmehr für eine radikale politische Homogenitätsvorstel-
84 Wolfgang Eßbach hat in seiner Soziologie der junghegelianischen Intellektuellengruppe darauf hingewiesen, welche Herausforderung Bauers Thesen zur Judenfrage innerhalb einer Gruppe von Denkern darstellt, der auch jüdische Intellektuelle angehören: Ihnen unterstellt Bauer eine beinahe unbezwingbare Behinderung auf dem Weg in die Emanzipation. In bezug auf Marx hat Zvi Rosen darüber hinaus bemerkt, daß dieser sich offenbar um einen Bruch mit seinem ehemaligen Lehrer bemühte. Vgl. Wolfgang Eßbach: Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988, S. 369 und Zvi Rosen: Bruno Bauer and Karl Marx. The Influence of Bruno Bauer on Marx's Thought, The Hague 1977, S. 238. 85 Schmitt geht dagegen im Zentrum seines Hobbes-Buches von 1938 indirekt auf Kelsens Johannes-Interpretation ein, indem er dort über die Frage des Pilatus "Quid est veritas?" schreibt, man könne sie sowohl als "Ausdruck überlegener Toleranz, wie eines allgemeinen, müden Skeptizismus, wie schließlich eines nach allen Seiten 'offen' bleibenden Agnostizismus" verstehen. Vgl. ders.: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes - Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols [Hamburg 1938], Neuauflage Köln-Lövenich 1982, S. 66 f. 86 Hans Kelsen: Staatsform und Weltanschauung,
Tübingen 1933, S. 29; Hervorhebung von mir.
87 Hans Kelsen: Wesen und Wert (FN 10), S. 85. 88 Hans Kelsen: Staatsform und Weltanschauung
(FN 86), S. 30.
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lung.89 Diese rekurrierte aber nicht auf eine demokratische Entscheidung, sondern sie stützte sich auf eine fundamentale, absolute Wahrheit, wie sie etwa der politisch verstandene Satz "Jesus ist der Christus" symbolisiert. Wer an diesen glaubt, wird vielleicht mit Recht jenen Liberalismus mit seinen Inkonsequenzen und Kompromissen verachten, der die Frage: "Christus oder Barrabas?", mit der Einsetzung einer Untersuchungskommission, wie Schmitt schreibt, beantwortet. 90 Solche Übertragungen religiöser Überzeugung auf Fragen der politischen Entscheidungsfindung bleiben aber höchst problematisch. (Daß der Nationalsozialismus seine HomogenitätsVorstellungen pseudobiologisch und nicht religiös begründet hat, bildete offensichtlich keinen entscheidenden Hinderungsgrund für Schmitt, seine Lehre auf dieser Grundlage weiterzuführen. Er vermochte also die Substanz seiner fundamentalistischen Theorie durchaus in einem gewissen Rahmen zu verändern.) Es kann daher nicht verwundern, wenn Kelsen im Jahre 1933 auch Schmitts politischem Formideal der "complexio oppositorum" - eine alle absoluten Gegensätze konservierende Formel, die Schmitt zeitgleich zu seiner politischen Theologie entwickelt hat - seinen Begriff einer "concordantia oppositorum" entgegenhält. 91 Die "concordantia oppositiorum" steht für den Ausgleich der absoluten Gegensätze, sie sucht gerade den "Kompromiß". 92 Insbesondere versucht sie aber in einer toleranten Vernunftreligion über die Verschiedenheiten aller religiösen Bräuche hinweg "auch Juden zu einer Einheit" zusammenzufassen. 93 Denn nur die Aufhebung einer christlich geprägten absoluten politischen Wahrheit ermöglicht es dem modernen demokratischen Staat, auch Juden und Andersgläubige in seine Homogenitätsvorstellungen zu integrieren. Dagegen kann eine politische Theologie, die die Frage Jesus oder Christus? nicht offen zu lassen vermag, schwerlich als Grundlage einer demokratisch legitimierten politischen Einheit dienen.
89 Vgl. auch Uriel Tal: "On Structures of Political Theology and Myth in Germany Prior to the Holocaust", in: Yehuda Bauer u. Nathan Rotenstreich (Hg.): The Holocaust as Historical Experience. Essays and a Discussion, New York 1981, S. 43-74. 90 PT, 1. Aufl., S. 54. 91 Zum Begriff der "complexio oppositorum" vgl. Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923. Zur "concordantia oppositorum" vgl. Hans Kelsen: Staatsform und Weltanschauung (FN 86), S. 26. Zu den Begriffen "coincidentia oppositorum" und "concordantia catholica", die Kelsen zusammenfügt in eine "concordantia oppositorum" vgl. Nicolai de Cusa: De docta ignorantia, hg. von Paulus Wilpert, Hamburg 1979; im politischen Kontext behandelt in Alois Dempf: Sacrum Imperium, Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, München/Berlin 1929, S. 557-561. 92 Hans Kelsen: Staatsform und Weltanschauung 93 Ebd., S. 26.
(FN 86), S. 26.
Günter Meuter
Die zwei Gesichter des Leviathan Zu Carl Schmitts abgründiger Wissenschaft vom "Leviathan"
"Das Meer [ . . . ] ist [...] ein Leviathan."'
Carl Schmitt hat lange als der "Hobbes des zwanzigsten Jahrhunderts" gegolten. 2 Daran sind allerdings gerade in letzter Zeit vermehrt Zweifel laut geworden. 3 Das wiederum hat zwangsläufig Auswirkungen für die Beantwortung der Frage, welche Beziehung Schmitt zu jenem mythisch aufgeladenen Konstrukt unterhält, das Hobbes mit so nachhaltigem Erfolg in die politische Ideengeschichte eingeführt hat und das unauflöslich mit seinem Namen verbunden ist: dem Leviathan. Wie versteht Schmitt den Sinn dieses politischen Symbols, das so vielen Liebhabern der individuellen Freiheit Schauder bereitet hat, und wie bewertet er diese Einheit des sterblichen Gottes? Es ist aber nicht bloß Schmitts geistesgeschichtliche Relation zu Hobbes, die mit dieser Fragestellung zur Debatte steht. Denn da Schmitt im Jahre 1938, also nicht lange nach dem sagenumwobenen Knick seiner Karriere im Reich der niederen Dämonen, ein in vielerlei Hinsicht als rätselhaft und abgründig empfundenes Buch über den Leviathan veröffentlicht hat, 4
1
Carl Schmitt: "Gespräch über den neuen Raum", Estudios de Derecho Internacional. Homenaje Profesor Camilo Barcia Trelles, Santiago de Compostela 1958, S. 263-282, hier S. 264.
al
2
Helmut Schelsky: Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Berlin 1981, S. 5; George Schwab: "Introduction", in: Carl Schmitt: Political Theology. Four Chapters on the Concept of Sovereignty, Cambridge (Mass.)/London 1985, S. XI-XXVI, hier S. XIV u. S. XXVI; vgl. auch bereits Helmut Rumpf: Carl Schmitt und Thomas Hobbes. Ideelle Beziehungen und aktuelle Bedeutung mit einer Abhandlung Uber: Die Frühschriften Carl Schmitts, Berlin 1972, S. 56 u. S. 78.
3
Grundlegend allerdings bereits 1932 in Leo Strauss: "Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen", in: Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988, S. 97-125, hier S. 109. Im Anschluß an Strauss vgl. dann ebd., S. 9-96, hier S. 41 ff. Ebenso auch Günter Maschke: "Die Zweideutigkeit der 'Entscheidung' - Thomas Hobbes und Juan Donoso Cortés im Werk Carl Schmitts", in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 193-221, hier S. 199. Jüngstens - gewissermaßen in einer Parallelaktion - Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 1994, S. 157 ff. sowie Verf.: Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994, S. 175 ff., S. 403 f. u. S. 458 ff.
4
Vgl. Nicolaus Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt - ein deutsches zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München/Wien 1991, S. 234.
Schicksal
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könnte eine Antwort auf jene Fragen möglicherweise zugleich einen näheren Aufschluß über sein vielumstrittenes Verhältnis zum Nationalsozialismus geben.
I. Realpräsenz als Kryptogramm des Widerstands oder als Proskynese? 1933 kennzeichnet Carl Schmitt "den Kernbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts",5 nämlich die Führung, als einen "Begriff unmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz".6 Er grenzt ihn bemerkenswerterweise unter anderem auch vom römischkatholischen Bild des Hirten und seiner Herde ab, weil der Hirt der Herde "absolut transzendent" bleibe. 7 Als kennzeichnend für den Begriff der Führung stellt Schmitt demgegenüber heraus, daß er "eines vermittelnden Bildes oder eines repräsentierenden Vergleichs weder bedürftig noch fähig" sei. 8 Die auf den ersten Blick offenkundig positive Wertung, die mit dieser Charakterisierung verbunden zu sein scheint, könnte aber eine sklavensprachlich verhüllte Distanznahme vom Nationalsozialismus sein. Warum? Weil dem Staat durch die Zuschreibung dieser Eigenschaften die vormals emphatisch gepriesene Kategorie der Vermittlung und des Repräsentativen verlorengegangen ist.9 Das metaphysische Manko allen technisch-ökonomischen Denkens liegt in Schmitts Augen ja darin, daß es über keine Bildlichkeit, keine Form, keine Symbolik, das heißt aber: über keine Bindung an eine transzendent verpflichtende Unsichtbarkeit verfügt. Es kennt nur die zutiefst defiziente "Realpräsenz der Dinge". 10
5
Carl Schmitt: Staat, Bewegung, S. 36.
6
Ebd., S. 42.
7
Vgl. ebd., S. 41.
Volk, Die Dreigliederung
der politischen Einheit, Hamburg 1933,
8
Ebd., S. 42; Hervorhebungen von mir.
9
Vgl. Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, Stuttgart 1984, S. 36.
10 "Das Ökonomische in seiner Verbindung mit dem Technischen [...] verlangt eine Realpräsenz der Dinge." (Carl Schmitt: ebd., S. 35) Demgegenüber proklamiert Schmitt jedoch, daß die katholische "Überlegenheit über ein Zeitalter ökonomischen Denkens" im "Repräsentativen" läge (ebd., S. 32; Hervorhebungen von mir): "Man kann beobachten, wie mit der Ausbreitung des ökonomischen Denkens auch das Verständnis für jede Art Repräsentation schwindet." (Ebd., S. 43) Der insuffiziente Gegensatz zur repräsentativen Form ist die Verfallenheit an die Materie. Das Formprinzip des ökonomischen Denkens - technische Präzision - bedeute aber gerade "die weiteste Entfernung von der Idee des Repräsentativen" (ebd., S. 35) als dem genuin metaphysischen Prinzip. Beachtenswert ist zudem in diesem Zusammenhang, einen wie großen Wert Schmitt noch ein Vierteljahrhundert nach seinem "Katholizismus"-Essay darauf legt, einerseits antikatholische Ketzerbewegungen und "rationalistische Vereinfacher", nicht zuletzt auch die industrielle Technisierung, die Psychoanalyse und die moderne Malerei als miteinander zusammenhängende ikonoklastische Einbrüche zu kennzeichnen und andererseits die Verehrung des Bildes mit offenkundiger Zustimmung an Zentraldogmen der katholischen Glaubenslehre zu illustrieren: nämlich erstens an dem sakralen Bild der unbefleckten Jungfrau, das in seiner Bedeutung für die spanische Conquista kaum zu überschätzen sei, und zweitens am katholischen Dogma der göttlichen Dreifaltigkeit, deren "tiefen ikonographischen Unterschied" zur bildlos "unentfalteten Einheit" eines "abstrakten Monotheismus" Schmitt ausdrücklich hervorhebt (vgl. Carl
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Für Schmitts Auffassung von legitimer Herrschaft ist die Unterscheidung zwischen einem sektiererischen, sozusagen protestantischen Charisma, das - frei flottierend - an die individuelle Person gebunden ist, und einem katholischen, das von der Institution verliehen wird, von ausschlaggebender Bedeutung. Der sektiererische Anspruch, a deo excitatus zu sein, steht insofern zum charisma veritatis des Papstamtes in einem ebensolchen Verhältnis wie das diabolische Unrecht des jakobinischen Insurgenten zum göttlichen Recht des absoluten Monarchen. Diese politisch-theologische Parallele bildet wohl die Hintergrundfolie einer Erwägung, die Schmitt in der Politischen Romantik anstellt, um zwischen dem legitimen Anspruch des absoluten Monarchen und der usurpatorischen Anmaßung des jakobinischen Empörers zu unterscheiden. 11 Während sich - wie im mittelalterlichen Fürstenspiegel des Aegidius Romanus - der wahre Herrscher zur lex animata und zum intellectus sine concupiscentia transformiert, 12 wäre demgegenüber der identitäre Begriff der Führung als das personalcharismatisch angemaßte Form- und Gestaltungsprinzip eines Reiches brauner Jakobiner indiziert, das keinerlei Repräsentation und Transzendenz kennt, sondern nur die unmittelbare, konkret-faktische Präsenz apparatförmiger und betriebsamer Diesseitigkeit. 13 Einen schlagenden, freilich nachträglichen Beleg zu dieser Interpretation liefert Schmitt in einer Tagebucheintragung vom 21. März 1950: "Was war denn eigentlich im Gange, in diesen Jahren seit 1933? Es war der Versuch einer Liquidierung des Bürgerkrieges auf der Ebene einer totalen Technizität." 14 Indem er das Formprinzip der Führung als einen Begriff realer Präsenz kennzeichnet, hätte er sich zwar durchaus nicht vom Katholizismus und dessen Repräsentationsprinzip distanziert. Er hätte aber klammheimlich dem Nationalsozialismus das Verdammungsurteil gesprochen. Aus den Fängen des Leviathan hätte sich der Geist in die "Krypten und Katakomben" einer täuscherischen Rede geflüchtet. 15 Dabei intendiert Schmitts Reden vom Kryptischen wohl mehr als den bloß metaphorischen Sinn eines geheimsprachlichen VerschlüsselungsVerfahrens: nämlich die Assoziation an Krypta als Sinnbild einer untergründigen christlichen Widerstandshaltung. 16 Irritierenderweise gibt es aber noch eine andere Möglichkeit, den Führerbegriff mit der Kategorie der realen Präsenz zusammenzudenken, als die oben vorgeschlagene:
Schmitt: "Die planetarische Spannung zwischen Ost und West und der Gegensatz von Land und Meer" [1959], in: Piet Tommissen [Hg.]: Schmittiana III [Ecléctica, 20. Jg., Nr. 84-85], Berlin 1991, S. 19-44, hier S. 20-23). 11 Vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik, 3. Aufl., Berlin 1968, S. 87 f. Vgl. hierzu auch die Überlegungen in Verf.: "Zum Begriff der Transzendenz bei Carl Schmitt", Der Staat, 30. Jg., Heft 4 (1991), S. 483-512, hier S. 486 f., FN 21. 12 Vgl. Jürgen Miethke: "Politische Theorien im Mittelalter", in: Hans-Joachim Lieber (Hg.): Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1991, S. 47-156, hier S. 94.
Politische
13 Vgl. Verf.: "Zum Begriff der Transzendenz" (FN 11), S. 502. 14 Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen Medem, Berlin 1991, S. 297. 15 Vgl. Carl Schmitt: Ex Captivitate
der Jahre 1947 - 1951, hg. von Eberhard Freiherr von
Salus. Erfahrungen derZeit
1945/47,
Köln 1950, S. 16.
16 Vgl. Reinhard Mehring: Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: lische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989, S. 155.
Katho-
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nämlich so, daß Schmitt sich weder von einer politischen Theologie katholischer Prägung noch vom Nationalsozialismus distanzieren müßte. Denn Realpräsenz bezeichnet in der katholischen Eucharistielehre die Gegenwartsweise Christi im Abendmahlssakrament. 17 Es könnte demnach sein, daß die zwei politischen Formprinzipien Schmitts, nämlich Repräsentation und Identität, ihr strukturprägendes politisch-theologisches Vorbild an den Begriffen der Repräsentation und der Transsubstantiation haben. Das Repräsentationsdenken, wie es prototypisch im "Katholizismus"-Essay von 1923 vorgestellt und dann in der Verfassungslehre ausgeführt ist, enthält ein Vermittlungs-Modell staatlicher Souveränität. Man könnte vermuten, daß sich dies beim Führer-Begriff aus der nationalsozialistischen Zeit, der das Prinzip der Unmittelbarkeit und der Realpräsenz herausstellt, ganz entscheidend ändert, entsprechend dem in Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen formulierten Prinzip: Es gibt Zeiten der Mittelbarkeit und solche der Unmittelbarkeit. Nun würde ein Identitätsmodell vorherrschen, das überdies den Unterschied des spezifisch deutschen Führerbegriffs von demjenigen der Diktatur mit besonderer Entschiedenheit hervorhebt: 18 wohl deswegen, weil die Vinkulierung, die das republikanische Institut der Diktatur als pouvoir constitué gegenüber der Verfassung hat, für den Führer nicht gelten soll. Andererseits soll mit der Artgleichheit die apriorische Einmütigkeit von Führer und Volk gewährleistet sein, welche die launenhafte Willkür des Despoten vermeintlich ebenso ausschließt wie die Despotie der Massenlaune. 19 Daraus würde folgen, daß der Führer für Schmitt gerade so die Transsubstantiation des Volkes ist,20 wie Brot und Wein in "substantialer Realpräsenz" Christi Fleisch und Blut sind, das heißt substantiell anwesend und nur in akzidentiell anderer Gestalt erscheinend. Dabei ist mit Identität keinesfalls die naturalistische Identität einer reinen Basisdemokratie gemeint. 21 Schmitts Begriff Identität zielt vielmehr gleichermaßen wie die Repräsentation auf die Sichtbarmachung einer unsichtbaren Substanz: nämlich auf die Sichtbarmachung der politischen Einheit des Volkes. Im "demokratischen" Führer an der Spitze verkörpert sich so identitätsrepräsentativ der einheitliche Wille des Volkes. Der "demokratische" Führer steht infolge seiner unbedingten Artgleichheit (bzw. Gleichartigkeit) in unmittelbarer Beziehung zur Idee des homogenen Volkes und seines Gesamtwillens. Dessen Identität muß als nicht-faktische Größe sichtbar gemacht werden; 17 Vgl. Burkhard Neunheuser: "Transsubstantiation", in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10: Teufel bis Zypern, hg. von Josef Höfer u. Karl Rahner, 2. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg 1985, Sp. 311-314. Ihre definierte Fassung erhielt die Transsubstantiationslehre auf dem Vierten Laterankonzil von 1215 (vgl. Johannes Betz: "Eucharistie", in: ebd., Bd. 3: Colet bis Faistenberger, Freiburg 1986, Sp. 1142-1157, hier Sp. 1150). 18 Vgl. Carl Schmitt: Staat, Bewegung,
Volk (FN 5), S. 41.
19 Vgl. auch G. ( = Albrecht Erich Günther): "Staat, Bewegung, Volk. Zur neuen Schrift Carl Schmitts", Deutsches Volkstum, 15. Jg., Heft 22 (2. Novemberheft 1933), S. 940-945, hier S. 945; kritisch hierzu Mathias Schmitz: Die Freund-Feind-Theorie Carl Schmitts. Entwurf und Entfaltung, Köln/Opladen 1965, S. 180 ff. 20 Vgl. ebd., S. 178. 21 Vgl. Carl Schmitt: Glossarium (FN 14), S. 84 f.: "Also: nieder mit dem Abstand! Reine Identität. Merkst Du nun, auf welcher Seite die Logik der reinen Demokratie liegt [...]?"
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genau dies aber geschieht durch die Transsubstantiation der Idee des Volkes in die Gestalt des Führers. So wie die politische Einheit das corpus mysticum des Führers, wäre der Führer das numen praesens, die irdische Präsenz der Göttlichkeit, die Hegel, wie Schmitt meint, dem weltgeschichtlich führenden Volke zuschreibt und die "mit dem 'sterblichen Gott' der Staatsphilosophie des Hobbes keinerlei geistige Verwandtschaft" haben soll.22 Schmitt hätte also nicht bloß, indem er sich vom barocken RepräsentationsTopos verabschiedet hätte, 23 eine Metaphorik gegen eine andere ausgetauscht, sondern er hätte - zumindest in den Anfangsjahren - den nationalsozialistischen Führerstaat zur unüberbietbaren Höhe einer völkisch grundierten Theokratie verherrlicht. Es könnte freilich auch sein, daß Schmitt mit beiden Bedeutungs-Varianten von Realpräsenz hantiert hat, also sowohl mit der Realpräsenz als Kryptogramm des Widerstands als auch mit der Realpräsenz als Proskynese. Danach wäre es ihm einerseits möglich gewesen, seine Hoffnung auf eine substantielle Ordnung, in der die veritas nicht durch auctoritas ersetzt, sondern durch sie vermittelt wäre, dem Nationalsozialismus zu unterschieben. Sofern sich diese Hoffnung aber nicht erfüllte, hätte er sich enttäuscht abwenden können, ohne seine Terminologie äußerlich zu ändern. Im nachhinein könnte sich der Epimetheus der "blinden Vorgebote" 24 also stets darauf zurückbeziehen, daß er es gar nicht "so", sondern ganz anders gemeint habe. Strenggenommen bräuchte er insofern noch nicht einmal ein Recht auf politischen Irrtum 25 für sich zu reklamieren.
II. Gegen Rechtsstaat und Leviathan Martin Jänicke hat in einer 1969 erschienenen Abhandlung den Versuch unternommen, Ausmaß und Grenzen von Carl Schmitts Engagement für den Nationalsozialismus zu präzisieren. 26 In den entscheidenden Schrittfolgen läßt sich sein Gedankengang über die Die "Abgründige Wissenschaft" vom Leviathan folgendermaßen zusammenfassen:
22 Carl Schmitt: "Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 30 (1936/37), S. 622-632, hier S. 632. Bereits in Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens unterscheidet Schmitt Hegels Staatsbegriff unübersehbar vom Hobbesschen: "Der Staat Hegels dagegen ist nicht die bürgerliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung eines berechenbaren und erzwingbaren Gesetzesfunktionalismus. [ . . . ] Er ist die konkrete Ordnung der Ordnungen, die Institution der Institutionen." (Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 47) 23 Vgl. etwa Paul Müller (alias Waldemar Gurian): "Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften von Carl Schmitt", Schweizerische Rundschau, 34. Jg. (1934/35), S. 566-576, hier S. 576. 24 Carl Schmitt: Glossarium
(FN 14), S. 23.
25 Vgl. Joseph H. Kaiser: "Das Glossarium von Carl Schmitt. Eindrücke und Hinweise", in: Carl Schmitt: Glossarium (FN 14), S. XI-XVII, hier S. XV. 26 Vgl. Martin Jänicke: "Die 'Abgründige Wissenschaft' vom Leviathan. Zur Hobbes-Deutung Carl Schmitts im Dritten Reich", Zeitschrift für Politik, Neue Folge, 16. Jg., Heft 3 (1969), S. 401-415, hier S. 404.
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1. Schmitt wolle Hobbes "rehabilitieren", indem er dessen Differenz zur Idee des totalen Staats betont und gegen das mythologische Zerrbild monströser Omnipotenz die liberal-rechtsstaatlichen Elemente seiner Staatskonstruktion hervorhebt. 2. Hinter der Maske einer scheinbar bloß geistesgeschichtlichen Rekonstruktion vollziehe Schmitt zugleich die eigene verdeckte Distanzierung vom nationalsozialistischen Regime. In der Polarität totaler Staat versus liberaler Rechtsstaat nehme er derart in "abgründiger" Form Partei für den letzteren. Man kann bestreiten, daß Schmitt 1938 - wie verdeckt auch immer - ein Votum für den liberalen Rechtsstaat abgegeben hätte.27 Aber seine Wendung gegen den Rechtsstaat muß durchaus nicht die logische Folge einer Entscheidung für die Staatslehre des Nationalsozialismus sein. Die Hypothese, die ich vorschlagen möchte, verzichtet auf die zweigliedrige Antithese: hie Rechtsstaat, dort nationalsozialistischer Totalstaat. Ich möchte im Gegensatz dazu den Vorschlag machen, von der Annahme einer dreigliedrigen Konstruktion auszugehen:28 Schmitt müßte sich unter solcher Voraussetzung überhaupt nicht zwischen liberalem Rechtsstaat und totalitärem NS-Regime entscheiden. Im Gegenteil: Er könnte das Projekt eines "totalen Staates" vertreten, der in einer Doppelfront sowohl gegen den liberalen Rechtsstaat gerichtet wäre wie auch gegen den nationalsozialistischen Ordnungsentwurf, der mit dem Hobbesschen Leviathan als einem Fehlschlag identisch wäre. Diese alternative Deutung bekräftigt einesteils die These, daß man zwischen dem eigentlichen Gehalt der Hobbesschen Staatslehre und ihrer mythologischen Aufdröhnung unterscheiden müsse, die durch den Fehlgriff der Symbolwahl verursacht sei. Der Fehlgriff liegt aber gerade nicht darin, den vorgeblich genuinen Rechtsstaats-Gehalt der Hobbesschen Staatslehre verfehlt zu haben. Im Gegenteil: Für Schmitt liegt der Fehlgriff des Christen Hobbes, der die Formel "Jesus is the Christ" zum Schlußstein seiner ge-
27 Diese Auffassung ist typisch für eine ganze Reihe apologetischer Schmitt-Deutungen. In die gleiche Richtung verweist noch 1988 die Einschätzung Eberhard Straubs, wonach Schmitt den totalen Staat durch Elemente klassischer Staatlichkeit "möglichst im Zusammenhang mit überlieferten Vorstellungen von Rechtsschutz und Rechtssicherheit" habe halten wollen. Dergestalt habe er in seinem Hobbes-Buch 1938 den liberalen Verfassungsstaat verteidigt, ein Versuch indes, bei dem er vollkommen gescheitert sei (vgl. Eberhard Straub: "Der Fall Carl Schmitt. Facetten seines Denkens", Die politische Meinung, 33. Jg., Heft 240 [Sept./Okt. 1988], S. 75-82, hier S. 81 f.). Denselben in der Schmitt-Rezeption weit verbreiteten Interpretationstopos proponiert auch Helmut Quaritsch in seiner 1989 veröffentlichten Monographie über Carl Schmitts Aufsatzsammlung Positionen und Begriffe (vgl. Helmut Quaritsch: Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989, S. 70). Demgegenüber hat beispielsweise Carl Hermann Ule kategorisch bestritten, daß Schmitt ein "Zähmungskonzept" verfolgt habe, das Elemente der Rechtsstaatlichkeit im nationalsozialistischen System bewahren wollte (vgl. Carl Hermann Ule: "Carl Schmitt, der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichtsbarkeit", Verwaltungs-Archiv, Bd. 81, Heft 1 [1990], S. 1-17, hier S. 5, S. 11 u. S. 16; vgl. hierzu auch Reinhard Mehring: "Vom Umgang mit Carl Schmitt. Zur neueren Literatur", Geschichte und Gesellschaft, 19. Jg., Heft 3 [1993], S. 388-407, hier S. 400). Nicht zwingend ist freilich die Behauptung Ules, Schmitts Wendung gegen den Rechtsstaat sei die logische Folge seiner Entscheidung für die Staatslehre des Nationalsozialismus gewesen (vgl. ebd., S. 14 f.). 28 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1987, S. 73.
Text von 1932 mit einem Vorwort und drei
Corollarien,
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samten Staatsarchitektur gemacht habe,29 darin, den totalen Staat mit dem Leviathan verwechselt zu haben. Dessen fatale Logik hätte dann gegen die ursprünglichen Intentionen seines Verfassers in der Unordnung des liberalen "Rechtsstaates"30 und danach in der nihilistischen "Ordnungsmaske"31 eines Reiches des Antichristen münden müssen. Hierzu paßt die "erledigende" Kritik, die der Leviathan bereits 1923 in Römischer Katholizismus und politische Form erfährt. Hier prägt Schmitt nämlich den gern überlesenen Satz: "[...] wenn der Staat zum Leviathan geworden ist, so ist er aus der Welt des Repräsentativen verschwunden.1,32 Es gibt daher für Schmitt auch keine grundlegende Differenz zwischen einem autoritär-dezisionistischen und einem liberal-rechtsstaatlichen Hobbes: Der gemeinsame begriffliche Nenner von Liberalismus und Leviathan ist Neutralisierung ohne Repräsentation, auctoritas sine veritate. Der positive Gegenbegriff aber ist der totale Staat als - wie das Amt Rosenberg richtig erkannte - "Formel römisch-katholischer Herkunft". 33 Nicht ohne Grund hat Schmitt als das geheime Schlüsselwort seiner gesamten geistigen und publizistischen Existenz "das Ringen um die eigentlich katholische Verschärfung (gegen die Neutralisierer, die ästhetischen Schlaraffen, gegen Fruchtabtreiber, Leichenverbrenner und Pazifisten)" ausgewiesen.34 Die Wahrheit, die Hobbes' "echte Frömmigkeit"35 im fatal falsch gewählten Bild des Leviathan meinte, war die Vorstellung vom weltlichen Herrscher als dem Stellvertreter Gottes auf Erden, das heißt die Repristination des ganz mittelalterlich geprägten Anspruchs auf das Vikariat Christi, das ursprünglich dem deutschen Kaiser zugestanden hatte, bevor das Papsttum in Gestalt Innocenz' III. dieses Kaisertum arripierte, das heißt an sich riß. Indem Schmitt den Ausdruck "arripieren" verwendet, erscheint allerdings der Anspruch des Papstes auf die Stellvertretung Christi als Raub, als Usurpation eines Rechtes, das ursprünglich Prärogativ des Kaisers gewesen war. Dieses Recht wolle Hobbes dem König seines Commonwealth zurückerstatten. Das bedeutet Staat als Einheit von weltlicher und geistlicher Macht, wobei Schmitt offenbar an einen theokratischen Royalismus denkt und nicht an eine hierarchische Theokratie gregorianischen Typus, die als potestas indirecta in die Politik eingreift.36
29 Vgl. hierzu auch Carl Schmitt: Glossarium (FN 14), S. 243. 30 Vgl. Carl Schmitt: "Der Staat als Mechanismus" (FN 22), S. 630. 31 Vgl. Carl Schmitt: Ex Captivitate
Salus (FN 15), S. 22.
32 Carl Schmitt: Römischer Katholizismus (FN 9), S. 36; vgl. hierzu auch Günter Maschke: "La rappresentazione cattolica. Carl Schmitts Politische Theologie im Blick auf italienische Beiträge", Der Staat, Bd. 28, Heft 4 (1989), S. 557-575, hier S. 572. 33 Vgl. Günter Maschke: "Das 'Amt Rosenberg' gegen Carl Schmitt. Ein Dokument aus dem Jahre 1937", Zweite Etappe (Oktober 1988), S. 96-111, hier S. 110. 34 Carl Schmitt: Glossarium
(FN 14), S. 165.
35 Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Nachdruck der Erstausgabe [1938], Köln 1982, S. 7-136, hier S. 126. 36 Schmitts Staatslehre ist in der Tat "nicht zufällig" als "im Grund theologisch bezeichnet worden" (Werner von Simson: "Carl Schmitt und der Staat unserer Tage", Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 114 [1989], S. 185-220, hier S. 201). Der Begriff der Theokratie ist allerdings seinerseits keineswegs eindeutig. Hier muß zwischen der orientalischen Theokratie als geschlossener Einheit (geistliche Würde
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Aus dem Umstand, daß Schmitt den Leviathan als erstes Produkt des technischen Zeitalters kennzeichnet, ist angesichts des Verdikts, das er im Römischen Katholizismus über das technische Denken gefällt hat, keineswegs ein zustimmendes Votum zu den rechtsstaatlich-rationalen Gehalten der Hobbesschen Staatskonstruktion abzuleiten. Wenn Schmitt im Jahre 1936/37 Hobbes in eine Traditionslinie mit Descartes stellt, demjenigen Philosophen also, durch den "alle menschlichen Dinge im Kern bereits revolutionär
des Kaisertums, Übernahme der Kirche in ein Ressort des Staates) und derjenigen des Occidents unterschieden werden, "wo die Kirche umgekehrt den Staat oder vielmehr den Regenten sich unterzuordnen beansprucht" (Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Aalen 1961, S. 171, FN 76; vgl. auch ebd., S. 193). Es ist also eine hierarchische Theokratie (gregorianischer Typus) gegen einen theokratischen Royalismus abzugrenzen (ebd., S. 222). Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an das fränkisch-deutsche Landeskirchentum der Karolingerzeit mit seiner "caesaropapistischen Verknüpfung von politischer und hierokratischer Herrschaft", in der an die Stelle des alten Parallelismus von Universalkirche und römischem Imperium die äußere und innere Durchdringung von Weltlichem und Geistlichem tritt (vgl. Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Bd. 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt a.M. 1988, S. 440 ff.). In der spezifisch lutherischen Fassung ist die Theokratie - bezogen auf das Verhältnis der christlichen Obrigkeit zur Kirche - ihrerseits wiederum "keine Hierokratie und kein rechtlich formulierbares Verhältnis", sondern die "freie Liebeskonkordanz der rein spiritualen, auf dem Wort erbauten Kirche und der aus eigener Gläubigkeit freiwillig dienenden, von den Theologen nur frei belehrten weltlichen Obrigkeit" (Ernst Troeltsch: Soziallehren, S. 566). Letztere ist dabei als christliche, sehr im Unterschied zu einer nichtchristlichen Obrigkeit, strikt verpflichtet, auf ihrem Gebiet öffentliche Äußerungen des Irrglaubens auszuschließen; sie muß demzufolge, anders als etwa die Türken, auf Duldsamkeit gegenüber anderen Religionen in ihrem Herrschaftsbereich Verzicht leisten, da sie sich in den Liebesdienst der Wahrheit stellen muß (vgl. ebd., S. 564 ff.). Warum Schmitt den Ausdruck "arripieren" benutzt, merkt er in seiner LeviathanSchrift mit einer Beiläufigkeit an, die immer hellhörig machen sollte (vgl. Carl Schmitt: Der Leviathan [FN 35], S. 125, FN 1). Er tut dies nämlich deswegen, weil er damit auf eine Stelle aus Adolf von Harnacks "Christus praesens, Vicarius Christi" Bezug nimmt, die folgendermaßen lautet: "'Vicarius Christi' ('dei') [...] bedeutet für den Papst dasselbe, was er für den Kaiser immer und exklusiv bedeutet hat: der von Gott eingesetzte Weltherrscher. In dem Titel arripierte der Papst das Kaisertum; denn dieses ist der Inhalt des Titels." (Adolf von Harnack: "Christus praesens - Vicarius Christi. Eine kirchengeschichtliche Skizze", Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, XXXIV. Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. Dezember 1927, S. 415-446, hier S. 441) Seit dem Pontifikat Innocenz' III. (1198-1215) ist der Anspruch auf die Vollmacht eines vicarius Christi endgültig beim Papst monopolisiert, wenngleich die Verantwortung für pax et iustitia nach Innocenz nur eine potestas indirecta des Papsttums in weltlichen Dingen begründete (vgl. Friedrich Kempf: Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III. Die geistigen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik, Rom 1954, S. 265-310). In der Jahrhunderte währenden Auseinandersetzung zwischen dem Papsttum und der weltlichen Gewalt, zunächst des Kaisers und später auch der anderen Könige und Fürsten, überflügelt derart der hochfliegende papalistische Suprematieanspruch Gregors VII. (10731085) die konkurrierende Sicht vom christlichen Herrscher als einem "rex et sacerdos", der herrscherliche Würde und priesterliche Funktion noch undifferenziert auf sich vereinigt. Hierdurch wird in der Folgezeit das weltliche Herrscheramt seiner herkömmlichen sakralen Weihe weitgehend entkleidet: "Nicht der König als imago Christi et dei, [...] vielmehr der römische Bischof als vicarius Christi und vicarius dei, der Papst als Stellvertreter Christi und Gottes, wurde zum beherrschenden Thema der politischen Theologie des späteren Mittelalters." (Jürgen Miethke: "Politische Theorien" [FN 12], S. 65) Vgl. zum obigen auch ebd., S. 78 sowie Werner Goez: "Innocenz III", in: Kurt Fassmann (Hg.): Die Großen der Weltgeschichte, Bd. III: Harun al-Raschid bis Petrarca, Zürich 1973, S. 549-569, hier S. 562 u. S. 567.
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verändert waren, weil er den menschlichen Körper als Mechanismus begriffen hatte", 37 dann läßt sich eine schlimmere Kritik kaum vorstellen. In diesem Augenblick nämlich war die erste metaphysische Entscheidung gefallen, in dem der Mensch im Ganzen als ein Intellekt auf einer Maschine gedacht wurde. 38 Mit Descartes' Mechanisierung des Bildes vom Menschen war zugleich der entscheidende metaphysische Schritt zu Hobbes' staatlicher Gesetzesmaschine, zur machina machinarum getan. Was das aber heißt, das hat Schmitt bereits 1917 in seiner "scholastischen Erwägung" und noch ein Jahr zuvor in seiner Deutung von Theodor Däublers Nordlicht beschworen: Kein Mensch dürfe die sichtbare Welt sich selbst überlassen; denn ansonsten wäre in seinem Mittelpunkt (das heißt in seiner Seele) der Faden zwischen Gott und Welt zerschnitten. In der politischen Welt aber wäre die "böse Nachäffung" der göttlichen Ordnung die Folge, statt der sichtbaren Kirche eine durch und durch verlogene Kirche des nichts als Sichtbaren. 39 Das aber ist für Schmitt das Grausige an der Herrschaft des Antichrist, der auftaucht, wenn das "mechanistische Zeitalter", 40 das "Zeitalter der Sekurität"41 anbricht und "die Erde zur knirschenden Maschine geworden" zu sein scheint: "Seine geheimnisvolle Macht liegt in der Nachahmung Gottes" Zwanzig Jahre später bestätigt Schmitt dieses Verdikt an dem "riesenhaften Mechanismus" des deus mortalis, der das diesseitige physische Dasein der von ihm beherrschten Menschen sichert.43 Er tut dies freilich viel verhaltener und in weitaus verdeckterer Wortwahl: "Ein Mechanismus ist keiner Totalität fähig. Ebensowenig kann die reine Diesseitigkeit des individuellen pysischen [sie!] Daseins zu einer sinnvollen Totalität gelangen." 44 Auch Schmitts Verweis auf Hobbes' Apologie des nullum crimen sine lege ist alles andere als eine kommentarlose Zustimmung. Denn das in jenem Grundsatz zum Ausdruck kommende Verbot von ex-post-facto-Gesetzen bedeutet, wie Schmitt an anderer Stelle dargelegt hat, den offenen Verzicht auf substantielle Gerechtigkeit zugunsten rein
37 Carl Schmitt: Der Staat als Mechanismus
(FN 22), S. 622.
38 Vgl. ebd., S. 630. 39 Vgl. Carl Schmitt: "Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung", Summa. Eine Vierteljahresschrift, 2. Viertel (1917), S. 71-80, hier S. 80. 40 Carl Schmitt: Theodor Däublers "Nordlicht". Drei Studien Uber die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, München 1916, S. 69; Hervorhebung von mir. 41 Ebd., S. 66; Hervorhebung von mir. 42 Ebd., S. 65 f; Hervorhebung von mir. Diese 1917 wiederholte Kennzeichnung der vollständig säkularisierten Ordnung als sozusagen verlogener imitatio Christi nimmt wohl auf dieselbe Quelle Bezug wie der von Schmitt erst viel später explizit ins Spiel gebrachte Begriff des Katechon: nämlich auf den Zweiten Thessalonicher-Brief des Paulus. Hier ist nämlich davon die Rede, daß in der Parusie des Anti-Christus, welche der Parusie Christi vorangeht, jener sich als Gott selbst ausgeben (2. Thess. 2.4) und in der Kraft Satans mit allerlei trügerischen Zeichen und Wundern, also mit der Vortäuschung der Vollmachterweise Christi, Trug gegen die Verlorenen anwenden wird (2. Thess. 9 f.), als Strafgericht Gottes, daß sie dem Evangelium den Glauben verweigert haben. 43 Vgl. Carl Schmitt: Der Staat als Mechanismus 44 Ebd., S. 631.
(FN 22), S. 629.
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formaler gesetzesstaatlicher Methoden. 45 Solcherdings steht der Rechtsstaat des liberalen Normativismus, dem es nur auf Rechtssicherheit ankommt und den man daher auch zur Verdeutlichung am besten mit Anführungsstrichen versieht, "im bewußten Gegensatz" und "Widerstreit" zu einem gerechten Staat. Dem ist es darum zu tun, dem guten Recht zu dienen, 46 und für ihn gilt der Satz: nullum crimen sine poena. Dieser Staat ist es, dem das ehrende Prädikat der Totalität gebührt.47 Schmitt hat 1936/37 selbst auf den Begriff gebracht, was Ziel und Endpunkt des von Hobbes angestrebten zivilen, staatlichen Zustandes ist: "Ruhe, Sicherheit und Ordnung.
45 In dem 1934 publizierten Aufsatz "Nationalsozialismus und Rechtsstaat" macht Schmitt den seiner Meinung nach grundlegenden Unterschied zwischen einem liberalen Rechtsstaat, dem es nur um "bestimmte Methoden formaler Gesetzlichkeit" geht, und dem nationalsozialistischen Gerechtigkeitsstaat, der sich im diametralen Gegensatz dazu um substantielle Gerechtigkeit bekümmert (vgl. Carl Schmitt: "Nationalsozialismus und Rechtsstaat", Juristische Wochenschrift, 63. Jg., Heft 12/13 [24./31. März 1934], S. 713-718, hier S. 713 f.), an der folgenden Diskrepanz fest: Die substantielle Gerechtigkeit, der es am "Recht der guten Sache" gelegen ist, postuliert den, wie Schmitt unterstellt, jedermann einsichtigen Grundsatz: Nullum crimen sine poena; der Staat des formellen Rechts dagegen, dem es vor allem auf Rechtssicherheit ankommt, vertritt "unter offenem Verzicht auf die Gerechtigkeit in der Sache" den Grundsatz: Nulla poena sine lege (vgl. ebd., S. 714). Im Grundsatz: Nullum crimen sine poena drückt sich für Schmitt die "unmittelbare Gerechtigkeit des Einzelfalles" aus, die ein weltanschaulich fundamentierter gerechter Staat zu Recht gegen das "normativistische Dogma des Satzes 'nulla poena sine lege'" einklagt. Schmitt wendet sich damit in aller Heftigkeit gegen den bürgerlichindividualistischen "Rechtsstaat", der mit den abstrakt-normativistischen Schlupfwinkeln, die er geschickten und phantasiebegabten Verbrecher bietet, verfassungsrechtlich geradezu eine Magna Charta des Hoch- und Landesverrats darstelle (vgl. Carl Schmitt: "Nationalsozialistisches Rechtsdenken", Deutsches Recht, 4. Jg., Nr. 10 [25. Mai 1934], S. 225-229, hier S. 227 f.; Carl Schmitt: "Der Weg des deutschen Juristen", Deutsche Juristen-Zeitung, 39. Jg., Heft 11 [1. Juni 1934], Sp. 691-698, hier Sp. 693; Carl Schmitt: "Was bedeutet der Streit um den 'Rechtsstaat'?", Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 95, Heft 2 [1935], S. 189-201, hier S. 190; Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens [FN 22], S. 62; Carl Schmitt: "Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934", Deutsche Juristen-Zeitung, 39. Jg., Heft 15 (1. August 1934], Sp. 945-950, hier Sp. 947). 46 Vgl. Carl Schmitt: "Nationalsozialismus und Rechtsstaat" (FN 45), S. 713 u. S. 718. 47 In dem 1935 erschienenen Aufsatz "Was bedeutet der Streit um den 'Rechtsstaat'?" spielt Schmitt den "auf Recht und Gerechtigkeit gerichteten, Recht und Sittlichkeit nicht mehr trennenden Weltanschauungsstaat" (Carl Schmitt: "Was bedeutet der Streit um den 'Rechtsstaat'"? [FN 45], S. 198) folgendermaßen gegen den weltanschauungsneutralen Rechtsstaat aus: "In der geschichtlichen Lage des deutschen 19. Jahrhunderts ist 'Rechtsstaat' der Gegenbegriff gegen zwei Arten von Staat: gegen den christlichen, also einen von der Religion her bestimmten, und gegen den als ein Reich der Sittlichkeit aufgefaßten Staat, nämlich den preußischen Beamtenstaat der Staatsphilosophie Hegels. Im Kampf gegen diese beiden Gegner tritt der Rechtsstaat ins Leben. [...] Alles folgende ist nur die folgerichtige Entwicklung dieses Anfangs: die Abtrennung des Rechts von Religion und Sittlichkeit; [...] die Verwandlung von Recht und Gerechtigkeit in ein positivistisches 'ziviles Zwangsnormengeflecht' [...], dessen ganze Gerechtigkeit in der Rechtssicherheit, d.h. in seiner Berechenbarkeit besteht [...]. Ein christlicher Staat konnte seine Totalität und Ganzheit aus dem religiösen Glauben eines damals noch durchaus christlichen Volkes gewinnen; der Staat als Reich der Sittlichkeit und der objektiven Vernunft war ebenfalls noch einer Totalität fähig und jedenfalls der bürgerlichen Gesellschaft übergeordnet; der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts dagegen ist nichts als der zum Mittel und Werkzeug der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft gewordene neutrale Staat." (Ebd., S.191 f.)
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Das ist bekanntlich eine Definition der Polizei", 48 will sagen: die relativierte Schrumpfform des Politischen. Hobbes nimmt in der Tat in der Polarität des Politischen und des Liberalen einen zwiespältigen Standort ein. Hinsichtlich seiner - pessimistischen anthropologischen Prämissen ist er eindeutig dem Lager des Politischen zuzurechnen. Hinsichtlich seiner Zielorientierung, die auf eine krämerhafte Ordnung von pax et securitas ausgerichtet ist, gehört er jedoch ebenso fraglos zu dem liberalen Antipoden. In einem Tagebucheintrag vom 10. Februar 1948 schreibt Schmitt zwar: "Was will Hobbes: öffentliche Ruhe und Sicherheit; doch er weiß noch: plena securitas in hac vita non expectanda." Jedoch die Bemerkung, die Schmitt dann anfügt, ist durchaus nicht sehr hobbesfreundlich. Denn "das Wesentliche, das Peccatum" sei: "Organisation zur Aufhebung der Angst; sécurité". 49 Leo Strauss hat bereits 1932 in seiner Rezension der zweiten Auflage von Schmitts Begriff des Politischen auf dessen intrikates Verhältnis zu Hobbes aufmerksam gemacht. Strauss ernennt Hobbes nämlich nicht nur zum "Begründer des Liberalismus".50 Er geht sogar noch einen radikalen Schritt weiter, indem er Hobbes geradezu als den in Wahrheit "antipolitischen Denker ('politisch' in Schmitts Sinn verstanden)" herausstellt.51 Aber auch Schmitt selbst ist diese Ambiguität der Hobbesschen Position offenkundig nicht entgangen. Hierauf hat Heinrich Meier mit großer Eindringlichkeit in einer wegweisenden Studie über den Begriff des Politischen aufmerksam gemacht. 52 1936/37 konstatiert Schmitt dann sogar in den "Grundvorstellungen des Hobbes" manche Ähnlichkeit mit denen des Liberalen Condorcet, bei dessen ausschweifenden Fortschrittshoffnungen man "bereits den Tag dämmern" sehe, "an dem der große Leviathan geschlachtet
48 Carl Schmitt: Der Staat als Mechanismus (FN 22), S. 623. 49 Carl Schmitt: Glossarium (FN 14), S. 94 f; Hervorhebung von mir. Pax et securitas ist nicht nur innerweltlich eine illusorische Zielorientierung - man denke an das Wort des Augustinus "Pax et securitas in hac vita non expectanda" - , sondern auch metaphysisch-theologisch betrachtet ist Friede und Sicherheit eine verderbliche Einstellung: "Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Wenn die Leute sagen: Friede, Sicherheit!, dann wird urplötzlich das Verderben über sie kommen wie die Wehen über eine schwangere Frau." (I. Thess. 4.5) Und im Ludus de Antichristo verkündigt der Antichrist auf der Höhe seiner Macht: "Pax et securitas universa conclusit." Übrigens bringt Schmitts Schüler Ernst Forsthoff im Dezember 1934 dieses metaphysische Verdikt über die Rechtssicherheit als bürgerlichen Rechtswert ganz unverhohlen zum Ausdruck. Er stellt nämlich, ausgehend von dem alttestamentlichen Zeugnis von Isaias 32. 17 f., die These auf, daß die Verbindung des Gerechtigkeitsbegriffes mit demjenigen der Sicherheit exklusiv "für das jüdische Rechtsempfinden charakteristisch" sei. Daran schließt er eine Erwägung an, die ebenso situationsgerecht wie polemisch den liberal istischen Wertneutralismus des rechtsstaatlichen Denkens als jüdisch und antichristlich zugleich desavouiert: "Es dürfte sich lohnen, den Gedanken der Sicherheit, insbesondere der Rechtssicherheit, von seinen jüdischen Anfängen an über das Mittelalter (Spiel vom Antichrist!) bis zur Gegenwart zu verfolgen. Wahrscheinlich würde eine solche Untersuchung die rechtsstaatliche Entwicklung, die sehr wesentlich von dem Bestreben nach Berechenbarkeit und Sicherheit getragen war, in eine neue Beleuchtung rücken." (Ernst Forsthoff: "Über Gerechtigkeit", Deutsches Volkstum, 16. Jg., Heft 23 |1. Dezemberheft 1934], S. 969-974, hier S. 971) 50 Leo Strauss: "Anmerkungen" (FN 3), S. 108. 51 Ebd., S. 109. 52 Vgl. Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Politischen" (FN 3), S. 42 f.
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werden" könne. 53 Von solchen Vorstellungen sei Hobbes zwar weit entfernt. Aber dieses Urteil betrifft durchaus nicht seine Zielvorstellungen, für die das Leben gleichfalls nur als das diesseitige, physische Dasein des einzelnen, jeweils lebenden Individuums interessant ist. Sondern es gilt ausschließlich deswegen, weil er sich über die menschliche Natur keine großen Illusionen macht. 54 Die auf Hobbes wie auf Condorcet gleichermaßen zutreffende Zielformulierung stimmt demgegenüber mit Schmitts Anathem des Konkret-Faktischen überein, und das endet mit konsequenzlogischer Notwendigkeit bei der nichts als "leib"haftigen Kanaille Bakunins: "Ganz in der Tiefe: Der entsetzliche Lebensdrang, der Terror der Triebe, der Zwang zum Leben [...], das ist der Leviathan", heißt es in einer Tagebucheintragung Schmitts vom 11. November 1948. 55 Freilich ist wohl auch Schmitts eigener Ort im Spannungsgefüge des Politischen und des Liberalen nicht so eindeutig. Ganz im Sinne von Hobbes beruft Schmitt sich ja auf das Protego ergo obligo als das cogito ergo sum des Staates. 56 Indes, die staatsethische Formel Oboedientia et Protectio mit individuellen Sicherheitserwägungen zu legitimieren, ist doch wohl auch ein liberaler Utilitarismus, der den Staat - um eine Formulierung des politischen Romantikers Adam Müller zu benutzen - zur Bequemlichkeitsanstalt, zur "neutralen, armierten Handels-, Gewerbs- und Sicherungskompagnie" 57 des individuellen Eigeninteresses herabwürdigt. Eine solche bürgerlich-individualistische Moral muß doch einem mythenbeseelten Ethos kontrastieren, welches ein gefährliches Leben im Dienste der "politischen Gemeinschaft" zu seiner Wesensidee bestimmt. 58 Denn die spezifische Differenz der politischen Gemeinschaft zu jeder Form der mit dem
53 Carl Schmitt: Der Staat als Mechanismus (FN 22), S. 628. 54 Vgl. ebd., S. 627 f. 55 Carl Schmitt: Glossarium (FN 14), S. 206. 56 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (FN 28), S. 53. 57 Adam H. Müller: "Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur. Gehalten zu Dresden im Winter 1806", in: ders.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, 1. Kritische Ausgabe, hg. von Walter Schroeder u. Werner Siebert, Neuwied/Berlin 1967, S. 11-137, hier S. 99. 58 Bereits in der "Diktatur"-Schrift stellt Schmitt das praktisch vernünftige Behaglichkeitsstreben, das für die Engländer, also doch auch für Hobbes, maßgebend sei, dem spezifisch moralischen Pathos eines Rousseauschen Politikverständnisses gegenüber: "Denn soviel von Freiheit gesprochen wird, diese Freiheit entspringt nicht dem praktich [sie] vernünftigen Sicherheits- und Behaglichkeitsstreben wie bei den Engländern und bei Montesquieu, sondern trägt das moralische Pathos der vertu." (Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 4. Aufl., Berlin 1978, S. 123) Und zwei Jahre später heißt es in der " Parlamentarismus "-Studie: "Was das menschliche Leben an Wert hat, [...] entsteht im Kriegszustande bei Menschen, die, von großen mythischen Bildern beseelt, am Kampfe teilnehmen." (Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 6. Aufl., Berlin 1985, S. 83) Beide Zitate beinhalten freilich keine unmittelbare Stellungnahme Schmitts. Vielmehr handelt es sich im einen Fall lediglich um eine vergleichende Gegenüberstellung und im anderen Fall um eine Sorel-Paraphrase. Es gehört aber - wie Martin Jänicke völlig zu Recht feststellt - zu den "augenfälligsten und zugleich problematischsten Eigenschaften dieses Autors, daß er von seinen verschiedenen politischen Optionen nur indirekt Kenntnis gibt und sich gerade des geistesgeschichtlichen Rekurses als eines Vehikels seiner aktuellen Argumentationen bedient" (Martin Jänicke: "Die 'Abgründige Wissenschaft' vom Leviathan" [FN 26], S. 401).
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Politischen inkompatiblen "Gesellschaft" (oder Assoziation) soll doch gerade darin begründet liegen, daß sie im entschiedenen Widerspruch zu liberalen und individualistischen Prinzipien vom Individuum den emphatischen Verzicht auf seine Sicherheit verlangen darf, nämlich das Opfer des eigenen Lebens. 59 Weil vom Standpunkt der Transzendenz aus das diesseitige Leben der Güter höchstes nicht ist, deswegen kann der physische Tod, den der Äaafadenker Hobbes zum schlimmsten aller Übel emphatisiert, diesen schrecklichen Stellenwert keineswegs für sich in Anspruch nehmen. Der Heroismus des Opfers, der zum Begriff des Politischen dazugehören soll, bedarf eines höheren Wertes, als es der Schutz der physischen Einzelexistenz sein kann. Das, wie Schmitt sagt, "allgemein-menschliche subalterne Streben nach einem Schutz vor Risiko" kann demnach "nur in einem herabsetzenden Sinne" einem "'ewigen' und unausrottbaren, allgemein menschlichen Typ" zugeordnet werden: 60 nämlich dem liberalen Bürger in seiner metaphysischen Feigheit. 61 Solche Überlegungen könnten der Grund dafür sein, daß Schmitt nach 1945 in seiner Darstellung der Lehre von Hobbes eine auffallende Nuancierung vorgenommen hat. Dieser neuen Sicht zufolge findet Hobbes "den eigentlichen, auch im Gewissen bindenden Grund zum Gehorsam" nicht im egoistischen Vorbehalt eines bourgeoisen Schutzkalküls, sondern im "hinzutretenden Befehl Gottes" bzw. im "Wort der Heiligen Schrift". 62 Solcherdings erhebt Schmitt den Philosophen des "lieutenant of God" in den Rang eines Staatsdenkers, für den das Christentum nicht nur persönliches Bekenntnis sei, sondern auch eine "Achse des begrifflichen Denksystems seiner politischen Theologie": 63 Hobbes wäre demnach in Wirklichkeit ein gläubiger Christ, und nur ein vom "mythischen Schreckbild des Leviathan" irritiertes Zeitbewußtsein wähnte in ihm einen "Pionier der Säkularisierung". 64 Fälschlicherweise sähe es damit Hobbes als "Ahnherrn" an der Spitze eines Prozesses stehen, der - von der Neutralisierung religiöser Glaubenswahrheiten ausgehend - über den heidnischen Mythos einer rein diesseitigen Friedensordnung in die "totalitäre Staatsallmacht" der Jetztzeit eingemündet sei. 65 Daraus aber folgt: Schmitt macht den Prognostiker des Leviathan, der aber keineswegs sein beflissener Agent ist, zu einem Theoretiker der Politik, welcher mit Donoso und de Maistre auf eine einheitliche Linie zu bringen wäre. Darum ist aber auch, mit Blick auf den Feindbegriff Schmitts, die Unterstellung einer faschistischen Kampfesideologie, die in einer nihilistischen Willensmetaphysik ihr Substrat hätte, nicht zwingend. Es kann nämlich ein entscheidendes Motiv für eine politische
59 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen
(FN 28), S. 49.
60 Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen 61 Vgl. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche
Denkens (FN 22), S. 39.
Lage des heutigen Parlamentarismus
(FN 58), S. 81 f.
62 Vgl. Carl Schmitt: "Die vollendete Reformation. Zu neuen Leviathan-Interpretationen", Nachdruck des erstmals 1965 erschienenen Aufsatzes, in: ders.: Der Leviathan (FN 35), S. 137-178, hier S. 138 f.; Hervorhebung von mir. 63 Ebd., S. 139. 64 Vgl. ebd., S. 140, S. 158 ff. u. S. 177 f. 65 Vgl. ebd., S. 158 u. S. 162.
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Theologie darin gesehen werden, daß in Analogie zum religiösen Glauben das Politische ein Kampf um letzte Dinge ist, der mit der Vernichtung des Bösen enden muß. Es ist ja auch ohne Frage kein Zufall, daß der Sündenfall, der die moderne Dekadenz-Geschichte der Neutralisierungen und Entpolitisierungen in Gang setzt, gleichbedeutend ist mit der Entthronung der Religion als desjenigen Zentralgebiets des Denkens, welches die Feindesfronten ursprünglich definiert. Könnte es insofern nicht sein, daß Schmitt hier eine entschieden a«rihobbesistische Intention verfolgte? Die Aufrechterhaltung eines bloß äußeren Friedenszustandes müßte demnach zurücktreten vor dem Anspruch Donosos, durch den Einsatz der äußersten Mittel (la gran contienda) das Böse aus der Welt zu schaffen. Es scheinen mir starke Gründe für die Vermutung zu sprechen, daß die gepriesene göttliche Ordnung der frühen Schriften in Schmitts späterem Werk, d.h. in den dreißiger Jahren, unter dem gewandelten Begriffsetikett des "Totalen" aufbewahrt ist. Wenn mit der authentischen Staatskonstruktion des Hobbes "alle einseitigen Totalitätsvorstellungen unvereinbar" sein sollen,66 dann heißt dies nicht, daß Schmitt eine "sinnvolle Totalität"67 ablehnen würde. Es bedeutet vielmehr, daß diejenigen, die unter "Totalität" die polemischen Schreckbilder einer äußerlich oktroyierten Zwangsherrschaft verstehen, über keinen Begriff integraler Ordnung verfügen, die einer "Verbindung von Immanenz und Transzendenz besonders fähig" ist68 und die für Schmitt wohl einzig als Einheit in einem emphatischen Sinn gelten kann. Davon, daß Schmitt gerade die individualistischen Vorbehalte von Hobbes teilte, kann im Jahre 1938 überhaupt keine Rede sein, auch wenn er selbst nach dem Kriege mit einer Selbstkommentierung seiner Leviathan-Schnft genau dieses nahezulegen sucht. Hier macht er sich das zunutze, was er dem jüdischen Liberalen Spinoza zum Vorwurf macht: nämlich kaum merkliche, aber dennoch sehr bedeutsame Umschaltungen der gedanklichen Bewegung. Ein schlagendes Beispiel: 1938 hatte Schmitt in seinerLeviathanSchrift die mahnende Warnung erhoben: "Wenn aber wirklich die öffentliche Macht nur noch öffentlich sein will, wenn Staat und Bekenntnis den innerlichen Glauben ins Private abdrängen, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den 'geheimnisvollen Weg', der nach Innen führt. Dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille."69 In der 1950 erschienenen Schrift Ex Captivitate Salus wird dieses Zitat nun zu einer Belegstelle seines eigenen inneren Widerstandes umgemodelt: "Im Sommer 1938 erschien in Deutschland ein Buch, in dem es heißt: 'Wenn in einem Lande nur noch die von der staatlichen Macht organisierte Öffentlichkeit gilt, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den geheimnisvollen Weg, der nach Innen führt; dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille.'" 70 Die semantische "Bruchstelle" liegt in der Ersetzung der originären Formulierung "nur noch [...] sein will" durch die nur scheinbar nachlässige Zitatabweichung "nur noch [...] gilt". Im ersten Fall wird nämlich die liberale Selbstbe-
66 Vgl. Carl Schmitt: Der Staat als Mechanismus
(FN 22), S. 627; Hervorhebung von mir.
67 Ebd., S. 631. 68 Ebd., S. 631. 69 Carl Schmitt: Der Leviathan (FN 35), S. 94. 70 Carl Schmitt: Ex Captivitate
Salus (FN 15), S. 21.
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schränkung des Staates auf die Sphäre des Öffentlichen beklagt, im zweiten dagegen scheint der Staat geradezu konträr der terroristischen Tyrannei beschuldigt zu werden, weil er die Sphäre des Nichtöffentlich-Privaten nicht "gelten" lasse. Die von Schmitt nach dem Krieg stilisierte "Pose des Intellektuellen 'Partisanen'" 71 affirmiert aber keinen liberalen Individualismus, obwohl Schmitt damals situationsbedingt möglicherweise nichts dagegen einzuwenden hatte, wenn dieser Eindruck erweckt wurde. Der Nationalsozialismus hatte die in ihn gesetzte Hoffnung nicht erfüllt, jene substantielle Ordnung eines totalen Staates zu sein, der gegenüber sich jeder Anspruch auf die freischwebende Objektivität des Geistes als Beziehungslosigkeit entlarven mußte. Vielmehr hatte sich der nationalsozialistische Leviathan seinerseits als die Beziehungslosigkeit zwischen einem sinnverfälschten Außen und einem in die Stille retirierten wahren Innen entlarvt. Nun geriet für Schmitt die Allianz von Wahrheit und Anarchie in der Gestalt des Partisanen ins Blickfeld. Dessen Feind ist der atheistische Nihilismus und Neutralismus; davon aber ist der gesetzesstaatliche Positivismus des liberalen Rechtsstaats durchaus ein Teil, weil der Positivismus insgesamt eine "Erscheinungsform des Nihilismus" ist.72 Daher stellt Schmitt im Jahre 1950 der "Aufforderung zur reinen, das heißt restlos profanen Technizität", die ein konsequent technisches Zeitalter an die Juristen richtet, das Remedium des Schweigens entgegen, in dem "wir uns auf uns selbst und auf unsere göttliche Herkunft [besinnen]". 73 Schmitts Klage gegen die beziehungslose Aufspaltung von Innen und Außen hat indessen auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht den Sinn, einem totalen Staat, der mit dem NS-Regime identisch wäre, einen liberalen Rechtsstaat entgegenzustellen. Vielmehr heißt die - wenn auch melancholisch gewordene - Leitidee: totaler Staat christlicher Prägung gegen den bürgerlichen Rechtsstaat und den Leviathan. 74 1958 sagt Schmitt: "Im Neuen Testament wandelt Christus auf dem Meer. Er hat den Leviathan bezwungen. Aber gerade daraus ergibt sich wieder, dass auch für das Neue Testament das Meer etwas Unheimliches und Böses ist. [...] Mit der Sünde und der Bosheit verschwindet auch das Meer. Das ist der Schluss des Neuen
71 Martin Jänicke: "Die 'Abgründige Wissenschaft' vom Leviathan" (FN 26), S. 409. 72 Carl Schmitt: Donoso Cortés in gesamteuropäischer 73 Carl Schmitt: Ex Captivitate
Interpretation.
Vier Aufsätze, Köln 1950, S. 112.
Salus (FN 15), S. 75.
74 In der Schrift Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens bestätigt Schmitt die oben behauptete Feind-Konstellation mit unverblümter Offenheit, während er die Verortung seiner eigenen (katholischen) Position angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse im Unklaren beläßt. Die grundlegende Verschiedenheit des deutschen Staatsbegriffes, der jedenfalls wie der christliche Gerechtigkeitsstaat ein Reich der objektiven Sittlichkeit impliziert, von dem Staatsbegriff eines westlich-liberalen Vernunftrechtes oder Positivismus macht Schmitt an folgendem fest: "Dieser schwebt zwischen dem Dezisionismus der diktatorischen Staatskonstruktion des Hobbes und dem Normativismus des späteren vernunftrechtlichen Denkens, zwischen Diktatur und bürgerlichem Rechtsstaat. Der Staat Hegels dagegen ist nicht die bürgerliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung eines berechenbaren und erzwingbaren Gesetzesfunktionalismus. Er ist weder bloß souveräne Dezision, noch eine 'Norm der Normen', noch eine alternierende, zwischen Ausnahmezustand und Legalität wechselnde Kombination dieser beiden Staatsvorstellungen. Er ist die konkrete Ordnung der Ordnungen, die Institution der Institutionen." (Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens [FN 22], S. 47)
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Testamentes. Vom Schöpfungsbericht des 1. Buches Moses bis zum Schluss der Offenbarung des heiligen Johannes enthält die Bibel den Gegensatz von Land und Meer." 75 Kann m a n - als Christ - n o c h deutlicher ausdrücken, daß der L e v i a t h a n , der g r o ß e Drache aus d e m Meer, e i n A b k ö m m l i n g j e n e r U r S c h e i d u n g ist, d i e d e n B ö s e n v o n Gott trennt, daß er d e m n a c h als m y t h i s c h e s A b b i l d für den Fürsten d i e s e r W e l t figuriert? U n d ist das ortlose Meer nicht auch das atheistische S y m b o l der b e t r i e b s f ö r m i g - t e c h n i s c h e n G e s e l l s c h a f t s - Z i v i l i s a t i o n ? 7 6 B e i d e , der p o s i t i v i s t i s c h e Rechtsstaat w i e auch der L e v i a t han, sind E r s c h e i n u n g s f o r m e n d e s B ö s e n . 7 7
III. Widerstand durch Mitarbeit? D a ß Schmitt s e i n e S t e l l u n g n a h m e n z u m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s g l e i c h s a m w i e e i n Palimpsest 7 8 hinter d e m k u n s t v o l l e n S c h l e i e r einer C h i f f r e n - u n d S y m b o l s p r a c h e versteckt
75 Carl Schmitt: "Gespräch über den neuen Raum" (FN 1), S. 265. 76 Im Glossarium heißt es: "Das Wesen des Seins ist räumliches Sein, Ortung, Raum und Macht; [...] es ist Präsenz, d.h. Raum. [...] Gott ist tot heißt: der Raum ist tot." (Carl Schmitt: Glossarium [FN 14], S. 187) Martin Meyer interpretiert diese Stelle so, als wäre der Umzug des Menschen von seinem wesensmäßig angestammten Territorium in die raumentgrenzenden Sphären der See "ein Sturz der Entfremdung von Gott" (Martin Meyer: Ende der Geschichte?, München/Wien 1993, S. 174). 77 Am 7. Juni 1955 schreibt Schmitt an Alexandre Kojeve: Mit dem Staat sei es vorbei - "das ist wahr, dieser sterbliche Gott ist tot, daran ist nichts zu ändern; die heutige moderne Verwaltungsapparatur der 'DaseinsVorsorge' ist nicht 'Staat' im Sinne Hegels, nicht 'Regierung' [...]; keines Krieges und auch der Todesstrafe nicht mehr fähig" (zit. nach Martin Meyer: Ende der Geschichte? [FN 76], S. 156). Was aber ist sein Surrogat? Ein bloß ökonomischer Nomos des Teilens und Weidens, d.h. wirtschaftlicher Daseinsvorsorge, und das ist die aktuelle Metamorphose des Leviathan. Drei Jahre zuvor identifiziert Schmitt als die neueste Erscheinungsform des Monstrums den molochitischen Sozialstaat, dem gegenüber der alte Rechtsstaat unausweichlich den kürzeren ziehe: "Wir wären tatsächlich Narren, wenn wir den Moloch feierten, der uns zu verschlingen droht. Aber wir würden uns selbst betrügen, wenn wir die Augen schließen wollten vor einer Wirklichkeit, die uns täglich stärker erfaßt. [...] Die soziale Erfassung und Vereinnahmung ist mit der modernen Technik von selbst gegeben und unentrinnbar. Überall erweist sich der Sozialstaat als der stärkere, wenn er mit dem alten Rechtsstaat in Kollision gerät. Da ist es ehrlicher, die Augen nicht zu schließen und auch in der Gefahr nicht aufzuhören, sich seines Verstandes zu bedienen. Das nämlich und nichts anderes hat Hobbes [...] in seinem berüchtigten Buch getan. Aber die Menschen brauchen nun einmal einen Sündenbock [...]. Nichts glauben die Menschen lieber, als daß der Autor eines Buches über den Leviathan seinem Gegenstand die blutbesudelten Stiefel leckt." (Carl Schmitt: "Dreihundert Jahre Leviathan", Universitas, 7. Jg., Heft 2 (1952), S. 179-181, hier S. 179) 78 Thomas Heerich und Manfred Lauermann sprechen der Leviathan-Schrift Schmitts geradewegs diesen Charakter eines Palimpsestes zu (Thomas Heerich u. Manfred Lauermann: "Der Gegensatz HobbesSpinoza bei Carl Schmitt" [1938], Studio Spinozana, Vol. 7 [1991], S. 97-160, hier S. 97, S. 125, S. 139 u. S. 159). Offenbar wollte auch Schmitt selbst sie - zumindest ex post - als ein Dokument des inneren Widerstandes qualifiziert wissen, indem er sie in seiner 1950 erschienenen Apologie Ex Captivitate Salus neben Ernst Jüngers Marmorklippen stellte (vgl. Carl Schmitt: Ex Captivitate Salus [FN 15], S. 21 f.), neben ein Werk, das noch jüngst ein der Affirmation durchaus unverdächtiger Kritiker als den "klassischen Widerstandsroman im Dritten Reich" gewürdigt hat (Stefan Breuer: Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 178).
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hätte, könnte eine Erklärung für das verwirrende und "rätselhafte Schillern" seines Standpunktes sein.79 Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit. Vielleicht hat ja gerade jenes unentschiedene bzw. unentscheidbare Schwanken bei dem entschlossenen Theoretiker der Entscheidung auch eine bewußt inszenierte Methode. Reinhard Mehrings auf Schmitt gemünzte Vermutung von der doppelten Lesbarkeit gerade der entscheidenden seiner Formulierungen80 bekäme dadurch eine ihrerseits zweideutige Bedeutungsnuance. Vielleicht wollte der Präkonisator eines Begriffs vom Politischen, der alle Vorbehalte und Reservationen souverän zerstäubt, für seine eigene Person sehr wohl einen geheimen Vorbehalt wahren, und zwar den risikoentlasteten, weil taten- und folgenlosen Vorbehalt einer Abstandsnahme, die durch das Arcanum subtiler Begriffswahl erfolgt. 1933 ließ Schmitt freilich coram publico verlauten, daß "vorsichtig offengelassene Hintertüren" zur verächtlich gewordenen und obsolet werdenden Sinnesart volksfremder bürgerlicher Schichten gehörten.81 Tatsächlich aber hat es den Anschein, als hätte der vehemente Kritiker der politischen Romantik "die innere gegen sich selbst intrigierende Vieldeutigkeit" und den "unausrottbaren geheimen Vorbehalt, aus dem die Tugend der Ironie gemacht wurde", 82 heimlich gerade selbst praktiziert, ganz im Gegensatz zu jenem "ehrlichen Kanne",83 dessen überkräftiger Natur er vormals den Mangel an solcher romantischen "Tugend" zur Tugend angerechnet hatte.84 Vielleicht lag der Antiromantizismus Carl Schmitts, den Christian von Krockow ja im Gefolge Löwiths seinerseits zum politischen Romantiker ernannt hat,85 praktisch gar nicht in der Weigerung,
79 Vgl. Günter Maschke: "Die Zweideutigkeit der 'Entscheidung'" (FN 3), S. 193. 80 Vgl. Reinhard Mehring: Pathetisches
Denken (FN 16), S. 100.
81 Vgl. Carl Schmitt: "Die deutschen Intellektuellen", Westdeutscher Nr. 126.
Beobachter,
vom 31. Mai 1933,
82 Carl Schmitt[-Dorotic]: "Vorbemerkung des Herausgebers", in: Johann Arnold Kanne: Aus meinem Leben. Aufzeichnungen des deutschen Pietisten, hg. von Carl Schmitt-Dorotic, Berlin 1919, S. 3-5, hier S. 4. 83 Carl Schmitt: Politische Romantik (FN 11), S. 76. 84 Vgl. Carl Schmitt: "Vorbemerkung des Herausgebers" (FN 82), S. 3 f. Schmitt hat 1919 - also im Erscheinungsjahr seiner "Politischen Romantik" - die Lebensbeichte des nachmalig zum Pietismus erweckten Sprachforschers Johann Arnold Kanne herausgegeben. Er hat sie auch späterhin offenbar für so bedeutsam gehalten, daß er sie an Bekannte weitervermittelte, so z.B. im Jahre 1942 an Ernst Jünger (vgl. Ernst Jünger: Strahlungen, 1. Teil, in: ders.: Werke, Bd. 2: Tagebücher ¡1, Stuttgart 1952, S. 301). 85 Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958, S. 91 f. Zumindest in Teilen der häretischen Schmitt-Rezeption wird wiederholt der Eindruck geäußert, daß Carl Schmitt sich in dem politischen Romantiker Adam Müller gewissermaßen ein ressentimentgeladenes Selbstporträt geschaffen habe. Erinnert sei hier nur an Löwiths programmatische Kennzeichnung von Schmitts Position als einem "okkasionellen Dezisionismus" (vgl. Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt [1935], in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart 1984, S. 32-71, hier S. 25; vgl. auch Carlo Galli: "Presentazione", in: Carl Schmitt: Romanticismo politico. A cura di Carlo Galli, Milano 1981, S. V-XXXI, hier S. XXVI f. sowie, der Krockow-These zustimmend, Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980, S. 24). Daß Schmitt von "einer gewissen romantischen Versatilität und Flüssigkeit nicht ganz frei" sei, ist jedenfalls eine Einschätzung, die Friedrich Meinecke schon sehr
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sich nicht im individuellen Vorbehalt gegen den "unausrottbaren Vorbehalt des Politischen"86 ein Asyl zu schaffen, welches so passivisch blieb wie das romantische accompagnamento. Vielleicht lag ja seine Gegnerschaft vielmehr darin, daß er anders als die Romantik das politische Geschehen immerhin nicht mit dem teilnehmenden Affekt des consentements,87 sondern mit demjenigen des maskierten oder stummen dissentiments begleiten wollte. "Widerstand durch Mitarbeit"88 wäre demnach seine Maxime gewesen: eine große Weigerung, die kollaboriert. In solchem folgenlos antiromantischen Dissentiment läge dann das Geheimnis der Trias von Affirmation, Resignation und (bloß begrifflicher) Destruktion, durch die etwa ein - dem eigenen Selbstverständnis nach - linker Apologet wie Manfred Lauermann sein Schmitt-Bild beschrieben sehen möchte.89 Schmitt selbst hat in Ex Captivitate Salus das Verstummen als die allerletzte Form der geistigen Verweigerung sanktioniert: "Dem Lärm des öffentlichen Betriebes setzen Geist und Intelligenz mannigfache Formen der Höflichkeit, der Korrektheit und der Ironie entgegen, und schließlich ihr Schweigen."90 Die apologetische Rede von einer "Gegenkraft des Schweigens" durchzieht wie ein roter Faden jene Schrift Schmitts, welche die wenn nicht frohe, so doch tröstliche Botschaft zu verkünden vorgibt, gerade in der Gefangenschaft ließe sich das Heil wahren. Schweigen als Verweigerung zu deuten, war indessen durchaus nicht zu allen Zeiten die Auffassung Schmitts. So hatte er in der "Verfassungslehre" geschrieben, daß in Zeiten stabiler Ordnung, das heißt dann, wenn eine verfassunggebende Grundentscheidung über die politische Gesamtexistenz bereits definitiv getroffen sei, die Tatsache, daß überhaupt kein besonderer Wille erkennbar geäußert wird, "eben fortdauernde Zustimmung zur bestehenden Verfassung" bedeute.91 Offenkundig redete Schmitt hier noch einem - psychologisch immerhin bezweifelbaren - Grundsatz des kanonischen Rechts das Wort, wonach bei Schweigen nicht von Ablehnung, sondern im Gegenteil von Zustimmung auszugehen sei: Qui tacet consentire videtur. Davon aber ebenso abgesehen wie von gar zu emphatischen Heilssuggestionen,92 wäre Schmitts Apologie
früh zum Ausdruck gebracht hat, nämlich 1919 bei Gelegenheit seiner Besprechung von Schmitts "Romantik"-Buch (vgl. Friedrich Meinecke: "Rezension von Dr. Carl Schmitt-Dorotic: Politische Romantik", Historische Zeitschrift, Heft 1 [1919], S. 292-296, hier S. 293). Vgl. auch Paul Müller (alias Waldemar Gurian): "Entscheidung und Ordnung" (FN 23), S. 566. 86 Vgl. Carl Schmitt: "Politik", in: Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften, Bd. I: Wehrpolitik und Kriegführung, hg. von Hermann Franke, Berlin/Leipzig 1936, S. 547-549, hier S. 548. 87 Vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik (FN 11), S. 167. 88 Vgl. hierzu Carl Schmitt: Glossarium
(FN 14), S. 219 u. S. 222.
89 Vgl. Manfred Lauermann: "Begriffsmagie. 'Positionen und Begriffe' als Kontinuitätsbehauptung Bemerkungen anläßlich der Neuauflage 1988", in: Hans-Georg Flickinger (Hg.): Die Autonomie des Politischen. Carl Schmitts Kampf um einen beschädigten Begriff, Weinheim 1990, S. 97-127, hier S. 100. 90 Carl Schmitt: Ex Captivitate
Salus (FN 15), S. 20.
91 Carl Schmitt: Verfassungslehre,
6. Aufl., Berlin 1983, S. 84; vgl. auch ebd., S. 91.
92 Zur Beurteilung dessen, in welchen Bedeutungsraum das Schweigen als Asyl bei Schmitt ausstrahlt, ist vielleicht der folgende Hinweis aussagekräftig: In Paul Claudels Stück L'otage sagt eine der Haupt-
Die zwei
Gesichter
des
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des S c h w e i g e n s in A u s n a h m e z e i t e n des Terrors der R e s p e k t nicht zu v e r s a g e n ; d e n n w e r w o l l t e - mit H o c h h u t h s "Stellvertreter" zu sprechen 9 3 - e i n e n M e n s c h e n richten, der nicht für andere sterben w i l l ? Freilich hat d i e s e r R e s p e k t d o c h nur s o l a n g e s e i n e B e r e c h t i g u n g , als w i r k l i c h g e s c h w i e g e n wird. In d i e s e m B e l a n g aber ist zu fragen: W e l c h e s s c h l i e ß l i c h e S c h w e i g e n meint Schmitt überhaupt? B i s 1 9 3 6 hat er j e d e n f a l l s k a u m g e s c h w i e g e n , s o n d e r n sich v i e l m e h r - z u m i n d e s t d e m primitiven A u g e n s c h e i n nach - in e i n e m Ü b e r s o l l an L o y a l i tätsbekundungen g e ü b t . A b e r hat Schmitt d e n n w e n i g s t e n s nach 1 9 3 6 , n a c h d e m d i e N a t i o n a l s o z i a l i s t e n sich v o n i h m a b g e w a n d t hatten, w i r k l i c h g e s c h w i e g e n ? Hat er zumindest s e i t d e m a u f g e h ö r t , r e g i m e d i e n l i c h zu publizieren? Hat s e i n V o t u m für e i n n e u e s Völkerrecht im S i n n e e i n e r g l o b a l e n "Großraumordnung", das heißt i m S i n n e einer Plural ität v o n I m p e r i e n mit w e c h s e l s e i t i g i n t e r v e n t i o n s g e s c h ü t z t e n H e g e m o n i e s p h ä r e n , wirklich nichts mit der g l e i c h z e i t i g e n nationalsozialistischen E x p a n s i o n s p o l i t i k zu s c h a f fen? 9 4 Schmitt hat j e d e n Z u s a m m e n h a n g strikt dementiert, und s e i n B i o g r a p h Joseph Bendersky ist i h m in d i e s e r A u f f a s s u n g o h n e V o r b e h a l t g e f o l g t . 9 5 Lothar G r u c h m a n n indessen hat sich einer solchen Disjunktion derart uneingeschränkt absolut nicht anschließen können, 9 6 und mit B e r n d Rüthers läßt sich z u m i n d e s t s o v i e l hierzu s a g e n : "Selbst
figuren, ein Vertreter der von der Revolution entmachteten Aristokratie, zu Papst Pius VII., den er dem Zugriff des Caesaren Napoleon entziehen will: "Sie sind im Schweigen aller Menschen der Widerspruch Gottes." (Paul Claudel: Der Bürge. Ein Drama in drei Akten, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. III: Dramen. Zweiter Teil, deutsch von Albert Joseph, Überarb. von Elisabeth Brock-Sulzer, Heidelberg u.a. 1958, S. 123-207, hier: S. 146) 93 Vgl. Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel, Reinbek 1975, S. 66. 94 Mit einer solchen ideologiekritischen Frage soll keineswegs die Realitätshaltigkeit und der analytische Wert einer Untersuchung bestritten werden, die sich die "Steigerung geschichtlicher Größen" zum Problem stellt. So betonen nicht nur Joseph H. Kaiser, Günter Maschke und Helmut Quaritsch die Aktualität des Werkes gerade für die politische Globallage seit dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Joseph H. Kaiser: "Europäisches Großraumdenken. Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem", in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, hg. von Hans Barion u.a., Berlin 1968, S. 529-548, hier S. 536, S. 540 u. S. 546 f.; Günter Maschke: Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik, Wien 1987, S. 18 f. u. S. 141; Helmut Quaritsch: Positionen und Begriffe [FN 27], S. 54 f.). Andererseits scheint mir aber die Kritik von nationalsozialistischen Autoren ebenso wenig ein zwingender Beweis dafür zu sein, daß sich Schmitts Groß raumdenken mehr als nur in Nuancen von der damals herrschenden Ideologie unterschied. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Reinhard Mehring: Pathetisches Denken (FN 16), S. 170. Dagegen aber etwa Joseph H. Kaiser: "Europäisches Großraumdenken", S. 537-545. 95 Vgl. Claus-Dietrich Wieland: "Carl Schmitt in Nürnberg" [1947], 1999, Heft 1 (Januar 1987), S. 96122, hier S. 110 u. S. 112; Joseph W. Bendersky: Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983, S. 259. 96 Für Gruchmann ist Schmitts Großraumlehre geradezu die "Krönung der nationalsozialistischen Völkerrechtstheorie überhaupt" (Lothar Gruchmann: Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer "deutschen Monroe-Doktrin", Stuttgart 1962, S. 137; vgl. auch S. 134). Vgl. ebenso Stefan Breuer: Anatomie (FN 78), S. 174 und - wenn auch vorsichtiger - Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993, S. 28 sowie im Rahmen des Historikerstreits mit polemischem Bezug auf das wieder aktuell gewordene Theorem der Geopolitik auch Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum "Historikerstreit", München 1988, S. 224 f.
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114
wenn ein politischer Sinneswandel Schmitts durch seinen Sturz 1936 ausgelöst worden wäre, so ist es ihm jedenfalls gelungen, dies durch sein weiteres völkerrechtliches Engagement für die Großraumträume der NS-Machthaber perfekt zu tarnen." 97 Es ist allerdings, wie oben zu zeigen versucht wurde, immerhin möglich, daß mit dem offenkundigen adulari das heimliche decipere verquickt gewesen oder daß es ihm wenigstens nachgefolgt sei, wie Schmitt dies in seiner Rechtfertigungsschrift aus dem Jahre 1950 nahelegt. 98 Bei aller ehrlich bemühten Bereitschaft, einem immerhin bedeutenden, wenn nicht gar "klassischen" Denker des Politischen gerecht zu werden, ist dagegen aber einzuwenden: Was sind solche feinsinnigen Reservationen politisch wert, deren möglichenfalls halsbrecherisch parodistische Vieldeutigkeit nur einem kleinen Zirkel nichtprimitiver Eingeweihter nach geradezu exegetischer Dechiffrierungsbemühung erkennbar werden konnte, während ein Normal verstand darin - auch heute noch! - eher so etwas wie "unglaublich opportunistische Schrittmacherdienste" finden mag? 99 Carl Schmitt war in der Zeit nach dem Nationalsozialismus darum bemüht, den apologetischen Topos der getarnten Selbstverpanzerung in der Weihe eines repräsentativen Mythos zu verdichten. Aber war er denn wirklich, wie er selbst nachträglich zu suggerieren versucht hat, ein Benito Cereno, das heißt ein Mann, der nur noch die Simulacra der Handlungsmächtigkeit innehatte, der in Wirklichkeit aber eine hilflose und tragisch verzweifelte Geisel der nach oben gekommenen Unterwelt war? Hatte denn etwa jener rätselhafte Kapitän aus Herman Melvilles Novelle die Nähe der Meuterer so eifrig gesucht wie Schmitt, hatte er gar ihre große Gesinnung gefeiert? 100 War Schmitt, um bei literarischen Vergleichen zu bleiben, nicht doch wohl eher so etwas wie Mario Malvolto, jener sich an der Macht berauschende und zur machtvollen Tat sehnsüchtig drängende Mensch des Geistes aus Heinrich Manns früher Novelle "Pippo Spano", nach des Autors eigener Deutung ein Feigling, der sich übernimmt, ein, als es gefährlich wird, jäh abgeschwollener Faschist? 101 Oder ließe sich Schmitt vielleicht nicht am ehesten
97
Bernd Rüthers: Carl Schmitt 1989, S. 82
im Dritten
Reich.
Wissenschaft
als Zeitgeist-Verstärkung?,
München
98
Vgl. Carl Schmitt: Ex Captivitate
99
Vgl. Hanno Kühnert: "Die Schmach der deutschen Juristen. Wie sie nach 1933 ihre Kollegen jüdischer Herkunft ausstießen", (Rezension von Horst Göppinger: "Juristen jüdischer Abstammung im 'Dritten Reich'", 2. A u f l . , München 1990), Die Zeit vom 6. April 1990, Nr. 15, S. 20.
Salus (FN 15), S. 70.
100 Vgl. Bernd Rüthers: Carl Schmitt im Dritten Reich ( F N 9 7 ) , S. 94. Selbst ein so wohlmeinender Interpret wie George Schwab findet einen Unterschied zwischen dem Verhalten D o n Benitos und Schmitts Rolle im Naziregime (vgl. George Schwab: The Challenge ofthe Exception. An Introduction to the Political Ideas of Carl Schmitt between 1921 and 1936, Berlin 1970, S. 142 f . ) . 101 Vgl. Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Düsseldorf 1974, S. 538. Solche Zuordnung paßt jedenfalls zu dem Urteil, das Moritz Julius Bonn, ein früher akademischer Förderer Schmitts, über ihn und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus gefallt hat: "Wie alle schwachen Gemüter lechzte er nach der befreienden Tat; ob Tat oder Untat, war ihm schließlich einerlei, w i e den meisten seiner Mitstrebenden. Sie waren ihrer geistigen Haltung nach catilinarische Existenzen, verantwortungsscheu und vor eigenem tatkräftigen Handeln zurückschreckend, aufs Neue versessen und stetig wiederkehrender Erregung bedürftig, selbst unfähig, Gewalt auszuüben, aber jedem zujubelnd, der sie gegen ihre Konkurrenten und vermeintliche Feinde anzuwenden gewillt war." (Moritz Julius Bonn: So macht man Geschichte. Bilanz eines Lebens, München 1953, S. 331)
Die zwei Gesichter des
Leviathan
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noch mit dem namenlosen "Jemand" aus Max Frischs Parabel stück Andorra vergleichen, dessen Modell-Konstruktion des Faschistischen überhaupt stark an Schmitts Begriff des Politischen erinnert, 102 das heißt mit jenem teilnahmslos akkompagnierenden Diagnostiker, der alles durchschauend registriert und nichts ändert, der aber - wie Carl Schmitt103 - nach dem Verhängnis die Kraft des Vergessens beschwört 104 und dessen Lieblingssentenz lautet: "Ich frag ja bloß." 105 Für diese Deutung, die ja auch mit Helmut Ridders Urteil kongruiert, 106 könnte sprechen, daß Friedrich August von der
102 Auch der viel beschworene Antisemitismus Schmitts wird so - unabhängig von allen aus der persönlichen Biographie hergeleiteten opportunistischen Motivierungen und ideologischen Prägungen insofern seinem Werk grundsätzlich und strukturell zurechenbar, als die Begriffsfassung des Politischen bei Schmitt wesentlich als ein gegen inhaltliche Spezifikationen offener Selektionsmechanismus von Homogenität und Heterogenität konstituiert ist. Vgl. in diesem Sinne, wenn auch etwas "implizit" bleibend, beispielsweise Hugo Fiala (alias Karl Löwith): "Politischer Dezisionismus", Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, 9. Jg. (1935), S. 101-123, hier S. 118 f. und, dessen Antisemitismus-Verdikt gewissermaßen mit einem non licet paraphrasierend, neuerdings Wolfgang Schieder: "Carl Schmitt und Italien", Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 37. Jg. (1989), S. 1-21, hier S. 6 f.; zu persönlichen Motivierungen und weltanschaulichen Prädispositionen des Schmittschen Antisemitismus vgl. Jacob Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 51 f.; George Schwab: The Challenge (FN 100), S. 135-138; Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 125 f., S. 129 f., S. 133-141 u. S. 148; Raphael Gross: "Carl Schmitts 'Nomos' und die 'Juden'", Merkur, 47. Jg., Nr. 530 (Mai 1993), S. 410-420; vgl. auch meine Überlegungen in "Terrisme oder rassisme?". 103 Vgl. Schmitts anonym veröffentlichten Artikel "Amnestie - Urform des Rechts", Christ und Welt vom 10. November 1949. S. 1-2. 104 Vgl. Max Frisch: Andorra, 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1979, S. 89; vgl. als dahinter zu vermutende Lebensmaxime der Weltklugheit die Regel 126 aus Baltasar Graciän: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, deutsch von Arthur Schopenhauer, 13. Aufl., Stuttgart 1992, S. 52. 105 Max Frisch: Andorra (FN 104), S. 67 u. S. 108. 106 Nach Schmitt sind ja "die meisten viel zu primitiv [...], um einen Diagnostiker von einem Propheten zu unterscheiden" (Carl Schmitt: Ex Captivitate Salus [FN 15], S. 73). Diese Formulierung spielt ohne Frage auf eine kurz zuvor veröffentlichte, auf Friedrich Nietzsche gemünzte Bemerkung an, die Ernst Jünger dem ersten Teil seiner Strahlungen vorangestellt hat: "Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, falls man nicht zu den Primitiven [!] zählen will." (Ernst Jünger: Strahlungen [FN 84], S. 13) In dem zwei Jahre nach Ex Captivitate Salus erschienenen Aufsatz "Dreihundert Jahre Leviathan" wandelt Schmitt Jüngers Metapher vom Seismographen ab, um Hobbes vom Vorwurf zu entlasten, ein Anbeter des Teufels zu sein: "Der Wehrloseste ist in diesem Fall der Intellektuelle, der Autor des Buches, das den Titel 'Leviathan' führt. Ihn hat man zum Urheber und Erfinder des Monstrums selber gemacht, das er so intelligent behandelt. Nichts ist leichter, als das Publikum eines Kurortes gegen den Arzt zu hetzen, der einen Pestfall diagnostiziert. Das ist jedenfalls leichter, als das medizinische Studium der Pest und ihrer Therapie." (Carl Schmitt: "Dreihundert Jahre Leviathan" [FN 77], S. 179) Hinweise dieser Art, die im einen Fall Hobbes, im anderen Fall Nietzsche betreffen, sollen wohl immer auch die mehr oder minder verkappte Funktion der Selbstapologie erfüllen. Vgl. hierzu kritisch gegen Jünger Wolfgang Graf Vitzthum: "Hermann Broch und Carl Schmitt", in: Jürgen Heideking, Gerhard Hufnagel u. Franz Knipping (Hg.): Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, Berlin/New York 1989, S. 69-100, hier S. 77; zustimmend zu Schmitt ein Brief Rolf Schroers, zit. nach Dirk van Laak: Gespräche (FN 96), S. 252 und neuestens wieder Martin Lauermann: "Carl Schmitt - jenseits biographischer Mode. Ein Forschungsbericht 1993", in: Bernd Wacker (Hg.): Die eigentlich katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl
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Heydte schon zehn Jahre vor Erscheinen des Dramas Carl Schmitt eine "'fundamentale Neugierde' im Sinne eines niemals festgelegten Immer-weiter-Fragens" "ohne echte Verantwortung für den Gedanken" attestiert hat. Von der Heydte glaubte in Schmitts Freiheit des Denkens die Haltung eines Geistes zu erkennen, der - ungeachtet seiner subjektiv nie verleugneten katholischen Herkunft - "sich ohne religiöse und ethische Bindungen selbst genießt".107 Das wirkliche politische Ärgernis von Schmitts cacher au vulgaire aber liegt darin: Zwar könnte aus der Logik seiner begrifflichen Vorentscheidungen durchaus eine sei's auch esoterisch bleibende verbale Verurteilung des nationalsozialistischen Führerstaates abgeleitet werden. Aber selbst dann blieben wegen seiner - im wortwörtlichen Sinne zu verstehenden - Staatsfrömmigkeit die unversöhnlich autoritäre Kritik an einem individualistischen Rechtsstaatsverständnis und die daraus sich ergebenden freiheitsfeindlichen Konsequenzen unvermindert in Kraft. Ergo: nicht die "intellektuelle Integrität [...] eines Diagnostikers, dem jede Erbaulichkeit fernlag", war das Einfallstor, in das die siegreiche "Revolution des Nihilismus" tragischerweise wie in das Vakuum eines gefährlich wertleeren Denkens einströmen konnte.108 Sondern wohl eher im Gegenteil: Gerade Schmitts Staatsfrömmigkeit bezeichnet eine ganz spezifisch antihumanitäre Form der Erbaulichkeit, und diese war der Grund dafür, daß er keine konzeptionsendogenen Barrieren gegenüber dem binnen zwölf Jahren moribunden Gott aufrichten konnte.
