Merlin Peregrinus : Vom Untergrund des Abendlandes 3884791850

Biografie des Okkultisten Theodor Reuß

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German Pages [344] Year 1986

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Merlin Peregrinus : Vom Untergrund des Abendlandes
 3884791850

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Helmut Möller - Ellic Howe

Merlin Peregripus Vom Untergrund des Abendlandes

Königshausen + Neumann

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR EUROPÄISCHEN ETHNOLOGIE

von Dieter Harmening Band II

Helmut Möller - Ellic Howe

Merlin Peregrinus Vom Untergrund des Abendlandes

Königshausen + Neumann 1986

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Möller, Helmut: Merlin Peregrinus : vom Untergrund d. Abendlandes / Helmut Möller ; Ellic Howe. — Würzburg : Königshausen und Neumann, 1986. (Quellen und Forschungen zur Europäischen Ethno­ logie ; Bd. 2) ISBN 3-88479-185-0 kart ISBN 3-88479-193-1 geb. NE: Howe, Ellic:; GT

© Verlag Dr. Johannes Königshausen + Dr. Thomas Neumann, Würzburg 1986 Satz: Fotosatz Königshausen + Neumann Druck: Farbendruck Brühl, Marktbreit — Bindung: Buchbinderei Bille, Darstadt Alle Rechte vorbehalten Auch die fotomechanische Vervielfältigung des Werkes oder von Teilen daraus (Fotokopie, Mikrokopie) bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags

Printed in Germany ISBN 3-88479-185-0 (kart.) ISBN 3-88479-193-1 (geb.)

Für Heide

Inhalt

Vorwort....................................................................................................

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„Augsburger Studien“.................................................................

11

II Auf dem Weg nach Wahnfried......................................................

22

III London: Genosse oder Spitzel?....................................................

32

IV Anarchisten unter sich..................................................................

55

V Das „Radieschensamen-Attentat“ und andere journalistische Rekorde................................................................

73

VI Okkultisten und Illuminaten........................................................

83

I

VII Meschidje-Orden III. Klasse und Wechselfälle desLebens........... 106

VIII Winkelmaurerei in Deutschland.................................................. 122 IX

Der O.T.O.: Geheimnisse um einen Geheimorden................... 136

X Ein Großmeister im Abseits........................................................ 156

XI Merlin kürt Baphomet, nebst Bibliotheca esotérica für Anfänger.................................................................................. 171 XII Umwege zum Berg der Wahrheit................................................ 197

XIII Die „Gnostische Messe“ und Lektüre fürFortgeschrittene......... 224 XIV Testamente und andere Vermächtnisse.......................................... 237

XV Von Erben und Hinterbliebenen.................................................... 254 Nachwort.................................................................................................. 273

Anhang...................................................................................................... 275 Anmerkungen.......................................................................................... 287

Register...................................................................................................... 332

Die Geschichte von Merlin Peregrinus: das ist die Geschichte von Theodor Reuß, der als bayrischer Untertan geboren wurde, ein Kaiserreich überlebte und in München starb, als Linke und Rechte zum Sturm auf die junge Repu­ blik ansetzten. Diese Lebensgeschichte ist kaum eine Biographie zu nennen — dazu feh­ len private Briefe und Aufzeichnungen, fehlen Nachrichten über ganze Le­ bensabschnitte —, sie ist nicht mehr als die Summe der Geschichten, in die Reuß im Grenzgebiet von Politik und Okkultismus, Bühne und Journalis­ mus verstrickt war, einem Bereich, in dem der Klatsch wuchert, in dem Le­ genden kultiviert und gelebt werden, wo das Zwielicht herrscht und die Konturen verschwimmen. Wer war dieser Theodor Reuß oder wie er sich selbst gerade nannte? Nur ein gescheiterter Künstler — der auf anderen Gebieten Kompensationen suchte? Ein Schurke und Verräter — wie seine politischen Gegner urteilten? Ein Scharlatan? Ein abenteuernder Winkelmaurer? Ein Illuminât von eige­ nen Gnaden? Ein Sex-Okkultist? Oder nur einer von Millionen Statisten und Chargen auf dem Welttheater, der seine gelegentlichen Auftritte als Hauptrollen mißverstand? Das sind Fragen über Fragen, die sich nicht alle mit einem klaren Ja oder Nein beantworten, sich vor allem nicht auf einen Nenner bringen lassen. In einer ähnlichen Lage mußte sich auch vor fast zweihundert Jahren Wieland die Frage vorlegen, ob sein „Peregrin wirklich so ein verächtlicher Gaukler, und (was sich mit diesem Charakter nicht recht vertragen will) zu gleicher Zeit ein so heißer Schwärmer und ausgemachter Phantast gewesen sey“, Fragen, die für jemanden, „der es im Urtheilen über Angeklagte, die sich nicht mehr vertheidigen können, etwas genauer nimmt als der große Haufe, unauflösbare Probleme“ darstellten. Und wenn er trotzdem eine zweibändige „Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus“ (1791) schreiben konnte, dann nur, weil er sich als Dichter eine „kleine Na­ turgabe“ zuschreiben durfte, die er „(