Schmitts, München 1994, S. 295-319, hier S. 319. Der von Carl Schmitt in exkulpatorischer Absicht angewandte Vergleich mit einem Arzt, den keine Schuld an der Krankheit trifft, deren Diagnose er zu stellen hat, übersieht freilich, daß der Beruf des Arztes in der Heilbehandlung aufgrund der Diagnose besteht und nicht im mehr oder minder vornehmen Sich-Absentieren nach der Diagnose (vgl. Helmut Ridder: "Ex oblivione malum. Randnoten zum deutschen Partisanprogreß", in: Heinz Maus [Hg.]: Gesellschaft, Recht und Politik. Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag, Neuwied/ Berlin 1968, S. 305-332, hier S. 328; ähnlich bereits Erich Kaufmann: "Carl Schmitt und seine Schule. Offener Brief an Ernst Forsthoff", Deutsche Rundschau, 84. Jg., Heft 7 [19581, S. 10131015, hier S. 1014). 107 Friedrich August von der Heydte: "Heil aus der Gefangenschaft? Carl Schmitt und die Lage der europäischen Rechtswissenschaft", Hochland, 43. Jg., Heft 3 (Februar 1951), S. 288-294, hier S. 289 f. Dieser kritischen Einschätzung hat Schmitt selbst gewissermaßen im vorhinein Sukkurs geleistet, und zwar in einer bekenntnishaften Selbstcharakterisierung, die er 1947, auf Veranlassung der Rechtsabteilung des US-Militärgouverneurs Lucius D. Clay in Nürnberg inhaftiert, Robert Kempner gegenüber abgelegt hat, um seine Haltung im Dritten Reich zu rechtfertigen: "Ich bin ein intellektueller Abenteurer." (Vgl. Claus-Dietrich Wieland: "Carl Schmitt in Nürnberg" [FN 95], S. 117) 108 Vgl. Günter Maschke: "Positionen inmitten des Hasses. Der Staat, der Feind und das Recht - Der umstrittene Denker Carl Schmitt. Zu seinem Tode", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. April 1985, Nr. 84, S. 25.
II. Alternativen in Weimar
Ingeborg Villinger
Der Souverän verläßt den Turm Hofmannsthals Dramatisierung des Verlustes politischer Einheit nach Carl Schmitt
I.
Drei Jahre vor seinem Tode konnte Hugo von Hofmannsthal 1926 mit der letzten Fassung seines Dramas Der Turm ein Werk zum Abschluß bringen, das ihn nahezu ein Vierteljahrhundert beschäftigt hatte. Der neuen Fassung des 1928 im Prinzregenttheater in München uraufgeführten Turm gingen zwei Versuche voraus, die vom dramatischen Aufbau wie von der politischen Form her unbefriedigend blieben. Die drei Variationen, Das Leben ein Traum 1904, Der Turm 1924 und Der Turm. Neue Fassung von 1926, zeigen eine Verlaufsform vom Privaten zum Politischen. Sie führt von der "inneren Welt des Gemütes"1 über die politische Utopie von machtfreier Herrschaft und befriedeter Einheit hin zu einem resignativen Verzicht auf das "Prinzip Hoffnung" 2 und zeigt den Weg vom legitimen König zur "Auflehnung des Untersten", zur Herrschaft des "ochlokratischen Elements". 3 Seine zunehmend stärkere Fokussierung auf das politische Geschehen unterstreicht Hofmannsthal 1928, den Brief eines Freundes zitierend: "Die neue Welt, die Sie darin [in der letzten Fassung] aufgebaut haben, wollte ich bis dahin vom Individuell-Ethischen, von dem Weg zur sittlichen Freiheit her verstehen, der dem Einzelnen aufgegeben ist - ich wollte das Drama protestantisch interpretieren und kam damit nicht durch, bis ich den Standpunkt wechselte und nun auf einmal erkannte, daß es der Gesamtbereich des Politischen als geistiger Form ist, den Sie dem Drama darin zurückerobert haben." 4
Auf diese signifikante Änderung verweist auch Walter Benjamin, der betont, daß die Bühnenfassung das Geschehen mit ganz "anderem Nachdruck als vordem [...] um die
1
Hans Heinrich Schaeder: "Bemerkungen zu Hofmannsthals 'Turm'", Die neue Rundschau, Heft 7 (Juli 1928), S. 85.
39. Jg.,
2
Vgl. dazu auch Arnold Bergstraesser: "Der Heilige Bettler: Religion und Gesellschaft in Hofmannsthals Salzburger Großem Welttheater", in: ders. : Staat und Dichtung, hg. von Erika Bergstraesser, Freiburg 1967, S. 270, Anm. 53 sowie Josef Demmelbauer: "Hofmannsthals Bild vom Staat", Neue Juristische Wochenschrift, Heft 32 (1990), S. 1951-1955.
3
Brief Hofmannsthals vom Dezember 1925, zit. nach ders.: Gesammelte furt a.M. 1979, S. 474.
4
Aus einem Text Hofmannsthals vom 16.01.1928, den er vermutlich zum Zwecke der Veröffentlichung über sein Drama schrieb; zit. nach: Gesammelte Werke (FN 3), S. 473.
Werke, Dramen / / / , Frank-
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Ingeborg Villinger
politische Aktion" zentriert. 5 Ihr "völlig neu verfaßter vierter und fünfter Akt" und die andere Verlaufsform konnten von Hofmannsthal nach einer Lektüre der Werke von Carl Schmitt formuliert werden. 6 Am 9.11. 1926 schreibt Hofmannsthal an den Staatsrechtslehrer Josef Redlich: "Eine neue Erscheinung ist vor etlichen Wochen [ . . . ] in mein Blickfeld getreten. Es ist der Staatsrechtler der Universität Bonn, Carl Schmitt. [ . . . ] Die Schrift, die mir zuerst in die Hand fiel hieß 'Politische Theologie' ( = die Lehre von der Souveränität.) Was mich an den Ausführungen fesselt, ist eine gewisse vitale Intensität, und die Gesinnung oder besser Geisteshaltung die auf Hobbes, Bonald, Cortes zurückgeht. Ganz natürlich ergibt sich ein scharfer Gegensatz zu Kelsen, dem Mann des 'relativistischen Formalismus'. Ein größeres Buch von ihm 'Die Diktatur' fesselt mich gleichfalls. Er hat enorme geschichtliche Kenntnisse und Geschichte ist ihm ein Lebendiges, wie Ihnen und mir. Dort wo das Staatsrechtliche, das Politische und das Historische zusammentreffen, siedelt er. Ein Buch 'Der Wert des Staates u. die Bedeutung des Einzelnen' ist schon 1917 erschienen." 7
Diesen Hinweis Hofmannsthals möchte ich aufgreifen und die Differenzen von Turm II und Turm I, sowie die in der letzten Fassung durchgespielten Modelle der Einheit von Recht und Macht auf Carl Schmitts staatsrechtliche Arbeiten beziehen. Denn sie zeigen Hofmannsthals abschließende Darstellung des politischen Standes seiner Gegenwart, den er im Spannungsfeld von Souveränität und Ausnahmezustand situiert.8 Zunächst das Geschehen von Turm II in Kürze: König Basilius verbannte seinen Sohn Sigismund aufgrund der Prophezeiung, daß der Sohn den Vater beseitigen wird, in einen Turm. Während Sigismund unter der Aufsicht des königlichen Gouverneurs Julian steht, der zugleich sein Bewacher und Erzieher ist, gelingt es Basilius nicht mehr, den von ihm begonnenen Krieg zu beenden: er setzt sich im Inneren des Landes durch Aufstände fort, mit dem Ziel, die Monarchie zu beseitigen. Zu ihrer Rettung läßt Basilius auf den Rat von Julian und in der Hoffnung auf neue Machttechniken des Sohnes, ihn aus dem Turm ins Schloß überführen, um ihm die Herrschaft zu übertragen. Doch Sigismund verweigert sich allen Mächten, die den Ort des Souveräns durchkreuzen: Dem König, dem Adel, dem Gouverneur und schließlich Olivier, dem selbsternannten Vertreter des Volkes und der Aufständischen. Alle versuchen in seinem Namen die Macht selbst auszuüben, sie aber zugleich an ihm zu legitimieren. Doch Sigismund ist und bleibt im Drama ausschließlich Souverän seines eigenen inneren Selbst und findet am Ende den Tod durch das revolutionäre Volk. Hofmannsthals Drama dreht sich um die programmatisch zu nennende Erklärung des Gouverneurs Julian: "Dazu, Ihr Herrn, sind Könige gesetzt, daß sie Unordnung in
5
Walter Benjamin: "Hugo von Hofmannsthals 'Turm'. Anläßlich der Uraufführung in München und Hamburg", in: ders.: Angelus Novus, Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M. 1988, S. 404.
6
Unter ihrem Eindruck konnte Hofmannsthal das politisch-dramatische Geschehen als unlösbaren Gegensatz von "Geist und Macht" gestalten, so: Hans Heinrich Schaeder: "Turm" (FN 1), S. 87.
7
Brief vom 09.11.1926 von Hugo von Hofmannsthal an Josef Redlich (Staatsrechtler, Abgeordneter und Finanzminister), der ebenfalls Briefpartner von Carl Schmitt war; zit. nach: Briefwechsel Hugo v. Hofmannsthal/Josef Redlich, Frankfurt a.M. 1971. S. 77 f.
8
Vgl. dazu auch Arnold Bergsträsser: "Der Heilige Bettler" (FN 2), S. 270.
Der Souverän verläßt den Turm
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Ordnung überführen." 9 Das Ende der monarchischen Macht und die Heraufkunft eines neuen Zustandes, der für Hofmannsthal weder Ordnung noch Einheit mehr gewährleisten kann, wird bereits durch Julian selbst figuriert: ursprünglich königstreuer Gouverneur, wandelt er sich zum philosophisch geprägten Erzieher, der den künftigen König nach seinem Bild von Macht und Herrschaft zu formen versucht. Seine der Aufklärung verpflichteten Ideen ebnen im Drama dem Untergang des Königs und dem ausweglosen Aufruhr den Weg. Carl Schmitts vielzitierte Definition: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet",10 korrespondiert mit der von Julian auf den Begriff gebrachten Funktion des Königs, um die sich im Trauerspiel der Abgrund öffnet, der schließlich den Turm und mit diesem Symbol des Souveräns diesen selbst beseitigt. Hofmannsthal gelingt in Turm //eine konzise und stringente Dramatisierung des historischen Verlaufs von der einsamen Höhe des monarchischen Souveräns hinab in die "letzten Tiefen des zweifelhaften Höhlenkönigreiches Ich"11 - dem Herrschaftsraum, der im Drama dem letzten König noch verbleibt. Angesichts dieser Lage zeigt Hofmannsthal den künftigen wie auch den herrschenden Souverän als Gefangene ihres Ortes: Sigismund im Turm und Basilius, aufgrund der Aufstände, ebenso einsam und unfrei im Schloß.12 Zum Raum des Souveräns verschmolzen, sind Turm wie Schloß das "gedankliche und dramaturgische Organisationszentrum",13 das in der letzten Fassung nicht mehr verlassen wird, denn "dort vollzieht sich alles" - bis hin zum Tod des Thronfolgers durch einen Schuß von "Außen", dem Raum der neuen Mächte.14 Diese erst in Turm II realisierte Topographie figuriert die Entwicklung vom besonderen Individuum zum allgemeinen Subjekt und entspricht dem "Bestreben der modernen Staatslehre", die Form "aus dem Subjektiven ins Objektive" zu verlagern. Eine Tendenz, mit der das "personalistische Element des bisherigen Souveränitätsbegriffes verloren" geht.15 Zu Ende geht damit auch die Einheit von Recht und Macht, für die König Basilius steht und die er hofft, mit Hilfe von Sigismund wieder zu erringen. Doch dessen Überführung vom Turm zum Schloß führt zwar den bis dahin rechtlosen Souverän in das Recht des Reichsnachfolgers ein, doch sein Herr9
II, S. 453. Alle im folgenden nur mit Seitenzahlen und Fassung ausgewiesenen Zitate aus Hugo von Hofmannsthal: Der Turm, in: Gesammelte Werke, Dramen III, 1893-1927, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a.M. 1979.
10 Carl Schmitt: Politische Theologie [München/Leipzig 1922], zit. nach der 4. Aufl., unveränd. Nachdruck der 1934 erschienen 2. Aufl., Berlin 1985, S. 11. 11 Hugo von Hofmannsthal 1904 in einem Brief an Hermann Bahr, zit. nach Hermann Kunisch: "Geist oder Macht? Hugo von Hofmannsthals abendländisch-christliches Geschichts- und Staatsbewußtsein in seinem Drama 'Der Turm'", Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft (1985), S. 24. 12 II, S. 425. 13 Norbert Altenhofer: "'Wenn die Zeit uns wird erwecken ...'. Hofmannsthals Turm als politisches Trauerspiel", in: Hofinannsthal-Forschungen, Bd. 7, Freiburg 1983, S. 7. 14 II, S. 469. Beide Souveräne, heißt das, befinden sich an einem Ort, der schließlich die "Gleichzeitiglebenden [ . . . ] einander wechselweise zum Schicksal werden" läßt, so Hugo von Hofmannsthal in einem Brief an Carl J. Burckhardt; zit. nach Werner Volke: Hugo von Hoflnannsthal in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1967. 15 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 39 u. S. 62.
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schaftsraum ist nur noch das Niemandsland der "feuchten Berge". 16 Denn mit Sigismunds formalem Herrschaftsantritt übernimmt die faktische Macht die von Julian ins Leben gerufene und in die Hände Oliviers (dem zum Revolutionär gewordenen Soldaten) entglittene Gewalt der "Namenlosen", deren Herrschaftsbereich "grenzenlos" ist und die mit Sigismund den letzten personalen Souverän beseitigt. Dagegen ist die erste Fassung des Turm von 1924 noch geprägt von einer eher "trüben Verwischung" der Herrschafts- und Machtformen. 17 Sie schwanken vielfach gebrochen zwischen monarchischer Souveränität, "Volkssouveränität" und kriegerischer Gewalt, deren Wirkungsmacht nicht aus der Technik, sondern aus der Magie resultiert. Die Phase der Monarchie bricht hier mit Basilius zunächst ab, wird aber mit dem InterimsKönig Sigismund wieder kurzfristig revitalisiert und mündet schließlich in ein "reines" und das heißt, macht- und herrschaftsfreies Kinderkönigtum, dessen Herrschaftsprogramm das Umschmieden von "Schwertern zu Pflugscharen" ist. Dieser Kinderkönig erhält eine neue Legitimationsbasis: Er legitimiert sich durch den höchsten Wert des neuen Wertesystems, durch all jene, "die leben werden". 18 Turm II dagegen bringt die einzelnen Aggregatzustände von Recht und Macht in eine klare historische Abfolge, die zugleich sowohl in der Darlegung der jeweiligen Herrschafts- und Machtformen wie auch in den Modi ihrer Auflösung rechtsphilosophisch und soziologisch konsistent sind. Hofmannsthal entfaltet das dramatische Geschehen vor dem Hintergrund des Ausnahmezustandes, der "die Frage nach dem Subjekt der Souveränität und das heißt die Frage nach der Souveränität überhaupt" erst aktuell macht.19 Anhand von zwei grundlegend verschiedenen Modellen, der monarchischen und der Volkssouveränität, zeigt er das Auseinanderdriften der beiden Pole: Legitimation und Recht einerseits sowie faktische Macht andererseits. Von der vormaligen Einheit der Differenz von Recht und Macht, über die Zurückdrängung des Rechts zur Funktion bloß formaler Legitimation, bis hin zum völligen Verschwinden des Rechts und der Herrschaft der reinen "Faktizität" bilden sie die Bruchstellen, denen die monarchischen Souveräne unterliegen. Hofmannsthal folgt damit den von Carl Schmitt mit Blick auf Kelsen u.a. beschriebenen "Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung", den Souverän im bisherigen "Sinne zu beseitigen".20 König Basilius verkörpert den Souverän in der Tradition der personalen Herrschaft: Er leitet seine Macht von Gott ab und ist daher selbst nichts anderes als ein - mit der von Hobbes im Leviathan geprägten Bezeichnung - "mutual God". Sein Ring, ihr sichtbares Zeichen, symbolisiert die königliche Prärogative: "wer
16 II, S. 387. 17 Gerhart Pickerodt: Hofmannsthals
Dramen. Kritik ihres historischen
Gehalts, Stuttgart 1968, S. 254.
18 I, S. 379 f. Vgl. dazu auch meine Situierung des "Herrschaftsentwurfs" von Gonzalo in Shakespeares Sturm in: Verf.: "Shakespeare als politischer Denker: Prosperos 'Sturm'", Der Staat, Bd. 29., Heft 4 (1990), S. 560. 19 Carl Schmitt: Politische 20 Ebd., S. 13.
Theologie (FN 10), S. 12.
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ihn trägt, ist der Herr: Meine Garden gehorchen ihm. Meine Minister sind die Vollstrecker seiner Befehle."21 Damit ist deutlich ausgewiesen, daß Basilius davon ausgeht, die "Vermutung der nicht begrenzten Macht für sich" zu haben.22 Durch diese Machtfülle23 ist er formal imstande, Beherrscher des Falles zu sein, für den "im rechtsstaatlichen Sinne [...] überhaupt keine Kompetenz" vorliegt. Ist die Zuständigkeit für den Fall, für den keine Zuständigkeit ausgewiesen ist, "keiner Kontrolle unterworfen", so "ist ohne weiteres klar, wer der Souverän ist" ,24 Er steht außer- oder oberhalb der bestehenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn sein nicht normiertes Handeln dient der Definition und Beseitigung des Ausnahmezustandes und damit der Wiederherstellung seiner Ordnung: der Einheit von Recht und Macht. Doch gerade die Beherrschung des Ausnahmefalls - der für Carl Schmitt im Gegensatz zum "NormalfaH" erst geeignet ist, die wirkliche Problemlage sichtbar zu machen - bildet die Schwachstelle der Souveränität von König Basilius. In beiden Fassungen des Turm markiert die Prophezeiung das erste Zeichen des Bruchs seiner Legitimationsbasis und mit ihr der Einheit von Recht und Macht.25 Doch erst in Turm II wird der Verlust der Legitimation und dessen Folgen konsequent durchgeführt. 26 In Turm I dagegen bleiben alle Herrschaftsformen an einen personalen Souverän gebunden und die bisherige (rechtliche) Basis wird durch ethisch-sittliche Normen ersetzt. Die Aporie, die für Hofmannsthal damit einhergeht, zeigt ihr politisches Handeln: vom "Zwischenkönig" Sigismund bis zum Kinderkönig herrscht die reine "Ohnmacht". Der Verlust der Einheit von Recht und Macht wird dem Vertreter der Kirche, dem Großalmosenier, und dem unsittlichen und ausschweifenden Verhalten des Königs überantwortet.27 Doch in Turm II verlaufen die Argumente politischer, nämlich entlang des zweiten Pols des Souveränitätsbegriffs, dem der faktischen Machtausübung. Großalmosenier: "Basilius. Eitel war dein Krieg, unzeitig war dein Krieg, frech und freventlich war dein Krieg. Und als er verloren war, da ist der vom Ratstisch gejagt worden, der seine Hände
21 II, S. 433. 22 So die "geläufige Wendung" der staatsrechtlichen Literatur seit dem 16. Jahrhundert. Vgl. dazu Carl Schmitt: Politische Theologie (FN 10), S. 16 f. Daß die theoretisch unbeschränkte Macht des Monarchen in der Praxis vielfältigen Beschränkungen durch komplexe Spannungsfelder unterlag, ist hinreichend bekannt und bedarf keiner weiteren Erörterung, da es hier um eine grundsätzliche Änderung der Einheit von Recht und Macht geht. 23 Siehe deren Definition bei Hofmannsthals Basilius: II, S. 430. 24 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 12 bzw. S. 16 f.
25 Vgl. Gerhart Pickerodt: Hofmannsthals Dramen (FN 17), S. 254. Zur Rolle der Prophezeiungen im Rahmen der Kaiseridee F. Kampers: Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, München 1896, S. 137 f. Basilius' Versuch der Prophezeiung durch Sigismunds Verbannung zu entgehen, führt nur zu ihrer präzisen Erfüllung. 26 Hofmannsthal verzichtet in der letzten Fassung ganz auf phantasmatische Kräfte, die den Verfall personaler Souveränität in Turm I nur verdecken. 27 Vgl. dazu I, S. 294.
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aufgehoben hatte und geschrien wider diesen Krieg. - Denn es bedurfte der Selbstbezwingung, so war dieser Krieg zu vermeiden."28 Deutlich wird damit, daß der von Basilius erklärte Ausnahmefall - er ist der von der Rechtsordnung nicht umschriebene Fall - über die von Carl Schmitt definierte Begrenzung, daß dies ein "Fall äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates" sei, weit hinausgeht. Dennoch entspricht dessen Erklärung rein formal dem Recht des Souveräns, denn ob ein "echter Ausnahmefall gegeben" ist, ist "nicht restlos zu begründen", und deshalb sind "Voraussetzung und Inhalt" dieser Kompetenz "notwendig unbegrenzt".29 Daß Hofmannsthal in Turm II gerade hier der von Schmitt beschriebenen Einheit von Recht und Macht folgt, zeigt nicht zuletzt Basilius. Denn mit der rechtlichen Legitimationsbasis seiner Herrschaft verliert er auch die Macht: er kann den Krieg nicht mehr beenden und gibt, da er "das Geschmeiß nicht greifen" kann, der "Rebellion ihre Fahne".30 Das heißt, er war nicht mehr imstande, den offenbar leichtfertig herbeigeführten Ausnahmezustand zu beherrschen und Ordnung wie Einheit wieder herzustellen. Diese Fähigkeit ist aber der von Basilius gesuchte und verfehlte "schmale Grenzrain, dessen Überschreitung" über Bestand oder Untergang des Souveräns befindet. 31 Denn "die Verbindung von faktisch und rechtlich höchster Macht" ist das "Grundproblem des Souveränitätsbegriffs".32 Mit dieser Feststellung Carl Schmitts konfrontiert Hofmannsthal in Turm II seine dramatis personae. Fünf verschiedene Versuche zur Beherrschung des Ausnahmezustandes und der Wiederherstellung von Ordnung und Einheit durch einen personalen Souverän kommen in Turm II zur Darstellung. Sie bilden als fester Bestandteil des dramatischen Geschehens dessen Agens, bis auf eine Ausnahme: Der erste, im Dialog von Basilius und Julian entfaltete Versuch, den Hofmannsthal erst in der letzten Fassung einschiebt, ist dem Handlungsverlauf vollkommen entzogen. Denn es handelt sich um den Einschub eines theoretischen Ideenreservoirs, das unmittelbar auf Hofmannsthals Lektüre von Carl Schmitts Diktatur zurückgeht und das die Beherrschung des Ausnahmezustandes im Spannungsfeld von kommissarischer und souveräner Diktatur thematisiert. Um diese Unterscheidung und ihre Begründung, die den Ausgangspunkt von Carl Schmitts Definition und Einordnung der Diktatur in den Rahmen staatsrechtlicher Begriffe bildet, gruppiert Hofmannsthal den gesamten Verlauf seines Dramas. Beides wird formuliert unter dem Eindruck einer zu Ende gehenden Epoche und der damit neu und massiv sich stellenden Frage, wie politische Einheit angesichts des neuen Souveräns "Das Volk" möglich ist.
28 II, S. 408. 29 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 11 f.
30 II, S. 406. 31 II, S. 427. 32 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 27.
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II. Versuche zur Restitution von Souveränität und Einheit 1. Basilius und Julian Julian: "Mit einer fürstlichen Gebärde - mit einer Tat, mein König - " König: "Du meinst, Wir werden sie leicht niederwerfen, wenn Wir dir Vollmacht geben?" 33 Bei der einen "fürstlichen Tat", die Julian dem König kurz vor dessen Begegnung mit Sigismund nahelegt, handelt es sich um jene o.e. Sequenz, die schlaglichtartig den Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur erhellt, da sie unmittelbar in eine grundlegende Differenz des Souveränitätsbegriffs der beiden Protagonisten mündet. Denn Basilius' Frage nach Wirkung und Ziel der übertragenen Vollmacht zielt auf Wiederherstellung der monarchischen Einheit von Recht und Macht und entspricht der von Carl Schmitt beschriebenen Funktion der kommissarischen Diktatur. Deren zentrales Merkmal ist, daß der "Stellvertreter des Fürsten" nicht der Souverän ist, "so groß die ihm anvertraute Macht auch sein mag [...]. Denn der Souverän kann die anvertraute Macht auf jeden Fall zurücknehmen und in die Tätigkeit des Beauftragten eingreifen". Denn dieser Diktator "hatte nur eine Kommission" zur Durchführung einer "Aktion" und seine Macht erlischt "mit der Erledigung des Auftrags". 34 Doch Julians Replik auf die Frage des Königs enthüllt, daß er auf dem Boden einer vollkommen anderen Legitimitätsgrundlage steht. Julian: "Es ist leicht für einen großen König, das Vertrauen des Volkes wiederzugewinnen." König: "Ah, du meinst, daß ich ihr Vertrauen wiedergewinnen muß - nicht sie das meinige?" 35 Julians Berufung auf das Volk setzt dieses als konstituierendes Zentrum der Souveränität ein und antizipiert damit ein neues Verhältnis von Recht und Macht. "Im 18. Jahrhundert", so Carl Schmitt, "erscheint zum ersten Male in der Geschichte des christlichen Abendlandes ein Begriff von Diktatur, nach welchem der Diktator zwar Kommissar bleibt, aber infolge der Eigenart der nicht konstituierten, aber konstituierenden Gewalt des Volkes ein unmittelbarer Volkskommissar, ein Diktator, der auch seinem Auftraggeber diktiert, ohne aufzuhören, sich an ihm zu legitimieren." 36
Der seinem Auftraggeber diktierende und sich zugleich an ihm legitimierende Diktator, - das ist die lucide Formel für Julians neuen "Souverän". Bereits seine Erziehung von Sigismund steht ganz im Zeichen der Kreation eines Herrschers, der nicht mehr "souverän" sein kann, denn er unterstellt ihn den Begriffen von "Schuld und Strafe". Sie sind die Schatten des "Lichts" der Aufklärung, das Julian "heimlich" dem "Öl seiner
33 II, S. 425. 34 Carl Schmitt: Die Diktatur, München/Leipzig 1921, S. 26 f. Der - in Turm II fehlende - Hinweis des Großalmoseniers auf Rom spricht Basilius, folgt man den Ausführungen Carl Schmitts, die Souveränität ab, denn "der römische Diktator" war "nicht Souverän" (I, S. 296). 35 II, S. 425. 36 Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. X; vgl. zur Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur S. 130-137.
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Lebenslampe" zugoß. 37 Im Hinblick auf die realen Kräfte und Mächte wird damit das Recht des Königs ins Feld der Macht gerückt; es beruht nun auf der "substantiellen Gleichartigkeit" von Herrscher wie Beherrschten. 38 Die Folgen der Beibehaltung eines monarchischen Souveräns unter diesen geänderten Bedingungen zeigt Hofmannsthal mit großer Deutlichkeit: Zunächst versucht Julian als souveräner Diktator in seinem Namen die Macht auszuüben. Die sich damit öffnende Kluft zwischen Recht und Macht wird schließlich durch Olivier radikalisiert: Ihm genügt bereits ein König, der sich als Figur in den Dienst propagandistischer Mobilisierung der Massen stellen läßt. Seine Herrschaftsausübung mit Hilfe des Befehls diktiert deshalb auch dem König Sigismund: "Du wirst, wenn wir jetzt marschieren, auf einem Wagen fahren, und sie werden zu Tausenden herbeikommen und Heil rufen über dir." 39 Als sich zeigt, daß Sigismund - der im Drama wiederholt ausschließlich als Souverän seines "Selbst" bezeichnet wird - dazu "nicht verwendbar" ist, ordnet Olivier dessen Ersetzung durch eine Person an, die seinem steckbrieflichen Aussehen entspricht: "Prägt euch sein [Sigismunds] Gesicht ein. Notiert im Kopf die Maße, wie er gebaut ist, die Haarfarbe, alles [...]. Ich brauch einen Kerl, ähnlich ihm zum Verwechseln und der mir pariert wie der Handschuh an meiner Hand." 40 Im Gegensatz zu Oliviers offensichtlicher Betrugsstrategie, die einer völligen Entfesselung des Zwecks vom Recht gleichkommt, strebt Julian zur Unterdrückung des von ihm ins Leben gerufenen "fortschwelenden Aufruhrs" eine souveräne Diktatur an.41 Das heißt, auch er sieht in der "bestehenden Ordnung den Zustand", den er durch seine "Aktion beseitigen will" - um, gemäß und orientiert an seinen philosophischen Maximen, selbst zu herrschen. 42 Hofmannsthal unterstreicht damit, daß zwischen Julian und Olivier kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller Unterschied besteht: Jener ersetzt den bisherigen Souverän durch das Volk und will herrschen nach Ideen, dieser kennt nur ein Programm: die faktische Macht. Deutlich sichtbar wird anhand der Gestalt Julians, daß "die zwei Elemente des Begriffes Rechts-Ordnung einander gegenübertreten" und "ihre begriffliche Selbständigkeit" 43 beweisen können: Formal durchgängig der Berufung auf die Obrigkeit des Königs verpflichtet, verlagert er deren Legitimationsgrundlage vom Himmel auf die Erde. Zur Ausübung wie Übernahme der Macht benötigt er aber noch zwei verschiedene Gewalten: den Monarchen zur Erhaltung des Scheins von Legitimität, die damit aus dem Felde des 37 II, S. 417. In Turm I dagegen wird der künftige König nur den Begriffen "von Herr und Knecht, von Fern und Nah, von Himmlisch und Irdisch" unterstellt, deren Muster der Differenz den Horizont des traditionellen Souveräns umgreift. 38 Vgl. dazu Carl Schmitt: Verfassungslehre
[1928], Berlin 1983, S. 234 ff.
39 II, S. 466. 40 II, S. 466. Der König, der aufgrund eines "Steckbriefes" - einer Abbildung seines Portraits auf den Assignaten - erkannt und in die Gewalt der Revolutionäre gebracht wird, ist Ludwig XVI. Vgl. dazu Elisabeth Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change, Bd. I., London 1979, S. 85. 41 II, S. 425. 42 Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 137. 43 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 19.
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Rechts in das der Macht einrückt, einerseits und strukturell anarchische Gewalten mit hoher Schlagkraft andererseits. 44 Julian verkörpert damit die von Carl Schmitt beschriebene große "Linie der Entwicklung", die dahin geht, "daß bei der Masse der Gebildeten alle Vorstellungen von Transzendenz untergehen". Dem entspricht die "staatstheoretische Entwicklung des 19. Jahrhunderts" und ihrer beiden "charakteristischen Elemente: die Beseitigung aller theistischen und transzendenten Vorstellungen und die Bildung eines neuen Legitimitätsbegriffs [...] das heißt: an die Stelle des monarchischen tritt der demokratische Legitimitätsgedanke" und damit "die Menschheit an die Stelle Gottes". 45 Auf der damit einhergehenden Veränderung der faktischen Macht, die, losgelöst von der Bindung an das Recht, keine Begrenzung mehr kennt, baut Hofmannsthals Drama auf. Die Folgen dieser Wendung hin zum "unorganisierbar Organisierenden" 46 bringt Julian kurz vor seinem Ende auf den Begriff: "Ich habe die Hölle losgelassen, und jetzt ist die Hölle los." 47
2. Basilius und Sigismund Insgesamt, und in besonderem Maße gilt dies für die Begegnung zwischen Basilius und Sigismund, wird in Turm II der ödipale Aspekt der Prophezeiung zugunsten der politischen Dimension deutlich zurückgenommen. Dies zeigt nicht zuletzt die "souveräne" Handlung des neuen Souveräns Sigismund: bevor er seinen tätlichen Angriff auf den König unternimmt, vergewissert er sich nicht des Standes der väterlichen Zuneigung, wie noch in Turm /, sondern der mit dem königlichen Ring erfolgten Übertragung der symbolischen Schnittstelle von Recht und Macht: Der Prärogative. Das Herrschaftsmodell, dessen Realisierung Basilius mit Hilfe Sigismunds anstrebt, wird ebenfalls erst in der letzten Fassung durch den Einschub eines Halbsatzes präzisiert. Zunächst reiht sich Basilius in beiden Fassungen mit der Übertragung seiner Souveränität in Geschichte und Tradition ein, indem er sich auf Kaiser Karl V. beruft. 48 Doch die dabei zitierte Fiktion, aus der der Begriff des Staates hervorging, nämlich daß der König "in zwei Gestalten" wandelt, sprengt Basilius in Turm II mit dem nachgeschobenen Halbsatz: "und
44 Vgl. dazu II, S. 454. 45 Carl Schmitt: Politische Theologie (FN 10), S. 64 f. Dabei spielt auch der Arzt, der mit Julian eine Handlungseinheit bildet, eine wichtige Rolle. Er übernimmt einerseits die Berufung auf das auto sacramentale des Königs - von Olivier auf die Kurzformel gebracht: "Ich habe gemeint, der Herr ist ein Doktor, aber ich sehe, er ist ein Pfaff." (II, S. 467) Andererseits stellt er sich selbst aber absichtsvoll in den Dienst desjenigen, der "die Unteren" zu seinem Werkzeug macht: Er ist der neue Priester des Menschheitsdispositivs, das nun die Herrschaft antritt; sein "Amt" ist es, deren "Kräfte freizumachen" (II, S. 440). Ihm ist der König nicht mehr König, sondern "ein gewaltiger Mensch" (II, S. 467). 46 Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 142. 47 II, S. 457. 48 Vgl. dazu II, S. 426. Basilius' Berufung auf Karl V. ist bereits ein vom König selbst formulierter Hinweis auf das Ende einer Epoche, denn mit im starb der letzte Vertreter der mittelalterlichen christlichen Kaiseridee.
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eine davon ist neu und fürchterlich". 49 Zerstört wird damit die fiktive "unteilbare Einheit", die bisher gleich dem politischen auch den geringeren "natürlichen Körper mit dem Königsstand und der königlichen Dignität" ausstattete, so daß beide Körper "in einer Person inkorporiert" werden konnten.50 Basilius' Restitutionsversuch der Souveränität, ist ein Versuch, im politischen Körper des Königs die Stoßkraft des "Verräters Julian" und seiner Mächte zu mobilisieren, um so zu erreichen, daß wieder "ein König in Polen" sei. Das heißt, er versucht mit Hilfe von Sigismund den Zustand "absoluter Vollkommenheit"51 zur Beherrschung des Ausnahmezustandes, durch einen Kurzschluß von Recht und faktischer Macht zu erreichen, da er als Inhaber des höchsten Rechts nicht mehr zugleich die Vermutung der höchsten Macht für sich hat, die sich bisher wie "von selbst", also Kraft auctoritas, ergab.52 Basilius zielt damit auf eine Aufhebung der von Carl Schmitt mit Nachdruck betonten Distinktion von Recht und Macht: Wenn der "Gegensatz von Recht und Tatsache" nicht mehr existiert und "das Recht als Macht definiert wird, so ist es nicht mehr wesentlich Norm, sondern wesentlich Wille und Zweck".53 Doch nicht nur aufgrund von Sigismunds Weigerung, sein politisches Handeln nach dem Wunsch von Basilius "jäh, erschreckend, besinnungraubend" zu gestalten, scheitert sein Modell zur Beseitigung des "um sich greifenden Feuers". 54 Es ist vielmehr in seiner Zentrierung auf eine Einzelperson ganz grundsätzlich untauglich zur Beherrschung der neuen Gewalten und beruht auf der Verkennung ihrer Struktur, die sich ganz generell einer personenbezogenen Bändigung entziehen. Diese Verkennung der neuen Situation durch Basilius ist aber zwingend, denn der kann nur gemäß der differentia specifica seiner eigenen Tradition agieren und sie verfügt nur über Kategorien personenbezogener Machtausübung. Deshalb steht im Zentrum seiner Begegnung mit Sigismund - und auch dies kann Hofmannsthal erst in Turm II formulieren - seine Erwartung, daß mit Julian "der angezettelte Aufruhr [...] dahinfällt wie ein Bündel Reisig!"55 Diese Fehleinschätzung zeigt, daß angesichts der neuen Realitäten der Weg des Königs nur noch ein "Weg ins Nichtmehr-Gangbare" sein kann.56 Sein Untergang, der zugleich das Ende der auf das göttliche Recht und die Tradition sich berufenden Monarchie ist, oszilliert bei
49 II, S. 433; vgl. dazu auch Heinz Schlaffer: "Symbolische Macht", Leviathan, 19. Jg., Heft 2 (1991), S. 324. In Turm I weist Hofmannsthal der zweiten Gestalt des Königs keine neuen Eigenschaften zu. 50 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, München 1990, S. 33. Vgl. dazu auch Redlichs Hinweis an Hofmannsthal, daß eine Biographie von Kaiser Franz Joseph beachten müsse, wie sehr dessen "individuelles Leben" sich "vollkommen mit seiner Regentenpersönlichkeit" deckt; Briefwechsel Hugo v. Hofmannsthal/Josef Redlich (FN 7), S. 232. 51 Ernst Kantorowitz: Zwei Körper (FN 50), S. 29. 52 Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes [1938], Köln 1982, S. 82. 53 Carl Schmitt: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, dazu auch S. 15-38.
Hellerau 1917, S. 20 f.; vgl.
54 II, S. 433 u. II, S. 424. 55 II, S. 433. Vgl. dazu das von Basilius beobachtete Gespräch zwischen Julian und Sigismund II, S. 429. 56 II, S. 410 u. S. 405.
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Hofmannsthal zwischen persönlicher Schuld durch politische Grenzüberschreitung und Schicksal im Sinne der Heraufkunft einer neuen Zeit.
3. Basilius Nach der gescheiterten Überwältigung des Königs durch Sigismund versucht Basilius noch einmal seiner "Krone mächtig" 57 und das heißt, ein absoluter Souverän zu sein, indem er alle Register der traditionellen personalen Herrschaftsausübung einsetzt: Vom glanzvollen Schauspiel seiner Macht mit der festlich-repräsentativen Bestrafung von Sigismund und Julian, der Übernahme des Budgetrechtes durch eine Neuauflage der Steuerlisten, womit er die "wohlerworbenen feudalen und ständischen Rechte beseitigt und das Prinzip der Legitimität des status quo", auf dem der feudale Zustand beruhte, "durchbrach und vernichtete", bis hin zu Gunst- und Gnadenbeweisen, die sich ihrer Struktur nach jeder Normierung entziehen und deren Willkür sichtbarer Akt souveräner Entscheidung ist. 58 Die Berater, die während dieser Phase "Zugang zum Machthaber" Basilius haben, sind nicht mehr wie vordem Vertreter von Kirche und Adel, sondern die Spione Gervasy und Protasy. Das heißt, der König versucht in dieser Situation als alleinige Schaltstelle der Macht zu fungieren, ohne jedoch über sein traditionelles "Personal", das Stütze wie Begrenzung garantierte, zu verfugen. Basilius' Untergang ereignet sich genau in dem Moment, in dem zwei Machtdispositive in ihrer extremen Ausformung aufeinandertreffen: der nur durch seine Autorität geschützte König und der rein faktischen Macht in Gestalt von Legionen der Aufständischen: "Zehntausend von gemeinem Adel", das "lebendige Eingeweide", das "die Bergwerke hergegeben" haben. 59
4. Sigismund und die Woiwoden Der von den Woiwoden angesichts des Aufruhrs gegen Basilius erfolgreich durchgeführte adlige Staatsstreich hatte zum Ziel, den Bestand der Monarchie zu sichern. 60 Da der Machtwechsel jedoch nur unter Einsatz der von Julian mobilisierten Kräfte des "Aufruhrs der Niedrigsten" gelang, war er von vornherein "eine Sache, die fünftausend Mitwisser hat". 61 Damit fehlt jenes "Fabrikationsgeheimnis" des Absolutismus, das erforderlich war, um "sich im Besitz der politischen Macht zu erhalten": Das Arcanum. 62 Der mit Hilfe dieser Konstellation auf den Thron gesetzte König Sigismund sieht sich denn auch sofort auf der rechtlichen Ebene einer Situation gegenüber, die nichts mehr mit der plenitudo potestatis - jenem Begriff der Machtvollkommenheit, dessen sich besonders 57 II, S. 436. 58 Carl Schmitt: Verfassungslehre
(FN 38), S. 48 f.; vgl. dazu auch ders.: Diktatur (FN 34), S. 95 f.
59 II, S. 454. 60 Neben der ersten Begegnung von Basilius und Julian, sind die beiden folgenden Modelle zur Restitution der Souveränität, die Hofmannsthal in seinem in Turm II völlig neu geschriebenen 4. Akt darstellt, in besonderem Maße seiner Lektüre der Werke von Carl Schmitt verpflichtet. 61 II, S. 445 u. II, S. 442. 62 Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 14 f.
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Karl V. bediente 63 - des Basilius gemeinsam hat. Kanzler: "Es erscheint nötig, daß durch ein feierliches Konstitutum in allem die Befugnisse des Staatsrates festgesetzt werden. Es handelt sich darum, daß Eure Hoheit eidlich gebunden sein wird. 1,64 Die Frage, "soll der König vom Gesetz oder das Gesetz vom König abhängen, rex a lege an lex a rege pendebit?", wird damit in Umkehrung zu Basilius' Position "Das Gesetz und der Souverän sind eins" beantwortet. 65 Der von den Woiwoden gebildete Staatsrat, dieser oberste "Vereinigungspunkt der gesamten Staatsverwaltung unter dem Herrscher", 66 übernimmt nun gegenüber dem König die Diktatur und geht damit weit hinaus über jene Form von Diktatur, die "als ein spezifisches Arcanum dominationis der Aristokratie" mit dem Souverän eine Einheit bildete. An die Stelle dieser Einheit, mit deren "Hilfe die jura imperii erhalten werden" sollten, errichten die Woiwoden die Unterscheidung von Souveränitätsrechten und "dem bloßen Schein von Souveränität, den simulacra majestatis", die man dem König überlassen kann. 67 Hofmannsthal, der das Verhältnis zwischen Souverän und Adel ganz auf das verfaßte "Konstitutum" zuspitzt, das die "Namen der fürstlichen Personen" diktiert, "mit denen allein der König sich beraten darf", 6 8 überführt damit die konkrete historische Situation der unter Sigismund I. beginnenden Herausbildung der polnischen Adelsrepublik in den allgemeinen Prozeß der Auseinandersetzungen, die das ganze 18. Jahrhundert durchziehen und am Vorabend der französischen Revolution einen ersten Höhepunkt erreichen. Denn die Frage nach dem und der "Kampf um den Zugang zum absoluten Monarchen, um seine Beratung und Informierung, um den Immediat-Vortrag [...] ist der eigentliche Inhalt der Verfassungsgeschichte des Absolutismus". 69 Das Problem, mit wessen Augen der König die Dinge sehen sollte - das mit Bismarcks Entlassungsgesuch vom März 1890 einen spektakulären Höhepunkt findet markiert in Turm II den Herrschaftsantritt des letzten monarchischen Souveräns im Verlauf des dramatischen Geschehens. 70 Das heißt, Sigismund wird einer radikalen Distiktion der Herrschaftsrechte unterworfen: Bereits sein Versuch, Julian zu seinem beratenden Minister zu machen, wird ihm unter Hinweis auf das Konstitutum verweigert. Die Woiwoden nehmen in Turm II, trotz der Nähe ihrer staatsrechtlichen Argu-
63 Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 17. 64 II, S. 451. "Ein königlicher Ratschluß" - so der Palatin von Krakau - "ohne unsere Zustimmung ist null und nichtig" (II, S. 452). 65 II, S. 423 sowie Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 20. 66 Er war in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts Teil des "wohlüberlegten Plans der Regierenden, die sich und den Staat zu erhalten suchen", so Hans Schneider: Derpreussische Staatsrat 1817-1918, München/Berlin 1952, S. 6; vgl. auch S. 203 ff. 67 Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 15 u. S. 17. 68 II, S. 452. 69 Carl Schmitt: "Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem", in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1985, S. 430. 70 Vgl. dazu Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 100 ff.
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mentation zu den Monarchomachen, 71 gegenüber dem König dieselbe Position wie die "liberale Bourgeoisie" in Carl Schmitts Definition ein: "Sie wollen einen Monarchen, eine persönliche Staatsgewalt [...] machen aber den König zum bloßen Exekutivorgan und jeden seiner Akte von der Zustimmung des Ministeriums abhängig, nehmen also wieder eben jenes persönliche Moment." 72 Damit ordnet Hofmannsthal den Adel, in seiner Relation zum Handlungsspielraum des Monarchen, dem Verhalten Julians zu.
5. Sigismund und Julian Nachdem im königlichen Siegel die umfassenden Rechte des Staatsrates, denen der neue König unterworfen wird, festgelegt waren, reißt Julian das Siegel an sich und beendet die Macht des Adels, der "prahlerischen Großen", wie er sie nun nennt. Und er bekennt Sigismund, daß er sich ihrer nur als "Fanghunde" zur eigenen Machtübernahme bediente. Julian: "Das Siegel ist in meiner Hand. In des Königs Namen: die Herren sind beurlaubt. Wenn man ihres Rates bedürfen wird, wird man sie zu finden wissen." 73 Mit Hilfe der im Siegel festgeschriebenen Rechte einerseits und der Gewalt der auf den König vereidigten Garden andererseits handelt nun Julian und weist dem Staatsrat den Aktionsraum zu: Da die "Herren" geschickter seien, "Könige abzusetzen als einzusetzen", verbannt er sie "in ihre Häuser". 74 Damit ist das Feld frei für eine neue Legitimität, die Julian, der Philosoph und Erzieher, der "Weissager und [...] Wahrmacher zugleich", verkündet. Julian: "O du mein König! O du mein Sohn! - denn von mir bist du, deinem Bildner, nicht von dem, der den Klumpen Erde dazu hergegeben hat, noch von ihr, die dich unter Heulen geboren hat, ehe sie dahinfuhr! Ich habe dich geformt für diese Stunde!" 75 Julians Absage an Genealogie und Tradition scheitert aber sowohl an seinem selbstgeschaffenen Souverän als auch an den Gewalten, denen er zur Verwirklichung seines Planes den "Atem eingeblasen" hat: Sigismund, sein "Gezeugter", bleibt unerreichbar und gegenüber Julian, dem "Zeugenden", ausschließlich Souverän seines Selbst.76 Seine Verlagerung der Souveränität in das "Höhlenkönigreich" seines Innern, zu dem auch sein einstiger Zwingherr keinen Zugang hat, personifiziert das Paradox, das Julians Werk kennzeichnet: Er formte Sigismund zum Menschen und nicht zum Souverän, der
71 Vgl. dazu Hofmannsthals Randnotiz "Monarchomachen: Vindiciae contra tyrannos" in seinem eigenen Exemplar von Carl Schmitts Schrift Die Diktatur, S. 19, zit. nach: Briefwechsel Hugo von Hofttuinnsthal/'Josef Redlich (FN 7), S. 221. Ziel der Monarchomachen war nicht Abschaffung, sondern Einschränkung der königlichen Gewalt zur Bewahrung der ständischen und adligen Rechte. 72 Carl Schmitt: Politische 73 II, S. 454 u. II, S. 452. 74 II, S. 452. 75 II, S. 453. 76 II, S. 453 u. II, S. 454.
Theologie (FN 10), S. 76 f.
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über politische Herrschaftstechniken verfügt.77 Zum anderen mobilisierte er, um den Ausnahmezustand beherrschen und so die bisherige monarchische Ordnung ablösen zu können, den "totalen" Krieg: das heißt er versucht, die "Gewalt mit der Gewalt" zu bändigen, "den Soldaten mit dem Bauer, das flache Land mit den festen Städten, die großen Herrn mit dem adligen Aufgebot, das Aufgebot mit den Schweizer Regimentern".78 Sehr lucide zeigt Hofmannsthal die Merkmale der Differenz der sich auflösenden Einheit von Recht und Macht, die die Struktur der Herrschaftsform Julians charakterisieren und die er mit Carl Schmitt von der Art des Ausnahmezustandes her bestimmt.79 Der neuen Legitimationsbasis des Rechts entspricht im Drama der ins Leben gerufene Krieg aller gegen alle, der Julian am Ende selbst verschlingt. Zunächst aber verfügt er noch über eine rechtlich gebundene Macht: Die Schweizer-Garden, die durch Eid auf den König verpflichtet sind. Doch auch Julian verkennt, ähnlich Basilius, daß diese an das Recht gebundene Gewalt angesichts der mobilisierten Mächte ihrer Schutzfunktion nicht mehr nachkommen kann. Das heißt, Hofmannsthal rückt den Vertreter der auf Volkssouveränität aufruhenden Monarchie in das Spannungsfeld der Einheit von faktisch und rechtlich höchster Macht ein und folgt dem Diktum von Carl Schmitt: "Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre." 80 Deshalb unterliegt Julian schließlich den Kräften, denen er selbst zur Ablösung der göttlich legitimierten Souveränität und zur Etablierung eines Königs durch den Willen des Volkes, das Leben einhauchte.
III. Vom Turm des Souveräns zur Herrschaft der Namenlosen Mit dem Untergang der monarchischen Ordnung tritt in Hofmannsthals Turm II an die Stelle der vormaligen Einheit von Recht und Ordnung Aufruhr, Chaos und Gewalt, die den abschließenden Aggregatzustand des Trauerspiels bilden.81 Er schildert damit den Zustand seiner Gegenwart, in der "die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine
77 "Hast du Zugang zu mir?" ist die Schlüsselfrage, die der "unzugängliche" Sigismund an Julian richtet (II, S. 455). Daß erst "die Bühnenfassung" Sigismund "in reinem Erleiden", ohne "Verstrickung" des "Gewaltlosen in die Verbindung mit der Gewalt" zeigt, ist so richtig wie ungenau. Denn Herrschaft und politisches Handeln ist nicht identisch mit Gewalt, sondern bewegt sich im Verhältnis von Recht und Macht. Auf dieser Unterscheidung basiert das Geschehen in Hofmannsthals Turm; die Aufhebung dieser Differenz unterstellt er erst den nicht-monarchischen Mächten. Mit ihrem Herrschaftsantritt zieht Sigismund sich auf die Rolle des "Lamm Gottes" und d.h. ganz auf den Grund seiner Legitimationsbasis zurück und verschließt sich so den neuen Gewalten (Edgar Hederer: Hugo von Hofmannsthal, Frankfurt a.M. 1960, S. 354). 78 II, S. 455. 79 Vgl. dazu die beeindruckende Passage, in der Julian "seinen riesenhaften Plan" enthüllt: Er liest sich wie eine Totalmobilmachung und -entfesselung aller Gewalten (II, S. 454). 80 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 20.
81 Vgl. dazu Reinhold Schneider: Begegnung und Bekenntnis,
Freiburg/Basel/Wien 1963, S. 109 f.
Der Souverän verläßt den Turm
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Könige mehr gibt und keiner den Mut haben würde, anders als durch den Willen des Volkes König zu sein".82 In dem Augenblick, in dem "der überlieferte Legitimitätsbegriff" offenbar "alle Evidenz" verliert und an "die Stelle des monarchistischen [...] der demokratische Legitimitätsgedanke" tritt, entfällt für Hofmannsthal das Recht und es herrscht die schiere Gewalt.83 Auch für die Staatstheoretiker der Gegenrevolution, die Carl Schmitt zitiert, endet damit zunächst die Möglichkeit von Legitimität und befriedeter Einheit überhaupt. Auf der Basis des engen Zusammenhangs von theologischem und juridischem Denken, auf dem dieses Einheitsmodell beruht, können die "Gegensätze von Autorität und Anarchie" nur in "absoluter Entschiedenheit einander gegenübertreten" und eine "klare Antithese bilden". Deshalb bleibt für sie "nur ein Resultat: die Diktatur", denn "Autoritas, non veritas facit legem".84 In Turm II verschwinden mit dem Abzug der Schweizer die letzten Rudimente der Ordnung.85 Was dann das Feld des Politischen beherrscht, ist die "reine Wirklichkeit" : Die "Fatalität" der totalen Macht der Technik. Olivier: "Siehst du dieses eiserne Ding da in meiner Hand? So wie dies in meiner Hand ist und schlägt, so bin ich selbst in der Hand der Fatalität."86 Die Technik in Oliviers Hand unterwirft alle, auch den, der sie trägt, denn sie folgt ausschließlich der ihr selbst immanenten Eigengesetzlichkeit und ist völlig indifferent "gegenüber dem weiteren politischen Zweck".87 Aus der rein faktischen Macht, heißt das, lassen sich keine Kriterien mehr für das Begriffspaar Rechts-Ordnung gewinnen, denn "die Macht beweist nichts für das Recht, und zwar aus dem banalen Grunde, den Rousseau in Übereinstimmung mit seinem ganzen Zeitalter formuliert hat: La force est une puissance physique; le pistolet que le brigand tient est aussi une puissance (Contrat social 1,3)".88 Da für Schmitt wie Hofmannsthal dem "Bündnis von Thron und Altar"89 kein Bündnis von Herrschaft und Transzendenz mehr folgen kann, ist Herrschaft für beide nur
82 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 83.
83 Ebd., S. 65. 84 Ebd., S. 83 u. S. 66. 85 Zu Rolle und Stellung der Schweizer-Garden - die Teil der Avant-Garde des Heeres waren - im ausgehenden Absolutismus Eugène Fieffé: Geschichte der Fremd-Truppen im Dienste Frankreichs, von ihrer Entstehung bis auf unsere Tage, sowie aller jener Regimenter, welche in den eroberten Ländern unter der ersten Republik und dem Kaiserreiche ausgehoben wurden, 2 Bde., übers, von F. Symon de Carneville, München 1856-1860, Bd. I, S. 85 f. u. 508 f., Bd. II, S. 471 f. 86 II, S. 465. 87 Carl Schmitt: Diktatur (FN 34), S. 9; vgl. dazu auch Carl Schmitt: Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 94 f. Zum technischen Stand der im ersten Weltkrieg eingesetzten automatischen Handfeuerwaffen vgl. Gerhard Bock u. Wolfgang Weigel: Handbuch der Faustfeuerwaffen, Melsungen 1962, S. 58 f. bzw. Karl Cranz u. Otto v. Eberhard: "Die neuzeitliche Entwicklung der Schusswaffen", Deutsches Museum, Abhandlungen und Berichte, 3. Jg., Heft 3 (1931), S. 93 f. 88 Carl Schmitt: Politische 89 Ebd., S. 64.
Theologie (FN 10), S. 26 f.
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Ingeborg
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noch Ausdruck des "einfachen Verhältnisses von konkretem Zweck und geeignetem Mittel [...], welches Verhältnis seiner logischen Natur nach keiner festen Umschreibung fähig ist und in der praktischen Anwendung überall das gleiche Expansionsstreben zeigt". 90 Oliviers Gewalt scheint sich zunächst nur auf die Beseitigung "aller kriechenden Angelegenheiten" zu richten und das heißt, der bisherigen monarchischen Souveränität. 91 Aus seiner radikalen Abwehr der "Diktatur" des Königs entsteht aber jene "seltsame Paradoxie" der Diktatur des Anti-Diktators, die auch Olivier ausübt. 92 Doch Hofmannsthals Darstellung geht noch einen Schritt weiter: Sie suggeriert, daß der (waffen)technischen Wirkung auch der neue Diktator und die neuen Gewalten unterliegen werden. Mit der Verbannung der Transzendenz setzt sich - so Carl Schmitt - die "Idee des modernen Rechtsstaates durch", die "das Wunder" und damit auch die von Hofmannsthal am Ende des Dramas zur Rettung des Souveräns Sigismund als Hoffnung formulierte "Wendung" aus "der Welt verweist". 93 Denn "wir leben jetzt nicht mehr unter der Herrschaft von Personen, seien es natürliche oder konstruierte (Rechts-) Personen, sondern unter der Herrschaft von Normen, geistigen Kräften. Darin offenbart sich die moderne Staatsidee". 94 Dieser Zeitdiagnose Carl Schmitts entspricht die von Hofmannsthal in Turm II gezeigte Entfaltung des wiederholten und schließlich endgültigen Scheiterns der Versuche zur Einheitsbildung durch eine Restitution der monarchischer Herrschaft. Die Heraufkunft der Souveränität des Volkes bringt für ihn nur die Herrschaft der Wirklichkeit des "Jetzt und Hier", das "viele an die Kette" legt. 95 Was aber, so Hofmannsthal in einem Brief aus dem Jahre 1895, "'wirklich' ist, weiß wohl [...] niemand, weder die drin stecken, noch gar die 'oberen Schichten'. Das Volk kenn ich nicht. Es gibt, glaub ich, kein Volk, sondern, bei uns wenigstens, nur Leut, und zwar sehr verschiedene Leut, [...] das wird dann zu fíinfzigtausenden summiert und heißt 'Proletarier'. Mit einzelnen kann ich was anfangen." 96 Angesichts eines Zustandes, der nicht mehr durch den Einzelnen, sondern durch das "sprachlose Volk" oder die Vielen geprägt ist, argumentiert Hofmannsthal "mit unwiderleglichem Nominalismus". 97 Das letzte Wort, das er deshalb dem Souverän im "Turm" überläßt, ist der Auftrag der Erinnerung an den König. Sein Wort: "Gebet Zeugnis, ich war da", ist zugleich der Auftrag des Autors Hofmannsthal, der die Möglichkeit politi-
90 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 135.
91 II, S. 469. 92 Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 84; vgl. dazu auch Olivier in II, S. 468.
93 II, S. 469; Carl Schmitt: Politische
Theologie (FN 10), S. 49.
94 So Carl Schmitt - Krabbe zitierend - zum Stand der Lehre von der Rechtssouveränität zu Beginn der 20er Jahre; Carl Schmitt: Politische Theologie (FN 10), S. 32. 95 II, S. 465. 96 Hofmannsthal am 18.06.1895, in: Hugo von Hofmannsthal u. Edgar Karg von Bebenburg: sel, hg. von Mary E. Gilbert, Frankfurt a.M. 1966, S. 80. 97 II, S. 464. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme
1800/1900,
München 1987, S. 347.
Briefwech-
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scher Einheitsbildung der Erinnerung an die Vergangenheit zuweist. Denn heute sind für ihn, losgetreten durch die Monarchie und entfesselt durch die neuen Kräfte, ihre Begriffe "abgetan und liegen auf dem Schindanger". 98 Das Signum der Gegenwart, für Carl Schmitt die "Herrschaft von Normen", für Hugo von Hofmannsthal das "System von Wertsetzungen, das den modernen Menschen ausmacht", mit dem ein neuer "Wert - das Leben selbst" und das Diktat der "Zeit" auftaucht, löst für beide die bisherige bindende Kraft der Herrschaft von Personen, von Individuen, ab: Der "Europäer steht allein da". Dieser Lage Rechnung tragen, heißt für Hofmannsthal: Zurückdenken, denn "damit werden die Individuen größer hervortreten" und "die 'Zeit' unwichtiger". 99 Dieser Weg steht Carl Schmitt, dem Juristen, nicht offen. Seine "Erinnerung" an den Einzelnen führt ihn zur politischen Theologie und - Wendung gegen die "Zeit" - zu Fragen des Raums.
98 II, S. 469 u. II, S. 467. Hofmannsthal weist damit zugleich der Literatur ihren Auftrag zu. Vgl. dazu Michel Foucault: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1979, S. 11 ff. 99 Hugo von Hofmannsthal: "Brief an einen Gleichaltrigen (1925)", in: ders.: Erzählungen, und Briefe, Reisen, Frankfurt a.M. 1979, S. 584.
Gespräche
Wolfgang Eßbach
Das Formproblem der Moderne bei Georg Lukäcs und Carl Schmitt
Les Vies parallèles - dieser Titel, den Michel Foucault, antikem Vorbild folgend, 1978 für eine Buchreihe gewählt hat, mag eine erste Intention dieses Beitrags signalisieren, wenn man nicht gleich daran denkt, daß sich die Parallelen im Unendlichen treffen was ohnehin zu lange dauern würde - , sondern, Foucault folgend, sich vorstellt, daß sie unendlich dazu verdammt sind, Abstand zu halten.1 Ich werde diese Intention ein Stück weit ausführen, und sie abbrechen (I). Zu fragen ist dann, wie mit der Aktualität und Historizität der Bindung ihres Denkens und Handelns an Bolschewismus und Nationalsozialismus heute umgegangen werden könnte (II). Auf dem Wege einer parallelen Lektüre möchte ich ihre antipodischen Auffassungen von der Einheit der Moderne entschlüsseln (III) und ihrem tödlichen "Entweder-oder" den Zivilisationsschub einer postmodernen Denkungsart geben (IV).2
I. Lukäcs und Schmitt - "des vies parallèles"? Die Geburtsdaten liegen nur drei Jahre und drei Monate auseinander. Sie gehören der selben Alterskohorte an. Die Herkünfte der Familien freilich sind an verschiedenen Peripherien aufzufinden. Einmal das kleinbürgerliche Elternhaus aus dem westfälischen Plettenberg, das andere Mal ein Elternhaus, das zur Geldaristokratie der Österreich-ungarischen Monarchie in Budapest gehörte. Streng katholisch die eine Familie, assimiliertes Judentum die andere, 1890 magyarisiert und 1899 der Vater geadelt. Was könnte die Divergenz der seelischen Verwerfungen und Konflikte, die sich einmal aus der Lage eines kirchentreuen, kleinstädtischen Diaspora-Katholizismus in Plettenberg ergeben, das andere Mal der großstädtischen Situation entspringen, in der ein evangelisch getaufter und beschulter Sproß eines kunstbeflis-
1
Vgl. Didier Eribon: Michel Foucault (1926-1984),
Paris 1989, S. 293.
2
Lukäcs und Schmitt sind bislang selten zusammen in den Blick genommen. Hervorzuheben ist Manfred Lauermann: "Georg Lukäcs und Carl Schmitt - eine Diskursüberschneidung", in: Diskursüberschneidungen - Georg Lukäcs und andere: Akten des Internationalen Georg-Lukäcs-Symposium "Perspektiven der Forschung" Essen 1989, hg. von Werner Jung, Bern u.a. 1993, S. 71-86. Gary Ulmen benutzt Lukäcs' These von der Verdinglichung, um Schmitts Platz in der Kritik der politischen Ökonomie zu bestimmen (Gary L. Ulmen: Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991).
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Wolfgang Eßbach
senen Mäzens aufwächst - was könnte die psychologischen Divergenzen besser beleuchten, als ein Vergleich der ersten großen Liebe zu Frauen? Georg Lukäcs lernt die Malerin Irma Seidler 1907 kennen; es gibt eine Korrespondenz, im Mai 1908 leben sie in Florenz, begleitet vom Kunstphilosophen Leo Popper. Lukäcs schwärmt von Irma, verzehrt sich vor Liebe, aber er versagt sich die Erfüllung aus Angst, die Selbständigkeit zu verlieren, d.h. genauer gesagt, sich in seiner imaginierten Schöpferkraft eingeschränkt zu sehen. Diese dramatische Entsagung wird von Lukäcs zugleich literarisch überhöht und mit dem Verhältnis zwischen Kierkegaard und Regine Olson gedeutet. Irma Seidler bricht mit Lukäcs. 1911 hat sie sich das Leben genommen. 3 Carl Schmitts große Liebe zu Pawla Dorotic entflammt wohl zu Beginn des Krieges und wird vielleicht stimuliert im Milieu von Expressionismus und Boheme. Nach der Heirat 1915 publiziert er stolz unter dem Doppelnamen Schmitt-Dorotic. Dann verließ sie ihn, nicht ohne einen Teil der Bücher und Möbel mitzunehmen. 4 Liest man religiöse Orientierungen und erotische Erfahrungen - Sexualität und Wahrheit würde Foucault sagen - zusammen, so ergäbe sich Stoff für zwei Novellen exemplarischen Charakters. Einmal versagt sich ein 22jähriger, gerade dem protestantischen Gymnasium entsprungener, evangelisch getaufter Sproß einer jüdischen Familie - mit Kierkegaard 5 im Herzen - rigoros die Erfüllung seiner Liebe und muß erleben, daß die Geliebte sich das Leben nimmt. Das andere Mal wirft sich ein 27jähriger DiasporaKatholik, der Stirner 6 nicht vergessen kann, die heimische Enge sprengend in das Abenteuer der Liebe und muß erleben, daß die Vergötterte ihn arglistig getäuscht hat und sitzen läßt. Die Erfahrungen solch verschieden unglücklicher Ausgänge der ersten Liebe
3
Vgl. Istvän Hermann: Georg Lukäcs. Sein Leben und Wirken, Wien/Köln/Graz 1986, S. 30-44; Ernst Keller: Der junge Lukäcs, Antibiirger und wesentliches Leben. Literatur und Kulturkritik 1902-1915, Frankfurt a.M. 1984, S. 80 f. Grundlegend ist Agnes Heller: "Das Zerschellen des Lebens an der Form: György Lukäcs und Irma Seidler", in: dies, u.a.: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukäcs, Frankfurt a.M. 1977, S. 54-98.
4
Vgl. Joseph W. Bendersky: Carl Schmitt: Theorist for the Reich, Princeton (N.J.) 1983, S. 16 u. S. 144; Paul Noack: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993, S. 42-46; Ellen Kennedy: "Carl Schmitt und Hugo Ball. Ein Beitrag zum Thema 'politischer Expressionismus'", Zeitschrift für Politik, 35. Jg. (1988), S. 151.
5
Lukäcs hat Kierkegaard auf Anregung von Rudolf Kassner im Alter von 22 Jahren gelesen und zeitlebens die moralische Konsequenz bewundert, mit der Kierkegaard seine Überzeugungen aus dem Zusammenbruch äußerer Sicherheiten zu retten vermochte.
6
Schmitt hat Stirner in der Unterprima gelesen und die Bindung verliert sich bis ins hohe Alter nicht; vgl. die Selbstaussagen Carl Schmitts in Piet Tommissen (Hg.): Schmittiana 1, Brüssel 1988, S. 21 sowie Hansjörg Viesel: Jawohl, der Schmitt. Zehn Briefe aus Plettenberg, Berlin 1988, S. 11 u. S. 44 f. Die Frage, wie sehr Stirner Geburtshelfer und böse Fee an der Wiege des Marxismus war, habe ich behandelt in: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus - eine Studie über die Kontroverse zwischen Max Stirner und Karl Marx, erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1982. Meine damaligen Thesen sind in ihrem Kern inzwischen durch die Marx-Philologie bestätigt. Dazu Inge Taubert: "Wie entstand die 'deutsche Ideologie' von Karl Marx und Friedrich Engels? Neue Einsichten, Probleme und Streitpunkte", in: Studien zu Marx' erstem Paris-Aufenthalt und zur Entstehung der "Deutschen Ideologie", Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, Nr. 43, Trier 1990, S. 9-87.
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Das Formproblem der Moderne
lassen sich in zwei Wortbildern kondensieren, die immense Komplexe bergen: Bei Lukács die Verzweiflung und bei Schmitt das Betrogensein. Die Ausgänge der Erfahrungen großer Lieben sind prägend für die sozialen Emotionen, und bei Intellektuellen greifen sie auch in die Strukturen der Argumente und leiten das, was ich theoretische Emotion nenne. Wie der Verzweiflung entgehen? - Dies ist bei Lukács eine ebenso wiederkehrende Dringlichkeit wie bei Schmitt die Sorge darüber, betrogen worden zu sein. Verzweiflung und Betrogensein sind aber auch Figurationen, die in die Religionsgeschichte verweisen. Einen betrügerischen Gott kennt die Gnosis, und die Lehre vom Priesterbetrug war der Rammbock der Aufklärung. Die Verzweiflung des einzelnen bei Kierkegaard ruht auf der ganzen protestantischen Kultur des Zweifels, ob der Mensch insgesamt von Gott angenommen wird oder nicht, ob er jene Standfestigkeit im Glauben erreicht, von der das Buch Hiob erzählt. Verzweiflung und Betrogensein sind nicht zuletzt auch Elemente in Reaktionen Dritter, vor allem gerade in den heftigen und überzogenen Reaktionen. Zwei Beispiele: In die Richtung des Vorwurfs des Betruges und der Undankbarkeit geht z.B. Waldemar Gurians Attacke: "Etwas eigenartig nimmt es sich aus, wenn ausgerechnet Carl Schmitt für die Ausscheidung aller nichtarischen Elemente als Träger des Rechtslebens sich einsetzt. Verdankt nicht Carl Schmitt Nicht-Ariern - Moritz Julius Bonn und Erich Kaufmann [ . . . ] - entscheidende Berufungen?" 7 Und in die Richtung der Wahrnehmung einer verzweifelten Situation gehen Formulierungen, die Theodor W. Adorno in "Erpreßte Versöhnung" gefunden hat: "Bei all dem bleibt das Gefühl von einem, der hoffnungslos an seinen Ketten zerrt und sich einbildet, ihr Klirren sei der Marsch des Weltgeistes."8 Wenn man durch die Polemik hindurchschaut, markieren die Reaktionen einerseits verletzte Reziprozität und andererseits wahnhafte Verzweiflung. Lukács und Schmitt - des vies paralleles, so könnte man fortfahren, bis die Frage ihrer Verbindung unaufschiebbar wird. Aus dem ganzen Feld der Verbindungen über Dritte hat zunächst die Frage Aufmerksamkeit erregt, ob und wie Lukács und Schmitt als Anschlüsse an Max Weber gelesen werden können.9 Weit weniger sind Lukács und Schmitt als Vermittler jenes Georges Sorel ins Blickfeld geraten, der Mussolini und
7
Waldemar Gurian zit. nach Ingeborg Villinger: Verortung des Politischen. Hagen 1990, S. 28.
Carl Schmitt in
Plettenberg,
8
Theodor W. Adorno: "Erpreßte Versöhnung. Zu Georg Lukäcs 'Wider den mißverstandenen Realismus'", in: Lehrstück Lukäcs, hg. von Jutta Matzner, Frankfurt a.M. 1974, S. 204.
9
Zu Weber und Schmitt vgl. Gary L. Ulmen: Politischer Mehrwert (FN 2). Daß der Weg von Max Weber zu Carl Schmitt nicht so glatt läuft, wie gemeinhin angenommen, macht Matthias Eberl in seiner Studie Legitimität der Moderne. Kulturkritik und Herrschaftskonzeption bei Max Weber und Carl Schmitt, Marburg 1994 deutlich. Für die Analyse der Blockaden der europäischen Modernität grundlegend ist das Kapitel "Leviathan und Hamlet" aus Hermann Schwengel: Der kleine Leviathan, Frankfurt a.M. 1988, S. 55 ff. Lesenswert ist immer noch Karl Löwith: "Max Weber und Carl Schmitt", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juni 1964. Zu Max Weber und Georg Lukäcs vgl. Kurt Beiersdörfer: Max Weber und Georg Lukäcs Uber die Beziehung von verstehender Soziologie und westlichem Marxismus, Frankfurt a.M. 1986 sowie die immer noch erhellenden Ausführungen von Maurice Merleau-Ponty in Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt a.M. 1968.
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Lenin zugleich feiern konnte. 10 Genauso wichtig wäre es, jenem Dritten nachzugehen, an den sich Schmitt im Winter 1945/46 kontaktsuchend erinnert, und der seine Karriere zusammen mit Lukäcs im vorrevolutionären Sonntagskreis in Budapest begann: Karl Mannheim. 11 Schmitt und Mannheim waren 1928 zu Ratsmitgliedern der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie" gewählt worden. 12 Die Verbindungslinien zu Mannheim wären auch deshalb interessant, weil Mannheim den Grundriß für eine Soziologie der Intelligenz gezeichnet hat, in die sich die wechselnden Selbstdefinitionen von Lukäcs und Schmitt recht gut einschreiben ließen. Aber wie stand es mit der direkten Verbindung? Wahrscheinlich sind sie sich nie von Angesicht zu Angesicht begegnet. Obwohl nicht viel dazu gefehlt hat. Denn als im Juni 1914 der gut vorbereitete Plan zur Gründung des Intellektuellenbundes "Forte-Kreis" Gestalt gewann, da waren einerseits Schmitt und Theodor Däubler, der seit 1913 zur Kerntruppe dieses Bundes gehörte, schon recht gut miteinander vertraut, andererseits finden wir in der Liste zur vorgeschlagenen Erweiterung des Bundes auch Lukäcs' Namen. 13 Es wäre durchaus plausibel anzunehmen, daß Däubler im Zuge der sich erweiternden Kooptation auch Schmitt für den Kreis vorgeschlagen hätte, wenn nicht der Krieg, diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, alles vereitelt hätte. Wann beide zuerst voneinander Kenntnis genommen haben, wissen wir nicht. 1928 jedenfalls kann Kurt Rosenfeld 14 an Schmitt in der Angelegenheit des in Wien bedrängten Lukäcs schreiben: "Sie kennen Georg Lukäcs und sind daher am ehesten in der Lage, über seine Persönlichkeit und über die Bedeutung seiner Arbeiten ein Bild zu geben, das gerade in den Kreisen des Zentrums die Bemühungen erleichtern würde, die Rücknahme der Ausweisungsverfügung zu erreichen." 15 Lukäcs, der nach dem Tod
10 Siehe die Angaben bei Manfred Lauermann: Georg Lukäcs (FN 2), S. 79. 11 Carl Schmitt: Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 13 ff.; zu Mannheim und Lukäcs immer noch brauchbar David Kettler: Marxismus und Kultur. Mannheim und Lukäcs in den ungarischen Revolutionen 1918/19, Neuwied/Berlin 1967 sowie Eva Karädi u. Vezer Erzsebet (Hg.): Georg Lukäcs, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt a.M. 1985. 12 Paul Noack: Carl Schmitt (FN 4), S. 87. 13 Zu diesem eigenartigen Versuch einer Affektgemeinschaft von Intellektuellen hat Christine Holste eine vorbildliche Studie vorgelegt: Christine Holste: Der Forte-Kreis (1910-1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Stuttgart 1992, darin zu Lukäcs S. 291 f. An der Haltung zum deutschen Militarismus zerbricht der Intellektuellenbund zur Einigung der Menschheitsvölker, in dem man sich Schmitt und Lukäcs nach ihren Kontakten und geistigen Positionsnahmen in der Vorkriegszeit sehr gut hätte vorstellen können. 14 Kurt Rosenfeld (1876-1943) war ein bedeutender politischer Strafverteidiger, der zusammen mit Paul Levi (1883-1930) u.a. Rosa Luxemburg vor Gericht verteidigte. 1917 gehörte er zu den Mitgründern der USPD. Vom November 1918 bis Januar 1919 war Rosenfeld preußischer Justizminister. Er gehörte dem Reichstag von 1920 bis 1932 an. Rosenfeld ist, wie Paul Levi, der zahlenmäßig sehr kleinen Gruppe von Politikern der Linken zwischen KPD und SPD zuzurechnen, die über mehr als Parteidisziplin verfügten. Die Kommunisten taten ihnen Unrecht, sie Abtrünnige, die Sozialdemokraten, sie Bekehrte zu nennen. Zu Rosenfeld siehe Hanno Drechsler: Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), Meisenheim a. Glan 1965. 15 Kurt Rosenfeld an Carl Schmitt, Brief vom 03.12.1928. Rosenfelds 1905 geborene Tochter Hilde war mit Otto Kirchheimer, einem Bonner Doktorand Carl Schmitts, verheiratet. Rosenfeld bezieht sich in
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Jenö Landlers 1928 in der sozialistischen Arbeiterpartei Ungarns den Auftrag erhielt, die Programmatik der Partei zu reformulieren, sollte aus Wien ausgewiesen und an Ungarn ausgeliefert werden. Franz Ferdinand Baumgarten, Richard Beer-Hofmann, Richard Dehmel, Paul Ernst, Bruno Frank, Maximilian Harden, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Thomas Mann und andere setzten sich für Lukäcs ein. 16 Der um Hilfe gebetene Carl Schmitt intervenierte nicht. 17 Wir wissen nicht, ob Schmitt die kurz zuvor (1928) erschienene Rezension der zweiten Auflage der Politischen Romantik durch Lukäcs bereits gelesen hatte, als er sich der Bitte Rosenfelds versagte. Lukäcs' Rezension jedenfalls ist voll des Lobes ob der richtigen Diagnose der Romantik. Lukäcs teilt auch die Kritik an der Romantik, kein Wort der Verteidigung fallt. Was er anmahnt, sind die positiven Schlüsse, die zu ziehen wären, die realgeschichtliche Erklärung der Phänomene, und schließlich kann er nicht Schmitts Verzicht, die Zuordnung "bürgerlich" weiter zu differenzieren, mitmachen. 18 Gab es einen Zusammenhang zwischen dieser Rezension und der Anfrage Rosenfelds? Lukäcs' Ausweisung wurde dank der Proteste verhindert, aber sein Einfluß in der ungarischen Arbeiterpartei ist in der Folgezeit immer geringer geworden. 1930 wird er mit einem Jahresstipendium ans Marx-Engels-Institut nach Moskau abgeschoben. 19 1931 feiern die deutschen Intellektuellen Hegels 100. Todestag, und dabei geht es implizit nicht zuletzt um "das Schicksal des deutschen Geistes". Lukäcs trifft 1931 in Berlin ein, und zwar - was bemerkt werden sollte - nicht als ungarischer, sondern als deutscher Kommunist. Lukäcs arbeitet intensiv an einem Aufsatz mit dem Titel Der Thermidor: der junge und der alte Hegel,20 Der Aufsatz ist verschollen, aber der Titel verweist auf die Fragestellung von "Der junge Hegel", das große Werk, das Lukäcs 1938 in Moskau abschließt. Wir wissen nicht, ob Lukäcs, der sich 1931-1933 in Berlin in die deutsche Hegel-Diskussion stürzt, 21 den Rundfunkvortrag gehört hat, den Schmitt 1931 zum Thema "Hegel und Marx" gehalten hat, und der leider nur teilweise über-
diesem Brief auf eine Empfehlung seiner Kinder. Nachdem alle Bemühungen sozialdemokratischer und demokratischer Politiker vergeblich gewesen seien, bliebe nur noch der Weg offen, durch deutsche Zentrumspolitiker einen Einfluß in Wien auszuüben, um Lukäcs' Ausweisung zu verhindern. - Das Dokument wurde mir dankenswerterweise von Piet Tommissen zur Verfügung gestellt. 16 Istvän Hermann: Georg Lukäcs (FN 3), S. 119. 17 So Carl Schmitt mündlich gegenüber Piet Tommissen auf eine entsprechende Frage (briefliche Mitteilung an den Verfasser). 18 Georg Lukäcs: "Rezension von Carl Schmitt: Politische Romantik. 2. Aufl. München/Leipzig 1925", Archiv für die Geschichte des Sozialismus der Arbeiterbewegung, Bd. XIII (1928), S. 307-308 (aufgenommen in: Georg Lukäcs: Werke, Frühschriften II, Bd. 2, Neuwied/Berlin 1968, S. 695 f.). 19 Vgl. Istvän Hermann: Georg Lukäcs (FN 3), S. 118. 20 Vgl. Laszlo Sziklai: Georg Lukäcs und seine Zeit. 1930-1945, Berlin 1990, S. 91. Der Aufsatz sollte in einem 400 Seiten umfassenden Sammelband Hegel und sein Erbe. Beiträge zur marxistischen Kritik der Hegeischen Philosophie erscheinen. 21 Vgl. die Angaben bei Sziklai, ebd. S. 90 ff. sowie bei Rafael de la Vega: Ideologie hegelianische Radikalismus der Marxistischen "Linken", Marburg 1977, S. 84 f.
ab Utopie.
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liefert ist.22 Aus dem verbliebenen Resttext geht hervor, daß Schmitt das Verhältnis zwischen Hegel und Marx ganz nah bei der Lukäcsschen Position der 20er Jahre entwickelt. Wichtig - so Schmitt - sei nicht, wer gegenüber dem anderen origineller oder selbständiger sei. Von Bedeutung sei zunächst die "dialektische Methode" und dann ihre Anwendung "auf die konkrete, gegenwärtige politische Wirklichkeit". Die Methode beinhalte, "daß besonders nachdrücklich betonte Gegensätzlichkeiten, z.B. (historischer) Materialismus gegen Idealismus, Ökonomie gegen Ideologie oder scharfe polemische Negationen nur eine besonders intensive Art des dialektischen Zusammenhanges beweisen können". Was die Anwendung betrifft, die "konkrete Dialektik", so sieht Schmitt das Kernproblem in der je tief aktuellen Bestimmung der Seiten des Gegensatzes. Hegel und Marx seien auch nicht darin festzulegen, daß der junge Marx den alten Hegel als Verteidiger des status quo attackierte. Vielmehr lenkt Schmitt die Aufmerksamkeit der Hörer auf den jungen Hegel, der "eine politisch-polemische Definition des Bourgeois" gegeben habe, die wichtiger sei, als alle Auseinandersetzungen um den alten Hegel. 23 Schmitt stellt insgesamt im überlieferten Resttext einen revolutionären Hegel vor, einen linken Hegel. "Der Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff des marxistischen, wissenschaftlichen Sozialismus kann nur von einer solchen dialektischen Geschichtsphilosophie verstanden werden. Georg Lukäcs hat das mit großer Kraft bewiesen." 24 Die anläßlich des Hegeljubiläums aufgeworfene Frage der Aktualität Hegels ist nicht schnell zu beantworten. In der zweiten Auflage von Der Begriff des Politischen (1932) werden die Linien weitergeführt. Von Hegel stamme die erste politisch-polemische Definition des Bourgeois als eines unpolitischen Privatmenschen, aber auch eine furchtlose Definition des Feindes. Daran schließt sich die berühmte Reflexion der Frage an, "wie lange der Geist Hegels wirklich in Berlin residiert hat". Hegel sei über Marx zu Lenin nach Moskau gewandert, und bei Lukäcs sei "diese Aktualität Hegels am stärksten lebendig". Seit "1840" - damit ist die Thronbesteigung jenes preußischen Monarchen gemeint, der zu feige war, erster gewählter Erbkaiser des Deutschen Reichs zu werden - habe es die preußische Elite vorgezogen, sich von Julius von Stahl eine "konservative" Staatsphilosophie liefern zu lassen. 25 Zuerst Herbert Marcuse und dann Karl Löwith haben die Korrektur der Reflexion über Hegels Verbleib angezeigt, die Schmitt 1933 in der dritten Auflage vornahm, und
22 Der Rundfunktext ist in Piet Tommissen (Hg.): Schmittiana IV, Berlin 1994, S. 49-52 abgedruckt. Den Hinweis auf Lukäcs verdanke ich Piet Tommissen. 23 Dies ist eine wichtige Verschiebung zur Position der "Parlamentarismusschrift". Hier war es noch Marx, dem die Leistung zugesprochen wurde, den Bourgeois zu einer welthistorischen Figur erhoben zu haben (Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 3. Aufl., Berlin 1961, S. 73 f.). 24 Wenn es heißt "Weder die Gracchen, noch Michael Kohlhaas noch Thomas Münzer sind Sozialisten", so ist dies eine Fixierung auf die Lukäcssche Position. 25 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen,
2. Aufl., München 1932, S. 50.
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die z u s a m m e n mit d e m D i k t u m Schmitts, daß "Hegel g e s t o r b e n sei" ( 1 9 3 3 ) , v o n linker Seite w i e d e r h o l t a u f g e g r i f f e n w u r d e . 2 6 In Lukäcs' M o s k a u e r Jahren entstehen z w e i W e r k e mit u n t e r s c h i e d l i c h e n B e z ü g e n zu Schmitt. W a s d i e p o l i t i s c h - p o l e m i s c h e D e f i n i t i o n des B o u r g e o i s angeht, s o ist Lukäcs in s e i n e m 1 9 3 8 b e e n d e t e n Jungen Hegel der S a c h e n a c h g e g a n g e n . Ihre tieferen Schichten fänden sich in H e g e l s Berner Zeit, in der dieser d e n U n t e r g a n g der antiken Republiken mit ihrem ö f f e n t l i c h - militanten Bürgergeist auf das Christentum zurückführte, das j e n e m lächerlichen P r i v a t m e n s c h e n vorgearbeitet habe, der d i e G e g e n w a r t beherrsche - s o in den w i e d e r k e h r e n d e n V e r g l e i c h e n z w i s c h e n Jesus und Sokrates. D e r j u n g e H e g e l akzentuiere, "daß Jesus seine Schüler aus dem Leben, aus der Gesellschaft herausnimmt, sie von ihr isoliert, sie in Menschen ummodelt, deren Hauptzug gerade dieses Schülertum ist, während bei Sokrates die Schüler sozial bleiben, was sie sind, wobei auch ihre Individualität nicht künstlich umgeformt wird. Die Schüler Sokrates' kehren also bereichert ins öffentliche Leben zurück, 'jeder seiner Schüler war Meister für sich; viele stifteten eigene Schulen, mehrere waren große Generale, Staatsmänner, Helden aller Art', während bei Jesus eine engstirnige, geschlossene Sekte entstanden ist; 'er wäre unter den Griechen ein Gegenstand des Lachens geworden'." 27 B e m e r k e n s w e r t ist der U m g a n g mit Schmitt, den L u k ä c s in d e m anderen g r o ß e n W e r k k o m p l e x praktiziert, der 1 9 5 4 mit Die
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a b g e s c h l o s s e n wird. 2 8
26 Vgl. die differenzierten Angaben bei Manfred Lauermann: Georg Lukäcs (FN 2), S. 81 f. Die Korrekturen von 1933, die Schmitt in seiner Editionspraxis nach 1945 zurücknimmt (1963 legt Schmitt die zweite Auflage von 1932 neu vor) scheinen denn doch mehr gewesen zu sein als nur opportunistische Anpassung an die Nazis, wenn die fruchtbare These von Heerich und Lauermann zutrifft: "Schmitt unterlegt seiner Interpretation der Machtergreifung 1933 ein spinozistisches Gedankenkonzept." (Thomas Heerich u. Manfred Lauermann: "Der Gegensatz Hobbes - Spinoza bei Carl Schmitt [1938]", Studiana Spinozana, Vol. 7 [1991], S. 97-160, hier S. 107) Zu Hegel und Schmitt vgl. Reinhard Mehring: Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989; Jean-François Kervégan: Hegel, Carl Schmitt, Le politique entre spéculation et positivité, Paris 1992. 27 Georg Lukäcs: Der junge Hegel, Berlin 1954, S. 81. Die Hegelzitate bei Lukäcs stammen aus der Nohlschen Ausgabe von 1907, die auch Carl Schmitt kannte. 28 Die Entstehungsgeschichte von Die Zerstörung der Vernunft ist kompliziert. Bereits im August 1933 hatte Lukäcs in Moskau ein über 200seitiges Typoskript "Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden?" abgeschlossen. Lukäcs setzt sich hier mit Spengler, Spann, Moeller van den Bruck, Heidegger, Bäumler, Jünger, Best, Schauwecker, Freyer, Fischer, Feder und Rosenberg auseinander. Schmitt bleibt aus der Reihe der geistigen Wegbereiter Hitlers ausgespart. Schmitt wird auch nicht in dem zweiten Typoskript "Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden?" behandelt, das der aus Moskau evakuierte Lukäcs 1942 in Taschkent fertiggestellt hat. Der taschkenter Text ist um den Teil über den "Sozialfaschismus" der SPD, der 1933 noch dabei war, erleichtert und hat in der Linienführung schon das Profil der Zerstörung der Vernunft. Mit Nietzsche kommt der Irrationalismus in Fahrt. Bezug genommen wird dann auf Weber, Plenge, Sombart, Husserl und Heidegger, Bäumler und Klages, Spengler, Jünger, Freyer und Rosenberg. Die beiden Typoskripte wurden von Läszlo Sziklai aus dem Nachlaß herausgegeben (Budapest 1982).
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Schmitt ist plaziert an der Stelle des "Einmünden(s) der deutschen Soziologie in den Faschismus". 29 Im Vergleich zu Mannheim schneidet Schmitt weitaus besser ab. Schmitt erscheint bei Lukäcs dem liberalen Neukantianismus in etlichen Punkten überlegen. Die zwischen den Zeilen ausgedrückten Zustimmungen sind unüberhörbar. Ja, an einer entscheidenden Stelle liest er Schmitts "substantielle Gleichartigkeit des ganzen Volkes" eher verharmlosend, indem er diese Formulierung stillschweigend mit Hermann Hellers Kategorie der "sozialen Homogenität" zur Deckung bringt. 30 Lukäcs verzichtet darauf, auch nur eine einzige der zahlreichen antisemitischen Äußerungen von Schmitt zu zitieren. Im etwas später geschriebenen Nachwort werden die Angriffe schärfer. Lukäcs zielt auf Schmitts Verteidigungsschrift Ex captivitate salus (Köln 1950). Sich mit Hobbes zu vergleichen, der sich inmitten der konfessionellen Bürgerkriege in einer unauffälligen Verborgenheit hielt - diese Verteidigungslinie Schmitts weist Lukäcs zurück. Der "kleine" - aber weder philosophisch, noch politisch-moralisch unwesentliche - Unterschied ist, daß Hobbes für den damaligen Fortschritt eintrat, Schmitt für die extremste Reaktion seiner Gegenwart. Aber in dieser Analogie steckt noch mehr: Schmitts Bekenntnis zur Fortsetzung seiner Kampftätigkeit auf dem äußersten Flügel der militanten Reaktion. Seine Konstruktion der Analogie ist ja folgende: "Wie es Hobbes damals gleichgültig war, ob die Liquidation des Feudalismus, die Errichtung eines modernen bürgerlichen zentralisierten Staates von den Stuarts oder von Cromwell vollzogen würde, so ist es ihm - Carl Schmitt - gleichgültig, ob die Diktatur sans phrase des Monopolkapitalismus von Hitler, Eisenhower oder von einem neu entstandenen deutschen Imperialismus errichtet wird."31
Konnte von Schmitt ein klares Nein zum Nationalsozialismus erwartet werden? Lukäcs verweist auf Niemöller, Wiechert und Niekisch und baut im Nachwort zur Zerstörung der Vernunft eine Linie der Argumentation auf, die er bis in die 60er Jahre wiederholen wird: Es gibt eine Spaltung zwischen den Intellektuellen, die es verstehen, sich als gesellschaftliche Wesen zu vermitteln, und jenen, deren letzte anthropologische Worte Einsamkeit und Inkognito lauten. "Nacheinander haben sich Heidegger, Jünger und C. Schmitt, Benn und andere leidenschaftlich zum 'ewigen' Inkognito der menschlichen Persönlichkeit bekannt, zum schicksalhaften VerstecktbleibenMüssen ihrer wahren Motive inmitten der bloß äußerlichen Taten. Die Begebenheiten, hinter denen diese Mysterien des Inkognito brüten, konzentrieren sich verständlicherweise auf die Beteiligung der erwähnten Autoren am Hitler-Regime, auf Heideggers Verherrlichung Hitlers als Rektor der Freiburger
29 Georg Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 516. Lukäcs' Aufsatz "Die deutsche Soziologie zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg", Außau, 1. Jg., Heft 6 (1946), S. 585600 ist in modifizierter Form in diese Ausgabe übernommen. 30 Bei Lukäcs heißt es: Schmitt "betrachtet die soziale Homogenität als Voraussetzung des Parlamentarismus: 'Die Methode der Willensbildung durch einfache Mehrheitsfeststellung ist sinnvoll und erträglich, wenn eine substantielle Gleichartigkeit des ganzen Volkes vorausgesetzt werden kann. ' " (Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932, S. 31; Georg Lukäcs: Die Zerstörung [FN 29], S. 519) 31 Georg Lukäcs: Die Zerstörung
(FN 29), S. 664.
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Universität, auf Schmitts Rechtstheorien und Rechtspublizistik im Dienst der Hitlerschen Aggressionen usw. Die Tatsachen waren zu bekannt, um glatt verleugnet werden zu können. Wenn aber das undurchdringliche Inkognito die entscheidende 'condition humaine' ist, wer kann es wissen, ob - in diesem Inkognito - Heidegger oder Schmitt nicht glühende Gegner Hitlers waren, während sie ihn in der Welt der 'Äußerlichkeit' unterstützten?" 32 In der N e u a u s g a b e der v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n A u f s ä t z e bringt S c h m i t t 1 9 5 8 g e z i e l t V e r w e i s e zu L u k ä c s an, d i e einer tief e m p f u n d e n e n V i r u l e n z A u s d r u c k v e r l e i h e n . In d e m berühmten Schlußteil der Lage der europäischen Rechtswissenschaft ( 1 9 4 3 / 4 4 ) , in d e m es um d e n "unzerstörbaren Kern a l l e n Rechts g e g e n ü b e r a l l e n z e r s e t z e n d e n Setzungen" geht und in d e m d i e A u f s p a l t u n g des Rechts in Legalität und L e g i t i m i t ä t als fortwirkendes V e r h ä n g n i s des 19. Jahrhunderts thematisiert w i r d , inseriert S c h m i t t e i n e W ü r d i g u n g v o n L u k ä c s "Legalität und Illegalität" ( 1 9 2 0 ) als e i n e s A u f s a t z e s , "der wichtiger und aktueller ist als d i e g r o ß e M a s s e der seit 1 9 2 0 e r s c h i e n e n e n S c h r i f t e n zur R e c h t s p h i l o s o p h i e und z u m Naturrecht, w e i l er d i e F r a g e richtig unter d i e B e g r i f f e 'Legalität und Legitimität' gestellt hat". 3 3 D i e s e A n e r k e n n u n g g e h t mit d e m 1 9 5 8 freilich recht späten V e r s u c h einher, "die g r o ß e H e g e l - N a h m e , d i e G e o r g L u k ä c s ins W e r k setzt" a b z u w e h r e n . H e g e l s P h i l o s o p h i e sei e i n "System v o n V e r m i t t l u n g e n " , nichts berechtige, "aus H e g e l e i n e n absoluten B e s c h l e u n i g e r zu m a c h e n " , der für d i e S c h u l u n g v o n Berufsrevolutionären t a u g e . 3 4
32 Georg Lukäcs: Die Gegenwartsbedeutung Neuwied 1971, S. 478.
des kritischen Realismus (1957), in: ders.: Werke, Bd. 4,
33 Carl Schmitt: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 bis 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 426. Der Verweis wird auf S. 450 erneut angebracht. Zu den versteckten Bezügen siehe Manfred Lauermann: Georg Lukäcs (FN 2), S. 82 f. 34 Carl Schmitt: Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 33), S. 429. Auch danach verlieren sich Lukäcs und Schmitt nicht aus dem Sinn. Am 5. Januar 1964 weist Schmitt in einem Brief Piet Tommissen auf eine Sendung des Deutschlandfunks über Lukäcs hin und erinnert sich dabei an die "Richterstellung", die Lukäcs in Die Zerstörung der Vernunft Niekisch zuerkannt habe. Die Ausführungen von Lukäcs zum Mangel an Zivilcourage unter Hitler, die vier Tage später im Radio zu hören waren, klingen gelassener als die aus den 50er Jahren. "Man kann von einer Weltanschauung überflutet werden", bemerkte er zu dem autobiographischen Bericht Fazit, den die ehemalige BDM- und Reichsarbeitsdienst-Führerin Melita Maschmann 1963 publiziert hatte. Lukäcs erinnerte daran, daß es die Inkognito-Haltung von Schmitt und Heidegger auch bei Kommunisten in der Stalinära gegeben habe, und sprach von dem Guerilla-Kampf, zu dem viele damals gezwungen waren. 1966 verzichtet Lukäcs auf das SchmittKapitel bei der Taschenbuchausgabe von Die Zerstörung der Vernunft. Am 9. Juni 1971 schreibt Schmitt an Julien Freund: "La nouvelle de la mort de George Lukäcs m'emeut profondément. " Schmitt spricht von "quelques parallèles entre sa vie et dans la mienne" und schickt Freund ein Kapitel über Lukäcs aus der Erlanger Dissertation Hans Dietrich Sanders, dessen ghibellinische Träume heute zum unbelehrbaren strategischen Irrationalismus am deutschen rechtsradikalen Rand gehören. (Die Briefstellen von Schmitt hat mir Piet Tommissen dankenswerterweise mitgeteilt. Die Sendung vom 9. Januar 1964: Günter Specorius: "Georg Lukäcs - Besuch bei einem Revisionisten", ist als Tondokument erhalten.)
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II. Überblickt man diese gegenseitigen Kenntnisnahmen, von denen sich bei Durchsicht der Nachlässe vielleicht noch weitere finden ließen, so wird man sagen können, über die Zuordnung des anderen zum gegnerischen Lager hinausgehend, würdigen Lukács und Schmitt sich als den je anderen, der über eine besonders zutreffende Wahrnehmung der Probleme verfügt, trotz der diametralen Konsequenzen, die sie praktisch gezogen haben. Auf ihr Verhältnis trifft in einem gewissen Sinne das familiale und ebenso geschichtsphilosophische Diktum Schmitts zu: "Man lebt immer unter dem Blick des radikaleren Bruders, der einen zwingt, die praktische Konklusion zu Ende zu führen." 35 Diese Ebene aufzuklären, ist das eigentlich Schwierige. Denn es wäre ja die Beschreibung eines Ortes, von dem aus "Les Vies parallèles" als Parallelen zu erblicken wären. Die Forschung im Detail hilft uns hier nicht weiter, da wir zu klären haben, ob es eine zeitgeschichtliche oder historische Forschung wäre. 36 Das Auffinden der Ebene, auf der sich die Antipoden Lukács und Schmitt anerkennen, ist nicht von der Frage abzulösen, ob und wenn ja wie der Nationalsozialismus bzw. der Bolschewismus historisiert oder aktualisiert werden sollen, können oder müssen. Es gibt die bekannten unbefriedigenden Lösungen, auf die man zur Not zurückkommen kann. Etwa die Lösung, mit akribischer Gelehrsamkeit die Rißlinien zwischen Lukács und dem Bolschewismus, zwischen Schmitt und dem Nationalsozialismus zu vergrößern, sie von der geschichtlichen Verstrickung möglichst abzutrennen, um sie als Klassiker zu retten und unschädlich zu machen. Es gibt auch die Lösung, sich über eine Totalitarismustheorie in die Mitte zu flüchten. Aber wenn man sie denn zu Klassikern gemacht hat, was wüßte man über unsere Gegenwart mehr? Und wenn man sich im Antiradikalismus einigt, woher sollte man die Kraft für die Mitte hernehmen? Die Klugheit gebietet es, beide Notlösungen in Reserve zu halten. Als Antwort auf das Historisierungsproblem sind sie freilich nicht ausreichend. Schon ihre Umkehrung verspricht mehr Erkenntnis. Wie soll man die bedeutenden Bewegungen des Bolschewismus und Nationalsozialismus überhaupt verstehen, wenn man die Intellektuellen, die sich an die Seite von Stalin und Hitler gestellt haben, wegnimmt? Wer kann denn den Sinn der stalinistischen Selbstverleugnungsrituale überhaupt erklären, wenn nicht ein Mensch wie Georg Lukács? Wer kann denn das Sich-Hitler-Zur-Verfügung-Stellen überhaupt erklären, wenn nicht ein Mensch wie Carl Schmitt? Beide haben den Reichtum des europäischen Denkens ja nicht aus tumber Tölpelhaftigkeit oder Feigheit oder Gefühlskälte oder ähnlichem mit Hitler und Stalin verbunden, sondern sie hatten Gründe und konnten sie weit besser darlegen als andere ihrer Zeit. Für wichtige Dinge braucht man gute Interpreten.
35 Carl Schmitt: "Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen", in: ders.: Der Begriff Politischen, 2. A u f l . , München 1932, S. 67.
des
36 Wer im Krebsgang weiterforschen wollte, könnte sich die Frage stellen, ob es nicht eine ältere Kampflinie ist, die den radikalen Sozialisten Lukäcs und den konsequenten Katholiken Schmitt als Gegner Bismarcks und als Antiliberale affin erscheinen lassen.
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Ich verkenne nicht das Problem, das in der Sorge liegt, Lukács und Schmitt könnten vielleicht zu gute Interpreten sein, sie könnten so gut sein, daß sie noch einmal überzeugen. Und die antiradikale Flucht in die Mitte ist bisweilen ja gepaart mit der Angst vor der Kraft mythischer Extreme. Dem kann abgeholfen werden, wenn man sich der Erkenntnismittel radikaler Aufklärung heute bedient. Gilles Deleuze z.B. hat gezeigt, wie man das Bild von der Mitte umkehren kann. Weit entfernt davon, ausgleichender Ruheplatz zwischen dem Drängen der Extreme zu sein, ist die Mitte Ort der Tiefe und höchsten Beschleunigung dann, wenn man an Flüsse denkt. 37 Wenn man sich dieser Strömung einer Aufklärung der Aufklärung, d.h. einer Potenzierung der Aufklärung anvertraut, so kann Historisierung gelingen, ohne daß der akute Kern in die Vergangenheit weggeworfen wird. Dazu bedarf es freilich komplexer Denkformen, wie sie unter der Frage nach dem "Ende der Neuzeit" und der "Postmoderne" entstanden sind. Produktiv verstanden, benennt "postmodern" außerhalb stilgeschichtlicher Moden keine Epoche, die an die Moderne anzuhängen wäre oder die es einzuläuten gelte, sondern umschreibt wohlverstanden einen Modus des Denkens, der sich auf die verschiedenen Weisen der Moderne, sich selbst zu begreifen, richtet. Postmoderne Reflexion löst nichts ab, substituiert nichts, ist kein funktionales Äquivalent, sondern nimmt Modernität so in den Blick, als ob es sich beim Projekt der Moderne um ein endliches, überschaubares Ensemble hergestellter Wirklichkeiten handle. Dieser Reflexionsmodus impliziert nicht die Behauptung eines Endes von Modernität, wohl aber ermutigt er das Gedankenexperiment zu wagen: Nehmen wir an, das, was an Modernität bekannt ist, wäre schon die Hauptsache gewesen, und wir wären in der Situation, uns aus Vorliegendem und Erfahrenem eine Moderne auswählen zu können. Der postmoderne Fiktionalismus des "Als ob" richtet sich auf das endliche und begrenzte Repertoire der verschiedenen Modernen, die Europa hervorgebracht hat und deren Überbietung sich verbietet. Solches Denken vermag sich an geschichtliche Erwartungen und Erfahrungen zu binden, die integraler Bestandteil der Moderne sind und so eine ethische Problematisierung einleiten können. Es sind ja wiederkehrend der "Archipel Gulag", "Auschwitz" und "Hiroshima", die als Geschichtszeichen der Moderne dem 20. Jahrhundert zugerechnet werden müssen, weil sie dem europäischen Selbstbild entsprechend nicht von primitiven unterentwickelten Völkern, von Barbaren, sondern von Kollektiven ins Werk gesetzt wurden, die auf die geistige Höhe ihrer Kultur stolz sein mußten und es ja auch waren. Die Postmoderne-Debatte, deren Ende nun viele für gekommen sehen, ist immer gefährdet gewesen, dem angenehmen oder unangenehmen Reiz des Schlagworts zu erliegen. Dabei wurde der Ernst der Situation verkannt, daß es bei der Verweigerung der Anstrengung für komplexes Denken - dem der Terminus "Postmoderne" ein vorübergehendes Asyl gewährt - nur die ungebrochene Rückkehr nach Weimar gibt, d.h. eine naive Historisierung, die gleich aufs Ganze gehen will. Die postmoderne Reflexion, als ob es sich bei der Moderne um ein endliches, überschaubares Ensemble hergestellter Wirklichkeiten handle, kann als Fiktion nie das Ganze sein, sondern sie ist ein Zusatz,
37 Gilles Deleuze: Kapitalismus
und Schizophrenie.
Tausend
Plateaus,
Berlin 1992, S. 41 f.
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ein Supplement, etwas, das die Modernitätsauffassung begleitet, ohne sich integrieren zu lassen. Wenn die Gewichte so verteilt werden, könnte eine komplexe Historisierung und Aktualisierung der Modernitätsauffassungen von Lukäcs und Schmitt vielleicht gelingen.
III. Die Modernitätsauffassungen von Lukäcs und Schmitt richten sich auf die Frage: Welche Form hat die moderne Gesellschaft? Es ist dies eine Frage, die sie gemeinsam haben und die sie von intellektuellen Weggefährten wie Ernst Bloch einerseits und Ernst Jünger andererseits trennt. 38 Lukäcs hat mit Blochs prophetischem Aufruhr ebensowenig anfangen können wie Schmitt mit Jüngers martialischen Ekstasen. Das ausgeprägte Interesse für die Formen kommuniziert freilich mit unterschiedlichen Startpunkten. Lukäcs kommt von der Ästhetik, Schmitt von der Juristerei. In beiden Bereichen kann der Sinn für Formen geschärft werden. Beide sind jedoch nicht auf ihre Startpunkte fixiert. Für Schmitt wird das Ästhetische ebenso bedeutsam werden wie für Lukäcs die Frage der Legalität und Legitimität, aber ihrer beider Schriften sind in hochgradigem Maße durchzogen von derselben Frage nach dem Urteil über mehr oder weniger gelungene Formen, in denen sich die Einheit der Moderne darstellt. Meine Parallellektüre setzt vor dem Ersten Weltkrieg ein. 1912 fragt Schmitt in Gesetz und Urteil: Wie kommt der Richter zu richtigen Urteilen? Und Lukäcs fragt 1911 in Die Seele und die Formen: Wie kommt der Essayist zu richtigen Urteilen? Für Schmitt 1912 beruht die Richtigkeit der richterlichen Entscheidung in der Hauptsache auf der Übereinstimmung der Entscheidung mit der Rechtspraxis. "Die Praxis rechtfertigt sich also durch sich selber", 39 und bei Lukäcs heißt es 1911: "Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Urteil ist das wesentliche und wertentscheidende an ihm [...], sondern der Prozeß des Richtens. 'l4° Wer aber gibt ihm das Recht? Lukäcs' Antwort lautet: "Es wäre beinahe richtig zu sagen: er nimmt es sich; aus sich heraus erschafft er seine richtenden Werte. Aber nichts ist vom Richtigen durch tiefere Abgründe getrennt als sein Beinahe, diese schielende Kategorie eines selbstgenügsamen und selbstgefälligen Erkennens. Denn tatsächlich werden im Essayisten seine Maße des Richtens erschaffen, doch er ist es nicht, der sie zum Leben und zu Tat erweckt: es ist der große Wertbestimmer der Ästhetik."
Der Essayist ist Vorläufer; "kraftlos [...] wird seine reinste Erfüllung sein stärkstes Erreichen, wenn die große Ästhetik gekommen ist." 41 38 Die folgenden Ausführungen sind meiner Freiburger Antrittsvorlesung vom November 1988 entnommen, die abgedruckt ist in Manfred Gangl u. Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt a.M. 1994, S. 145-159. 39 Carl Schmitt: Gesetz und Urteil, Berlin 1912, S. 86. 40 Georg Lukäcs: Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 38. 41 Ebd., S. 35 u. S. 36 f.
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Das Formproblem der Moderne
Es ist dies eine eigenartige Abhängigkeit des Essayisten. Es ist zwar seine Urteilspraxis, aber das Wertbestimmende ist emergent und überwältigend. Mit Schmitt könnte man fortfahren: "Ist eine bestimmte Methode, 'zu interpretieren', zur Herrschaft gelangt, dann ist damit den Erfordernissen der Rechtsbestimmtheit zu einem großen Teil genügt und die Entscheidungsgründe, die sich an derartige Interpretationen halten, begründen richtige Entscheidungen." 42 Im Ersten Weltkrieg entstehen Schmitts Politische Romantik und Lukäcs' Theorie des Romans,43 Roman und Romantik stehen paradigmatisch für das bürgerliche Zeitalter - für Lukäcs ein Zeitalter, "für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat". 44 Bei Schmitt erscheint diese Gesinnung in der Romantik als proklamierte "Verabsolutierung der Kunst", "alles Geistige, Religion, Kirche, Nation und Staat, fließt in den Strom, der von dem neuen Zentrum, dem Ästhetischen, ausgeht. Sofort aber vollzieht sich eine überaus typische Verwandlung. Die Kunst wird verabsolutiert, aber gleichzeitig problematisiert. Sie wird absolut genommen, aber durchaus ohne die Verpflichtung zu einer großen und strengen Form oder Sichtbarkeit. [...) Die neue Kunst ist eine Kunst ohne Werke, wenigstens ohne Werke großen Stils, eine Kunst ohne Publizität und ohne Repräsentation. Dadurch wird es ihr möglich, sich in tumultuarischer Buntheit aller Formen einfühlend zu bemächtigen und sie doch nur als ein belangloses Schema zu behandeln, und in einer von Tag zu Tag den Standpunkt wechselnden Kunstkritik und Kunstdiskussion immer von neuem nach dem Wahren, Echten und Natürlichen zu schreien." 45
- "Subjektiver Occasionalismus" lautet Schmitts Diagnose, "kontingente Welt und problematisches Individuum" lautet Lukäcs' Diagnose. Subjektiver Occasionalismus nährt das Gefühl, betrogen zu sein, nämlich um den concursus dei; wo kontingente Welt und problematisches Individuum zusammentreffen, steigert sich die Verzweiflung. Therapien zeichnen sich 1922 und 1923 ab in Schmitts Politischer Theologie und in Lukäcs' Geschichte und Klassenbewußtsein. Die Fragen lauten: Wie ist jene seltsame Tendenz zu begreifen, in der alle Phänomene romantisierbar werden, in der kontingente Welt und problematisches Individuum sich reproduzieren? Wo radikal ansetzen, um das Formproblem der modernen Gesellschaft, ihre Ungefugtheit und die Falschheit ihrer Formen in den Griff zu bekommen? "Von einem Sonntag zum anderen", so berichtet Anna Lesznai wurde Lukäcs "von Saulus zu Paulus", d.h. vom problematischen Individuum in einer kontingenten Welt
42 Carl Schmitt: Gesetz und Urteil (FN 39), S. 91. 43 Wie Antimodernismus und Romantikkritik bei Lukäcs und Schmitt zusammengehen, hat Karl Heinz Bohrer überzeugend gezeigt: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a.M. 1989. 44 Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer großen Epik, Neuwied/Berlin 1965, S. 53. 45 Carl Schmitt: Politische Romantik,
München/Leipzig 1919, S. 20.
Versuch Uber die Formen der
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Wolfgang Eßbach
zum marxistischen Revolutionär.46 Ins Zentrum von Geschichte und Klassenbewußtsein rückt das Marxsche Thema vom Fetischcharakter der Ware, für Lukäcs kein spezielles ökonomisches Thema, sondern das Zentralproblem der modernen Gesellschaft. Im Warenverhältnis ist "das Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft" gegeben.47 Begehren und Rationalität der Individuen und ihr lebendiger Zusammenhang untereinander gewinnen die Form der Ware, ein Urbild hinter all jener Pluralität der modernen Mächte. Ein Polytheismus zweifellos, aber als Glaube an Fetische: Warenfetischismus. Alle Formen des sozialen Zusammenhangs sind pulverisiert in Waren und Teilkalkulationen, als von einem Ding ausgehende Einzelrationalisierungen, eine bunte Pluralität, aber nach einer einzigen Stanzform, nämlich der der Ware. Alles ist beliebig romantisierbar, folgt demselben Absolutheitsschema des Ästhetischen, hatte Schmitt konstatiert; alles gewinnt das Urbild der Warenform, stellt Lukäcs fest. Eine Pluralität von Occasionen, aber die Stanzform, die Schmitt in seiner Politischen Theologie ins Auge faßt, ist anderer Herkunft. Das Thema lautet Souveränität. Die Verabsolutierung der Kunst verstellt das wahrhaft Absolute. Souveränität ist zur Stanzform geworden. Die Moderne hat ein Formproblem. Ihre Formlosigkeit und Ungefügtheit resultiert aus einem Nukleus, der freilich bei Lukäcs und bei Schmitt verschiedene Namen trägt. Der Nukleus bei Lukäcs heißt Ware, der Nukleus bei Schmitt heißt Souverän. Ware und Souverän, in diesen Zentren entscheidet sich das Schicksal der Moderne. "Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität", heißt es bei Schmitt.48 Die modernen Individuen wollen dies jedoch nicht wahrhaben. "Heute ist nichts moderner als der Kampf gegen das Politische. Amerikanische Finanzleute, industrielle Techniker, marxistische Sozialisten und anarcho-syndikalistische Revolutionäre vereinigen sich in der Forderung, daß die unsachliche Herrschaft der Politik über die Sachlichkeit des wirtschaftlichen Lebens beseitigt werden müsse. [ . . . ] Der moderne Staat scheint wirklich das geworden zu sein, was Max Weber in ihm sieht: ein großer Betrieb. "49
Was dominiert, sind fragwürdige Entpolitisierungen, die unpolitischen Autonomien der Gebiete (Wirtschaft, Recht, Kunst, Moral, Wissenschaft), die sich souverän dünken, d.h. die Stanzform Souveränität benutzen, ohne aus sich heraus die Situation als Ganzes in ihrer Totalität garantieren zu können. In der Diagnose kommt Lukäcs zu einem identischen Resultat. In der Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft kommt die Doppeltendenz zum Zuge, "daß sie die Einzelheiten ihres gesellschaftlichen Daseins in steigendem Maße beherrscht, den Formen ihrer Bedürfnisse unterwirft, zugleich aber - ebenfalls in steigendem Maße -
46 Siehe David Kettler: "Culture and Revolution, Lukäcs in the Hungarian Revolution of 1918-1919", Telos, Nr. 10 (1971), S. 69. 47 Georg Lukäcs: Geschichte und Klassenbewußtsein. S. 94. 48 Carl Schmitt: Politische 49 Ebd., S. 82.
Theologie,
Studien über marxistische
2. Aufl., München/Leipzig, 1934, S. 20.
Dialektik,
Berlin 1923,
Das Formproblem der Moderne
151
die Möglichkeit zur gedanklichen Bewältigung der Gesellschaft als Totalität und damit die Berufenheit zu ihrer Führung verliert".50 Mit Schmitt könnte man fortfahren, "der Kern der politischen Idee, die anspruchsvolle moralische Entscheidung, (ist) umgangen".51 Warencharakter und Souveränitätscharakter - wo liegt die Wurzel für das Formproblem der Moderne? Verdinglichung und Entpolitisierung: sind dies zwei Seiten derselben Medaille? Ist es die Verdinglichung des Bewußtseins, die zur Entpolitisierung führt? Ist es eine Entpolitisierung, die in Verdinglichung mündet? Beide Erklärungsrichtungen machen Sinn, und sie liegen um Haaresbreite nebeneinander. Dennoch, die Lösungen für das Formproblem der Moderne werden anders sein, je nachdem, ob man von der Ware und Verdinglichung ausgehend die Lösungsintention darlegt, oder ob man eine Lösung von der Souveränität und Entpolitisierung her aufbaut. Darin einig, die Inkohärenz einer ungeliebten Moderne kohärent zu machen, die Formlosigkeit zu überwinden, entstehen bei Lukäcs und Schmitt Konzepte, die nicht nur weit auseinanderliegen, sondern die in fataler Weise in ihren Resultaten den Startpunkt des anderen im Zerrspiegel halten. Auf die Formel gebracht: Bei Lukäcs führt die Konstruktion von der Kritik der Verdinglichung zur Wiedergeburt eines absolutistischen Subjekts. Bei Schmitt führt die Konstruktion von der Kritik der Entpolitisierung zur Wiedergeburt einer absoluten Homogenität. Zunächst Lukäcs. Von der Warenstruktur her gedacht, ist allein die Ware, die u.a. auch Subjekt ist, in der Lage, die universelle Verdinglichung umzukehren: die Ware Arbeitskraft. Man lasse sich nicht von Lukäcs' Bekenntnis zur marxistischen Orthodoxie täuschen. Zwischen der Marxschen Lehre vom Wert der Arbeit und der Lukäcsschen Theorie der Verdinglichung liegen Welten. Lukäcs schreibt nicht das Produktionsparadigma der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft radikal weiter. "Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität."52 Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Situation der Ware Arbeitskraft einzigartig: Sie ist das identische Objekt/Subjekt, sie ist das Totale. Wenig zählt bei Lukäcs, daß Arbeiter Interessen haben - Interessen haben viele; wenig zählt auch, was sich die Arbeiter zur Anschauung bringen - verdinglichte Prozesse haben viele Zuschauer. Zentral ist: das Warensubjekt begreift sich selbst in seiner Form, die zugleich Urbild aller Objekt- und Subjektformen der modernen Gesellschaft ist. Die Selbsterkenntnis der Ware Arbeitskraft ist zugleich die Geburt des proletarischen Klassensubjekts. In diesem Klassensubjekt hat sich für Lukäcs nicht zuletzt etwas von jener großen Ästhetik erfüllt, die den Essayisten kraftlos werden läßt. In der großen Ästhetik hatte Lukäcs die Idee eines Menschen gefunden, "für den seine Tendenz, sich eine Form zu geben, nicht eine abstrakte, die konkreten Inhalte beiseite lassende Rationalität bedeutet;
50 Georg Lukäcs: Geschichte und Klassenbewußtsein 51 Carl Schmitt: Politische
(FN 47), S. 134.
Theologie (FN 48), S. 81.
52 Georg Lukäcs: Geschichte und Klassenbewußtsein
(FN 47), S. 39.
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Wolfgang Eßbach
für den Freiheit und Notwendigkeit zusammenfallen". 53 Der bolschewistischen Partei dienen, heißt bei Lukäcs implizit immer auch, dem Politischen eine schöne Form zu geben. Wiedergeburt eines absolutistischen Subjekts bei Lukäcs - Wiedergeburt absoluter Homogenität bei Schmitt. Von der Souveränität her gedacht, ist allein der Staat in der Lage, die zweifelhaften Entpolitisierungen umzukehren, der sich zu den Heterogenitäten der Moderne in eine Entscheidungsposition bringt. Die Staatsphilosophie der Gegenrevolution ist aktuell, weil sie sich dessen bewußt ist, "daß die Zeit eine Entscheidung verlangt". 54 Ausweichen, neutralisieren auf einer höheren Ebene, die Verschiebung in ein Subsystem, diskutieren im ewigen Gespräch - all dies führt zu einer Pluralisierung der Mächte, zu einer Pluralität von Souveränen, die sich als Unpolitische tarnen. "In der konkreten Wirklichkeit des politischen Seins regieren und herrschen keine abstrakten 'Ordnungen' und Gesetzmäßigkeiten, sondern es regieren und herrschen immer nur sehr konkrete Menschen und Verbände über andere ebenso konkrete Menschen und Verbände. So hat auch hier politisch gesehen die Herrschaft 'der' Moral, 'des' Rechts, 'der' Wirtschaft, 'der' Wissenschaft, 'der' Kunst, 'der' Norm einen politischen Sinn, und die Entpolitisierung ist nur eine politisch besonders brauchbare Waffe des politischen Kampfes." 55
Für die moderne Gesellschaft ist die "Politik das Totale". 56 Sie hat kein Außen mehr, auf das sich Politik gründen könnte. Die Heterogenitäten der Moderne sind politische Heterogenitäten in vollendeter Immanenz. Schmitt identifiziert den Pluralismus der Moderne als Bürgerkrieg, als perennierenden Ausnahmezustand. Wenn Politik kein Außen mehr hat, auf das sie sich gründen könnte, so bleibt nur der Weg, das Außen im Innen zu suchen, d.h. im Felde der Heterogenitäten selbst. Politik gründet sich auf Feinderklärung, die dann zwingend ist, wenn irgendein ansonsten harmloser Gegensatz eine bestimmte Intensität erreicht hat, in der Feinderklärungen anfallen. Der politische Feind ist "der andere, der Fremde und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas Anderes und Fremdes ist". 57 Der Staat muß sich, wenn er souverän sein will, gegen diese Krise der Moderne behaupten, d.h. er muß sich gegen das existentiell Andere und Fremde entscheiden, um eine substantielle Homogenität herzustellen. 1933 heißt diese Homogenität "Artgleichheit". "Ein Artfremder mag sich noch so kritisch gebärden und noch so scharfsinnig bemühen, mag Bücher lesen und Bücher schreiben, er denkt und versteht anders, weil er anders geartet ist, und bleibt in jedem entscheidenden Gedankengang in
53 Georg Lukäcs: Geschichte 54 Carl Schmitt: Politische
und Klassenbewußtsein
(FN 47), S. 151.
Theologie (FN 48), S. 69.
55 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen,
3. Aufl., Hamburg 1933, S. 53 f.
56 Carl Schmitt: "Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (1933)", in: ders.: rechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 359. 57 Carl Schmitt: "Der Begriff des Politischen", Archiv für Sozialwissenschaften (1927), S. 4.
Verfassungs-
und Sozialpolitik,
Bd. 58
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Das Formproblem der Moderne
den existentiellen Bedingungen seiner eigenen Art. Das ist die objektive Wirklichkeit der 'Objektivität'." 58 Man hat, durchaus gut gemeint, versucht, diese Schlußfolgerung als Fremdkörper im Denken von Schmitt herauszuoperieren, oder bös' gemeint, als Opportunismus zu diffamieren. Ich kann mich weder am einen noch am anderen beteiligen. Zunächst ist zu sagen, diese Schlußfolgerung ist, was die entscheidenden Linien der Konstruktion betrifft, zwingend. Auch wiederholtes Rekapitulieren kommt zum selben Schluß. Darüber muß nachgedacht werden.
IV. Der Begriff Homogenität entstammt ja zweifellos demokratischer Tradition. Er ist rousseauistischer Prägung, er umschreibt die Identität von Regierung und Regierten. Es ist auch aufklärbar, daß es in Deutschland sehr wohl naheliegend war, ihn rassistisch aufzufassen. Denn in der longue durée der europäischen Staatenbildungen waren - grob und viel zu kurz gesagt - eine ganze Reihe von Chancen, die politische Einheit zu legitimieren, bereits realisiert. Insbesondere hatte der für Deutschland als Vorbild und Feindbild prägende Nachbar Frankreich die politische Sphäre als eine im letzten Grunde symbolische Angelegenheit aufgefaßt. Die Einheit der französischen Nation ist wirklich, weil sie symbolisch ist. Es ist bekannt, wie der Trierer Karl Marx diese Art politischen Überbau behandelt hat. Es ist nur zu naheliegend, daß nach den Gesetzen der konkurrierenden Nachahmung (d.h. dasselbe auch, aber anders zu wollen) in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die beste Ausgangslage dafür bestand, die Wirklichkeit nationaler Einheit antifranzösisch, d.h. antisymbolisch zu begründen, was - wenn man erst einmal anfängt, genau zu denken - letzten Endes auf die biologischen Objektivitäten hinausläuft, so wie sie die Wissenschaft zur jeweiligen Zeit präsentiert. 59 Was anderes hätte denn von den geschichtlichen Bedingungen her - die niemand zu verantworten hat und in denen auch kein tieferer Geist oder Sinn liegt - herhalten sollen für eine Identität der Deutschen, nachdem auf der Insel der Individualbesitz und in Frankreich das Symbolische zur letzten Instanz gekrönt waren? 60 Daß bei Carl Schmitt in den endzwanziger Jahren noch ein gerüttelt Maß (vielleicht den Glauben stabilisierender) Antisemitismus hochkommt, hat nach der Enttäuschung des hochgestimmten Zentrumskatholizismus nichts Geheimnisvolles. Hinzuzunehmen wäre noch die schon früh erkennbare katholische Gesetzesunterminierung in den sich 58 Carl Schmitt: Staat, Bewegung, 1933, S. 45.
Volk. Die Dreigliederung
der politischen
Einheit,
2. A u f l . , Hamburg
5 9 Vgl. meinen Beitrag "Gemeinschaft - Rassismus - Biopolitik", in: W o l f g a n g Pircher (Hg.): Fremde - Der Gast, Bd. 1, Wien 1993, S. 17-35.
Das
60 Daß der differente Charakter von Staatlichkeit in Europa an den verschiedenen Weisen hattet, in der personale Gewalt institutionell abgelöst wurde, hat Heide Gerstenberger in ihrem grundlegenden Werk zur Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt überzeugend dargelegt (Heide Gerstenberger: Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster 1990).
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Wolfgang Eßbach
steigernden Angriffen auf den "Gesetzgebungsstaat", die der Jesus-Formel folgen: "Es steht geschrieben, ich aber sage Euch". Die Polemik gegen das Gesetz als bloß formelles hat geistesgeschichtlich stets eine komplizierte antisemitische Dimension. Mit Schmitt an die Seite Hitlers oder mit Lukäcs an die Seite Stalins. Es sind dies keine Regressionen, sondern progressive Radikalisierungen der Formfrage der Moderne. Wer Modernität im Hinblick auf ein Denken der Krisenabschaffung bestimmen will, wird dem Prinzip der Krise einen Namen geben müssen. Entweder Krise der Warenstruktur oder Krise der Souveränität. Entweder: von der alle Lebensbereiche scheinhaft homogenisierenden Verdinglichung zum totalen Subjekt der Geschichte, oder: von den Scheinsouveränitäten sich autonomisierender Gebiete zur substantiellen Homogenität. Wo ernstgemacht wird gilt: tertium non datur. Nun wird man anführen können, was alles für Distanzierungen, Widerstände, Kränkungen und Verfolgungen Schmitt und Lukäcs möglicherweise praktiziert oder erfahren haben, wo Einsicht und Reue über Starrsinn und Rechthaberei gesiegt haben - all dies ist wichtig für die Frage, ob sie in das große Buch "Helden und Heilige" aufgenommen werden können oder nicht. Diese Frage ist durchaus wichtig, aber sie ist für die Theorie der Moderne belanglos. Solange in der Diagnostik der Moderne Ware und Souverän eine Rolle spielen, sind Lukäcs und Schmitt aktuell, und hier ist nun für den, der sehen kann, kein Ende in Sicht. Wohl aber gibt es einen Stil und eine Methode des Umgangs mit Selbstdeutungen der Moderne. Wir können, ohne den Anspruch zu erheben, ein Substitut oder ein Funktionsäquivalent bieten zu wollen, Modernität in den Blick nehmen, als ob es sich um ein endliches, überschaubares Ensemble hergestellter Wirklichkeiten handelt, ein Ensemble, zu dem Lukäcs und Schmitt - und vielleicht noch andere vergleichbaren Kalibers gehören. In der Moderne positioniert, können wir zugleich eine exzentrische Position einnehmen, was Plessner zufolge ohnehin nur menschlich wäre. 61 Wir können die Moderne von einem Mittelpunkt außerhalb denken, nicht als gläubiger Neofundamentalismus ohne Wiederkehr, sondern im Sinne eines Fiktionalismus, der die Geschichtsphilosophie der Neuzeit als Objekt hat. Die Moderne wäre so postmodern gedacht nicht eine unvollendete Moderne, auch keine ewig verdammt schwierige Moderne, auch keine ungeliebte Moderne, die weg muß. Modernität von einem Mittelpunkt außerhalb zu denken, läßt die Konturen einer fremden Moderne erscheinen. Pädagogen mögen aus ihrem Recht heraus die beliebig verfremdenden Effekte dieser Sichtweise als Sabotage an den Werkstätten ihrer Menschenbildnerei fürchten. Daraus fortgeschrittenes Denken wird sich auf die Suche machen: als ob es nicht möglich sein sollte, post alledem von einer Modernität zu reden, die aus der Erfahrung von Krise, Entzweiung, Zerrissenheit kein Projekt einer so oder so profilierten integralen Vollendung macht, nicht erneut ein Finale der Moderne proklamiert und vielleicht auch nicht unbedingt das Programm einer höchst schwierigen Lebensführung, die in allen ihren Äußerungen ängstlich im Spiegel das Negativ ihrer 61 Zu Plessners exzentrischer Position und ihrer Aktualität vgl. meinen Beitrag "Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie", in: Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, hg. v. Günter Dux u. Ulrich Wenzel, Frankfurt a.M. 1994, S. 15-44.
Das Formproblem der Moderne
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irrationalen Ursprünge sehen muß. Als ob wir nicht post alledem Möglichkeiten denken könnten, eine fremde Moderne zu legitimieren! Unaufhebbar entfremdet und unausrottbar fremd, darauf verwiesen, mit Krise, Entzweiung, Zerrissenheit im Lichte einer Xenophilie umzugehen. Ihr entspräche eine radikale Theorie, die radikal ist, weil sie nicht aufs Ganze geht, weil sie in die Erfindung von Gesetzen der Gastfreundschaft mehr Ehrgeiz setzt als in die societas perfecta der diesseitigen Welt, d.h. in Identitäten, die wiederholen, was wir schon kennen.
Marcus Llanque
Die Theorie politischer Einheitsbildung in Weimar und die Logik von Einheit und Vielheit (Rudolf Smend, Carl Schmitt, Hermann Heller) Einleitung Obgleich die zeitgenössische Not der Weimarer Republik, ihre permanente Instabilität und ihre bürgerkriegsähnlichen Erscheinungen den Gedanken nahelegten, die politische Einheit programmatisch als Generalforderung zu erheben, und eine theoretische Auseinandersetzung um den Gedanken der politischen Einheit daher vielleicht nur als Reflex eines zeitbedingten Affektes gewertet werden kann, war die diesbezügliche Auseinandersetzung zwischen Rudolf Smend, Carl Schmitt und Hermann Heller zugleich auch die Wiederaufnahme eines sehr alten Themas der abendländischen politischen Theoriebildung: die Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit. 1 Dieses Thema läßt sich nicht erledigen durch die wahlweise Entscheidung für Einheit oder Vielheit, etwa im Sinne einer Entscheidung für den Etatismus oder für den Pluralismus, sondern ist von der Avantgarde der Theoretiker immer als SpannungsVerhältnis interpretiert worden, welches - realiter unauflöslich - als wechselseitige Bedingtheit berücksichtigt werden muß. Insofern ist der Terminus "Politische Einheit" nicht aus sich selbst heraus aussagekräftig: regelmäßig hat er mit einem Genetiv zu stehen, welcher sogleich die intentio prima der jeweiligen Theorie verrät: Politische Einheit des Volkes? Politische Einheit der Nation? Politische Einheit des Staates? Und die Kontrollfrage wird sich anschließen müssen: politische Einheit wem gegenüber: Politische Einheit des Volkes - gegenüber anderen Völkern ? Politische Einheit des Staates - gegenüber dem eigenen Volk als der bunten vielköpfigen Masse? Politische Einheit der Nation - gegenüber dem nicht Nationalen, d.h. gegenüber den die Nationalität tendenziell bedrohenden Elementen? Politische Einheit sagt also zunächst einmal nichts aus, außer daß es ein Spannungsverhältnis indiziert und als Fragestellung auf den Traditionsbestand jener verweist, die politische Einheit problematisieren. Daher ist ein Blick auf den Traditionsbestand dieser Problematik in Deutschland, die der Auseinandersetzung von Smend, Schmitt und Heller vorausging, unabdingbar für deren Verständnis. Das Problem politischer Einheit war das beherrschende Problem in Deutschland im 19. Jahrhundert gewesen und hatte nur scheinbar seine Lösung in der Reichsgründung 1
Die Kontroverse um politische Einheit und Vielheit hat ihren Ausgangspunkt bereits bei Piaton und Aristoteles und zieht sich bis in die Gegenwart. Hinweise bei Dolf Sternberger: Die drei Wurzeln der Politik, Frankfurt a.M. 1978, S. 106 ff.
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1871 gefunden. Das Bürgertum hatte nämlich den Traum nach politischer Partizipation mit den Ereignissen der Jahre nach 1848 zunehmend aufgegeben, aber dessen Energie in die umso stärker gestellte Forderung nach dem Rechtsstaat überführt, d.h. nach einer zwar realiter und sozial vom Bürgertum getrennten staatlich-politischen Sphäre, die aber gleichwohl nach Normen und nicht nach der Willkür der politischen Träger agieren sollte. Ausdruck dieser Selbstgenügsamkeit war das Paradigma des Gesetzes, das im Ringen um die Gestaltung der inneren Einheit Reichsdeutschlands seine größte Herausforderung erfuhr. Nach diesem Paradigma schuf sich das Parlament als Ausdruck der Vielheit der Bevölkerung autonom die Regeln des Zusammenlebens. Und tatsächlich schien zeitgenössisch mit den großen Kodifikationen des Bürgerlichen Gesetzbuches, des Strafgesetzbuches und nicht zuletzt des Handelsgesetzbuches die Einheit hergestellt, welche angesichts der waltenden Rechtsgleichheit der gesamten Bevölkerung zugute zu kommen schien. Der Staat wurde als ein der Gesellschaft gegenüberliegendes und sie letztlich nur machtpolitisch nach außen absicherndes Element gesehen, dessen Bedeutung nach innen in der Verwaltung bestand, auf deren normative Kontrolle sich das Bürgertum nunmehr konzentrierte. Dem Vorrang des Gesetzes gemäß sollte diese Verwaltung allein nach Normen handeln. Der Gedanke der Einheit wurde seiner politischen Qualität beraubt und gänzlich in die Normativität überführt. Die Ausarbeitung des Gesetzesparadigmas als des Paradigmas der normativen Einheit des Staates erfolgte bei Hans Kelsen 2 in konsequenter Ausarbeitung der impliziten Ansätze bei Georg Jellinek. Für die Weimarer Staatsrechtslehre avancierte Hans Kelsen geradezu zum Menetekel eines Gesetzesparadigmas, welches sich aller politischer Bedeutung selbst beraubt hatte. In Kelsen fanden die von Herkunft, Theorieanlage und politischer Zielrichtung doch weitgehend differenten Smend, Schmitt und Heller ihren gemeinsamen Gegner. Die von Kelsen geforderte und für einzig erreichbar postulierte "Einheit der Rechtsordnung" im Gegensatz zur rechtlich nicht erfaßbaren und von Kelsen weitgehend als Ideologie verschrieenen politischen Einheit einer Bevölkerung - wurde von Smend wie Schmitt und Heller als Bankrotterklärung des Staatsrechts aufgefaßt. Mit Kelsen sei daher eine Krise des Staatsrechts 3 eingebrochen, die vor den Aufgaben der Konstitutionsleistung der jungen Republik schon theoretisch versagen mußte. Politische Einheit konnte sich nicht allein auf die normative Einheit verwiesen sehen. Für Smend wie Schmitt und Heller war daher die Lösung des politischen Einheitsproblems durch das Paradigma des Gesetzes als eines überwiegend formell bestimmten Verfahrens repräsentativer Willensbildung unter den Bedingungen der zeitgenössischen Probleme der Republik eine unzureichende Lösung. Ihre Ablehnung beruhte auf einer authentischen Problemdiagnose: Das Gesetzesparadigma konnte überzeugen, solange das Problem der politischen Einheitsbildung nicht akut war, d.h. solange die politische 2
Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre,
Tübingen 1911.
3
Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" [1928J, in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 121 ff.; Carl Schmitt: Politische Theologie - vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Aufl., München/ Leipzig 1934; Hermann Heller: "Die Krisis der Staatslehre" [Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55 (1926), S. 283 ff.], in: ders.: Gesammelte Schriften, 3 Bände, Bd. II, Leiden 1971, S. 3 ff.
Die Theorie politischer
Einheitsbildung
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Einheit nicht in Frage gestellt war. Diese politische Einheit des Kaiserreichs war aber schon während des Kaiserreichs in Frage gestellt worden, und diese Infragestellung hatte sich bis zur Republik prolongiert. Die Idylle dieser Einheitsvorstellung war nämlich bereits durch die erneut politischen Partizipationsforderungen der nachdrängenden und sich artikulierenden sozialen Schichten der Arbeiterbewegung gestört worden. Aus der Sicht des Bürgertums und seiner Rechtsstaats Vorstellung stellte sich dies als Restproblem der politischen Einheitsbildung dar. Die Frage der nachdrängenden sozialen Schichten und ihr Anspruch auf die vom Bürgertum aufgegebene politische Partizipation wurde in ihrer politischen Dimension geleugnet und als "soziale Frage" verstanden und generell zu einem Betätigungsfeld des Staates erklärt, das heißt, es wurde wiederum die Verwaltung zum Akteur erhoben, die etwa in Gestalt der Bismarckschen Sozialgesetzgebung regelnd in die Gesellschaft eingreifen sollte. Die Herausforderung des 4. Standes wurde theoretisch flankiert durch die allmähliche Kristallisation einer materialistischen Rechtstheorie, die sich von einer idealistischen Rechtsvorstellung ab- und einer rechtsinstrumentellen Regelungssichtweise von sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnissen zuwandte. 4 Diese hielt der normativen Vorstellung des Bürgertums, welche ihre romantischen und idealistischen Quellen nicht verbergen konnte, die Rationalität der Ökonomie entgegen. Unter den Bedingungen der Moderne und der industriellen Revolution insbesondere war das Gesetzesparadigma nicht mehr ein konkurrenzloses Lösungsmodell des Problems der politischen Einheitsbildung. Das Paradigma der Ökonomie als des modernen Mediums sachtechnischer Herstellung politischer Einheit machte sich breit und prognostizierte in ihrer logischen Konsequenz die Sekundarität des Staates. 5 Die universelle Vermittlung politischer Antagonismen mittels der flexiblen Logik des Kapitals schien die Wirtschaft in die Lage zu versetzen, die historisch eigenartigen Grenzen und kulturellen Schranken der Völker zu überwinden: Ihre Rationalität, die den Staat zur Reaktion statt zur Aktion verurteilte, stellte die eigentliche Provokation des Gedankens politischer Einheit dar. Ausgangs des Kaiserreichs wurden diese Herausforderungen von bürokratischer und ökonomischer Rationalität als generelle Probleme von Kultur und Zivilisation wahrgenommen und kritisiert, aber in einem Gestus tragischer Würde auch affirmiert: Max Weber interpretierte den modernen Staat als Betrieb und Walter Rathenau deutete die Wirtschaft als das moderne Schicksal. Die Welt der politischen Ideen war entzaubert worden. 6 Unter den Auspizien der sachtechnischen Rationalität, die in der Ökonomie und der Bürokratie (Verwaltung) ihre herausragenden Vorbilder besaß, drohte das 4
Wegweisend für eine genuin rechtstheoretische Fortentwicklung und Emanzipation vom marxistischen Ansatz war Karl Renner (unter dem Pseudonym Josef Karner): "Die soziale Funktion der Rechtsinstitute", in: Marx-Studien, Bd. 1, Wien 1904, S. 63-192.
5
Thomas Vesting: Politische Einheitsbildung und technische Realisation, Baden-Baden 1990, hat sich dieser Problematik, die der politischen Einheitsbildung aus der technisch-ökonomischen Rationalität ergibt, gewidmet.
6
Die Vorbildfunktion von Webers "Entzauberungs"-These für die gesamte Weimarer Theorieentwicklung hat Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt, München 1989 untersucht, der aber in bezug auf die Staatslehre nur auf Schmitt ausführlich zu sprechen kommt.
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Politische inhaltlich obsolet zu werden und mit ihm der Staat als Sinnstifter und Sinnverwirklicher kultureller Ideen. Dagegen verwahrten sich Schmitt wie Smend und Heller. "Die heute herrschende Art ökonomisch-technischen Denkens vermag eine politische Idee gar nicht mehr zu perzipieren. Der moderne Staat scheint wirklich das geworden zu sein, was Max Weber in ihm sieht: ein großer Betrieb." 7 Diesen Satz von Schmitt hätten auch Smend 8 und Heller sagen können. Die Betonung des Politischen bei allen dreien hieß daher zunächst und zumeist Ablehnung einer ausschließlich sachtechnischen Behandlung des Problems der Einheitsbildung: weder ökonomische noch bürokratische Rationalität durften das Politische ersetzen; die Frage war nur, was eine politische Idee im allgemeinen überhaupt war und welche konkrete politische Idee für die Weimarer Republik maßgeblich war bzw. sein sollte. Das Problem wurde also einhellig betrachtet: der Untergang des Kaiserreichs erforderte eine Neubesinnung der Voraussetzung einer Konstitution politischer Einheit. Es mußte daher ein Vehikel gefunden werden, welches den unpolitischen Begriff des Gesetzes überwand, die Aufgabe politischer Einheitsbildung beinhaltete und zugleich normativ-rechtlichen Anforderungen genügte, statt Spiegel willkürlicher politischer Vorstellungen zu sein, die allen möglichen Schwankungen ausgesetzt waren. Smend, Schmitt und Heller unternahmen den Versuch, die Verfassung als neue Leitkategorie politischer Einheitsbildung zu etablieren.
Rudolf Smend Smend vollzog den Sprung aus einer Staatsrechtslehre heraus, die es sich allein zur Aufgabe gemacht hatte, den gegenwärtigen juristisch relevanten Status zu ermitteln und hierzu den Begriff der Form als das ausschlaggebende theoretische Element benannte. Er wagte den Schritt zu einem Staatsrechts Verständnis, welches die permanente politische Leistung der politischen Einheitsbildung als die den Staat auszeichnende Funktion auswies und über die Beobachtung dieser Leistung in der Wirklichkeit zu einem entsprechend realistischen Begriff des Staates gelangen wollte. Schon das Frühwerk 9 zeigte Smends Skepsis gegenüber der formalistischen Betrachtungsweise der herrschenden Staatslehre. 1916 überwand er endgültig den positiv-rechtlichen Verfassungsbegriff und erhob das "ungeschriebene Verfassungsrecht" zu den impliziten Voraussetzungen des expliziten Rechtstextes. Am Beispiel der Verfassungstreue im kaiserlichen Föderalismus machte Smend deutlich, daß nur der Rekurs auf die politische Wirklichkeit den vollen Sinn des positiven Verfassungsrechtes erschließen
7
Carl Schmitt: Politische
Theologie
( F N 3), S. 82.
8
Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" ( F N 3), S. 122, S. 146 u. S. 185.
9
Stefan Korioth: Integration und Bundesstaat - ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, Berlin 1990 verfolgt die theoretische Entwicklung Smends aus der Kaiserzeit in die Republik.
Die Theorie politischer
Einheitsbildung
161
kann.10 Die weitestgehend vorsichtigen Formulierungen aus dem Frühwerk der Kaiserzeit erfuhren aber erst mit der Weimarer Republik ihre energische Wende, und es kam zu der endgültigen Einbeziehung des Politischen in die Analyse des Rechts in der Schrift über die Politische Gewalt im Verfassungsstaat.11 Der Begriff des Politischen sollte die "andere" Seite des Staates jenseits seiner verwaltungstechnischen Funktionalität kennzeichnen. Bei der Ausarbeitung eines konstruktiven Gegenkonzeptes zur formalistischen Staatslehre avancierte der Begriff der Integration12 zu dem archimedischen Punkt des Systems und ersetzte den Begriff des Politischen. Für Smend ist die politische Einheit keine inhaltliche Frage: Politische Einheit ist ein prozessualer Vorgang, der sich an verschiedensten Inhalten und in Gestalt verschiedenster Aktionsformen und Verhaltensweisen beweist. Bei der politischen Einheitsbildung handelt es sich um einen dynamischen Prozeß der permanenten Herstellung und Wiederherstellung dieser Einheit durch Verhaltensweisen, die inhaltlich und formell der sachtechnischen oder der interessenpolitischen Sphäre angehören können, zugleich aber aufgrund ihrer besonderen Qualität und Intention die politische Leistung der Integration darstellen müssen. Insofern sind Staat und Verwaltung zwei unterschiedliche Sphären, wobei "der Staat sich dauernd und immer von neuem zur Einheit integriert" und die staatlichen Organe ihre eigentliche Aufgabe gerade in dieser Integration zur Einheit sehen müssen, während demgegenüber die Verwaltung die weitere Verwirklichung des Staates in der "Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse" darstellt.13 Diese spezifische Leistung des Staates zeigt sich an der objektlosen Verhaltensweise seiner Organe: Oftmals werde gehandelt nicht allein um des konkreten Zieles willen, sondern um durch die schiere Handlung eine bestimmte Leistung zu vollbringen, die Smend die spezifisch politische Leistung nennt, nämlich die Integration des staatlichen Ganzen zur politischen Einheit. Das heißt, daß ungeachtet der innenpolitischen oder außenpolitischen Zielsetzung und damit ungeachtet der Scheidung zwischen bürgerlicher Autonomie und staatlich-herrschaftlichem Reservatrecht in jedem diesbezüglichen Verhalten immer schon ein politischer Leistungsversuch gesehen werden kann. Smend unternimmt es dergestalt, die staatsrechtliche Fixierung auf die Staatsorgane und ihre Institutionen aufzuheben. Es darf nicht eine "diesen Organen transzendente und präexistente Wesenheit"14 vorausgesetzt werden, die bereits den Staat als politische Einheit institutionell ausmacht, indem sie ihm einen quasi personalen Willen verleiht. Der Staat besteht nicht aus seinen Institutionen, sondern aus der ihn beständig neu konstituierenden integrativen Leistung aller Beteiligten.
10 Rudolf Smend: "Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat" [1916], in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen (FN 3), S. 39 ff. u. S. 52. 11 Rudolf Smend: "Politische Gewalt im Verfassungsstaat" [Kahl-Festschrift 1923], in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen (FN 3), S. 68 ff. 12 Zu den geisteswissenschaftlichen Grundlagen der Integrationslehre Klaus Rennert: Die "geisteswissenschaftliche" Richtung in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, Berlin 1987, S. 141 ff. 13 Rudolf Smend: "Politische Gewalt im Verfassungsstaat" (FN 11), S. 82. 14 Ebd., S. 83, Anm. 57.
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Also weder Macht oder Souveränität noch die staatlichen Organe mitsamt ihrem transzendenten Selbsterhaltungsanspruch der Vergangenheit sind die notwendig herausragenden Attribute politischer Einheit, sondern die auch symbolhafte Verwirklichung der politischen Einheit im permanenten Integrationsvorgang war der eigentliche Gegenstand seiner Staatslehre. Smend richtet sich also gegen eine einseitige Festlegung der politischen Einheit auf ihre institutionelle Gestalt, doch er will damit nicht die Institutionen in ihrer Bedeutung schmälern, sondern nur Schwerpunkt und Charakter dieser Bedeutung verschieben. "Die erste Aufgabe des Staatsrechts ist aber die Integration des staatlichen Ganzen, das objektlose Dasein der obersten staatsrechtlichen Institutionen [ . . . ] und ihrer zunächst rein integrierenden Funktion, die aber in der Staatsrechtstheorie in der Regel völlig vernachlässigt werden gegenüber dem Gesichtspunkt des Systems staatsrechtlicher Organvollmachten - als ob Staatsoberhäupter, Regierungen, Parlamente ausschließlich zur Produktion von möglichst viel rechtsgeschäftlichem Staatswillen berufen und allein dadurch rechtlich charakterisiert wären [...]. 1 1 , 5
Die polemische Illustration der "Produktion rechtsgeschäftlichen Staatswillens" bringt Smends theoretischen Gegner, den er vor Augen hat, prägnant zum Ausdruck: Die bürokratisch-sachtechnische Reduzierung des Staates zu einem funktionalen Verwaltungsapparat, der in Übernahme zivilrechtlichen, also unpolitischen Denkens, das "Rechtsgeschäft" (oder den Verwaltungsakt) zum logischen Anknüpfungspunkt eines Systems sachlicher Beziehungen machen will. Nichtsdestotrotz ist auch dieser Vorgang normativ bestimmt, wenngleich der Charakter einer solchen Normativität gänzlich von dem etwa privatrechtlicher Normen unterschieden werden muß. Die normative Bündelung des Integrationsprozesses stellt die Verfassung dar. Die Integration wird nämlich nicht nur tatsächlich bewirkt, sondern zugleich normativ bestimmt, nämlich durch die Verfassung. 16 Erst die politische Integration vermittelt den "eigentlichen Kern und Sinn der Verfassung". Bestimmungen von scheinbarer Belanglosigkeit wie die Nationalfarben der Fahne avancieren zum Symbol der politischen Einheit und erhalten dadurch ihren auch staatsrechtlichen Sinn, der insbesondere ihre Sanktionierung durch Strafandrohung bei Verunglimpfung rechtfertigte. "Ihr Inhalt ist der, daß das deutsche Staatsvolk als solches in diesem Symbol und in den durch dieses Symbol repräsentierten Werten von Verfassungs und Rechts w e g e n eins sein soll - also eine Norm parallel zu den Grundrechten, und ebenso wie diese eine Normierung einheitsbegründenden sachlichen Gehalts, nur daß dieser Gehalt hier symbolisiert, in den Grundrechten dagegen formuliert wird. Der staatsrechtliche Inhalt dieser Normen liegt in dieser, das Staatsganze konstituierenden, integrierenden Funktion; die verwaltungsrechtlichen Einzelfolgen sind eine sekundäre und untergeordnete, im Verhältnis zu jenem staatsrechtlichen Inhalt technische Frage." 17
15 Rudolf Smend: "Politische Gewalt im Verfassungsstaat" ( F N 11), S. 83. 16 Ebd., S. 83. 17 Rudolf Smend: "Das Recht der freien Meinungsäußerung" [1928], in: ders.: Staatsrechtliche lungen (FN 3), S. 8 9 ff. u. S. 94.
Abhand-
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Die angesprochenen Grundrechte erfuhren durch Smend einen entscheidenden Fortschritt in ihrem politischen und rechtlichen Verständnis. Vom System öffentlich-rechtlicher Ansprüche als Ausdruck eines individualistischen Rechtsanspruches der Einzelnen gegenüber dem Staat wandelten sie sich zu verfassungspolitischen Wertungen der Gesamtheit, mittels derer der Einzelne sich in die Gesamtheit hineinintegrieren kann und soll. "Die Verfassung wird mißverstanden und unterschätzt, wenn man sie dahin auslegt, daß sie den Staat als eine unbegreifliche feste Wirklichkeit voraussetze und ihm nun bestimmte rechtsgeschäftliche Willensorgane gebe und bestimmte grundrechtliche Schranken ziehe. Vielmehr regelt sie seine Substanz selbst, die nicht ein ruhender Bestand oder eine feststehende Beziehung, sondern lediglich fließendes, sich immerfort erneuerndes Leben ist; die Verfassung gibt diesem Leben Formen, in deren Aktualisierung es seine alleinige Wirklichkeit hat, in denen es sich erneuert, alle Staatsangehörigen immerfort von neuem in wirkliche Beziehung zu sich setzt [...] - und sie gibt ihm sachliche Inhalte, in deren Verwirklichung der deutsche Staat seine Einheit finden soll." 18
Smend vermochte es auf der Grundlage seiner Integrationslehre auch, die Institution des Parlamentes in ihrem integrativen Stellenwert neu zu bestimmen. Die Einführung des proportionalen Verhältniswahlrechtes hatte für alle Beobachter zur Erschwerung und partiellen Selbstlähmung des Parlamentes geführt. Dies hatte Smend schon frühzeitig festgestellt. Die Frage war nun, welche Konsequenz hieraus für den verfassungspolitischen Stellenwert der Institution des Parlamentes im verfassungsstaatlichen Gesamtgefüge zu ziehen sei. Smend selber war einer der schärfsten Kritiker dieser Entwicklung. Er hatte auf den Sinn der Öffentlichkeit der parlamentarischen Beschlußfassung aufmerksam gemacht als Aufhebung der fürstlichen arkanen Kabinettspraxis der Geheimbeschlüsse,' 9 welcher durch die gegenwärtige Praxis ad absurdum geführt wurde. Diese Kritik traf sich in vielen wesentlichen Momenten mit derjenigen Schmitts. Schmitt hatte diese Kritik in seiner berühmten Parlamentarismus-Schrift nur verschärft und ideengeschichtlich fundiert, 20 mit dem Ergebnis, daß für ihn der Parlamentarismus unzeitgemäß geworden sei. Dieses Resultat wurde von Smend nicht gebilligt: Nicht der Parlamentarismus habe sich geistesgeschichtlich überlebt, sondern die einseitige Betonung der sachtechnischen Regelungen des parlamentarischen Prozesses hätten den eigentlich verfassungspolitischen Sinn der Integrationsleistung in den Hintergrund gestellt. Daher machte er klar, daß es ihm im Gegensatz zu Schmitt nicht darum ging, den Wert des Parlamentarismus insgesamt für die Gegenwart zu annihilieren, sondern aufgrund der Betonung der integrativen Funktion den Gedanken des Parlamentes zu retten. 21 Der Parlamentarismus mußte einsehen, daß die Handhabung technischer Regeln nicht als
18 Rudolf Smend: "Das Recht der freien Meinungsäußerung" (FN 17), S. 91. 19 Rudolf Smend: "Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl" [1919], in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen (FN 3), S. 60 ff. u. S. 66 f. 20 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche München/Leipzig 1926.
Lage des heutigen Parlamentarismus
21 Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 3), S. 152 ff.
11923), 2. erw. Aufl.,
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Selbstzweck, sondern als Ausführungsnormen dieser integrativen Funktion zu verstehen seien.22 Gleichwohl wurde es Smend am Beispiel des Parlamentarismus klar, daß die Benennung der integrativen Aufgabe allein noch keine erfolgreiche Integration gewährleisten konnte. Smend bezeichnete Parlamentswahl und Parlamentsverhandlung als die "beiden wichtigsten im Verfassungsstaat vorgesehenen und geregelten Stadien des politischen Kampfes und der politischen Auseinandersetzung". 23 Die Frage schloß sich aber an, inwieweit dieser Kampf nicht zugleich desintegrative Wirkung zeitigen konnte. Smend sah sich daher gezwungen, den Integrationsprozeß sich nicht selbst zu überlassen, sondern auf Bedingungen und Voraussetzungen seines Gelingens zu rekurrieren. Er mußte einschränken, daß es sich um einen Kampf mit Integrationstendenz 24 handeln mußte, und entwickelte auf der Grundlage des positiven Konfliktbegriffs im Anschluß an Georg Simmel25 ein Modell, wonach der Austrag innerpolitischer Auseinandersetzungen bei "gesunden politischen Verhältnissen" trotz der Entladung der Spannungen eine kathartische Wirkung haben konnte. 26 Was aber waren gesunde politische Voraussetzungen, die dergestalt die permanente Selbstherstellung der politischen Einheit trotz der zum Austrag gelangenden politischen Spannungen stabilisierte und nicht destabilisierte? Smend konnte der Grundintention seiner Theorie nach nicht auf die Existenz der staatlichen Institutionen zurückgreifen, denn dadurch hätte er den Integrationsprozeß wiederum von der prästabilisierenden Wirkung der dem Prozeß entzogenen Institutionalisierung des Staates abhängig gemacht. Daher entwickelte er ein Modell gewisser statischer Elemente, die gleichsam die archimedischen Punkte des Prozesses bezeichneten und ihm seine Stetigkeit verliehen. Smends Erläuterung dieser statischen Elemente ist vage: Er betont die "im wesentlichen statische höchste Wertfülle der Gemeinschaft" bzw. "einen im wesentlichen dauerhaft empfundenen Bestand von Werten und Wahrheiten". 27 Er verstand es aber nicht, Angaben über den Zusammenhang solcher Wertbestände mit den ihnen adäquaten Integrationsmodellen zu machen. In der systematischen Ausarbeitung dieses Integrationskonzeptes 28 mußte Smend stattdessen der Relativität seines Ansatzes Tribut zollen: er kam über eine Übersicht verschiedenster Möglichkeiten der Erzielung einer politischen Einheit nicht hinaus. Er konnte nur Strukturtypen
22 Die Anwendung dieser Vorgaben einer verfassungsrechtlichen Auslegung technischer Regeln im Sinne der Integrationslehre unternahmen Hermann Heller und Gerhard Anschütz in ihren Gutachten zur Verhältniswahl in Preußen angesichts eines Vorfalls, wonach die NSdAP gegen die buchstäbliche Vorschrift des Proportionalwahlrechts ihre allein sekundäre Funktion als Regelung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes insgesamt betonten, so daß im Konfliktfall durchaus die buchstäbliche Vorschrift im Zuge einer verfassungspolitischen Auslegung des Verfassungsrechtes übergangen werden könne; hierzu Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. II, Göttingen 1987, S. 217-221. 23 Rudolf Smend: "Verschiebung der konstitutionellen Ordnung" (FN 19), S. 61. 24 Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 3), S. 151. 25 Ebd., S. 151. 26 Ebd., S. 151. 27 Rudolf Smend: "Politische Gewalt im Verfassungsstaat" (FN 11), S. 87. 28 Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 3), S. 119 ff.
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nebeneinanderstellen. 29 Dabei kam er zu kuriosen praktischen Ergebnissen. Er äußerte seine Bedenken gegenüber der einseitig sachrational-funktionalen Integrationsvorstellung der marxistischen Staatstheorie und der bolschewistischen Praxis, der er überhaupt den Staatscharakter absprach, 30 konstatierte aber gleichzeitig beim italienischen Faschismus eine wirksame integrative Leistungsfähigkeit, da er nicht auf sachtechnische Aspekte, sondern auf den Mythos der Nation rekurrierte. 31 Hier kam Smends Ablehnung der Verselbständigung der ökonomischen Rationalität zum Ausdruck, die er im Vorbild der alle Lebensbereiche erfassenden Planwirtschaft am Werke glaubte. Wenngleich Smend seine demokratische Gesinnung an anderer Stelle, aber ohne Rückgriff auf seine Integrationslehre, unter Beweis stellte, 32 konnte doch die praktische Wirkung der Integrationslehre verheerend sein: Er vermochte es nicht, etwa "echte" von "manipulierter" Integration zu unterscheiden und er konnte keine Angaben darüber machen, wie nach der Integrationslehre zu verfahren oder gar zu entscheiden sei, wenn unterschiedliche, gar einander sich ausschließende Integrationsmodelle um die politische Einheitsbildung konkurrierten. Die Flexibilität, die Smend zur Berücksichtigung dieser politischen Phänomene verlangt, verhindert das sichere Urteil, welcher Ort im Verfassungsgefiige augenblicklich das maßgebliche Medium der Integration ist; es scheinen vielmehr verschiedene Möglichkeiten miteinander zu konkurrieren, und Smend ist nicht in der Lage, für den Konfliktfall eine Lösung anzubieten außer der nachträglichen Beobachtung, welches Organ, welche Person in Ausübung welcher Funktionen die Integration tatsächlich geleistet hat. Diese Unentschiedenheit provozierte Carl Schmitts Widerspruch, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß sowohl Schmitt wie Heller in der Smendschen Zurückweisung einer funktional-sachtechnischen Betrachtungsweise des Staates, in seiner Zurückweisung der Reduzierung des Staates auf die Verwaltung einer sich vollständig politisierenden Gesellschaft und in der Betonung der Notwendigkeit der Konstitution politischer Einheit jenseits der Institutionen ihre gemeinsame Ausgangslage fanden, ihre eigenen theoretischen Bemühungen fortzuentwickeln.
Carl Schmitt Mit Rudolf Smend ging Carl Schmitt davon aus, daß die Verfassung das normative Medium war, welches sich nicht in der Summierung von technischen Verfahrensregeln erschöpfte, sondern vielmehr Inhalt und Gestalt der politischen Einheit bestimmte:
29 Dies wird Heller gegen Smend einklagen; Europa und der Fascismus Gesammelte Schriften (FN 3), Bd. II, S. 471.
[2. Aufl. 1931], in: ders.:
30 Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 3), S. 174. 31 Ebd., S. 175. 32 Rudolf Smend: "Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" (1933), in: ders.: Abhandlungen (FN 3), S. 309 ff.
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Verfassung war bezogen auf die Totalität der politischen Gemeinschaft. 33 Über Smend hinaus wollte Schmitt aber die Verfassung als Entscheidung über den konkreten Inhalt der politischen Einheit verstanden wissen:34 Zum einen betonte Schmitt daher ein willentliches Moment, und zum anderen wollte Schmitt eine Unentschiedenheit vermeiden im Falle konkurrierender Integrationsvorstellungen. Denn für Schmitt war nicht der Integrationsprozeß in der Permanenz der immer wieder erneuerten Herstellung politischer Einheit in actu politicis die politische Einheit, sondern es war die Entscheidung für eine bestimmte Integrationsvorstellung. Dem konstruktiven Konfliktmodell Smends setzte Schmitt daher die Freund/Feind-Unterscheidung als Kriterium des Politischen entgegen.35 Nicht das Austragen des politischen Kampfes über die politische Einheit, sondern seine Beendigung war daher die Voraussetzung der Verfassung: Die Verfassung konnte nur Ausdruck des konkreten Willens einer politischen Einheit sein, nicht diese selbst.36 Daher verlangte Schmitt konsequent eine Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz: Erstere war Ausdruck dieser Totalentscheidung der politischen Einheit und kam normativ in Bereichen der Verfassung zum Ausdruck, die die herrschende Lehre regelmäßig vernachlässigte, etwa in der Präambel. 37 Mit der Verfassung wurde nicht die politische Einheitsbildung normativ bestimmt, sondern sie kam normativ zum Abschluß. Vor der Verfassung war die politische Einheit als eine existentielle Größe anzusetzen. Doch diese Sätze waren Postulate. In der Analyse der Weimarer Verfassung mußte Schmitt konstatieren, daß sie ganz im Sinne Smends doch nur einen "Bestand" an Wertungen vorlegte, also eine Reihe von teilweise miteinander konkurrierenden Ziel- und Leitvorstellungen. Angesichts der Schmittschen Forderung nach einer Entscheidung stellte die Weimarer Verfassung daher vornehmlich einen "dilatorischen Formelkompromiß"38 einander widersprechender politischer Ideen dar. Mit der Verfassungsgebung von 1919 war also das Problem der politischen Einheitsbildung nicht wirklich zum Abschluß gekommen, sondern nur prolongiert worden. Diese Prolongierung wurde nach Schmitts Auffassung theoretisch am deutlichsten von der Integrationslehre wiedergegeben und zugleich gefördert. Für Schmitt war es klar, daß die Folgen eines solchen Zustandes der permanenten politischen Einheitsbildung im Gegensatz zur Intention Smends nicht integrierend, sondern desintegrierend sein mußte. "Eine restlose Dynamisierung aller statischen Elemente würde nicht zur Integration,
33 Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 3), S. 190; in dieser Gemeinsamkeit nahm Heller Smends wie Schmitts Verfassungsbegriff in eins: Hermann Heller: "Staatslehre" (FN 3), Bd. III, S. 81 ff. u. S. 390. 34 Carl Schmitt: Verfassungslehre
[München/Leipzig 1928], unveränd. Nachdruck, Berlin 1983, S. 21.
35 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien ["Der Begriff des Politischen", Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 58 (1927) S. 1-38], Berlin 1963. 36 Carl Schmitt: Verfassungslehre
(FN 34), S. 20 ff.
37 Auf die Bedeutung der Präambel als Merkmal der besonderen Normativität der Verfassung hatte Smend selbst hingewiesen; ders.: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 3), 216 f. 38 Carl Schmitt: Verfassungslehre
(FN 34), S. 32 ff.
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sondern zur Desintegration führen. 1,39 Daher verlangte Schmitt weiterhin institutionellstatische Elemente. Verwies Schmitt also doch wieder auf die Präexistenz des Staates als institutioneller Entität hin? Dem schien so, wenn er apodiktisch forderte, daß Staat status sein müsse, und nicht dynamis: "Dieser status bedeutet die grundlegende und umfassende Einheit einer substantiellen, seinsmäßigen, wesentlich öffentlichen Ordnung [...] Dadurch bleibt er immer im Zusammenhang mit einem [...] statischen Ordnungsbegriff. Sobald sog. dynamische Vorstellungen irgendwelcher Art herrschend werden, verliert der Begriff seinen Sinn." 40 Schmitt war sich jedoch darüber im klaren, daß die klassische Stellung der institutionell-statischen Elemente mit dem Fortfall des Kaiserreichs und der Aufhebung der klaren Trennung von Staat und Gesellschaft fraglich geworden war. Der Wandel der Bedeutung dieser institutionell-statischen Elemente wurde Schmitt endgültig bewußt, als er eingestehen mußte, daß die Versuche der Re-Etablierung dieser etatistischen Elemente durch die Betonung der Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten (seine sog. Diktaturgewalt), die es ihm im Falle der Bedrohung der Verfassung insgesamt erlaubte, deren Geltung partiell zu suspendieren, nicht zur Rückgewinnung einer solchen der Dynamik der Integration entzogenen Staatlichkeit führte, da in der Praxis diese Ausnahmegewalt dazu benutzt wurde, in Konkurrenz zum parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren in Gestalt von Maßnahmegesetzen legislativ in die Fortentwicklung der politischen Einheit einzugreifen, und zwar überwiegend in finanz- und wirtschaftspolitischen Sachfragen. Wenn die politische Einheitsbildung offenkundig mit der Verfassungsgebung nicht abgeschlossen war, so wurde die Frage zentral, wer die Auslegungs- und Fortbildungskompetenz der Verfassung im weiteren Verlauf des Verfassungslebens innehatte. Formaljuristisch war das Ergebnis eindeutig: Aufgrund der verfassungsändernden Kraft der Legislative besaß das Parlament die authentische Verfassungsauslegungsgewalt. Das Parlament war aber für Carl Schmitt keine Institution mehr, kein statisches Element, sondern zu einem "Spiegel der Pluralität organisierter sozialer Machtkomplexe geworden". 41 Das Parlament war dergestalt nicht mehr zur politischen Einheitsbildung in der Lage, 42 im Parlament integrierte sich nicht die gesellschaftliche Vielheit zu einer politischen Einheit, denn es kam nicht zur dauerhaften und stabilen Regierungsbildung, die der politischen Einheit den von Schmitt geforderten politischen Willen hätte geben können. Im Parlament brach vielmehr die gesellschaftliche Vielheit in das institutionelle Herz des Staates ein.
39 Carl Schmitt: "Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung" [Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben - Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. I (1929), 154-78], in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1954, S. 63-100 u. S. 68, Anm. 11. 40 Carl Schmitt: "Zu Friedrich Meineckes 'Idee der Staatsräson'" [Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 56 (1926), S. 226 ff.], in: ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf Versailles [unveränd. Ausgabe, Hamburg 1940, S. 45 ff.], unveränd. Nachdruck, Berlin 1988, S. 51 f. 41 Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 141. 42 Carl Schmitt: Verfassungslehre
(FN 34), S. 314 f.
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Dies war der institutionelle Grund seiner Parlamentarismus-Kritik, wie er sie nach seiner ideengeschichtlichen Kritik 1923 in seiner Verfassungslehre 1928 vorgetragen hatte. Die politische Einheitsbildung hatte sich nach Schmitt dieser gesellschaftlichen Vielheit entgegenzustemmen: "Die Bezugnahme auf das Ganze der politischen Einheit enthält immer einen Gegensatz gegen die pluralistischen Gruppierungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und soll entweder eine Überlegenheit über derartige Gruppierungen herbeiführen oder aber wenigstens eine Neutralität. "43 Aus dieser Position erfolgte die Ablehnung des Parlamentes und die konsequente verfassungsrechtliche Stärkung des Reichspräsidenten durch Schmitt. Nach dem gescheiterten Ausloten einer Suprematstellung des Reichspräsidenten gegenüber dem Parlament mittels seiner Diktaturgewalt konzentrierte sich Schmitt im Übergang zu den 30er Jahren auf die Denkfigur des "Hüters der Verfassung". Darunter verstand Schmitt nicht die Bewachung der peinlichen Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorschriften, sondern das Reklamieren des in der Verfassung als Gesamtentscheidung zum normativen Ausdruck gelangenden Willens der politischen Einheit. Schmitt mußte freilich konstatieren, daß das Parlament formell mindestens genauso den Willen der politischen Einheit repräsentierte wie der direkt gewählte Reichspräsident, wenngleich es nach Schmitts Auffassung in Wahrheit die Destabilisierung der politischen Einheit betrieb. Daher war für Schmitt der Reichspräsident insofern der Hüter der Verfassung, als er die institutionelle Sicherung eines verbleibenden statischen Restes der politischen Einheit war, und zwar in einem Übergangsstadium der Auflösung der Staatlichkeit,44 für welchen die Integrationslehre Smends immer deutlicher die adäquate Theorie zu sein schien. "Daß der Staat heute in Deutschland nicht mehr als höherer Dritter über der Gesellschaft steht [...] wird wohl allgemein anerkannt [...] Diese Methoden (funktioneller Integrierung) haben sich im heutigen Gesetzgebungsstaat für das Gebiet der Gesetzgebung so sehr durchgesetzt, daß zwischen Staat und Gesellschaft oft kaum noch unterschieden werden kann. So erkläre ich mir auch, daß Rudolf Smends Integrationslehre sich eher als allgemeine Gesellschaftslehre wie als spezifische Staatstheorie verstehen läßt [ . . . ] Wenn aber der Staat einerseits nicht mehr höherer Dritter und andererseits noch nicht ganz im bloß Gesellschaftlichen verschwunden ist, so kann er in diesem Zwischenstadium nur noch ein neutraler Faktor sein. "45
Damit hatte Schmitt gewissermaßen Smends theoretischen Sieg in der Praxis anerkannt. "Rudolf Smends Lehre von der Integration des Staates scheint mir [...] einer politischen Situation zu entsprechen, in welcher nicht mehr die Gesellschaft in einen bestehenden Staat hinein integriert wird [...], sondern die Gesellschaft sich selbst zum Staat integrieren soll."46
43 Carl Schmitt: "Der Hüter der Verfassung", Archivdes S. 161-237, hier S. 232.
öffentlichen Rechts, Bd. 16 (Märzausgabe 1929),
44 Das Ringen um eine Revitalisierung der Staatlichkeit ist beschrieben bei Armin Adam: Rekonstruktion des Politischen - Carl Schmitt und die Krise der Staatlichkeit 1912-1933, Weinheim 1992. 45 Carl Schmitt: "Der Hüter der Verfassung" (FN 43), S. 220. 46 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen
(FN 35), S. 26 (Zusatz von 1932).
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Wenn es daher keine institutionelle Fixierung der politischen Einheit gab, das heißt wenn sie mit der Verfassungsgebung nicht abgeschlossen war und im weiteren Prozeß der politischen Einheitsbildung institutionell-statisch im Reichspräsidenten nur noch eine neutrale Gewalt vorfand, dann mußte die Einheitlichkeit des politischen Gemeinwesens an anderer Stelle als in den Institutionen gefunden werden. Schmitt radikalisierte den Gedanken der Einheitlichkeit dort, wo ihn Smend selber als Voraussetzung des Integrationsprozesses andeutungsweise angesetzt hatte: in der Existenz eines Bestandes an Werten innerhalb der politischen Gemeinschaft. Smend hatte unter "Bestand" noch die Pluralität solcher Vorstellungen verstanden, da er im Austrag des Konflikts ein wesentliches integratives Moment erblickte. Schmitt reduzierte diese Vorstellung aber dadurch, daß er den Inhalt der politischen Einheit mit dem Inhalt der Wertgemeinschaft identifizierte. Die Forderung nach Einheit erlaubte daher konsequenterweise nur noch einen einheitlichen Wert. Dies war das Konzept der substantiellen Homogenität. 47 Nachdem Schmitt die Verfassung und mit ihr die politischen Institutionen von der Existenz einer politischen Einheit abhängig gemacht hatte, machte er diese politische Einheit nun abhängig von der Existenz einer in der Bevölkerung waltenden Homogenität. War die Verfassung als Entscheidung der willentliche Ausdruck der politischen Einheit über ihre eigene Form und ihren eigenen Inhalt, so war Homogenität das prästabilisierende Element der politischen Gemeinschaft schlechthin. Anfangs hatte Schmitt die Homogenität noch ganz auf die Demokratie bezogen. Am Beispiel des demokratischen Nationalstaates wollte Schmitt die staatsbildende Funktion der Nationalität als homogenisierenden Faktor aufzeigen. Aber dort hatte er bereits die zeitgenössische Praxis der ethnischen Säuberungen und nationalistischen Grenzkorrekturen dadurch gebilligt, daß es seiner Ansicht nach zum Sinn der Homogenität gehöre, das Heterogene auszuscheiden, 48 so daß die Homogenität geradezu durch die Ausscheidung des Heterogenen hergestellt werden könne. Diese Überlegungen leitete unmittelbar zur Formulierung der Freund-Feind-Unterscheidung über. Diese stellt die konsequente strukturelle Ausformulierung des Homogenitäts-Konzeptes dar, wenn Schmitt sagt, daß der politische Feind als "in einem intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes" ist.49 Nun erweiterte er die Homogenitätskonzeption, indem er das Substrat der Homogenität mit einer politischen Leitidee identifizierte. Das praktische Vorbild war hierbei sowohl das bolschewistische Rußland wie das faschistische Italien, wo seiner Ansicht nach politische Einheitsbildung funktionierte und sich nicht im permanenten Prozeß der politischen Auseinandersetzung zugleich permanent erschöpfte. Welche politische Idee dergestalt homogenitätsstiftend und dadurch zur politischen Einheitsbildung in der Lage sei, war keine Frage der Dezision, sondern wurde von Schmitt geschichtsphilosophisch
47 Zum Stellenwert des Homogenitätskonzeptes für die politische Theorie Schmitts vgl. Hasso Hofmann: Legitimität gegen Legalität - Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964 (Neuauflage 1992), S. 140 f. u. S. 154 f. 48 Carl Schmitt: Geistesgeschichtliche
Lage (FN 20), S. 14.
49 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen
(FN 35), S. 27.
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beantwortet. Er entwarf ein Modell des Ablaufs verschiedener solcher Leitvorstellungen. 50 Danach führte ein "Weg vom Metaphysischen und Moralischen" über das "Ästhetische" zum "Ökonomischen", welches das beherrschende Zentralgebiet des 19. Jahrhunderts war. 51 Die Wirkung der Bestimmung dieser Zentralgebiete liegt vornehmlich darin, daß alle Probleme verschiedenster Gebiete von diesem einen Zentralgebiet aus gelöst werden; die spezifischen Begriffe erhalten ihren charakteristischen Sinn von dem jeweiligen Zentralgebiet. 52 Dies gilt insbesondere für den Staat: "Vor allem nimmt auch der Staat seine Wirklichkeit und Kraft aus dem jeweiligen Zentralgebiet, weil die maßgebenden Streitthemen der Freund-Feindgruppierungen sich ebenfalls nach dem maßgebenden Sachgebiet bestimmen." 53 Mit dem Ökonomischen als solchem zentralen Leitthema schien Schmitt seinem Dünkel gegenüber der politischen Kraft des ökonomisch-rationalen Denkens zu widersprechen. Aber er löste diesen Widerspruch dadurch auf, daß er zwischen dem liberalen Okonomieverständnis, welches zur politischen Idee unfähig sei, und einem anderen ökonomischen Denken unterschied, wie er es vor allen Dingen im bolschewistischen Rußland zu erkennen glaubte. "Der Sowjetstaat hat den Satz: cuius regio eius oeconomia in einem Umfang verwirklicht, der beweist, daß der Zusammenhang von kompakten Gebiet und kompakter geistiger Homogenität keineswegs nur für die Religionskämpfe des 16. Jahrhunderts und nur für die Maße europäischer Klein- und Mittelstaaten besteht, sondern sich immer den wechselnden Zentralgebieten des geistigen Lebens und den wechselnden Dimensionen autarker Weltreiche anpaßt. "54
Das Ökonomische kann also zur entscheidenden politischen Idee werden, wie das Beispiel des bolschewistischen Rußland zeigen soll, sofern das Ökonomische auch tatsächlich konsequent als politische Idee gehandhabt wird und in der Lage ist, Homogenität zu schaffen. Im weiteren Verlauf seiner Demokratietheorie, insbesondere mit der Darlegung der "identitären Demokratie" geriet die Homogenität in Gestalt der "Gleichartigkeit" immer deutlicher zum Kernelement der politischen Einheit und zum Vehikel der Öffnung des demokratischen Gedankens für die Diktatur. "Das Wort 'Identität' ist für die Definition der Demokratie deshalb brauchbar, weil es die umfassende, d.h. die Regierende wie Regierte einschließende Identität des homogenen Volkes bezeichnet [...) Mit dem Wort 'Identität' ist das Existenzielle der politischen Einheit des Volkes bezeichnet, im Unterschied von irgendwelchen normativen, schematischen oder fiktiven Gleichheiten. Demokratie setzt im Ganzen
50 Carl Schmitt: "Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" [1929 erschienen in der Europäischen Revue unter einem etwas anderen Titel], in: ders.: Der Begriff des Politischen von 1932 (FN 35), S. 79 ff. 51 Ebd., S. 83. 52 Ebd., S. 85 f. 53 Ebd., S. 86. 54 Ebd., S. 87.
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und in jeder Einzelheit ihrer politischen Existenz ein in sich gleichartiges Volk voraus, das den Willen zur politischen Existenz hat."55
Diese Transformation des Homogenitätsaspekts zur "Gleichartigkeit" von Regierenden und Regierten erlaubte es Schmitt endlich, die Demokratie gänzlich von den Fesseln des gewaltenteilenden Parlamentarismus zu befreien. Auf der Grundlage einer solchen Gleichartigkeit konnte Schmitt nun nämlich behaupten, daß die Diktatur eine demokratische Herrschaftsform sei,56 weil die Gleichartigkeit die Identität von Regierten und Regierenden garantierte. Von diesem Konzept war es kein weiter Weg, die Verfassung des Nationalsozialismus auf der Grundlage des Wechsels der Substanz der Gleichartigkeit von der Nation zur Rasse zu entwerfen, wie es Schmitt unternahm. Verfassung war für Schmitt nur der Versuch gewesen, einen normativen Begriff der normativistischen Politikvergessenheit zu entreißen, ohne ihn vollständig der Smendschen Dynamisierungstendenz, die Schmitt als Auflösungstendenz interpretierte, anheim zu geben. Sowohl die Redeweise von der politischen Einheit, die sich in der Verfassung ihren normativen Ausdruck gibt, wie in derjenigen vom Hüter der Verfassung wird deutlich, daß Schmitt weiterhin institutionell-statische Absichten hegte. Das Scheitern der diesbezüglichen Bemühungen radikalisierte die in seiner Politik-Theorie inhärenten Aspekte einer existenziellen und dezisionistischen Sichtweise der politischen Einheit, welche sich nicht in der Auseinandersetzung herstellt, sondern nur durch deren Beendigung sich einstellen kann. Damit kommt die entscheidende Differenz zwischen Smend und Schmitt anhand des unterschiedlichen Begriffs des Politischen zum Ausdruck. In Übernahme der Smendschen Anregung, die formalistischen Grenzen der Staatslehre durch die Betonung des Politischen zu überwinden, hatte Schmitt diesen Gedanken derart radikalisiert, daß er sich schließlich von einem Begriff für die prozessuale politische Einheitsbildung inmitten verfassungsrechtlich fixierter normativer Bestimmung bis zur Unkenntlichkeit gewandelt hatte, und zwar zu einem Begriff der Präfiguration der politischen Einheit jenseits eines politischen Prozesses überhaupt. Diesen Vorgang rückgängig zu machen, ohne die berechtigte Kritik Schmitts an der Vagheit der Smendschen Integrationslehre bezüglich der politischen Einheitsbildung zu ignorieren, unternahm Hermann Heller.
Hermann Heller Hermann Hellers Staatstheorie scheint in wesentlichen Teilen derjenigen Carl Schmitts nicht unähnlich zu sein, er schließt sich sogar teilweise den begrifflichen Vorgaben Schmitts an. In Hellers Behauptung der ewig antagonistischen politischen Auseinandersetzung57 scheint Heller mit Schmitts Freund/Feind-Unterscheidung insoweit konform zu gehen, als auch hier die Unvermeidlichkeit der Konfrontation im Vordergrund steht.
55 Carl Schmitt: Verfassungslehre
(FN 34), S. 235.
56 Carl Schmitt: Geistes geschichtliche
Lage (FN 20), S. 37; ders.: Verfassungslehre
57 Hermann Heller: "Staatslehre" (FN 3), Bd. III, S. 467.
(FN 34), S. 237.
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Ferner verlangt Heller als Voraussetzung der politischen Einheitsbildung die Existenz eines bestimmten Grades an sozialer Homogenität 58 Schließlich definiert Heller den Staat als universale Entscheidungseinheit 59 und betont wie Schmitt die Notwendigkeit des Willens- und Wirkungselementes zum Verständnis des Staates. Aber diese Nähe zu Schmitt hat Heller in eine geradezu unüberbrückbare Ferne gerückt durch seine unterschiedliche Auffassung vom Begriff des Politischen. Zwar geht Heller konform mit Schmitt, wenn er behauptet, eine Freund/Feind-Unterscheidung sei zur Bewahrung der Existenz eines politischen Gemeinwesens nach außen erforderlich, doch lehnt Heller es ab, an diesem Exempel das Politische schlechthin sehen zu wollen; insbesondere sieht nach Hellers Auffassung Schmitt nicht die "Sphäre der innerstaatlichen Einheitsbildung als Politik": 60 "Ließen sich tatsächlich alle politischen Handlungen zurückführen auf die Unterscheidung von Freund und Feind [...] dann wäre die Entstehung und Existenz der politischen Einheit etwas höchst Unpolitisches. Schmitt sieht nur den fertigen politischen status; dieser ist aber nichts Statisches, sondern ein täglich neu zu Gestaltendes." 61 Hier kommt Hellers Rückbesinnung 62 auf das Smendsche Ausgangstheorem zum Ausdruck, welches er wie Smend mit dem Renanschen Satz vom "plébiscite de tours les jours" illustrierte. 63 "Der dynamische Prozeß des Werdens und Sichbehauptens als Einheit in der Vielheit seiner Glieder ist aber Politik in einem der Selbstbehauptung nach außen mindestens gleichwertigen Sinne. Politik kommt von polis, nicht von polemos [...]. 1,64 Die Formel "Einheit in der Vielheit" umreißt das Hellersche Programm. Die Gewinnung der Einheit kann nicht durch Ausscheiden desjenigen erfolgen, welches sich dieser Einheit widersetzt, willentlich oder aufgrund irgendwelcher anthropologischer oder metaphysischer Voraussetzungen. Die Einheit muß innerhalb der Vielheit gewonnen werden, das heißt aber nach Hellers Auffassung, daß sie in Anbetracht der innergesellschaftlichen Antagonismen und nicht durch deren Exklusion gefunden werden muß. "Voraussetzung jeder Staatsbildung ist die Betätigung eines gemeinsamen Willensgehaltes, der fähig ist, die ewig antagonistische gesellschaftliche Vielheit zur staatlichen Einheit zu integrieren. Denn der Staat, das Volk als politische Einheit, existiert weder vor noch über dem Volk als Vielheit, noch ent-
58 Hermann Heller: "Staatslehre" (FN 3), BD III, S. 427. 59 Hermann Heller: "Die Souveränität" [Berlin/Leipzig 1927], in: ders.: Gesammelte Bd. II, S. 31 ff., S. 129 u. passim.
Schriften (FN 3),
60 Hermann Heller: "Politische Demokratie und soziale Homogenität" (1928), in: ders.: Schriften (FN 3), Bd. II, S. 421 ff. u. S. 425.
Gesammelte
61 Ebd. 62 Die Nähe der Smendschen und der Hellerschen Theorie hat Wolfgang Schluchter herausgearbeitet: Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat - Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik [Köln 1968], 2. Aufl., Baden-Baden 1983, S. 52-89. 63 Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 3), S. 136; Hermann Heller: "Souveränität" (FN 59), Bd. II, S. 104 und ders.: "Politische Demokratie" (FN 60), Bd. II, S. 425; gegen die Anwendung des berühmten Wortes von Ernest Renan wendet sich strikt Carl Schmitt: Legalität und Legitimität [1932], Berlin 1988, S. 92 f. 64 Hermann Heller: "Politische Demokratie" (FN 60), Bd. II, S. 425.
Die Theorie politischer
Einheitsbildung
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steht er durch ein bloß vernünftiges sich 'Vertragen' dieser Vielheit. Entscheidend ist deshalb stets die Frage, wieviel als Einheit, als gemeinsamer 'organischer' Willensgehalt in jedem Augenblick vorgegeben ist und wieviel rational vereinheitlicht, 'organisiert' werden kann und muß [ . . . ] Politik ist immer Organisation v o n Willensgegensätzen auf Grund einer Willensgemeinschaft. "65
Der kategoriale Unterschied zwischen Heller und Schmitt liegt in der unterschiedlichen Einschätzung des Spannungsverhältnisses der Einheit und Vielheit. Während Carl Schmitt zeit seines Lebens auf der Suche war nach dem politischen Anknüpfungspunkt der rechtlichen Betrachtung, und er die Kongruenz von rechtlicher und politischer "Ordnung" ermitteln wollte, dabei aber den Prozeß der Errichtung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung durch menschliche Praxis schließlich vollständig aus dem Auge verlor (Nomos der Erde), beharrte Heller auf einen Begriff des Politischen, welcher die Praxis, nämlich die permanente Selbstorganisation der menschlichen Vielheit von Individuen zu einem einheitlichen Willens- und Wirkungszusammenhang zum Inhalt hatte. Der Staat ist "organisierte Entscheidungs- und Willenseinheit".66 Damit betonte Heller mit Smend die Konzentration auf den Vorgang der Einheitsbildung, ging aber über Smend hinaus, indem er gegenüber der Vielfalt integrationsstiftender Sinngebilde, Symbole und Anhaltspunkte auf ihre organisatorische Bündelung zu einem einheitlichen Zusammenwirken der Beteiligten drängte und nicht nur der kontemplativen Schau der etwa in der Fahne symbolisch zu Bewußtsein gebrachten politischen Einheit überließ. Doch Heller bezieht gegen Schmitt eine normativistische Position: Die Einheitsbildung ist nicht nur ein organisatorischer und damit soziologisch beobachtbarer Vorgang, sondern erfolgt in entwickelten Gesellschaften auf der Grundlage einer selbst entworfenen Normativität, die in der Verfassung zum Ausdruck gelangt. Die Verfassung ist der normative Kontrapunkt der Organisation. Die Norm fixiert auf mehr oder weniger rationale Weise den Inhalt des Organisationswillens der Beteiligten: insofern ist die Verfassung nicht nur eine normative Explikation des gegenwärtigen Verwirklichungswillens der Beteiligten, sondern auch eine Fixierung ihrer in der Norm projektierten leitenden Zielvorstellungen für die erst zu erschaffende Normalität.67 Nur durch die normative Projektion der angestrebten Zielvorstellung kann überhaupt das Verhalten der Bürger zu einem mehr oder weniger einheitlichen, jedenfalls aber kompatiblen Zusammenwirken organisiert werden; erst die Normalität ermöglicht Kontinuität des Verhaltens und erst mit dieser Kontinuität erwächst der politischen Einheit Realität im Sinne einer "Erzeugung des Staatszusammenhangs in der Zeit".68 So überwindet die Schaffung von Kontinuität die Vorstellung einer immer nur punktförmigen Gegenwart der politischen Einheit und gibt ihr Realität für einen zeitlichen Zusammenhang. Der Staat ist nicht nur ein territoriales, sondern auch ein zeitliches Kontinuum, getragen von den normativ sich spiegelnden Vorstellungen der Rechtsgenossen. Damit hat Heller dasjenige, was später
65 Hermann Heller: "Europa und der Fascismus" ( F N 29), Bd. II, S. 4 6 7 . 66 Hermann Heller: "Staatslehre" ( F N 3), Bd. III, S. 339 ff. 67 Ebd., S. 365. 68 Ebd., S. 378.
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soziologisch die Verhaltens- und Erwartungsstabilität der Akteure heißen wird, in das Verständnis der politischen Funktion der Verfassung integriert. "Jede menschliche Organisation besteht, indem sie immer von neuem entsteht. Sie hat ihre aktuelle Wirklichkeit in der augenblicklichen Wirksamkeit des zur einheitlichen Aktion geordneten Verhaltens der Beteiligten. Ihre potentielle Wirklichkeit wird ausgedrückt durch die relativ berechenbare Wahrscheinlichkeit eines in der Zukunft in ähnlicher Weise wiederkehrenden Zusammenwirkens der Beteiligten. Die aktuelle und künftig in gleicher Weise erwartete Gestaltung des Zusammenwirkens, durch welche sich Einheit und Ordnung der Organisation immer von neuem bildet, nennen wir eine Verfassung im Sinne der Wirklichkeitswissenschaft." 69
Die Erzeugung von Normalität durch die von der Entscheidungseinheit erzeugten Normen ist ein Versuch, der scheitern kann. Insofern spricht Heller auch vom "Normensetzungsexperiment".70 Der Erfolg dieses Experimentes ist an Voraussetzungen geknüpft, die Heller mit Schmitt als Homogenität bezeichnet, welcher er aber in der Formel von der "sozialen Homogenität" eine entscheidende Wende gibt. Denn soziale Homogenität soll kein substantielles Substrat sein, welches die politische Einheitsbildung als praktisch-politische Aufgabe ersetzen soll, sondern die Voraussetzungen der politischen Einheitsbildung als eines willentlichen Vorganges ermöglichen. Die Akteure müssen in ihren Handlungen von der Vorstellung begleitet sein, daß eine Einigung mit den politischen Kontrahenten möglich ist, wenn auch erst in Zukunft. Daher dürfen die sozialen Differenzen der Kontrahenten nicht ein Maß erreichen, welches in der Vorstellung der Beteiligten die diskutierende, auf Einigung bedachte parlamentarische Auseinandersetzung unmöglich erscheinen und daher die physische Auseinandersetzung als einzige Lösung übrig läßt. "Tatsächlich ist die geistesgeschichtliche Basis des Parlamentarismus nicht der Glaube an die öffentliche Diskussion als solche, sondern der Glaube an die Existenz einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage und damit die Möglichkeit eines fair play für den innerpolitischen Gegner, mit dem man sich unter Ausschaltung der nackten Gewalt einigen zu können meint. Erst dort, wo dieses Homogenitätsbewußtsein verschwindet, wird die bis dahin parlierende zur diktierenden Partei." 71
Damit wird deutlich, daß Heller mit "sozialer" Homogenität und "Antagonismus" nicht jenes Konzept meint, welches mit der Gewinnung struktureller ökonomischer Gleichheit gesetzmäßig die politische Auseinandersetzung geschichtsphilosophisch für erledigt und den Staat daher für überflüssig erachtet.72 Aus ihm könnte sich die Berechtigung ablei-
69 Hermann Heller: "Staatslehre" (FN 3), BD. III, S. 362. 70 Ebd., S. 372. 71 Hermann Heller: "Politische Demokratie" (FN 60), Bd. II, S. 427. 72 Dies zu betonen unternahm Hermann Heller unverdrossen gerade gegenüber seinen diesbezüglich energisch protestierenden sozialistischen Weggefährten, insbesondere in "Sozialismus und Nation" [1925], in: ders.: Gesammelte Schriften (FN 3), Bd. I, S. 437 ff.; ferner ders.,: "Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart" [1929], in: ders.: Gesammelte Schriften (FN 3), Bd. II, S. 249 ff. u. 260 ff., dort gegen marxistische Illusionen einer Aufhebung der Antagonismen.
Die Theorie politischer
Einheitsbildung
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ten könnte, wiederum mit diktatorischen Mitteln jenen Zustand zu erreichen, welcher alle politische Herrschaft sich erübrigen läßt. So versteht Heller die Rede vom Klassenkampf 3 auch nicht als einen aufgrund metaphysischer Gesetzmäßigkeiten unaufhebbaren Zustand, sondern als Vorstellung jener Akteure, die ihre Differenzen zum politischen Gegner für strukturell unaufhebbar erachten. Der Klassenkampf konnte daher für Heller kein politisches Mittel sein, sondern verhinderte die Anwendung politischer Mittel. Dieser Effekt wurde aber wesentlich radikaler erreicht durch die zynische Ablehnung einer auf gegenseitigem Verständnis und auf Erzielung eines gemeinsamen Handlungsergebnisses bedachten politischen Grundeinstellung durch den Weimarer AntiParlamentarismus, der die Diktatur dem Parlament vorzuziehen trachtete. Heller konnte sich dies nur noch mit einer mentalen "Desertion vom Geiste"74 erklären, die aus unmündiger Müdigkeit zu einer anspruchsvollen politischen Aufgabe nicht mehr in der Lage war und sich in die Diktatur flüchtete. Dieser Zwei-Fronten-Kampf gegen den Extremismus einerseits und das seiner politischen Aufgabe müde gewordene Bürgertum andererseits zeichnete Hellers Kampf um die Verfassung aus. Die Verfassung konnte ihre politische Funktion nur erfüllen, wenn man sie ernst nahm und nicht ohne Not die von ihr vorgesehenen institutionellen Vorgaben umging. Nicht die Diktatur konnte die dilatorischen Formelkompromisse der Verfassung überwinden, sie konnte sie nur mit Hilfe von "diktatorischen Formelkompromissen" verschleiern und sich den Schein einer Lösung der Problematik geben. Nur der Parlamentarismus konnte die Schwächen der Verfassung verfassungsgemäß beseitigen, doch war es hierfür unbedingt nötig, sich ein wirksames Entscheidungszentrum zu geben, und das konnte nur die parlamentarische Regierung sein. In dieser Kritik kam Heller mit Schmitt verfassungspolitisch überein, nur zog er andere Konsequenzen daraus. Am Beispiel von Rudolf Smend, Carl Schmitt und Hermann Heller kann festgehalten werden: Die Logik von Einheit und Vielheit ist als Problem der politischen Einheitsbildung nicht einseitig aufhebbar. Eine politische Theorie, die sich dem Phänomen moderner politischer und gesellschaftlicher Machtverflechtung widmen will, muß diese Logik bei ihrer Theoriebildung berücksichtigen. Dies findet seine Anwendung aber auch für die Konzeptionierung neuer, supranationaler Vorstellungen von Staatlichkeit, die sich nicht auf die selbstläufige Integrationskraft sachrationaler, d.h. rein bürokratischer oder ökonomischer Tragkraft verlassen darf, sondern politische Einheit als Prozeß politischer Einheitsbildung verstehen und sich hierfür des wirksamsten Mittels, des verfassungsstaatlichen Parlamentes bedienen muß.
73 Hermann Heller: "Politische Demokratie" (FN 60), Bd. II, S. 430. 74 Hermann Heller: "Rechtsstaat oder Diktatur?" [1930], in: ders.: Gesammelte Schriften (FN 3), Bd. II, S. 435 ff. u. S. 461.
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Das gilt insbesondere für den europäischen Prozeß der Einheitsbildung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner maßgeblichen Maastricht-Entscheidung vom 12. Oktober 1992 in seiner entscheidenden Argumentation auf Hermann Heller verwiesen:75 "Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es - relativ homogen - geistig, sozial und politisch verbindet [hier der Verweis auf Heller], rechtlichen Ausdruck zu geben. [Abs.] Aus alledem folgt, daß dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müssen."
Insofern ist die Beschäftigung mit der Weimarer Auseinandersetzung um das Problem politischer Einheitsbildung auch heute noch von Nutzen.
75 Aus den Entscheidungsgründen des Urteils des 2. Senates vom 12. Oktober 1992, 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, Teil C I. 2 b 2 am Ende, zit. nach dem Abdruck in: EuGRZ, 20 (1993), S. 429 ff. u. S. 438.
Ulrich K. Preuß
Die Weimarer Republik - ein Laboratorium für neues verfassungsrechtliches Denken
I. Die Verfassungstheorie der Weimarer Republik ist in Deutschland bis auf den heutigen Tag prägend gewesen. Das heißt nicht, daß das Grundgesetz und die Bonner Republik etwa keine verfassungspolitischen und -rechtlichen Innovationen hervorgebracht hätten - das Gegenteil ist der Fall. Aber diese Grundgesetz-Innovationen sind nur denkbar, weil es zuvor die intensivsten theoretischen Debatten über die Weimarer Verfassung gegeben hat. Mit der Weimarer Verfassung wurde das konstitutionelle Denken in Deutschland - und vielleicht sogar darüberhinaus - genötigt, in das Zeitalter der Moderne einzutreten. Die Verfassungstheorie und das Verfassungsrecht mußten sich mit der unversöhnlichen Zerrissenheit der sozialen und politischen Welt der modernen und dynamischen Massengesellschaft auseinandersetzen, ohne Hoffnung auf einen Zustand der Harmonie, der "natürlichen" Stabilität und der "Erlösung". Weimar wurde - wie es immer wieder gesagt worden ist - zum politisch-gesellschaftlichen Laboratorium für das große Experiment, Demokratie und Kapitalismus miteinander wenn nicht zu versöhnen, so doch wenigstens ihre friedliche Koexistenz zu ermöglichen. Massenwahlrecht, Parteienkonkurrenz auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts, ein institutionalisiertes Tarifvertragssystem und ein antagonistischer Pluralismus ökonomischer und sozialer Verbände waren die Elemente der neuen Verfassung, welche die für das 19. Jahrhundert charakteristischen Probleme des Gegensatzes von Bürgertum und monarchistischem Beamten- und Militärstaat geradezu idyllisch erscheinen ließen. In Weimar ging es um nichts Geringeres als um die Integration des Klassenkampfes in das System der politischen Institutionen, nachdem der Ausgang des Ersten Weltkriegs die Hegemonie des Bürgertums jedenfalls soweit erschüttert hatte, daß eine Ausgrenzung der Arbeiterklasse aus den Sicherungen des Verfassungsstaats nicht länger möglich war. Versuche, die neue gesellschaftliche Realität verfassungsrechtlich zu kanalisieren und zu rationalisieren, hatte es bereits vor Ende des Krieges gegeben, wobei vor allem an Max Weber und seine einflußreiche Schrift Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland zu denken ist.1 Die Weimarer Verfassung ist als das Ergebnis dieser Be1
Vgl. zur Entstehung der Weimarer Verfassung neuestens Christoph Gusy: "Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung", Juristenzeitung (1994), S. 753-763, mit ausführlichen Nachweisen aus der verfassungsgeschichtlichen Literatur.
178
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mühungen die erste wirklich moderne Verfassung, insofern sie den Versuch unternimmt, auf massendemokratischer Grundlage die schöpferisch-zerstörerische Dynamik der kapitalistischen Ökonomie und die "soziale Verantwortung" des Staates institutionell miteinander zu verbinden. Wie reagierte die Weimarer Staatsrechtslehre darauf? Obwohl es hierzu eine Vielzahl äußerst interessanter, aber auch sehr heterogener Beiträge gegeben hat, soll hier nur von zwei besonders bedeutsamen und folgenreichen Denkern gesprochen werden, nämlich von Carl Schmitt (II.) und Hermann Heller (III.). In einer Abschlußbemerkung soll kurz auf die Bedeutung dieser beiden verfassungstheoretischen Ansätze für die gegenwärtige deutsche Verfassungstheorie eingegangen werden (IV.).
II. Für Carl Schmitt stellte sich die Modernität der Weimarer Republik, insbesondere also der ökonomische und soziale Pluralismus, die parteipolitische Zerrissenheit der Gesellschaft und der darin zum Ausdruck kommende Verlust an kulturellen, religiösen und sozialen Gewißheiten vor allem als das Schrecknis des gesellschaftlichen Chaos dar. So hat ihn denn zeitlebens die Theorie des Thomas Hobbes beeindruckt und beschäftigt, der vor allem in seiner berühmtesten Schrift Leviathan begründete, warum aus dem gesellschaftlichen Chaos Ordnung und Friede nur durch eine allen sozialen Mächten überlegene souveräne Gewaltordnung gestiftet werden könne. Hobbes hatte es zu seiner Zeit - im 17. Jahrhundert - mit den religiösen Bürgerkriegen zu tun. Schmitt schreibt 1931 mit Blick auf den Pluralismus der politischen und sozialen Kräfte der Weimarer Republik, daß nur der effektive Staat "der Ursache aller Unordnung und Bürgerkriege, dem Kampf um das normativ Richtige, ein Ende macht" } Dabei gilt ihm der Weimarer Verfassungsstaat, d.h. also die pluralistische parlamentarische Demokratie, als der un-effektive Staat. Das Parlament ist für ihn vor allem der institutionelle Ausdruck der gesellschaftlichen Spaltungen, was für ihn gleichbedeutend mit Schwäche und Verfall ist. Für ihn gilt, daß der Staat, der nicht in der Lage ist, durch ein Machtwort jederzeit gesellschaftlichen Streit zu beenden, nicht den latent stets drohenden Bürgerkrieg verhindern kann. Dies kann, ganz im Sinne von Hobbes, nur der Staat, der alle Zeichen der Souveränität besitzt, vor allem also das unangefochtene Monopol der physischen Gewaltsamkeit. Hierin kommt ein Staatsverständnis zum Ausdruck, das im deutlichen Widerspruch zu den Prämissen des Verfassungsstaates steht. Von ihm läßt sich vergröbernd sagen, daß er ein Formgefüge ist, durch das die "Stunde der Wahrheit", d.h. die souveräne Entscheidung über den letztverbindlichen Inhalt der Ordnung permanent aufgeschoben und in komplizierten Verfahren, Gewaltenbalancierungen und Kompetenzverteilungen kleingearbeitet und domestiziert wird. Ihm geht es gewissermaßen darum, "letzte Fragen" zu vermeiden und sich in der Praxis der Bewältigung vorletzter Fragen zu bewähren. Carl Schmitt dagegen zielt auf die "letzten Fragen". Er interessiert sich umgekehrt stets für die Bedingungen und Wirkungsmöglichkeiten jenes Vorgangs, in dem durch
2
Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung
(1931), 2. A u f l . , Berlin 1969, S. 75 f.
Die Weimarer Republik
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einen schöpferischen souveränen Gewaltakt erst jene Ordnung aus dem Chaos geschaffen werden kann, ohne die es für ihn gar keine Normalität gibt. Souveränität, Diktatur, Ausnahmezustand, Entscheidung - das sind die Schlüsselbegriffe seiner Staatstheorie, die, wie Schmitt selbst in bezug auf den Ausnahmezustand in der Politischen Theologie schrieb, 3 für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung haben wie das Wunder für die Theologie oder wie der schöpferisch geniale Akt des Künstlers in der Ästhetik. So hat der Begriff der Rechtsordnung für ihn auch nicht die konventionelle Bedeutung einer durch Recht geschaffenen und strukturierten Ordnung, d.h. einer Ordnung, die gerade dadurch Ordnung ist, daß sie einen Rechtszustand darstellt, sondern die gegenteilige: Die Rechtsordnung ist ein spannungsreicher Widerspruch, insofern das Element der Ordnung einen dem Recht vorgelagerten, durch nicht-rechtliche souveräne Autorität gestifteten Zustand darstellt, dem rechtliche Normierungen nachträglich eine bestimmte Form geben, dessen Existenz als dem überall lauernden Chaos abgetrotzter Zustand jedoch nicht auf der Kraft des Rechts, sondern der Souveränität eines Ordnungsstifters beruht, letztlich auf der ordnungsstiftenden Kraft der Gewalt. Ein Staat, der sich den pluralistischen Mächten der Gesellschaft überläßt, mag dann eine Zeitlang eine Ordnung des prekären Gleichgewichts antagonistischer Kräfte genießen; sobald aber die selbstdestruktiven Kräfte der gespaltenen Gesellschaft die Überhand gewinnen, bedarf es jener vor-rechtlichen souveränen Gewalt, die der authentische Garant für gesellschaftlichen Frieden und Stabilität ist. Nun wird man zu Recht einwenden, daß dieser Antipluralismus auch und insbesondere in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts keineswegs sonderlich originell war - er entsprach der deutschen militärisch-bürokratischen Staatstradition des 18. und 19. Jahrhunderts und hatte auch nach 1919 eine breite Anhängerschar. In der Tat war der AntiPluralismus und Anti-Liberalismus Carl Schmitts nicht seine eigene Erfindung. Neu, durchaus originell und bis heute nicht erledigt war dagegen die mit präziser, kalter und geradezu bösartiger Wucht vorgetragene Argumentation - im Gegensatz zu den dem konstitutionellen Denken des 19. Jahrhunderts verhafteten schlichten Reaktionären schmiedete er nämlich aus der Modernität der Weimarer Verfassung die Waffen gegen sie selbst, indem er ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen und Funktionsbedingungen - die Normalität (und die inneren Widersprüche) einer bürgerlich kapitalistischen Ordnung - zu ihrem substantiellen Inhalt erklärte und sie dadurch der inneren Selbstzerstörung anheimgab. Was heißt das? Schon Dürkheim hatte erkannt, daß jeder Vertrag auf Voraussetzungen beruht, die ihrerseits nicht durch Vertrag gewährleistet werden können. Hierzu bedarf es anderer gesellschaftlicher Vorkehrungen. Wenn die Weimarer Verfassung Eigentums- und Vertragsfreiheit, Erbrecht, Ehe und Familie und die klassischen liberalen Freiheiten garantierte, so setzte sie damit voraus, daß dadurch die normale bürgerliche Ordnung der kapitalistischen Ökonomie und der privaten Freiheit gewährleistet war. Für Schmitt - und übrigens für jede marxistisch orientierte linke Verfassungstheorie - war das dagegen keineswegs selbstverständlich. Vor aller durch Grundrechte
3
Carl Schmitt: Politische Berlin 1979, S. 49.
Theologie.
Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität
[1922, 1933], 3. A u f l . ,
180
Ulrich K. Preuß
und Gewaltenbalancierung normierten Normalität erkannte er die Existenz einer gewaltsam garantierten Ordnung, auf deren Grundlage erst die Regelhaftigkeiten verfassungsrechtlicher Normierungen funktionieren und ihren Sinn erhalten konnten. 4 Dieser Zusammenhang galt natürlich bereits für das 19. Jahrhundert, nur ging der liberale Optimismus davon aus, daß die strikte Befolgung der rechtsstaatlichen Normierungen kraft der berühmten, von Adam Smith angerufenen "invisible hand" stets auch eine gesellschaftliche Ordnungsnormalität produziert. Tat sie es nicht, so mußte entweder die Verfassung geändert werden, oder die Bewahrung der Ordnung war nur um den Preis des Verfassungsbruchs möglich. Staatsrechtlich äußerte sich die Krise des bürgerlichen Verfassungsstaates im Ausnahme- und Belagerungszustand. Carl Schmitt nun erklärte für die Weimarer Verfassung, daß nicht so sehr die einzelnen geschriebenen verfassungsgesetzlichen Normierungen, sondern die durch sie geschützte, den positiv-rechtlichen Normierungen vorausliegende Ordnung die Verfassung im emphatischen Sinne, nämlich im Sinne der grundlegenden politischen Existenzentscheidungen des deutschen Volkes, darstelle. Er machte damit die folgenreiche Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz. 5 Folgenreich war diese Unterscheidung insofern, als danach entgegen der von Liberalen bis hin zu Sozialdemokraten als unumstößlich angesehenen Wahrheit die Integrität der geschriebenen Verfassungsnormen keinesfalls als Maßstab für die Normalität der politischen Verhältnisse oder gar für das Wohl des Landes angesehen werden konnte. Nach der Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz kann die politische Substanz der Verfassung - Verfassung im Sinne der den Normierungen zugrundeliegenden politischen Ordnung bereits zerstört sein, wenn die positiv-rechtlichen Normierungen noch strikt eingehalten werden. Umgekehrt kann aber auch die Verletzung der Normierungen des positiven Verfassungsrechts durchaus verfassungsbewahrend sein, dann nämlich, wenn derjenige, der den Verfassungsgesetzesbruch begeht, für sich reklamiert, daß er die Verfassung im Sinne der politisch-substantiellen Entscheidungen eines Volkes - vor ihrer Zerstörung bewahrt. Damit - und hierin liegt das eigentliche Skandalon der Schmittschen Theorie - wird die sich aller normierten verfassungsrechtlichen Bindungen entledigende Diktatur zu einem latenten Element des Verfassungsstaates. Das klingt der marxistischen These sehr ähnlich, daß der bürgerliche Verfassungsstaat nur die rechtlich verhüllte Form der Diktatur der Bourgeoisie sei, die sich hinter den rechtlichen Normierungen, Freiheiten, Gewaltenbalancierungen und -hemmungen verbergende Ordnungssubstanz des Klasseninteresses der Bourgeoisie. Aber Carl Schmitt meint es anders, obwohl er durchaus nicht viel für den liberalen Privatismus und das bourgeoise Sekuritätsstreben übrig hat, das er in den rechtsstaatlichen Elementen der Verfassung erkennt.
4
Carl Schmitt: Politische Theologie (FN 3), S. 15 ff., wo es z.B. heißt, "jede Ordnung beruht auf einer Entscheidung [...] Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm" (S. 16). Die Rechtsordnung müsse aus dem Chaos als eine normale Situation geschaffen werden, "und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht" (S. 20).
5
Carl Schmitt: Verfassungslehre
[1928], 4. Aufl., Berlin 1954, S. 20 ff.
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Die Weimarer Republik
Ein System von Machtbegrenzungen kann nach Carl Schmitt selbst keine Ordnung stiften, sondern setzt eine bestehende Ordnung voraus; die Kraft, die sie stiftet, ist die wirklich politische Kraft, die der bürgerlichen Verfassung ihre Substanz verleiht. War diese Kraft im 19. Jahrhundert die Monarchie, so ist sie in der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts das Volk. Das erkennt Carl Schmitt an, und darin besteht auch seine Modernität gegenüber den monarchischen Reaktionären unter seinen staatsrechtlichen Kollegen. Das demokratische Prinzip ist für Carl Schmitt das wahrhaft politische Prinzip der Verfassung,6 wobei er allerdings die Demokratie als politisches Formprinzip keineswegs mit der sozialen Bewegung der Arbeiterklasse oder überhaupt irgendeiner sozialen Bewegung in Verbindung bringt. Demokratie ist das Formprinzip der Identität des Volkes mit sich selbst auf der Grundlage seiner Gleichartigkeit und Homogenität, die es von anderen Kollektiven unterscheidet7 - sie ist folglich in Wahrheit bei ihm nicht Herrschaft des Demos, sondern des Ethnos. Demokratische Identität im Sinne der Identität von Regierenden und Regierten bedeutet für ihn, daß die Regierenden "ihrer Substanz nach in der demokratischen Gleichheit und Homogenität verbleiben"8 und daß das Volk seine Identität im Sinne seiner substantiellen Eigenart bewahrt - alles dies sind Charakterisierungen, die auf eine Verwechslung von Demos und Ethnos verweisen. Wenn infolgedessen Demokratie soviel wie die Bewahrung der Eigenart und Identität des Volkes (im Sinne von Ethnos) bedeutet, dann ist diese Art von Demokratie durchaus mit intensivster Herrschaft vereinbar, ja eine Diktatur im Sinne der Bewahrung der politischen Existenz des Volkes "ist nur auf demokratischer Grundlage möglich".9 Das ist nur konsequent: Wenn Demokratie Selbstbehauptung des homogenen Volkes ist, dann kann das Volk in der Akklamation zu einem plebiszitär gewählten Führer unmittelbarer mit sich identisch sein als durch eine Versammlung von Repräsentanten. Die Bedeutung Carl Schmitts für die über Weimar hinausweisende Verfassungslehre des 20. Jahrhunderts liegt darin, daß er methodisch den Weg gewiesen hat, im bürgerlichen Verfassungsstaat die Potentialität der latenten Diktatur zu erkennen, ja unter gewissen historischen Umständen den Weg zur Ent-Fesselung der dem Verfassungsstaat vorausliegenden und von ihm gezähmten politischen Potenzen zu weisen. Es werden bestimmte Verfassungsinhalte substantialisiert, sie werden zum - Carl Schmitt würde sagen: politischen, d.h. wirksam Freund und Feind unterscheidenden - Kern der Verfassung erklärt, vor dem alle anderen Normierungen zu relativieren sind. Die sozialen Mächte, die in der Lage sind, sich zum Hüter dieser "wirklichen" Verfassung zu erklären, haben damit das Instrument in der Hand, durch die Definition von "Verfassungs-
6
Carl Schmitt: Verfassungslehre (FN 5), S. 223 ff.; ders.: Hüter der Verfassung (FN 2), S. 156 ff.; Carl Schmitt: "Legalität und Legitimität", in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 19241954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 263-350, hier S. 335 ff.
7
Carl Schmitt: Verfassungslehre (FN 5), S. 234 ff.; hierzu Verf.: "Der Zusammenhang von Gleichheit und Demokratie in der Verfassungstheorie Carl Schmitts", in: F. de Pauw u. M. Weyembergh (Hg.): Gleichheit und Konservatismus, Zwolle 1985, S. 117-134.
8
Carl Schmitt: Verfassungslehre
9
Ebd., S. 237.
(FN 5), S. 236.
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feinden" sich zum Garanten einer Ordnung zu proklamieren, die im Gegensatz zum Ordnungsmodell liberal-demokratischer Normierungen eine politische Substanz zu verteidigen hat. Daß dieses Konzept eine deutliche Präferenz für und Bevorzugung der Exekutive sowohl vor der Legislative wie vor der Judikative enthält, sei hier nur am Rande erwähnt. Obwohl man Schmitts Verfassungstheorie in ihrem durch politischen Opportunismus nicht kontaminierten Kern, der ja bereits vor 1933 entstanden war, keinen nationalsozialistischen Charakter nachsagen kann, steht sie doch wegen ihrer exekutivisch-autoritären Tendenz andererseits auch dem liberal-demokratischen Verfassungsmodell anglo-amerikanischer Provenienz ziemlich fremd gegenüber.
III. Carl Schmitts Verfassungstheorie war antipositivistisch, weil sie die politischen Grundlagen und Voraussetzungen des Staats- und Verfassungsrechts zur Sprache brachte und in die Verfassungsauslegung einbezog. Er gab dem Verfassungsrecht seinen genuin politischen Charakter zurück. Tatsächlich hatte ja eine rein positivistische Verfassungslehre größte Schwierigkeiten, die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme der modernen Massendemokratie zu thematisieren und für sie angemessene politisch-rechtliche Ordnungskonzepte zu entwickeln. Der staatsrechtliche Positivismus der Weimarer Epoche beruhte im wesentlichen auf der liberalen Vorstellung, daß die staatliche Gewalt begrenzt, organisiert, verfaßt werden müsse, um die Rechte des Einzelnen zu wahren. Politische Macht wurde in dieser Schule als etwas zu Bändigendes, zu Begrenzendes angesehen, nicht als eine positive Kraft, die dazu genutzt werden konnte, die vor- und unpolitisch verstandenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu ordnen, zu rationalisieren und zu humanisieren. Im wesentlichen waren und sind es dabei zwei Elemente, die aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch sind, weil sie als vor-politisch angesehen wurden und daher als der Sphäre der Verfassung unzugänglich galten, nämlich zum einen die Existenz des Volkes als Nation, zum anderen seine Existenz als Gesellschaft. Das Volk als Nation wird als der Verfassung vorausliegend und damit gewissermaßen als vorpolitische Ur-Tatsache aufgefaßt, wo ein ethnisches Verständnis von Nation vorherrscht: dann konstituiert ein gemeinsames Schicksal, eine gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Sprache, Literatur, Kultur, häufig auch die Gemeinsamkeit der Religion jene ursprüngliche, ja fast schon "natürliche" Gemeinsamkeit, die sich jeder kritischen Infragestellung entzieht. Das Volk als Ethnos, die ethnische Nation, ist eine Imagination und Konstruktion, derzufolge sie eine heile und unzerstörbare Ur-Tatsache darstellt, geradezu existentielle Gemeinschaft bildet, die durch die spaltenden und destruktiven Tendenzen der modernen Marktgesellschaft in Frage gestellt wird und sich dieser gegenüber in einem dauernden Selbstbehauptungskampf befindet. In diesem Verständnis von Nation ist die Verfassung und ihr kompliziertes Netz der Legalität nichts weiter als gewissermaßen ein Überwurf über diese Vorgegebenheit, nicht etwas, was die Nation etwa konstituiert oder ihr eine politische Form gibt, sondern sich ihr anpaßt. Wenn aber die Bedürfnisse jener vorpolitischen Nation und die Erfordernisse der Verfassung kollidierten, so half schon im 19. Jahrhundert der Ausnahme- oder Belagerungszustand. Das
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war dann gewissermaßen die Stunde der Not, in der es die Staatsräson erlaubte, ja gebot, das feingeknüpfte Netz der Verfassung abzuwerfen und mit extra-konstitutionellen Mitteln die Ordnung wiederherzustellen. Carl Schmitt war nun der erste, der es dabei nicht bewenden lassen wollte und eine Versöhnung von (vorpolitischer) Nation und Verfassung im Auge hatte, indem er die Verfassung im Sinne jenes vorpolitischen Nationbegriffs substantialisierte. Er definierte die Verfassung als den rechtlichen Ausdruck der vorpolitischen existentiellen Einheit, der ethnischen Nation; die Verfassung wurde gewissermaßen zur heiligen, fast mythischen Schrift des Volkes in seiner existentiellen Einheit und Identität mit sich selbst. Das war es, was Carl Schmitt unter dem Begriff der politischen Einheit verstand und mit der Essenz der Verfassung identifizierte. Gab die Verfassung dieser existentiellen Einheit keinen Ausdruck - z.B. indem sie dem Klassenkampf oder dem interessegeleiteten und partikularistischen sozialen Pluralismus Raum gab - , so war sie dann nur noch formales Verfassungsgeseiz, aber nicht Verfassung im anspruchsvollen Sinne der rechtlichen Anerkennung der vor-rechtlichen Existenz des Volkes. Damit politisierte Carl Schmitt eine vorpolitische Gegebenheit - die Nation. Aber indem er diesen ethnisch gefärbten Begriff der Nation an die Stelle des Demos setzte und damit die existentielle Selbstbehauptung einer homogenen Gemeinschaft zum Inbegriff des demokratischen Prinzips der Verfassung erklärte, löste sich in seiner Verfassungstheorie die Idee der Demokratie von den universalistischen Prinzipien der politischen Freiheit, der Bürger- und Menschenrechte, der gesellschaftlichen Heterogenität und der politisch-sozialen Pluralität. Sie verband sich bei ihm mit dem, was die ßA/zoj-Nation charakterisiert, nämlich Einheit, Homogenität, Geschlossenheit, Exklusivität, kurz: Gemeinschaft anstelle von Gesellschaft. Dieses auf Ausschluß des Nicht-Homogenen gerichtete und daher latent aggressive Konzept der Politik wurde bei Carl Schmitt zum Kern des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips, dem gegenüber alle Erscheinungsformen des politisch-sozialen Pluralismus, insbesondere das parlamentarische System mit seinen auf Kompromißbildung gerichteten Vermittlungsformen, zu Degenerationserscheinungen der Politik wurden; sie gehörten zwar zum geschriebenen Legalitätssystem der Verfassung, aber substantiell hatten sie keinen Anteil an dem, was den demokratischen Kern der Verfassung konstituierte: die existentielle Einheit, Homogenität und Gleichartigkeit des ethnisch-nationalen Volkes. Wenn man es jenseits aller ganz praktischen Funktionen einer Verfassung als ihre wesentliche Aufgabe betrachtet, einer Gesellschaft den Weg zur aufgeklärten kollektiven Selbstregierung zu weisen, so kann man sagen, daß Carl Schmitt mit seiner Verfassungskonzeption den umgekehrten Weg gewiesen hat: wie nämlich eine Gesellschaft durch Flucht in die - trügerische - Einheit, Homogenität und Gleichartigkeit der ethnischen Nation sich des einzig gangbaren Mittels entledigt, sich in vernünftiger Weise mit ihrer Zerrissenheit zu konfrontieren und trotz dieser Zerrissenheit humane Lebensverhältnisse zu bewahren. Das andere vorpolitische, d.h. der Verfassung in ihrem liberalen Verständnis vorgelagerte, von ihr daher vorausgesetzte und nicht explizit thematisierte Element ist das Volk als Gesellschaft. Damit sind im wesentlichen jene sozialökonomischen Klassenverhältnisse gemeint, die die Verteilung von Ressourcen, ökonomischen Chancen, sozialen Status und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten strukturieren und die in Europa
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seit etwa dreihundert Jahren durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung bestimmt werden. Die grundlegende politische Verfassungsidee des Liberalismus bestand darin, die im wesentlichen über den Markt gesteuerten Prozesse der Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen von der Sphäre der Politik und ihrer durch die Verfassung geformten und domestizierten Gestaltungsmittel fernzuhalten. Die privaten Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse liegen nach diesem Konzept der Verfassung voraus - so wie auf der politischen Rechten die Nation eine selbstverständliche vorpolitische und damit vorverfassungsrechtliche Gegebenheit ist, so ist es im klassischen liberalen Paradigma die Gesellschaft: die in ihr herrschende Ungleichheit, die daraus fließenden Abhängigkeitsund Herrschaftsverhältnisse, die sozialen Spannungen sind danach vorpolitisch und daher einer Thematisierung durch die Verfassung nicht zugänglich. Hier nun wird die Bedeutung Hermann Hellers für die Entwicklung eines modernen Verfassungsbegriffs deutlich, eine Bedeutung, die die Carl Schmitts allein deshalb überragt, weil er das Verfassungsrecht sowohl aus seiner liberalen Verengung auf die normative Ordnung der Staatsgewalt - ihre Organisation und ihre Beziehungen zu den Individuen - ebenso befreit wie aber auch aus seiner ihm von Carl Schmitt zugewiesenen Rolle als heilige Schrift eines sich existentiell einig wissenden Volkes. Für Hermann Heller war die ökonomische, soziale und politische Zerrissenheit der industriellen Massengesellschaft kein Schreckbild, das ihn nach trügerischen Sicherheiten - sei es im Korporatismus, sei es in der cäsaristischplebiszitären oder der bürokratisch-exekutivischen Diktatur, oder im Führerstaat suchen ließ; sie war für ihn eine Grundgegebenheit der Moderne schlechthin, unausweichlich und unentrinnbar, und damit eine Aufgabe politischer Gestaltung, deren Ziel es sein mußte, Demokratie und die in ihr enthaltenen Verheißungen der Humanität auch und gerade unter den Bedingungen der Massengesellschaft zu verwirklichen. Hermann Heller war bekanntlich Sozialist, und so erhoffte er sich eine ökonomische, soziale, kulturelle und vor allem auch politische Emanzipation der in der kapitalistischen Gesellschaft unterdrückten Klassen durch den Sozialismus. Doch im Gegensatz zu vielen vom Marxismus geprägten Sozialisten erkannte er, daß das Politische nicht lediglich eine unselbständige abgeleitete Funktion der ökonomischen Verhältnisse ist, das in der endgültigen Phase der gesellschaftlichen Selbstbefreiung - dem Kommunismus - von selbst absterben würde. Er anerkannte die Politik als eine Sphäre von eigenständiger gesellschaftlicher Bedeutung, und insbesondere demokratische Politik in den rechtlich strukturierten und rationalisierenden Formen der Verfassung war für ihn das zentrale Medium für gesellschaftliche Veränderungen. Im Gegensatz zum liberalen Verfassungsverständnis werden in diesem Verfassungskonzept die gesellschaftlichen Verhältnisse in der ökonomischen, sozialen und kulturellen Sphäre nicht als gegeben und als der Politik unzugänglich angesehen, sondern als ein Feld der Gestaltung durch Politik - die Verfassung wird vergesellschaftet, die Gesellschaft wird verfaßt. Die Gesellschaft ist nicht etwas der Politik und der Verfassung Vorgegebenes, sondern Aufgegebenes. Bei dieser Einsicht handelte es sich natürlich nicht um eine originäre Entdeckung von Hermann Heller, denn daß der moderne Staat in Deutschland spätestens nach der Kriegswirtschaft des ersten Weltkrieges kraft seiner politisch-administrativen Lenkungsmittel - Geld und Macht - zunehmend in die Lebenssphären aller gesellschaftlichen Schichten intervenierte, war eine allenthalben anerkannte Tatsache. Die Frage ging nur
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darum, welche theoretischen Konsequenzen daraus für den Begriff der Verfassung zu ziehen waren. Heller nun wurde gewissermaßen zum Theoretiker einer Verfassung des modernen Interventionsstaates. Er wurde zum Erfinder des Begriffs der "sozialen Demokratie" und des in das Grundgesetz der Bundesrepublik übernommenen Begriffs des "sozialen Rechtsstaates", und was er damit meinte, klang suggestiv. Die soziale Demokratie sei nichts anderes "als die Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung". 10 Dies bedeutete: Gleichheit nicht nur vor dem Gesetz, sondern durch das Gesetz, Berechenbarkeit nicht nur gegenüber den Hoheitsakten des Staates, sondern auch gegenüber den Entscheidungen ökonomisch und sozial Mächtiger und damit Schutz vor der Willkürlichkeit der Zyklen des ökonomischen Prozesses, gesetzliche Freiheit des Einzelnen nicht nur gegenüber der Bürokratie des Staates, sondern auch gegenüber der sozialen Macht und Übermacht des Eigentümers, Anerkennung des Rechts auf die Führung eines würdigen Lebens auch für diejenigen, die dazu auf die Nutzung fremden Eigentums angewiesen sind.
IV. Wie ich bereits erwähnte, hat der Grundgesetzgeber in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 die Formel vom "sozialen Rechtsstaat" in die deutsche Verfassung übernommen. Angesichts der theoretischen Implikationen - die Vergesellschaftung der Verfassung, die Verfassung der Gesellschaft - ist es nicht verwunderlich, daß auch nach dem Kriege über die Bedeutung dieses Programmes heftig gestritten wurde und noch gestritten wird. Augenblicklich können wir in Deutschland zwei staats- und verfassungstheoretische Grundrichtungen beobachten, die sich u.a. an der Frage scheiden, wie weit die Verfassung sich auf die Gesellschaft und ihre inneren Widersprüche bezieht oder sie vielmehr als vorpolitische Gegebenheit voraussetzt, sei es als Problemverursacher, sei es als Problemloser, jedenfalls nicht als Gegenstand der problemlösenden Kapazitäten der Verfassung. Nach einer in Deutschland nach wie vor einflußreichen etatistischen Variante ist allein der Staat nicht nur Voraussetzung und Gegenstand der Verfassung, sondern in seiner Form als Verfassungsstaat "die Wirklichkeit der Freiheit": durch die Bewahrung der inneren Souveränität und der Rechtsmacht des "letzten Wortes" gegenüber den Partikularismen der Gesellschaft erlangt er Gemeinwohlfähigkeit und fungiert dabei kraft seiner herrschaftlichen Autorität als rechtlich gebundenes Gegenüber der grundrechtlichen Freiheit der Bürger. Er ist nicht die Erscheinungsform einer umfassenden "Selbstorganisation der Gesellschaft", sondern zur Einheit des Volkes organisierter Verband, der antithetisch der unorganisierten und grundrechtslegitimierten Vielheit der Gesellschaft gegenübersteht. Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung für den Staat, nicht zugleich auch "für das nichtstaatliche Leben innerhalb des Staatsgebietes"; als normative Verfassung ist sie auf die ihr vorausliegende und vorgegebene Real Verfassung
10 Hermann Heller: Rechtsstaat S. 443 ff., hier S. 451.
oder Diktatur?,
in: ders.: Gesammelte
Schriften, Bd. 2., Leiden 1971,
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der "Friedens-, Entscheidungs- und Machteinheit des modernen Staates auf der Grundlage der inneren Souveränität" angelegt. 11 Nach einer eher "gesellschaftlichen", an Hermann Heller orientierten Verfassungskonzeption dagegen ist die Verfassung "rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens" insgesamt, nicht nur des Staates. Wenn ihr die Aufgabe der Zusammenordnung der "für das Gesamtleben wesentlichen Lebensbereiche" zugewiesen wird, "weil diese Bereiche zum Leben des Gesamtkörpers gehören und in aufhebbarem Zusammenhang mit der politischen Ordnung stehen", so bedeutet das natürlich nicht eine Totalpolitisierung der Gesellschaft. 12 Vielmehr kommt hier zunächst wenig mehr als die Einsicht zum Ausdruck, daß auch die (grundrechtliche) Ausgrenzung bestimmter Lebensbereiche (Eigentum, Beruf, Ehe und Familie etc.) aus einer umfassenden staatlichen Regelungszuständigkeit nur eine spezifische Form ihrer Zuordnung zum Politikum und insofern ein wesentliches Element der politischen Ordnung selbst darstellt; denn kaum etwas charakterisiert die "Verfassung" einer Gesellschaft prägnanter als die in ihr institutionalisierte Reichweite des Politischen. Die Einbeziehung des Nicht-Politischen in den Verfassungsbegriff ist daher auch insofern folgenreich, als dadurch die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Lebensbereichen und der Sphäre politischer Herrschaft in den Blick geraten, vor allem aber die "Gefährdungen menschlicher Freiheit durch nicht-staatliche Mächte" zum Thema auch der politischen Ordnung und ihrer Qualität gemacht werden können. 13 Das zentrale Problem der Verfassung - die "Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Herrschaft von Menschen über und für Menschen" - besteht dann nicht nur in der Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit, einer ununterbrochenen demokratischen Legitimationskette vom Volk zu den staatlichen Organen und in bestimmten institutionellen Vorkehrungen staatlicher Machtbegrenzung, sondern auch in der "ebenso größtmöglichen und gleichberechtigten Teilhabe und Mitbeteiligung aller Bürger an den 'Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses', bei ihrer Verteilung im sozialen System der Gesellschaft". 14 Unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen wirken in diesen nur knapp angedeuteten verfassungskonzeptionellen Kontroversen die theoretischen Grundlegungen aus Weimar, insbesondere die Ansätze von Hermann Heller und Carl Schmitt, unverkennbar fort. Aber es sollte dabei nicht vergessen werden, daß in diesem durch die Weimarer Republik geschaffenen politischen Laboratorium einer politischen Demokratie unter den Bedingungen der klassengespaltenen industriellen Massengesellschaft nicht nur Carl Schmitt und Hermann Heller, sondern einige andere bedeutende und insbesondere in der Nachkriegszeit folgenreiche Theoretiker des Staates und der Verfassung gewirkt haben,
11 Alle Zitate aus Josef Isensee: "Staat und Verfassung", in: ders. u. Paul Kirchhof (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S. 591 ff. 12 Zitate aus Konrad Hesse: "Verfassung und Verfassungsrecht", in: Ernst Benda, Werner Maihofer u. Hans-Jochen Vogel (Hg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin/New York 1994, S. 3 ff., hier S. 7 f. 13 Ebd., S. 14. 14 Werner Maihofer: "Prinzipien freiheitlicher Demokratie", in: ebd., S. 427 ff., hier S. 438.
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unter denen ich nur Hans Kelsen, Rudolf Smend und die damalige "junge Linke", nämlich Otto Kirchheimer, Franz Neumann und Ernst Fraenkel erwähnen möchte. Das Thema - das Drama der sozialen Zerrissenheit der modernen Gesellschaft und die Suche nach gesellschaftlicher Kohärenz - war ihnen durch die damalige Wirklichkeit aufgegeben; es war für alle das gleiche. Die Antworten aber waren sehr unterschiedlich, und die hier skizzierten von Carl Schmitt und Hermann Heller stellen nur einen, freilich bedeutenden, Ausschnitt dar.
III. Anknüpfungen und Abgrenzungen in der Bundesrepublik
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Die permanente Revolution Carl Schmitt und das Ende der Epoche der Staatlichkeit
Carl Schmitt mit dem Ende der Epoche der Staatlichkeit in Zusammenhang bringen zu wollen, ist gewiß nicht selbstverständlich. Folgt man einer insbesondere unter Juristen weit verbreiteten Meinung, steht Schmitt doch eher für eine Theorie des starken Staates. Und denkt man nur an die Abstraktheit der Kategorien, auf denen die Souveränitätslehre, die Demokratietheorie oder der Verfassungsbegriff Carl Schmitts fußen, wird man sogar denjenigen Recht geben müssen, die hinter diesem Werk nicht nur eine Theorie des starken Staates vermuten, sondern die Theorie des starken Staates schlechthin. Auf der anderen Seite läßt sich das Werk Carl Schmitts nicht auf seinen etatistischnationalistischen Zug reduzieren. Carl Schmitt war schließlich auch ein scharfsichtiger Diagnostiker jenes Prozesses der Rationalisierung, wie er sich Max Weber zufolge nur im Okzident und hier auch erst seit der frühen Neuzeit durchsetzen konnte. Und aus dieser Perspektive ist Schmitts staats- und verfassungstheoretisches Werk weniger das Resultat eines ortlosen Etatismus als vielmehr die Bilanz tiefer Resignation. Denn Rationalisierung, das bedeutete für Carl Schmitt vor allem: die Neutralisierung des Politischen, und dem Ergebnis dieser Bewegung galt bekanntlich Schmitts berühmte These vom Ende der Epoche der Staatlichkeit, durch die der Staat als das Modell der politischen Einheit entthront werde. 1 Ich möchte im folgenden ein wenig genauer erörtern, wie sich diese unter dem Stichwort "Entzauberung des Staates" heute auch von der Systemtheorie geteilte Diagnose im verfassungstheoretischen Werk Carl Schmitts darstellt. Dabei werde ich folgendermaßen argumentieren: Die Formel vom Ende der Epoche der Staatlichkeit erfaßt durchaus eine beherrschende Entwicklungstendenz in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dennoch orientierte sich Schmitt dabei zu stark am kontinentaleuropäischen Vorbild des (preußischen) Anstaltsstaates und infolgedessen an einer Form des juristischen Rationalismus, der sich schon mit den Bedürfnissen der klassischen Industriegesellschaft nicht mehr in Einklang bringen ließ. Schmitt hat sich dadurch in einen Widerspruch verstrickt, der sich im Rahmen seines Werkes nicht aufheben läßt: Obwohl er wie kein anderer Jurist seiner Zeit die Schnelligkeit, Intensität und Unaufhaltsamkeit des "Zeitalters der Technik" herausstellte, hat er auf dieses Zeitalter doch mit begrifflichen Dispositionen zu antworten versucht, die an der Dynamik der Moderne zerbrechen mußten. - Zunächst jedoch ein paar Anmerkungen zum derzeitigen Stand der Schmitt-Forschung. 1
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1963, S. 10.
Text von 1932 mit einem
Vorwort
und drei
Corollarien,
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I. Läßt sich das Werk Carl Schmitts auf politische Theologie reduzieren? In der neueren Schmitt-Forschung besteht inzwischen Einigkeit darin, daß es nicht möglich ist, das staats- und verfassungstheoretische Denken Carl Schmitts zu erschließen, ohne vorab die Stellung seines Gesamtwerks im politischen und intellektuellen Klima Preußen-Deutschlands hinreichend situiert zu haben. Uneinigkeit herrscht aber weiterhin darüber, aus welcher Beobachterperspektive ein solches Unternehmen am ehesten Aussicht auf Erfolg verspricht. Zwar gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Interpretationsvorschlägen und diese sind in ihrer Gesamtheit so unterschiedlich, daß sie sich kaum noch auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. 2 Aber es ist in der neueren Schmitt-Forschung doch eine wachsende Tendenz spürbar, die politische Theologie wieder stärker in den Vordergrund zu rücken, den Ariadnefaden von der katholischen Moralphilosophie her aufzunehmen und das Schmittsche Werk von seinem "theologischen Ursprung" her zu erschließen. 3 Eine solche Forschungstendenz hat sicher eine gewisse Berechtigung. Zweifellos ist der pathetische Mehrwert der politischen Theologie ein konstitutiver Baustein des Schmittschen Werkes, 4 und zweifellos war die "spezifisch katholische Angst" ein hervorstechendes Motiv in Schmitts Denken und Fühlen. 5 Schmitts Werk war ein einziger Angriff auf die geistigen und politischen Grundlagen des westlichen (angloamerikanischen) Liberalismus, eine kulturkritische Attacke auf die industrielle Massengesellschaft samt ihrer ökonomischen, politischen und kulturellen Erscheinungsformen, und dabei hat Schmitts Katholizismus sicher eine entscheidende Rolle gespielt. Ja, es ist Heinrich Meier, der hier stellvertretend für diese Richtung genannt sei, sogar zuzugeben, daß die letzte, "eine" Quelle, aus der sich Schmitts geistige und publizistische Existenz speiste, sein Kampf gegen die "Gottunfähigkeit" der modernen Welt war, 6 sein Ringen um "die eigentliche katholische Verschärfung (gegen die Neutralisierer, die ästhetischen Schlaraffen, gegen Fruchtabtreiber, Leichenverbrenner und Pazifisten)". 7
2
Vgl. dazu aus der neueren Zeit etwa Heiner Bielefelds Kampf und Entscheidung, Würzburg 1994, S. 19 ff.; Mathias Eichhorn: "Es wird regiert!", Berlin 1994; Stephen Holmes: The Anatomy of Antiliberalism, Cambridge/London 1993, S. 37 ff.; Martin Meyer: Ende der Geschichte?, München 1993, S. 131 ff.; Paul Noack: Carl Schmitt, Berlin 1993; Nicolaus Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde, München 1991; Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt, München 1989, S. 47 ff.; Helmut Quaritsch: Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989; Rüdiger Kramme: Helmuth Plessner und Carl Schmitt, Berlin 1989.
3
Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts, Stuttgart 1994; Armin Adam: Rekonstruktion des Weinheim 1992; Reinhard Mehring: Pathetisches Denken, Berlin 1989.
4
Das betont auch Hasso Hofmann: Legitimität
5
Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen
6
Heinrich Meier: Die Lehre (FN 3), S. 27.
7
Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, S. 165; vgl. dazu auch die Besprechung von Reinhard Mehring: "Zu Carl Schmitts Dämonologie - Nach seinem Glossarium", Rechtstheorie, 23. Jg. (1992), S. 258 ff.
gegen Legalität, Revolution,
Politischen,
2. Aufl., Berlin 1992, S. XXII.
Darmstadt 1993, S. 44 ff.
193
Die permanente Revolution
So weit eine solche Forschungsstrategie nun aber auch tragen mag, so unzureichend ist es doch, das Werk Carl Schmitts allein aus den unterschiedlichen Selbsteinschätzungen seines Autors erschließen zu wollen (was Meier tut, 8 um sein eigenes Unternehmen einer politischen Philosophie um so entschiedener von Schmitt absetzen zu können). Und dies aus mehreren Gründen. Zunächst einmal läßt sich der Prozeß der Rationalisierung so wenig auf eine "restlose Profanierung" des Lebens reduzieren, 9 wie die Einflüsse, die sich in Schmitts Werk versammeln, auf seine katholische Grundprägung. Auch Schmitt war ein Sohn seiner Zeit, und mit der "Generation von 1914" teilte er zumindest auch jenes charismatische Sendungsbewußtsein, das beständig auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen und Ungekannten war, das Schöpfertum, Abenteuerlust und Ausnahmefall höher schätzte als die bürgerliche Normalität und das sich im Falle Schmitts nicht nur aus Motiven der katholischen Kulturkritik speiste, sondern auch aus der politischen Mythologie Sorels und einem apokalyptischen Geschichtsdenken, 10 das seine Wurzel in der (nationalistisch gefärbten) Kriegs Verherrlichung vor dem Ersten Weltkrieg hatte. 11 Darüber hinaus ist der Blick auf die inneren Motive des Autors aber auch ganz generell zu eng, denn die dem Werk Carl Schmitts entspringenden Einsichten, Begriffe und Polemiken sind doch heute nicht mehr als Produkte des Autors Carl Schmitt von Interesse. Interessant sind sie allein als semantische Ablagerungen einer Elite, die den Übergang zur industriellen Massengesellschaft registriert haben und uns Heutigen aus der Perspektive des Wissenschaftssystems Einblicke in die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts ermöglichen. Daraus folgt u.a., daß selbst dann, wenn Meiers Rekonstruktion zuträfe und es dem Hochschullehrer Carl Schmitt aus Plettenberg im Sauerland tatsächlich immer nur darum gegangen wäre, den Ernst einer theologischmoralischen Entscheidung zu verteidigen und gegen den Nihilismus der Moderne eine Strategie des Aufhaltens und Hinüberrettens einzuschlagen, der Wert dieser Kathechontik doch nur an seinen Ergebnissen und nicht an seinen Motiven gemessen werden könnte. Schließlich aber, und dies scheint mir am wichtigsten zu sein, blieb Carl Schmitt bei seinem Angriff auf die Autopoiesis der modernen Gesellschaft zu viele Antworten schuldig. Zwar ließ er bei seinen Streifzügen gegen Badeeinrichtungen, Automobile und Klubsessel ein durchaus gutes Gespür für die Einzigartigkeit des modernen Denkens und die aus ihm hervorgehende Rationalisierung der Naturbeherrschung erkennen. Beispielsweise dann, wenn er den tiefen geistesgeschichtlichen Bruch im Übergang zum cartesia-
8
"Keine historische Belehrung der Zukunft", schreibt Heinrich Meier: Die Lehre (FN 3), S. 209, "wird an das heranreichen können, was wir aus Schmitts eigenem Urteil, das seit Jahrzehnten allgemein zugänglich ist, über seinen Glauben und über die auf seinen Glauben gegründete politische Theologie zu lernen vermögen".
9
Carl Schmitt: Ex Captivitate
salus. Erfahrungen derZeit
1945/47,
Köln 1950, S. 74.
10 Zu diesen Einflüssen vgl. nur Stefan Breuer: Anatomie (FN 5), S. 25 ff.; Armin Adam: "Die Zeit der Entscheidung", in: Georg Christoph Tholen u. Michael Scholl (Hg.): Zeit-Zeichen, Weinheim 1990, S. 97 ff. 11 Vgl. dazu allgemein Klaus Vondung: Die Apokalypse
in Deutschland,
München 1988, insb. S. 150 ff.
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nischen "cogito ergo sum" herausstellte, 12 oder wenn er den geschichtlich unvergleichlichen Umwälzungen der "planetarischen Raumrevolution" nachspürte und darin viele Einsichten Virilios antizipierte. 13 Ein begriffliches Angebot, in dessen Rahmen eine rationale Rekonstruktion der Ursachen und Folgen des Rationalisierungsprozesses möglich würde, wird man in seinem Werk jedoch vergeblich suchen. Über eine Theorie der modernen Gesellschaft, ihre innersten Bauprinzipien und Entwicklungstendenzen, verfügte Carl Schmitt noch nicht einmal in Ansätzen, und dies spricht um so mehr gegen Schmitt, als schon Max Weber die Präzedenzlosigkeit der okzidentalen Rationalisierung sehr viel präziser als dieser in einer umfassenden Formalisierung der tragenden Lebensgebiete der modernen Gesellschaft lokalisiert hatte. 14 Statt an solche Überlegungen anzuknüpfen, beließ es Schmitt bei Andeutungen, mythischen Bildern oder geschichtsphilosophischen Konstruktionen, er bemühte sich also gerade nicht, die Strukturen des "occidentalen Rationalismus", den er mit Blick auf den absoluten Staat so gerne beschwor, näher zu untersuchen und auf ihre historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen zurückzuführen. So ist es nicht überraschend, daß sich Carl Schmitt wie viele andere Autoren der "Konservativen Revolution" bei seinen Angriffen auf die industrielle Massengesellschaft in eine ganze Reihe von Widersprüchen verstrickte. 15 Auf der einen Seite war seine Kultur- und Modernitätskritik zwar unerbittlich und kompromißlos, wenn er meinte, daß Zweckrationalismus und Nützlichkeitsdenken allen Lebenssinn pervertierten, ja daß die geistige Leere, die Flachheit und das Dilemma der ganzen Epoche darin bestand, daß sie das alles beherrschende technisch-ökonomische Denken einfach durch konstruierte "Kulissen" glaubte kaschieren zu können. 16 Auf der anderen Seite aber lehnte Carl Schmitt diese technisch-ökonomische Welt eben nicht rundweg ab. Er hat die Massengesellschaft nicht nur dort immer wieder bejaht und begrüßt, wo ihre ökonomische Kraft der militärischen Stärkung des deutschen Nationalstaates zugute kam. 17 Er war sich vor allem darin sicher, daß der Prozeß der Rationalisierung trotz aller Negationen des Politischen im gleichen Zug zur Aufhebung dieser Entpolitisierungen und Neutralisierungen führen würde. So stufte er zunächst das katholische Prinzip der "Repräsentation" als dem herrschenden Rationalismus überlegen ein, 18 um 1931/32 setzte er u.a. auf die
12 Carl Schmitt: Politische Romantik [2. Aufl. 1925], 4. Aufl., Berlin 1982, S. 77 ff., hier S. 78. 13 Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung [1944], Köln-Lövenich 1981, S. 54, S. 55 ff. u. S. 64 f. Schmitts Überlegungen zur "planetarischen Raumrevolution" berühren sich vor allem mit den Thesen von Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik, Berlin 1980, S. 51 ff., zur Rolle der englischen Seemacht im Zuge der "dromokratischen Revolution". 14 Max Weber: Gesammelte S. 1 ff.
Aufsätze zur Religionssoziologie,
Bd. 1 [1920], 8. Aufl., Tübingen 1986,
15 Vgl. dazu die Bestandsaufnahme bei Stefan Breuer: Anatomie (FN 5), S. 59 ff.; und Panajotis Kondylis: Konservatismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 469 ff. 16 Carl Schmitt: Politische Romantik (FN 12), S. 19. 17 Carl Schmitt: "Weiterentwicklung des totalen Staates", in: ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923 - 1939 [1940], Berlin 1989, S. 185 ff., hier S. 186. 18 Carl Schmitt: Römischer Katholizismus
und politische
Form [2. Aufl. 1925], Stuttgart 1984, S. 31 f.
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angeblich politisierende Kraft der modernen Massenkommunikationsmittel, 19 und noch 1942 war Schmitt davon überzeugt, daß das neue Reich, das er vor sich sah, es fertigbringen würde, die "Überwindung des Leeren" einzuleiten. 20 Insofern läßt sich eine Menge gegen Schmitts Kritik der Moderne einwenden. Zwar muß man Schmitt zugutehalten, daß er sich immerhin einen Sinn für die massiven Gefährdungen bewahrte, denen sich eine Gesellschaft aussetzt, die die beständige Umwälzung aller Gegebenheiten zum obersten Programm erhebt; die, wie er diesen Grundzug der modernen Gesellschaft im Glossarium charakterisierte, eine "Totalität der Mobilmachung" freigesetzt hat, in der "auch der unbewegte Beweger der aristotelischen Philosophie in Bewegung geraten ist und sich mobilisiert hat". 21 Aber einerseits waren seine voluntaristischen Grundbegriffe (Entscheidung!) selbst ein Produkt eben dieser Moderne, andererseits bleiben die von ihm häufig verwandten Kategorien des "ökonomischen Denkens" bzw. des "ökonomisch-technischen Denkens" viel zu unbestimmt. Ja, letztlich neigte auch Carl Schmitt dazu, okzidentalen Rationalismus auf instrumentelles Handeln zu reduzieren, auf ein Rezept zur gezielten Manipulation der Welt. Damit aber verfehlte er gerade die spezifische Eigenart des rational-konstruktiven Entwurfs des neuzeitlichen (naturwissenschaftlichen) Denkens, dessen formaler Grundzug, wie heute insbesondere der Computer lehrt, 22 in bloßer Zweckrationalität und reinem Nützlichkeitsdenken nicht aufgeht.
II. Warum geht die Epoche der Staatlichkeit zu Ende? Damit ist zugleich der Punkt bezeichnet, von dem jede Rekonstruktion des staats- und verfassungstheoretischen Werks Carl Schmitts auszugehen hat. Die historische Eigenheit der modernen Gesellschaft, so ließe sich Schmitts Ausgangspunkt systemtheoretisch bestimmen, ist eine unwahrscheinlich hochgetriebene funktionale Differenzierung, ein bis dahin ungekanntes Auflösevermögen im Hinblick auf alle Gegebenheiten. Dieses Auflösevermögen konfrontiert das erlebende Subjekt mit einem Geschehen, dem es hilflos ausgeliefert ist, und belastet die Gesellschaft als Ganze mit immer gigantischeren Vermittlungs- und Rekombinationsaufgaben. Allerdings, und darin weicht Schmitt von einer Grundannahme der Systemtheorie ab, produziert der Prozeß der Rationalisierung nicht nur gesellschaftliche und systemspezifische Differenzierungen, sondern unterläuft
19 Carl Schmitt: Weiterentwicklung
(FN 17), S. 186.
20 Carl Schmitt: Land und Meer (FN 13), S. 107. Insofern war Schmitt selbstverständlich kein "Nihilist", sondern ganz im Gegenteil vollkommen unfähig, mit der metaphysischen Sinnlosigkeit der Moderne einigermaßen cool umzugehen. 21 Carl Schmitt: Glossarium (FN 7), S. 49. Zur "Selbstverewigung der Bewegung" seit Hobbes vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, S. 110 f. 22 Dazu zuletzt M. Burckhardt: Metamorphosen
von Raum und Zeit, Frankfurt a.M. 1994, S. 306 ff.
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die Geschlossenheit der Teilsysteme auch immer wieder, und dies offensichtlich um so mehr, je weiter sich die moderne Gesellschaft von ihren liberalen Wurzeln entfernt.23 So wundert es nicht, wenn Schmitt schon in Weimar nach den Einbruchstellen suchte, die die ökonomisch-technischen Kräfte in die Lage versetzten, die Eigenwerte des politischen Systems abzubauen. Dabei thematisierte er zum einen die Neutralisierung des Weimarer Staates durch seine wachsende Verstrickung in einem sich ausbreitenden Geflecht weltwirtschaftlicher Abhängigkeiten. Die These von der Pluralisierung des Weimarer Staates nach außen war ein tragendes Thema der völkerrechtlichen Schriften seit den zwanziger Jahren, die sich zunächst in der Auseinandersetzung mit dem Versailler Vertrag entzündete,24 sich später aber hauptsächlich auf den "ökonomischen Imperialismus" der USA konzentrierte. Deren zunehmende weltpolitische Bedeutung war für Schmitt so wirksam und so bedrohlich zugleich, weil sie sich allein auf friedliche Mittel stützte und sich aus den vielfältigen kapitalistischen Anlage- und Ausbeutungsmöglichkeiten gewissermaßen von selbst ergab.25 Sein Hauptaugenmerk richtete Schmitt allerdings auf die Prozesse der Pluralisierung des Staates von innen. Die entscheidende Bruchstelle fand Schmitt dabei in dem, was er dann im Hüter der Verfassung den "labilen Koalitions-Parteien-Staat" genannt hat.26 Im Gegensatz zu denjenigen Strömungen der Staats- und Verfassungstheorie, die den Prozeß der Rationalisierung noch heute ausschließlich unter normativistischen Gesichtspunkten nachzeichnen (Umstellung auf Universalismus), akzentuierte Schmitt also weniger den durch die Weimarer Reichsverfassung fixierten Legitimationstransfer der Uerrschaitsbegründung. Weitaus nachhaltiger war der Übergang von der Monarchie zur Demokratie für ihn dadurch charakterisiert, daß der Staat im Zuge dieser Transformation für den Organisationspluralismus der Massendemokratie geöffnet wurde. Denn erst dadurch, und nicht schon durch die demokratische Legitimation, wurde der Staat als vorgegebene Einheit aufgelöst und auf diese Weise direkt an die Dynamik einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft angeschlossen. Gewiß: Bei der Erklärung der Ursachen dieser Entwicklung schwankte Schmitt nicht weniger als in seiner Kritik der Moderne. Mal war es die Distanz des deutschen Bürgertums zum monarchischen Obrigkeitsstaat,27 mal machte Schmitt sogar den Absolutismus
23 Nur nebenbei bemerkt, scheint mir dies eine der größten Schwächen der Systemtheorie in Luhmanns Lesart zu sein. Für Luhmann gibt es immer nur autopoietische Systeme oder es gibt ein System eben nicht. Das ist zwar insofern einleuchtend, als man nicht pauschal von Entdifferenzierung sprechen kann, da mit dem Wegfall der spezifischer Systemfunktionen jedes System zu existieren aufhören würde. Dennoch ist die Systemfunktion zeitlich keineswegs so stabil, wie Luhmann anzunehmen scheint, sondern die Funktion selbst unterliegt historischen Veränderungen, die in der Systemtheorie noch zu selten mitreflektiert werden. 24 Vgl. dazu Reinhard Mehring: Carl Schmitt zur Einführung, Hamburg 1992, S. 69 ff. 25 Carl Schmitt: "Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus" [1932], in: ders.: und Begriffe (FN 17), S. 162 ff., S. 173.
Positionen
26 Carl Schmitt: Der Hüter der Verfassung [1931], 2. Aufl., Berlin 1969, S. 88. 27 Carl Schmitt: Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, 1930, S. 27, 8.
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selbst für den Zerfall des Staates verantwortlich. 28 Doch die entscheidende Ursache für den Umbau des liberalen Staates zur parlamentarischen Massendemokratie war letztlich auch für ihn die sprunghaft gewachsene Bedeutung wirtschaftlicher Organisationen und Verbände seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. 29 Hatte der Konstitutionalismus mit seinen festen Säulen, loyales Heer und loyales Berufsbeamtentum, den Staat noch vor der Dynamik der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft in Sicherheit bringen können, waren diese letzten Schutzwälle, diese "stärkste Reserve überlieferter Vorstellungen", 30 durch den Übergang zur Massendemokratie im Jahre 1918 endgültig gefallen. Gerade die parlamentarischen Formen der Weimarer Verfassung ermöglichten den unterschiedlichen sozialen Gruppierungen, ihre Ansprüche im Rahmen verfassungsmäßiger Verfahren umzusetzen. Auf diese Weise gelang es den Kräften des Pluralismus, in das bis dahin homogene Rechtssystem einzudringen und sich auf dem Weg über das Parlament der Gesetzgebung zu bemächtigen. An die Stelle eines in sich ruhenden und in sich selber entscheidungsfähigen Staates trat jetzt ein von allen möglichen Kräften beherrschtes pluralistisches System, das immer nachhaltiger in das Interessengeflecht einer expandierenden Industriegesellschaft geriet, das, wie Schmitt dann 1930 notierte, "bald als ein Opfer, bald als Ergebnis ihrer Abmachungen, ein Kompromißobjekt sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen, ein Agglomerat heterogener Faktoren, Parteien, Interessenverbänden, Konzernen, Gewerkschaften, Kirchen usw." erschien. 31 Damit hörte der Staat auf, eine Manifestation der objektiven Vernunft zu sein. Die ursprünglich von einem einheitlichen Willen und einem einheitlichen Geist getragene Staatsgewalt und die noch in Hegels staatsphilosophischem System zum Ausdruck kommende Voraussetzung, den Staat als etwas von der Gesellschaft qualitativ Verschiedenes und Höheres begreifen zu können, wurde hinfällig. Die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft wurden verwischt, es wurden "alle bisher staatlichen Angelegenheiten gesellschaftlich und umgekehrt alle bisher 'nur' gesellschaftlichen Angelegenheiten staatlich". 32 Diese Entwicklung war für Schmitt in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen für die interne Umwelt der staatlichen Organisationen. Der Pluralismus zerstörte u.a. das formale System der klassisch-liberalen Gewaltenteilung, indem das Parlament durch ein ausuferndes Ausschußwesen und informelle Verhandlungssysteme ausgehöhlt wurde.33 Ja, überhaupt erfolgte eine "Wendung zum Verwaltungsstaal" An die Stelle
28 Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols [1938], Köln-Lövenich 1982, S. 86. Dazu zuletzt Stephen Holmes: Anatomy (FN 2), S. 50 ff., hier S. 52. 29 Carl Schmitt: Der Leviathan (FN 30), S. 116 f. 30 Carl Schmitt: Donoso Cortés in gesamteuropäischer
Interpretation.
Vier Aufsätze,
31 Carl Schmitt: "Staatsethik und pluralistischer Staat", in: ders.: Positionen S. 136. Dazu zuletzt Heiner Bielefeldt: Kampf {FN 2), S. 51 ff. 32 Carl Schmitt: Begriff des Politischen
Köln 1950, S. 64.
und Begriffe (FN 17),
(FN 1), S. 24.
33 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [2. Aufl. 1926), 6. Aufl., Berlin 1985, S. 10 f. u. S. 62; ders.: Verfassungslehre [1928], 5. Aufl., Berlin 1970, S. 319; ders.: Hüter der Verfassung (FN 26), S. 110.
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des allgemeinen (Parlaments-) Gesetzes, das von der Verwaltung ausgeführt wurde, trat eine kaum noch berechenbare Maßnahmeaktivität der Ministerialbürokratie. Das politische System mußte sich immer rascher den Umweltveränderungen anpassen, die der technisch-wissenschaftliche Fortschritt produzierte, und daraus resultierte der Zwang, schnell und flexibel auf veränderte Lagen durch ein vereinfachtes und beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren zu reagieren. Die Rationalisierung induzierte desweiteren einen grundlegenden Wandel des Rechtssystems selbst, von dem eine Facette nach Schmitt darin bestand, daß an die Stelle einer von Professoren betriebenen Rechtswissenschaft, die den Stoff systematisch kommentierten und verarbeiteten, eine sich nach und nach auf die bloße Fallaufzählung beschränkende Kommentierung durch den Praktiker oder den in den Ministerien tätigen Referenten trat. 35 Und schließlich erfaßte diese Entwicklung auch das Verhältnis der staatlichen Organisationen zu ihrer externen Umwelt. Der technisch-ökonomische Fortschritt beschleunigte den Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung, und der Staat mußte sich dieser gestiegenen Komplexität anpassen, indem er seine Binnenorganisation ausbaute und erweiterte. Die Folge war ein erheblicher Einheits- und Kohärenzverlust der Verwaltung. Die liberale Eingriffsverwaltung des 19. Jahrhunderts entwickelte sich zur umfassenden Daseinsvorsorge, und mit der Leistungsverwaltung entstand eine kaum noch übersehbare Anzahl voneinander unabhängiger, autonomer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts: ein Geflecht verselbständigter öffentlicher (Wirtschafts-) Träger, das Carl Schmitt in Anlehnung an einen Begriff von Johannes Popitz als "Polykratie" bezeichnete. 36 Den entscheidenden Grund für diese Entwicklung erblickte Schmitt in den Institutionen der Autonomie und Selbstverwaltung, wobei letztere vor allem den Gemeinden eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten einräumten: Der Grundsatz der Universalität des Wirkungskreises, so argumentierte Schmitt, erlaube eine fast grenzenlose Ausdehnung der kommunalen Wirtschaftstätigkeit, und die privatrechtliche Form der kommunalen Betriebe ermögliche es, sich der staatlichen Kontrolle weithin zu entziehen. 37 Die Konsequenzen aus diesem zerfallstheoretischen Strang seines Denken zog Schmitt jedoch nicht schon in Weimar. Bis zur endgültigen Niederlage der Nationalsozialisten wurde dieser vielmehr durch Konstruktionen überlagert, die den "qualitativ totalen Staat" - oder später: das "Reich" - zu dem entscheidenden Träger einer Gegenbewegung machten, 38 durch die der Prozeß der Pluralisierung der Gesellschaft wenn nicht sistiert, so doch in Bahnen gelenkt werden sollte, die mit einer hierarchischen Überordnung des
34 Carl Schmitt: "Legalität und Legitimität", in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den 1924 - 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 2. A u f l . , Berlin 1973, S. 2 6 6 . 35 Carl Schmitt: "Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44)", in: ders.: liche Aufsätze ( F N 3 4 ) , S. 3 8 6 f f . , S. 4 0 4 ff. u. S. 4 0 6 f. 36 Carl Schmitt: Hüter der Verfassung
Jahren
Verfassungsrecht-
( F N 26), S. 91 f.
37 Ebd., S. 92. 38 Zu Schmitts völkerrechtlichen Doktrinen während der NS-Zeit vgl. Reinhard Mehring: Pathetisches Denken (FN 3), S. 169 ff.; Bernd Rüthers: Carl Schmitt im Dritten Reich, München 1989, S. 83 ff.; ders.: Entartetes Recht, München 1988, S. 5 4 ff. u. S. 154 ff.; Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg, Frankfurt a . M . 1980, S. 178 ff.
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Staates über die anderen gesellschaftlichen Systeme und Organisationen vereinbar waren. Deshalb stellte Schmitt dem "relative(n) Rationalismus des parlamentarischen Denkens" schon in der Parlamentarismusschrift den Totenschein aus. 39 Deshalb erhob Schmitt den Reichspräsidenten ab 1929 zum "Hüter der Verfassung" und stilisierte ihn zur einzigen Kraft, die noch in der Lage war, den zentrifugalen Tendenzen des Weimarer Parlamentarismus entgegenzuwirken. Deshalb unterstützte und beteiligte sich Schmitt nicht nur an Papens Aktion gegen Preußen, sondern auch an den sehr viel weitergehenden Staatsstreichplänen Papens und Schleichers; und deshalb bilden gerade Schmitts etatistische Fehleinschätzungen des italienischen Faschismus jene Brücke, die seine spätere Kooperation mit den Nationalsozialisten erklärbar machen. 40 Entgegen einer weit verbreiteten und jüngst von Paul Noack wieder aktualisierten Legende war Schmitts Eintreten für die neuen Machthaber keineswegs ein nur vorübergehender Ausrutscher zwischen 1933 und 1936 und als solcher gar das Resultat der theoretischen Überheblichkeit und angeblichen "politischen Weltfremdheit" Carl Schmitts. 41 Ganz und gar nicht. Schmitt blieb dem Nationalsozialismus mindestens bis 1942, wenn nicht sogar länger, ohne jede Einschränkung verpflichtet, 42 und der Grund für diese Loyalität muß m. E. gerade in dem etatistisch-national istischen Zug des Schmittschen Werkes gesehen werden (und nicht in seinem Katholizismus!). Erst nach der endgültigen militärischen Niederlage des Dritten Reiches änderte Schmitt seine Prognose. Erst nachdem der Nationalsozialismus zur größten Katastrophe der Geschichte geführt hatte, wurde ihm klar, wie sehr er mit dem Begriff des "totalen Staates" daneben gegriffen hatte. Erst jetzt begriff Schmitt, daß der Übergang zur industriellen Massengesellschaft eben nichts mit einer "Repolitisierung" der Gesellschaft zu tun hatte, sondern genau umgekehrt auf eine zunehmende "Selbstorganisation der Gesellschaft" hinauslief; 43 wobei der Staat zwar an Umfang gewann, aber nur "im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie". 44 Damit wurde die Befürchtung des französischen Syndikalisten Duguit, die Schmitt noch 1932 als vorschnelle Diagnose erschienen war, 45 zur endgültigen Gewißheit: Das Ende der Epoche der Staatlichkeit brach an. Staat und Recht, einst Garanten von Dauer und Beständigkeit, so hieß es nun, seien einer Dynamik restloser Funktionalisierung unterworfen. Der Staat
3 9 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche
Lage ( F N 33), S. 89.
4 0 Vgl. dazu die Hinweise bei Stefan Breuer: Anatomie ( F N 5), S. 157, S. 162 ff. u. S. 132. Diese Linie wird auch bei Heinrich Meier: Die Lehre ( F N 3), S. 189 f f . , S. 2 1 0 ff. u. S. 2 1 8 ff. präzise nachgezeichnet. Allerdings meint Meier darin wiederum einen Beleg für Schmitts durchgängige katholische Grundeinstellung finden zu können. 41 Paul Noack: Carl Schmitt
( F N 2), S. 31, S. 187 ff. u. S. 2 0 9 .
4 2 So zutreffend Bernd Rüthers: "Wer war Carl Schmitt? Bausteine zu einer Biographie", Neue Juristische Wochenschrift, Heft 27 (1994), S. 1681 f f . , hier S. 1686.; Stefan Breuer: Anatomie ( F N 5), S. 172 ff. und Volker Neumann: Staat im Bürgerkrieg ( F N 38), S. 138 ff. 43 Carl Schmitt: Hüter der Verfassung
( F N 2 6 ) , S. 78.
4 4 Carl Schmitt: "Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland", in: ders.: Aufsätze ( F N 34), S. 361. 45 Carl Schmitt: Begriff des Politischen
(FN 1), S. 40.
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werde entthront und die Gültigkeit des Rechts zu einem System permanenter Umbewertungen verflüssigt, einer Legalordnung, die keinerlei inhaltliche Qualität mehr besäße und sich nurmehr durch die Entscheidungen reproduziere, die sie produziere. 46
III. Ist der Staat ein klassischer Begriff? Carl Schmitt hat die Akte über den Staat am Ende seines langen Gelehrtenlebens also tatsächlich geschlossen. Und dies sicher nicht ganz zu Unrecht. Seine Überlegungen zum Ende der Epoche der Staatlichkeit treffen jedenfalls insoweit ins Schwarze, als es heute nicht mehr möglich ist, die moderne Gesellschaft als eine durch den Staat strukturierte Gesellschaft zu begreifen. Das politische System verfügt zwar weiterhin über eine ausschließliche Verantwortungszuschreibung für kollektiv-verbindliche Entscheidungen, aber, insoweit hat Carl Schmitt recht, von einer "Souveränität des Staates" im klassischabsolutistischen Sinn kann heute nicht mehr die Rede sein. Dazu gibt es inzwischen zu viele Bereiche politischen Handelns, in denen die relevanten Entscheidungen außerhalb des politischen Systems fallen oder wo solche Entscheidungen nur noch in enger Kooperation mit anderen, nicht-staatlichen Organisationen und Akteuren getroffen werden können. Dies ist auch in der neueren verfassungstheoretischen Diskussion nicht mehr grundsätzlich strittig. Nicht nur die übergreifenden Bestandsaufnahmen der letzten Jahre lassen erkennen, daß zwischen der staatlichen Verantwortungszunahme und der Einlösung der damit einhergehenden Ansprüche eine stetig wachsende Lücke klafft; 47 auch die stärker bereichsspezifischen Analysen, soweit sie einzelne Aspekte des Rechtssystems, der Verwaltung, des Verhältnisses von Staat und Parteien, den Bereich der Konjunktur- und Wirtschaftspolitik, das Umwelt- und Technikrecht oder das Rundfunkrecht betreffen, weisen derartige Kohärenz- und Einheitsverluste nach. All diese Entwicklungen, die ich an anderer Stelle ausführlicher diskutiert habe, 48 bestätigen damit ganz zentrale Thesen des zerfallstheoretischen Strangs im staats- und verfassungsrechtlichen Werk Carl Schmitts. Soweit ist Schmitts Diagnose also richtig. Auf der anderen Seite ist sie aber dennoch zu einseitig. So wie das Ende des Politischen natürlich nicht mit dem Ende der Politik
46 Vgl. dazu vor allem Carl Schmitt: "Der Begriff des Politischen. Vorwort von 1971 zur italienischen Ausgabe", in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 269 f. 47 Vgl. dazu Karl-Heinz Ladeur: "Postmoderne Verfassungstheorie", in: Ulrich K. Preuß (Hg.): Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 304 ff. u. S. 313; Stefan Breuer: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 80 ff., S. 188 ff. u. S. 193 f.; Dieter Grimm: "Die Zukunft der Verfassung", in: ders.: Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a.M. 1991, S. 397 ff.; Ulrich K. Preuß: Revolution, Fortschritt und Verfassung, Berlin 1990, S. 77 ff. 48 Verf.: "Erosionen staatlicher Herrschaft. Zum Begriff des Politischen bei Carl Schmitt", Archiv des öffentlichen Rechts (1992), S. 4 ff., bes. S. 27 ff.
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gleichgesetzt werden darf,49 so darf das Ende der Epoche der Staatlichkeit auch nicht mit dem Ende des Staates verwechselt werden. Zwar ist der liberale Staat des 19. Jahrhunderts durch die Ausbildung der industriellen Massengesellschaft soweit pluralisiert worden, daß seine "Einheit" nur noch von einem Standpunkt der Differenz beschrieben werden kann bzw. genauer: der unhintergehbar gewordenen Differenz seiner (Teil-)Organisationen. Aber der Wirtschaftsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat und Umweltstaat der Gegenwart ist eben nicht nur ein Resultat des "zerfallenen" liberalen Staats, sondern zugleich Ausdruck eines historischen Wandels, in dessen Verlauf sich nicht zuletzt durch komplexere Selbstbeschreibungen neue verfassungsrechtliche Formen herausgebildet haben, die diesen Einheitsverlust wenigstens ein Stück weit zu kompensieren vermögen.50 Daß Carl Schmitt diese Umstellung von Einheit auf Pluralismus und von Hierarchie auf stärker heterarchische Werte wie Kooperation, Abwägung und Prozeduralisierung nur als Zerfall des Staates wahrnehmen konnte, ist gerade einem (geschichtsphilosophischen) Weltbild geschuldet, das noch zu sehr auf theologischen Grundlagen ruhte. Die Behauptung der Politischen Theologie, wonach alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind, ist eben vor allem für die staatstheoretischen Begriffe Carl Schmitts selbst wahr. Exakt diese Rückwärtsgewandtheit ist es schließlich auch, die die Anschlußfahigkeit dieses Werks heute als nicht mehr sehr hoch erscheinen läßt. Carl Schmitt war schon in Weimar zu sehr auf den Staat als Träger der Souveränität fixiert, so daß er für den bereits dort erfolgten Pluralisierungsschub keine angemessene Form der theoretischen Reflexion mehr finden konnte. Das belegt auch die Entwicklung des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik, denn hier hat sich Carl Schmitt trotz seines großen Einflusses auf bedeutende Juristen der Nachkriegszeit eigentlich nie durchsetzen können.51 Zwar gibt es immer wieder bedenkliche Rückgriffe auf einzelne Grundbegriffe Carl Schmitts,52 aber die beachtliche Modernisierung, die etwa die Grundrechtsdogmatik seit den sechziger und siebziger Jahren durchgemacht hat,53 ist viel mehr mit den Namen Smend und Heller verbunden. Die theoretische Selbstblockierung dieser Staatsfixierung wird aber mit dem Übergang zur Wissensgesellschaft, deren Zeugen wir gegenwärtig sind, noch deutlicher hervortreten: In einer Welt, die es immer weniger mit Machtfragen und immer mehr mit Wissensfragen zu tun hat, kann das Werk Carl Schmitts kein wirklicher Ratgeber mehr sein. Hier wird es vielmehr darauf ankommen, funktionale
49 Niklas Luhmann: "Das Ende der alteuropäischen Politik", in: M. Weyembergh u. J. M. Piret (Hg.): La fin du politique, Brüssel 1988, S. 248 ff., hier S. 256. 50 So zu Recht Panajotis Kondylis: Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992, S. 20 ff., hier S. 28 ff.; ähnlich auch Hasso Hofmann: "Technik und Umwelt", in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 1005 ff., hier S. 1027 f. 51 Zu diesen Einflüssen vgl. Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993.
Carl Schmitt
52 Kritisch dazu Brun O. Bryde: "Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie", Staatswissenschaften und Staatspraxis (1994), S. 305 ff. 53 Dazu zuletzt Horst Dreier: Dimensionen der Grundrechte, Hannover 1993; Karl-Heinz Ladeur: Postmoderne Rechtstheorie, Berlin 1992, S. 176 ff.
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Prozeßkategorien aufzubauen, die auf die heterogenen Beziehungsnetzwerke einer weltweit operierenden Informations- und Dienstleistungsökonomie abgestimmt sind, 54 und derartige Kategorien werden sich aus Schmitts statisch-substanzhaftem Denken kaum destillieren lassen. Ich bin damit am Schluß meiner Überlegungen. Insgesamt, so läßt sich festhalten, fällt die Bilanz für Schmitt eher negativ aus. Gewiß, die Themen Carl Schmitts sind damit nicht erledigt, denn gerade seine Kultur- und Modernitätskritik kann dem Rechtssystem auch künftig noch manchen positiven Anstoß geben. Die moderne Gesellschaft, da hat Schmitt sich nicht getäuscht, ist tatsächlich ein sich selbst antreibendes Gebilde "unaufhörlicher Neu-Setzungen", eine Gesellschaft, die insbesondere in Form der experimentellen Naturwissenschaft ein Teilsystem ausdifferenziert hat, das über keinerlei interne Stopp-Regeln verfügt, die seine Loslösung und Abkapselung von den Menschen unterbrechen könnte. Damit wachsen auch die Gefahren für das politische System, beispielsweise indem es zu wenig umweltsensibel prozessiert und dabei Antistruktur fördert, statt Strukturen zu erhalten, indem es Unordnung schafft, statt Ordnung zu generieren - und damit wiederum Eingriffe und Reaktionen notwendig macht, von denen keiner weiß, wie und wo sie in der Gesellschaft bearbeitet werden könnten. Aber gerade wenn eine solche Form der ständigen Dekomposition und Rekombination von Strukturen die beherrschende Tendenz der Gegenwart ist, dann muß sich die Verfassungstheorie um so mehr darum bemühen, eine neue, postmoderne Rationalität zeitlich instabiler Ordnungen zu entwickeln. Statt in Kategorien der Dauer, Einheit und Geschlossenheit zu denken, müßte sie flexible Bestimmungen für das Operieren unter Ungewißheitsbedingungen suchen. Statt in einfachen und überschaubaren Handlungsketten zu denken, müßte sie Zurechnungen entwickeln helfen, die (juristische) Verantwortung auch bei diffusen Effekten und schwer durchschaubaren Vernetzungseffekten gewährleisten. 55 Kurzum: Was wir benötigen, ist eine postmoderne Form des juristischen Rationalismus, der in dem unendlichen Spiel der Differenzen (Wettbewerb) nach provisorischen Haltepunkten sucht und den rechtlichen Raum immer wieder vorübergehend fixiert. Das hat dann sicher einen weniger pathetischen Gestus als vieles, was uns in den Schriften Carl Schmitts entgegentritt. Aber gegenüber dessen Welterlösungsambitionen hätte ein solches Unternehmen doch immerhin etwas wohltuend Ernüchterndes.
54 Zu dieser Entwicklungsperspektive vgl. den brillanten Essay von Jean M. Guehenno: Das Ende der Demokratie, München 1994. 55 Karl-Heinz Ladeur: "Postmoderne Verfassungstheorie" (FN 47), S. 318 f. Aus moralphilosophischer Perspektive Ludger Heidbrink: "Grenzen der Verantwortung", Philosophische Rundschau (1994), S. 277 ff.
Horst Firsching
Am Ausgang der Epoche der Staatlichkeit? Ernst Forsthoffs Sicht der Bundesrepublik Deutschland als paradigmatischer Staat der Industriegesellschaft
1. Der "Staat" als Epochenbegriff Der Staat, so Carl Schmitt in einem pointierten Aufsatz aus dem Jahre 1941, sei ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff} Der entscheidende geschichtliche Einschnitt liege in den Umbrüchen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Aus den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts habe sich der Staat als souveräne Macht über die kirchlich-religiösen Gegensätze erhoben, um diese innerhalb seines Hoheitsgebiets zu neutralisieren. Damit beginne der Prozeß der Säkularisierung des Politischen und der Privatisierung des Religiösen. Der Staat sei die spezifisch neuzeitliche politische Form einer befriedeten territorialen Einheit - souverän in der Herrschaftsausübung im Inneren und in seiner Souveränität anerkannt von außen, d.h. von den anderen souveränen Staaten. Seine Souveränität nach außen erscheine in der Form des Rechts zur Bestimmung des Feindes, also zur Führung des Krieges mit anderen Staaten - eines Krieges, der keiner moralischen Begründung bedürfe, sondern allein an die souveräne Entscheidung geknüpft sei. Damit sei der Bürgerkrieg ausgeschlossen: Das jus belli sei allein Sache des Staates; Kriege transformierten sich zu Staatenkriegen, die gerade in der Abkopplung von jeglicher Konzeption eines "gerechten Krieges" einer völkerrechtlichen "Hegung" offenstünden, da der Feind nicht mehr absoluter und existentieller Feind zu sein brauche - und gerade dadurch unterscheide sich der Staatenkrieg vom Bürgerkrieg und seiner ungehegten Gewaltsamkeit.2 1
Carl Schmitt: "Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941)", in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze, unveränd. Nachdruck der 1. Aufl. von 1958, 3. Aufl., Berlin 1985, S. 375-385.
2
Vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, unveränd. Nachdruck der 1. Aufl. von 1950, 3. Aufl., Berlin 1988. Die hier skizzierte Bestimmung des Begriffs des Staates als Epochenbegriff wird wohl von den meisten geteilt, die - in welcher Weise und an welchen Gedanken auch immer - an Schmitt anknüpfen. Siehe dazu u.a. Roman Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, Berlin 1962; Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt a.M. 1973; Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 11-20 ("Erinnerung an den Staat"); Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation" [1967], in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 92-114. Böckenförde datiert allerdings die Entstehung des Staates
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Horst Firsching
Wenn der Staat derart als spezifische und historisch bestimmbare politische Form einen Anfang habe, so sei es nicht ausgeschlossen, daß er als geschichtliche Erscheinung auch ein Ende finden könnte: in diese Bestimmung des "Staates" ist sein mögliches Ende eingeschrieben. Darin liegt auch ein tieferer Sinn von Schmitts "Begriff des Politischen": dieser geht dem Begriff des "Staates" voraus.3 Der Staat mag von der Erdoberfläche verschwinden; das Politische jedoch, d.h. die spezifisch politische Unterscheidung von "Freund" und "Feind" bleibe, so Schmitt, als unhintergehbare Dimension menschlicher Existenz bestehen - jedenfalls solange es den Menschen geben wird.
2. Carl Schmitts Diagnose vom Ende der Epoche der Staatlichkeit Das Denken Schmitts vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Infragestellung des "Staates" als politischer Form: Da gibt es den marxistischen Traum vom Absterben des Staates4 - dies trotz der totalitären Staatlichkeit des Leninismus und Stalinismus - und den liberalen Traum einer sich weitgehend selbst regulierenden Gesellschaft jenseits von Herrschaft, zumindest in ihrem hergebrachten Sinne; da ist die wirkliche oder doch wenigstens unterstellte oder intendierte Entpolitisierung aller Lebensbereiche durch die als unpolitisch gesehenen Kräfte von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik;5 da ist jedoch auch, dieser vermeintlichen Entpolitisierung entgegengesetzt, die politisch-weltanschauliche Polarisierung in der Weimarer Republik, welche den Staat in seinem Inneren handlungsunfähig zu machen und damit von innen her aufzulösen, ihm seine Souveränität nach innen, sein Monopol der Politik zu nehmen droht; und schließlich wäre noch der Vertrag von Versailles und der Genfer Völkerbund zu nennen, welche, so die Perspektive Schmitts, die Souveränität des Staates nach außen gefährden, den Krieg moralisieren und kriminalisieren und derart in die gefahrliche Nähe des Bürgerkriegs rücken, mit der Konsequenz der endgültigen Preisgabe des sich schon seit dem
vom 13. bis zum Ende des 18., teils Anfang des 19. Jahrhunderts und sieht derart im Staat nicht ausschließlich eine Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege. 3
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1963, S. 20 ff.
Text von 1932 mit einem Vorwort und drei
Corollarien,
4
Vgl. dazu auch die Ausführungen des Schmitt-Schülers Serge Maiwald: "Die These vom absterbenden Staat. Die marxistische Staatskonzeption in Theorie und Praxis", Universitas, 6. Jg., Heft 7 (1951), S. 735-744.
5
Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 4. Aufl., unveränd. Nachdruck der 2. Aufl. von 1934, Berlin 1985, S. 82: "Heute ist nichts moderner als der Kampf gegen das Politische. Amerikanische Finanzleute, industrielle Techniker, marxistische Sozialisten und anarcho-syndikalistische Revolutionäre vereinigen sich in der Forderung, daß die unsachliche Herrschaft der Politik über die Sachlichkeit des wirtschaftlichen Lebens beseitigt werden müsse. Es soll nur noch organisatorisch-technische und ökonomisch-soziologische Aufgaben, aber keine politischen Probleme mehr geben. Die heute herrschende Art ökonomisch-technischen Denkens vermag eine politische Idee gar nicht mehr zu perzipieren. Der moderne Staat scheint wirklich das geworden zu sein, was Max Weber in ihm sieht: ein großer Betrieb."
Am Ausgang der Epoche der Staatlichkeit?
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19. Jahrhundert in Auflösung befindlichen europäischen Völkerrechts - dies allerdings mit spürbarer Unterbelichtung des deutschen Anteils daran, wenn man etwa an den deutschen Einmarsch in Belgien, einem nach Völkerrecht neutralen Land, am 4. August 1914, also nur wenige Tage nach Kriegsbeginn, denkt. Diese geistesgeschichtlichen und ideenpolitischen, aber auch ganz realen innen- und außenpolitischen Horizonte bestimmen die Positionen und Begriffe6 Schmitts: die Gefährdungen der staatlichen Souveränität von innen und von außen, die einerseits seinen Kampf um die Staatlichkeit anspornen, andererseits ihm die Möglichkeit des Endes dieser Staatlichkeit vor Augen führen. Schließlich endet dieses Denken - spätestens seit dem Ausgang der dreißiger Jahre, nachdem Schmitt zuvor noch einmal den Staat als "totalen Staat" gedacht hatte 7 - in der Diagnose des Endes der Epoche der Staatlichkeit, und am Horizont scheint ihm, getragen vom Nationalsozialismus und seiner erfolgreich beginnenden Expansionspolitik, die Möglichkeit einer neuen Ordnung, eines neuen
Nomos auf: Großraum und Reich}
3. Die Bundesrepublik Deutschland als "Staat" Es geht an dieser Stelle nicht um Schmitts Konzeption von "Großraum" und "Reich" und ihre innenpolitischen und völkerrechtlichen Konsequenzen. Festzuhalten bleibt lediglich: Spätestens im Jahre 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des nationalsozialistischen "Dritten Reichs", war der Traum von "Großraum" und "Reich" ausgeträumt. Und nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 auf der Basis einer vorläufigen Verfassung - heute müßte man genauer sagen: einer vorläufig vorläufigen Verfassung - , des Grundgesetzes, stellte sich natürlich für eine Rechtswissenschaft, welche im Anschluß an Schmitt den Staat als einen epochengebundenen Begriff verstand, die Frage nach der Staatlichkeit dieser neuen, dieser zweiten deutschen Republik. Trotz oder gerade wegen der Einschränkung der "Souveränität" der Bundesrepublik nach dem Kriege - einer Einschränkung, die sich im Laufe der Jahre kontinuierlich mildert, um in der "Wiedervereinigung" schließlich (nach den heutigen Vorstellungen von "Souveränität") aufgehoben zu werden - wird die Frage nach ihrer Staatlichkeit vor allem aus einer innenpolitischen Perspektive heraus gestellt - allerdings mit beträcht-
6
Carl Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923 - 1939, unveränd. Nachdruck der 1. Aufl. [Hamburg 1940], Berlin 1988.
7
Vgl. Carl Schmitt: "Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland" (1933), in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 1), S. 359-366. Dort findet sich die Unterscheidung von "qualitativ totaler" und "quantitativ totaler Staat"; der erstere sei echter Staat, der letztere, der mit der Weimarer Republik identifiziert wird, sei total aus Schwäche, indem er zwar alle Lebensbereiche umfassen will und muß, aber gerade dadurch den Parteien und organisierten Interessen unterliege und sich auf diese Weise der Staat als neutrale Macht auflöse. Der "quantitativ totale Staat" ist derart für Schmitt der sich selbst liquidierende Staat.
8
Vgl. dazu Carl Schmitt: Positionen und Begriffe (FN 6), S. 295-302 ("Großraum gegen Universalismus", 1939) u. S. 303-312 ("Der Reichsbegriff im Völkerrecht", 1939).
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liehen außenpolitischen und völkerrechtlichen Ansprüchen. Die Antwort lautet im großen und ganzen: die Bundesrepublik Deutschland ist Staat. Und das heißt ganz offensichtlich - ja muß aus ganz naheliegenden Gründen heißen: die Epoche der Staatlichkeit ist noch nicht zu Ende. Aus dieser Perspektive konnte, besser: mußte z.B. Ernst Forsthoff in seiner kleinen Schrift Einleitung zum Bonner Grundgesetz aus dem Jahre 1953 schreiben: "Der militärische und politische Zusammenbruch des Deutschen Reiches, der mit der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945 abschloß, vernichtete zwar die bisherige deutsche Staatsorganisation, nicht aber den deutschen Staat. Es war weder die Absicht der Besatzungsmächte noch gar der Wille des deutschen Volkes, die staatliche Einheit Deutschlands aufzugeben. Aber es lag in der Natur der Sache, daß der Neuaufbau des deutschen Staatswesens von unten her begann, daß zunächst in den Gemeinden geordnete Verhältnisse geschaffen wurden, welche für die Versorgung der Bevölkerung unerläßlich waren, und dann die Länder gebildet und verfaßt wurden. "9
Der deutsche Staat existiert also - das ist die Quintessenz dieser Ausführungen - als politische Einheit des Volkes weiter und regeneriert sich von unten her. Gerade zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland - d.h. hier insbesondere: in den Versuchen der Einschätzung ihrer realpolitischen Lage wie in den ideenpolitischen Bemühungen ihrer Verortung - verbot sich auch für ein Denken in Kategorien Carl Schmitts die These vom definitiven Ende der Epoche der Staatlichkeit - zumindest dann, wenn man nicht lediglich in geschichtsphilosophischen Spekulationen verbleiben, sondern auf die Gestaltung des neuen Staatswesens Einfluß gewinnen wollte; denn der politische Wille zur deutschen Einheit, zur Einheit der Nation konnte nur bestehen, wenn man die Kontinuität der deutschen Staatlichkeit behauptete - was eine kritische Distanz zum neuen Staat im Sinne seiner Verfassung (wohl hier vor allem mit der Betonung auf dem geschriebenen Verfassungsgareiz10) und zur Staatsorganisation (mit Akzent auf "Organisation", nicht auf "Staat") nicht ausschloß.
4. Der "Staat" als Funktion der "Gesellschaft": Bedeutungsverlust der Verfassung zugunsten der Verwaltung Die Charakterisierung der Bundesrepublik Deutschland als Staat, der ein Element der Selbstbehauptung innewohnt, hat aber gerade Ernst Forsthoff nicht dazu geführt, die Fragestellung nach dem Ende der Epoche der Staatlichkeit aufzugeben. Jedoch nimmt er diese Frage nicht im spektakulären Gestus von Carl Schmitt auf, d.h. nicht in den geschichtsphilosophischen Dimensionen von Der Nomos der Erde, sondern in seinen 9
Ernst Forsthoff: "Einleitung zum Bonner Grundgesetz", in: Kleine Schriften zur politischen Bildung 1, hg. von Heidelberger Studenten in eigener Verantwortung, Gerabronn (Württ.) 1953, S. 3 - 1 7 , hier S. 3.
10 Vgl. die massive Kritik von Werner Weber am Bonner Grundgesetz: "Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz" [1949], in: ders.: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. erw. Aufl., Berlin 1970, S. 9-35.
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Analysen der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, ihrer Gesellschaft, ihres Staates, ihrer Verfassung und Verwaltung. Dabei konstatiert er einen Wandel der Staatlichkeit, der die Frage nach ihrem Ende nicht suspendiert, sondern offenhält - ohne sie endgültig beantworten zu können. In seinem Aufsatz Die Bundesrepublik Deutschland. Umrisse einer Realanalyse aus dem Jahre 1960 stellt Forsthoff fest, daß sich die Wirtschaft nach 1945 im wesentlichen aus eigener Kraft regeneriert habe und dem staatlichen Wiederaufbau vorausgegangen sei. Und er geht noch einen Schritt weiter: Das "Erstaunliche, unerwartet Neuartige der Entwicklung seit 1945" bestehe darin, "daß es die Gesellschaft war, die sich wesentlich aus eigener Kraft reintegriert hat". 11 Selbst der Staat sei "aus diesem Prozeß der Selbstordnung der Gesellschaft hervorgegangen, wobei allerdings die Besatzungsmächte sichtbaren und wirksamen Beistand geleistet haben". 12 Somit sei ein grundsätzlich neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft entstanden, welches die herkömmliche Superiorität des Staates gegenüber der Gesellschaft untergrabe. Das führt zu einer geradezu soziologisch-systemtheoretisch klingenden Aussage: "Die Bundesrepublik als Staat ist zur Funktion der Gesellschaft geworden." 13 Dennoch bleibe ein Rest an eigenständiger Staatlichkeit bestehen: Die Bundesrepublik sei ein "zweckrationalisierter Staat", dem diejenigen Aufgaben zufallen, die eine sich selbst organisierende Gesellschaft nicht erfüllen könne: Außenpolitik, Gesetzgebung, Rechtsprechung und vor allem der soziale Ausgleich durch Umverteilung des Sozialprodukts auf der Grundlage eines "Steuerstaats".14 Die zunehmenden gesellschaftlichen und sozialen Aufgaben des modernen Staates die heute im Begriff des "Sozialstaats" bzw. des "sozialen Rechtsstaats" ihren rechtfertigenden Ausdruck finden (unter Berufung auf Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 GG) - hätten nun im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrittweisen Akzentverschiebung der Staatlichkeit geführt: Die Integration des "sozialen Ganzen" könne immer weniger von der Verfassung geleistet werden, 15 sondern obliege, soweit sich die Gesellschaft nicht selbst integriere, der Verwaltung als Garanten einer umfassenden "Daseinsvorsorge" ,16 Damit sei auch eine Verschiebung des Schwerpunktes der Verwaltung von 11 Ernst Forsthoff: "Die Bundesrepublik Deutschland. Umrisse einer Realanalyse" [1960], in: ders.: Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950- 1964, Stuttgart 1964, S. 197-201, hier S. 200. 12 Ebd., S. 200. 13 Ebd., S. 201. 14 Ebd., S. 201 f. 15 Die Integrationsleistung der Verfassung ist die zentrale These Rudolf Smends; vgl. dazu Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" [1928], in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S. 119-276. 16 Vgl. dazu Ernst Forsthoff: Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, Stuttgart 1959 (enthält zwei Kapitel aus ders.: Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart/Berlin 1938; Forsthoffs verwaltungsrechtliche Grundlegung des "Daseinsvorsorgestaates" fällt also in die Zeit des Nationalsozialismus). Zu Forsthoffs Konzeption der Daseinsvorsorge siehe weiter (mit kritischer Intention) Dieter Scheidemann: Der Begriff der Daseinsvorsorge. Ursprung, Funktion und Wandlungen der Konzeption Ernst Forsthoffs, Göttingen/Zürich 1991.
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der "klassischen" Eingriffsverwaltung zur leistenden Verwaltung verbunden. Die Differenz von Verfassung und Verwaltung finde ihre Entsprechung in der Differenz von Rechts- und Sozialstaat: Im Gegensatz zum Rechtsstaat sei der Sozialstaat nämlich verfassungsrechtlich nicht normierbar; der Sozialstaat vergebe lediglich materiale Teilhaberechte, während der Rechtsstaat ausschließlich formale Freiheitsrechte verbürgen könne.17 Und eine extensive sozialstaatliche Normierung berge die Gefahr in sich, die individuelle Verantwortung und derart die individuelle und rechtsstaatlich garantierte Freiheit einzuschränken; folglich stünden, so Forsthoff, Sozialstaat und Rechtsstaat in einem Verhältnis prinzipieller Spannung zueinander, die nur mit Mühe - wenn überhaupt - zu überbrücken sei.18 Hinter dem strikten Auseinanderhalten von Rechtsstaat und Sozialstaat durch Forsthoff steckt die Intention, die Differenz von Staat und Gesellschaft aufrechtzuerhalten: Der Staat müsse der Gesellschaft als eigenständige Macht gegenübertreten - nur so könne er Garant der Freiheit, also "Rechtsstaat" sein und bleiben. Diese Differenz werde jedoch im "Sozialstaat" prekär: denn in ihm verzahnen sich Staat und Gesellschaft immer mehr und drohen die Eigenständigkeit des Staates als neutrale Macht unter dem Einfluß von Partikularinteressen, Parteien und Verbänden zu untergraben - und damit den Staat selbst}9 Mit der Sozialstaatlichkeit sei, so die Perspektive Forsthoffs, ein Wandel und eine Schwächung der Staatlichkeit eingeleitet, jedoch nicht ihr Ende - zumindest noch nicht. Die Verwaltung, eigentlich Träger einer starken Exekutive und eines starken Staates, gerate aber unter den zunehmenden Druck der Vorgaben der Gesellschaft und ihrer pluralen Interessen, reagiere mehr als zu agieren, überflute einerseits alle Lebensgebiete mit Reglementierungen, könne jedoch andererseits immer weniger eigenständig gestalten, so daß - dies ist die Quintessenz dieser Diagnose - der Verlust eines Stücks "klassischer" Staatlichkeit zu beklagen sei.
17 Dazu Emst Forsthoff: "Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates" [1953], in: ders.: Rechtsstaat im Wandel (FN 11), S. 27-56. Das Problem des Sozialstaats und sein Verhältnis zum Rechtsstaat im Zusammenhang mit Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG, d.h. die Ausfüllung des Begriffs des "sozialen Rechtsstaats", hat zu einer intensiven Auseinandersetzung geführt; vgl. Ernst Forsthoff (Hg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968. 18 Vgl. auch den 1953 gehaltenen Vortrag Ernst Forsthoffs: "Verfassungsprobleme des Sozialstaats" [1954], Münster 1961, hier bes. S. 3: "Das Ergebnis dieses Vortrags läßt sich dahin zusammenfassen, daß Rechtsstaat und Sozialstaat auf der Verfassungsebene nicht vereinbar sind und daß das Grundgesetz als eine prinzipiell rechtsstaatliche Verfassung verstanden werden muß." 19 Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde sieht diese Problematik des Staates, der immer mehr zu einem Dienstleistungsunternehmen für die Gesellschaft und vor allem ihres wirtschaftlich-industriellen Prozesses wird, verweist aber stärker als Forsthoff auf die Notwendigkeit eines sozialen Ausgleichs und einer individuellen sozialen Sicherheit als Bedingung für die Verwirklichung der Freiheitsrechte und als Bedingung der Möglichkeit der Teilnahme am politischen Prozeß der Willensbildung, die der Rechtsstaat zu garantieren sucht (vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat" [1963], in: ders.: Recht, Staat, Freiheit [FN 2], S. 170-208; ders.: "Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart" [1972], in: ebd., S. 209-243).
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5. Der "introvertierte Rechtsstaat": Auf dem Wege zur Vergesellschaftung des Staates durch die Entpolitisierung der Grundrechtsinterpretation Im Ausbau des Sozialstaats erblickt Forsthoff nicht die einzige Dimension der Wandlung und Gefahrdung der Staatlichkeit. Hinzu trete eine Wandlung des Verfassungsrechts selbst. Auf die Behauptung von Konrad Hesse, daß der Staat als Herrschafts- und Willenssubjekt nicht mehr bestehe, antwortet Forsthoff 1963 in seinem Aufsatz Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung: "Die Situation des modernen Staates ist damit die, daß er kein Staat mehr ist.1,20 Hinter dieser Argumentation steht eine Kritik an der - gerade auch in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts Gestalt annehmenden - Lehre von den Grundrechten, verstanden als Wertsystem.21 Damit könnten die Grundrechte nicht mehr vom "Eingriff" her verstanden werden, d.h. als Schranken, die dem Staat bei seinem Einwirken auf die als unpolitisch gedachte Gesellschaft und die Rechte der in ihr lebenden Individuen gesetzt werden. Vielmehr müßten sich die Grundrechte als Werte unmittelbar in der Gesellschaft selbst verwirklichen - was eine Entpolitisierung der Grundrechte bedeute, weil der Dualismus von Staat und Gesellschaft aufgehoben sei. Die Werte, so Forsthoff, injizierten nun einen irreduziblen Schuß Irrationalität in der Form moralisch wertender Willkürlichkeit in die Rechtsordnung und Rechtsanwendung. Denn die Werte, obwohl sie als objektiv geltend in die Verfassung eingeschrieben gedacht werden, seien in letzter Konsequenz doch nur von der subjektiven Mentalität derjenigen abhängig, welche über die Wert Verwirklichung in einem konkreten Fall zu entscheiden haben, d.h. vor allem die Richter - in letzter Instanz also das Bundesverfassungsgericht. Damit werde - dies ist Forsthoffs Schlußfolgerung - "die Rechtsprechung zum eigentlichen Herrn einer nicht mehr freien, sondern wertgebundenen oder besser wertungsgebundenen Gesellschaft". 22
20 Ernst Forsthoff: "Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung" [1963], in: ders.: Rechtsstaat im Wandel (FN 11), S. 213-227, hier S. 220. Zur Auffassung des ehemaligen Richters des Bundesverfassungsgerichts Konrad Hesse zu "Staat" und "Gesellschaft" vgl. auch dessen einflußreiche (und bis heute in fast zwanzig Auflagen erschienene) Schrift: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1967, bes. S. 7. 21 Die geisteswissenschaftliche Interpretation der staatlichen Verfassung als "Wertsystem" geht vor allem auf Rudolf Smend zurück; vgl. Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (FN 15), insbes. S. 160 ff., S. 166 u. S. 215. Siehe zu diesem Problemkreis auch Klaus Rennert: Die "geistesgeschichtliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günter Holstein und Rudolf Smend, Berlin 1987. 22 Ernst Forsthoff: "Der introvertierte Rechtsstaat" (FN 20), S. 221. Vgl. schon Ernst Forsthoff: "Die Umbildung des Verfassungsgesetzes" [1959], in: ders.: Rechtsstaat im Wandel (FN 11), S. 147-175 und ders.: Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961. In eine ähnliche Richtung zielt Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Die Methoden der Verfassungsinterpretation - Bestandsaufnahme und Kritik" [1976], in: ders.: Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1991, S. 53-89; ders: "Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik" [1990], in: ebd., S. 159-199. Siehe in diesem Zu-
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Indem sich die Staatsrechtslehre nun ganz auf den entpolitisierten Grundrechtsteil als Wertsystem, das den Kern der Verfassung ausmache, zurückgezogen habe, sei eine "introvertierte, d.h. auf sich selbst bezogene Rechtsstaatlichkeit"23 entstanden. Und an dieser Diagnose anknüpfend stellt Forsthoff die Frage nach dem "Ende der überkommenen Staatlichkeit".24 Er beruhigt erst einmal: Der "introvertierte Rechtsstaat" sei nur ein Symptom auf dem möglichen Wege zum Ende des Staates, nicht mehr - und in welcher Phase der Entwicklung man sich befinde, darüber könne man nichts aussagen. "Denn gewiß", so Forsthoff, "wird man sich das Ende des Staates nicht in der Form eines datierbaren Ereignisses vorstellen können".25 Noch sei es nicht soweit: "Immerhin: Die Bundesrepublik kann und will nicht anders als mit dem Anspruch auftreten, Staat zu sein."26 Und so versucht er eine "wissenssoziologische Verortung der modernen, geisteswissenschaftlichen, auf den Grundrechten als Werten basierenden Verfassungstheorie"; sie diene als "Surrogat einer Staatsideologie", welche die "staatsideologische Unterbilanz" kompensiere, den notwendigen "Ideologiebedarf" des Staates - allerdings auf unpolitische Weise - decke.27 Derart zeige sich das "relative, zeitliche Anrecht dieser Art des Verfassungsverständnisses".28 An dieses Verständnis für die rechtswissenschaftliche und "ideologische" Lage schließt sich allerdings eine deutliche, an Kategorien von Carl Schmitt orientierte Warnung an. Derartige Entpolitisierungen könne man sich nur leisten in einer "grundsätzlich unangefochtenen Normallage", 29 welche die moderne Industriegesellschaft geschaffen habe durch ständiges Wirtschaftswachstum, das Wohlstand, soziale Befriedung und Entideologisierung garantiere und derart keine grundsätzlichen politischen Entscheidungen erfordere. Forsthoff versagt es sich, auf den Ausnahmefall einzugehen, sondern beläßt es bei der trockenen Feststellung, daß er dieser "Entpolitisierung" und jeder Art von "surrogatärer Staatsideologie" ein Ende bereiten werde. Und er fährt fort: "Ob sich dann der Staat als Kristallisationskern des Politischen erneut bewähren wird, kann niemand voraussehen."30
sammenhang natürlich auch Carl Schmitt: "Die Tyrannei der Werte", in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 37-62. 23 Ernst Forsthoff: "Der introvertierte Rechtsstaat" (FN 20), S. 222. 24 Ebd., S. 223. 25 Ebd., S. 223. 26 Ebd., S. 223. 27 Ebd., S. 224. 28 Ebd., S. 225. 29 Ebd., S. 225. 30 Ebd., S. 226.
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6. Von der "sozialen" zur "technischen Realisation": Die Herausforderung des Staates durch die Industriegesellschaft und sein mögliches Scheitern Das Kapitel "Staatlichkeit und Verfassungsform" seiner 1971 erschienen Schrift Der Staat der Industriegesellschaft beginnt Forsthoff mit dem in seiner prägnanten Schärfe an Carl Schmitt erinnernden Satz: "Das Grundgesetz ist nicht das Ergebnis einer politischen Entscheidung, sondern das Produkt einer Lage." 31 Damit fehle dem Grundgesetz - im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung - die Legitimität und Evidenz, deren eine Verfassung, zumindest nach der Verfassungslehre Carl Schmitts,32 bedürfe, um deren "legitimitätsbestimmenden Kernbestand [...] als solchen zu erkennen und zum Rechtsbegriff zu machen" .33 Dagegen böten sich Verfassungen, die das bloße Ergebnis von "Lagen" seien, "als Objekte ideologischer Spekulation geradezu an". 34 So scheint es letztlich diese "Lage" zu sein, die es ermöglicht habe, eine - allerdings im Gegensatz zu Rudolf Smend entpolitisierte - Theorie der Verfassung als eines Wertsystems zu etablieren.35 Darauf hat Werner von Simson 1972 mit einigem Recht geantwortet: "In Wirklichkeit ist jede echt demokratische Verfassung das Ergebnis einer Lage." 36 Eine Verfassung als reine Dezision sei illusionär; Verfassungen bildeten sich vielmehr innerhalb des Horizonts von Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Machtkonstellationen und Überzeugungen aus, nicht aufgrund einer quasi grundlosen souveränen politischen Entscheidung eines Volkes, dessen Einheit immer schon unterstellt werden muß.37 Das soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Wichtiger ist hier vielmehr ein anderer Horizont von Forsthoffs Argumentation: Die nach 1945 eingeschränkte Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und das - in welchem Grad auch immer - entpolitisierte Verfassungsverständnis, d.h. die Beschränkung der Souveränität des Staates nach außen und nach innen, werden von Forsthoff als geradezu ideale Ausgangslage der Entwicklung der Industriegesellschaft gesehen, die per definitionem unpolitisch sei und ihren eigenen Gesetzlichkeiten folge. Deshalb schreibt Forsthoff schon im Vorwort: "Die Bundesrepublik Deutschland ist unter Bedingungen entstanden, die sie den Auswirkungen der Industriegesellschaft in ungleich höherem Maße eröffnen, als dies bei den
31 Emst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft 32 Carl Schmitt: Verfassungslehre
( F N 2), S. 61.
[1928], 7. unveränd. A u f l . , Berlin 1989.
33 Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft
( F N 2), S. 66.
34 Ebd., S. 67. 35 Ebd., S. 67 ff. 36 Werner von Simson: "Bespr. v. Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft", Der Staat, (1972), S. 5 1 - 6 0 , hier S. 53.
Bd. 11
37 Genau diese Einheit wird bei Rudolf Smend nicht unterstellt; vielmehr ist es die Integrationsleistung der Verfassung, welche die Einheit immer wieder von neuem herzustellen hat; vgl. Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" ( F N 15).
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meisten modernen Staaten der Fall ist. Das berechtigt dazu, die Bundesrepublik Deutschland als den paradigmatischen Fall des Staates der Industriegesellschaft zu betrachten."38 Dieser Satz ist deshalb so wichtig, weil damit am "Beispiel der Bundesrepublik Deutschland" als eines geradezu idealen Experimentierfeldes für die Industriegesellschaft die Frage nach dem Schicksal des Staates in der modernen Welt - zumindest in der vom Okzident geprägten Welt - gestellt werden kann. Derart gewinnt die Analyse Forsthoffs - fast beiläufig und jenseits des Spektakulären - eine historische, ja beinahe geschichtsphilosophische Dimension. Trotzdem gibt sich die Schrift Der Staat der Industriegesellschaft als eine "Realanalyse" der Bundesrepublik Deutschland. Sie übersteigt jedoch bei weitem die schon erwähnte "Realanalyse" aus dem Jahre i960. 39 Denn es kommt eine neue Dimension hinzu, die dann zum Zentrum der ganzen Analyse wird: die Technik™ Die "soziale Realisation", d.h. die im 19. Jahrhundert beginnenden Bestrebungen, die Gesellschaft unter sozial ausgleichenden und das Dasein absichernden Gesichtspunkten zu gestalten, habe im bestehenden Sozialstaat seine Erfüllung und logische Geschlossenheit gefunden, könne also nicht mehr Motor der historischen Veränderungen sein. In Zukunft werde die "soziale Realisation" als treibende Kraft der Geschichte abgelöst durch die "technische Realisation". Das wird Auswirkungen haben auf die Stellung des Staates in der Gesellschaft: Zur sozialen Realisation bedurfte es des Wegs über den Staat; die technische Realisation jedoch könnte sich selbst tragen, sich prinzipiell ohne den Staat selbst in Szene setzen.41 Die soziale Realisation war die Lösung eines dringlichen Problems gewesen; die technische Realisation dagegen löse kein vorgegebenes Problem, sondern schaffe sich die Probleme selbst, die sie dann löst oder zu lösen vorgibt, um daraufhin diese Lösung durch Überholung, d.h. durch technischen Fortschritt, obsolet zu machen - kurz: der technische Prozeß sei sinnlos, prinzipiell inhuman, indem er sich um seiner selbst willen produziert. Die moderne Technik könne - im Gegensatz zum Sozialen - überhaupt nicht verstanden werden aus der Perspektive der vorhandenen menschlichen Bedürfnisse; sondern sie erzeuge allererst die Bedürfnisse, die sie hinterher zu befriedigen hat. Dieses Phänomen mag es in der Geschichte schon gegeben haben; aber in seiner Geschwindigkeit und Atemlosigkeit gewinne der technische Prozeß eine neue, nie dagewesene Qualität. Der Staat, so Forsthoff, habe nun drei Möglichkeiten, auf den Prozeß der technischen Realisation zu reagieren:42
38 Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft
(FN 2), S. 7; Hervorhebung von mir.
39 Vgl. Ernst Forsthoff: "Die Bundesrepublik Deutschland" (FN 11). 40 Vgl. schon den Aufsatz von Ernst Forsthoff: "Von der sozialen zur technischen Realisation", Der Staat, Bd. 9 (1970), S. 145-160. 41 Zur technischen Realisation siehe Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft 42 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 42 ff., zu Saint-Simon S. 36 ff.
(FN 2), S. 30 ff.
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1. Der Staat identifiziert sich mit diesem Prozeß und macht sich zu seinem Promotor. Dann übernehmen entweder die Techniker und Industriellen den Staat, womit alle politischen Probleme zu technischen würden - letztlich die Erfüllung der Utopie Saint-Simons; oder der Staat unterwirft sich Technik und Industrie zu seinem Zweck und zur Steigerung seiner Macht nach innen und nach außen - gewissermaßen die stalinistische Lösung. 2. Der Staat überläßt die Technik ihrer Eigengesetzlichkeit und beschränkt sich auf diejenigen Aufgaben, welche die Industriegesellschaft nicht selbst bewältigen kann: Außenpolitik, Polizei und Rechtspflege, Bildungs- und Sozialpolitik. Damit gerät der Staat letztlich unter den permanenten Druck der technischen Realisation, welche in der Form von sog. "Sachzwängen" die Prämissen für die Politik vorgibt, um sich ungehindert entfalten zu können: Der Staat wäre dann in letzter Konsequenz der Gefangene der innovativen gesellschaftlichen Prozesse selbst. 3. Der Staat als politische Ordnung setzt den Rahmen für die technische Realisation und beschränkt derart die Eigendynamik der industriell-technischen Entwicklung. Es ist klar, daß Forsthoff unter diesen Alternativen für die dritte Möglichkeit votiert. Und genau daran sieht er jetzt das Schicksal des Staates - die Beantwortung der Frage, ob der Staat am Ende sei - gekoppelt. Denn nur in der Allgemeinheit des Staates, nicht in der Partikularität technisch-industrieller Interessen könne das "Konkret-Allgemeine" im Hegeischen Sinne seinen Ort und seine Erfüllung finden.43 Die Probleme des Staates in seiner Differenz zur Gesellschaft seien natürlich nicht mehr diejenigen des 19. Jahrhunderts. Es gehe heute, so Forsthoff, "um mehr als die Freiheit. Es geht - angesichts der Expansion der Technik [...] - um den Schutz der Umwelt gegen die Zerstörung durch die Industrie und schließlich um die Integrität des Menschen selbst, nachdem dieser zum Gegenstand genetischer Forschung geworden ist".44 Damit sei die Differenz von Staat und Gesellschaft keineswegs überholt: nur stehe dem Staat nicht mehr die "bürgerliche Gesellschaft" gegenüber, sondern die durch die technische Realisation geprägte "Industriegesellschaft", aus deren Selbstläufigkeit heraus eine Bewältigung der ihr inhärenten selbstzerstörerischen Kräfte nicht zu erwarten sei. Ob der Staat der Bundesrepublik Deutschland im besonderen und die Industriestaaten der Welt im allgemeinen in der Lage sein werden, der technischen Realisation wirksame Schranken zu setzen - dazu äußert sich Forsthoff eher skeptisch. "Denn", so Forsthoff, "solche Schranken [zu] setzen würde bedeuten, Herrschaftsfunktionen gegenüber der Industriegesellschaft aus[zu]üben. Dazu bedarf es einer eigenständigen Macht, die dem Staate fehlen muß, der seine Stabilität der Industriegesellschaft verdankt. "4S So scheint es das Dilemma, ja die Tragik des modernen Staates zu sein, sich selbst destabilisieren
43 Vgl. Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft (FN 2), S. 30: "Die Frage, ob der Staat wirklich tot ist, läßt sich [ . . . ] dahin beantworten, daß vom Staat dann nicht mehr ernsthaft gesprochen werden kann, wenn das Konkret-Allgemeine [ . . . ] keine organisierte Instanz mehr hat, die stark genug ist, dieses Konkret-Allgemeine zu ihrer Sache zu machen und wirksam zu vertreten." 44 Ebd., S. 25. 45 Ebd., S. 168.
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zu müssen, wenn er der Industriegesellschaft, die seine Grundlage ist und seine Stabilität sichert, also seine "Normallage" darstellt, Schranken zu setzen sucht. Doch es kommt noch eine andere Dimension hinzu: Die Begrenzung der Technik sei im Rahmen einzelner Staaten gar nicht mehr zu lösen; denn die Internationalisierung der technischen Realisation und ihrer Folgeprobleme erfordere Lösungen zumindest für größere regionale Einheiten, wenn nicht im Weltmaßstab. Und so zieht Forsthoff die noch kaum absehbare, zu den oben skizzierten drei Möglichkeiten hinzutretende, vorerst nur "gedanklich konzipierte" Möglichkeit einer internationalen Organisation in Betracht, welche "den weiteren Ablauf des technischen Prozesses als effizienter Hüter der Humanität zu begleiten vermag". 46 Damit hätte allerdings der Staat einen Großteil seiner Zuständigkeit für das "Konkret-Allgemeine" verloren - was wiederum die Frage nach dem Ende der Staatlichkeit, nach dem Ende dieser Epoche, aufwerfen würde.
7. Zwischen "totalem" Staat und "totaler" Gesellschaft: Zur Problematik des 20. Jahrhunderts Ernst Forsthoffs Schriften sind geprägt von der Problematik dieses Jahrhunderts, seinen verhängnisvollen Utopien wie seinen zerstörerischen Kräften; dabei ist sein Werk - wie das Jahrhundert selbst - eingespannt zwischen zwei Extremen: dem "totalen Staat" einerseits und dem immer wieder verkündeten Tod des Staates, seiner Auflösung in einer sich selbst regulierenden - und sich vielleicht letztlich selbst gefährdenden oder gar vernichtenden - Gesellschaft andererseits. In seiner berüchtigten Schrift Der totale Staat aus dem Jahre 1933 stellte er sich selbst auf die Seite eines "autoritären totalen Staates", der in einer "metaphysischen Weltanschauung" seinen transzendenten Grund finde und durch die "nationalsozialistische Revolution" Wirklichkeit werde. In fatalen Sätzen wird die fraglos unterstellte "seinsmäßige Artgleichheit" des "deutschen Volkes" und seiner "Rasse" beschworen, um anschließend die Juden zum Feind des Staates und der neuen Ordnung zu erklären. 47 Das kann man nicht einfach vergessen, wenn man einen Blick auf den Staat und die Staatsrechtslehre in Deutschland wirft. Liest man die Nachkriegsschriften Forsthoffs, so wird man eine Distanz zu diesen Thesen unterstellen dürfen. 48 Sie stehen nicht mehr im Zeichen des "totalen Staates", sondern im Zeichen des sich aus einer Fülle von Indizien und Symptomen erschließenden und derart eine Epoche abschließenden möglichen Endes der Staatlichkeit in der modernen industriellen Gesellschaft, die vor allem in der Selbstläufigkeit ihrer Prozesse der "technischen Reali-
46 Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft
(FN 2), S. 169.
47 Ernst Forsthoff: Der totale Staat, Hamburg 1933. Diese Schrift hat nur 48 Seiten, auf einzelne Nachweise sei daher verzichtet. Im Jahre 1938 verkündete Forsthoff dann, die Grundrechte gehörten in einem auf Daseinsvorsorge und somit auf die Verwaltung gegründeten Staat der Geschichte an; vgl. Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung (FN 16), S. 22. 48 Zur Distanzierung vom "totalen Staat" vgl. Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft (FN 2), S. 53 f.; zur (kurzen) Distanzierung von der These vom Ende der Grundrechte vgl. ders.: Rechtsfragen der leistenden Verwaltung (FN 16), Vorwort.
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sation" zu einer "inhumanen", man könnte sagen: "totalen Gesellschaft" zu werden droht. In diesen Fragestellungen und Analysen, die auch in der Gegenwart durchaus noch Aktualität besitzen, hat Forsthoff - insbesondere was das Verhältnis von "technischer Realisation", "Daseinsvorsorge", moderner Industriegesellschaft und Staat betrifft einen scharfen und distanzierten Blick auf die Wirklichkeit und die in sie eingeschriebenen Problemlagen bewiesen. Dabei untersucht Forsthoff die Industriegesellschaft letztlich aus der Perspektive eines Etatisten - anders als die Soziologie oder soziologische Richtungen in der Politikwissenschaft, die den "Staat" aus der Perspektive der "Gesellschaft", der Funktionflir die "Gesellschaft" thematisieren. Um so verwunderlicher mag es erscheinen, daß der Staatsrechtler, der Verfassungs- 49 und Verwaltungsjurist 50 Forsthoff mit so manchem Soziologen zu einem durchaus vergleichbaren Ergebnis gelangt: zur Diagnose eines Funktions- und Bedeutungsverlusts des Staates in der modernen Gesellschaft - eines Staates, welcher den gesellschaftlichen Prozessen immer weniger als pouvoir neutre gegenüberzutreten und diese zu steuern vermag. 51 Den Maßstab dieser Analysen bildet folglich ein spezifischer - und in dieser Spezifität ausgesprochen "deutscher" - Begriff vom Staat: Einerseits souverän nach außen, tritt er im Inneren mit der ihm eigenen Autorität den partikularen Interessen entgegen als Instanz des "Konkret-Allgemeinen" im Hegeischen Sinne. In dieser Vorstellung vom "Staat", der allerdings im Gegensatz zum Staatsdenken des 19. Jahrhunderts als nicht universalisierbarer Epochenbegriff fungiert, berührt er sich mit Carl Schmitt und stellt sich gegen Richtungen in der Staatsrechtslehre, die im "Staat" eine anthropologische Konstante, eine "zeitlose notwendige Komponente des menschlichen Lebens" 52 erblikken. Aus dieser etatistischen, jedoch den Staatsbegriff historisch eingrenzenden Perspektive heraus wird von Forsthoff der virulente Verfallsprozeß des Staates beschrieben: 49 Und auch Verfassungshistoriker; vgl. Ernst Forsthoff: Deutsche Berlin 1940.
Verfassungsgeschichte
der
Neuzeit,
50 Forsthoff hat das wohl einflußreichste Lehrbuch des Verwaltungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland geschrieben, das von 1950 bis 1973 in zehn Auflagen erschien - und dabei ständige Überarbeitungen erfuhr. Die erste Auflage Ernst Forsthoff: Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, München/Berlin 1950. 51 Vgl. statt anderer nur jüngst wieder Klaus von Beyme: Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne, Frankfurt a.M. 1991. Von Beyme spricht von der "Entzauberung des Staates" (ebd., S. 356) im politischen Denken des 20. Jahrhunderts und will die "Theorie der Politik" ausschließlich "als Gesellschaftstheorie" verstanden wissen (ebd., S. 9). Dazu kritisch Verf.: "Anmerkungen zu einer 'Theorie der Politik als Gesellschaftstheorie'", in: Politisches Denken. Jahrbuch 1993, Stuttgart/Weimar 1993, S. 173-179. 52 So der einflußreiche Ulrich Scheuner: "Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre", in: Konrad Hesse, Siegfried Reicke u. Ulrich Scheuner (Hg.): Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, Tübingen 1962, S. 225-260, hier S. 255. Scheuner geht von einer "politischen Anthropologie" (ebd.) aus, deren zentraler Begriff der 'Staat' als grundlegend für die politisch-menschliche Ordnung ist: "Der Begriff des Politischen kann nur vom Staate her und nur als Ausdruck staatlicher Lebensvorgänge erfaßt werden". Das ist natürlich die genaue Gegenposition zu Carl Schmitts berühmtem Satz: "Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus." (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen [FN 3], S. 20.)
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eines Staates, der in seiner heiklen Stabilität von einer funktionierenden Industriegesellschaft als seiner Normallage abhänge - einer Normallage, die der Staat immer weniger selbst zu garantieren vermag. Jeder Normallage entspreche nun eine Ausnahmelage. Und diese in der Form einer ständigen Drohung am Horizont aufscheinende Ausnahmelage besteht für Forsthoff darin, daß die Industriegesellschaft sich selbst destabilisieren könnte, ja die Keime dafür ständig in sich trage: Trete dieser "Ernstfall" ein, würden die "Entpolitisierungen" und politischen "Neutralisierungen" der Industriegesellschaft und ihrer auf der Technik basierenden "Realisation" prekär - und erst in dieser politischen Zuspitzung könnte sich das Schicksal des Staates entscheiden, die Epoche der Staatlichkeit in die Krisis ihrer endgültigen Entscheidung kommen. Auch dieser Gedanke erinnert an Carl Schmitt: Forsthoff traut sowenig wie Schmitt den "Neutralisierungen" und "Entpolitisierungen" einer technisch-industriellen Zivilisation. Aber anders als Schmitt im Jahre 1929 geht es ihm nicht mehr um die machtvoll offensive Aneignung der Technik durch Staat und Politik;53 vielmehr geht es ganz defensiv um die Gefahr des Überwältigtwerdens von Staat und Politik durch die Technik selbst - durch eine technisch-industrielle Gesellschaft, die im letztlich illusionären Glauben an ihre eigenen Sachgesetzlichkeiten auf ihre dauerhafte Entpolitisierung vertraue. Gerade darin - in dieser Skepsis - unterscheidet sich der "Konservative" Forsthoff von einem "technokratischen Konservativismus" - etwa demjenigen Helmut Schelskys; dieser schrieb 1961 in seinem Aufsatz Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation: "Wir behaupten nun, daß durch die Konstruktion der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen wird, in welchem das Herrschaftsverhältnis seine alte persönliche Beziehung der Macht von Personen über Personen verliert, an die Stelle der politischen Normen und Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation treten, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen nicht verstehbar sind. Damit verliert auch die Idee der Demokratie sozusagen ihre klassische Substanz: An die Stelle eines politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert. 1,54
53 Carl Schmitt: "Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" [1929], in: ders.: Positionen und Begriffe (FN 6), S. 120-132, hier bes. S. 131: "Es kann [ . . . ] nur ein Provisorium sein, das gegenwärtige Jahrhundert im kulturellen Sinn als das technische Jahrhundert aufzufassen. Der endgültige Sinn ergibt sich erst, wenn sich zeigt, welche Art von Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen, und welches die eigentlichen Freund- und Feind-Gruppierungen sind, die auf dem neuen Boden erwachsen." Vgl. auch Carl Schmitt: "Nehmen/Teilen/Weiden" [1953], in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 1), S. 489-504. Schmitt wendet sich hier gegen die Auffassung, daß die moderne technisch-industrielle Gesellschaft sich auf das "Weiden", d.h. ausschließlich auf das unpolitische und seinen eigenen Sachgesetzlichkeiten gehorchende Produzieren und Konsumieren beschränken könne - also jenseits der politischen Probleme des "Nehmens" und "Teilens" (Verteilens). 54 Helmut Schelsky: "Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation" [1961], in: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik, München 1979, S. 449-499, hier S. 465; Hervorhebungen von mir.
Am Ausgang der Epoche der
Staatlichkeit?
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Dieser Diagnose der modernen Gesellschaft könnte Forsthoff durchaus zustimmen - aber nur als Diagnose der "Normallage", die jedoch keinerlei Garantie mit sich führen kann, daß man der politischen Frage nach der Technik und dem ihr inhärenten Zwang zur Selbstrealisation auf Dauer auszuweichen vermag. Auf dieser politischen Frage insistiert auch Wilhelm Hennis in seinem Aufsatz Ende der Politik? aus dem Jahre 1971 - und dabei macht er die hier skizzierten Gedanken Helmut Schelskys zum Anlaß seiner kritischen Reflexionen. 55 Hennis' Fragestellung geht aus von Hannah Arendts Diagnose vom Ende der abendländischen Tradition politischen Denkens56 und der These, alles moderne politische Denken sei "im Kern technisches Denken, Herstellungsdenken", 57 welches in letzter Konsequenz alle hergebrachten (und mit Piaton und Aristoteles beginnenden) ethischen Fragen der Politik zu verdrängen droht. Auch Hennis betont, daß der moderne Staat unentrinnbar "Leistungsstaat", "Daseinsvorsorgestaat" sei58 - mit Verweis auf Ernst Forsthoff - , und daß das, was Forsthoff "technische Realisation" nennt, in der atomaren und ökologischen Gefährdung letztlich der gesamten menschlichen Gattung gipfeln könnte; 59 doch diese moderne Verkettung von "Staat" und "Gesellschaft" einerseits, von beiden mit "moderner" Wissenschaft und Technik andererseits führt ihn nicht zu der Frage nach dem Ende des "Staates" - dessen Fortbestand in seiner Funktion als moderner "technischer Dienstleistungsbetrieb"60 nicht zu bezweifeln sei - , sondern nach dem Ende der "Politik" im "klassischen" abendländischen Sinne. Die Diagnose von Hennis lautet: "Nichts steht der Menschheit weniger bevor als das Absterben des Staates. Dagegen scheint die Möglichkeit des Absterbens der spezifisch abendländischen Kategorie des Politischen, das immer eine subsidiäre, gewissermaßen aufsichtsführende, aber doch nur hinzutretende Kategorie
55 Wilhelm Hennis: "Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit" [1971], in: ders.: Politik und praktische Philosophie. Schriften zur politischen Theorie, Stuttgart 1977, S. 176-197, hier S. 176 f. 56 Hannah Arendt: "Tradition und die Neuzeit", in: dies.: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays [1957], Frankfurt a.M. o.J., S. 9 - 4 5 , hier S. 9. 57 Wilhelm Hennis: "Ende der Politik?" (FN 55), S. 187. 58 Ebd., S. 192. 59 Vgl. ebd., S. 194: "Erstmals in dieser Generation lebt die Menschheit mit dem möglichen Tod der Gattung auf Du und Du. Die Herbeiführung des Endes der Gattung durch einen Betriebsunfall, die Tat eines Wahnsinnigen als Folge zerstörerischen Hasses oder durch Angst voreinander, das ist die grundlegende Realität, in deren Horizont alle verantwortliche politische Überlegung stattfinden muß." So gelte es, die zerstörerischen Möglichkeiten und Potentiale der technisch-industriellen Zivilisation als politisches - und in diesem Kontext dann auch: ethisches - Problem zu begreifen, wenn man sich ihren Sachgesetzlichkeiten oder auch nur irrationalen Zufälligkeiten nicht blind auszuliefern bereit ist. Siehe zu dieser Thematik auch, vom Denken Eric Voegelins herkommend Jürgen Gebhardt: "Ende der Hybris? - Auf der Suche nach einer Ethik der fortgeschrittenen Industriegesellschaft", in: Manfred Mols, Hans-Otto Mühleisen, Theo Stammen u. Bernhard Vogel (Hg.): Normative und institutionelle Ordnungsprobleme des modernen Staates. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Hättich am 12. Oktober 1990, Paderborn/München/Wien/Zürich 1990, S. 2 4 - 3 9 . 60 Wilhelm Hennis: "Ende der Politik?" (FN 55), S. 193.
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gewesen ist, durchaus eine Möglichkeit der nächsten Zukunft zu sein."61 Hier zeigt sich deutlich die Differenz zum Politik- wie zum Staatsbegriff Forsthoffs wie der Schmitt-Schule insgesamt: Das "Politische" ist für Hennis nichts Universales und in der rein formalen Differenz von Freund und Feind vom "Ethischen" erst einmal prinzipiell Abgegrenztes wie für Schmitt oder Forsthoff; folglich steht im Zentrum die Frage nach dem Ende der Politik - und nicht des Staates. Es kann sich an dieser Stelle nicht darum handeln, das gesamte Spektrum des Denkens von Politik und Staat in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick zu nehmen. Aber im hier skizzierten Vergleich der pointierten Fragestellungen von Forsthoff und Hennis - die eine nach dem Ende des Staates, die andere nach dem Ende der Politik wird wie in einem Brennpunkt ein wesentliches Moment des politischen Denkens im 20. Jahrhundert sichtbar, das auch in die ideenpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik eingeschrieben ist - eingespannt zwischen den verschiedensten Richtungen der Jurisprudenz (vor allem der Staatsrechtslehre), der Politischen Philosophie, der Politischen Wissenschaft (oder auch Politikwissenschaft) und der Soziologie: Es geht um die ganz prinzipielle Frage, was Politik und Staat in einer modernen, von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik - und den diesen drei Kräften inhärenten Tendenzen der Internationalisierung und Globalisierung - bestimmten Industriegesellschaft überhaupt noch zu sein und zu leisten vermögen.
61 Wilhelm Hennis: "Ende der Politik?" ( F N 55), S. 196 f.
Dirk van Laak
Die fehlende Staatsidee Eine Dokumentation von Martin Draths unvollendeter Abrechnung mit dem "Begriff des Politischen"
Kaum eine Zäsur war für die Frage nach den Möglichkeiten einer politischen Einheitsbildung in Deutschland derart tiefgreifend wie das Jahr 1945. Man hätte annehmen können, die Phase des Untergangs und des Interims habe die Suche nach neuen staatlichen Organisationsformen befördert und sei daher eine Stunde der politischen und Staats-Theorie gewesen. Das war aber nicht der Fall: Statt einer Konzeption des Neuen schien noch längere Zeit eine Überwindung des Alten auf der Tagesordnung zu stehen, statt perspektivischem Aufbau erschöpften sich die Energien in Rettungsversuchen staatlicher Restbestände. Die relativ kurze Phase einer vermeintlich freien Neuorientierung sah eine Flut von Bewältigungsschriften aus den Schubladen quillen. Jenseits blanker Rechtfertigungen signalisierten die meisten dieser Schriften ein ehrliches Bemühen um Reorientierung - und sind doch für den heutigen Leser ein meist nur noch schwer verdauliches Gebräu aus Pathos und phantastischer Realitätsferne. Zu den wenigen Texten einer produktiven Umorientierung im Bereich des Staatsrechts mag man die nachfolgend vorgestellten Überlegungen des späteren Bundesverfassungsrichters Martin Drath zählen, die in mehrfacher Weise an die Fragestellungen der übrigen Beiträge dieses Sammelbandes anknüpfen. Es handelt sich um Auszüge aus einer Habilitationsschrift, die Drath im Jahre 1946 an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht hat. Aus verschiedenen Gründen blieb diese Arbeit bisher unveröffentlicht und weitgehend unbekannt.1 Im Nachlaß des Juristen hat sich jedoch ein Exemplar des Manuskriptes erhalten.2 Im folgenden sollen einige der Thesen daraus mitgeteilt werden, nicht nur, weil 1
Piet Tommissen schrieb in der Vorbemerkung zu seiner erweiterten Carl-Schmitt-Bibliographie in der Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, dargebracht von Freunden und Schülern, hg. von Hans Barion, Ernst Forsthoff u. Werner Weber, Berlin 1959, S. 274: "Da die Bibliographie für wissenschaftliche Zwecke bestimmt ist, enthält sie nur solche Schriften, die als zugänglich gelten können. Aus diesem Grunde wurde z.B. die ungedruckte Habilitationsschrift von Martin Drath, die er im Jahre 1946 der Juristischen Fakultät in Jena vorlegte, nicht aufgenommen." Prof. Tommissen schrieb dem Verf. unter dem 13. Dezember 1994, daß er in Zusammenarbeit mit dem emeritierten Rechtsprofessor Christoph Müller eine Dokumentation zum Habilitationsverfahren vorbereitet.
2
Bundesarchiv (BA) Koblenz, Nachlaß Martin Drath (N 1341, 5-6); es handelt sich um ein Originalmanuskript und zwei vom Archiv angefertigte Kopien der Schrift. Im Universitätsarchiv in Jena sind nicht nur keine Exemplare der dort eingereichten Habilitationsschrift mehr vorhanden, sondern auch keine Unterlagen mehr zum eigentlichen Habilitationsverfahren. Es ist daher nicht auszumachen, ob die Version im Nachlaß (die einige handschriftliche Anmerkungen und Korrekturen enthält und uneinheit-
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sie eine spezifische Auseinandersetzung mit Person und Werk Carl Schmitts zu dieser Zeit verraten. Darüber hinaus beinhalten sie Reflexionen über politische Einheitsbildung, wie sie für eine bestimmte und schwer abgrenzbare Gruppe von Linksintellektuellen zu dieser Zeit charakteristisch gewesen sind. Einen historischen Augenblick lang schien in der Sowjetischen Besatzungszone die Umsetzung dieser Entwürfe auf größere Spielräume zu treffen als im Westen. Die hohe Zahl an "kulturschaffenden" deutschen Remigranten in die SBZ nach 1945 bezeugt jedenfalls nachdrücklich, daß es diese Hoffnungen gegeben hat. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges freilich erwiesen sie sich in West wie Ost als trügerisch. Die Vorstellungen Draths aus dem Winter 1945/46 sind daher auch als ein Dokument der beginnenden Heimatlosigkeit dieser Linken im Deutschland der Nachkriegszeit zu lesen - eine Heimatlosigkeit, die sich auch in ihren Biographien widerspiegelte.
I. Wer war Drath? Martin Hermann Drath, am 12. November 1902 im sächsischen Blumberg geboren, absolvierte ein Jurastudium in Leipzig, Rostock und Göttingen und wurde 1926 von Walter Jellinek in Kiel mit einer Arbeit über Das Wahlprüfungsrecht bei der Reichstagswahl promoviert. Von 1926 bis 1932 war er juristischer Berater bei den freien Gewerkschaften und sammelte erste praktische Erfahrungen im Beamten- und Verwaltungsrecht. Zugleich war er seit 1931 Assistent an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, und zwar gleichermaßen bei Hermann Heller wie bei Rudolf Smend. Nebenamtlich arbeitete er als Dozent an der Berliner Hochschule für Politik und von 1932 bis 1933 als hauptamtlicher Dozent an der Preußischen Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main. Die Laufbahn schien vorgezeichnet, erste Fachartikel waren erschienen und die Absicht formuliert, sich über Carl Schmitts Begriff des Politischen zu habilitieren. 1933 jedoch wurde das SPD-Mitglied (seit 1926) wegen politischer Tätigkeiten in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Drath überlegte offenbar vorübergehend, nach Schweden zu gehen und seine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität Lund fortzusetzen, konnte sich dann aber doch nicht zur Emigration entschließen.3 Kurze Zeit darauf wurde Drath Buchhalter und Revisor bei verschiedenen Firmen, die längste Zeit beim "Welt-Glühlampenkartell" in Genf. Von 1940 bis 1945 war er bei der Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich tätig, wo er mit dem Aufbau einer Revisions- und Treuhand-Gesellschaft sowie mit der Beaufsichtigung "herrenloser Vermögen" betreut war. 1945 übernahm er auf Veranlassung des ersten Thüringer Ministerpräsidenten, Hermann Brill, mit dem er seit den 20er Jahren bekannt war, den Aufbau der Revisionsabteilung in der Thüringischen Verwaltungs-Gesellschaft m.b.H. Ende 1945 entschied er sich dann erneut für die wissenschaftliche Laufbahn, weil er "mit Leib
lieh sowohl in der Paginierung w i e auch in der Kapiteleinteilung ist) lediglich eine Vorstufe der Arbeit darstellt oder tatsächlich den improvisierten Charakter der Habilitation widerspiegelt. 3
Personalbogen, Universitätsarchiv Jena, D 545.
Die fehlende
Staatsidee
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und S e e l e D o z e n t war". 4 Brill verschaffte ihm einen Lehrauftrag an der Universität Jena, w o er als Vertretung "für die wohl erledigte Professur des Herrn Prof. M . H. Böhm" eingesetzt wurde. Statt w i e dieser Volkstheorie und V o l k s t u m s s o z i o l o g i e sollte Drath Staatsrecht v o n e i n e m s o z i o l o g i s c h e n Standpunkt aus s o w i e Arbeitsrecht lehren. 5 N a c h Karl Korsch in den 2 0 e r Jahren hatte Jena damit w i e d e r e i n e n Linken im juristischen Lehrangebot. Eine Berufung auf e i n e Professur wurde Drath s o g l e i c h in A u s s i c h t gestellt, denn die Personaldecke unbelasteter Rechtswissenschaftler war nach 1945 auch in Jena äußerst dünn. D o c h sah er sich innerhalb der Fakultät mit skeptischen Einschätzungen seines wissenschaftlichen G e w i c h t s konfrontiert, hatte er doch lange Zeit f a c h f r e m d gearbeitet und auch vor 1933 nur w e n i g veröffentlicht. S o kam m a n überein, daß er e i n e Habilitationsschrift nachreichen solle, bei der ihm die Fakultät in formaler Hinsicht offenbar weitgehend e n t g e g e n k o m m e n wollte. Drath sah dies mit e i n i g e m U n w i l l e n als Rückversetzung in den Status eines Habiiitanten im Alter v o n nun immerhin 4 3 Jahren, der verheiratet war und z w e i Kinder zu ernähren hatte. A u f Anraten v o n Gustav Radbruch willigte er j e d o c h ein, neben seiner Dozentur eine solche Arbeit z u verfassen. 6 Im Winter und Frühjahr 1 9 4 5 / 4 6 schrieb er e i n e nahezu 3 0 0 s e i t i g e Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und der Staatstheorie des neuen deutschen Imperialismus nieder. Im Vorwort erläuterte er: "Ich habe mich innerlich lange dagegen gesträubt, dieses Problem jetzt zum Gegenstande einer Veröffentlichung zu machen. Zwar hatte ich diesen Plan vor fünfzehn Jahren im Rahmen einer größeren Arbeit gehegt und 1933 aufgeben müssen; jedoch war es etwas anderes, damals ein Thema zu behandeln, dessen aktuelle Bedeutung ich voraussah und voraussagen mochte, als heute dasselbe Thema zu erörtern, nachdem seine praktische Bedeutung inzwischen durch die Entwicklung selbst scheinbar erledigt worden ist. Heute besteht die Gefahr, daß man offene Türen einrennt und deshalb vielleicht sogar in den Verdacht kommt, sich mehr mit dem Urheber der Freund-Feind-Theorie noch nachträglich persönlich als mit seiner Theorie aus wissenschaftlichen Gründen auseinandersetzen zu wollen. Von der Gesinnung, die einen solchen Verdacht rechtfertigen könnte, weiß ich mich frei; ich glaube, daß wir alle heute schon so viel Abstand von Carl Schmitt haben, daß er uns als Person nicht interessiert. Außerdem halte ich es, wie diese Schrift ergibt, für möglich, daß Carl Schmitt wenigstens bei der Konzeption seiner Theorie an den künftigen deutschen Imperialismus selbst noch nicht gedacht hat. Wenn ich das Problem heute erneut aufgreife, so deshalb, weil die Beseitigung des neuen deutschen Imperialismus als politische Realität noch keineswegs die Erledigung der staatsrechtlichen Probleme des Imperialismus bedeutet. Als Faktor der Weltpolitik ist der neue deutsche Imperialismus ausgeschaltet; als geistiges Problem ist er und ist seine Staatstheorie geblieben. Geblieben ist auch, daß die Politik niemals und deshalb auch heute nicht stillsteht, und daß daher ein deutscher Imperialismus irgendwann auch als politische Realität wieder auftauchen könnte. Zu dem allen offenbart sich uns endlich an der Lehre Carl Schmitts die geistige Lage und die Aufgabe der deutschen Staatslehre überhaupt.
4
BA Koblenz, NL Drath (FN 2), 49.
5
Brief des Kurators der Friedrich-Schiller-Universität vom 3. Oktober 1945, Universitätsarchiv Jena, D 545.
6
Nach Ernst E. Hirsch: "Einleitung des Herausgebers", in: Martin Drath: Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft. Gesammelte Schriften über eine kulturelle Theorie des Staats und des Rechts, Berl in 1977, S. 7.
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Dirk van Laak
Die derzeitigen äußeren Verhältnisse sind freilich für eine solche Arbeit sehr ungünstig; dies gilt besonders von der Verwendung von Literatur. Durch die 'Reinigung' des deutschen Schrifttums sind viele ältere Werke von Bedeutung unerreichbar geworden; Bücherkauf und -versand ist fast unmöglich; die Kriegsereignisse haben vieles vernichtet, und Reisen vom Wohnort auch nur zur nächstgelegenen Bibliothek sowie längeres Arbeiten außerhalb des Wohnorts kommen kaum in Betracht. Erhebliche Beschränkungen in der Verwendung der Literatur ergeben sich hieraus von selbst; sogar Zitieren aus zweiter Hand ist nicht immer zu vermeiden. Wenn aber der Abschluß der Arbeit nicht auf unabsehbare Zeit aufgeschoben werden sollte, so mußten diese Mängel als das kleinere Übel in Kauf genommen werden. Ein Warten aufbessere Zeiten schien mir unmöglich, weil die Arbeit an Probleme rührt, die jetzt und nicht erst nach noch längerem Warten in Angriff genommen werden müssen, und weil es der Zweck dieser Schrift ist, die wissenschaftliche Klärung anzuregen, nicht aber abzuschließen. Ilmenau, Februar 1946"
II. Draths Auseinandersetzung mit Carl Schmitt Die anschließende Schrift, die Drath in 3-4 Wintermonaten im thüringischen Ilmenau niederschrieb, begann mit einer Charakterisierung der "Freund-Feind-Lehre Carl Schmitts" (Kapitel 1, S. 1-9), schloß daran eine Definition von "Imperialismus" an (Kapitel 2, S. 10-41) und skizzierte schließlich "Programm und Politik des neuen deutschen Imperialismus" (Kapitel 3, S. 42-94). Drath wollte unter dem "neuen deutschen Imperialismus" die Periode zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verstanden wissen, die auf die Ausbreitung der deutschen Macht in Europa abgestellt gewesen sei. Träger sei v.a. der Nationalsozialismus gewesen, mit ihm erscheine "der neue deutsche Imperialismus als die eindeutigste und reinste bisher bekannte Form imperialistischer Machtpolitik, als eine grenzen- und schrankenlose Gewaltpolitik" (S. 94). Wirtschaftliche Einflußnahme habe dagegen nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Die erste Auflage von Schmitts Begriffs des Politischen sei zwar noch ohne ausdrücklichen Bezug auf diesen Wandel gewesen, ab der dritten Auflage aber sei diese Schrift eindeutig als Begründung des Übergangs der deutschen Politik zum Imperialismus zu lesen. Nicht umsonst sei sie in einer populären Schriftenreihe erschienen, denn Schmitt habe eindeutig politisch wirken wollen: "Er wollte offenbar jetzt der Politik des Nationalsozialismus, der er sich verschrieb, die staatstheoretische Fundierung geben" (S. 96). Carl Schmitt habe nicht von Anfang an mit dem Nationalsozialismus in unmittelbarer Verbindung oder gar in Abhängigkeit zu ihm gestanden. Seine Freund-Feind-Theorie und der Nationalsozialismus seien aber der gleichen Lage entsprungen und hätten beide für Einheit und Unabhängigkeit durch Kampf votiert. Im Hauptteil der Schrift kennzeichnete Drath anschließend "Die Freund-Feind-Theorie Carl Schmitts als Staatstheorie des neuen deutschen Imperialismus" (Kapitel 4, S. 95-207). Aus diesem Kapitel seien nachfolgend die thesenartigen Zwischenüberschriften zu den einzelnen Abschnitten mitgeteilt:7
7
Die Brüche in der Numerierung der Thesen (14 folgt auf 12 und 17 auf 14) sind inhaltlich nicht begründet; es spricht einiges dafür, daß sie irrtümlich erfolgt sind; vgl. dazu die Bemerkungen in FN 2. Offensichtliche Auslassungen wurden kenntlich gemacht.
Die fehlende " 1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Staatsidee
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Carl Schmitt hat seine Theorie wohl nicht von vornherein auf einen neuen deutschen Imperialismus abgestellt, hat aber spätestens von der 3. Ausgabe (1933) an gewußt, daß diese Theorie auch für imperialistische Politik zutrifft. [...] Es ist nicht zu untersuchen, welche Wirkung die Freund-Feind-Theorie auf den Nationalsozialismus gehabt hat; es kommt hier nur darauf an, ob sie ihm entspricht. (Bedeutung des Begriffs "entsprechen"). [...] Die Freund-Feind-Theorie ist entstanden aus der deutschen Lage in der Weimarer Republik nach dem Versailler Vertrag; diese verlangte eine Darlegung wirklicher politischer Einheit nach innen und wirklicher Unabhängigkeit nach außen. Aus derselben politischen Lage ist die Programmatik und die Politik des neuen deutschen Imperialismus entstanden. [...] Die Freund-Feind-Theorie ist nicht speziell gegen den Versailler Vertrag formuliert, sondern beansprucht allgemeine Geltung für die Staatslehre und begründet daher auch den Übergang von der deutschen Befreiungspolitik zur deutschen Expansionspolitik. Der Grund liegt darin, daß diese Theorie selbst imperialistische Haltung hat, nämlich Weltmacht voraussetzt. Nur Weltmächte, also imperialistische Mächte, haben die Unabhängigkeit, von der die Freund-Feind-Theorie handelt. Diese ist daher eine Theorie von der imperialistischen Politik. Bei der besonderen deutschen Lage war auch für alle [die, V.L.] machtpolitische Befreiung von den Versailler Bindungen identisch mit Wiedergewinnung einer Weltmachtstellung und also mit imperialistischer Politik. Carl Schmitt spricht in seiner Lehre nicht vom Imperialismus, setzt ihn aber als den eigentlichen Gegenstand seiner Lehre voraus. Das bestätigt sich auch in seinen innenpolitischen Darlegungen, die die Innenpolitik ebenso betrachten wie der Imperialismus; ihre Aufgabe ist die Herstellung der politischen Einheit zum Zwecke der imperialistischen außenpolitischen Aktion. [...] Die Freund-Feind-Theorie wendet sich auf Grund dieser Haltung gegen den Versailler Vertrag nicht mit einer These des Rechts, sondern mit einer Gegenthese der Macht, ebenso wie der neue deutsche Imperialismus. [...] Die Freund-Feind-Theorie betrifft nur die Ausbreitung der eigenen Macht und Souveränität in militärisch-politischer Form, also Unterwerfung, Eroberung, Vernichtung; [andere, V.L.] Formen des imperialistischen Einflusses würdigt sie nicht oder nur kritisch, ebenso wie der neue deutsche Imperialismus. Der Anlaß liegt nicht darin, daß Deutschland zur ökonomischen Expansion unfähig gewesen wäre, sondern darin, daß auf diese Weise keine Weltmachtstellung zu erringen war. Für die Freund-Feind-Theorie ist dies dadurch zu erklären, daß der Gedanke, alles Politische müsse unter der "realen Eventualität des Krieges" stehen, für eine Politik der ökonomischen Expansion nicht anwendbar ist, weil diese gerade dadurch gekennzeichnet wird, daß sie den Krieg zu vermeiden sucht. [...] Die Freund-Feind-Theorie setzt als Bereich der politischen Einheit das an, was ein Volk als zu seiner eigenen Art des Seins gehörig betrachtet. Damit ist der militärisch-politischen Machtausbreitung keine Schranke oder Richtung, kein Ziel und keine Aufgabe gesetzt; sie ist in dieser Theorie ebenso grenzenlos wie im neuen deutschen Imperialismus. Es besteht ein allumfassender, allgegenwärtiger und ständiger Wettbewerb aller Weltmächte auf Leben und Tod der eigenen Weltmachtstellung. Die einzige Grenze der Macht kann also nur in den Machtmitteln liegen. Das Prinzip der Grenzenlosigkeit der Macht beherrscht den neuen deutschen Imperialismus. Er will die deutsche Gesamtfrage im Sinne der deutschen Hegemonie in der Welt jetzt und auf einmal zur Gesamtlösung bringen. Was in der Freund-Feind-Theorie als der äußerste Fall erscheint, betrachtet der neue deutsche Imperialismus als einzige Möglichkeit und versucht er zu verwirklichen. [...] Indem die Freund-Feind-Theorie den Krieg zwar wie Clausewitz als das äußerste Mittel der Politik bezeichnet, jedoch zugleich in der Voraussetzung der realen Kriegsmöglichkeit das charakteristische Merkmal aller Politik erblickt, und indem sie die Eigengesetzlichkeit der Politik nicht hervorhebt, verleitet sie dazu, nicht nur das Wesen der Politik von diesem ihrem Mittel her zu sehen, sondern auch die Gesetze der Politik vom Kriege her zu bestimmen, wie es ausdrücklich in den Worten von Seeckts "Die Politik ist nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" und Diltheys "Der Frieden ist selbst nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Waffen" geschieht. Beide Worte besagen das Gegenteil der Ansicht von Clausewitz. Carl
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Dirk van Laak Schmitt unterstützt diese Deutung seiner Theorie noch durch Formulierungen wie "Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird". Damit werden die Kompliziertheit und der Ernst aller modernen Politik verkannt, die die Aufgabe hat, das Leben des Volkes in Frieden und Krieg zu lenken, den Krieg eben wegen seines besonderen Ernstes zu vermeiden, aber nicht auf ihn hinzusteuern, und den Krieg auch nach seinem Ausbruch noch zu lenken. Dies umso mehr, als auch die politische Stärke eines Volkes in der unmittelbaren Entscheidung über Krieg und Frieden gesehen wird. So verstandene Politik bedeutet ein Hinsteuern auf den Krieg, wie es vom Nationalsozialismus verwirklicht worden ist. Der Krieg selbst ist dann nicht mehr ein politisches Instrument; denn eine solche Politik vermag den Krieg nicht ferner zu lenken; es gibt dann keine politischen Fragen mehr, sondern nur noch die militärische Frage: Sieg oder Niederlage. [...]
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Nach der Freund-Feind-Theorie ist alles Politische davon abhängig, daß die reale Eventualität des Krieges besteht; in einem Weltstaate gibt es daher keine Politik, und ein solcher Staat ist selbst keine politische Einheit mehr, es gibt dann auch keine Herrschaft und keine Unterordnung. Dieser Gedanke ist falsch, da Herrschaft und Ordnung im Innern eines Weltstaates noch immer weiterbestehen würden. Die stillschweigende Voraussetzung Carl Schmitts, nämlich die imperialistische Machtpolitik, hat ihn zu seinem Fehlschluß verleitet. Entsprechendes gilt für den Ausschluß der Kriegsmöglichkeit durch einen Weltbund. In diesem sieht Carl Schmitt eine Beschränkung der vollen Unabhängigkeit zugunsten des status quo. Seine Theorie geht aber fehl, insofern sie für jeden solchen Bund Geltung beansprucht, auch wenn er den status quo nicht unbedingt, sondern nur gegen gewaltsame Änderung garantiert und friedliche Revisionsmöglichkeiten bietet. Auch hier mißleitet also Carl Schmitt seine stillschweigende Voraussetzung einer gewaltsamen Außenpolitik. Endlich gilt das Entsprechende von allen völkerrechtlichen Verträgen, an denen Carl Schmitt aus der gleichen grundsätzlichen Haltung heraus mehr die Vorbehalte als die Bindung hervorhebt. Das nimmt allen völkerrechtlichen Abmachungen jeden Sinn. Diese Haltung führt zur politischen Isolierung Deutschlands, nimmt ihm in seiner heutigen Lage die einzige Möglichkeit zum Wiederaufstieg und zur Revision von Verträgen und ist auch theoretisch falsch, da sie mit den konkreten und mit den geistigen politischen Realitäten in Widerspruch steht. Sie findet sich aber übereinstimmend in der Theorie Carl Schmitts und in der Programmatik und Praxis des neuen deutschen Imperialismus. [...]
10. Die Entscheidung über Krieg oder Frieden hängt ab von der Bestimmung jeder politischen Einheit über das eigene So-Sein, das fremde Anders-Sein und die Frage, ob jenes durch dieses negiert wird. Dabei gehören zum eigenen So-Sein auch die Erwartungen und Forderungen des Volkes an die Zukunft. Carl Schmitt lehnt konfessionelle, ökonomische oder sonstige Motivationen und Legitimierungen eines Krieges ab. Dieser ist für ihn eine rein existentielle Angelegenheit. An anderer Stelle gibt er jedoch zu, daß auch solche Motive politisiert werden können. Daß Krieg Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft verlangt, ist aber sinnvoll nur, weil die eigene Existenz auf dem Spiel steht. Diesem Gedankengang, der den Ernst der äußersten Entscheidung kennt, fehlt gerade deshalb die unerläßliche Bindung an die wirkliche Substanz des Volkes und der positive Gedanke der Verantwortlichkeit dafür, daß das äußerste Mittel nur im Fall der wirklichen Unvermeidbarkeit angewendet werden darf, daß also die sorgfältigste Bestimmung der Substanz des eigenen Seins und der Substanz des fremden Anders-Seins sowie die sorgfältigste Prüfung, ob tatsächlich eine Negierung der ersten durch die zweite vorliegt, und die Erschöpfung jedes anderen politischen Mittels voraufgehen muß, ehe zum Kriege gegriffen wird. Es fehlt letzten Endes das Bewußtsein von der Bedeutung der deutschen kulturellen Vergangenheit und Gegenwart für das deutsche politische Sein innerhalb der europäischen Kultur und der übrigen Staaten, die zugleich eine Verpflichtung bedeutet. Der neue deutsche Imperialismus befindet sich deshalb vollkommen im Rahmen dieser Lehre, wenn er das deutsche So-Sein angeblich in der Rassentheorie, de facto in der vermeintlichen Notwendigkeit deutscher Machtausbreitung erblickt. Die Substanzlosigkeit ist kein spezieller Fehler der Lehre Carl Schmitts, sondern findet sich im deutschen Denken weit verbreitet, da zwischen der deutschen geistigen und kulturellen Welt und dem deutschen Staate keine Verbindung bestand, auch nicht in der herkömmlichen deutschen Staatstheorie. In Carl
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Staatsidee
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Schmitts Lehre zeigt sich das besonders kraß daran, daß er gegen kulturelle Werte der Ethik, des Liberalismus, des Rechtsstaats usw. scharfe Kritik übt, ohne sie als Bestandteile der europäischen Kultur auch positiv zu würdigen. Das Ergebnis einer Staatslehre und Politik ohne völkische und kulturelle Substanz und damit Verantwortung liegt vor uns. Es besteht die Aufgabe, die jetzt noch einmal gebotene Gelegenheit zur Änderung zu benutzen. [...] 11. Indem nach der Freund-Feind-Theorie die Negierung des eigenen So-Seins durch das fremde Anders-Sein die Grundlage der Entscheidung für den Krieg ist, wird jeder Krieg, auch ein klarer Überfallskrieg, zum materiellen Verteidigungskrieg erklärt und wird zugleich begründet, daß nicht Ausgleich, sondern Entscheidung auf Kosten der fremden politischen Einheit die einzig mögliche Lösung bedeutet. Dies ist die ständige Kriegsbegründung und das ständige Kriegsziel aller imperialistischen Machtpolitik. [...] 12. Die Negierung des eigenen So-Seins, die die Grundlage der Feindschaft ist, verlangt die Ausschaltung dieser Negierung, drängt also zur Anwendung aller möglichen Mittel bis hin zum äußersten, zum Kriege. Kriegsziel muß die Aufhebung dieser Negierung, also die Vernichtung der fremden Art des Seins sein, da in diesem die Negierung begründet ist. Krieg ist daher stets Vernichtungskrieg und ist nur als solcher gerechtfertigt. Es gibt deshalb auch kein besonderes Kriegsziel, sondern nur das allgemeine, mit dem Begriff des Krieges selbst verbundene der Unterwerfung des Feindes unter den eigenen Willen. Dem entsprach die nationalsozialistische Kriegspolitik. [...] 14. [13., V.L.] Die Politik der Bündnisse, Freundschaftserklärungen, Nichtangriffspakte, Friedensversicherungen usw. des neuen deutschen Imperialismus ist charakterisiert durch eine besondere Vorläufigkeit und jederzeitige freie Widerruflichkeit aller solcher Bindungen. Diese beruht auf der in diesem Imperialismus besonders ausgeprägten Wahrnehmung der eigenen Interessen durch eine reine Machtpolitik. Alle Bindungen, die Deutschland einging, waren deshalb nicht ein Element besonderer Sicherheit, sondern besonderer Unsicherheit. Hierin verkörpert der neue deutsche Imperialismus besonders kraß die allgemeine politische Praxis in der Zeit des Imperialismus. Dieser Lage entspricht die Freund-Feind-Theorie. Sie kennt zwar den Begriff politischer Freundschaft und umschreibt ihn mit Formulierungen, die vermuten lassen, daß damit eine besonders enge Bindung gemeint ist; doch wird nicht klargestellt, was dieser Begriff konkret bedeuten soll. Politische Freundschaft kann ein besonders enges Verhältnis wie etwa zwischen "Brudernationen", "Demokratien" oder "autoritären Staaten" bedeuten, ebenso aber nur jede beliebige Gemeinsamkeit einer Feindschaft, ebensogut endlich auch jedes andere Bündnis. In dem Kerngedanken der Theorie aber ist ein Platz für politische Freundschaft nur, wenn sie nicht mehr bedeutet als Nicht-Feindschaft. Es handelt sich gar nicht um eine Freund-Feind-Unterscheidung, -Gruppierung oder -Entscheidung, sondern um die bloße Entscheidung über Feindschaft oder Nicht-Feindschaft, über Krieg oder Frieden. Diese Theorie ist in ihrem Kern gar keine Freund-Feind-Theorie, sondern eine reine Feind-Theorie. Die politische Freundschaft hat deshalb keinen eigenen Beziehungspunkt, wie ihn die politische Feindschaft in der Kriegseventualität besitzt. Nach dieser Theorie hängt alles Politische nicht ab von der Eventualität der Feindschaft oder Freundschaft, sondern von der bloßen Eventualität der Feindschaft, denn "Eventualität" bedeutet schon die Möglichkeit: Krieg oder Frieden. [...] 17. [14., V.L.] Über den äußersten Fall nach innen und außen entscheidet die politische Einheit selbst. In der modernen Politik ist das zwangsläufig weitgehend die Staatsführung. Das Problem der Führung des Volkes, der Repräsentation, der Legitimation und der Verantwortlichkeit wird gerade hierdurch als hochpolitisch erwiesen. In der Freund-Feind-Lehre aber spielt es keine Rolle, wie wenn es sich um eine nebensächliche Frage der Zuständigkeit handelte. Gerade die Darlegungen über Pluralismus, Bürgerkrieg, hostis-Erklärung usw., vor allem aber die über das Opfer des Lebens, das der Krieg erfordert, zeigen jedoch die Bedeutung dieses Problems, das eine positive Behandlung erfordert hätte. Die Frage: wer entscheidet? ist aber bei der hochpolitischen Natur der Angelegenheit zugleich weitgehend identisch mit der Frage: wie wird entschieden? Jede objektive Stellungnahme zu der letzteren Frage schließt Carl Schmitt aus. Dies gilt von jeder Beurteilung durch ein Gericht, durch die Wissenschaft oder durch die öffentliche Meinung. Versuche, an diesem gegenwärtigen politischen Zustande etwas zu ändern, insbesondere Kriege zu vermeiden.
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Dirk van Laak werden von Carl Schmitt deutlich bekämpft. Seine Theorie zieht sich dadurch den Vorwurf zu, daß sie zum Kriege treibe. In der deutschen politischen Praxis ist ganz dementsprechend verfahren worden: die Freund-Feind-Entscheidung wurde ausschließlich vom "Führer" getroffen, das Volk hatte diese Entscheidung nur zur Kenntnis zu nehmen und auszuführen, im Gegensatz vor allem zur angelsächsischen Politik, die auf die öffentliche Meinung des eigenen Volkes und auch der Welt weit stärker Rücksicht nimmt."
Im fünften und letzten Kapitel (nicht übertitelt, S. 208-288) entwickelte Drath Gedanken zur fehlenden "Staatsidee", die sich bislang in Deutschland kaum jemals habe ausbilden können. Zwar sei das "Großdeutsche Reich" zweifellos eine europäische Ordnungsmacht gewesen, es habe ihm aber dennoch keine Staatsidee in engeren Sinne zugrunde gelegen, denn jede Machtausübung sei durch deren Legitimierungsbedürftigkeit beschränkt. Rudolf Smend habe mit seinem Integrations-Modell das Gegenteil zur Carl Schmittschen Bestimmung vorgelegt. Diese sei charakteristisch für das niedergehende Bürgertum, aber immerhin so ehrlich gewesen, ihre Absichten in dankenswerter Klarheit zu formulieren. Drath plädierte nun dafür, die in Frage stehende Staatsidee auf ein positives, substantielles und subjektives Menschenbild zu gründen, das aktiv an einer integrierenden Idee arbeite, denn man müsse alles (nach Goethe) immer von neuem erwerben, um es zu besitzen. Das Nieausruhendürfen sei nun einmal menschliches Schicksal. Politik könne nie ohne Weltanschauung und ohne Philosophie sein, sie brauche Leitsterne. Gerade in dieser Zeit des Nachkriegs müsse man sich auf das gesamte Sein und den Sinn als einzelner und in der Gemeinschaft rückbesinnen und dies, wenn möglich, mit Hilfe von Geschichtsphilosophie, Sozialphilosophie, Soziologie und Anthropologie, aber auch der Religion zu leisten versuchen. Drath rief schließlich alle Staatsrechtler und -theoretiker auf, eine Staatsidee mit werbender Kraft nach innen und außen auszubilden (Ende, S. 286-288): "Es genügt nicht mehr eine mehr oder weniger juristisch begründete Theorie, die stets zum Positivismus neigt. Es kommt vielmehr an auf Staatswissenschaft im universalen Sinne, die die gesamte Zusammengehörigkeit der Probleme von Staat und Gesellschaft erkennt, sich der Verknüpfungen der Fragen nach Staat und Gesellschaft mit den letzten Fragen des menschlichen Daseins, also mit den Fragen der Anthropologie, der Humanität, der Sittlichkeit und letzten Endes der Religion bewußt ist, die selbst aus dem Gefühl der sittlichen Verantwortung entstammt und so auch die politische Verantwortung für die Wiedereingliederung des deutschen Volkes und Reiches in die europäische Kultur und in die Gemeinschaft der Nationen und damit auch für die Begründung eines neuen völkerrechtlichen Denkens in Deutschland zu übernehmen bereit ist [...] Diese Aufgabe der politischen Arbeit den Parteien überlassen und vermeintlich rein wissenschaftlich abseits stehen wollen von solcher Politik, wäre für die heutige Staatslehre gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Denn nur die Ueberwindung in einem Höheren bedeutet die wirkliche geistige Erledigung. Damit ist die deutsche Staatslehre zum Einsatz aufgerufen. Eine höhere Aufgabe als diese gibt es für sie nicht."
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Die fehlende Staatsidee
III. Draths weiterer Weg Die Arbeit passierte rasch die Gremien. 8 Im Juli 1946 wurde Drath habilitiert und im Oktober zum außerordentlichen Professor für öffentliches Recht ernannt. Eine ordentliche Professur wurde ihm in Aussicht gestellt, sobald er einen begonnenen Kommentar zur neuen Thüringer Verfassung abgeschlossen habe. Seit Mai 1947 war Drath mit dem Aufbau einer "Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät" befaßt, die eine sozialistische Verwaltungselite ausbilden sollte und in der er als Direktor eines "Instituts für Weltpolitik" vorgesehen war. 9 Er nutzte jedoch den Auftrag, um sich im Westen nach den Möglichkeiten eines Wechsels umzusehen. Im März 1948 setzte er sich dann endgültig nach Hessen ab. Als Begründung führte er in einem Brief an den Ministerpräsidenten die lange Trennung von seinen im Westen lebenden Kindern, politische Disziplinierungsmaßnahmen und die "totale geistige Abschaltung der Zonen" an. 10 Auf seiner Jenaer Stelle folgte ihm übrigens, aus Leipzig kommend, Wolfgang Abendroth nach - und nicht nur dorthin, sondern sehr bald auch in Richtung Westen. 11 In Jena mußte dieser Abfluß der gemäßigt linken Intelligenz besonders schmerzen, denn ohnehin hatte man in der SBZ große Probleme, die ostdeutschen Universitäten mit "fortschrittlichen" Kräften aufzubauen. Der nachmalig neben Karl Polak wohl bekannteste Rechtswissenschaftler der DDR, Peter Alfons Steininger, schrieb daher noch im September 1948 aus Ostberlin nach Wiesbaden an den "werthen Genossen Drath", man habe seinen Weggang aus Jena außerordentlich bedauert. Man sei sich bewußt, "daß wir mit Dir einen unserer stärksten Theoretiker verlieren, auf den wir beim Ausbau unserer Staats- und Verwaltungslehre große Hoffnungen gesetzt hatten". Er sei autorisiert, ihm mitzuteilen, daß seiner Rückkehr, auch anderswohin als nach Jena, nichts im Wege stünde. 12 Drath blieb jedoch im Westen, wenn er auch als "Linker" und ehemaliges SED-Mitglied sogleich auf starke Vorbehalte stieß. Berufungen nach Frankfurt am Main und Marburg scheiterten, statt seiner wurden ihm dort Wilhelm Grewe und Erich Schwinge vorgezogen. Abermals war es Hermann Brill, der Drath eine Brücke baute und ihm eine
8
Erstgutachter war Erwin Jacobi aus Leipzig, Zweitgutachter Erich Preiser, der kurz darauf ebenfalls von Jena nach Heidelberg wechselte; laut Drath war man übereingekommen, die Arbeit zunächst nicht zu publizieren, weil die allgemeine Staatstheorie von der Sowjetischen Militäradministration nicht geschätzt worden sei; Drath war sich zudem bewußt, daß sie nicht "ausgereift" war (BA Koblenz, NL Drath [FN 2], 49).
9
Vgl. Universitätsarchiv Jena, Bestand P 6.
10 Drath an Ministerpräsident Werner Eggerath, Brief vom 16. April 1948 (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, M P 35). Ich danke Prof. Dr. Jürgen John (Jena) für den Hinweis und die Überlassung einer Kopie des Schreibens. 11 Lisa Abendroth: "Die Flucht. Warum Wolfgang Abendroth die sowjetische Besatzungszone verließ", Sozialismus, 16. Jg., Heft 2 (1990), S. 2 4 - 2 7 mit Abdruck des Briefes von Abendroth an seine Dienstherrin, die Ministerin für Volksbildung Torhorst, in dem er als Grund für seine Flucht u.a. die den Potsdamer Beschlüssen von 1945 "offensichtlich zuwiderlaufende" Politik in der Ostzone und den "undemokratischen Ausschluß freier politischer Diskussionsmöglichkeit" anführte (ebd., S. 25). 12 Brief vom 3. September 1948, BA Koblenz, NL Drath
( F N 2), 49.
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Dirk van Laak
Stelle im hessischen Landespersonalamt verschaffte. 1949 schließlich kehrte er nach Berlin zurück, bekam auf Betreiben von Ernst Reuter einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Freien Universität und war bis 1957 Leiter der rechtswissenschaftlichen Abteilung der Deutschen Hochschule für Politik. Auf Vorschlag Berlins war er seit 1951 Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe und Mitglied des dortigen Ersten Senats. Trotz dieser raschen Etablierungsschritte blieben auch in dieser Position weitere Anfeindungen nicht aus,13 und bei seinem Abschied aus Karlsruhe 1963 sah sich das Verfassungsgericht sogar zu einer Ehrenerklärung für Drath genötigt. Doch blieb er einer der wenigen linken Rechtswissenschaftler in der frühen Bundesrepublik, die sich in die Nachfolge von Hermann Heller stellten, dessen Schriften er neu edierte. Drath beschloß sein wissenschaftliches Leben auf einem Lehrstuhl für öffentliches Recht, Rechtssoziologie und Rechtstheorie an der TH Darmstadt sowie mit einer Reihe von rechtsdogmatischen, rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Schriften. Statt als Kritiker des Imperialismus und Staatstheoretiker war Drath im Westen Deutschlands vornehmlich als Experte für das sowjetzonale Rechts- und Verfassungssystem gefragt. Einige Jahre vor Ernst Forsthoff, mit dem ihn mehr als nur das Alter verband,14 reflektierte er bereits über die spezifischen Wandlungen des "Staats der Industriegesellschaft" und bezog dabei immer stärker auch philosophische und anthropologische Prämissen mit ein. Doch während Forsthoff, dem es um die Rettung des Staatlichen vor dem Gesellschaftlichen zu tun war, sich am Lebensende zunehmend im Abseits stehen sah, konnte Drath - zumindest eine Zeitlang - seine und vieler anderer Absicht, das Gesellschaftliche vor dem Staat zu retten, in einer Bundesrepublik besser aufgehoben sehen, die sich nach 1968 doch noch anschickte, "mehr Demokratie zu wagen" (Willy Brandt).
IV. Ein neues Einheits-Verständnis? Die Thesen Draths zu Carl Schmitts Begriff des Politischen stellen ein charakteristisches Beispiel einer Schmitt-Rezeption dar, die sich in ihrem an Hermann Heller geschulten Verständnis von Politik- als Demokratiewissenschaft herausgefordert fühlte.15 So wie Schmitts Pathos der Entschiedenheit, das seine Entwürfe durchwehte, vor und nach 1933 eine starke Attraktion vor allem auf jüngere Juristen und Politikwissenschaftler ausübte, so hatte es in den 20er Jahren ebenso emphatische Verteidiger des Weimarer Pluralismus gegeben, die sich wiederum von den normativen Positivisten Kelsenscher Prägung 13 1952 war Drath in der Essener Zeitung Der Fortschritt von einem seiner Vorgänger auf dem Jenaer Lehrstuhl aus den 20er/30er Jahren, Otto Koellreutter, angegangen worden, der ihm u.a. unterstellte, nicht habilitiert zu sein ("Gralshüter der Demokratie", Der Fortschritt vom 14. März 1952, Nr. 11). Koellreutter mußte dies kurz darauf zurücknehmen {Der Fortschritt vom 2. Mai 1952, Nr. 18), doch scheinen wegen der NichtVerfügbarkeit der Habilitationsschrift Restzweifel haften geblieben zu sein. 14 So z.B. die intensive Auseinandersetzung mit Montesquieu. Forsthoff starb zwei Jahre früher als Drath im Jahr 1974. 15 Zu Heller vgl. Christoph Müller u. Ilse Staff (Hg.): Staatslehre Heller zu Ehren, Frankfurt a.M. 1985.
in der Weimarer Republik.
Hermann
Die fehlende
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Staatsidee
deutlich unterschieden. 16 Ihre Zustimmung zum parlamentarischen System resultierte nicht aus bloßen Vernunftgründen, sondern aus dem Vertrauen in die Chancen eines sozialen Ausgleichs, dem sich ein demokratisches Staatswesen verpflichten müsse. Nicht die Vollmachten im Ausnahmefall, sondern seine Moderatorenfunktionen im Normalfall definierten aus dieser Sicht den Staat; er sei "ein durch repräsentativ aktualisiertes Zusammenhandeln von Menschen dauernd sich erneuerndes Herrschaftsgefiige, das die gesellschaftlichen Akte auf einem bestimmten Gebiet in letzter Instanz ordnet".17 Diese Staatsidee einer ständigen Beauftragung zur Überwindung des inneren Unfriedens, der Klassenkämpfe usw. war in Weimar schließlich gescheitert. 1933 mußte aus dieser Sicht als eine Gegenrevolution erscheinen und Carl Schmitt als eine der führenden Unterminierer des für einen demokratischen Sozialismus notwendigen Grundkonsenses. Abrechnungen mit Schmitt, die ihn in diesem Sinne als einen "Kronjuristen der Gegenrevolution" brandmarkten, waren häufig von persönlicher Enttäuschung geprägt. 18 Karl Schultes etwa, nach 1945 Ministerialdirektor und Leiter der Gesetzgebungsabteilung im thüringischen Justizministerium, hatte sich 1946 Drath als ein Schüler Hellers vorgestellt, der gleichfalls eine Arbeit über Carl Schmitt abgeschlossen habe. 19 Diese rechnete weitaus schärfer mit der von Schmitt vertretenen Lehre ab, als Drath dies getan hatte, und zog eine direkte Linie von der "kapitalistischen Schwerindustrie" zu Schmitts "reaktionärer Staatslehre". 20 Übereinstimmend mit Drath vertrat Schultes die Ansicht, Carl Schmitt habe sich auf das rein Negative beschränkt, habe die positiven Integrationsleistungen Weimars nicht gewürdigt und so der Dekomposition eines ersten Versuchs zur Demokratie in Deutschland Vorschub geleistet, die doch auf das Zutrauen und den guten Willen ihrer geistigen Träger angewiesen gewesen sei. Schultes identifizierte den früheren Staatsrat allerdings direkt mit dem Nationalsozialismus. Bei Drath (und Abendroth) blieb dagegen noch etwas von der Bewunderung für Schmitt spürbar, die darin bestand, daß er vermeintlich verhängnisvolle Tendenzen des Politischen in großer Anschaulichkeit zum Ausdruck gebracht habe, was die Ursachenanalyse der Katastrophe nun im nachhinein erleichtere. Persönlich trug man ihm nicht mehr nach als anderen geistigen Kollaborateuren. Daher blieb Draths Beibehaltung einer Differenz zwischen dem Nationalsozialismus und den Thesen Schmitts über den Begriff
16 S. die Beiträge von Henrique Ricardo Otten, Marcus Llanque und Ulrich K. Preuß in diesem Band. 17 Hermann Heller: Artikel "Staat" in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch 1931, S. 608-616, hier S. 616.
der Soziologie,
18 Vgl. das erste Kapitel der Arbeit des Verf.: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993.
Stuttgart
Carl Schmitt
19 Schultes an Drath, Brief vom 16. Juli 1946 (IfZ Nachlaß Schultes, ED 188/7). 20 Karl Schultes: Der Niedergang des staatsrechtlichen Denkens im Faschismus. Die Lehren des Herrn Professor Carl Schmitt, Kronjurist der Gegenrevolution, Weimar 1947, hierS. 27. Die Arbeit war, laut Vorwort, im wesentlichen bereits 1934 geschrieben worden.
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Dirk van Laak
der "Entsprechung" (These 2) in dieser Zeit eher ungewöhnlich. Hier äußerten sich andere Autoren in der Regel dezidierter. 21 Doch fällt auf, daß gegenüber dieser vorsichtigen Einschätzung der Terminus des "neuen deutschen Imperialismus" bei Drath merkwürdig statisch blieb, ja sich bis heute eher wie Jargon liest. Umging oder verbarg der Begriff eine genauere Analyse des Nationalsozialismus, wie sie die ehemaligen Frankfurter Kollegen Ernst Fraenkel, Franz Neumann und Otto Kirchheimer im Exil vorgelegt hatten? Den geradezu inflationären Gebrauch (vgl. These 4) als marxistischen Lippendienst zu werten, scheint in dieser Phase der Umgestaltung in Thüringen jedenfalls nicht zwingend, die doch in der "Ära Rudolf Paul" noch durchaus "bürgerliche" Züge trug. Immerhin: Drath stellte früher als viele andere klar, daß Schmitts Schrift zum Begriff des Politischen wie auch der "neue Imperialismus" eine Wandlung hin zur stärkerer Konkretisierung und Radikalisierung vollzogen hatten. Sein Augenmerk richtet sich vornehmlich auf das gewaltsam Vereinheitlichende nach innen, welches zur Voraussetzung der schieren Machtpolitik nach außen werden müsse. Der existentielle Dezisionismus, der sich darin äußere, verkenne aber "die Kompliziertheit und den Ernst aller modernen Politik" (These 8), die sich auf Frieden auszurichten habe und die Möglichkeiten einer friedlichen Revision völkerrechtlicher Verträge in sich tragen sollte. Bindungen und Verpflichtungen gegenüber der europäischen Kulturgemeinschaft seien bei Schmitt jedoch entwertet, Probleme, die eine positive Behandlung erfordert hätten (These 14) seien von ihm umgangen worden. Heller hatte demgegenüber die Legitimität von Herrschaft nicht lediglich aus der Macht gefolgert, sondern postuliert, Herrschaftstätigkeit setze die Orientierung an einer "gerechten Ordnung" voraus. Diese müsse in "Leitideen" fundiert werden, welche die Spannung zwischen "Sein" und "Sollen" nicht durch Scheinantworten auszulösen suchten, sondern soziologisch fundiert werden müßten. 22 Der Staatslehre sah es Drath in dieser Situation des Nachkriegs aufgegeben, eine solche "Staatsidee" zu formulieren.
V. Vom Scheitern der Staatsidee Drath war als Lehrstuhlvertreter für öffentliches Recht zunächst darauf verwiesen, Landesrecht mitzugestalten. Die symbolische Nähe Weimars und das Vorauseilen Thüringens in vielen Fragen der rechtlichen Konsolidierung nach dem Krieg verhießen jedoch mehr. In Abgrenzung zu Schmitts Beschreibung einer totalitären politischen Einheitsbildung bemühte sich Drath darum, der kontrollierenden Gewaltenteilung das Wort zu reden. Als Mitglied des Thüringer Verfassungsprüfungsausschusses setzte er sich namentlich für eine stärkere Aufsicht der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit ein, warnte
21 Vgl. Georg Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, dessen später als der Hauptteil entstandenes Nachwort Schmitts Bedeutung weitaus kritischer referierte; vgl. den Beitrag von Wolfgang Eßbach in diesem Band. 22 Vgl. die Einleitung der Herausgeber Martin Drath und Christoph Müller zu Hermann Heller: melte Schriften, Bd. 1, Leiden 1971, S. IX-XXIII.
Gesam-
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aber zugleich davor, die Legitimität der Exekutive durch eine zu starke Bindung an die sowjetische Besatzungsmacht zu diskreditieren. Seine Mitarbeit an einer gesetzlichen Regelung der Thüringischen Verwaltungsgerichtsbarkeit geriet freilich sogleich in das Zwielicht des Politischen. Drath zufolge sollte neben dem neugegründeten Oberverwaltungsgericht in Jena auch dem Parlament die Aufgabe zufallen, "die Einhaltung des objektiven Rechts in der Verwaltung" zu überwachen. 23 Die Unabhängigkeit der Richter war damit zumindest eingeschränkt. Drath geriet hier in ein klassisches Dilemma seiner Überlegungen: Wenn es einerseits galt, Spielräume für die Ausgestaltung einer "Staatsidee" vom sozialen Rechtsstaat zu erhalten, wie konnte dann andererseits die Willkür im Verwaltungshandeln gebändigt werden? Als sich Drath dieser Problematik des politischen Mißbrauchs voll bewußt geworden war, als sich abzuzeichnen begann, daß die strikt rechtsstaatlichen Grundlagen solcher Freiheiten auch in Thüringen nicht gewährleistet waren, konnte er freilich nichts mehr ausrichten. Die SED verabschiedete, auch im Rückgriff auf die Drathschen Empfehlungen, im Oktober 1948 eine Regelung, die der richterlichen Unabhängigkeit in Thüringen schweren Schaden zufügen sollte. 24 Ähnlich wie Drath und Schultes hatte sich auch Wolfgang Abendroth (im Verfassungsausschuß des Deutschen Volkskongresses) zeitweilig an der rechtlichen Fundamentierung der Sowjetischen Besatzungszone beteiligt. Antrieb hierfür mögen die vom SED-Parteiideologen Anton Ackermann auch offiziell genährten Hoffnungen auf einen "eigenen deutschen Weg zum Sozialismus" gewesen sein, bis nach dem Bruch der Sowjetunion mit dem Jugoslawien Titos auch diese Parole wieder in der Versenkung verschwand. Spätestens die Berliner Blockade führte vor Augen, wie stark dem Osten noch an der deutschen Einheit gelegen war. Jede Möglichkeit eines von der SBZ ausgehenden "dritten Weges" in Deutschland schien fortan ohne Zukunft. Die in Aussicht stehende ideologische "Heimatlosigkeit" seiner Befürworter schien dann 1950 selbst Schultes im Westen eher erträglich als im Osten. Abendroth, Drath und Schultes blieben weiterhin von der Notwendigkeit einer demokratischen Staatslehre für das 20. Jahrhundert überzeugt. 25 Ihre Etablierung setzte aber nicht allein eine Überwindung "imperialistischer" Machtpolitik, sondern eine Phase staatlicher Konsolidierung und freien gesellschaftlichen Ausgleichs voraus. Zumindest letzteres schien in der späten SBZ/frühen DDR nicht gewährleistet zu sein. Aber waren sie es in der Bundesrepublik?
23 Martin Drath: "Zur Kontrolle der Verwaltung durch das Parlament", Thüringer Landtag: drucksache vom 5. April 1947 (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, ThL 23).
Landtags-
24 Zu diesen Vorgängen um das Verfassungsgerichtsbarkeitsgesetz vom 7. Oktober 1948 vgl. Hellmuth Loening: "Der Kampf um den Rechtsstaat in Thüringen", Archiv für Öffentliches Recht, Bd. 75, Heft 1 (1949), S. 56-102, dazu eine gereizte Stellungnahme Draths, ebd., Heft 2 (1948), S. 124-128 sowie eine ebensolche wiederum von Loening, ebd., Heft 3 (1949), S. 271 f. Vgl. auch Jürgen John: "Die Thüringischen Landesverfassungen 1920/21 und 1946", in: Karl Schmitt (Hg.): Die Verfassung des Freistaates Thüringen (erscheint 1995). 25 Vgl. Wolfgang Abendroths Diskussionsbeitrag in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 9: Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, Berlin 1952, S. 127.
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Dirk van Laak
Die offenen Formulierungen des Grundgesetzes konnten, je nach Standpunkt, als salomonisch oder (nach Carl Schmitt) als "dilatorische Formelkompromisse" bezeichnet werden. Sogleich nach ihrer Verabschiedung wurden sie Gegenstand der Interpretationen, die jede für sich in Anspruch nahmen, den eigentlichen Charakter der politischen Einheit "Bundesrepublik" verbindlich zu bestimmen. Ort dieser Auseinandersetzung wurde in vielen Fällen das Bundesverfassungsgericht. Trotz der Möglichkeiten durch seine Karlsruher Funktion plädierte Drath jetzt für eine deutliche Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Er erinnerte aber an Max Weber, dessen Arbeitsbereiche (besonders Jura, Nationalökonomie und Soziologie) allen Staatsrechtlern aufgegeben seien, um eine Staatsidee zu formulieren. Sie habe nicht allein die Entgegensetzung von Legalität und Legitimität zu überwinden, sondern sich zur Basis einer echten Loyalität der Staatsbürger fortzuentwickeln. Dem Verfassungsgericht müsse solch ein Gesamtbild der freiheitlichen Demokratie vor jeder Entscheidung bereits zur Verfügung stehen. 26 Die Frage nach der politischen Einheit wurde von Drath damit, ganz im Sinne Hellers, als eine nicht der politischen Praxis vorgelagerte beantwortet, sondern als eine, die sich im Verfolg des praktischen Vollzuges einer "Staatsidee" ergeben muß. Diese Versuche, idealistische Konstruktionen wie diejenigen Carl Schmitts wieder stärker an die politische Praxis rückzubinden, orientierten sich vornehmlich an den angelsächsischen Traditionen der richtigen Regierungstechnik. Diese habe sich auch vor der öffentlichen Meinung zu legitimieren und sei in einen dynamischen Prozeß eingebunden. Einheit sei - bei aller Homogenität des staatlichen Gesamtwillens - nach innen hin antagonistisch strukturiert, also Vielheit. Drath sah 1946 nicht als einziger, was es bedeuten kann, wenn dezisionistische Freund-Erklärungen nach innen ebenso dezisionistische FeindErklärungen nach außen zur Folge haben. Ein erneuter "deutscher Imperialismus" mußte folglich von innen her verhindert werden. Martin Drath kam nur noch gelegentlich einmal auf Carl Schmitt zu sprechen. 27 Sein Vertrauen in die Vernunft und seine Hoffnung auf eine Restitution einer gesamten Staatswissenschaft, in der Recht, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen verhandelt werden, erwiesen sich bald als Illusion. Die Vorstellung von der "Staatsidee" basierte auf einem gemeinsamen Willen zum Neuanfang, und 1945 war eben kein Neuanfang. Die Alternativen erwiesen sich als zu irreal, die Handlungsspielräume als zu eng, als daß sich eine Aufbruchsstimmung hätte etablieren und umsetzen können. Zusammen mit den Bewältigungsschriften aus Pathos und Realitätsferne gerieten auch viele der maßvolleren Stimmen in Vergessenheit.
26 Martin Drath in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
(FN 25), S. 133.
27 So z.B. in Faktoren der Machtbildung, Wissenschaftliche Studien zur Politik, Schriften des Instituts für Politische Wissenschaft, Bd. 2, Berlin 1952, S. 112, einem Band, der sich implizit auch darauf verstand, Carl Schmitt zu widerlegen (vgl. vor allem den Beitrag von Otto Heinrich von der Gablentz).
Reinhard Mehring
Bürgerliche statt demokratische Legitimität Dolf Starnbergers Auseinandersetzung um den Begriff des Politischen
Beim Umgang mit Carl Schmitt sind verschiedene Ebenen der Auseinandersetzung zu unterscheiden. So gibt es ein historisches Interesse aufgrund seiner geschichtlichen Bedeutung als "Kronjurist" des Weimarer Präsidialsystems und des Nationalsozialismus. Der Wirkung in den Neo-Konservatismus und die Neue Rechte wegen ist er ein Objekt polemisch-politischer Auseinandersetzungen. Wieder ein anderes ist die kritische Aneignung bedeutsamer Problemstellungen und Sachfragen seines Denkens. Die scharfe Kritik an Schmitts politischen Optionen schließt dabei die sachliche Würdigung seines Denkens nicht aus. Diese Sachaktualität ist allerdings bisher gerade auch in der Streitliteratur um Schmitt noch kaum erwogen worden. Eine Brücke zur Klärung könnte die wirkungsgeschichtliche Untersuchung der kritischen Aneignungen sein, die Schmitts Werk nach 1945 erfahren hat. Solche finden sich nicht nur im Umkreis Carl Schmitts bei Autoren wie Hermann Lübbe, Christian Meier oder Ernst-Wolfgang Böckenförde, die darüber berichtet haben, 1 sondern auch bei einem Kontrahenten wie Dolf Sternberger,2 der Schmitts zentrale Unterscheidung des Begriffs des Politischen vom Staatsbegriff aufgenommen und der Frage einen eigenen positiven Sinn zu geben versucht hat. Schmitt entwickelte seine Frage nach dem Begriff des Politischen in Kritik am Staatsbegriff der überkommenen Staatslehre als eine verfassungstheoretische Grundfrage. Die Frage nach dem Begriff des Politischen nahm er dabei von Rudolf Smend3 auf. In der Verfassungslehre ist insbesondere die Absetzung von Jellinek und Kelsen greifbar, im Begriff des Politischen diejenige von Max Weber. 4 Verfassungstheoretisch weist Schmitt 1
Vgl. nur die Beiträge in Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. 1988.
Über Carl Schmitt, Berlin
2
Hier zit. nach Dolf Sternbergers Schriften, Frankfurt a.M. 1977 ff.
3
Rudolf Smend: "Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform", in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1955, S. 68-88; vgl. dazu nur Carl Schmitt: Verfassungslehre, München/Leipzig 1928, S. XIII, S. 7. Was Schmitt Smend verdankt und wo er sich unterscheidet, wird schlaglichtartig deutlich etwa im Vergleich von Smends kleinem Aufsatz "Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl" (Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 60-67) mit Schmitts "Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" (1923).
4
Dazu Verf.: "Politische Ethik in Max Webers 'Politik als Beruf und Carl Schmitts 'Der Begriff des Politischen'", Politische Vierteljahresschrift, 31 (1990), S. 608-626 sowie ders.: "Staatsrechtslehre, Rechtslehre, Verfassungslehre: Carl Schmitts Auseinandersetzung mit Hans Kelsen", Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, 80 (1994), S. 191-202.
234
Reinhard Mehring
in Kritik am "relativen" Verfassungsbegriff des juristischen Positivismus auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz hin und denkt den "absoluten" Begriff der Verfassung vom Begriff des Politischen her.5 Die "politische Einheit eines Volkes" beweise sich im Krieg durch die Unterscheidung von Freund und Feind, als Subjekt der Souveränität und verfassungsgebenden Gewalt dann im Willen zu "Grundentscheidungen" über die "Substanz" der positiv-rechtlichen Verfassung. Dieses verfassungstheoretische Modell ist nach den Kategorien der Verfassungslehre" zunächst eine juristische Auslegung der "demokratischen Legitimität", die sich eingangs gegen den Normativismus Kelsens auch als allgemeine rechtsphilosophische Aussage zum Rechtsgeltungsgrund gibt. Schmitts "positiver" Begriff der Verfassung als Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit setzt die "absolute" Verfassung eines Gesamtzustands konkreter politischer Einheit und Ordnung des deutschen Volkes voraus. Deshalb ist sein Begriff des Politischen nicht nur ein politisches "Kriterium", sondern auch eine "Kategorie", ein Grundbegriff und "Schlüssel" zu seinem staatsrechtlichen Werk. 6 Doch wenn die "absolute" Verfassung faktisch vorausgesetzt ist, wäre die politische Einheit des Volkes, d.i. die Nation, für Schmitt gar kein wirkliches Problem. Dem Problem der politischen Einheitsbildung stellt er sich nur in der Spannung seiner Souveränitätslehre und seines Begriffs des Politischen zur "demokratischen" Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt. Schmitts Definition der Souveränität ("Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet") läßt das Subjekt des Politischen und der Souveränität offen und deutet an,7 daß die dogmatische Umbesetzung der Souveränität auf das Volk nur einen Allgemeinplatz an die Stelle einer Frage stellte und konkret nichts entscheidet, sondern den "dezisionistischen Charakter" der Souveränität verschleiert.8 Doch gerade weil Schmitt die Volkssouveränität konkret problematisch ist, fordert er den politischen Willen zur Selbstbehauptung des deutschen Volkes im Kampf mit Versailles, Genf und Weimar. Sein Abbau des "bürgerlichen Rechtsstaats" erfolgt unter der Forderung und Voraussetzung der politischen Existenz des deutschen Volkes in relativer sozialer "Homogenität" und politischer "Einheit". Weimar bedeutet ihm die "geistige Unterwerfung" unter das Diktat der Sieger von Versailles und Genf. Schmitt sieht Weimar - trotz gegenteiliger verfassungsrechtlicher Beteuerungen - vor allem als Diktat der Sieger des Ersten Weltkriegs und Objekt der internationalen Politik9 an. Im Kampf mit Weimar, Versailles und Genf verwendet er seinen
5
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen,
6
So Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts", in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a . M . 1991, S. 3 4 4 - 3 6 6 .
7
Carl Schmitt: Politische
Theologie.
Berlin 1963, S. 2 0 f.
Vier Kapitel
zur Lehre von der Souveränität,
3. A u f l . , Berlin 1979,
S. 62. 8
Zum "Ort der Souveränität" als geschichtliches Problem vorzüglich Horst Dreier: "Der Ort der Souveränität", in: ders. u. Joachim Hofmann (Hg.): Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, Berlin 1986, S. 11-44.
9
Carl Schmitt: Die Rheinlande
als Objekt
internationaler
Politik,
Köln 1925.
Bürgerliche statt demokratische Legitimität
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Grundbegriff des Politischen vor allem als "Kriterium". Er führt die Frage nach dem Begriff des Politischen zwar als verfassungstheoretische Grundfrage ein, entwickelt ihr Begründungspotential aber nicht weiter, sondern mobilisiert - schon in der gleichnamigen Schrift - stattdessen das kritische Potential. Seinem Grundsatz getreu, daß alle politischen Begriffe polemische Begriffe seien, gebraucht er seinen Begriff mehr als "Kriterium" denn als "Kategorie". Der Bestand der politischen Einheit ist ihm dabei gleichermaßen eine verfassungsrechtlich bedeutsame Fiktion und eine politische Hoffnung. So erfolgt sein radikaler destruktiver Gestus auf dem Grunde einer relativ unproblematischen Sicht der politischen Existenz des deutschen Volkes. Schmitt erkennt zwar, daß der Weimarer Staat das Politikmonopol eingebüßt hat und die Frage nach dem Subjekt des Politischen und der Souveränität als politisches Problem auf der Straße liegt, hält aber noch an den überlieferten nationalstaatlichen Kategorien von Staat, Volk und Nation fest. Das kategoriale Begründungspotential der Unterscheidung des Begriffs des Politischen vom Staatsbegriff hat Dolf Sternberger in kritischer Auseinandersetzung mit Schmitt zu artikulieren gesucht. Sternberger nimmt die Frage nach dem Begriff des Politischen mit politisch-philosophischem Anspruch auf Grundlegung der Verfassungslehre auf; er emanzipiert sie von der Staats- und Verfassungstheorie als eine philosophische Frage und stellt damit den Sinn der Frage neu zur Diskussion. Ich erinnere (I.) zunächst einige Umrisse von Sternbergers politischer Philosophie, setze sodann (II.) einige Gemeinsamkeiten zwischen Schmitt und Sternberger auseinander und suche schließlich (III.) die Frage nach dem Begriff des Politischen als politisch-philosophische Grundfrage etwas schärfer zu fassen. Dagegen werde ich nicht Sternbergers Polemik gegen Schmitt überprüfen und auch nicht seinen Begriff des "Verfassungspatriotismus" 10 gegen Schmitt ausspielen.
I. Einige Umrisse von Sternbergers politischer Philosophie Sternbergers Werk kann hier nicht insgesamt Gegenstand sein. Lediglich seine philosophische Wendung der Frage nach dem Begriff des Politischen soll hier diskutiert werden. Ein Blick auf sein Werk klärt allerdings die Motive. Zeitumstände haben Sternberger ins politische Denken geführt und ihn allmählich erst zu einem politischen Philosophen werden lassen, der Politikbegründung für den Verfassungsstaat der Bundesrepublik suchte. Vereinfacht gesagt verläuft die Werkbiographie von der journalistischen Selbstbehauptung und der Bewahrung der eigenen Bürgerlichkeit im Nationalsozialismus über die verfassungspolitische Sorge und den politikwissenschaftlichen Einsatz für die junge Republik nach 1945 hin zur philosophischen Begründung und Beschreibung der "neuen Politie" im Anschluß an Aristoteles und dessen Lehre von der "gemischten Verfassung". Unter den Zeitgenossen beruft
10 Zur Profilierung des Begriffs vgl. Jürgen Gebhardt: "Verfassungspatriotismus als Identitatskonzept der Nation", Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/93 (1993), S. 29-37; Claudia Kinkela: Dolf Sternbergers Konzeption des Verfassungspatriotismus (Magisterarbeit), Erlangen 1991.
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Sternberger sich dabei vor allem auf Hannah Arendt (vgl. nur II.l, 389 ff.). Schmitt ist sein Antipode, der dem "Sieg des Bürgers über den Soldaten" 11 spätestens seit seiner Politischen Romantik den Kampf angesagt hat und dessen geschichtliche Tat als die verfassungstheoretische und -politische Destruktion des modernen "bürgerlichen" Verfassungsstaates im Zuschnitt auf Weimar begriffen werden kann. Er ist der letzte Vertreter des "Problems der deutschen Staatsanschauung" (Wilhelm Hennis), von dem Sternberger sich abstößt. Den Auftakt zum eigenen Werk bildete eine Auseinandersetzung mit Heidegger, die den Weg der Sprachkritik einschlug, Heideggers "große Worte" (vgl. XIII, 221 ff.) durch sorgfältige Auslegungen zu entzaubern (I, 74). Sternbergers Ideologiekritik nimmt weiter den Weg der Sprachkritik, von der journalistischen Arbeit im Feuilleton der Frankfurter Zeitung während der nationalsozialistischen Zeit bis zum Wörterbuch des Unmenschen, von der publizistisch-kritischen Begleitung der Entwicklung der jungen Bundesrepublik bis zur bedeutungsgeschichtlichen Revindikation einer wahren "Wurzel" und Idee des Politischen gegen die fatalen Verwirrungen der Neuzeit und Moderne. 12 Die Rehabilitierung des Bürgerlichen gegen die Diskriminierungen und Verwüstungen eines halben Jahrhunderts ist Sternbergers Anliegen. Das Bürgerliche rehabilitieren heißt ihm zunächst: einen spezifischen Begriff "bürgerlicher Legitimität" der Vereinbarung gegen die Fixierung und "Vexiertheit" (J. Pannier) auf die Herrschaft gewinnen, dann aber in einem zweiten Schritt auch: die Voraussetzungen von Vereinbarung reflektieren. Mit Sternbergers Heidelberger Antrittsrede "Begriff des Politischen" von 1960 ist der gegen Schmitt formulierte Anspruch programmatisch. 13 Diese Antrittsrede ist nicht Sternbergers letztes Wort zur Politikbegründung, sondern lediglich ein Programm und Auftakt. Es wäre deshalb nicht fair, wollte man die wohlfeilen Begriffsbestimmungen wie "Staatsfreundschaft" und "Friede" der polemischen Vereinfachung überführen. Das Gewicht der Auseinandersetzung mit Schmitt findet sich nicht in der Antrittsrede. Beschränken wir uns nur auf deren Grundansatz. Sternberger definiert: "Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede. Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich zu verteidigen. Oder, anders ausgedrückt: Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin. Oder, noch einmal anders ausgedrückt: Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich" (IV, 304 ff.). Sehen wir davon ab, inwieweit eine solche Begriffsbestimmung heute, was Sternberger beansprucht, der empirischen
11 Carl Schmitt: Staats gefüge und Zusammenbruch Soldaten, Hamburg 1934.
des Zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den
12 Rückschauend reflektiert Sternberger seinen Weg als "Gang zwischen Meistern" (Schriften [FN 2], Bd. VIII), der weniger die eigene Meisterschaft als die Zwischenstellung zwischen Wissenschaft und Publizistik, Philosophie und Kunstkritik behauptet. Der Vergleich mit Hannah Arendts Men in Dark Times (1968, dtsch. 1989) wirft ein Schlaglicht auf den Unterschied der Temperamente. 13 Dazu schon Peter Schneider: "Dolf Sternberger und der Begriff des Politischen. Zu seinem 80. Geburtstag", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (1988), S. 102-113.
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Disziplin politikwissenschaftlicher Forschung Sinn und Zusammenhang zu geben vermag. 14 Sehen wir auch davon ab, daß Sternberger mit dem Frieden als "Merkmal" des Politischen vor allem das liberale Politikverständnis artikuliert, Konflikte unterhalb der Schwelle zur Gewalt schiedlich-friedlich auf dem rechtsstaatlichen Wege durch die Institutionen auszutragen (vgl. II.l, 445). Die Last der Begründung des normativen Anspruchs trägt vor allem die Behauptung des Friedens als eines Grundbegriffs, als eines Friedens im Grunde des Politischen. Was meint Sternberger, wenn er vom Frieden als "Grund" des Politischen spricht? Die Heidelberger Antrittsrede sagt dazu sehr wenig. Einige Andeutungen stecken nur im autoritativen Verweis auf Thomas von Aquin und Marsilius von Padua. Mit Thomas von Aquin unterscheidet Sternberger die "vergesellschaftete Menge" im Staat von der "zerfallenden Menge" durch eine "Einigkeit", die mindestens einen Konsens zur Staatsbildung meint: "Staatsfreundschaft" und nicht Feindschaft. Eine erste Präzisierung seiner Idee vom Frieden als "Einigkeit" im Grunde des Politischen gibt die Unterscheidung von Herrschaft und Vereinbarung, die Hannah Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt mit einem Anklang an Otto von Gierke aufnimmt. 15 Die "bürgerliche Legitimität" der Vereinbarung profiliert Sternberger dabei kritisch insbesondere gegen Max Webers herrschaftssoziologische Legitimitätstypologie 16 als dem jüngsten und bedeutendsten Beispiel für eine "Blindheit" gegenüber dem eigenen Phänomen bürgerlicher Legitimität und Selbstregierung, das Sternberger gegen die allgemeine Fixiertheit auf die Herrschaft immer wieder in den abendländischen "Metamorphosen" der antiken Polis zu entdecken sucht. Sachlich behauptet er eine fundamentale "Differenz zwischen den numinosen und den bürgerlichen, zwischen den religiösen und den zivilen Gründen rechtmäßiger Regierung" (III, 148, vgl. 119 f.) und betont einen Unterschied zwischen "Plebiszit und Wahl" (III, 144 ff.). 17 In der Wahl, dem "Kern" 14 Dazu kritisch Jörg Pannier: Das Vexierbild des Politischen. Dolf Sternberger als politiktheoretischer Denker (Diss.), Münster 1994, S. 14 ff. Zahlreiche Anregungen und Einwände verdanke ich Claudia Kinkeia. 15 Dolf Sternberger: Herrschaft und Vereinbarung. Über bürgerliche Legitimität, in: ders.: Schriften (FN 2), Bd. III; vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München 1981, S. 193 ff.; dies.: Macht und Gewalt, München 1970. 16 Dolf Sternberger: Max Weber und die Demokratie, in: ders.: Schriften (FN 2), Bd. III; vgl. dagegen jetzt Stefan Breuer: Bürokratie und Charisma. Zur polirischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994. 17 Schmitt unterscheidet ebenfalls streng zwischen dem liberalen System der geheimen Wahl und dem "demokratischen" Plebiszit; vgl. dazu Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München/Leipzig 1926, S. 22 f.; ders.: Volksentscheid und Volksbegehren, Berlin/Leipzig 1926, S. 34 f.; ders.: Verfassungslehre (FN 3), S. 83 f. u. S. 239 ff.; ders.: "Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland", Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 359 ff. Nach Schmitt war Hitler plebiszitär-demokratisch legitimiert (Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933). Sternbergers ganze Argumentation zur Illegitimität insbesondere auch der Machtübernahme Hitlers dagegen gründet in Grund und Abgrund der Macht ([1962], Schriften [FN 2], Bd. VII) auf der Differenz zwischen freien Wahlen und Plebisziten: "Eine Wahl ist ein Akt des Zutrauens und des Anvertrauens" (S. 232), meint Sternberger, und keine blinde Zustimmung und Machtübergabe an einen Herrscher. "Hitlers Wähler verfehlten ihr eigenes Amt" (S. 266), führt er im Exkurs über Hitler aus, da sie ihr ureigenstes politisches Bürgerrecht auf freie Wahlen im Plebiszit für Hitler aufgaben. Hitlers Machtübernahme war eine "Usurpation", weil sie "den fundamentalen Mangel [nicht] zu
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des demokratischen Legitimismus, übereigne sich der Staatsbürger nicht an eine numinose Herrschaft; die bürgerliche Legitimität gewähre Macht nur auf Zeit in den Grenzen des Amtes: "es gilt oder soll gelten die fundamentale Bestimmung des Aristoteles, daß die Ämter verwaltet werden aufgrund zeitweiliger Anvertrauung und nicht aufgrund von Herrschaft" (III, 130); Regierung sei deshalb "im strengen Sinne nicht eigentlich eine Befehls-, sondern vielmehr eine Verfügungsgewalt" (III, 153). Dieser Begriff des anvertrauten Amtes auf Grund von Wahlen ist der Kern von Sternbergers Konzept der bürgerlichen Legitimität. 18 Die Polemik gegen die Herrschaft zielt nur auf den Unterschied zwischen einem anvertrauten Amt und einer unverantwortlichen, zeitlich unbeschränkten Herrschaft und bestreitet die autoritative Verbindlichkeit anvertrauter, vereinbarter "Herrschaft" nicht. Dieses Konzept bürgerlicher Legitimität durch Vereinbarung ist auch nur Sternbergers erste Hypothese zum Grund des Politischen. In der weiteren kritischen Auseinandersetzung reflektiert er auf Voraussetzungen bürgerlicher Vereinbarung und löst sich weiter aus dem Rahmen der neuzeitlichen kontraktualistischen Legitimitätstheorie. Für seine philosophische Reflexion der Frage nach dem Begriff des Politischen sind vor allem seine drei großen Monographien bedeutsam. Alle drei entwickeln das Konzept der neuen Politie und Politologik gegen den "Abgrund" eschatologischer Selbstlegitimierung von Macht. In Grund und Abgrund der Macht"19 profiliert Sternberger den "Grund" der bürgerlichen Legitimität, also die Anvertrauung eines Amtes auf Zeit nur unter politisch gleichberechtigten Bürgern, gegen den "Abgrund" der Illegitimität des Bolschewismus. Seine aktuell orientierte Auseinandersetzung setzt bei der Nachkriegslage nach 1945 und einer Konkretisierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in der Anerkennung des "minimalen Verfassungsprogramms" (VII, 45 ff.) freier Wahlen durch die Konferenz der Siegermächte in Jalta an. Das materiale Gewicht liegt auf der historischen Untersuchung des Bolschewismus - von Marx über Lenin und Stalin bis auf Chruschtschow - als einer auf "Offenbarungs-Legitimität" gegründeten Kirche, die sich durch "Exegese als Herrschaftsaufgabe" in der Geschichte unendlich willkürlich (VII, 378) selbst legitimiert und behauptet.
verdecken und zu übertönen [vermochte], welcher diesem Akt der Zustimmung anhaftete: Ein Zutrauen mochte er wohl ausdrücken, aber als eine Anvertrauung würde er niemals ausgelegt werden können. Eine freie Wahl, wenn ihr rechtfertigende Kraft innewohnen soll, kann nicht nur Zustimmung, kann nicht einmal nur Zutrauen, sie muß auch Anvertrauen darstellen, als Anvertrauung erwartet und gewährt werden. Anvertrauung ist nicht 'Ermächtigung' zu allem und jedem, was dem Kandidaten oder auch dem Regenten in den Sinn kommen mag. Der Akt der Anvertrauung setzt die Identität des Amtes voraus" (S. 262 f.). "Die Identität des Amtes und der Charakter der Anvertrauung oder Vollmacht" sind nach Sternberger die beiden Wesenszüge, die der "freien Wahl" eigentümlich seien (S. 263, vgl. S. 109 f., S. 231 ff. u. S. 258 f.). In der Wahl Hitlers gaben die Bürger "ihre Qualität als Bürger auf, sie verwarfen sich selbst, nämlich als politische Subjekte" (S. 264), und konnten Hitler "keine Rechtmäßigkeit geben, weil sie dem Anspruch der Wählerschaft und der Qualifikation als Wählerschaft entsagte[n], indem sie Hitler wählte[n]. Natürlich ist das ein Zirkelschluß und eine Tautologie. Aber auf andere Art läßt sich indessen das Verhängnis nicht kennzeichnen" (S. 265 f.), meint Sternberger. 18 Vgl. Wilhelm Hennis: "Amtsgedanke und Demokratiebegriff", Demokratie, Freiburg 1973, S. 9-25. 19 Dolf Sternberger: Schriften (FN 2), Bd. VII.
in: ders.: Die
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Diese Kritik der Selbstlegitimierung von Herrschaft durch Berufung auf einen Heilsplan der Geschichte ist in die Drei Wurzeln der Politik10 aufgenommen und bis in die Linie des RAF-Terrorismus hinein aktualisiert. Dabei wird die Kritik der "eschatologischen" Selbstlegitimierung, die auf einer Verwechselung von Staat und Kirche basiere, um eine Kritik des "dämonologischen" Machtkalküls ergänzt. Kritisiert Sternberger als jüngste "Wurzel" der Politik - wahrhaft politisch erscheint ihm im Grunde nur die aristotelische Wurzel - die Verkehrung der christlich-katholischen Eschatologie in den "ungeduldigen", utopischen Aktivismus terroristischer Vollstreckung des Heilsplanes, so kritisiert er mit der machiavellistischen Bedeutungswurzel die Entkoppelung der Herrschaft von der Aufgabe dauerhafter Gründung einer politischen Friedensordnung. Sternberger wirft der Neuzeit insgesamt vor, Macht und Gewalt von der politischen Ordnungsaufgabe emanzipiert und damit die Idee der Politik, eine Friedensordnung zu stiften und zu bewahren, verkannt und verraten zu haben. Neuzeit und Moderne wissen nicht mehr, was im Grunde politisch ist; sie verwechseln die revolutionäre "Idee der großen Veränderung" und den kometengleichen Hazard der dämonischen Abenteurer und Machtmenschen der Neuzeit mit echter Politik. Sternberger evoziert durch diese Verfallsgeschichte auch das versunkene Gute. Dabei kritisiert er zwar Heideggers und auch Hannah Arendts (X, 269) phänomenologische Destruktion der Geschichte auf ihre verborgenen Anfänge hin, folgt aber selbst dieser Methode in der Absicht auf Freilegung von Möglichkeiten zur Wiedergeburt und "Metamorphose" der Polis im modernen Verfassungsstaat. 21 Auch er konstatiert einen Verfall der Praxis an die Technik und sieht die "Glaubensgeschichte der Moderne" (Friedrich Tenbruck) insgesamt äußerst negativ und skeptisch an. Unter dem Eindruck der Studentenbewegung kritisiert insbesondere sein wohl originellstes Buch über Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde22 den Zug zur "totalen Emanzipation" (HH 308 ff.; IX, 258) im Emanzipationsprozeß der Moderne prinzipiell. Heines Schicksal und die "Geschichte seines Glaubens" steht dabei für Anfang und Ende des neuen Evangeliums erotischer Emanzipation, der Selbsterhebung des Menschen zu den neuen "Göttern der Zukunft". Dieser Versuch zur "Abschaffung der Sünde" habe sich an der venerischen Krankheit selbst widerlegt. Heines Größe sei es gewesen, anders als spätere Propheten und Priester der erotischen Emanzipation, 23 seine Matrazengruft als Folge seiner modernen Verkündigung auf sich genommen und die "Revision" (HH 9, vgl. 252 f., 282) des neuen Glaubens in Rückkehr zum Judentum noch selbst vollzogen, die Moderne, im Prinzip begriffen als erotische Emanzipation des Menschen, also in sich selbst überwunden zu haben.
20 Dolf Sternberger: Drei Wurzeln der Politik, in: ders.: Schriften (FN 2), Bd. II. 1/2. 21 Vgl. auch Wilhelm Hennis: "Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit", in: ders.: Politik und praktische Philosophie. Schriften zur politischen Theorie, Stuttgart 1977, S. 176-197. 22 Dolf Sternberger: Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde, Hamburg/Düsseldorf 1972. 23 Vgl. dazu jetzt Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen geschichte der Moderne, München 1993.
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Zu dieser Erörterung des Verhältnisses von Sexualität, Sünde und Politik, "Autorität und Anarchie" wäre bis in die geistesgeschichtliche Herleitung hinein von Schmitt her einiges zu sagen. 24
II. Auseinandersetzung von Gemeinsamkeiten zwischen Schmitt und Sternberger Doch schon die wenigen Bemerkungen zu Sternbergers Kritik der modernen Eschatologie und Emanzipation dürften auf überraschende Nähen von Sternbergers Sicht des "Zeitalters der Emanzipation" zu Schmitts Kritik des "Zeitalters der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" hingewiesen haben. Sie bringen uns auf die Spur verborgener Nähen, von der her die Antistellung motiviert ist. Sternberger verbindet mit Schmitt zunächst das humane Anliegen, eine allgemein legitimierte, politische Verfügungsmacht über der Gesellschaft zu bejahen, die beide als einen Primat des Politischen begreifen. Schmitt25 sucht dabei die "Totalität" des Politischen als "Schicksal" allererst wieder gegen die Vorherrschaft des "ökonomisch-technischen" Denkens zu entdecken, Sternberger setzt sie mit dem ersten Satz seiner Drei Wurzeln dann als historische Erfahrung voraus: "Die Politik ist unser Schicksal, das wissen wir" (II. 1, 19). Er fragt deshalb nicht weiter nach der Totalität des Politischen, sondern nach der guten, "menschenmöglichen" Politik. Mit der Annahme eines Primats des Politischen geht sein "geistesgeschichtliches" Vorgehen einher, politische Gegensätze unter dem Gesichtspunkt der Legitimität vor allem als Glaubensdifferenzen zu deuten, den Marxismus etwa als "bolschewistische Kirche" zu beschreiben. Beide teilen die scharfe Verdammung der Glaubensgeschichte der Moderne und die Furcht vor anarchischen Folgen der "erotischen Emanzipation". Bei Sternberger ist ein antirömischer Affekt offenbar, bei Schmitt eine autoritäre Option auch gegen den Protestantismus. Beide kennen keine eigenständige philosophische Anthropologie und keine Autonomie der Moral, sondern bestreiten den modernen "Vernunftglauben" (Kant) praktischer Autonomie des Subjekts. Auch Sternberger sieht das sog. "Projekt der Moderne" nicht nur in seinen historischen Folgen skeptisch an, sondern bestreitet es auch im Prinzip seines aufklärerischen Subjektbegriffs; er glaubt im Grunde nicht an die Selbstbestimmungskraft der moralisch praktischen Vernunft. "Gewissen" hat ihm noch einen religiösen Klang (IX 258, 97 ff.). So scheint in der Auseinandersetzung Sternbergers mit Schmitt ein protestantisch geprägter, liberaler Individualismus mit einem autoritären, antimodernistischen Ka-
24 Interessant ist insbesondere Sternbergers Herleitung vom Saint-Simonismus (Heinrich Heine [FN 22], S. 68 ff.) sowie sein Anspruch auf Destruktion des Nietzscheanismus in der Vorläuferschaft Heines (z.B. S. 94, S. 156, S. 159, S. 207 ff., S. 238 ff. u. S. 301 ff.). Schmitt führte die erotische Emanzipation dagegen mehr auf den Junghegelianismus, namentlich auf Stirner zurück und zog eine umgekehrte Linie von Pan zu Plan: "Der Plan erscheint, und Pan hört auf zu schmunzeln. Der Pan versinkt, und Plan tritt auf den Plan" (Carl Schmitt: Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 83, vgl. S. 80 ff.). 25 Vgl. nur Carl Schmitt: Begriff des Politischen
(FN 5), S. 76 f.
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tholizismus zu streiten. Sternberger hätte lediglich den Vorzug, eine jüngere, mit der modernen Demokratie verträglichere Spielart von christlichem Glauben zu vertreten. Ist sein Denken im Kern überhaupt politische Philosophie zu nennen? Die Frage stellt sich schon für die Methode. Sternberger argumentiert nicht analytisch und systematisch, sondern geistesgeschichtlich, da seine kritische Sondierung des "Wegs der Wörter" als Vorgang fortschreitender Verkehrung des wahren Politikverständnisses praktische Absichten verfolgt; er beschwört Grundworte der aristotelischen Politologik gegen die herrschenden Mißverständnisse, ohne die positiven Leistungen der jüngeren Politikbegriffe in Rechnung zu stellen; so fragt er beispielsweise niemals danach, inwieweit ein Geist der Utopie und Veränderung - um seine Kritik der neueren Politikbegriffe aufzunehmen - jeder Friedensordnung inhäriert und die Regierbarkeit komplexer politischer Systeme unter Umständen auch "machiavellistische" Herrschaftstechniken erfordert; er spricht überhaupt kaum von Staatsaufgaben wie Außen- oder Wirtschaftspolitik, sondern postuliert nur eine anthropologische Bedeutung, einen "Sinn" 26 des Politischen vor jedem Staatshandeln (vgl. nur II.1, 141 ff., 405 ff.). Seine Beschwörung der "Metamorphosen" der Polis mit den großen Worten wie Friede, Freundschaft und Vereinbarung erinnert im ideenpolitischen, praktischen Impetus an Schmitts Nähme der politischen "Urworte" und Namen wie "Rechtsstaat" und "Nomos", 27 zweigt aber im Verfahren von Hannah Arendt und Heidegger ab, dessen "große Worte" Sternberger in seinem Vorgehen nicht überwunden hat. Doch nicht nur in der phänomenologischen Methode, sondern auch in der politischen Anthropologie scheinen Nähen zu Schmitt zu bestehen. So geht auch Sternberger in seinem "anthropologischen Glaubensbekenntnis" 28 "pessimistisch" von der Politikbedürftigkeit des Menschen aus. Insbesondere in den Drei Wurzeln knüpft er einen Zusammenhang von anthropologischer und politischer Verfassung und Ordnung. Indem er den neuen Fürsten als eine "Art von künstlichem Dämon" (II. 1, 222, vgl. 208 ff.) begreift, hebt er die "unpolitische" Diskriminierung der Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechts im dämonologischen System hervor. Eine "Zweiteilung der Menschheit" (332, vgl. 342, 350 f., 257 ff., 371) bewirke erst recht die "antipolitische" eschatologische Unterscheidung der Erwählten von den Verdammten. Nur der Verfas-
26 Vgl. Carl Schmitt: Begriff des Politischen
(FN 5), S. 30 ff.
27 Vgl. nur Carl Schmitt: "Nomos - Nähme - Name", in: Der beständige Aufbruch. Festschrift für Erich Pryzwara, Nürnberg 1959, S. 92-105. Christian Meier: "Zu Carl Schmitts Begriffsbildung", in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum (FN 1), S. 537-556, hier S. 543 (vgl. auch Carl Schmitt: Begriff des Politischen [FN 5], S. 11) zitiert ein Entgegenkommen in einem Brief Schmitts vom 29. Mai 1968 an Christian Meier: "Der erste Satz ['Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus'] hat es in sich (also das griechische Wort!). In diesem Zusammenhang ist ein Satz von Hannah Arendt, in der Zeitschrift Merkur Nr. 240 (Seite 313) wichtig: ' [ . . . ] in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle Versuche, es endgültig loszuwerden. Die griechische Polis wird so lange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort »Politik« im Munde führen'". Schmitt zitierte gerne den Romantiker Johann Arnold Kanne: "Die Sprache weiß es noch [...]". Es gibt allerdings wenig Anzeichen dafür, daß Schmitts Unterscheidung des Begriffs des Politischen vom überkommenen Staatsbegriff die klassische Politologik erinnern wollte. 28 Vgl. Carl Schmitt: Begriff des Politischen
(FN 5), S. 59 ff.
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sungsstaat ermögliche die genuin "politische" Gleichheit der Menschen als Bürger. Dafür ein Zitat: "Die aristotelische 'Anthropologie' - wenn wir diesen schillernden Terminus für einen Augenblick auf die Gesamtheit jener Wesensbestimmungen anwenden wollen - ist eigentlich Andrologie, eine Lehre nicht vom Menschen im Allgemeinen, sondern vom Manne, vom wohlgeratenen, tüchtigen, tugendhaften, rechten und guten freien Mann, ja sie ist selber bereits Politologie, die höhere Lehre vom Menschen oder vom Mann ist auch schon eine Lehre vom Bürger" (S. 97). Politologie tritt hier geradezu an die Stelle der philosophischen Anthropologie. Was des Menschen Wesen ist, vermag erst der wohlgeordnete Staat zu entdecken. Man könnte von einem klassischen Humanismus sprechen, der die vorpolitische Natur des Menschen im Prinzip bestreitet, so sehr er liberale Errungenschaften als politische Leistungen festzuhalten sucht. Sternberger hofft auf den wohlgeordneten Staat als Bildner und Erzieher des Menschengeschlechts und fürchtet das charakterologische Verderben der Bürger im System der dämonologischen oder eschatologisch legitimierten Herrschaft. Es ließen sich Nähen zu Schmitts "Lehre von der Demokratie" und seinem Konzept von der politischen "Identität" und sozialen "Homogenität" des Staatsvolkes finden. Gerade hier liegen jedoch auch entscheidende Unterschiede: Während Schmitts juristischer Leitbegriff der des politisch einmütigen "Volkes" ist, ist es für Sternberger die "Vielheit" und "Pluralität" der Bürger in der Bürgerschaft, wie zu betonen er unter Hinweis auf Hannah Arendt 29 nicht müde wird. Während Schmitt Liberalismus und Demokratie als unvereinbare Gegensätze ansieht und den "unpolitischen" Bürger vom politischen Volk strikt unterscheidet, führt Sternberger sein Modell vom Bürger mit dem Volksbegriff in ein politisches Konzept von der "Bürgerschaft" zusammen.
III. Die Frage nach dem Begriff des Politischen als politisch-philosophische Grundfrage Sternbergers Begriff des Politischen zielt auf die Gründung und Begründung einer bürgerlichen politischen Form und Kultur. Da er die bürgerliche Legitimität nicht mit der demokratischen Legitimität gleichsetzt, verlagert er die Frage nach dem Begriff des Politischen aus der juristischen Verfassungstheorie auf die Reflexion von Bedingungen bürgerlicher Kultur und Verfassung und stellt damit die Frage nach der Bedeutung des Politischen im Ganzen unserer Weltorientierung neu. Nimmt man die Grundbestimmung der Heidelberger Antrittsrede mit der Summe der Drei Wurzeln zusammen, so macht Sternberger zunächst auf die Notwendigkeit der Entsagung des eschatologischen und dämonologischen Begehrens als Voraussetzung für bürgerliche Einigkeit und Vereinbarung aufmerksam. Einigkeit kann es im Grunde nur jenseits der Herrschsucht und des Erlösungsstrebens im Politischen geben. Das Disziplinierungsniveau, das Sternberger der Bürgerschaft damit abverlangt, hat er nicht thematisiert. Wenn er den Frieden im Grunde des Politischen nun mit Aristoteles als Einigkeit und Freundschaft 29 Vgl. nur Arendts Brief Nr. 109 an Jaspers vom 4. März 1951; s. Hannah Arendt: Vita activa (FN 15), S. 14 f. u. S. 164.
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der "Vielheit" (IV, 177; II.l, 107, 392) der Bürger ansetzt, so betrachtet er das Politische in anthropologischer Bedeutung als Medium der Identifikation der Bürger; er gibt dem eine charakterologische Wendung zur "Sittenlehre" hin, wenn er die "Staatsfreundschaft", die Freundschaft zur Bürgerschaft, genauer als "Geselligkeit" begreift, 30 die Ungeselligkeit einschließt und somit auch Privatheit zuläßt. Die Behauptung anthropologischer Konsequenzen des Politischen ist - nach Nietzsches "Zucht und Züchtung" - auch im 20. Jahrhundert nicht selten. Typologische Aussagen zur anthropologischen Prägekraft von Staat und Gesellschaft - der Prägung von "Helden", "Soldaten" und "Arbeitern" bei Sombart, Spengler, Jünger, Schmitt schwanken dabei zwischen deskriptiver und normativer Bedeutung. Der politische, normative Anspruch ist dem humanen Selbstverständnis wohl irreduzibel. Zwar sind wir heute geneigt, das Politische im gesellschaftstheoretischen Paradigma als "Politik der Gesellschaft" zum Verschwinden zu bringen und der "Industriegesellschaft" die Vormacht zur "totalen Vergesellschaftung" noch der anthropologischen Verfassung 31 zu überlassen. Andererseits jedoch mögen wir als Subjekte auf den trotzigen Humanismus des Glaubens an eine politische Öffentlichkeit und Identität nicht verzichten.32 Auch Sternberger fragt relativ unbekümmert um das gesellschaftstheoretische Paradigma weiter nach der normativen Entsprechung der guten politischen Ordnung und anthropologischen Verfassung. Dies klingt heute zwar einigermaßen naiv, ist aber eine Grundvoraussetzung von Politik: Nur unter der Annahme von Gestaltungsmacht zur Selbstbestimmung macht Politik noch Sinn. Doch wir wissen heute auch um die Fragwürdigkeit des "Primats des Politischen". Arendt fragte deshalb zur Begriffsbestimmung skeptischer als Sternberger: "Hat Politik überhaupt noch einen Sinn?" 33 Sternbergers Politikbegründung zielt auf eine umfassende Konzeption von Bürgerlichkeit. Damit reflektiert sie ein Anliegen, das Sternberger aus seiner Erfahrung der Zeit von Beginn an verfolgte: die Rehabilitierung der Bürgerlichkeit gegen die - von Schmitt betriebene - diskriminierende Verwerfung des bürgerlichen Typus in Deutschland. Für seine Idee der Politik hat Sternberger sich unter den Zeitgenossen in freundschaftlicher Verbundenheit immer wieder auf Hannah Arendt berufen. Dabei hat er einige grundsätzliche Divergenzen nicht wahrhaben wollen, die hier nur andeutend skizziert werden, weil sie die philosophische Wendung der Frage nach dem Begriff des Politischen deutlicher artikulieren. Arendt geht es weniger um die "Metamorphosen" der Polis in den Institutionen des modernen Verfassungsstaates als um die Virulenz des "politischen Bereichs" des Handelns "zwischen den Menschen". Die Möglichkeit einer Institutionalisierung dieses Freiraums, die Chance zur Bewahrung des "Geistes" des politischen Handelns durch die "gemischte Verfassung" des Verfassungsstaates beurteilt sie
30 Dazu Jörg Pannier: Vexierbild (FN 14), S. 99 u. S. 105 ff. 31 Vgl. Stefan Breuer: "Subjektivität und Mechanisierung", in: ders.: Aspekte totaler Freiburg 1985, S. 67-106. 32 So Jürgen Habermas : Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie schen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992.
Vergesellschaftung,
des Rechts und des
demokrati-
33 Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, München 1993, S. 28 ff.
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skeptisch. Sie scheut die "Veralltäglichung" des Charismas und Charmes des hohen Moments des politischen Handelns. Ihr Hohelied auf das politische Handeln, das sie gegen die Diktatur der Notwendigkeit des Arbeitens und den modernen Massenwahn des Herstellens im Rückgriff auf die Antike erinnert, impliziert ein heroisches Konzept von der "Enthüllung der Person" im politischen Handeln und Sprechen.34 Nach Arendt ist es die "Leidenschaft sich auszuzeichnen" (J. Adams),35 die die Heroen des politischen Handelns treibt; sie handeln "zwischen den Menschen" um des Ansehens der "Welt" willen, kompensieren durch die "Natalität" ihres Handelns dabei ihre kreatürliche "Mortalität". Die Selbstoffenbarung im Handeln geschieht immer nur für die Anderen, von der Enthüllung des Handlungssinns in seinen Folgen her, in den Geschichten der Mit- und Nachwelt, insbesondere in den großen Gedichten von den Helden der Geschichte. Arendt denkt nicht, wie Sternberger, von Aristoteles, sondern von Homer her. Sie vertritt ein heroisches Konzept von Personalität, für die das Politische die Bühne ist, sich ein Gedächtnis zu machen. Es ist primär der Wille zur objektiven Unsterblichkeit im Andenken und Gedächtnis der Nachfahren, 36 der die Menschen handeln läßt, meint Arendt. Damit scheint die existentialphilosophische Erfahrung des "Seins zum Tode" initial. Beide, Arendt und Sternberger, denken das Politische von der Auseinandersetzung mit Heidegger und Jaspers und von der Erfahrung der Endlichkeit des Daseins her, in der sich Antike und Moderne treffen, so daß ein Anschluß an die antike Daseinserfahrung wieder möglich schien. Doch während Sternberger schon in seiner Dissertation Der verstandene Tod auf die Mitmenschlichkeit als Antwort setzt, fragt Arendt radikaler nach der Gegebenheit dieses Mitseins und betont die Leidenschaft der Selbstdarstellung im Ansehen und Gedächtnis der "Welt". Ihr Konzept von der Darstellung der Personalität im Handeln vor der Öffentlichkeit, die sich als Urteil der Öffentlichkeit der vollen intentionalen Verfügung des Handelnden entzieht,37 erhebt dabei Einspruch gegen die moderne Auffassung von der Enthüllung des Charakters in der Intimität des Privaten.38 Die antiken und heroischen Konnotationen des Einspruchs dieses Personalitätskonzepts gegen die moderne Intimität können hier nicht weiter dargelegt werden. Es sollte nur die Radikalität angedeutet werden, mit der Arendt sich nicht mit einem einfachen Rückgang auf Aristoteles beruhigt, der seine naturrechtlichen Voraussetzungen weitgehend ungeklärt läßt, sondern die Sozialität, Daseins- und Welterfahrung des Menschen von einem heroischen Persönlichkeitskonzept her neu begründet; radikaler als Sternberger stellt Arendt sich dabei dem Problem der neuzeitlichen "Weltentfremdung"39 und sucht das Politische als Raum der Identitätsentdeckung und kom-
34 Hannah Arendt: Vita activa (FN 15), S. 164 ff. 35 Hannah Arendt: Über die Revolution, 2. Aufl., München 1974, S. 152, S. 176 u.ö.; vgl. dazu Jürgen Gebhardt: Die Krise des Amerikanismus, Stuttgart 1976, S. 15 ff. 36 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa (FN 15), S. 24 f., S. 174 ff. u. S. 190 f. 37 Ebd., S. 169 ff. 38 Ebd., S. 38 ff. u. S. 66 ff.; Hannah Arendt: Über die Revolution (FN 35), S. 97 ff. 39 Hannah Arendt: Vita activa (FN 15), S. 244 ff.
Bürgerliche statt demokratische Legitimität
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munikativen Konstitution des "Gemeinsinns" "zwischen den Menschen" neu zu begreifen. Nur im politischen Raum ist nach Arendt jene unverstellte, durch die Diktatur des Arbeitens und Herstellens nicht verengte 40 Kommunikation möglich, die eine gemeinsame Welt in der Vielheit der je eigenen Standpunkte 41 zum Erscheinen bringt. Dabei ging es Arendt nicht nur um die Aufhebung von "Selbstentfremdung" in der Gemeinschaftserfahrung, sondern um die politische Erfahrung einer gemeinsamen "Welt" überhaupt. 42 Arendts tiefgründiges Fragen nach der Bedeutung des Politischen für die Identitätskreation und Welterfahrung hat Sternberger durch seinen Rekurs auf Aristoteles eher verschüttet als neu gestellt. Deshalb führt der mögliche philosophische Sinn der Frage nach dem Begriff des Politischen bald über Sternberger zu Arendt hinaus. Eine Ausarbeitung der politisch-philosophischen Frage nach dem Begriff des Politischen war hier aber nicht zu leisten. 43 Es sollte nur gezeigt werden, daß Sternberger tatsächlich von seiner gegen Schmitt programmatisch formulierten Begriffsbestimmung des Politischen ausgehend in den 60er und 70er Jahren eine politische Philosophie ausarbeitete, die auf das politische Grundverhältnis der Bürgerschaft reflektiert und grundlegende Bedeutung für eine "Revision" der Verfassungslehre beansprucht. Schmitt hatte die Frage nach dem Begriff des Politischen als verfassungstheoretische Grundfrage und politisches Kriterium gegen den herrschenden Staatsbegriff entdeckt, ohne die Voraussetzung einer "absoluten Verfassung" des deutschen Volkes für seine praktischen Absichten weiter in Frage zu stellen und das politische Grundverhältnis der Bürgerschaft näher zu beschreiben. Sternberger überschreitet nun den juristischen Rahmen auf den Grund der Bürgerschaft hin und nimmt deren anthropologische und charakterologische Verfassung als Grund und Norm des Politischen in den Blick. Die Gestalt dieser
40 Hier setzt Habermas' Unterscheidung von strategischem und kommunikativem Handeln an; vgl. Jürgen Habermas: "Hannah Arendts Begriff der Macht", in: ders.: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1981, S. 228-248. 41 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa (FN 15), S. 56 f.; dies.: Was ist Politik? (FN 33), S. 105 f. 42 Vgl. ebd., S. 49 ff. u. S. 272 ff. 43 Ernst Vollrath (Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987) hat dies unternommen. Er beansprucht, mit der Frage nach dem Politischen "der Philosophie des Politischen ihre Frage" (S. 19) zurückzugeben. Dabei würdigt er Schmitts "Differenzierung zwischen der 'Politik' und dem 'Politischen'" (S. 37), stellt auch schon Sternbergers philosophische Wendung der Fragestellung heraus (S. 19) und schließt in der Durchführung insbesondere an Arendts Hinweis auf die Aufgabe einer Rekonstruktion der politisch reflektierenden Urteilskraft im Rückgang auf Kant an. Vollrath folgt (trotz S. 257) Arendts Einsicht, daß eine Rekonstruktion der alten phronesis gegen den modernen Weltverlust nichts zu kompensieren vermag, sondern der politische Sinn, der Gemeinsinn zu maßstäblichen Urteilen einer gemeinsamen Welt, radikal bedroht ist und von einer reflektierenden Urteilskraft her neu entdeckt werden muß. Vollrath überführt diesen Ansatz in die Erforschung von "Apperzeptionshorizonten" der "Kulturkreise" des politischen Denkens und nimmt - wie Sternberger - eine Kritik des "Typus des politischen Denkens im deutschen Kulturkreis" vor. Seine idealtypische Unterscheidung bringt er auf die Gegenbegriffe von "Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation" {Rechtsphilosophische Hefte, 1 [1993], S. 65-78), für die namentlich insbesondere Schmitt und Arendt stehen. Schmitts Frage nach der "Intensität" des Politischen und Arendts Suche nach der Virulenz des politischen Handelns verschiebt sich dabei zur Frage nach der "Authentizität" der Apperzeption des Politischen.
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Bürgerschaft hat er sowenig beschrieben wie das Disziplinierungsniveau, das er um der Politikfähigkeit willen abverlangt, oder die Bedeutung dieses Politikbegriffs für eine "Revision" der Verfassungslehre. 44 Trotzdem macht er über die juristisch-dogmatische Idee der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes hinaus mit der Bürgerschaft als Grund und Norm des Politischen auf die Eigenart bürgerlicher Legitimität einer Verfassung im Unterschied zu ihrer bloßen demokratischen Akzeptanz aufmerksam: Bürgerlichkeit ist nicht nur ein politisches Phänomen, sondern steht auch unter Voraussetzungen, die das Politische respektieren muß. 45 Zivilität entsteht im Zusammenspiel der großen Potenzen von Politik und Religion, Wirtschaft und Kultur. Die Selbstbegrenzung auf das Politische hin setzt andere Lebenssphären als seine Bedingung frei. Mit der Reflexion auf Voraussetzungen von bürgerlicher Vereinbarung disloziert Sternberger den Begriff der "bürgerlichen Legitimität" aus dem vertragstheoretischen Kontext und rückt die Bürgerlichkeit als eine Gesamtleistung ziviler Moderierung von Religion, Politik und Kultur in den Blick. Nicht jede Kultur ist politikfähig in Sternbergers bürgerlichem Sinne. Der mögliche philosophische Sinn der Frage nach dem Begriff des Politischen ließe sich weiter bedenken. Doch schon Sternbergers Grundbestimmung des Politischen gibt einen Ansatzpunkt zur Kritik von Schmitts verfassungstheoretischer Voraussetzung einer "absoluten" politischen Verfassung, deren bürgerschaftliches Grundverhältnis mit der Formel von der "politischen Einheit und sozialen Ordnung" und Homogenität unthematisch bleibt und von Schmitts strikter Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie her wohl auch nicht zu klären war. Thematisiert man den politischen Status der Bürgerschaft nur in den hohen Momenten der "Grundentscheidungen" und "Feindunterscheidungen", die stets auch Diskriminierung innerhalb der Bürgerschaft bedeuten, so kommt das politische Verhältnis der Bürger untereinander, also der Modus der politischen Einheitsbildung, nicht recht in den Blick. Schmitt hat die politische "Daseinsweise" als eine "gesteigerte Art Sein" 46 aufgefaßt. Doch worin liegt die besondere Dignität des Politischen? Dem politischen Philosophen ist es aufgegeben, dies zu explizieren.
4 4 In den Drei Wurzeln der Politik ist die Darstellung dieser Politologik im modernen Verfassungsstaat unter dem Kapitel "Metamorphosen der Bürgerschaft" relativ knapp abgehandelt. Sternberger deutet vor allem zwei Probleme an: Die Möglichkeit von Bürgerschaft im emphatischen Sinne unter den Bedingungen einer "menschenrechtlichen Massengesellschaft" s o w i e das Problem der politischen Konstitution bürgerlicher Gemeinschaft unter der Ausweitung der Staatsaufgaben insbesondere in den Bereich der Wirtschaft hinein, die die aristotelisch fundamentale Differenz zwischen "Haus und Staat" im Kern bedroht. Während Sternberger in einer Reihe von Abhandlungen insbesondere die Tradition eines politischen Aristotelismus im Abendland aufzeigte, hat er sich dem Problem der Darstellung seines Begriffs des Politischen im heutigen Verfassungsstaat nur noch in zwei großen späten Abhandlungen gestellt {Die neue Politie. Vorschläge zu einer Revision der Lehre vom Verfassungsstaat-, Politie und Leviathan. Ein Streit um den antiken und den modernen Staat, beide in: ders.: Schriften [ F N 2], Bd. X, S. 156 ff. u. S. 232 ff.). 45 Vgl. dazu die "Übungen zu Problemfeldern" von Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 2 5 3 ff. 46 Carl Schmitt: Verfassungslehre,
Berlin/Leipzig 1928, S. 2 1 0 .
und Zukunft.
IV. Aktuelle Diagnosen und Prognosen
Friedrich Balke
Das Zeichen des Politischen
"Wird ein Zeichen nicht gebraucht, so ist es bedeutungslos." Ludwig Wittgenstein
I. Wiederholung und Differenz Die Formulierung: "Das Zeichen des Politischen" möchte nicht zuletzt als eine Art ironische Replik auf den Titel der "Hauptschrift" Carl Schmitts: Der Begriff des Politischen1 verstanden werden. Ich glaube in der Tat, daß Schmitt in diesem Text, was immer er auch später selbstkommentierend anführen mochte, keineswegs einen Begriff des Politischen gibt. Leser wie Ernst Jünger haben das auch nach Erscheinen des gleichnamigen Aufsatzes von 1927 sofort gemerkt und mit keinem Wort nach dem Verhältnis gefragt, den dieser Begriff des Politischen vielleicht mit anderen in der abendländischen Geschichte des politischen Denkens ausgebildeten Begriffen des Politischen unterhält. Für Jünger und andere hatte Schmitt mit dem Begriff des Politischen vor allem ein Zeichen gesetzt. Alle geistesgeschichtlichen Einwände - angefangen von Hermann Hellers etymologischem Einwurf, daß Politik ja bekanntlich nicht von polemos, sondern von polis abzuleiten sei, bis hin zu Dolf Sternbergers gelehrter Zurückweisung eines vermeintlich oder wirklich "bellizistischen" Politikbegriffs - thematisieren nicht das, worum es mir im folgenden gehen wird: um die Bestimmung der eigentümlichen Positi-
1
Die Schriften und Aufsatzsammlungen Carl Schmitts werden im Text mit folgenden Siglen zitiert: BdP = Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien [1932], Berlin 1963; BdP III = Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933; DA = Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934; ECS = Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950; L = Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols [1938], Köln 1982; PB = Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar Genf - Versailles 1923 - 1939, Hamburg 1940; PR = Politische Romantik [2. Aufl. 1925], Berlin 1982; PTh = Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [2. Aufl. 1934], Berlin 1985; PTh II = Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970; RK = Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925; SR = Schattenrisse, Leipzig 1913 (veröffentlicht unter dem Pseudonym "Johannes Negelinus mox Doctor", in Zusammenarbeit mit Fritz Eisler); VA = Verfassungsrechtliche Airfsätze aus den Jahren 1924 - 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958; VL = Verfassungslehre [1928], Berlin 1983; WS = Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914.
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vität des Schmittschen Diskurses, wie er sich exemplarisch im Begriff des Politischen artikuliert, genauer: um den Versuch, das historische Apriori oder auch: den spezifischen "challenge" festzulegen, dem dieser Diskurs seine Existenz verdankt. Mich interessiert also nicht die Frage nach der (philosophischen, moralischen oder historischen) Gültigkeit des "Kriteriums", das Schmitt in dieser Schrift definiert, sondern ich möchte einen Beitrag zu den Bedingungen seines Auftauchens, den spezifischen Evidenzeffekten, von denen seine Definition begleitet war, leisten, wobei die Frage nach den Aussagebedingungen keineswegs mit einem pauschalen, "zeitgeschichtlichen" Hinweis auf die "konkrete Situation" der Zwischenkriegszeit zu beantworten ist. Wir werden sehen, daß uns bei der Beantwortung dieser Frage am wenigsten die Politikhistoriker weiterhelfen können, weil man mit einem Hinweis etwa auf die Weimarer Verhältnisse keineswegs die Spezifik einer bestimmten diskursiven Formation "erklärt". Es geht vielmehr darum, das Gesagte "auf dem Niveau seiner Existenz"2 zu befragen. Aber dieses Existenzniveau der Aussagen fällt keineswegs mit den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, noch auch mit dem Geist, der sich in ihnen manifestiert, zusammen. Der Absage an die Ereignisgeschichte ("Weimar") gesellt sich die Absage an die Ideengeschichte ("Politische Theologie") hinzu. Rufen wir uns in Erinnerung, wie Michel Foucault in der Archäologie des Wissens das historische Apriori definierte: "Ich will damit ein Apriori bezeichnen, das nicht Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aussagen ist. Es handelt sich nicht darum, das wiederzufinden, was eine Bedeutung legitimieren könnte, sondern die Bedingung des Auftauchens von Aussagen, das Gesetz ihrer Koexistenz mit anderen, die spezifische Form ihrer Seinsweise und die Prinzipien freizulegen, nach denen sie fortbestehen, sich transformieren und verschwinden." 3
Und eventuell - unter ganz anderen "äußeren Bedingungen" - wiederauftauchen. Es geht also nicht darum, die Aussagen auf Ereignisse - weder auf "reale" noch auf "ideelle" - zu beziehen, die sie hervorgebracht haben sollen, sondern die Aussage als Ereignis zu begreifen. Wenn Schmitts Lehre sich also ohne Rest als "Politische Theologie" rekonstruieren läßt, das Unternehmen einer "Politischen Theologie" aber "nicht mit Schmitts Theoriebildung in die Welt gekommen ist",4 dann gilt unser Interesse dem Akt der Wiederholung (die als Wiederholung immer eine Differenz produziert), ihren spezifischen Bedingungen und Effekten, die in den Texten ihre Spuren hinterlassen haben: eine Frage, die sich nicht mit dem Hinweis auf die "Existenz" oder das innerste "Zentrum" der Person Schmitts beantworten läßt. "Der Leitsatz des Tertullian Wir sind zu etwas verpflichtet, nicht, weil es gut ist, sondern weil Gott es befiehlt begleitet Schmitt über alle Wendungen und Wechselfälle
2
Michel Foucault: Archäologie
3
Ebd., S. 184.
des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 190.
4
Sondern, wie Heinrich Meier feststellt, so alt ist "wie der Offenbarungsglaube" und daher auch "nach menschlichem Ermessen ebensolange fortbestehen [wird], wie der Glaube an einen Gehorsam verlangenden Gott fortbestehen wird" (Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 1994, S. 258).
Das Zeichen des Politischen
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seines langen Lebens hinweg",5 teilt uns Heinrich Meier mit, der die in diesem Satz ausgesprochene Alternative umstandslos zu einer ewigen Herausforderung des Menschen macht, der immer erneut vor der Entscheidung steht, ob er seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit als Politischer Theologe oder als Politischer Philosoph begegnen will. Aber dadurch, daß Schmitt die Position des Tertullian wiederholt, ist er ja noch nicht Tertullian: Über den Einsatz dieser Wiederholung (der denjenigen Einsatz, der sich in konkreten politischen Parteinahmen äußert, übersteigt), über den genauer zu spezifizierenden Zwang, der sich in dieser Wiederholung manifestiert, erfahren wir deshalb nichts, weil das Denken dieser Wiederholung ein genaues Aufmerken auf die Präsenz und das Drängen der Geschichte im politischen Denken voraussetzt. Der Politische Philosoph, so wie ihn Meier als Antagonisten des Politischen Theologen präsentiert, verharrt ratlos vor der Geschichte und rechnet sich genau diese Ratlosigkeit als Verdienst an. Er glaubt, sich das Denken der Geschichte dadurch ersparen zu können, daß er es in toto als historistisch disqualifiziert. Zur Geschichte fällt ausgerechnet dem politischen Philosophen nichts ein. In seinen Blick gerät sie überhaupt nur als jener unüberwindliche Abstand, der die himmlische Idee des Guten, auf die alles Seiende sich ausrichten soll, beständig von ihrer irdischen Verkörperung trennt. Sofern der Philosoph also überhaupt auf die Geschichte achtgibt, macht sie ihm ein unglückliches Bewußtsein. In dem Moment, in dem sich die Philosophie auf die Geschichte, ihre "konkreten Situationen" und irreduziblen challenges einläßt, ist es bereits um sie geschehen, will uns Heinrich Meier bedeuten. Sie lehnt es daher ab, sich "mit vollem Bewußtsein in die Waagschale der Zeit" (VA, S. 8) zu werfen, wie es einmal bei Schmitt heißt. So hat, mit Charles Péguy gesprochen, die Philosophie, anders als die unendlich kompromittierte Politische Theologie, die sich immer wieder aufs neue dem Frisieren der kaiserlichen Perücke hingibt, stets saubere Hände, aber sie hat keine Hände.
II. Symbolische Einheit und Pluralismus Carl Schmitt denkt das Politische unter dem Symbol der Einheit. Wie sehr er das tut, erkennt man daran, daß er einerseits noch den Zerfall der Einheit als ihre innere Verdopplung versteht - jeder Einheit ist eine Zweiheit immanent (PTh II, S. 123) - und daß er andererseits eine innere Pluralität der politischen Einheit nur soweit zuzugestehen bereit ist, wie sie der Homologie von Teilen und Ganzem nicht widerspricht. Noch im Begriff des Politischen wird der Begriff der "politischen Einheit" durch eine Kette von Ausdrücken "erläutert" - "(Freund-Feind-)Gruppierung", "Gesamtheit von Menschen", "Assoziation", "Verbindung", "politische 'Gemeinschaft'", schließlich und unvermeidlich: "Staat" ohne daß Schmitt an irgendeiner Stelle über die Anrufung des "Bürgerkriegs" als Gegenbild und Gegenbegriff zu dieser Einheit hinauskäme (BdP, S. 43). In dem 1930 veröffentlichten Aufsatz "Staatsethik und pluralistischer Staat", den er ausdrücklich als eine "philosophische Erörterung" (PB, S. 136) verstanden wissen will, sieht sich Schmitt durch die Argumentation des angelsächsischen staatstheoretischen 5
Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts (FN 4), S. 146.
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Pluralismus genötigt, auf die philosophische Reflexion der politischen Einheit hinzuweisen und sie gegen Simplifizierungen in Schutz zu nehmen. Mehr noch als im Begriff des Politischen konzediert Schmitt in diesem Aufsatz der pluralistischen Lehre richtige Einsichten, die er seinen eigenen Überlegungen einzupassen versucht: Der Pluralismus ist nach Schmitt sowohl aktualhistorisch als auch theoretisch ernstzunehmen. Aktualhistorisch, weil er "dem empirisch wirklichen Zustand, wie man ihn heute in den meisten industriellen Staaten beobachten kann, [entspricht]" (PB, S. 135 f.); 6 theoretisch, weil der Pluralismus, der "nicht das letzte Wort des heutigen staatsethischen Problems sein [kann]" (PB, S. 137), unser Sensorium dafür schärft, daß es bei allen "Staatsphilosophen von Plato bis Hegel", wiewohl sie "die Einheit des Staates als höchsten Wert auffaßten", eine "sehr starke Kritik an monistischen Überspannungen und sehr viele Vorbehalte zugunsten selbständiger sozialer Gruppen der verschiedensten Art [gab]" (PB, S. 137). Der Pluralismus, so scheint Schmitt sagen zu wollen, datiert trotz seiner aktualhistorischen Bedeutsamkeit gar nicht von heute, er ist so alt wie die Geschichte der staatsphilosophischen Reflexion. Genauer: er beginnt gleich nach Piaton, mit Aristoteles (in Wahrheit beginnt er jedoch schon mit Piaton): "Bekannt sind die Aristotelischen Einwendungen gegen Piatos Übertreibung des politischen Monismus: Die polis, so meint er, muß eine Einheit sein, mian einai, wie auch die oikia, aber nicht ganz und gar, all' oupantos (Politik 112, 19 und an vielen anderen Stellen des zweiten Buches)." Auch bei Thomas von Aquin, dem zweiten Autor, den Schmitt anführt, findet sich, trotz seines Monotheismus, der den politischen Monismus natürlich begünstigt, "im Anschluß an Aristoteles" die Einsicht ausgesprochen, "daß die aufs äußerste getriebene Einheit den Staat zerstöre (maxima unitas destruit civitatem)" (PB, S. 137). Die in der SchmittForschung allgemein geteilte Auffassung vom pauschalen Anti-Pluralisten Carl Schmitt muß offenbar, wenn schon nicht revidiert, so doch spezifiziert werden, da Schmitt seine eigene Auffassung schließlich so zusammenfaßt: "Die Einheit des Staates ist stets eine Einheit aus sozialen Vielheiten gewesen. Sie war zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Staaten sehr verschieden, immer aber komplex und in gewissem Sinn in sich selbst pluralistisch." (PB, S. 139) Mit dem Hinweis auf die "selbstverständliche Komplexität" der politischen Einheit und der Abwehr eines "überspannten Monismus" beerbt Schmitt ausdrücklich eine bestimmte philosophische Konzeption der (politischen) Einheit, die seit Piaton betont, daß die Einheit nicht auf die Eins zu reduzieren sei, weil sie eben nicht dem Modell der sichtbaren und greifbaren Dinge gehorcht, die aber dennoch dem Denken der Repräsentation nicht völlig entrinnt. Sie fingiert nämlich dasjenige an der Einheit, was beständig in ihr Gegenteil umschlägt, als einen homologen (der Berechnung zugänglichen) Teil der Einheit: die Teil/Ganzes-Differenz ist der Versuch, das Uneinheitliche an der Einheit durch Hierarchisierung zu entparadoxieren: In ihrer Funktion als "Ganzes" umgreift die Einheit alle Teile, aus denen sie besteht und macht sie "kompatibel".
6
"Insofern ist die pluralistische Theorie sehr modern und aktuell." (PB, S. 136) Bereits im Begriff des Politischen hatte Schmitt von der pluralistischen Kritik an den "Wendungen von der 'Allmacht' des Staates", die "in der Tat oft nur oberflächliche Säkularisierungen der theologischen Formeln von der Omnipotenz Gottes" seien, gesagt: "Diese Kritik trifft in weitem Maße zu." (BdP, S. 42 f.)
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Vor allem Schmitts Formulierung: "Mit dem Hinweis auf diese selbstverständliche Komplexität ist vielleicht ein überspannter Monismus widerlegt, nicht aber das Problem der politischen Einheit gelöst" (PB, S. 139), legt die Auffassung nahe, als stehe die pluralistische Verfaßtheit des politischen Binnenraumes in keinem Zusammenhang mit der Entstehung und "Reproduktion" der politischen Einheit selbst. Aber Schmitt weiß darum, daß die Komplexität auch das "Problem der politischen Einheit" - unterschieden von ihrer konkreten "Gestaltung" - nicht verschont: denn es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die sich untereinander funktional äquivalent verhalten, dieses Problem zu lösen. In den Katalog der "verschiedenartigste[n] Gestaltungsmöglichkeiten der politischen Einheit" nimmt Schmitt selbst das von ihm so perhorreszierte Modell der "Einheit durch fortwährende Vereinbarungen und Kompromisse sozialer Gruppen oder durch anderweitige, irgendwie bewirkte Ausbalancierungen dieser Gruppen" (PB, S. 139) auf. Dieser "Grenzfall" politischer Einheit ist offenbar dadurch gekennzeichnet, daß er trotz des Mangels einer substantiellen causa, sozusagen occasionell zustandekommt: Zwischen der Wirkung der Einheit und ihrer gleichsam zersplitterten Ursache besteht kein Verhältnis der Repräsentation oder Analogie, die Relation zwischen politischer Einheit und den sie "tragenden" sozialen Vereinbarungen ist gleichsam "unscharf. Der Frage, ob auf diesen Fall überhaupt noch die klassische Semantik der politischen Einheit anwendbar ist, kann Schmitt nun aber nicht stellen, weil er vor der Historisierung des Bezugsproblems der politischen Einheit zurückschreckt. Dieses Bezugsproblem hält er nämlich für ein ewiges. In Wahrheit ist es aber nur das Problem des Thomas Hobbes, 7 nämlich, wie Schmitt schreibt, "innerhalb ihrer selbst alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran [zu] hindern [...], sich bis zur extremen Feindschaft (d.h. bis zum Bürgerkrieg) zu dissoziieren" (PB, S. 141). Obwohl für den Politischen Theologen Schmitt ausgemacht ist, daß es keiner souveränen Instanz jemals gelingen kann, das politische Assoziations- und Dissoziationsgeschehen völlig stillzustellen -
"Das Eine ist immer in Aufruhr gegen sich selbst" (PTh II, S. 116) - , denkt er die Wirkung der Dissoziation doch stets unter dem Bild der gespaltenen, das heißt: verdoppelten Einheit. Die politische Einheit ist der unüberschreitbare Horizont der Schmittschen Stasiologie (PTh II, S. 123): In der Bezugnahme auf die politische Einheit und in der Gegenstellung gegen die Tumulte "theologisierender Volksmengen" konvergieren bei Schmitt das Interesse des Politischen Theologen (Paradigma: Eusebius) und das Interesse des Politischen Philosophen (Paradigma: Thomas Hobbes). 8 Wenn sich nun aber die Spezifik moderner Gesellschaften und ihrer Staaten, auf die Schmitt mit dem Begriff der Neutralisierung zielt, nicht länger durch diesen Bezug zum
Problem der politischen Dissoziation als symmetrischer Negation der politischen Einheit bestimmen ließe? Wenn die politische Einheitsbildung im 20. Jahrhundert einer Logik 7
Bereits Spinoza widersprach Hobbes, wenn er schrieb: "Alle Zwietracht und Empörung, die sich oft im Staate erhebt, bewirkt doch nie, daß die Bürger den Staat auflösen, wie es bei anderen gesellschaftlichen Verbindungen häufig geschieht; vielmehr ändern sie dann nur seine Form, wenn sich nämlich die Streitigkeiten nicht unter Erhaltung der äußeren Gestalt des Staates beilegen lassen." (Baruch de Spinoza: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes - Abhandlung vom Staate [Tractatus Politicus, Kap. 6, § 2], Hamburg 1977, S. 91)
8
Vgl. dazu PTh 2, S. 78 u. ESC, S. 68.
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gehorchte, die es nötig macht, daß wir entgegen den Insinuationen der Einheitssemantik (die Einheit ist eins bzw. die zur Totalität "gerundete" Gesamtheit ihrer Teile, selbst wenn diese Teile sich "in Aufruhr" gegeneinander befinden) "mit ihr zugleich immer irgendein Widerspiel von ihr", das jedenfalls etwas anderes als das bloße "Gegenteil" der Einheit ist, sehen? 9 Ich vertrete im folgenden die These, daß bei Schmitt die politische Einheit etwas ist, was sich dem azentrisch und differentiell gewordenen sozialen und kulturellen Raum hinzufügt, ohne ihn jedoch effektiv zu zentralisieren oder zu totalisieren. "Wir befinden uns im Zeitalter der Partialobjekte, der Bausteine und Reste [das gilt für die Gesellschaft ebenso wie für die sie 'reflektierenden' Theorien], Dahin der Glaube an jene falschen Fragmente, die, wie Stücke antiker Statuen, darauf harren, zusammengefügt und geleimt zu werden, um neuerlich eine Einheit, die gleichermaßen Einheit des Ursprungs ist, zu bilden. [ . . . ] Wir glauben nur an Randiotalitäten. Und sollten wir auf eine solche Totalität neben den Teilen stoßen, so wissen wir, daß es sich um ein Ganzes aus diesen Teilen handelt, das diese aber nicht totalisiert, eine Einheit aus diesen Teilen, die diese aber nicht vereinigt, vielmehr sich ihnen w i e ein neues, gesondert zusammengefügtes Teil angliedert." 10
Daß sich Schmitt gezwungen sieht, sogar noch hinter Hobbes auf Eusebius, hinter die politische Philosophie auf die politische Theologie zurückzugreifen, hängt aufs engste damit zusammen, daß die modernen Gesellschaften jeden Versuch ihrer immanenten Retotalisierung zu verhindern wissen. Carl Schmitts Politische Theologie ist gleichsam der Hobbessche Leviathan ohne seine vertragstheoretische Erzeugung, also ohne jenen Mechanismus, der den "irdischen Gott" trotz seiner schrecklichen Übermacht mit seinen Untertanen "kompatibel" machte. Schmitt hat in seiner Leviathan-lnterpretation keinen Zweifel daran gelassen, daß er die Transzendenz des "sterblichen Gottes" gegenüber seinen Untertanen, die ihn ins Werk setzen, als eine nur juristische für politisch zu schwach halte, weil sie anders als die metaphysische Transzendenz der "von oben", qua göttlichen Rechts legitimierten Staatsgewalt zwar alles verlangen könne - "Ein bürgerlicher Zustand erfordert offenbar absolute Herrschaft, und die Bürger widersetzen sich dem auch nicht" 11 - , "aber eben nur äußerlich" (L, S. 92). Schmitt möchte die durch den Gewissensvorbehalt auseinandergebrochenen Hälften der Einheit, das Innerliche und das Äußerliche, das Private und das Öffentliche, wieder zur "totalen Einheit" zusammenfügen, die "Einbruchstelle", in der er den "Todeskeim" des modernen Staates sieht, wieder schließen. Nachdem die von Schmitt zunächst unterstützte Strategie einer Bewirkung der totalen Einheit durch die Machtmittel des modernen Staates immer terroristischere Konsequenzen zeitigte, bleibt dem Politischen Theologen zuletzt nur noch die epimetheisch gedämpfte Erinnerung und Vergegenwärtigung einer ehemals christlichen
9
Piaton: Politeia,
524e.
10 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus. S. 54. 11 Thomas Hobbes: Vom Menschen S. 138.
Kapitalismus
- Vom Bürger
und Schizophrenie,
Frankfurt a . M . 1974,
(Elemente der Philosophie II/III), Hamburg 1959,
Das Zeichen des Politischen
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Zivilisation: Die "totale Einheit" findet ihr Asyl jetzt nur noch im beredten Schweigen über ihre beharrliche Abwesenheit. Keine Einheit, welche symbolische Intensität sie auch immer zu entfalten vermag, ist unter den spezifischen kulturellen Bedingungen, wie sie sich in Europa seit der Jahrhundertwende zunehmend durchsetzen, noch in der Lage, den gesellschaftlichen Raum der multiplen Differenzen und unendlichen Differenzierungen zu umgreifen. Das Schicksal aller Einheiten ist von nun an durch die Präposition neben definiert: Das gilt für die koinonia politike bzw. die societas civilis ebenso wie für theokratische Gemeinschaftsmodelle. 12 Die modernen Gesellschaften erhalten ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu ihren Widersprüchen: Nur die Metaphorisierung der politischen Einheit (die für Hobbes ja mit der gesellschaftlichen "Einheit" zusammenfällt) als (menschlicher) Körper - man denke an den Titelkupfer des Leviathan, der den "Corpus reipublicae mysticum" sinnfällig personalisiert 13 - erlaubt es, die "Widersprüche", die sie durchziehen, nach dem Modell der - unter Umständen tödlich verlaufenden - organischen Krankheiten zu fingieren. Für die politische Einheit gilt dann: "Sie existiert oder sie existiert nicht." (BdP, S. 43) Daß sich unter modernen Bedingungen das Politische immer weniger mit dem Gesellschaftlichen zur Deckung bringen läßt, erkennt man daran, daß sich letzteres in Wahrheit genau in jenem Raum zwischen den symbolischen Polen des Lebens und des Todes entfaltet, einen Raum, den es nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten eigentlich gar nicht geben dürfte. Das Politische, wie es Schmitt definiert, ist der Versuch, wenigstens einen Ort in der Gesellschaft zu schaffen, an dem diese sich sozusagen kontrafaktisch als eine Totalität imaginieren kann: Es bezeichnet, wie Schmitt nicht aufhört zu betonen, nur den "Intensitätsgrad einer Einheit", d.h. es kultiviert und "feiert" die Einheit als Einheit und erzeugt genau dadurch - paradoxerweise - Differenz, die symbolisch als Feindschaft codiert wird. 14 Das Politische ist in gewisser Weise nichts, alle Gehalte, mit denen es historisch konkret liiert ist, kann man von ihm abziehen, es hat fast den Anschein, als sei es, wie Schmitt an einer Stelle sagt, "in der Tat gleich Null" (PB, S. 141). Das "Mißverständnis", das in einer solchen Auffassung liegt, besteht lediglich darin, daß man die spezifische Produktivität dieser "Null" verkennt, die zeichenhafter, fiktiver Art ist, da sie eine imaginäre Suspension des Differenzierungsrasters der modernen Gesellschaft organisiert.
12 Von Schmitts Geschichtsglaube sagt Heinrich Meier abschließend, daß es sich bei ihm "um eine Theokratie par distance" handele (Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts [FN 4], S. 257). 13 Vgl. dazu Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Mittelalters, München 1990, S. 218 ff.
Theologie des
14 Die Unvermeidbarkeit des fiktionalen Einheitsbezugs funktional differenzierter Gesellschaften betont auch Niklas Luhmann, wenn er einerseits feststellt, daß "nicht jede Kommunikation [ . . . ] in das Raster der primären Teilsysteme [fällt]", und andererseits den Bezug der Gesellschaft auf sich selbst als ganzer mit dem Begriff der Repräsentation beschreibt, der - genau wie bei Schmitt (VL, S. 208) - "im Sinne von repraesentatio identitatis [ . . . ] und nicht im Sinne von Stellvertretung" zu nehmen sei (vgl. Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, S. 229 u. S. 48).
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III. Die Totalität des Politischen Daß wir "inzwischen" "das Politische als das Totale erkannt [haben]", wie Schmitt in der "Vorbemerkung" zur zweiten Ausgabe der Politischen Theologie von 1934 schreibt, ist nicht nur eine aktualhistorische Verortung seines eigenen politischen Denkens, sondern artikuliert, wie vor allem die 3. Ausgabe des Begriffs des Politischen zeigt, Schmitts Überzeugung, daß das politische Ganze noch einmal seine "klassische" Kapazität zurückgewinne, die Teile, aus denen es besteht, affektiv wieder zusammenzufügen bzw. zu vereinigen (statt ihnen sich lediglich heteronom hinzuzufügen oder sie "technisch" zu organisieren): Total nämlich ist die politische Einheit, so Schmitt 1933, weil "der Mensch in der politischen Teilnahme ganz und existenziell erfaßt wird. Die Politik ist das Schicksal" ( B d P I I I , S. 21). Scheinbar handelt es sich bei dieser Formel um eine besonders "totalitäre" Variante der politischen Theologie, die die politische Gemeinschaft vollständig nach dem Modell der Glaubensgemeinschaft modelliert. Stutzig macht allein der Adressat dieses politischen Totalismus: "der Mensch"! Dreimal nennt Schmitt in diesem Passus der 3. Ausgabe des Begriffs des Politischen von 1933 den Menschen als das eigentliche "Subjekt" des Politischen und bestätigt damit die These von Leo Strauss, der in Schmitts "Bejahung des Politischen als solchen" einen "Liberalismus mit umgekehrten Vorzeichen" 15 gesehen hatte. Daß der Mensch in der politischen Teilnahme ganz und existentiell "erfaßt" wird, heißt nämlich keineswegs, daß er lediglich Objekt einer besonders intensiven Unterjochung ist. Ganz im Gegenteil insistiert Schmitt darauf, daß es der "Mensch" ist, der in dem Konstitutionsprozeß der politischen Gemeinschaft die Initiative ergreift. So bestehe der wahre Sinn der Praxis des Eides, der von Schmitt als "guter Prüfstein des politischen Charakters einer Gemeinschaft" bezeichnet wird, darin, "daß ein Mensch sich ganz einsetzt, oder sich durch einen Treueschwur 'eidlich (und existenziell) verwandt' macht" ( B d P I I I , S. 22). Heinrich Meiers paradox anmutende These vom individualistischen Ausgangspunkt des Schmittschen politischen Totalismus16 verweist bereits darauf, daß es sich bei Schmitts Politischer Theologie nicht um den "ewigen Gegenspieler" einer ebenso invarianten Politischen Philosophie handelt, sondern daß eine bestimmte Diagnostik des Zeitalters Schmitts politische Theoriebildung bis ins Mark affiziert. Statt mit großformatigen Gattungsbegriffen (Politische Theologie/ Politische Philosophie) zu operieren, scheint es mir notwendig, das Problem zu rekonstruieren, als dessen Lösung sich Schmitts Werk präsentiert. Im Medium der Hobbes-Interpretation hat Schmitt ex post (1938) dieses Problem beschrieben, auf das er mit seinem Begriff des Politischen zuvor bereits reagiert hatte: Es handelt sich um das Problem der, mit Spinoza zu reden, politischen Herrschaft nicht nur über die Zungen, sondern auch über die Herzen in einem historischen Augenblick, in dem der Prozeß der "Privatisierung" des Glaubens irreversibel geworden ist:
15 Leo Strauss: "Anmerkungen zu Carl Schmitt 'Der Begriff des Politischen'", Archiv für schaften und Sozialpolitik, Bd. 67 (1932), S. 748. 16 Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts (FN 4), S. 62 f.
Sozialwissen-
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"Wenn aber wirklich die öffentliche Macht nur noch öffentlich sein will, wenn Staat und Bekenntnis den innerlichen Glauben ins Private abdrängen, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den 'geheimnisvollen Weg', der nach innen führt. Dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille. In dem Augenblick, in dem die Unterscheidung von Innen und Außen anerkannt wird, ist die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche und damit die des Privaten über das Öffentliche im Kern bereits entschiedene Sache." (L, S. 94)
Wenn also die Möglichkeit der Regression auf einen Zustand diesseits der Unterscheidung von "Innerlich" und "Äußerlich", von "Privat" und "Öffentlich" unmöglich ist, wenn der Weg zu einem "von Gott geschaffene[n] Gemeinwesen", also zu einer "präexistente[n], natürlichefn] Ordnung" (L, S. 51) definitiv verstellt ist, wenn die theologischen Codes in den religiösen Bürgerkriegen sich derart vermehrt haben, daß keine Hoffnung auf eine Restitution der Einen Kirche besteht: welche Kopplungsmöglichkeiten lassen sich dann zwischen "Staat" und "Seele" herstellen? Mit dem Begriff der Kopplung möchte ich einer Problematik Rechnung tragen, die in die politische Philosophie erstmals durch Spinoza eingeführt worden ist. Obwohl das Verhältnis von "Staat" und "Seele" als ein strikt äußerliches zu denken ist, ist es doch keineswegs ein Nicht-Verhältnis, mit anderen Worten: der Staat folgt der "Seele eines Volkes" auch noch auf ihrem "'geheimnisvollen Weg', der nach innen führt". Wenn der Staat das Volk erreichen will, ist er gezwungen, die Kanäle einer "Affekt-Kommunikation" zu benutzen, die auf - wie immer philosophisch raffinierte - religiöse Bewußtseinsformen zurückgreift. Étienne Balibar hat in diesem Zusammenhang zurecht davon gesprochen, daß das "Erbe der Theokratie" bei Spinoza von der Unmöglichkeit der modernen Gesellschaften zeugt, ganz ihre eigenen Zeitgenossen zu sein: der "innere 'Rückstand' oder Abstand, der nicht aufhört, sie zu erregen". 17 Obwohl, wie Spinoza im berühmten Schlußkapitel des TheologischPolitischen Traktats feststellt, "niemand die Freiheit, nach Willkür zu urteilen und zu denken, aufgeben kann, sondern ein jeder nach dem höchsten Recht der Natur Herr seiner Gedanken ist", 18 gilt doch andererseits, daß "auch die Herzen in gewisser Beziehung unter der Herrschaft der höchsten Gewalt [sind], da diese auf vielfaltige Weise bewirken kann, daß sehr viele Menschen glauben, lieben, hassen usw., was sie will". 19 Schmitts umgekehrter grand récit kann den Prozeß der Ausdifferenzierung von Innen und Außen nur als einen der Trennung, das heißt: des Auseinandertretens und Kontaktverlusts beider Seiten der Differenz denken. Aber Differenz ist eben "nicht nur als ein Trennprinzip zu sehen, sondern zugleich auch als ein Prinzip des Zusammenschließens des Unterschiedenen". 20 Freilich wird die durch die "Trennung" hindurch bewirkte neue "Einheit" von ganz anderer Art sein als jene, die Schmitt in seiner LeviathanStudie als "ursprüngliche" oder "natürliche" Einheit bezeichnet. Den Prozeß der Neutralisierung und Entpolitisierung, der in der "Systematik liberalen Denkens" (BdP, S. 70) 17 Étienne Balibar: Spinoza et la politique,
Paris 1985, S. 58.
18 Baruch de Spinoza: Theologisch-Politischer politicus, Kap. 20).
Traktat, Hamburg 1976, S. 300 (Tractatus
theologico-
19 Ebd., S. 250 (Kap. 17). 20 Niklas Luhmann: "Die Ausdifferenzierung der Religion", in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989, S. 265.
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seinen philosophischen Ausdruck findet, würde ich als Effekt einer Veränderung der Position der Individuen im Verhältnis zu den Codes, den "großen Formen" (PR, S. 19) beschreiben, die die "kulturelle" Einheit einer Gesellschaft, ihre Selbstrepräsentation festlegen. Genauer gesagt, verändert sich nicht nur die Position der Individuen zu den Codes, die Codes selbst, die Schrift, die die "Seele" bildet, transformiert ihre "repräsentative" Funktionslogik. Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari können wir davon sprechen, daß die kulturelle Repräsentation der politischen Einheit, das "geistige Prinzip der politischen Existenz" (VL, S. 212) durch eine strikt immanent operierende kulturelle Axiomatik ersetzt wird, die die archaische Funktion der Repräsentation mit den aktuellsten Techniken ihrer kommunikativen Herstellung kombiniert. Wodurch genau unterscheiden sich "Codes", die den Schmittschen "großen Formen" entsprechen, von den "Axiomatiken", die Schmitt metaphorisch als die "tausend Surrogate" (PR, S. 19) denunziert? Ich führe zur Erläuterung der für das weitere zentralen Unterscheidung folgende Definition von Deleuze und Guattari an: "Die Axiomatik betrifft unmittelbar rein funktionale Elemente und Beziehungen, deren Wesen nicht spezifiziert ist und die direkt in ganz unterschiedlichen Bereichen gleichzeitig realisiert werden. Codes dagegen verhalten sich relativ zu diesen Bereichen, sie bringen spezifische Beziehungen zwischen qualifizierten Elementen zum Ausdruck, die nur indirekt und durch Transzendenz auf eine höhere formale Einheit zurückgeführt werden können. "21
Es würde keine große Schwierigkeit bereiten, nachzuweisen, daß auf nahezu allen Ebenen des Schmittschen Diskurses diese Unterscheidung praktisch wirksam ist, ohne daß sie deshalb schon theoretisch begriffen wäre. Ich erinnere nur an das Problem der Schmittschen "Situationsjurisprudenz" - "Alles Recht ist 'Situationsrecht'" (PTh, S. 20)22 - , seine Reaktivierung von Positionen und Begriffen der "historischen Rechtsschule" von Savigny und seinen völkerrechtlichen "Kontextualismus". Auf der anderen Seite: seine durchgängige Abwehr des Gesetzes ("la loi tue") und des "Legalitätssystems". Stets geht es Schmitt darum, die alte Code-Funktion, wie sie exemplarisch dem Römischen Recht zukam, unter veränderten historischen Bedingungen neu zu beleben. Seine Universalität kann das Recht nur dadurch erlangen, daß es sich von den "konkreten Ordnungsfiguren" 23 und ihren Beziehungen, den "konkreten Rechtsbegriffen", die Schmitt zufolge die "Substanz" einer Institution ausmachen, vollständig löst. Statt 21 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus,
Berlin 1992, S. 630.
22 Vgl. auch den "Zuruf: Situationsjurisprudenz", den sich Schmitt in seiner "Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig (1932)" einhandelte (PB, S. 184). 23 Als Beispiele für solche "typische[n] Figuren" führt Schmitt unter anderem an: "den tapferen Soldaten, den pflichtbewußten Beamten, den anständigen Kameraden usw.", nicht ohne anzumerken, daß solche Figuren "vielfach die Kritik und den Spott normativistisch denkender Juristen [erregen]" (DA, S. 21). Deleuze und Guattari haben die Merkmale eines axiomatisierten Rechts, das nicht länger eine "Übercodierung von Bräuchen" oder eine "Zusammenstellung von Topiken" ist, am Beispiel des französischen Code civil analysiert, der - obwohl nominell noch Code, operativ längst Axiomatik ist (vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus [FN 21], S. 628). Für Schmitt verkörpert sich im modernen axiomatisierten Recht ein "Funktionalismus der Regelhaftigkeit" (DA, S. 20).
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die "substanzhafte Ordnung" der Institution zu respektieren, benutzt das moderne, axiomatisierte Recht im Gegenteil das institutionell vorgegebene Milieu als sein "Realisierungsmodell", 24 statt eine vorgegebene "Sittlichkeit" lediglich überzucodieren, interveniert das moderne Recht in die sozialen Felder, um sie zu transformieren. Schmitt hat in der Politischen Romantik mit seiner Unterscheidung von causa und occasio das Problem der Ablösung einer Kultur der Codes durch eine axiomatisierte Kultur reflektiert. Wir können sagen, daß Codes einem bestimmten Kausalitätsmodell verpflichtet sind, demzufolge die Wirkung immer in einer linearen und transparenten Beziehung zu einer Ursache steht, die die Wirkung bereits keimhaft enthält: Zwischen Ursache und Wirkung gibt es sozusagen einen vorgezeichneten Weg, der keine Abweichung erlaubt. Schmitt weist daher nicht zufallig auf den moralischen Aspekt der causa hin, der von ihrem theoretischen Wert untrennbar ist. Im Unterschied zur causa verweist die occasio auf einen Typ der Verknüpfung von Elementen, die nicht in einem Verhältnis der Homologie zueinander stehen und deren Wirkung daher auch nicht im selben Sinne "berechenbar" ist wie im Falle des teleologisch strukturierten Kausalitätsmodells. Die occasionell operierenden Axiomatiken bewegen sich gleichsam auf einer Ebene zweiter Ordnung: Sie dequalifizieren die Elemente, um Beziehungen zwischen ihnen herstellen zu können, die vom konkreten Eigensinn der Elemente vollkommen abstrahieren. Die occasionelle Welt ist eine "Welt ohne Substanz" (PR, S. 25), die variable Beziehungen zwischen rein funktionalen Elementen stiftet. Obwohl Schmitt sich zur occasionellen Struktur des Romantischen durchgängig polemisch verhält und sie auch moralisch zu diskreditieren sucht, gelangt er doch zu Formulierungen, die Einblicke in die spezifische Funktionsweise des Occasionellen erlauben. Ein "auflösender Begriff" (PR, S. 22) ist die occasio nämlich nur in ihrer Beziehung zur klassischen causa. Sie bricht mit der Fiktion einer wie auch immer gearteten Adäquation zwischen Ursache und Wirkung, um an ihrer Stelle eine neue Relation zu stiften: die "Relation des Phantastischen" (PR, S. 121). Schmitt läßt nun von Anfang an keinen Zweifel daran, daß sich diese neuartige "Relation des Phantastischen" nicht auf die (phantastische) Literatur begrenzen läßt: Obwohl sie in einem bestimmten Verhältnis zu einer künstlerischen Revolution, nämlich der romantischen, steht, überschreitet sie doch deren Feld und durchdringt die gesamte Gesellschaft, ja die ganze "Welt", die sich dem Beobachter jetzt als eine "von der magischen Hand des Zufalls" geleitete (PR, S. 25) präsentiert. Unter dem Stichwort der "Expansion des Ästhetischen" analysiert Schmitt sehr genau die Konsequenzen der Logik des Occasionellen für die kulturelle Reproduktion: Die Kultur wird nicht mehr von der Politik "geführt", sie büßt ihre Fähigkeit zur "großen Form" bzw. zur "Repräsentation" ein, um eine ganz anders geartete, gefährlichere Kapazität zu gewinnen: die Verwandlung der Tiefen-Ursachen in reine Oberflächen-Effekte. Schmitt möchte das Spiel der kulturellen Differenzen wieder an die substantiellen Ursachen zurückbinden, er möchte verhindern, daß der Sinn an die Oberfläche steigt25 und seinen vermeintlich unverspielbaren Ernst, seine "Tragik" verliert. Schmitt hat die ungeahnten Freiheitsgrade einer 24 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus (FN 21), S. 630. 25 Vgl. dazu Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a.M. 1993.
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decodierten - nicht länger im Banne "substantieller" Begriffe und Unterscheidungen operierenden - Kultur genau wahrgenommen und erkannt, daß die Politik im Zeitalter einer solchen, "axiomatisierten" Kultur nicht nur ihre Fähigkeit zur Repräsentation verliert, sondern die Repräsentation selbst, die "Selbstwahrnehmung" der Gesellschaft auf eine neue, differentielle Grundlage gestellt wird. Daß, wie Schmitt in der Politischen Romantik schreibt, "alle sachlichen Gegensätze und Unterschiede, Gut und Böse, Freund und Feind, Christ und Antichrist, zu ästhetischen Kontrasten und zu Mitteln der Intrige eines Romans werden [können]" (PR, S. 21), stellt erst in dem historischen Augenblick ein Problem dar, in dem das Ästhetische sich nicht länger in einem bestimmten sozialen Feld (dem System der Künste) "einhegen" läßt. Mit der Ausdifferenzierung des modernen Presse- und Mediensystems wird das Ästhetische gleichsam mit der Gesellschaft koextensiv - "Die neue Kunst ist eine Kunst ohne Werke" (PR, S. 20) - , genauer: auch die politische Subjektivierung kommt nach dem Muster der Identifikation durch literarische Lektüre bzw. allgemeiner: durch ästhetische Kommunikation zustande. Schmitts durchgängiger "Ekel" vor der bloßen "Interessantheit", die den vom Politischen geforderten existentiellen Ernst unterläuft, registriert sehr genau die unter den Bedingungen einer axiomatisierten Kultur vollständig veränderte Position des Subjekts zu den Codefragmenten, in die die moderne publizistische Öffentlichkeit die "große Form" der Repräsentation zerfallt hat. Deleuze und Guattari verwenden für diese Subjektposition den Begriff der Applikation - das Verhältnis von Subjekt und Codefragmenten funktioniert wie das zwischen Publikum und Kunstwerk: Der zersplitterte Code kreist um das Subjekt, während die vor-axiomatische Kultur eine Beziehung der Implikation zwischen Code und Subjekt herstellte also jenen von Schmitt so genannten Zustand der "natürlichen Einheit", der keinen Riß zwischen "Äußerlichem" und "Innerlichem" kannte.
IV. Auflösungen: von den Codes zur axiomatischen Kultur Schmitt hat den "bellizistischen" Charakter seines "Kriteriums" des Politischen zwar heftig abgestritten, aber die Unterscheidung von Freund und Feind ist nun einmal die operative Leitdifferenz der Militärs. Ich glaube, daß es bestimmte Erfahrungen mit der Verfassung des zeitgenössischen "ZivilVerstandes", genauer: der Kommunikations- und Wissensordnungen und ihrer spezifischen Differenzierungslogik gewesen sind, die Schmitt an eben diesem Zivilverstand verzweifeln ließen. Im von Schmitt so genannten "Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" schien allein noch eine am Militärischen abgelesene Logik die Gewähr einer anderen als der kulturell vorherrschend gewordenen Handhabung von Unterscheidungen zu bieten: Feindschaft mußte ihm als die besondere Sorte von "existenziellen" Unterscheidungen erscheinen, die sich dauerhaft den neuen kulturellen Verfahren des Ausgleichs und der ästhetischen Kontrastbildung entziehen. In Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften begegnet dem Leser ein General, der bei seinem Versuch, "Ordnung in den Zivilverstand zu bringen", bestimmte Erfahrungen mit der modernen Kultur bzw. dem, was er den "mitteleuropäischen
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Ideenvorrat" nennt, macht, die man vielleicht so zusammenfassen könnte: Die wissenschaftliche Arbeit der Klassifikation und Systematisierung - dem General ist es um nichts geringeres als um die Erstellung des "Grundbuchsblatt der modernen Kultur"26 zu tun - stößt auf einen Gegenstand, dessen Konsistenz für einen solchen Zugriff einfach zu schwach ist, weil dieser Gegenstand eigentlich nur im Prozeß fortgesetzter Differenzierung und Synthetisierung, im Prozeß der laufenden Umgruppierung existiert. Der Grund für die "Enttäuschung" des Generals liegt in der neuen, produktiven Funktion des Widerspruchs für die Integration, die "Einheit" des kulturellen Feldes, auf die die Logik seines Rekonstruktionsversuchs nicht eingestellt war. Der General, so lesen wir, "hatte nach vollzogener Bestandsaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats nicht nur zu seinem Bedauern festgestellt, daß er aus lauter Gegensätzen bestehe, sondern auch zu seinem Erstaunen gefunden, daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen". 27 "Ein radikaler Dualismus herrscht wirklich auf jedem Gebiet der gegenwärtigen Epoche", stellt Schmitt in seinem Essay Römischer Katholizismus und politische Form fest. Das Bedürfnis nach einer "Synthese", das sich in einer ungeahnten "geistigen Promiskuität" (RK, S. 12) erfülle, reagiere auf eine "gegebene Spaltung und Entzweiung, eine Antithetik", auf einen "Zustand problematischer Zerrissenheit und tiefster Unentschiedenheit, dem keine andere Entwicklung möglich ist, als sich selbst zu negieren, um, negierend, zu Positionen zu gelangen" (RK, S. 13 f.). Aber genau auf eine solche dialektische Lösung der Entzweiung vertraut Schmitt nicht, wie der Begriff der Repräsentation, auf den er sich versteift, zeigt. Der sich selbst negierende Zustand würde nur die Palette der Antithesen um eine weitere bereichern. Aus der Immanenz ist niemals das Heil zu erwarten, denn, um Paul Valéry zu zitieren: Die Ideen "existieren nebeneinander, ohne irgendeinen Furor außer dem längst bekannten. Die einstigen Widersprüche zwischen ihnen gehören jetzt zu ihrer Gesamtkonservierung - Der Austausch antinomischer Sätze ist zu einer Dauereinrichtung geworden". 28 Keine Negation hat mehr die Kraft, aus sich selbst heraus zu einer Position zu gelangen, die den Horizont des Negierten überschritte. Und doch sieht sich gerade Carl Schmitt bei aller kulturkritischen Polemik gegen die zeitgenössische Zerrissenheit und Entzweiung genötigt, den umläufigen Antithesen mit einer - souveränen - Negation zu begegnen: repräsentiert werden kann die moderne, wissenschaftlich-technisch zentrierte Gesellschaft nur noch gegen sich selbst. Die Freund-Feind-Unterscheidung hat nach Schmitts eigenen Angaben den Sinn, "den äußersten Intensitätsgrad" (BdP, S. 27) einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen, der sich dem "interessanten" Spiel der Differenzen und ihren wechselseitigen Bezugnahmen aufeinander dauerhaft zu entziehen vermag. Wenn man, wie im Falle Carl Schmitts ("geistige Promiskuität") oder Ernst Blochs ("entropische Erkaltung"), bereits in den Texten von bedeutenden Autoren der Zwischenkriegszeit auf ein wie immer symbolisch artikuliertes Wissen trifft, daß die eigent-
26 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften,
Reinbek 1992, S. 372.
27 Ebd., S. 373. 28 Paul Valéry: Cahiers, Hefte 2, Frankfurt a.M. 1988, S. 91.
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liehe Problematik der zeitgenössischen Kultur in - ich zitiere noch einmal Musil "irgendeinefr] neue[n], nicht zu beschreibende[n] Fähigkeit, sich zu versippen",29 besteht,30 kann die Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse nur darin liegen, für diesen kulturellen Versippungseffekt dennoch eine Beschreibungssprache zu entwickeln, eine Beschreibungssprache, die nicht die kulturkritischen Stereotypen wiederholt,31 mit denen die Kultur selbst auf ihre eigene Transformation reagiert. Eine Kultur im Zustand ihrer Axiomatisierung, die ohne eine "kollektive Besetzung" der Körper und Organe auskommt, das heißt: die von einer Implikation der Individuen in die repräsentativen Codes absieht, verlangt von der sie beschreibenden Theorie eine Revision der traditionellen Auffassung gesellschaftlicher Integration. Es kann nicht länger als ausgemacht gelten, daß hochdifferenzierte Gesellschaften buchstäblich auseinanderfallen, wenn ihr Differenzierungspotential nicht durch ein gegenläufiges Prinzip gesellschaftlicher Einheit, durch irgendeine Form von "Konsens", von "Zivilreligion", von "Verfassungspatriotismus" oder von wie immer pluralistisch gemilderter "Homogenität" gebremst wird. In Wahrheit begegnet die Kultur bereits sich selbst auf der Ebene ihrer elementaren Operationen - nicht zu verwechseln mit den Bewußtseinszuständen bzw. der "Gesinnung" der den Kulturbereich bevölkernden Akteure - nicht mehr mit dem "Respekt", den die Subjekte ihr angeblich schuldig sein sollen. Selbst das Minimum an Gedächtnis, über das der einzelne Mensch verfügen muß, um seinem Leben Konsistenz zu verleihen, bringt die Kultur nicht auf, die anschließen läßt, was immer anschließbar ist. "Gedächtnis ist zu einer schlechten Sache geworden. Vor allem bedarf es keines Glaubens mehr"32 - auch nicht in einer säkularisiert-laizistischen Variante. In einem gewissen Sinne ist das Zeitalter der Ideologien tatsächlich an sein Ende gekommen - und gerade die Zwischenkriegszeit mit ihrer hektischen Aktivierung "alter" Ideologien und der Komposition artifizieller Ideologeme hat diesen Zerfallsprozeß des Ideologischen beschleunigt. Der Aggregatzustand des Ideologischen und seine Funktionslogik haben sich dann mit dem Übergang zu den modernen "Kontrollgesellschaften" der Nachkriegszeit endgültig transformiert.33 Nichts wäre also einfältiger, als im radikal-respektlosen Um-
29 Robert Musil: Mann ohne Eigenschaften
(FN 26), S. 58.
30 "Sie [die Kultur] anerkennt nach einigem Widerstand jede Idee, aber das kommt dann von selbst auch deren Gegenidee zugute." (Ebd., S. 521) 31 Und seien sie auch noch so elaboriert, wie etwa bei Bloch, der die Symbolik der Apokalypse mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik mischt (Ernst Bloch: Geist der Utopie, Frankfurt a.M. 1973, S. 337). 32 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus
(FN 10), S. 322 f.
33 Man könnte in diesem Zusammenhang von einem regelrechten ideological engineerung oder auch einer "Ideologieplanung" sprechen, sollte aber diese Begriffe tunlichst nicht mit der traditionellen Frage nach dem "Subjekt" solcher Planung befrachten: Es ist hier wie auch sonst zuallerletzt der Staat, der plant. Deleuze und Guattari haben die neuen "Kanäle" angedeutet, über die die zeitgenössische, hochgradig differenzierte Praxis ideologischer Anrufung läuft: "In letzter Zeit ist darauf hingewiesen worden, daß die moderne Machtausübung sich nicht auf die klassische Alternative 'Repression oder Ideologie' reduzieren läßt, sondern Vorgänge wie Normierung, Modulation, Modellierung und Information einschließt, die sich auf Sprache, Wahrnehmung, Begehren, Bewegung etc. beziehen und über Mikrogefüge laufen." (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus [FN 21], S. 635)
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gang mit dem Arsenal der überlieferten symbolischen Formen und im "symbolischen Bürgerkrieg" der Intellektuellen bereits einen Hinweis auf "gefährliche" Denormalisierungsschübe im kulturellen Sektor zu sehen, die sich früher oder später auch politisch auswirken (das Thema des "philosophischen Extremismus"). Polemik und intellektueller Krieg, entschiedener Widerspruch und "Antitypik" beschreiben lediglich in moralischen oder logischen Begriffen jenen normalisierenden "Verteilungsvorgang", von dem jede Idee, die ein Mann in die Welt setzt, ergriffen wird: "Zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge. 1,34
Auch die Kultur reproduziert sich ereignishaft, ihre Elemente (Ideen, Gedanken, Begriffe etc.) sind, mit einer Formulierung Niklas Luhmanns "auf ständigen Zerfall angewiesen": Die laufende Desintegration, die der von Musil beschriebene "Verteilungsvorgang" bewirkt, schafft "Platz und Bedarf für Nachfolgeelemente" und "stellt außerdem frei verfügbare Materialien bereit, die sich aus dem Zerfall ergeben". 35 Statt den "Widerspruch", die delirante "Antitypik" und den dazu passenden "Grüppchenkollektivismus" als ein Krisenphänomen zu beargwöhnen, sollte man sie als Formen einer Kultur begreifen lernen, deren Elemente sich nicht mehr durch bloße "Wiederholung" verstärken bzw. in ihrer semantischen Form konstant halten lassen: "Sie sind von vornherein darauf angelegt, daß etwas anderes anschließt" 36 und bringen den Widerspruch daher in die Form einer disjunktiven Synthese. Man kann die Zwischenkriegszeit geradezu definieren, als jene kulturelle Passage, in der die bereits in ihren elementaren Vollzügen vollständig axiomatisierte Kultur von den - vielfältigen! - Projekten einer Vereinigung der CodeFragmente zu einer neuen, jeder "geistigen" Relativierung entzogenen kulturellen Totalität überlagert wurden. Besonders in Carl Schmitts frühen literarischen Versuchen aus der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs kann man zahlreiche Spuren einer Auseinandersetzung mit dem im Zuge der Durchsetzung "historistischer" Positionen allgemein diagnostizierten und beklagten Werterelativismus finden, der bei Schmitt zwar den "Gebildeten" moralisch zugerechnet wird, in Wahrheit aber auf die Emergenz eines neuen Modus kultureller Reproduktion verweist. Nicht nur Uferaufsichtsbeamte und Angler begegnen jenen beiden Leichen, die in Schmitts Schattenrissen den Rhein hinunterschwimmen: "Endlich stürzte bei Vallendar eine großen Wagenfuhre Maßstäbe in den Rhein, und die Maßstäbe trieben stromabwärts." (SR, S. 33) Das "Genie" Eberhardt Niegeburths würdigt der Satiriker Schmitt mit der folgenden emblematischen Szene: "Mit der einen Hand dichtete er lyrische Gedichte, kurzatmig genug, um selbst von einem Gebildeten verstanden zu werden, mit
34 Robert Musil: Mann ohne Eigenschaften
(FN 26), S. 379 f.
35 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen 36 Ebd., S. 77.
Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 78.
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der anderen versenkte er sich tief in die idyllischen Seligkeiten des Darwinismus." (SR, S. 37) Wie ein roter Faden zieht sich die Polemik gegen die vollständige Dequalifizierung und kombinatorische Flexibilisierung aller kulturellen Ereignisse durch die Schattenrisse. Eine Maschine unbegrenzter semantischer Synthetisierung dynamisiert die "kulturelle Ordnung" in einem solchen Maße, daß jeder Versuch einer substantiellen Fundierung dieser Ordnung in transkulturellen "Werten" oder "Ideen" unweigerlich in eine neue Reproduktionsschleife dieser Ordnung mündet. Von einem Buchtitel Niegeburths heißt es, daß er "die großartige Synthese modernen Mystizismus und urgesunder Heimatkunst an[deutet]. Denn auch Eberhardt Niegeburth bejahte alles, was ihm vor die Füße lief, er war ein Allgutheißer, auf denkerischem Gebiete ein großartiger Verneiner, und da er ein echt moderner Mensch war, so umfaßte das Harmonium seiner Gefühle sämtliche Register von Bourdon 16' bis Oboe 4' gedeckt, d.h. also vom Pithekanthropen bis Thomas Mann erectus. Denn der moderne Mensch ist der Kulminationspunkt der Entwicklung, und die differenzierte Reizsamkeit seiner Psyche ermöglicht es ihm, sich in die Seelen sämtlicher Kulturen einzufühlen und ihnen zu beweisen, daß er mehr kann, als sie alle zusammen. Da er außerdem noch Luftschiffe baut und Wasserklosette anlegt, so wird man gut daran tun, seine tausend Seelen, die sich zudem durch Teilung und Spezialisierung vermehren, nach den Prinzipien moderner Arbeitsorganisation sparsam, unter Ausnutzung jeder Kraft und Vermeidung unzuträglicher Friktionen, funktionieren zu lassen." (SR, S. 38 f.)
Die "Prinzipien moderner Arbeitsorganisation", von denen Schmitt metaphorisch spricht, verweisen exakt auf jene Axiomatiken, die eine vollständig flexibilisierte, an keine "metaphysische" Ordnung mehr rückzubindende Kultur daran hindern, daß sie gleichsam "explodiert". Die "tausend Seelen, die sich zudem durch Teilung und Spezialisierung vermehren" beschreiben den Effekt einer unabschließbaren Decodierung der Kultur, die zur Weltkultur wird, aber nichtsdestotrotz an bestimmte Funktionsanforderungen der (Welt-)Gesellschaft und ihrer nationalen Filialen gebunden bleibt. Es ist genau die Funktion der Axiomatiken, diesen Bezug der Kultur zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt zu gewährleisten. Das bewerkstelligt sie allerdings nicht mehr über eine Strategie der kulturellen Anpassung an gesellschaftliche Imperative (diese Strategie bezeichnet genau die Vorgehensweise der Codes), sondern nur durch Verfahren funktionaler Kopplung zwischen kulturellen bzw. semantischen und gesellschaftlichen Reproduktionszyklen. Die "Konsenserzeugung" wird sozusagen von allen "inhaltlichen" Überzeugungen unabhängig, denn die Axiomatiken bringen keine "spezifische[n] Beziehungen zwischen qualifizierten Elementen zum Ausdruck", sondern betreffen "rein funktionale Elemente und Beziehungen, deren Wesen nicht spezifiziert ist". Die Axiomatiken organisieren ein Raster, das eine Situierung möglicher kultureller Positionen in ihrem Verhältnis zur "Normalität", zum durchschnittlich Akzeptierten erlaubt. 37 Schmitt hat auf die Forma37 Einer Normalität, die also ihrerseits wiederum funktional und dynamisch, nämlich auf dem Wege symbolischer Durchschnittsbildung zustandekommt, indem sie das Verfahren der statistischen Durchschnittsbildung in die Praxis des "gehegten Pluralismus" übersetzt. Jürgen Link hat in diesem Zusammenhang auf die "fundamentale normal istische Funktion" der Massenmedien hingewiesen, die "'offene Debatten' innerhalb eines 'normalen' Meinungsspektrums organisieren und ausstrahlen, wodurch symbolisch die 'Mitte' und die 'Extreme' (Normalitätsgrenzen) dieses Spektrums markiert (und häufig erst mit etabliert) werden". Link weist auf die für die Beurteilung der frühen literarischen
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tion dieser neuen Normalitäts-Kultur mit der in den Schattenrissen hochrekurrenten satirischen Formel des "Gemeinguts aller Gebildeten" angespielt - das Gemeingut aller Gebildeten ist aber in Wahrheit das Gemeingut aller, jedenfalls sofern sie die elementaren Kulturtechniken beherrschen und damit an den Praktiken elementarer gesellschaftlicher Sinnproduktion teilnehmen können. 38 Alle Leitkonzepte des Bildungsidealismus, vorab dasjenige der Genialität, erfahren unter den Bedingungen der neuen axiomatisierten Kultur eine regelrechte Perversion: Die Genialität, Ausdruck einer per definitionem seltenen Qualität, liiert sich, wie es später Musil im Mann ohne Eigenschaften konstatieren wird, mit den Mächten der Quantifizierung und Trivialisierung: "[...] ein Schattenriß ist nicht so leicht, und ohne Genialität läßt sich wohl einer, lassen sich aber nicht 12 oder 50 schreiben." (SR, S. 26) Die Normalitäts-Kultur ist, wie bereits angedeutet, vor allem durch eine vollkommen neue Position des Subjekts im Verhältnis zur kulturellen Tradition definiert, die wir mit Gilles Deleuze und Félix Guattari als die einer Code-Applikation (statt der vormaligen Code-Implikation) definieren können. Die Spezifik dieser Position wurde bislang unter dem fortwährenden Einfluß bestimmter philosophischer Begriffe, die ihrerseits zur Tradition gehören, allzu leichtfertig als eine kritische beschrieben, obwohl doch die partikulare Rolle des Individuums im kulturellen System alles andere als der Effekt einer freien, vernunftbestimmten Wahl des sich zu sich selbst befreienden Individuums ist. "Unsere Zeit ist keine individualistische" (WS, S. 6), hatte Schmitt bereits 1914 in seiner Schrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen notiert und mit Hinweis auf die "Lebemännerbreviere und Digesten des guten Geschmacks" hinzugesetzt: "Keine Zeit hat ein solches Bedürfnis nach Kodifikationen und Subsumtionen gehabt. " (WS, S. 5 - m.H.) Man muß die partikulare Rolle des Individuums zu den Codefragmenten, deren différentielles Verhältnis den kulturellen Raum nach dem Zerfall der "großen Form" konstituiert, als eine determinierte Subjektposition begreifen, die mit zu den Funktionsbedingungen der neuen kulturellen Ordnung gehört. In den Schattenrissen hat Schmitt diese Subjektposition, der sich auch die "großen Männer", die "genialen Künstler" nicht entziehen können, mit den Mitteln der satirischen Introspektion beschrieben. Dabei bestätigt er, daß es unter den Bedingungen einer axiomatisierten Kultur in der Tat "nicht mehr der kollektiven Besetzung der Organe" bedarf, da sie "von den wechselnden Bildern, die der Kapitalismus unaufhörlich produziert, ersetzt [werden]". 39 Im Unterschied zu den Codes, die den Menschen ein - kollektives - Gedächtnis erstellten, finden
Schriften Schmitts wichtige Studie Marc Angenots (Un état du discours social) hin, die zeigt, "daß die Massenpresse der Belle Époque (trotz ihrer vorgeblich 'antagonistischen' Positionen) funktional bereits so etwas wie ein 'Schüttelsieb' darstellte, in dem die Ereignisse und Optionen durch verschiedene 'Positionen' geschüttelt und dadurch ver-durchschnittlicht wurden" (Jürgen Link: "Von Karl Kraus zu Rainald Goetz: Zwei Stadien der Medienkritik - Zwei Stadien des Normalismus?", in: Friedrich Balke u. Benno Wagner [Hg.]: Faszination Weimar. Dimensionen eines historischen Vergleichs, im Erscheinen, [MS, S. 5]) 38 Ein Gebildeter in axiomatisch-dequalifizierender Perspektive ist jeder, "der der allgemeinen Schulpflicht nicht entgangen ist - und wir haben in Deutschland höchstens 130 Analphabeten und nicht viel mehr Anabiturienten" (SR, S. 26). 39 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus
(FN 10), S. 323.
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Friedrich Balke
die Axiomatiken "ihre eigenen Exekutions-, Wahrnehmungs- und Gedächtnisorgane in ihren unterschiedlichen Aspekten selbst vor" ,40 Das heißt aber: die Strategie der axiomatisierten Kultur ersetzt den Zustand dauerhafter, fixer Identifizierung der Individuen mit bestimmten "Weiten" durch das Gesetz der radikalen Vergleichzeitigung aller kommunikativen Ereignisse, ihrer mindestens virtuellen Kopräsenz. Statt durch Identifizierung stabilisiert sie sich durch Temporalisierung. Psychisch kann diese Umstellung des kulturellen Reproduktionsmodus dann so erlebt werden, wie es Schmitt in den Schattenrissen am Beispiel des großen Künstlers Herbert Eulenberg - Motto: "Immer genial, wenn's auch schwer wird!" (SR, 24) - demonstriert, dessen Geist, "vielleicht der beweglichste der Welt", niemals ruht, auch nicht beim morgendlichen Rasieren: "So schoß es durch sein Gehirn: Abtreibung und Ehebruch, Schattenbild und Festreden, Dramen, bitte sehr, Dramen! Was ein richtiges Drama ist, will überlegt sein. Sodann schössen durch sein Gehirn: zwei Gemälde, mehrere Sonntagspredigten, vier Wanderbücher und etwa 25 geniale Menschen der Vergangenheit, an denen er seinen Schnabel noch nicht gewetzt hatte. Das schoß nur so." (SR, S. 25)
Das schoß nur so ist offenbar die Signatur derjenigen kulturellen Ordnung, deren "selbstreferentieller", "autistischer" Reproduktionsmodus - die Kultur kommt so als ein neuer "Autokomposit" in den Blick, der allerdings von keinem Menschen, auch nicht von einem "Neuen Menschen", in Funktion gehalten wird (PTh II, S. 125) - Schmitt als den eigentlichen, historisch datierbaren challenge seiner politischen Theoriebildung verstanden hat: "Jede Antwort erhält ihren Sinn durch die Frage, auf die sie antwortet und bleibt sinnlos für jeden, der die Frage nicht kennt. Der Sinn der Frage wiederum liegt in der konkreten Situation, in der sie sich erhebt." 41 Man muß die von Schmitt so geschätzte Challenge-Response-Struktur nur der theologischen Interpretation entwinden, die Schmitt ihr angedeihen läßt, man muß sie sozusagen konsequent positivieren, um ein brauchbares Instrument für die Analyse jenes Antriebs der Schmittschen Produktivität zu erhalten, der außerhalb des "Zentrums seiner Existenz" zu situieren ist. Die Politische Theologie ist nicht die Frage, sondern bereits die Antwort, die Schmitt auf eine Frage, einen historischen "Anruf" gibt, den er zwar in die Sprache der Politischen Theologie übersetzt, dessen Positivität oder, wenn man so will, dessen Materialität sich aber im Akt dieser Übersetzung nahezu vollständig verflüchtigt.
40 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus
(FN 10), S. 322.
41 Carl Schmitt: "Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift 'Der Gordische Knoten'", in: Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1955, S. 151.
Andreas Göbel
Paradigmatische Erschöpfung Wissenssoziologische Bemerkungen zum Fall Carl Schmitts
I. Die Schmittsche Diagnose vom Ende der "Epoche der Staatlichkeit" ist, expressis verbis im 1963 geschriebenen Vorwort zum Begriff des Politischen formuliert, vielfaltigen Revisionen und Fortschreibungen unterzogen worden. Auf einem staats(rechts)theoretischen Niveau v.a. vom prominenten Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff fortgeführt und im Hinblick auf den Staat der Industriegesellschaft mit dem Titel Bundesrepublik Deutschland verfeinert,1 gewinnt sie ihre Spezifik doch fraglos nur auf dem Boden der Weimarer Staatsrechtsdiskussion und läßt sich, so die gegenläufige Vermutung, aufgrund dieser Kontextualität nicht bruchlos in soziologisch verfeinerte und für die heutige politische Situation tragfähige Thesen transformieren. Auf einer banal-empirischen Ebene zumindest ist die Rede von "Staaten" auch weiterhin kommunikativ gängige Praxis; schon deshalb müssen sich Versuche, die Schmittsche Theorie unter wohlfahrtsstaatlichen und weltgesellschaftlichen Vorzeichen fortzuschreiben, die Frage gefallen lassen, ob zentrale Implikate dessen, was Schmitt unter "Staatlichkeit" versteht, nicht, statt ihre analytischen Grenzen zu markieren, lediglich normativistisch hochgehalten werden. Um die gegenwärtige politische Realität begrifflich zu fassen, sie in ihrer Differenz zur Weise des Schmittschen (und also traditionellen) Wortgebrauchs zu beobachten, hilft der Rekurs auf das Schmittsche œuvre als eines Analyserasters offenbar nicht oder zumindest nur suggestiv weiter. Natürlich behauptet Schmitt nicht einfach, es gäbe keine Staaten. Was nicht mehr gelingt, ist die Identifikation der "Begriffe Staatlich und Politisch"} Dies ist nur plausibel. Gleichwohl liegt in der Rede vom Ende der Staatlichkeit eine Ambivalenz, die sich nicht restlos auflösen läßt mit dem Argument, es gehe lediglich um den Staat in seiner Funktion als "Modell der politischen Einheit", 3 nicht um Staaten überhaupt. Und wichtiger noch: Selbst in dem Moment, als Schmitt den Rückgriff auf den Begriff des Staates für kein geeignetes Medium mehr hält, um sich des Zentrums des Politischen zu versichern, einen neuen Begriff desselben kreiert und ihn dem Begriff des Staates vorord-
1
Vgl. hierzu den Beitrag von Horst Firsching in diesem Band.
2
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Berlin 1963, S. 10; Hervorhebung von mir.
3
Ebd.
Corollarien,
268
Andreas Göbel
net, bleibt die ebenso zentrale Implikation des alten Staatsbegriffs in seiner Relation zur Sphäre der Gesellschaft ungemildert erhalten. Diese Implikation zehrt von der unaufgegebenen Suggestion, mit dem Rekurs auf den Staat ließe sich die zentrale Synthetisierungs- und Homogenisierungsinstanz einer heterogen strukturierten Gesellschaft angeben. Projiziert man das Schmittsche œuvre getrennt auf beide Fragen, die Suche nach einem Modell politischer Einheit wie die Angabe einer repräsentativen Instanz gesellschaftlicher Einheit, läßt sich, so scheint mir, zeigen, daß Schmitt - und hier in der Tat zeigt sich, wie sehr die Einheitssemantik das Zentrum seiner Schriften markiert - an einer doppelten Problemstellung laboriert, für deren différentielle Wahrnehmung ihm freilich die begrifflichen Mittel fehlen. Beide Fragestellungen nimmt Schmitt nicht getrennt wahr, und das liegt maßgeblich daran, daß er den Denk(möglichkeits)horizont der alten Differenz von Staat und Gesellschaft nicht transzendiert. Erst durch die spezifizierte Frage nach den Referenten des Einheitsdesiderats werden Alternativen zum Schmittschen Ansatz plausibel.4 Um beide Einheitsvorstellungen getrennt beobachten zu können, sind freilich andere Unterscheidungen vonnöten als diejenigen, mit denen Schmitt operiert. Auf der Suche nach den blinden Flecken seines Diskurses verbieten sich alle Akte der Nachschreibung. Das im folgenden und hierzu bemühte theoretische Raster speist sich maßgeblich aus systemtheoretischen Überlegungen zur Konstitution des politischen Subsystems einer funktional differenzierten Gesellschaft. Auf ihren Grundlagen wird eine alternative Konzeption der Relation von Staat und Gesellschaft plausibel, mit deren Hilfe die typischen und durchgängigen Überspanntheiten Schmitts rekonstruierbar werden. Der beobachtungsleitende Gesichtspunkt wird sich dabei der Frage widmen, ob Schmitt tatsächlich, wie seine Selbstbeschreibungen und Autokommentare unterstellen, das Paradigma der Staatlichkeit als Kristallisationskern einer Selbstbeschreibung des politischen Systems verabschiedet hat, oder ob sich nicht vielmehr in die daran anschließenden Ausarbeitungen zum Begriff des Politischen, wie auch in den späteren Reflexionen zum Partisanen, zur Einheit der Welt, zur völkerrechtlichen Großraumordnung nach dem Ende des jus publicum europaeum usf. Implikationen einschleichen, die weiterhin der alten, suggestiv aufgegebenen Differenz von Staat und Gesellschaft entlehnt und geschuldet sind. Es gilt zu zeigen, daß Schmitt sich in genau diesem Zusammenhang bewegt: eine Fortschreibung des Paradigmas im Zustand erkannter paradigmatischer Erschöpfung.5 Ich will im folgenden zunächst die notwendigen systemtheoretischen essentials benennen (III), um auf ihrer Grundlage die Schmittschen Kardinalargumente zu rekonstruieren
4
Vgl. für einen affinen Problemansatz den Beitrag von Marcus Llanque in diesem Band.
5
Insofern kann der Titel auch gelesen werden als Gegenthese zu Gary Ulmens Versuch, Schmitts "Theorie und Praxis [ . . . ] im Sinne dessen" zu verstehen, "was Kuhn einen 'Paradigmenwechsel' nennt" (vgl. Gary Ulmen: Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991, S. 14). Namentlich die These, Schmitts Schriften trügen "den Stempel der Krise, weil sie Antworten auf das Ende eines und den Übergang zu einem anderen Paradigma sind" (ebd.), muß mindestens spezifiziert werden: Krise ja, Übergang nein. Wie, um nur dies Beispiel vorab zu geben, könnte Schmitt die politische Figuration des 20. Jahrhunderts als "Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" beobachten, wenn nicht auf der ungebrochenen Basis einer alten Leitunterscheidung?
Paradigmatische
Erschöpfung
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(IV, V). Der neue "Begriff des Politischen", den Schmitt in Reaktion auf die diagnostizierte Krise der Staatlichkeit entwirft, bietet freilich keine Alternative, sondern eine Fortschreibung (VI), und auch die späteren Rekurse auf den neuen Nomos der Erde, auf den Partisanen und auf die Einheit der Welt zehren noch von den Leitideen dessen, was krisisförmig verabschiedet werden soll (VII). Ein kurzer vorgeschalteter Ausflug in die Grundannahmen klassischer wissenssoziologischer Theoriebildung (II) soll die ergänzende These vorbereiten, daß Schmitt, weil er im Prinzip den Verlust der Steuerungs- und Synthetisierungsfunktion des politischen Systems für das Gesellschaftssystem wahrnimmt, sie aber zugleich beharrlich aufrechterhalten bzw. wiedergewinnen möchte, als Modernisierungskritiker gelesen werden muß.
II. Die Wissenssoziologie in der Tradition Karl Mannheims startet mit der Vermutung einer Korrelation zwischen "Wissensarten, Wissensgehalten und bestimmten tragenden sozialen Gruppen und sozialen Prozessen", 6 erweitert freilich diesen Rekurs auf die genetische Relevanz des Entstehungszusammenhangs von (gesellschaftlich produziertem) Wissen um die Zusatzannahme, diese Korrelation müsse sich auch noologisch, in der Aspektstruktur des Wissens, also bis in die thematische und argumentative Figuration von Texten hinein nachweisen lassen. 7 Dezidiert führt Mannheim als Beispiele für eine solche Analyse an dieser Stelle an: "Bedeutungsanalyse der zur Anwendung gelangenden Begriffe, das Phänomen des Gegenbegriffs, das Fehlen bestimmter Begriffe, Aufbau der Kategorialapparatur, dominierende Denkmodelle, Stufe der Abstraktion und die vorausgesetzte Ontologie." 8 Fokussiert man auf diese Relation von "Genesis" und "Geltung", beansprucht die Hauptaufmerksamkeit der wissenssoziologischen Selbstbegründung fraglos die Frage nach der Delegitimation der Geltung beobachteter Theorien bzw. "Bewußtseinsergebnisse" im Hinblick auf den soziologischen Aufweis ihrer sozialstrukturellen, also auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen als Wissensproduzenten hin orientierten Genesis. Deshalb stehen Fragen der Partialisierung und Relationierung der beobachteten Wissenselemente im Vordergrund ihrer Selbstbegründung. Das soll hier im Detail nicht interessieren. Vor allem zwei weitere Momente an der wissenssoziologischen Gründungsform seien aber hervorgehoben:
6
Ich beziehe mich hier auf Mannheims programmatischen Artikel "Wissenssoziologie" im Vierkandtschen Handwörterbuch der Soziologie, zit. nach dem unveränderten Neudruck, Stuttgart 1959, S. 659680, hier S. 662.
7
"Aspektstruktur bezeichnet in diesem Sinne die Art, wie einer eine Sache sieht, was er an ihr erfaßt und wie er sich einen Sachverhalt im Denken konstruiert. Aspekt ist also mehr als ein bloß formale Bestimmung des Denkens, bezieht sich auch auf qualitative Momente im Erkenntnisaufbau, und zwar auf Momente, die von einer bloß formalen Logik vernachlässigt werden müssen." (Ebd., S. 662)
8
Ebd., S. 663.
Andreas Göbel
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Ausdrücklich bezieht sie sich, gleichsam als Akt ihrer seinsförmigen Selbstverortung, auf den fulminanten Heterogenisierungsschub, den ihre Zeit kennzeichnet. Einer vormals zwar nicht gesamt-homogenen, aber doch in ihren verschiedenen differenzierten Einheiten partiell-homogenen Gesellschaftsform wird nun ein Bild der Moderne entgegengesetzt, dessen Charakteristikum die Nötigung bildet, daß heterogene soziale Gruppierungen unter Kommunikationsdruck gesetzt werden. Unter Berufung auf Schelers Diktum vom "Weltalter des Ausgleichs" schildert Mannheim die Moderne als eine "Welt, in der alle Lebenskreise, die bisher mehr oder weniger abgeschlossen voneinander lebten [...], in dieser oder jener Form aneinandergeraten".9 Was die moderne Gesellschaft, jenseits möglicher Differenzierungstheoreme, in wissenssoziologischer Hinsicht kennzeichnet, ist der kategoriale Wechsel von Formen der "Auseinandersetzung, die zwischen sozial und geistig homogenen Partnern" hin zu solchen "zwischen sozial und geistig heterogenen Partnern"10 stattfindet. Einen eindeutigen Lösungsvorschlag, der auf Vereinheitlichung dieser Dissoziationen zielt, bildet die Wissenssoziologie nicht aus. Maßgeblich beschreibt sie sich als Reflexionsform dieser kommunikativen Effekte. Auffallig immerhin bleibt der Versuch, die Sozialgruppierung einer "freischwebenden Intelligenz" vor allen anderen dadurch auszuzeichnen, daß an ihr die de(kon)struktiven Effekte der genetischen Rückführung von Geltungsansprüchen auf den, der sie erhebt, an ihre Grenzen stoßen. Derart wird geltungstheoretisch schließlich doch noch eine Trägergruppe hervorgehoben, die als Garant für die Einheit eines ansonsten heterogenen Ensembles gesellschaftlicher Wissensformationen fungiert - abgesehen davon, daß nur auf diese Weise der für Mannheim noch drohenden Relationierung der wissenssoziologischen Zentralthese durch Anwendung auf sich selbst begegnet werden kann.
III. Nicht zuletzt diese letzte Bastion nicht-seingebundenen Denkens wird durch die neuere systemtheoretische Modifikation des wissenssoziologischen Theoriebestandes aufgegeben. Die soziologische Systemtheorie in der Version Niklas Luhmanns fragt dabei vor allem nicht mehr nach den subjektiv oder gruppenförmig zurechenbaren Bewußtseinsträgern gesellschaftlich produzierten Wissens, sondern auf einem sehr viel generelleren Niveau nach allgemeinen Korrelationen zwischen gesellschaftlich produziertem Ideengut, d.h. Semantiken einerseits und gesellschaftlichen Strukturen, innerhalb derer es produziert, distribuiert, reproduziert, aber auch vergessen wird, andererseits. Auf der Basis einer bestimmten Fassung des Sinnbegriffs kann eine Semantik als Typisierung von Sinn im Sinne einer spezifischen und folgenrelevanten Einschränkung und Selektion aus einem Horizont von Möglichkeiten bezeichnet werden. Als "Sinnfestlegung"11 ist sie in einem weitgehenden Sinn auf "Orientierungserfordernisse abge9
Handwörterbuch
der Soziologie
(FN 6), S. 665.
10 Ebd. 11 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984, S. 224.
Paradigmatische Erschöpfung
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stimmt": sie selegiert die prinzipielle Selektivität allen Handelns nochmals im Hinblick auf sozial Erwartbares und konsistent Anschlußfähiges und stellt damit eine Form "höherstufig generalisierte[n], relativ situationsunabhängig verfügbarefn] Sinn[s]"12 dar. Es geht dementsprechend nicht um "Widerspiegelung von Tatsachen in der Erkenntnis", sondern um "Anpassungen mentaler Reduktionen und Bündelungen, Raffungen und Vereinfachungen an Veränderungen der Selektivität im Relationieren der Elemente".13 Eine Semantik "prägt ihre Begriffe nach Maßgabe von Erfahrungen und stellt sie dann als Gußformen für mögliche Erfahrungen zur Verfügung". 14 Ist diese prinzipielle Form der Korrelativität von Ideen und gesellschaftlicher Kommunikation einmal zugrundegelegt, kann die Frage relevant werden, auf welche Weise Semantiken in Gesellschaft nach Maßgabe ihrer Strukturform angeschlossen werden können. Da die Systemtheorie den Beginn der modernen Gesellschaft als einen Wechsel der Form gesellschaftlicher Differenzierung beschreibt und die elementare Struktur der Moderne durch die Differenzierung in funktionsspezifisch ausgerichtete Subsysteme charakterisiert, folgert sie die Hypothese, daß die semantische Entwicklung in der Moderne eben dieser Strukturmodifikation angeglichen werden muß: "Wenn das Komplexitätsniveau einer Gesellschaft sich [...] ändert, muß die das Erleben und Handeln führende Semantik sich dem anpassen, weil sie sonst den Zugriff auf die Realität verliert."15 Durch die Polykontexturalisierung der Gesellschaftsstruktur ist aller Sinn "mehr anderen (und zwar: bestimmbar anderen) Möglichkeiten ausgesetzt".16 Damit aber ist eine "eigenständige Ideenevolution, unabhängig von den semantischen Strukturen, die in Funktionssystemen ausgebildet werden, [...] kaum noch möglich".17 Kommunikationen strukturierender, also erwartungsbildender Sinn ist somit nur noch durch "Angabe einer Systemreferenz unterhalb der Ebene des gesamtgesellschaftlichen Systems"18 situierbar. Diese Annahme einer nur noch subsysteminternen Evolution von Themenkarrieren läßt sich schließlich noch von anderer Theorieseite beleuchten. Systemtheoretisch läßt sich der marginale Status, den alle Funktionssysteme der modernen Gesellschaft innehalten, nicht als Prozeß der Autarkisierung und Hermetisierung fassen. Die über eine Theorie der autopoietischen Reproduktion der Elemente eines Systems durch die Elemente dieses Systems näher gekennzeichnete "Eigenlogik" des Systems ist im Gegenteil zwar seine Bestandsvoraussetzung, zugleich aber, in dieser Geschlossenheit, die Möglichkeitsbedingung für Formen des Umweltkontaktes. Neben der Funktion, die ein
12 Niklas Luhmann: "Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition", in: ders.: struktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt a . M . 1980, S. 9 - 7 1 , hier S. 19. 13 Ebd., S. 24. 14 Ebd., S. 24. 15 Ebd., S. 22. 16 Ebd., S. 33. 17 Ebd., S. 45. 18 Ebd., S. 57.
Gesellschafts-
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System für das Gesellschaftssystem exklusiv19 erfüllt, vollzieht es in Beziehung auf andere koexistente Subsysteme Leistungen. Da diese Leistungen aber "nicht allein, ja nicht einmal primär als Erfüllung der systemspezifischen Funktion [...] begriffen werden können",20 entstehen Selbstidentifikationsprobleme, die durch eine dritte Systemreferenz aufgefangen werden: Reflexion. Sie wird notwendig, weil der "Zusammenhang von Funktion und Leistung nicht mehr durch eine gesamtgesellschaftliche Grundsymbolik der Hierarchie und der direkten Reziprozität gewährleistet"21 ist. Die Kategorie der Reflexion bezieht sich derart auf die Systemidentität und leistet eine "Engführung der Informationsverarbeitungsprozesse auf bestimmte Zentralprobleme hin" .22 Auf diese Weise fertigen soziale Systeme eine Selbstbeschreibung von sich selbst an, an der sie ihre eigenen Operationen kontrollieren können. Selbstbeschreibungen als eine Form von Selbstreferenz sind nie bloße Duplikationen des Sachverhaltes, auf den sie referieren (im Falle von Funktionssystemen also: auf die operative Komplexität des Systems). Vielmehr gilt, "daß die Einheit des Systems, die letztlich im Vollzug der autopoietischen Reproduktion besteht, nur in der Form 'mitlaufender' Selbstreferenz in das System wiedereingeführt wird". 23 Damit ist jede Selbstbeschreibung aber auch "Selbstsimplifikation": "Um als Einheit des Systems im System erscheinen zu können, muß die Komplexität reduziert und dann sinnhaft re-generalisiert werden. Die dafür angefertigte Semantik ist nicht das Ganze, aber sie referiert das Ganze als Einheit und stellt diese dann als einen immer mitzubenutzenden Verweisungszusammenhang allen Operationen zur Verfügung."24 Diese Grundkonstruktion hat, mit Blick auf die neuere semantische Tradition vor allem des staatstheoretischen Denkens, unnachgiebige Konsequenzen vor allem für das neuzeitlich ausdifferenzierte Subsystem der Politik. Unter gesellschaftstheoretischer Perspektive kommt Politik - unter den Bedingungen der Moderne, also unter der Bedingung funktionaler Differenzierung - als ein ausdifferenziertes Subsystem des (als Gesamtheit sozialer Relationen konzipierten) Gesellschaftssystems vor. Genauer müssen mindestens drei Ebenen unterschieden werden: "1. Das soziale System der Gesellschaft, das alle sinnhaft orientierten Kommunikationen in sich einschließt, also nur in sich selbst und nicht nach außen kommunizieren kann. 2. Das System für Politik, d.h. das für die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen ausdifferenzierte Subsystem der modernen Gesellschaft.
19 Und ohne daß man diesen Funktionskanon, der relativ zum Komplexitäts- bzw. Strukturniveau der Gesellschaft besteht, hierarchisieren könnte. 20 Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung
des Rechts, Frankfurt a.M. 1983, S. 423.
21 Niklas Luhmann: "Gesellschaftliche Struktur" (FN 12), S. 29. 22 Niklas Luhmann: Ausdifferenzierung
(FN 20), S. 424.
23 Niklas Luhmann: Soziale Systeme (FN 11), S. 624. 24 Ebd., S. 624.
Paradigmatische
Erschöpfung
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3. Die in das politische System eingeführte Selbstbeschreibung dieses Systems, die üblicherweise den Begriff des 'Staates' verwendet, wenn es darum geht, politische Operationen an der Identität des Systems zu orientieren. "25 Hinsichtlich d i e s e s T h e o r i e s t a n d e s läßt sich das S c h m i t t s c h e W e r k plausibel als e i n e A g g r e g a t i o n s f o r m der S e l b s t b e s c h r e i b u n g des p o l i t i s c h e n S y s t e m s charakterisieren. 2 6 E s liegt damit auf der dritten E b e n e der für e i n e s y s t e m t h e o r e t i s c h e A n a l y s e des politischen S y s t e m s der m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t r e l e v a n t e n D i f f e r e n z i e r u n g e n . D e r Furor seiner Einheitssemantik w i r d damit schnell entschärft. S i e erscheint als e i n e T e x t k o n z e n tration, die s e m a n t i s c h zu e r z i e l e n sucht, w a s substantiell zu e r r e i c h e n sie n o c h unterstellt. V o r a l l e m d i e K o n s e q u e n z e n für d e n Staatsbegriff selbst sind mit d i e s e r K o n zeption unübersehbar: "Dem Staatsbegriff wird nicht direkt widersprochen, aber man geht doch zu einer ganz anderen Perspektive über, wenn man nicht von der Identität des Staates und auch nicht von der Differenz von Staat und Gesellschaft ausgeht, sondern [...] die Differenz von System und Selbstbeschreibung des Systems zugrunde legt. Man kann dann in einem einheitlichen Theorierahmen von politischem System und von Staat zugleich handeln. Der Staat ist nicht letzter Bezugspunkt der Zuordnung von Handlungen, sondern eine semantische Variable, die im Variationszusammenhang mit anderen beurteilt werden muß. [...] Alle politischen Operationen können immer auf die Identität Staat bezogen werden (auch wenn sie, wie Parteipolitik, dem Staat juristisch nicht zugerechnet werden) und sind dadurch unabhängig von einer inhaltlichen Prüfung ihrer 'politischen' Qualität, also unabhängig auch von dem Streit um Politikbegriffe. 1,27 Aber auch auf e i n e m a l l g e m e i n e n gesellschaftstheoretischen N i v e a u m u ß das Schmittsche A n s i n n e n , d i e Einheit der G e s e l l s c h a f t im Staat sichern zu w o l l e n , einer kritischen R e v i s i o n u n t e r z o g e n w e r d e n . W a s d i e ältere W i s s e n s s o z i o l o g i e mit der Gruppierung der f r e i s c h w e b e n d e n Intelligenz n o c h an einheitsgarantierenden E f f e k t e n e r z i e l e n w o l l t e , muß mit ihrer g e s e l l s c h a f t s t h e o r e t i s c h e n S p e z i f i k a t i o n auf der G r u n d l a g e d e s T h e o r e m s funktionaler D i f f e r e n z i e r u n g radikal destruiert w e r d e n . D a s S c h m i t t s c h e œuvre ist g e n a u deshalb in e i n e m e m i n e n t e n S i n n e Modernisierungskritik, als e s d i e K o n s e q u e n z e n funktionaler D i f f e r e n z i e r u n g i m Hinblick auf das p o l i t i s c h e S y s t e m dergestalt b e o b a c h tet, daß e s nun endgültig k e i n e g e s a m t g e s e l l s c h a f t l i c h e F ü h r u n g s p o s i t i o n m e h r beanspruc h e n kann. 2 8 D e n Staat g e n a u dieser F u n k t i o n beraubt zu s e h e n , j a in der K o n s e q u e n z
25 Niklas Luhmann: "Der Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität", in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. IV, Opladen 1987, S. 104-116, hier S. 105. 26 Gerade seine Polemizität und sein Wissen um seine Polemizität - alle "politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte [haben] einen polemischen Sinn" (Carl Schmitt: Begriff des Politischen [FN 3], S. 31) - macht es plausibel, es nicht lediglich als einen theoretischen Beitrag bzw. als eine "Kompaktkommunikation" im Wissenschaftssystem anzusiedeln, sondern sehr viel stärker seinen Selbstbeschreibungscharakter zu betonen. 27 Niklas Luhmann: "Der Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität" (FN 25), S. 112 f. 28 Genau deshalb, um auch diese erschöpfte Bemerkung zu machen, ist Schmitts "Occasionalismus"Vorwurf an die Romantik in ihrem Kern Modernisierungskritik. Hier wohl erstmalig - und darin erweist sich Schmitts Beobachtung entgegen dem noch immer nicht verstummenden Vorurteil eines anachronistischen Rekurses auf die vormodernen Standards mittelalterlicher Vergesellschaftungsmaxi-
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Göbel
die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft aufgeben zu wollen - als einer Unterscheidung, die genau dies: die politische Integration einer desintegrierten Gesellschaft im Staat leisten sollte macht das eigentliche Zentrum der Schmittschen Kritik aus. Und dies geht an die Adresse der Einheit des Gesellschaftssystems. 29 Systematisch, um dies nochmals zusammenzufassen, muß stattdessen die Einheit der Gesellschaft von der Einheit eines ihrer Subsysteme unterschieden werden. Hat man theoretisch einmal derart differenziert, wird das Zentralproblem deutlich, an dem Schmitts Theorie laboriert: Die Semantik der Leitunterscheidung von Staat und Gesellschaft zwingt ihn dazu, die Einheit des Politischen als tendenziell koextensiv, wenn nicht gar identisch mit der Einheit der Gesellschaft zu denken. Dieses Problem betrifft ihn nicht allein. Aus der Distanz betrachtet laboriert ein Großteil der staatsrechtsförmigen Diskussion der Weimarer Zeit an der Nicht-Differenzierbarkeit dieser beiden Ebenen. Auf diese Weise steht im Zentrum noch der differentesten Ansätze die weiterhin ungebrochene Annahme, der Staat bzw. das politische System könne als Einheitsgarant der dissoziierten bürgerlichen Gesellschaft fungieren. 30 In dieser Hinsicht wiederum ist Schmitt lediglich ein - semantisch sicherlich das forcierteste - Symptom.
IV. Daß "Staat" ein bestimmter, begrenzter, an eine bestimmte Epoche gebundener Begriff sei, ist nicht erst die Einsicht des späten Schmitt. Schon die Verfassungslehre von 1928 etwa grenzt die konventionellerweise unter dem Stichwort "Ständestaat" versammelten Vertragsformen des Mittelalters deutlich von der neuzeitlichen Bestimmung des Staats ab: "Man kann diese zahllosen Abmachungen nicht als Verfassungen eines Staates bezeichnen, wie es überhaupt irreführend ist, auf solche mittelalterlichen Verhältnisse Begriffe des modernen Staatsrechts
men als ungemein scharfsinnig - wird mit den Mitteln disziplinär-diskursiver Entgrenzungen auf der Textebene - konzentriert freilich im frühromantischen Bezugsrahmen - realisiert, was mit neueren Theoriemitteln als heterarch-disperses, polykontexturales Strukturmuster der modernen Gesellschaft beschrieben wird. Vgl. zu Interpretationsversuchen in diese Richtung Peter Fuchs: "Die Form romantische Kommunikation", Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 3 (1993), S. 199-221; ders.: Moderne Kommunikation, Frankfurt a.M. 1993, bes. S. 79 f. sowie Verf.: "Naturphilosophie und moderne Gesellschaft", Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 5 (1995). 29 Schmitts Affront, so auch Stefan Breuer, richtet sich gegen "die durch die immanente Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft verursachte Transformation der Politik, die den Staat aus einer übergreifenden und autonomen Instanz in ein Teilsystem einer Gesellschaft verwandelt, von der Luhmann mit Recht bemerkt, daß sie 'ein System ohne Sprecher und ohne innere Repräsentanz' sei" (Stefan Breuer: "Nationalstaat und pouvoir constituant bei Sieyes und Carl Schmitt", in: ders.: Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1985, S. 176-198, hier S. 196). 30 Selbst Hermann Hellers Projekt, das einer soziologischen Transformation der alten Problemlage noch am nächsten komme, sei, so Thomas Vesting, gescheitert, weil er "die Frage nach der Einheit einer hocharbeitsteiligen Gesellschaft" zumindest phasenweise mit der Idee der Nation als einheitsstiftendem Subjekt und vorgegebener Grundlage der gesellschaftlichen und staatlichen Einheit" beantworte (Thomas Vesting: Politische Einheitsbildung und technische Realisation, Baden-Baden 1990, S. 147 f.).
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zu übertragen. Der eigentliche Gegenstand moderner Verfassungen, Existenzart und -form der politischen Einheit, war nicht Gegenstand dieser Abmachungen. Beim Stände'staat' dürfte man weder von einem monistischen noch einem dualistischen oder pluralistischen Staate sprechen, höchstens von einem Gemenge wohlerworbener Rechte und Privilegien. "3I
Von politischer Einheit kann Schmitt deshalb mit Bezug auf den "Ständestaat" nur unter dem Gesichtspunkt des Verlustes "einer früher bestehenden Einheit" sprechen: "Nur insofern wird die politische Einheit noch vorausgesetzt, als sie es ist, die sich auflöst und auf deren Kosten ständische Gruppen und Organisationen sich in die Beute teilen." 32 Erst mit der Neuzeit und der Entwicklung absoluter, d.h. gegen ständische Privilegien gesetzter Macht des eben darin absoluten Monarchen setzt sich für Schmitt der eigentliche und genuine Staatsbegriff durch: "Das 'Absolute' liegt darin, daß der Fürst 'legibus solutus' d.h. berechtigt und imstande ist, aus politischen Gründen, über die er allein entscheidet, die legitimen Forderungen der Stände [...] zu mißachten."33
Die semantische Verknüpfung von Staat und status markiert deshalb für Schmitt die eigentümliche Weise des Konstitution einer politischen Einheit: "Denn der umfassende Status politischer Einheit relativiert alle anderen Statusverhältnisse, insbesondere Stände und Kirchen. Der Staat, d.h. der politische Status, wird also der Status in einem absoluten Sinne. Dieser moderne Staat ist souverän, seine Staatsgewalt unteilbar; Eigenschaften wie Geschlossenheit und Undurchdringlichkeit (Impermeabilität) folgen aus der Wesensart der politischen Einheit."34
Was Schmitt hier zunächst im historischen Rekurs als Zentralisierung und in eben diesem Sinne: Vereinheitlichung des Gewaltmonopols auf den frühneuzeitlichen Territorialstaat beschreibt, verweist aber schon bis in die Details dieser Formulierung hinein auf eine auch diese historische Beobachtung grundierende systematische Leitunterscheidung, die von Anfang an den Schmittschen Diskurs organisiert. In der Verfassungslehre konkretisiert sich diese Unterscheidung in der kritischen Invektive gegen die Identifikation des bürgerlichen Rechtsstaates mit einem emphatischen, als "politisch" qualifizierten Staatsbegriff. Die Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaates enthalte, so Schmitt, "in erster Linie eine Entscheidung im Sinne der bürgerlichen Freiheit: persönlicher Freiheit, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Handels- und Gewerbefreiheit usw. Der Staat erscheint als der streng kontrollierte Diener der Gesellschaft; er wird einem geschlossenen System von Rechtsnormen unterworfen oder einfach mit diesem Normensystem identifiziert, so daß er nichts ist als Norm oder Verfahren". 35
31 Carl Schmitt: Verfassungslehre, 32 Ebd., S. 45. 33 Ebd., S. 49. 34 Ebd., S. 49. 35 Ebd., S. 128.
Berlin 1928, S. 45.
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Demgegenüber bzw. daneben bleibe aber der Rechtsstaat "trotz aller Rechtsstaatlichkeit und Normativität, doch immer ein Staat und enthält infolgedessen außer den spezifisch bürgerlich-rechtsstaatlichen immer noch einen spezifisch politischen Bestandteil". 36 Diese grundlegende Doppelung von bürgerlichem Rechtsstaat und emphatischpolitischem Staat organisiert im Prinzip die komplette Verfassungslehre Schmitts. 37 Mit ihr schreibt sich Schmitt auf verfassungstheoretischem Niveau in diejenige semantische Tradition ein, die seit der Hegeischen Unterscheidung zwischen (bürgerlicher) Gesellschaft und (sittlichem) Staat die politiktheoretischen Reflexionsbemühungen des 19. Jahrhunderts maßgeblich geleitet hat. Ähnlich wie die Hegeische Rechtsphilosophie operiert auch Schmitt mit einem doppelten Staatsbegriff: Wie der bürgerlichen Gesellschaft als Not- und Verstandesstaat, der sich maßgeblich über privategoistisch-ökonomische Nutzenmaximierung definiert, die sittliche Qualität eines integrierend wirksamen und homogenisierenden genuinen Staates entgegengestellt wird, 38 so baut auch Schmitt die Differenz zwischen Rechts- und politischem Staat so auf, daß erst der Akzent auf der staatspolitischen Seite das einlöst, was auf der gesellschaftlichen Seite der Leitunterscheidung nur als disperse Heterogenität angelegt ist: politische Homogenität. Von der Tradition entlehnt Schmitt dabei freilich nicht nur die Unterscheidung selbst und die mit ihr begründete Vorrangstellung des Politischen im Hinblick auf seine Funktion, das Ganze als die Einheit eines ansonsten desintegrativen Handlungsensembles zu repräsentieren. Als maßgebliche Hypothek dieser Tradition übernimmt er zugleich auch die paradoxale Konstitution dieser Unterscheidung. Legt man einen Begriff von Repräsentation zugrunde, der auf "Darstellung der Einheit des Systems durch einen Teil des Systems"39 zielt, also auf repraesentatio identitatis hin orientiert ist, zeigt sich, daß Repräsentation "immer paradox [ist]: Sie erzeugt mit der Absicht, Einheit darzustellen, eine Differenz des repräsentierenden zu den anderen Teilen des Systems." 40 Dem entgeht auch Schmitt nicht. Dabei ist interessant zu sehen, auf welch affine Weise Schmitt konsequent nachvollzieht, was in der Strukturlogik der Hegeischen Differenz von Staat und Gesellschaft schon paradoxal angelegt ist: Die Differenz wird aufgebaut und zugleich unterminiert, dadurch daß die eine Seite dieser Unterscheidung gleichzeitig sich selbst in Differenz zur anderen wie auch die Einheit dieser Differenz bezeichnet: Der Staat konstituiert sich als Staat in Differenz zur (als Ensemble ökonomi36 Carl Schmitt: Verfassungslehre
(FN 31), S. 128.
37 Siehe etwa die Unterscheidung von formellem und politischem Gesetzesbegriff: "Gesetz im Sinne des politischen Gesetzesbegriffes ist konkreter Wille und Befehl und ein Akt der Souveränität." (Ebd., S. 146) 38 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258: "Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. - Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist." (Zit. nach der Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, S. 399). 39 Niklas Luhmann: Ökologische 40 Ebd., S. 268.
Kommunikation,
Opladen 1986, S. 268.
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scher Reproduktionsmechanismen konzipierten) Gesellschaft und soll zugleich, als die eine Seite dieser Differenz, die Einheit des Differenten garantieren können. Darin liegt, um hier Mißverständnisse auszuschließen, kein schlichter Denkfehler Schmitts. Jede Form derartiger Rekurse auf Einheit erzeugt Paradoxien. Es kann dementsprechend nur darum gehen, die Strategien ihrer Invisibilisierung zu beobachten. Und man wird darüberhinaus vermuten können, daß Invisibilisierungen nur solange funktionieren, wie die jeweiligen Leitdifferenzen, in denen die Paradoxien schlummern, nicht intern aufgebrochen werden durch andere Formen der Beschreibung, deren Plausibilitätsgehalt für Erfahrungsanschlüsse größer ist. In der Schmittschen Verfassungslehre verschärft sich diese paradoxale Problemlage insofern, als er diese Differenz von Staat und Gesellschaft noch einmal auf der Ebene des Staates ansetzt. Die Unterscheidung tritt derart in das Unterschiedene ein und generiert die Differenz von gesellschaftlicher und politischer Politik. 41 Zu einem theoretischen Problem wird all dies lediglich deshalb, weil die Logik derartiger Unterscheidungen auf die Frage der Einheit dieser Unterscheidungen drängt. Dementsprechend kann Schmitt - nach Maßgabe dieser semantischen Logik - garnicht anders, als zugleich und parallel darum bemüht zu sein, den Staat einerseits von der Gesellschaft zu unterscheiden, ihn andererseits und "raumförmig" gesprochen - mit allen Konnotationen an die Tradition der societas civilis - als ein zur Gesellschaft koextensives Feld auszuweisen. Es geht nie - und kann nach Maßgabe dieser Semantik auch garnicht gehen! - um die begriffliche Encadrierung eines sachlogischen und autonomen Handlungsfeldes, sondern um den Aufweis der Gleichumfänglichkeit von Staat und Gesellschaft, sofern die Einheitsfrage zur Debatte steht. Oder anders: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft läuft, wenn nicht auf die Identifikation von Gesellschaft und Staat und somit auf ihre Unterminierung, auf die Repräsentation der Gesellschaft im Staat hinaus. Damit wird der Staat der Gesellschaft zur eigentlichen Gesellschaft, weil nur mit ihm sie sich in sich selbst als einheitliche Gesellschaft etablieren kann.
V. Man kann den beginnenden Kollaps von Leitunterscheidungen - und Kollaps soll hier heißen: ein zunehmender Mangel in der erwartbaren Anschlußfähigkeit von Erfahrungen - deutlich dann registrieren, wenn beide Seiten der Unterscheidung aufeinander projiziert werden derart, daß die eine Seite zur nicht mehr differentiellen, sondern attributiven Bestimmung der anderen eingesetzt wird. Es beginnen dann Formeln wie "Vergesellschaftung des Staates", "Verstaatlichung der Gesellschaft" u.ä. 42 41 Vgl. Julien Freund: "Der Partisan oder der kriegerische Friede", in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 387-391, hier S. 390: "Die zentrale Frage für den Juristen Carl Schmitt war: Was ist politische Politik? Im Unterschied zu Sozialpolitik, Religionspolitik oder Wirtschaftspolitik?" 42 Daß auch Schmitt-Exegeten von einer Fortsetzung dieser Diagnosen nicht verschont bleiben, zeigt etwa ein Zitat aus Gary Ulmen: "Die zum Staat gewordene Gesellschaft wird ein ökonomischer, ein kultureller, ein Wohlfahrts-Staat usw." (Politischer Mehrwert [FN 5], S. 302 f.) Im übrigen zeigt sich wohl
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Z w a r läßt sich zunächst e i n i g e r m a ß e n deutlich z e i g e n , w o r a u f d i e S c h m i t t s c h e n F o r m u l i e r u n g e n z i e l e n . A u f e i n e r theoretischen E b e n e attackiert S c h m i t t , w i e j ü n g s t Reinhard M e h r i n g 4 3 n o c h einmal h e r v o r g e h o b e n hat, d i e G e n o s s e n s c h a f t s t h e o r i e vor a l l e m in der V e r s i o n v o n H u g o Preuß: "Staat und G e m e i n d e sind w e s e n s g l e i c h , die Bindung an den Staat v o n der B i n d u n g an d i e G e m e i n d e und andere g e n o s s e n s c h a f t l i c h e Gesamtpersonen nicht wesentlich verschieden [ . . . ] Dadurch ist das öffentliche Recht z u m Sozialrecht, der Staat aus einer s p e z i f i s c h p o l i t i s c h e n E i n h e i t z u e i n e r s o z i a l e n V e r bindung g e w o r d e n u n d entpolitisiert." 4 4 A u f der politisch-praktischen S e i t e g e s e l l t sich dieser t h e o r e t i s c h e n Kritik eine Attacke g e g e n die pluralistische Politik der Parteien zu. In Staats gefüge und Zusammenbruch des zweiten Reichs ( 1 9 3 4 ) e t w a w i r d dieser innenpolitische Z u s a m m e n h a n g auf der Kontrastfolie des alten D u a l i s m u s v o n Bürger und Soldat in aller Drastik perhorresziert: "Die Gesamtstruktur des neuen Staatswesens war nicht mehr dualistisch, aber sie brachte noch viel weniger die versprochene Einheit. Sie war pluralistisch geworden. Der Dualismus von Soldat und Bürger war entfallen; dafür standen sich jetzt zahlreiche fest organisierte Gegensätze und Verschiedenheiten gegenüber; Nationalisten, Über- und Internationalisten; Bürgerliche und Marxisten; Katholische, Evangelische und Atheisten; Kapitalisten und Kommunisten. Sie schlössen unter dem Vorbehalt ihrer Parteiziele Kompromisse und Koalitionen über die Fragen des deutschen Schicksals. Das Wort 'Pluralismus' ist hier nicht eine äußerliche und oberflächliche Kennzeichnung irgendeiner Vielzahl von Gruppierungen, wie es sie bei der Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens überall und zu allen Zeiten gibt, sondern ein präziser technischer Ausdruck der Staats- und Verfassungslehre. Er bezeichnet eine spezifische Art des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, eine bestimmte Struktur des sozialen Lebens in ihrem Verhältnis zur politischen Einheit. Dieses System entwickelt sich in einer typischen Weise für ein bestimmtes Stadium der bürgerlichen Gesellschaft, in einer Zeit, in der eine Mehrzahl von Gewerkschaften, Kartellen, Religionsgesellschaften und anderer sozialer und kultureller Verbände und Organisationen, jede auf ihrem Gebiet, auf der formalrechtlichen Grundlage der liberalen Freiheiten, aus der Sphäre des Sozialen und Privaten heraus, das öffentliche Leben beherrscht und die politische Einheit zum Abfallprodukt ihrer taglichen Kompromisse macht." 45 U n d weiter noch i m H i n b l i c k auf d i e E f f e k t e : " D i e s e s pluralistische S y s t e m ergreift alle staatlichen Einrichtungen und v e r w a n d e l t sie in Stützpunkte und M a c h t p o s i t i o n e n der
nirgends so deutlich wie bei Schmitt, daß der Kollaps von Leitunterscheidungen, auf die zu Selbstbeschreibungszwecken zurückgegriffen wird, zu weiteren Mechanismen der Simplifikation führt: Die Unterscheidung wird moralisch codiert, sie rückt von der primär deskriptiven in eine nun endgültig normativ-kritische Funktion. Ihre Aufrechterhaltung wird als Desiderat eingeklagt und die gesellschaftliche Wirklichkeit gerät in die Rolle derjenigen Instanz, die nicht einhält, was ihre Beschreibung von ihr verlangt. 43 Reinhard Mehring: "Geist gegen Gesetz. Carl Schmitts Destruktion des positiven Rechtsdenkens", in: Bernd Wacker (Hg.): Die eigentlich katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994, S. 229-245. 44 Carl Schmitt: Verfassungslehre (FN 31), S. 272. 45 Carl Schmitt: Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934, S. 45 f.
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verschiedenen Parteien. Es ergreift aber auch alle gesellschaftlichen Einrichtungen und zwingt sie, sich zu 'politisieren'." 46 Mehr an analytischer Relevanz als diese Pluralismuskritik freilich ist diesen kollabierenden Begriffsstrategien kaum zu entnehmen. Legt man dagegen die systemtheoretische Unterscheidung von Funktion, Leistung und Reflexion eines Subsystems der Gesellschaft zugrunde, läßt sich der Einsatzpunkt der Schmittschen Argumentation aus einer systemtheoretisch angereicherten wissenssoziologischen Perspektive relativ punktgenau bestimmen: als theoretische Reflexion (im theoriespezifischen Sinne einer theorieförmigen Besinnung auf die Einheit des Systems) just in dem Moment, in dem die Differenz von Funktion und Leistung unscharf zu werden droht, weil die Leistungen des politischen Systems für andere Funktionssysteme überhand zu nehmen drohen zuungunsten seiner für das Gesellschaftssystem relevanten Funktion der Herstellung und Sicherung kollektiv verbindlicher Entscheidungen auf der Grundlage seines Gewaltmonopols. Aus dieser Perspektive liegt also mit der Schmittschen Polemik der interessante Versuch vor, Reflexionsbemühungen (auf die Einheit des Systems) nicht in einer Situation zu starten, in der die "Nicht-Identität von Funktion und Leistung zum Reflexionsanlaß wird", 47 sondern gerade umgekehrt: die drohende Identifizierung politischer Leistungen mit der Funktion des politischen Systems Anlaß gibt, den Souverän des Politischen erneut zur Geltung zu bringen. Der Schmittsche Text reagiert derart auf eine Textmasse, in der diese - für das System konstitutive - Differenz unterminiert und die Funktion der Politik in ihren Leistungen legitimiert wird. 48 Läßt sich derart einerseits systemtheoretisch eine gewisse Plausibilität für den Versuch Schmitts nachweisen, so muß andererseits ebenso deutlich konzediert werden, daß Schmitt nicht über die begrifflichen Mittel verfugt, die Einheit des politischen Systems von der Einheit des Gesellschaftssystems zu unterscheiden. Der unausweichliche Bedarf nach systemspezifischer Selbstbeschreibung, deren Funktion die simplifizierende Konstruktion der Einheit des Systems ist, wird so unter der Hand und durchgängig mit dem Ansinnen identifiziert, auch die Einheit des Gesellschaftssystems in der Form seiner Politik zu sichern. Genau unter dieser Perspektive laboriert der Schmittsche Diskurs: Er
46 Carl Schmitt: Staatsgefüge (FN 45), S. 46. "Pluralismus" in einem erträglichen, positiven Sinne ist ein Terminus, den Schmitt exklusiv "der Staatenwelt" vorbehält. Dieser selbst das Attribut "Einheit" zuzugestehen, lehnt Schmitt kategorisch ab: "Es gibt auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt'staat' geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum." (Carl Schmitt: Begriff des Politischen [FN 3], S. 54) 47 So die allgemeine Überlegung in Niklas Luhmann u. Karl-Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme Erziehungssystem, Stuttgart 1979, S. 38.
im
48 Darin verkapselt sich nicht einfach eine falsche Beobachtung. Die "wohlfahrtsstaatliche Expansion in den Leistungssektor der Politik" (Niklas Luhmann: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981, S. 88) und die (relative) Vernachlässigung ihrer eigentlichen Möglichkeitsbedingung (ebd., S. 82 f.) - eben der Monopolisierung physischer Gewalt - wird sicher erst nach Schmitt in ihren eigentlichen Ausmaßen erkannt. Gleichwohl kann "auch der Wohlfahrtsstaat auf Staatlichkeit nicht verzichten [...] und [muß] den Verfassungsstaat nicht überwinden, sondern ihn inkorporieren" (Niklas Luhmann: "Der Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität" [FN 25], S. 113). Von einem Ende der Staatlichkeit kann deshalb keine Rede sein.
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präfiguriert und suggeriert die Einheit der Gesellschaft als Staat, vermutet also, die Einheit des politischen Systems könne zugleich auch die Einheit des Gesamtsystems Gesellschaft innehalten. Schon die Reduktion politischen Handelns auf staatspolitisches Handeln kann in diesem Sinne als simplifizierende Selbstbeschreibung gewertet werden. De facto wissen die politischen Theoretiker Weimars durch den Einbruch nichtstaatlicher politische Interessenvertretungen in der Form von Verbänden und (vor allem: Partei-) Organisationen von der Komplexität eines Systems politischer Kommunikation, daß sich nur durch arge Simplifikation über den Selbstbeschreibungs-Leisten "Staat" spannen läßt. Die Zugriffskapazität der semantischen Leitunterscheidung Staat - Gesellschaft auf die politische Realität kann insofern als erschöpft gelten. Offensichtlich erkennt auch Schmitt in der Folge, daß die Formel "Staat", auch wenn man ihre Simplizität gegenüber dem realen Komplexitätsniveau politischer Kommunikation unterstellt, keine Einheitsbeschreibungsgarantien mehr übernehmen kann. Wofür die Schmittsche Rede vom Ende der Staatlichkeit dementsprechend als Modell dienen kann, ist die Einsicht in strukturelle Grenzen der Simplifikationsmodalitäten von systemtypischen Selbstbeschreibungen. Offensichtlich ist mit der Einsicht in die Mangelhaftigkeit staatsförmiger Politik als Modell politischer Kommunikation überhaupt eine Grenze markiert, jenseits derer das operative Komplexitätsniveau eines Funktionssystems - bei Strafe seiner Reproduktionsfähigkeit - nicht mehr adäquat reduziert werden kann. Das sieht auch Schmitt. Sein Rekurs auf die Einheitsformel "Staat" just zu einem Zeitpunkt, an dem einerseits die wohlfahrtsstaatliche Operationalisierung der sozialen Frage zunehmend Kontur gewinnt, an dem andererseits und im Verbund hiermit evident und unübersehbar wird, daß, provoziert durch die Entstehung weiterer, nicht-staatlicher "Assoziationen", Parteien, Gewerkschaften und anderer Verbandsorganisationen, das politische System sich intern weiter differenziert, 49 läßt sich derart nicht mehr halten. Politische Kommunikation ist mehr als nur staatspolitische Kommunikation, die Gleichung Staatlich = Politisch nicht mehr zu halten und die Epoche der Staatlichkeit zumindest in diesem Sinne vorüber.
VI. Das Signum moderner Politik, daß "die Bezugnahme auf den Staat [...] nicht mehr imstande (ist), ein spezifisches Unterscheidungsmerkmal 'des Politischen' zu begründen",50 hatte Schmitt zuvor noch in der Verfassungslehre von 1928 mit der Unterscheidung zwischen Rechtsstaat und politischem Staat, d.h. unter Zugrundelegung eines (politischen) Formbegriffs zu sichern versucht. - Alle Strategien, die Schmitt hierbei und später wie früher verfolgt, dienen freilich nicht der operativ wirksamen Selbstbe-
49 So auch Niklas Luhmann: "Metamorphosendes Staates", in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4., Frankfurt a.M. 1995, S. 101-137, hier S. 116. Dort auch die Formulierung, dieser Einsicht in die interne Differenzierung des politischen Systems hätte Schmitt nur "eine romantische bzw. geisteswissenschaftliche Beleuchtung des konstitutionellen Staates entgegenzusetzen". 50 Carl Schmitt: Begriff des Politischen
(FN 3), S. 24.
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Schreibung eines politischen Systems, das sich mit Hilfe bestimmter Strategien von anderen Subsystemen unterscheiden möchte und zu diesem Zweck eine simplifizierende Selbstbeschreibung von sich selbst anfertigt, um damit alle Kommunikationen des Systems im System daran orientieren und damit (in diesem Fall: politische) Selbstidentifikation und also kommunikative Anschlußfahigkeit zu sichern. Vielmehr liegt ihr immer wieder der Versuch zugrunde, nicht nur die Einheit des politischen Systems, sondern vielmehr die Einheit des Gesellschaftssystems durch eine staatskonzentrierte Politik zu begründen. Nur, und dies sieht auch Schmitt: Diese Legitimationsbasis eines durch Rekurs auf den Staat gedeckten Begriffs des Politischen ist offenbar verloren. Folgerichtig beginnt Der Begriff des Politischen mit dem Versuch, das politische Handlungsfeld nicht vom Begriff des Staates her zu begründen, sondern es ihm vorzuordnen. Insofern löst die bekannte Freund-Feind-Unterscheidung in struktureller bzw. kommunikationslogischer Hinsicht die alte Semantik des Staates auf formal unproblematische Weise ab. Parallel dazu läßt sich zunächst ein relativ entspannter, die alte Emphase des Staatsbegriffs entkrampfender Umgang mit dieser Unterscheidung beobachten. Sie wird ausdrücklich mit den Unterscheidungen anderer "Sachgebiete" parallelisiert, und aus einer systemtheoretischen Perspektive könnte man deshalb zunächst vermuten, hier ginge es, auch ohne Systemtheorie, um die Angabe eines binären Codes, der die (kommunikative) Eigenlogik des politischen Subsystems markieren soll.51 Gleichwohl "kippt" dieser Diskurs schnell in ein Intensitätsmodell des Politischen, dessen Kernthese die Aussage bildet, die neue Differenz ziele "auf den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation".52 Die Hauptschwierigkeit, diese Totalitätskonzeption des Politischen auf ihre hintergründige Motivlage hin zu befragen, macht inzwischen einen Gutteil der Schmitt-Exegese aus. Heinrich Meier hat in seiner jüngsten, peniblen und nicht immer unpathetischen Rekonstruktion entschieden für eine Interpretationsversion votiert, derzufolge der "politische Totalismus, der im Rückgriff auf die Intensitätskonzeption seine Grundlegung erfährt, [...] das Ergebnis einer originär individualistischen Perspektive [ist]". Dementsprechend sei, so auch Meier, das Politische "kein 'Gebiet' neben anderen 'Gebieten'" 53 , und die Gebietskonzeption müsse deshalb aufgegeben werden zugunsten einer Konzeption, in der das Politische "als ein Zustand konzipiert" wird, "der den ganzen Menschen erfaßt, weil er ihn vor die wichtigste Entscheidung stellt, ihn mit dem größten Übel konfrontiert und ihn zur äußersten Identifikation zwingt".54 - Ich vermute, daß diese "ontologisch-existentielle" Interpretation, auch wenn Schmitt sie selbst so be-
51 Dem entspricht z.B., daß Schmitt ausdrücklich Code-Fusionen zu vermeiden sucht: "Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann sogar vorteilhaft erscheinen, mit ihm Geschäfte zu machen." (Carl Schmitt: Begriff des Politischen [FN 3], S. 27) 52 Ebd., S. 27. 53 Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts, Stuttgart 1994, S. 62, mit Hinweis auf die 3. Fassung von Der Begriff des Politischen von 1933, S. 58. 54 Ebd., S. 59.
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schreibt,55 am semantischen Kern der Selbst-Umschreibungen Schmitts vorbeiläuft. Um in Meiers Terminologie zu verbleiben: Tatsächlich geht es Schmitt nicht um das Politische als ein Gebiet neben anderen Gebieten, sondern um ein Gebiet über allen Gebieten, das seine Überordnung dadurch legitimiert,56 daß es als Gebiet aller Gebiete modelliert wird. Das schließt eine existentiell-ontologische Dimension nicht aus; die Stoßrichtung bleibt freilich keine rein anthropologische, sondern zielt auf Einheitsbildung der Gesellschaft durch Politik.57 Es geht zwar weiterhin nicht um eine Resurrektion des Staatsbegriffs. Gleichwohl: Von der alten Semantik des Staatsbegriffs übernimmt Schmitt noch weiterhin seine einheitsverbürgenden und -repräsentierenden Konnotationen. Daraus wiederum resultiert eine Fassung des Politischen, die als Um-Fassung aller möglichen anderen Sachgebiete konzipiert wird. Insofern übernimmt Schmitt noch in den Begriff des Politischen, der doch den des Staates ersetzen soll, eine zentrale Implikation der alten staatstheoretischen Semantik in ihrer Relation zur "Sphäre" der Gesellschaft: Es geht auch weiterhin um einen Führungs-, Steuerungs- und Integrationsanspruch des Politischen gegenüber der Gesellschaft.58 Wenn Schmitt an Lorenz von Steins Geschichte der sozialen Bewegung hervorhebt, hier habe eine Generation in der Nachfolge Hegels daran festgehalten, "daß der Staat über der Gesellschaft steht, als eine Sphäre des Geistes und der Sittlichkeit",59 so wird man mit Blick auf den Begriff des Politischen lediglich den Staats- durch den alternativen Begriff des Politischen und die Geist- bzw. Sittlichkeitssemantik durch die des Ernstfalls ersetzen müssen, um zu einer strukturell weitestgehend analogen Relation des Staats/Politischen zur Gesellschaft/den Sachgebieten zu gelangen. Die Notwendigkeit, das Politische nicht als ein Sachgebiet neben koexistierenden anderen zu konzeptualisieren, sondern es als das Totale60 zu begreifen, ergibt sich aus der vorausgesetzten Annahme seines alle anderen Sachgebiete integrierenden Primats. 55 Vgl. Heinrich Meier: Die Lehre (FN 53), S. 45. 56 Meier weist zu Recht darauf hin, daß reine Überordnung des Politischen als Sachgebiet - "wie jeder Anspruch auf Überordnung und Gehorsam - bestreitbar" bliebe (ebd., S. 57). 57 Der Anthropologie, die auf das "Ganze" des Menschen geht (und also auf Einheit) wäre in diesem semantischen Kontext die ästhetische Komponente des Schmittschen Diskurses nebenzustellen. Vor allem Friedrich Balke hat auf die "ästhetische [ . . . ] Imprägnierung des von Schmitt entfalteten Begriffs des Politischen" hingewiesen und deren Sachgehalt am Beispiel der "kulturellen Wirksamkeit ästhetischer Praxis" zu exemplifizieren versucht. Was sich, jenseits möglicher Sachhaltigkeit, m.E. auf jeden Fall festhalten läßt, sind die ästhetischen Konnotationen des Schmittschen Diskurses in ihrer Funktion der Produktion von Totalisierungseffekten, die der alten und neuen Funktion des Politischen entgegenkommen. Vgl. Friedrich Balke: "Zur politischen Anthropologie Carl Schmitts", in: Hans-Georg Flickinger (Hg.): Die Autonomie des Politischen. Carl Schmitts Kampf um einen beschädigten Begriff, Weinheim 1990, S. 37-65, hier S. 48 f. 58 Heinrich Meier legt deshalb folgerichtig den Akzent auf diejenigen Formulierungen Schmitts, in denen das Politische als das "Maßgebende" bezeichnet wird (Heinrich Meier: Die Lehre [FN 53], S. 57). 59 Carl Schmitt: Hugo Preuss. Sein Staatsbegriff gen 1930, S. 13.
und seine Stellung in der deutschen Staatslehre,
Tübin-
60 Vgl. nochmals Heinrich Meier: Die Lehre (FN 53), S. 62: "Alles ist der Möglichkeit nach politisch, und alles ist immer schon mehr oder weniger politisch. Das Politische erscheint als unerschütterlicher Fixpunkt, von dem her, auf den hin ein Netz abgestufter Intensität das Ganze durchzieht und ordnet."
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Wäre es strukturell-operativ allen anderen Gebieten gleichgeordnet, könnte es keine Führungsrolle übernehmen. Es ist gleichsam die im Modus der Potentialität für alle anderen Unterscheidungen funktionierende Leitunterscheidung, der Einheitsgarant der Differenz von Politik und Gesellschaft.61 Daß mit dieser Konstruktion ein weiteres Mal auf die hintergründige Paradoxie dieser Relation verwiesen wird, liegt auf der Hand: Auf die erneute Frage, was die Einheit dieser neuen Differenz markieren könne, auf die eine Seite der Unterscheidung zu verweisen, also das Différente als Identitätsadresse seiner selbst und des von ihm Unterschiedenen zu benennen, führt aus der paradoxalen Konstitution der alten Unterscheidung nicht heraus. Die Strategie wird nur gleichsam sublimer: Schmitt läßt einerseits den gesellschaftlichen Sachgebieten ihre unterscheidungstypische, différentielle Eigenlogik, baut aber andererseits eine Grundfigur auf, in der eine Verschärfung der Unterscheidungsintensität zu einer Aufhebung der sachlogischen Unterscheidung und damit zu einem Übergang in die umgreifende Logik des Politischen führen kann: "Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren." 62 Die Einheit der Unterscheidung des Politischen von anderen koexistenten Sachgebieten funktioniert, weil die eine Seite der Unterscheidung nur mit sich potentiell - im Ernstfall - selbstaufhebenden Unterscheidungen operiert. Die eigentliche Funktion des Intensitätsmodells wird damit plausibel als der fortgesetzte Versuch, die Logik gesellschaftlicher Homogenisierung und Synthetisierung auch weiterhin dem politischen System zuzumuten, das dementsprechend, gemäß der alten semantischen Implikation des Staatsbegriffs, als koextensiv mit dem Gesellschaftssystem angelegt wird.
VII. Wie lassen sich auf dieser Folie die späten Schriften Carl Schmitts interpretieren? Führen sie möglicherweise zu den Umrissen eines neuen Paradigmas? Ließe sich namentlich die Afo/noi-Schrift als ein Versuch interpretieren, die Weichenstellungen für eine künftige Politik auf Weltniveau, jenseits der Differenz von Staat und Gesellschaft, grundbegrifflich zu umreißen? Markiert das Ende des jus publicum europaeum den take off zu einer neuen Leitdifferenz, die die Explikationsdefizite, paradigmatischen Sackgassen und Normativismen der alten Unterscheidung umschifft und zumindest Facetten für alternative Beobachtungsmodi entwickelt? Vorbehaltlich genauerer Untersuchungen wird man die Schmittschen Analysen im Hinblick hierauf skeptisch beurteilen müssen.
61 Dieses strukturelle Niveau und deshalb auch den Begriff der "Potentialität" verkennt Stefan Breuer, wenn er an Schmitts Begriff des Politischen bemängelt, es sei, weil "es aus der Intensivierung und Steigerung der verschiedensten Bereiche des menschlichen Lebens entsteht, [ . . . ] in Wahrheit Nichts, ein Sein, das gegen alle Bestimmungen gleichgültig ist [...] eine Intensität ohne Inhalt, ein auf das Wollen seiner selbst reduzierter Wille" (Stefan Breuer: "Nationalstaat" [FN 29], S. 194). 62 Carl Schmitt: Begriff des Politischen
(FN 3), S. 37.
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Sein Rückgriff auf den Partisan als Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen entpuppt sich schlußendlich als krudes Beispiel eines Nahkampf-Interaktionismus, dessen paradigmatische Stellung für eine Erörterung der Qualitäten des Politischen nach dem Ende der Staatlichkeit schleierhaft bleibt. Natürlich: die Gestalt deckt, neben der Intensitätsdimension "des politischen Engagements",63 ihrer Irregularität und gesteigerten Mobilität, auch tellurische Dimensionen ab und ist insofern Garant eines sozialintegrativen Moments des Politischen, das als (post-)genuine Handlungsform des Politischen immer noch seinen Raum- und Territorialitätsbezug wahrt. Mehr aber ist von ihm kaum noch zu erwarten. Auch Schmitts sicherlich zentrale Nachkriegsschrift, das Afcwww-Buch, hebt, im Verbund mit den völkerrechtlichen Überlegungen, unter dem Strich lediglich eine freilich zentrale Facette frühneuzeitlicher Staatsbildung hervor: ihre Territorialität. Die zentrale These, territoriale Souveränität verwandele sich "in einen leeren Raum für wirtschaftlich-soziale Vorgänge", in denen der "äußerliche territoriale Gebietsstand mit seinen linearen Grenzen" zwar garantiert wird, "nicht aber der soziale und wirtschaftliche Inhalt der territorialen Integrität, ihre Substanz",64 wird in der Folge und schon vorher mit dem Gegensatz von Land und Meer expliziert. Vor allem diese Differenz aber wiederholt lediglich die alte von Staat und Gesellschaft, sucht in ihr gleichsam die Explikation ihrer historischen Genesis. "Land steht für regulierte Staatenbeziehung, Begrenzung des Krieges, Monopolisierung des Politischen durch den Staat: Meer hingegen für indirekte Einflußnahme durch universalen Welthandel, Enthegung des Krieges, Vorrang der Gesellschaft vor dem Staat. "6S Schließlich, um ein letztes Beispiel zu geben, bleibt auch Schmitts Reflexion auf "Die Einheit der Welt" im Bannkreis des alten Paradigmas. In seinem Kern eine Überlegung zur Frage nach der Einheit des Politischen auf Weltniveau, zeigt sich auch hier, beim späten Schmitt, daß kein Konzept zur Hand ist, das eine nicht-zentralistische Fassung des Einheitsbegriffs erlaubte. Deshalb wird die Frage nach der Einheit der Welt zentralistisch als die nach einem "einzig[en] Zentrum politischer Macht"66 gestellt. Dieser Zentralismus ist aber, speziell in diesem Aufsatz, nicht nur der konkreten politischen Situation des kalten Krieges entlehnt, gewinnt nicht nur hieraus seine supranationalistische bzw. großraumorientierte Argumentation. Vielmehr ist diese Version des Zentralismus der subkutan immer noch wirksame Effekt der alten Leitunterscheidung, die von der Politik gesellschaftszentrale Homogenisierungsleistungen erwartet oder sie zumindest technikkritisch-sentimental erinnert.
63 Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 28. Vgl. zu Schmitts Partisanenkonzeption v.a. Marcus Llanque: "Ein Träger des Politischen nach dem Ende der Staatlichkeit: Der Partisan in Carl Schmitts politischer Theorie", in: Herfried Münkler (Hg.): Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990, S. 61-80. 64 Carl Schmitt: Der Nomos der Erde, Köln 1950, S. 226. 65 Joachim Klaus Ronneberger: "Der Partisan im terroristischen Zeitalter", in: Herfried Münkler (Hg.): Der Partisan (FN 62), S. 81-95, hier S. 84. 66 Carl Schmitt: "Die Einheit der Welt", Merkur, 6. Jg., Heft 1 (Januar 1952), S. 1-11, hier S. 1.
Paradigmatische
Erschöpfung
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VIII. Letztendlich und trotz aller intendierten Modifikationen hängt Carl Schmitt einem hierarchischen Gesellschaftsmodell nach, der erkannte Pluralismus autonom operierender Sachgebiete wird, statt die theoretischen Konsequenzen und Folgeprobleme in einem heterarchen und polyzentrischen Gesellschaftsmodell zu ziehen, schlußendlich in das Prokrustesbett politischer Synthetisierung gepreßt. Bei aller erklärten Globalperspektivik kommt Schmitt damit über eine unter dem Strich monozentrische, auf das "Politische" fixierte Weltsicht nicht hinaus. Die Alternative, einen globalen Welt(kommunikations)zusammenhang polyzentrisch, d.h. in diesem Zusammenhang: als ein Ensemble mehrerer Zentren, von denen keines mehr exklusive Repräsentationsfunktionen für das "Ganze" 67 einzunehmen in der Lage ist, zu denken, scheint ersichtlich nicht auf. Dies limitiert folgenreich mögliche soziologische Anschlüsse an den Schmittschen Diskurs. Die Funktion, in die Schmitt (und nicht nur er!) den modernen Staat zwingt, ist die eines Garanten für das Ordnungsproblem. Auf die Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, lautet die Antwort zunächst: durch den Staat, dann: durch das Politische. Das strukturelle Relationsniveau zur Gesellschaft bleibt, mutatis mutandis, beide Male das Gleiche. Die Soziologie hat sich freilich mittlerweile von dieser Hobbesschen Antwort auf das Hobbessche Problem verabschiedet. 68 Systemtheoretisch zumindest läßt sich, um dies abschließend nochmals klar zu markieren, keine Frage nach der politischen Einheit einer Gesellschaft stellen, 69 weil gesellschaftliche Einheit - als der Anspruch, die Gesellschaft in der Gesellschaft zu repräsentieren - von keinem ihrer Funktionssysteme zureichend und mit Anspruch auf verbindliche Geltung repräsentiert werden kann. 70 Oublier Schmitt? Der grobe Durchgang durch sein Werk zeigt zumindest dies: Die forcierte Suche nach einer neuen, komplexitätsadäquaten Semantik, die in der Lage wäre, das neue Niveau politischer Kommunikation im 20. Jahrhundert einzufangen, ist
67 Dies ist, um das nochmals zu betonen, in einem systemtheoretischen Zusammenhang nicht mehr als die Summe divergenter, nicht ineinander überführbarer, nicht aufeinander projizierbarer, aber auch nicht hierarchisch integrierbarer System-Umwelt-Differenzen. 68 In diesem Sinne also ist Schmitt durchaus noch Hobbesianer - wenn das denn Hobbesianismus ist. Vgl. die Rezension Stefan Breuers zu Günter Meuter: Der Katechon, Berlin 1994, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Februar 1995, S. 10 sowie den Beitrag von Meuter in diesem Band. 69 Ob "jenseits der notwendigen Kritik an Schmitts Politischer Theologie [ . . . ] die Frage, ob politische Verfassung nicht theologisch im weiteren Sinne kollektiver Überzeugungen der Bürgerschaft wurzelt und politisch-theologisch bedacht werden muß" (so Reinhard Mehring: "Geist gegen Gesetz" [FN 43], S. 244) in dieser Weise zureichend scharf gestellt ist, sei deshalb zumindest mit einem Fragezeichen bedacht. 70 U.a. deshalb beantwortet die Soziologie die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen sozialer Ordnung nicht mehr durch Rekurs auf eine ausgezeichnete gesellschaftliche Institution oder ein ebensolches Sachgebiet, sondern durch Rückgang auf die Elementareinheiten sozialer Systeme und die daran anschließende Frage der (erwartbaren) Anschlußfähigkeit eines Elements an das vorhergehende. Theoriebautechnisch gesehen konvergieren darin selbst so unterschiedliche Theorien wie die von Luhmann und Habermas; auch letzterer versteht Verständigungsorientierung als einen Mechanismus der WmA\ungs,koordinierung.
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schließlich zum Scheitern verurteilt. Gerade die Schmittsche Verabschiedung des Staatsbegriffs macht deutlich, daß die Insuffizienz einer alten Semantik zwar erkannt werden kann, ihre Implikationen freilich derart tief sitzen, daß man sich zwar von Begriffen, nicht aber von den durch sie traditionell aufgebauten Relationen befreien kann. Insofern bildet das Werk Schmitts den nachgerade paradigmatischen Fall für eine "Übergangssemantik", die nach neuen Schläuchen sucht, in die sie aber nur den alten Wein füllen kann. Oder anders: Auch das Ende des alten Paradigmas wird mit den begrifflichen Mitteln des alten Paradigmas beschrieben. Das kommt dem Versuch gleich, Konflikte unter Konfliktbedingungen lösen zu wollen, also: nicht lösen zu können. Die Alternative dazu ist: Die Wirklichkeit moralisierend zu beobachten, ihr vorzuwerfen, nicht mehr so strukturiert zu sein, wie es die Unterscheidung verlangt. Was am Schmittschen (Euvre auffällt, ist genau diese Doppelstrategie: In radikaler Weise und luzider Kenntnis der Texttradition wird zunächst die Leitunterscheidung von Staat und Gesellschaft zur Analyse der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit herangezogen, um sie dann, in einem zweiten Schritt, in ihrer analytischen Insuffizienz zu beobachten, wobei viele Stellen den ambivalenten Eindruck hinterlassen, nicht genau unterscheiden zu wollen, ob die gesellschaftliche Realität oder ihre unterscheidende Beschreibung selbst als insuffizient bzw. mangelhaft deklariert wird.
Armin Adam
Deutscher Patriotismus? Zwei Anmerkungen zur Diskussion über die deutsche Nation
Eine neue Diskussion hat Deutschlands Feuilletons erfaßt: fünf Jahre nach der politischen Wiedervereinigung steht die Frage nach Deutschland auf der Tagesordnung. Eingekeilt zwischen fremdenfeindlichen Exzessen einerseits und der vorgeblich neuen Normalität andererseits tut sich ein Feld auf, von dem nicht einmal sicher ist, ob es überhaupt bestellt werden soll. Die Gegner dieses Unternehmens nämlich behaupten, die Diskussion über Deutschland arbeite den nationalistisch auftretenden Lemuren in die Hände; die Verfechter dieses Projektes argumentieren dagegen entweder damit, daß gerade das Tabu, das über der Nation liegt, zu den chauvinistischen Exzessen führt oder aber sie klagen 45 Jahre nach einem zweiten Versailles das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen auch in der zentralen Frage der nationalen Identität ein. Nun ist "Deutschland" in dieser Diskussion kein monolithischer Block: die Fronten des Streites über den deutschen Patriotismus verlaufen quer zu den politischen Lagern - sie sind nicht zuletzt durch die verschiedenen historischen Erfahrungen gekennzeichnet, die Ost und West bestimmen. Diese Erfahrungen bestimmen Ausgestaltung und Funktion des Patriotismus im politischen Gedankengebäude der Diskutanten. Politisches Denken heißt nicht der bloße Nachvollzug, heißt nicht die Abbildung des Tagesgeschehens. Politisches Denken heißt experimentieren: Die beobachtbaren Elemente der Politik werden auf ihren ideellen Kern befragt, um so in einer etwas anderen Ordnung der Dinge diskutiert zu werden. Die Ergebnisse dieser Experimente lassen sich nicht einfach in die politische Wirklichkeit tragen, weil es sich um Gedankenexperimente handelt. Im folgenden werden zwei solche Experimente präsentiert. Das erste handelt vom Zusammenprall zweier Kulturen im Prozeß der sogenannten Wiedervereinigung und von der Bedeutung des Wohlstandes für die nationale Identität der Bundesrepublik Deutschland. Das zweite nimmt den spezifisch deutschen Begriff der Nation zum Ausgangspunkt, um die Problematik eines deutschen Patriotismus zu skizzieren. Beide Experimente sind in einer zeitgeschichtlichen Erfahrung begründet: daß auch 5 Jahre nach der Wiedervereinigung die institutionelle und die politische Einheit Deutschlands nicht ineins fallen. Im Begriff der "politischen Einheitsbildung" hat die deutsche Staatslehre der 20er Jahre dieses Jahrhunderts ein zentrales, ganz besonders deutsches Problem anvisiert, das sich im Grenzgebiet zwischen Verfassungstheorie und Politischer Soziologie auftut. Notwendig wurde der Blick auf dieses Problem, weil die neue demokratische Verfassung die trügerische Sicherheit des Staatsdenkens erschütterte. Die seit Hegel beschworene Unterscheidung von Staat und Gesellschaft jedenfalls war unter den Bedingungen der
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Volkssouveränität und des allgemeinen gleichen Wahlrechts kaum haltbar. Deshalb rückten die Möglichkeiten der "Integration" der Gesellschaft in den Staat in den Vordergrund einer Staatsrechtslehre, die sich der "Wirklichkeit des 'soziologischen Staats'" öffnete. 1 Diese Wirklichkeit aber bestand aus einer Summe von Differenzen, nicht aus einer vorgängigen Einheit. Der Blick auf das staatsrechtliche Denken der Weimarer Republik könnte als Folie der irrtümlich sogenannten "Deutschen Wiedervereinigung" dienen.
1. Wohlstandspatriotismus Unter welcher Flagge segelte die Revolution von 1989? "Wir sind das Volk" skandierten die Menschen auf der Straße. So selbstverständlich dieser Slogan im gegebenen Moment erscheinen mochte, heute stellt er viele Rätsel. Wir sind das Volk, das hieß allererst: Ihr da oben, wir da unten. Hieß: Wir sind der Grund Eurer Herrschaft. Uns gegenüber muß sich alle Herrschaft rechtfertigen. In unserem Dienste steht jede Regierung. Unsere Wünsche müssen der Motor eurer Handlungen sein. Das Volk also, auf das jede Demokratie sich berufen muß. Die Menschen auf der Straße machten 1989 eine Kluft sichtbar: Die Menschen, die von sich behaupteten, sie seien das Volk, erkannten in der Regierung nicht mehr ihre Regierung. Ein großer Schwindel flog auf; ein Schwindel, von dem jeder gewußt hatte und der dennoch die Wirklichkeit bestimmen konnte. Als sich das Volk als "Volk" auf der Straße wiederfand, mußte der Schwindel auffliegen, der von der strengen Scheidung von privat und öffentlich gelebt hatte. Aber was bedeutet es für diese Menge von Menschen, die durch die Straßen zieht, daß sie sich als Volk bezeichnet? Deutlich wird, daß die Menschen der D D R - entgegen allen Hoffnungen der SED - politisch eben nicht organisiert waren. Die breite Erfassung durch die Partei und ihre Unterorganisationen droht über die Bedeutungslosigkeit eben dieser Erfassung hinwegzutäuschen. Bedeutungslos heißt: für die Menschen nicht unbedingt entscheidend. Damit verbindet sich eine tiefe Distanz gegenüber der politischen Organisation insgesamt: 1989 tritt die ganze Bedeutungslosigkeit der D D R für ihre Bürger hervor. Diese Bedeutungslosigkeit beruht darauf, daß ihre Bürger tatsächlich keine Bürger sind. "Das System" ist fremd; was Demokratie genannt wird, eine Form der Fremdbestimmung. Die Bürger empfinden sich als Untertane. 1989 nehmen die zu Untertanen degradierten Bürger der Deutschen Demokratischen Republik die Republik selbst in die Hand. Die Republik, das ist die res publica, die öffentliche Sache. Die Bürger werden wieder Bürger, indem sie sich auf der Straße, also öffentlich als Volk beschwören. Aber was ist das Volk? Diese Frage bildet eine Altlast der Revolution von 1989. Die Menschen auf der Straße haben sie negativ beantwortet: Das Volk, das sind die, die nicht regieren. Aber zu einer politisch-positiven Bestimmung des Volkes ist es nicht gekommen. Altmodisch gesprochen und von allen Vorsichtsmaßnahmen umgeben, deren dieser Begriff bedarf, mag ein Volk als eine Menge von
1
Vgl. Rudolf Smend: "Verfassung und Verfassungsrecht" (1928), in: ders.: Staatsrechtliche gen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 42.
Abhandlun-
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Menschen bezeichnet werden, die sich durch den Willen zur gemeinsamen Existenz bestimmt. An dieser dunklen Stelle liegen viele Rätsel der politischen Existenz begründet. Institutionell ist der Wille zur gemeinsamen Existenz durch den geschlossenen Übertritt der dann sogenannten Neuen Bundesländer in die Bundesrepublik Deutschland verwirklicht worden. Aber worin gründete dieser Wille? Wolfgang Thierse, stellvertretender Vorsitzender der SPD, einer der wenigen Politiker aus den neuen Bundesländern, deren Stimme auch im Westen gehört wird, hat in einem Interview2 behauptet, daß in der DDR "die Sehnsucht nach der Einheit der Nation inhaltlich immer gekoppelt (war) mit der Sehnsucht nach Freiheit, Demokratie und Wohlstand". Ein nicht-nationalistischer Nationalismus wäre das gewesen, einer also, der nicht aus der Annahme von völkischen Grenzen, sondern von universalen Prinzipien gespeist worden wäre. Die Wiederkehr des Nationalismus, die jetzt zu beobachten sei, verdanke sich jedoch einer Enttäuschung dieser Sehnsucht. Wer glaubte, die Wiederherstellung der Nation bedeute auch, "daß wir Demokratie leben, daß wir Freiheit erfahren, daß wir gerechten Wohlstand gewinnen", der scheint getäuscht worden zu sein. Hier bleibt Thierse vage; welche Sehnsucht ist enttäuscht worden? Die Sehnsucht nach Demokratie, die nach Freiheit oder die nach Wohlstand? Also noch einmal die Frage: worin gründet(e) der Wille zur gemeinsamen Existenz? Der Glaube an die Nation ist der Glaube, daß ein Volk den Willen zur gemeinschaftlichen Existenz hat. Als Nation wird das Volk politisch: es konstituiert und ergreift die res publica in einem Atemzuge. Es eröffnet einen politischen Raum, der als gemeinsamer Raum erfahrbar wird. Ist es diese gemeinsame Kultur, die die Menschen auf der Straße beschworen haben? Wer ist das "Wir" des Volkes? Die Revolution von 1989 litt von Anbeginn darunter, daß sie eine einseitige Willenserklärung war. Denn zum Volk, das die Bürger der ins Wanken geratenen DDR beschworen, gehörten - darüber ließ schon bald die politische Entwicklung keinen Zweifel - auch die Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Die aber, so läßt sich behaupten, waren schon längst ein mehr oder weniger abgeschlossenes Volk. Ein Volk, das ganz wesentlich durch westliche Politikmuster und westliche Kultur geprägt war. Die nationale Idee war in der Bundesrepublik vor allem Reminiszenz an vergangene Größe. Das Deutschland der Gegenwart, das war eine moderne, durch Marktwirtschaft, angel-sächsische Demokratievorstellungen und amerikanische Kultur geprägte Gesellschaft. Trotz aller historischer Erinnerung war Brüssel näher als Leipzig, Washington näher als Ost-Berlin, Venedig näher als Dresden. Der oft beklagte kühle Empfang, den die Westdeutschen ihren ostdeutschen Brüdern und Schwestern bereitet haben, hatte zwei Gründe: Erstens waren die Bürger der DDR fremd. Wenn sie auch die gleiche Sprache sprachen, ihre Gedanken schienen fremd. Man mag das mit der Modernisierungskluft erklären, die die alte Bundesrepublik und die DDR trennte. Zweitens aber hatten die Bürger der Bundesrepublik von Anbeginn die Intuition, daß das Projekt "Wiedervereinigung" eben nicht aus der Portokasse zu bezahlen wäre. Es ist beklagt worden, daß angesichts der nationalen Herausforderung überhaupt ökonomisch argumentiert worden ist. Das aber ist der Preis der Modernisierung und Demokratisierung Deutschlands (West). Denn der Erfolg der Bundesrepublik beruh2
Süddeutsche Zeitung vom 10. März 1994.
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te auf der Konzentration aufs Wirtschaftliche und dem Ausschluß der nationalen Frage. Die Effekte der europäischen Marktgesellschaft haben ehemalige Feindschaften zum Verschwinden gebracht und historische Verwandtschaften unkenntlich werden lassen. Das Wirtschaftswunder hat die politische Einheit der Bundesrepublik gestiftet. Zwischen dem US-Dollar und der italienischen Lira konnte die deutsche Identität verankert werden. Deutsch ist das Auto, das jeder besitzt und die Reise nach Mallorca. Wenn es denn einen deutschen Patriotismus seit den 50er Jahren gegeben hat, dann wird man von Wohlstandspatriotismus reden müssen. Wohlstand ist die Legitimitätsquelle der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist in dem Maße ein liberaler, moderner Staat geworden, in dem die Bürger den Staat an ihrem Portemonnaie maßen - und eben nicht an der Verwirklichung einer wie auch immer gearteten Idee der Sittlichkeit. Durch die Revolution von 1989 sind diese Selbstverständlichkeiten nur kurz erschüttert worden. Auf den Straßen wurde ein Volk beschworen, das keines war. Eines, das immer erst noch werden soll. Das ist das Projekt der Kulturnation, das Projekt des "aufgeklärten Nationalbewußtseins", wie es Thierse formuliert. Die kurzzeitige Öffnung des politischen Horizontes wurde schnell durch die institutionelle Angleichung erledigt. Ebenso schnell sollten sowohl die Bürger in Ost als auch die in West die inneren Grenzen der Nation deutlich spüren, die Grenzen des Wohlstandes nämlich. Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit scheinen jetzt den Erfolg des westlichen Demokratieexportes in den neuen Bundesländern zu gefährden. Angesichts der massiven Ausbreitung der Arbeitslosigkeit, so Thierse, ist der frühere Wunsch nach Demokratie und erlebter Freiheit in Gefahr. Die gereinigte Vision der nationalen Idee droht schlimmsten nationalistischen Exzessen Platz zu machen. Und an die Stelle des Wunsches nach Demokratie und Freiheit kann die Verklärung der DDR treten. Aus dem Blickwinkel des Wohlstandes heraus interpretiert der Westen das politische Versagen des Ostens. Aber das Problem liegt tiefer: Die Menschen, die sich auf der Straße als Volk bezeichnet haben, hatten von Anbeginn weniger die nationale Idee der Wiedervereinigung im Kopf als den Anschluß an eine liberal-demokratische Marktgesellschaft, die Wohlstand versprach. Aber das durfte natürlich nicht sein, denn die Linke wollte wenigstens den politischen Einsatz dieser Revolution retten, den Ruf nach Selbstbestimmung, die Rechte den nationalen Einsatz, die Idee Deutschlands. Deshalb waren die ökonomischen Motive tabu im konsensualen Diskurs der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. In welchem Maße aber gerade diese ökonomischen Motive für eine Demokratie moderner Prägung entscheidend sind, das wird sichtbar, wenn ein Wohlstandsplateau verlassen wird, auf dem man sich häuslich eingerichtet hat oder wenn ein solches Plateau trotz aller Versprechungen nicht erreicht werden kann. Die Wiedervereinigung ist der vielbeschworene Ausnahmezustand, der sichtbar macht, was im Normalfall verborgen ist. Die phantasmatische Reinheit der nationalen Idee und die Sittlichkeit der demokratischen Lehre werden durch die Schamlosigkeit der ökonomischen Interessen natürlich verletzt. Die Wahrnehmung der ökonomischen Interessen der Bürger bedeutet eine kühle Sachlichkeit gegenüber dem Versprechen von politischer Gemeinschaft, das sich in der demokratischen ebenso wie in der nationalen Idee ausdrückt. Daß die politische Einheit eines Volkes nicht zuletzt eine Funktion der ökonomischen Integration ist, war die Erkenntnis eines Wegbereiters des Sozialstaates,
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des Staatsrechtlers Hermann Hellers. 3 Die Idee eines demokratischen und friedlichen Deutschlands ist, wie die Idee jedes anderen demokratischen und friedlichen modernen Staates, ohne ein Mindestmaß an Wohlstand nicht zu denken. Deshalb ist das Schicksal des "Projektes Vereinigung" durch ökonomische, nicht durch nationale Herausforderungen bestimmt. Allerdings erweist gerade das Experiment "Vereinigung" auch die Schwäche der Legitimitätsquelle "Wohlstand". Die neue Fremdheitserfahrung der ostdeutschen Bürger gegenüber dem (west-)deutschen Staat hat mit dem prinzipiellen Hindernis zu tun, den Wohlstand einer Institution zuzurechnen. Ostdeutsch ist der Glaube an den Staat, der nicht bloß erwirtschafteten Wohlstand zu verteilen hätte, sondern der die Quelle des Wohlstandes selbst sei. Deswegen ist der Staat, nicht die Gesellschaft der Adressat der ostdeutschen enttäuschten Sehnsüchte. Bundesrepublikanisch, nach 45 Jahren westlichpolitischer Sozialisation muß dieser Glaube - wie verständlich er auch sein mag - als Regression erscheinen. Der große Ver- und Entsorgungsstaat erscheint als Bedrohung der Freiheit. An dieser Stelle, so läßt sich vermuten, verläuft die Frontlinie zweier politischer Kulturen. Entlang dieser Linie wird die Frage nach der deutschen Einheit als einer kulturellen Einheit entschieden.
2. Deutscher Republikanismus Was heißt "nationale Identität", wenn von Deutschland die Rede ist? Der Schrecken und die Scham über die Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, daß diese Frage selbst tabuisiert worden ist. Als ob es darum ginge, die deutsche Nation vor der Beflekkung zu schützen, arbeiteten sich zwei ganz verschiedene Tendenzen in die Hände: Das Verbot nämlich, nach dem Unglück, das Deutschland über die Welt gebracht hat, überhaupt über die Nation nachzudenken und die Verstockung, die in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nur einen Unglücksfall sehen wollte, der nicht mit der Nation, sondern mit der Pervertierung des Nationalismus zu tun gehabt hätte. So konnte, Ironie der Geschichte, das Dritte Reich einen Schutzwall um die deutsche Nation ziehen. Das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges tat ein übriges dazu: es überlagerte durch einen ideologischen Überschuß die nationale Frage. Die Wiederkehr dieser Frage gehört zu den Folgen der Wiedervereinigung. Dabei handelt es sich ganz wesentlich um eine westdeutsche Frage. Sie hat mit einer Unsicherheit über die Bedeutung der Revolution von 1989 für die Westdeutschen zu tun. Die Bürger der DDR hatten Freiheit und Wohlstand erstrebt; aber was sollten die Westdeutschen erhoffen, die mit diesen Gütern doch schon gesegnet waren? Pathetisch gesprochen: die Rückkehr ins Vaterland. 4 Der Wiedergewinn eines schon verloren geglaubten
3
Vgl. Hermann Heller: Politische Demokratie und soziale Homogenität, hg. von Martin Drath u.a., Bd. II, Leiden 1971.
in: ders.: Gesammelte
Schriften,
4
So Manfred Riedel: "Kehre der Zeit als 'Zeitkehre'. Zum 'Vaterland in der Zeit'", in: Petra Braitling u. Walter Reese-Schäfer (Hg.): Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen. Philosophen und die Politik, Frankfurt a.M. 1991, S. 97-107.
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Deutschlands. Denn nicht nur hatte die militärische Niederlage 1945 zur geographischen Teilung des Landes in der Mitte Europas geführt; es war vielmehr die schon vorher besiegelte politisch-moralische Niederlage der Deutschen, die diesen später die Nation versperren sollte. Jetzt aber, so scheint es, steht mit der politisch-geographischen Wiederherstellung der Einheit auch der Weg zur nationalen Einheit offen. In dem Maße jedoch, in dem diese Einheit auf sich warten läßt, vermehren sich die Versuche, sie zu beschwören. Und in dem Maße, in dem gespürt wird, daß unter der Flagge Deutschlands vielleicht eine Nation segelt, ganz sicher aber zwei Kulturen, wird die Suche nach den nationalen Grundlagen der Einheit verstärkt. Nichts ist fragwürdiger als die nationale Einheit der Deutschen. Die deutsche Nation ist nicht erst unter dem Diktat der Sieger und ihrer willfährigen Gehilfen fragwürdig geworden, wie so manche gerne glauben möchten; die deutsche Nation ist immer schon fragwürdig. - Das war Bismarck bewußt, der noch 1848 vom "Nationalitätsschwindel" schrieb, bevor er sich eben dieses Schwindels bediente, um ein deutsches Reich unter preußischer Vorherrschaft in Versailles zu gründen. - Und wenn es denn so etwas wie einen Kernbestand deutscher Nationalität gibt, dann liegt er in eben dieser Fragwürdigkeit. Deswegen gehen die Aufforderungen in die Irre, die Deutschen sollten ein ebenso unverkrampftes Verhältnis zu ihrer Nation einnehmen wie die Franzosen oder Amerikaner. Sie gehen vor allem deswegen in die Irre, weil deutsche Nation etwas anderes meint als amerikanische oder französische Nation. Denn die französische und amerikanische Nation sind politische Einheiten: ihr Grund ist das Politische selbst. Nicht ein Raum, nicht die Herkunft aus alten Zeiten, nicht eine Verbundenheit von Natur sind die Bezugspunkte dieser Nationen, sondern die Aktivitäten ihrer Bürger. Die Nation der Franzosen und Amerikaner besteht aus Handlungen; ja, diese Nationen sind nichts anderes als die Handlungen, in denen sie in Szene gesetzt werden. Diese Nationen tragen das Mal ihrer Herstellung auf der Stirn. Die französische ebenso wie die amerikanische Nation sind gemacht: 1776, 1787 und 1789 markieren die großen Daten dieser Produktion. Aber ganz ebenso die Pariser Kommune und der amerikanische Bürgerkrieg, Algerien und Vietnam. Die Nation ist ein politisches Wesen: Keine Naturwüchsigkeit, nur der Wille, der sich in solchen, aber auch in weniger spektakulären Momenten äußert, kann den Zusammenhalt des Volkes verbürgen. Die französische ebenso wie die amerikanische Nation sind deshalb wesentlich Wille zur Nation, der sich in herausgehobenen Momenten der Geschichte, aber auch im tagtäglichen Plebiszit der Demokratie (Renan) bewähren muß. Sowohl die französische als auch die amerikanische Nation sind republikanische Nationen. Zur Nation gehört, wer an der Republik teilnimmt, zur Nation gehört, wer sich die öffentliche Sache zu eigen macht. Deshalb sind sowohl die französische als auch die amerikanische Nation in einem solchen Maße auf die Institutionen bezogen, die diese Mitwirkung ermöglichen: die Verfassung, die geteilten Gewalten, aber eben auch die Öffentlichkeit, das Pressewesen, der öffentliche Diskurs. Denn es sind Bürger, aus denen sich diese Nationen zusammensetzen, politische Wesen also. Die Schlüsseldaten der Geschichte dieser Nationen sind denn auch die Daten, an denen der Wille zur Nation sich als politischer Wille zu erkennen gegeben hat, als der Wille nämlich, die öffentliche
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Sache, die res publica selber zu lenken: die Erklärung der Unabhängigkeit, Verfassungstag, Sturm auf die Bastille. Die deutsche Nation blendet das Politische aus. Sie bezieht sich weder auf eine politische Geschichte noch auf eine politische Gegenwart. Sie bezieht sich auf ein Gespinst aus Raum und Herkunft, das sich entweder in Blut und Boden verwirklicht - oder aber in der Kultur. Mit der Kulturnation wird gegen das hoffnungslos diskreditierte Bild von der durch Blut und Boden bestimmten Nation opponiert. Das ist die Tradition des anderen, aber auch die Tradition des geheimen Deutschlands. Es ist das Deutschland der Dichter und Denker, vielleicht auch das Deutschland der Musiker. Bach und Leibniz, Mozart, Kant und Schiller, Goethe, Beethoven und Hegel, Hölderlin, Brahms und Nietzsche. Die deutsche Nation ist eine gedichtete, eine erdichtete Nation: "Die Grundstimmung, und das heißt die Wahrheit eines Volkes, wird ursprünglich gestiftet durch den Dichter." 5 Heidegger nennt in seiner Vorlesung 1934/35 Hölderlin den "Dichter, der die Deutschen erst dichtet", er ist "der Stifter des deutschen Seyns". Dieser Gedanke, so schroff-fremd er auch erscheinen mag, ist so unsinnig nicht. Das "deutsche Seyn" - und das kann man getrost mit: die deutsche Nation übersetzen - , so Heidegger gegen die national-sozialistischen Blut-und-Boden-Lehren, ist nicht von Natur. Ja, die deutsche Nation ist nicht einmal. Sie ist eine in die Zukunft projizierte Vergangenheit, die nie war; also weniger eine von der Verklärung der Vergangenheit lebende Stimmung des Volkes, sondern die immer ausstehende Antwort auf den Ruf der Kunst: Gerade diese Unwirklichkeit macht den Erfolg der Idee der Kulturnation aus. An den Daten ihrer Geschichte nämlich könnte die deutsche Nation nur die Erfahrung des Scheiterns machen: 1933, 1939, 1945, 1914, 1918, aber auch 1871, wo die Teilung der deutschen Nation der Preis war, der für den politisch-militärischen Erfolg eines Staates zu zahlen war. Die Geschichte der Völker ist der deutschen Nation versperrt. Deshalb kann diese Nation sich nur auf eine Geschichte beziehen, die nie Geschichte war. In der kulturellen Produktion gibt es weder Sieger noch Verlierer, ja wichtiger noch: Es gibt keine Schuld. Dabei ist es nicht ein bestimmter Inhalt dieser kulturellen Produktion, der zum Bezugspunkt der Nation taugen würde: Es ist die Tatsache der kulturellen Produktion selbst, die, als Reservat von der Herrschaft der Weltgeschichte ausgenommen, die deutsche Nation bestimmt. Allerdings: Wo die anderen Nationen sich als Republik inszenieren, muß die deutsche Nation auf diese politische Struktur verzichten, - die Geschichte hat sie ihr nicht zur Verfügung gestellt. Die Geburten der deutschen Republiken nämlich fielen nicht in die Triumphstunden des Bürgergeistes, sondern in Momente tiefer Niedergeschlagenheit. Die Besinnung auf die Nation artikuliert sich denn auch viel eher in der Form einer "Schicksalsgemeinschaft" als in der der bürgerlichen Gesellschaft. Die nämlich hatte schon Hegel in seiner Entstellung der englischen Tradition als das bloße System der Bedürfnisse erkannt, in dem das Gesetz des Marktes regiert. Die höhere, die sittliche
5
Martin Heidegger: "Hölderlins Hymnen 'Germanien' und 'Der Rhein'" (Vorlesung Winter 1934/35), in: ders.: Werke, Bd. 39, Frankfurt a.M. 1980, S. 144.
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Wirklichkeit verbürgt demgegenüber der Staat, der legitime Erbe von Kunst und Philosophie. 6 Dieser Staat selber ist Dichtung. Republik aber kann er nicht werden, weil seine Bürger allererst Volksgenossen sind. Bestimmt sowohl die amerikanische als auch die französische Tradition das Volk als das politische Subjekt, das sich im Prozeß der Selbstregierung stets neu bildet, 7 so hält eine spezifisch deutsche Tradition von Fichte bis zu den konservativen Staatsrechtslehren der 60er Jahre dieses Jahrhunderts mehr oder weniger starr an der mythischen Aufladung des Volkes fest: dieses Volk bleibt ins Dunkel seines Ursprungs verbannt, um so als die Grundlage aller (politischen) Ordnung zu dienen. Das wird nirgends so deutlich wie in der Geburtsstunde des deutschen Patriotismus, Fichtes Reden an die deutsche Nation, die den Widerstand gegen Napoleon fordern. 8 Das Volk ist immer schon da: zur Nation aber wird es durch die Beschwörung seiner Denker und Dichter. Im Begriff der Nation wird das stumme Volk artikuliert: Herders und der Romantiker Liedersammlungen, das Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Savignys historische Rechtsforschung, das sind alles Schlüssel zur deutschen Nation. Diese Nation geht also nicht aus einem Volk hervor, das sich seiner selbst in der Gegenwart politisch versichert, sondern aus den nicht bloß rechtlichen Weistümern seiner Denker und Dichter. Noch die Diskussion über eine Verfassung für das wiedervereinigte Deutschland legt von dieser Tendenz Zeugnis ab: Die politische Klasse verzichtet darauf, dem Datum 1989, das den Zerfall einer alten Ordnung unter dem Druck des Volkes markiert, ein zweites Datum folgen zu lassen, das die republikanische Gründung einer neuen Ordnung bezeichnen würde. Nicht genug, daß diese Geste ganz offensichtlich am Fortbestand der alten Bundesrepublik festhält - und so die politischen, ökonomischen und kulturellen Fremdheitserfahrungen der Bürger der ehemaligen DDR vertieft, denen Integration als Unterwerfung erscheinen kann; hinter dem Verzicht auf eine der Form nach würdige Ersetzung des Grundgesetzes durch eine Verfassung, die nach Art. 146 GG "von dem deutschen Volke in freier Entscheidung" zu beschließen wäre, versteckt sich die Weigerung, die verfassungsgebende Gewalt des Volkes anzuerkennen. Tatsächlich, so eine Tendenz der deutschen Staatsrechtslehre, 9 hat das Volk diese Gewalt nur unter der Bedingung, daß es nicht Gebrauch davon macht. Carl Schmitt hat in seiner Verfassungslehre (1928) den Ton dieser Argumentation vorgegeben: 10 Das Subjekt des pouvoir constituant - so die radikale Umdeutung der Parolen von 1789 - ist Volk nur solange es in einer ganz speziellen Unschuld verharrt, jenseits aller Institutionalisierung und Befriedung. Das Volk ist nur als Mythos das Subjekt gesetzgebender Gewalt. Wollte es
6
Vgl. Verf.: "Souveränität und Sittlichkeit. Eine Anmerkung zum Mythos des Staates", Der Staat, Bd. 33 (1994).
7
Ein letzter Ausläufer dieser - von John G.A. Pocock (The Machiavellian Moment, 1975) nicht bloß beschriebenen, sondern auch eingeklagten - Tradition ist Benjamin Barber: Starke Demokratie [1984], Hamburg 1994.
8
Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation (1807/08), bes. 7. und 8. Rede.
9
Vgl. z.B. Roman Herzog: "Kommentar zu Art. 20,2 GG", in: Theodor Maunz, Günter Dürig u. Roman Herzog: Grundgesetz - Kommentar, München 1987.
10 Carl Schmitt: Verfassungslehre
[1928], Berlin 1970, S. 77 ff., bes. S. 83 f.
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Patriotismus?
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diese Gewalt ausüben ohne eine Revolution aller politischen Ordnung, dann würde es sich als Gesellschaft zu erkennen geben; geleitet von Partikularinteressen, beherrscht von Parteiungen. Das Mißtrauen gegenüber dem politisierten Volk, das hinter der Weigerung steht, das Volk über eine Verfassung abstimmen zu lassen, schreibt das demokratischrepublikanische Defizit der deutschen Nation einmal mehr fort. Wer aber auf politischdemokratische Gründungsmythen der Nation verzichten möchte, der sollte sich nicht über die Wiederkehr anderer Mythen wundern. Die Erblast des Heiligen römischen Reiches deutscher Nationen lastet auf einer Nation, die ewig zwischen gestern und übermorgen war und ist. Eine deutsche Nation hat es nie gegeben. Die Chance heute besteht gerade nicht in der Wiedervereinigung einer fraglosen deutschen Nation. Die Chance besteht vielmehr darin, das Scheitern der deutschen Geschichte ebenso ins Gedächtnis der Nation aufzunehmen wie den politischen Willen zu einer bürgerlichen, demokratischen Gesellschaft. Nur in dem Maße, in dem das deutsche Volk die politische Sache als öffentliche und eigene Sache begreift, nur in dem Maße also, in dem die deutsche Nation Republik wird - und Republik nicht bloß der Name einer Regierungsform ist - , kann es ein unverkrampftes Verhältnis zur Nation geben. Dann könnte Patriotismus mehr heißen als die Liebe zum deutschen Volk. Dann wäre Patriotismus eine politische Liebe," die zwischen dem Volk und den Institutionen nicht mehr unterscheiden kann, in denen dieses Volk sich er- und verfaßt. Das ist die Lehre des französischen und amerikanischen Beispiels.
11 Den Begriff der politischen Liebe entwirft Pierre Legendre in: Le désir politique les montages de l'Etat et du Droit, Paris 1988.
de Dieu. Etudes sur
Personenregister
Abendroth, Lisa 227 Abendroth, Wolfgang 116,227,231 Ackermann, Anton 231 Adam, Armin 20, 50, 168, 192 Adams, John 244 Adorno, Theodor W. 139 Aegidius Romanus 95 Alexander d. Große 72 Alexy, Robert 45 Altenhofer, Norbert 121 Althaus, Paul 87 Anderson, Benedict 9 Angenot, Marc 265 Anschütz, Gerhard 76, 164 Arendt, Hannah 217, 236 f., 239, 241-246 Aretin, Karl Otmar Freiherr v. 55 Aristoteles 10, 41, 157, 244 f., 252 Bach, Johann Sebastian 293 Bachem, Karl 66 Bahlsen, Gerhard 68 Bahr, Hermann 121 Bakunin, Michail 106 Balibar, Etienne 257 Balke, Friedrich 20, 282 Ball, Hugo 138 Barber, Benjamin 294 Barion, Hans 113,219 Barrabas 77,79-81,94 Barth, Karl 83, 89 Bauer, Bruno 16, 80 f., 87, 92 f. Bauer, Jehuda 94 Baumgarten, Franz Ferdinand 141 Bäumler, Alfred 143 Bay, Jürgen 59 Beasley, Georg R. 75, 78 Bebenburg, Edgar Karg v. 134 Becher, Johannes R. 8
Becker, Jürgen 70 Becker, Werner 72 Becker, Winfried 66 Beer-Hofmann, Richard 141 Beethoven, Ludwig v. 293 Beiersdörfer, Kurt 139 Benda, Ernst 186 Bendersky, Joseph W. 65, 85, 113, 138 Beneyto, José María 56 Benjamin, Walter 76, 119 f. Benn, Gottfried 144 Benoist, Alain de 53 f. Bergbohm, Karl 29 Bergstraesser, Arnold 119 f. Bergstraesser, Erika 119 Berney, Arnold 68 Besier, Gerhard 66 f. Best, Werner 143 Betz, Johannes 98 Beyme, Klaus v. 215 Bielefeldt, Heiner 192, 197 Biewer, Ludwig 59 Binder, Julius 30 Bismarck, Otto v. 67 f., 92, 130, 146, 292 Bittner, Karl Gustav 58 Blaschke, Olaf 91 Bloch, Ernst 148, 261 f. Bloy, Léon 56 Blühdorn, Jürgen 28 Blumenberg, Hans 84 Bock, Gerhard 133 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 28, 55, 62, 66, 85, 203, 208 f., 233 f. Böckle, Franz 28 Bodin, Jean 10 Bogner, Hans 88 Böhm, Max Hildebert 61, 221 Bohrer, Karl Heinz 80, 149
298 Bolz, Norbert 84, 159, 192 Bonald, Louis Gabriel Ambroise 48, 120 Bonn, Moritz, Julius 114, 139 Bornkamm, Heinrich 67 Boveri, Margret 65 Bracher, Dietrich 56 Brahms, Johannes 293 Braitling, Petra 18, 291 Brandt, Willy 228 Braun, Dietrich 89 Breuer, Stefan 13, 110, 113, 192-194, 199, 200, 237, 243, 274, 283, 285 Breuning, Klaus 60 f. Brill, Hermann 220 f., 227 Broch, Hermann 115 Brock-Sulzer, Elisabeth 113 Brown, Raymond E. 75 Bryde, Brun O. 201 Buchanan, James 12 Büchner, Franz 67 Bude, Heinz 9 Bultmann, Rudolf 75, 78 Bumke, Erwin 59 Burckhardt, Carl J. 121 Burckhardt, Martin 195 Caldwell, Peter Charles 76 Cancik, Hubert 62 Carneville, f. Symon de 133 Cassian 15 Cathrein, Victor 27 f., 31, 43 Chruschtschow, Nikita 238 Cicero 10 Claudel, Paul 112 f. Clausewitz, Carl v. 223 Clauss, Max 65 Clay, Lucius D. 116 Cohen, Hermann 30 Cohen, Norman 91 Condorcet, Antoine de 105 Congar, Yves 69 Conze, Werner 55 Conzelmann, Hans 70 Cortés, Donoso 48, 56, 71, 79, 81, 95, 107-109, 120, 197 Coudenhove-Kalergi, Richard Graf 13 Craemer, Rudolf 56 f. Cranz, Karl 133 Cromwell, Oliver 144
Personenregister Daniel 72 Dante Alighieri 61 Däubler, Theodor 43, 103, 140 Dehmel, Richard 141 Deleuze, Gilles 20, 147, 254, 258-260, 262, 265 f. Demmelbauer, Josef 119 Dempf, Alois 55 f., 60-62, 68, 94 Denzler, Georg 62 Descartes, René 99, 102 f. Deutsch, Karl W. 10 Diener, Roger 68 f. Dilthey, Wilhelm 223 Disraeli, Benjamin 91 f. Diwald, Hellmut 53 Dorotic, Pawla 138 Drath, Martin 19, 219-222, 226-232, 291 Drechsler, Hanno 140 Dreier, Horst 47, 79, 201, 234 Duguit, Leon 199 Dürig, Günther 294 Durkheim, Emil 179 Dux, Günther 154 Eberhard, Otto v. 133 Eberl, Matthias 139 Eggerath, Werner 227 Eichhorn, Mathias 192 Eisenhower, Dwight D. 144 Eisenstein, Elisabeth 126 Eisler, Fritz 80, 249 Elbau, Julius 92 Engels, Friedrich 138 Eribon, Didier 137 Ericksen, Robert P. 87, 90 Ernst, Paul 141 Erzsébet, Vezer 140 Eschenburg, Theodor 19 Eschweiler, Karl 87 Eßbach, Wolfgang 17, 93, 230 Eusebius 253 f. Evers, Hans-Ulrich 50 Faber, Richard 55, 62 Fassmann, Kurt 102 Feder, Gottfried 143 Fehrenbach, Elisabeth 55 Feuerbach, Ludwig 82 Fichte, Johann Gottlieb 294
Personenregister Fieffé, Eugène 133 Figge, Klaus 31, 58, 71 Firsching, Horst 19, 267 Fischer, Horst 88 Fischer, Hugo 143 Flickinger, Hans-Georg 14, 112, 282 Flusser, David 75, 78 Forsthoff, Ernst 19, 57, 83, 89 f., 105, 116, 203, 206-219, 228, 267 Foucault, Michel 20, 135, 137 f., 250 Fourier, Charles 81 Fraenkel, Ernst 187, 230 Frank, Bruno 141 Franke, Hermann 112 Frantz, Constantin 34 Franz, Georg 67 Franz Joseph II. 128 Freud, Sigmund 49, 82 Freund, Julien 145, 277 Freyer, Hans 62, 143 Friedrich, Gerhard 70 Friedrich, Manfred 83 Friedrich Wilhelm IV. 88 f. Frisch, Max 115 Fuchs, Peter 274 Funke, Manfred 56 Funkenstein, Arnos 91 Gablentz, Otto Heinrich v. d. 232 Galli, Carlo 111 Gangl, Manfred 148 Gebhardt, Jürgen 217, 235, 244 Gellner, Ernest 12 Gerber, Carl Friedrich v. 29 f. Gerstenberger, Heide 153 Gierke, Otto v. 237 Gilbert, Mary E. 134 Gleichen, Heinrich v. 62, 68 Göbel, Andreas 20 Goebbels, Joseph 65 Goethe, Johann Wolfgang v. 12, 226, 293 Goetz, Rainald 265 Goez, Werner 72, 102 Gogarten, Friedrich 57, 83, 87, 89 f. Göppinger, Horst 114 Görres, Joseph v. 68 Graciân, Baltasar 115 Gregor VII 102
299 Greive, Hermann 90 Greven, Michael Th. 34 Grewe, Wilhelm 227 Grimm, Dieter 76, 200 Grimm, Jakob u. Wilhelm 294 Groh, Dieter 31, 58, 71 Grosche, Robert 55, 60, 68 f. Gross, Raphael 16, 115 Großmann, Andreas 36 G ruchmann, Lothar 113 Gründer, Horst 66 Guattari, Félix 20, 254, 258-260, 262, 265 f. Guéhenno, Jean M. 202 Günther, Albrecht Erich 57, 62, 70, 88, 98 Günther, Gerhard 70 f. Gurian, Waldemar 55 f., 99, 112, 139 Gusy, Christoph 177 Habermann, Max 56 Habermas, Jürgen 243, 245, 285 Haecker, Theodor 72 Hafeneger, Benno 54 Hammerstein, Notker 55 Harden, Maximilian 141 Harnack, Adolf v. 102 Hart, Herbert Lionel Adolphus 43 Hartmann, Peter Claus 53 Hasenkamp, Gottfried 70 Hatzenbichler, Jürgen 54 Hederer, Edgar 132 Heerich, Thomas 110,143 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12, 42, 68, 97, 99, 104, 109 f., 141-143, 145, 197, 213, 215, 252, 276, 287, 293 Hehl, Ulrich v. 56 Heidbrink, Ludger 202 Heidegger, Martin 111, 143-145, 236, 239, 241, 244, 293 Heideking, Jürgen 115 Heine, Heinrich 239, 240 Heinemann, Gustav 7 Heinrichs, Helmut 79, 83 Heller, Agnes 138 Heller, Hermann 17-19, 144, 157 f., 160, 164-166, 171-176, 178, 184-187, 201, 220, 228- 230, 232, 249, 274, 291 Hennis, Wilhelm 217 f., 236, 238 f.
300 Herder, Johann Gottfried 294 Hermann, Istvän 138, 141 Herwegh, Georg 92 Herzl, Theodor 88 Herzog, Roman 294 Heschel, Susannah 87 Hesse, Konrad 186, 209, 215 Heuss, Theodor 65 Heydte, Friedrich August v. d. 115 f. Hinneberg, Paul 35 Hiob 139 Hippolyt 72 Hirsch, Emanuel 87, 89 Hirsch, Ernst E. 221 Hirsch, Rudolf 121 Hitler, Adolf 86-87, 90, 104, 144-146, 154, 237 f. Hobbes, Thomas 12, 17, 40, 46, 48, 93, 95, 99, 100-108, 110, 115, 120, 122, 128, 143 f., 178, 195, 197, 249, 253-256, 285 Hobsbawm, Eric J. 9 Hochhuth, Rolf 113 Höfer, Josef 98 Hofmann, Hasso 35, 47, 169, 192, 201 Hofmann, Joachim 234 Hofmannsthal, Hugo v. 17, 119-124, 126, 128, 130-135 Hölderlin, Friedrich 293 Holmes, Stephen 192, 197 Holste, Christine 140 Holstein, Günther 209 Homer 244 Höner, Sabine 59 Horst, Michael 57 Huber, Ernst Rudolf 57, 81 Huch, Ricarda 68 Hufhagel, Gerhard 115 Hugelmann, Karl Gottfried 62 Husserl, Edmund 143 Innocenz III. 101 f. Isensee, Josef 186 Iserloh, Erwin 70 Ishida, Yuji 58 Jacobi, Erwin 227 Jacobsen, Hans-Adolf 56 Jakobi, Franz-Josef 53, 74
Personenregister Jänike, Martin 99, 106, 109 Jaspers, Karl 242, 244 Jeismann, Michael 12, 53 Jellinek, Georg 32, 37, 79, 80 f., 86, 90, 158, 233 Jellinek, Walter 220 Jesus 75, 77-81, 93 f., 98, 100 f., 103, 109, 143, 154 Jhering, Rudolf v. 30 Johannes 75-78,93,110 John, Jürgen 227, 231 Joseph, Albert 113 Jung, Edgar Julius 61 f. Jung, Werner 137 Jünger, Ernst 56, 110 f., 115, 143 f., 148, 243, 249, 266 Kaiser, Joseph H. 9 , 9 9 , 1 1 3 Kallscheuer, Otto 73 Kaltenbrunner, Gert-Klaus 53 f. Kampers, Franz 123 Kanne, Johann Arnold 111, 241 Kant, Immanuel 12, 82, 240, 245, 293 Kantorowicz, Ernst H. 128, 255 Karádi, Eva 140 Karl d. Große 72 Karl V. 127, 130 Käser, Karl 9 Kassner, Rudolf 138 Katz, Jakob 91 Katz, Steven T. 88 Kaufmann, Arthur 37, 45 Kaufmann, Erich 26, 30, 82 f., 84, 91, 116, 139, 209 Kaufmann, Franz-Xaver 28 Keller, Ernst 138 Keller, Hans 62 Kelsen, Hans 25, 27, 38 f., 41, 43, 47-51, 76-82, 83, 85-87, 90, 93 f., 120, 122, 158, 187, 228, 233 f. Kempf, Friedrich 102 Kempner, Robert 65, 85 f., 116 Kennedy, Ellen 138 Keßler, Heinrich 88 Kerr, Adolf 141 Kersting, Wolfgang 12 Kervégan, Jean-François 143 Kettler, David 140, 150
301
Personenregister Kierkegaard, Sören 138 f. Kinkela, Claudia 235, 237 Kirchheimer, Otto 140, 187, 230 Kirchhof, Paul 186 Kittler, Friedrich A. 134 Klages, Ludwig 143 Klecatsky, Hans 82 Klenner, Franz Wilhelm 29 f. Kluke, Paul 65 Kluxen, Kurt 42 Knieper, Rolf 26 Knipping, Franz 115 Koehler, Benedikt 111 Koellreutter, Otto 76 f., 228 Koenen, Andreas 16 Kojeve, Alexandre 110 Koller, Peter 43 Kondylis, Panajotis 194 f., 201 Korioth, Stefan 26, 160 Korsch, Karl 221 Koselleck, Reinhart 11,73,203 Kowalsky, Wolfgang 54 Krabbe, Hugo 48, 134 Kramme, Rüdiger 192 Kraus, Karl 265 Krauß, Günther 81 Krawietz, Werner 43 Krockow, Christian v. 111 Kuehnelt-Leddihn, Erik v. 72 Küenzlen, Gottfried 239 Kühler, Peter 34 Kuhn, Thomas 268 Kühnert, Hanno 114 Kunisch, Hermann 121 Laak, Dirk van 19,113,115,201 Laband, Paul 29 f., 76, 86, 90 Ladeur, Karl-Heinz 200-202 Langner, Albrecht 66 Laski, Harold L. 90 Lauermann, Manfred 26, 110, 112, 115, 137, 140, 143, 145 Legendre, Pierre 295 Leibniz, Gottfried Wilhelm 48, 293 Lenin, Wladimir Iljitsch 140, 142, 238 Lenk, Kurt 34, 49, 64 Lesznai, Anna 149 Levi, Paul 140 Lieber, Ernst 67
Lieber, Hans-Joachim 97 Link, Jürgen 264 f. Llanque, Marcus 17, 229, 268, 284 Loening, Hellmuth 231 Lohmann, Karl 57 Lonne, Karl-Egon 66, 67 Loos, Fritz 84 Lortz, Joseph 70 Loth, Wilfried 91 Löwith, Karl 111,115,139,142 Lübbe, Hermann 9, 233 Ludwig XVI. 126 Ludz, Ursula 243, 246 Luhmann, Niklas 9, 29, 196, 201, 255, 257, 263, 270-274, 276, 279 f., 285 Lukäcs, Georg 17, 137-152, 154, 230 Luther, Martin 36, 75 Luxemburg, Rosa 140 Machleidt, Walther 70 Magenheimer, Heinz 53 Maihofer, Werner 186 Maistre, Joseph de 67 f. Maiwald, Serge 204 Mann, Heinrich 114, 141 Mann, Thomas 141 Mannheim, Karl 64, 140, 269 f. Manns, Peter 70 Marcie, René 82 Marcuse, Herbert 142 Marsilius v. Padua 237 Martens, Erika 65 Marx, Karl 80-83, 87, 91-93, 138, 142, 151, 153, 238 Maschke, Günther 95, 101, 111, 113, 116 Maschmann, Melita 145 Matzner, Jutta 139 Maunz, Theodor 294 Maus, Heinz 116 Mausbach, Joseph 28, 32 May, Georg 28 Medem, Eberhard v. 71, 97 Mehring, Reinhard 20, 47, 68, 83 f., 97, 100, 111, 143, 192, 196, 198, 278, 285 Meier, Christian 233, 241 Meier, Heinrich 15, 26, 68, 73, 85, 95, 105, 192 f., 199, 250 f., 255 f., 281 f. Meier, Kurt 84 Meinecke, Friedrich
111 f., 167
302 Melville, Hermann 114 Merkel, Adolf 82 Merleau-Ponty, Maurice 139 Metall, Rudolf Aldar 78 Meuter, Günter 17, 26, 34, 48, 71, 285 Meyer, Martin 26, 56, 110, 192 Miethke, Jürgen 97, 102 Mirgeler, Albert 56, 60 f., 64 Moeller van den Bruck, Arthur 61, 65, 68, 143 Möhler, Armin 54, 57 Mols, Manfred 217 Mölzer, Andreas 54 Montesquieu 106, 228 Moras, Joachim 62 Moraw, Peter 55, 68 Morsbach, Adolf 57 Mörsdorf, Klaus 28 Morsey, Rudolf 67 Mozart, Wolgang Amadeus 293 Mühleisen, Hans-Otto 217 Müller, Adam 32, 80, 106, 111 Müller, Christoph 219, 228, 230 Müller, Hans Dieter 65 Müller, Hartmut 66 Münch, Richard 10 Münkler, Herfried 49, 65, 284 Münzer, Thomas 142 Murray, John 75, 78 Musil, Robert 260-263, 265 Mussolini, Benito 139 Napoleon 294 Nawiasky, Hans 86 Neumann, Franz 187, 230 Neumann, Volker 198 f. Neunheuser, Burkhard 98 Neurohr, Jean f. 62 Newman, John Henry 72 Nicolaus v. Cusa 94 Nicoletti, Michele 34 Niekisch, Ernst 144 f. Niemöller, Martin 144 Nietzsche, Friedrich 143, 243, 293 Nipperdey, Thomas 12 Noack, Paul 59, 138, 140, 192, 199 Noelle, Elisabeth 65 Nozick, Robert 12
Personenregister Oberheid, Heinrich Josef 89 Olsen, Regine 138 Oppenheimer, Franz 90 Otten, Henrique Ricardo 16, 229 Palyi, Melchior 83 Pannier, Jörg 236 f., 243 Papen, Franz v. 60-62, 199 Passerin d'Entreves, Alexander 10 Paul, Rudolf 230 Paulus 70, 103 Pauw, F. de 181 Peguy, Charles 251 Pepperle, Ingrid 92 Peterson, Erik 64 Petrarca 102 Petschar, Hans 9 Pflanze, Otto 67 Pickerodt, Gerhart 122 f. Pilatus 75, 77 f., 80, 93 Pircher, Wolfgang 153 Piret, J. M. 201 Pius VII 113 Pius XI. 69 Piaton 10, 79, 157, 252, 254 Pleister, Werner 70 Plenge, Johann M. 143 Plessner, Helmuth 60, 154, 192 Pocock, John G. A. 294 Pohl, Wenzel 82 Polak, Karl 227 Popitz, Johannes 198 Popper, Leo 138 Preiser, Erich 227 Preuß, Hugo 90, 196, 278, 282 Preuß, Ulrich K. 18, 200, 229 Pross, Harry 65 Przywara, P. Erich 80, 241 Pulzer, Peter 88 Quaritsch, Helmut 34, 56, 66, 84-86, 95, 100, 113, 192, 200, 233, 241, 277 Quervain, Alfred de 31 Radbruch, Gustav 16, 25, 27, 37-43, 45 f., 49, 51, 221 Rahner, Karl 98 Ranger, Terence 9
Personenregister Rathenau, Walter 90, 159 Raulet, Gérard 148 Rawls, John 12 Redlich, Josef 120, 129, 131 Reese-Schäfer, Walter 18, 291 Reicke, Siegfried 215 Renan, Ernest 172, 292 Renner, Karl 159 Rennert, Klaus 161, 209 Reuter, Ernst 228 Reuth, Ralf Georg 65 Rickert, Heinrich 35 Ridder, Helmut 115 f. Riedel, Manfred 291 Ritter, Gerhard A. 67 f. Ritter, Joachim 28 Rohan, Karl Anton 62 Ronneberger, Joachim Klaus 284 Rosen, Zwi 93 Rosenbaum, Wolf 28 Rosenberg, Alfred 101, 143 Rosenfeld, Hüde 140 Rosenfeld, Kurt 140 f. Rosin, Heinrich 86 Rothenstreich, Nathan 92, 94 Rousseau, Jean-Jaques 133 Rüge, Amold 91 Rumpf, Helmut 95 Rüthers, Bernd 44, 113-115, 198 f. Safrai, Shmuel 75 Saint-Simon, Claude Henri de 212 f. Sanders, Hans Dietrich 145 Savigny, Friedrich Karl v. 258, 294 Schacht, Ulrich 8 Schaeder, Hans Heinrich 119 f. Schäfer, Wilhelm 67 Schambek, Herbert 82 Schatz, Klaus 66 f. Schauwecker, Franz 143 Scheidemann, Dieter 207 Scheler, Max 270 Schelsky, Helmut 95, 216 f. Scheuermann, Audomar 28 Scheuner, Ulrich 59, 215 Schieder, Wolfgang 115 Schiller, Friedrich 293 Schlaffer, Heinz 128 Schleicher, Kurt v. 199
303 Schluchter, Wolfgang 102, 172 Schmitt, Carl 11, 14-20, 25-27, 30-38, 40, 42-51, 54, 56, 58-66, 68 f., 71-73, 75 f., 79-154, 157-160, 163, 165-175, 178-184, 186 f., 191-206, 210 f., 215 f., 218-226, 229 f., 232-237, 240-243, 245 f., 249-261, 263-269, 273-286, 294 Schmitt, Karl 231 Schmitz, Manfred 34 Schmitz, Mathias 98 Schnabel, Franz 62 Schneider, Hans 130 Schneider, Peter 236 Schneider, Reinhold 132 Schnur, Roman 203 Schoeller, Bernd 121 Scholder, Klaus 62, 87, 89 Scholl, Michael 193 Schopenhauer, Arthur 115 Schorr, Karl-Eberhard 279 Schraut, Rudolf 59 Schroeder, Walter 106 Schroeder, Wolfgang 54 Schroers, Rolf 115 Schultes, Karl 229, 231 Schulz, Gerhard 115,164 Schwab, George 85, 95, 114 f. Schwarz, Hans 65, 68 Schweinichen, Otto v. 81 Schwengel, Hermann 139 Schwilk, Heimo 8 Schwinge, Erich 227 Seeckt, Hans v. 223 Seelmann, Kurt 45 Seidler, Irma 138 Shakespeare, William 122 Siebert, Werner 106 Sieyes, Emmanuel Joseph 274 Simmel, Georg 86, 164 Simson, Werner v. 101, 211 Smend, Rudolf 17, 26, 157 f., 160-166, 169, 171-173, 175, 187, 201, 207, 209, 211, 215, 220, 226, 233, 288 Smith, Adam 180 Sokrates 79, 143 Sombart, Nicolaus 92, 95, 192 Sombart, Werner 143, 243 Sorel, Georges 106, 139, 193 Sörgel, Herman 13
Personenregister
304 Spann, Othmar 143 Specorius, Günter 145 Spengler, Oswald 56, 143, 243 Spinoza, Baruch de 108, 110, 143, 253, 256 f. Sprenger, Gerhard 30, 37 Staff, Ilse 228 Stählin, Wilhelm 55, 70 Stalin 146, 154, 238 Stammen, Theo 217 Stammler, Rudolf 30, 32, 35 f., 44 Stapel, Wilhelm 69, 87, 88 f. Stein, Karl Freiherr v. 68 Stein, Lorenz v. 208, 282 Steininger, Peter Alfons 227 Sternberger, Dolf 20, 157, 233, 235-246, 249 Stirner, Max 138, 240 Stocker, Karl 9 Stoecker, Adolf 67 Stolleis, Michael 30, 35 Stoup, John 89 Straub, Eberhard 100 Strauss, Leo 68, 85, 95, 105, 256 Sziklai, Läszlo 141, 143 Tal, Uriel 94 Taubert, Inge 138 Taubes, Jakob 85,115 Tenbruck, Friedrich 239 Tertullian 250 Thierse, Wolfgang 289 f. Tholen, Georg Christoph 193 Thoma, Richard 76 Thomas v. Aquin 237, 252 Tilgner, Wolfgang 87 Tilitzki, Christian 68 f. Tommissen, Piet 31, 56, 58 f., 97, 138, 141 f., 145, 219 Torhorst, Marie 227 Trachtenberg, Joshua 91 Treitschke, Heinrich v. 16 Trelles, Camilo Barcia 95 Trilling, Wolfgang 72 Troeltsch, Ernst 14, 34, 102 Ule, Carl Hermann 100 Ulmen, Gary L. 33, 84, 137, 139, 268, 277
Valéry, Paul 261 Valli, Luigi 61 Vega, Rafael de la 141 Verdross, Albert 82 Vergil 55 Vesting, Thomas 7, 19, 25, 159, 274 Victoria v. England 92 Viehweg, Theodor 28 f. Vierkandt, Alfred 229, 269 Viesel, Hansjörg 138 Villinger, Ingeborg 17, 139 Virilio, Paul 194 Vitzhum, Wolfgang Graf 115 Voegelin, Eric 217 Vogel, Bernhard 217 Vogel, Hans-Jochen 186 Volke, Werner 121 Vollrath, Ernst 245 Vondung, Klaus 193 Vorwerk, Friedrich 57 Wacker, Bernd 26, 68, 89, 115, 278 Wagner, Albrecht 81 Wagner, Benno 265 Weber, Max 14, 32 f., 36 f., 83 f., 102, 137, 139, 143, 150, 159 f., 177, 191, 194, 204, 232 f., 237, 268 Weber, Werner 206, 219 Wehler, Hans-Ulrich 113 Weigel, Wolfgang 133 Weinberger, Ota 43 Weißmann, Karlheinz 53 f. Wenzel, Ulrich 154 Weyembergh, Monique 181, 201 Wiechert, Ernst 144 Wieland, Claus-Dietrich 65, 85 f., 113, 116 Wilpert, Paulus 94 Windscheid, Bernhard 29 Winzen, Damasus 60 Wirsing, Giselher 57 Wittgenstein, Ludwig 249 Wolzendorff, Kurt 48 Ziegler, Benno 57 Ziegler, Leopold 61 f.
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Uber die Autoren
Armin Adam geb. 1959, wissenschaftlicher Assistent am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften der Universität München. Veröffentlichungen zur politischen Philosophie und politischen Theologie, u.a. "Rekonstruktion des Politischen. Carl Schmitt und die Krise der Staatlichkeit 19121933" (1992) sowie (Hg. zus. mit Martin Stingelin): "Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen" (1995). Friedrich Balke geb. 1961, Studium der Philosophie und Germanistik und Pädagogik, Promotion 1995 mit einer Arbeit über "Der Staat nach seinem Ende. Das Problem Carl Schmitts". Zur Zeit Koordinator und Postdoc-Stipendiat des Siegener Literatur- und Kommunikationswissenschaftlichen Graduiertenkollegs "Kommunikationsformen als Lebensformen". Arbeitsschwerpunkte: politische Philosophie, französische Gegenwartsphilosophie. Veröffentlichungen zuletzt: "Das Ethos der Epistemologie", Nachwort zur Neuausgabe von Gaston Bachelards "Epistemologie" (1993); "Die größte Lehre in Häresie" Essay zur Neuausgabe von Pierre-François Moreaus "Spinoza. Versuch über die Anstößigkeit seines Denkens" (1994). Wolfgang Eßbach geb. 1944, Professor am Institut für Soziologie der Universität Freiburg, Veröff. u.a.: "Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus" (1982), "Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe" (1988), Aufsätze zur Kulturphilosophie und Religionskritik. Horst Firsching geb. 1954, Studium der Soziologie, Politische Wissenschaften und semitische Philologie in Berlin und Erlangen, Promotion 1994 ebd. über "Moral und Gesellschaft. Zur Soziologisierung des ethischen Diskurses in der Moderne" (erschienen 1994); Aufsätze zur Religionsphilosophie. Andreas Göbel geb. 1961, nach dem Studium in Bochum, wiss. Mitarbeiter im Fach Soziologie an der Universität Essen. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Kultursoziologie, Soziologiegeschichte. Veröffentlichungen zuletzt (Hg. zus. mit P. Fuchs): "Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?", Frankfurt a.M. 1994; "Naturphilosophie und moderne Gesellschaft" (Athenäum, 5, 1995) sowie Aufsätze u.a. zu F. Nietzsche und L. von Stein.
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Über die Autoren
Raphael Gross geb. 1966, Studium in Zürich, Cambridge, Bielefeld und Berlin, promoviert in Essen, 1993-95 Aufenthalt in Jerusalem, Veröffentlichungen im "Merkur" und im "Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte". Andreas Koenen geb. 1963, Studium der Politik- und Rechtswissenschaften, Geschichte und katholische Theologie in Münster, promovierte 1994 mit einer Arbeit "Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum 'Kronjuristen des Dritten Reiches'" (1995). Dirk van Laak geb. 1961, Studium der Germanistik und Geschichte in Essen, Promotion 1993 an der FernUniversität Hagen, 1991-1993 wiss. Mitarbeiter am NRW-Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, seit 1993 wiss. Mitarbeiter am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Veröff.: "Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik" (Berlin 1993); "Nachlaß Carl Schmitt. Verzeichnis seines Bestandes" (Siegburg 1993, zus. mit Ingeborg Villinger); Aufsätze zur Geschichtstheorie und zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Marcus Llanque geb. 1964, Studium der Politik- und Rechtswissenschaften sowie Philosophie in Tübingen und Frankfurt/Main, wiss. Mitarbeiter am Seminar für Politische Wissenschaften der HumboldtUniversität in Berlin, Veröff.: Aufsätze zur politischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Reinhard Mehring geb 1959, Studium in Freiburg und Bonn, Promotion 1989, 1991-1993 wiss. Mitarbeiter Uni Würzburg, seit 1993 Assistent am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin, Veröff.: "Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie" (1991), "Carl Schmitt zur Einführung" (Hamburg 1992); "Heideggers Überlieferungsgeschick" (Würzburg 1992), zahlreiche Aufsätze zur politischen Theorie und Philosophie. Günter Meuter geb. 1950, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik an der RWTH Aachen, Promotion 1993, Veröff.: "Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit" (1994) und weitere Aufsätze zu Carl Schmitt. Henrique Ricardo Otten geb. 1958, Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Soziologie an der RWTH Aachen, 1989-1993 wiss. Mitarbeiter in Forschungsprojekten zur Theorie politischer Institutionen, derzeitiges Arbeitsgebiet: Politische Ideen- und Institutionentheorie. Ulrich K. Preuß geb. 1939, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft am Zentrum für europäische Rechtspolitik der Universität Bremen, Veröff. u.a.: "Legalität und Pluralismus. Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland" (1973), "Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts" (1979), "Revolution, Fortschritt und Verfassung" (1990), Aufsätze zur politischen Theorie und zu Verfassungsfragen.
Über die Autoren
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Thomas Vesting geb. 1958, Promotion 1989, Veröff.: "Politische Einheitsbildung und technische Realisation. Über die Expansion der Technik und die Grenzen der Demokratie" (1990), Aufsätze zur politischen und Rechts theorie. Ingeborg Villinger geb. 1946, Studium der Literatur- und Politikwissenschaften in Freiburg, 1988-1993 wiss. Mitarbeiterin am NRW-Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Promotion 1994 in Freiburg, seit 1993 Lehrbeauftragte und wiss. Mitarbeiterin am Seminar für Wissenschaftliche Politik in Freiburg; Veröff.: "Nachlaß Carl Schmitt. Verzeichnis seines Bestandes" (1993, zus. mit Dirk van Laak); "Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne. Text mit Kommentar und Analyse der 'Schattenrisse' des Johannes Negelinus" (1995); Aufsätze zu Carl Schmitt und aus dem Überschneidungsbereich der Politik- und Literaturwissenschaften.
Übertragung und Gesetz Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen Herausgegeben von Armin Adam und Martin Stingelin 1995. 275 S. - 170 x 240 mm Gb, DM/sFr 64,- / öS 499,ISBN 3-05-002525-5 Vitam instituere - das Leben einrichten. Institutionen sind in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand soziologischer und politikwissenschaftlicher Forschung geworden. Fragwürdig sind Institutionen allemal: fragwürdig ist ihr Funktionieren, fragwürdig ihre Funktion - und fragwürdig ist der wissenschaftliche Zugang zu ihnen. Soll die Analyse sich dem diskursiv symbolischen Aufwand widmen, den Institutionen zu Ihrer Begründung, zu ihrer Selbstdarstellung und zu ihrer Selbstbehauptung aufs augenfälligste betreiben, oder soll sie sich den verborgenen und stummen Techniken und Praktiken zuwenden, mit denen Institutionen das Leben der vielen Einzelnen ein- und zurichten? Die Beiträge versuchen mit Fallstudien aus den verschiedensten Bereichen diese Frage zu beantworten, indem sie ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis von symbolischer Ordnung und Technik behaupten. Und genau dieses Verhältnis hält die drei Momente von Institutionen: Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungsstrategien zusammen. Bestellungen richten Sie bitte an Ihre Buchhandlung oder an den
Aus dem Inhalt: Petra Gehring: Staatswissenschaftliche Situierungsgesten bei Justi, Haller und Bluntschli Joseph Vogl: Gründungstheater Silvia Henke: Alfred Jarry. Von großen Dingen klein sprechen Rüdiger Campe: Der Befehl und die Rede des Souveräns im Schauspiel des 17. Jahrhunderts Wolfgang Pircher: Sprache und Körper des Krieges Armin Adam: Die Legaten der römischkatholischen Kirche Georg Pfleiderer: Feindschaft im Denken Martin Luthers Clemens Pornschlegel: Frankreichs 'question allemande' Walter Seitter: Vom heimlichen Pazifismus im Nibelungenlied Cornelia Vismann: Terra nullius. Die Linien der Feindschaft Wolfgang Ernst: Karthago. Against Romacentrism Ulrike Dünkelsbühler: Institution und Differenz Anton Schütz: Macht - Die Zukunft einer Illusion Peter Berz: Der deutsche Normenausschuß Hubert Thüring: Der souveräne Mensch und die infamen Leute im Abendland. (Vergil, Dante, Wölfli) Georg Christoph Tholen: Vom Gesetz des Symbolischen Claus-Volker Klenke: Mythos und Ethik des Gesetzes im Freudschen Denken
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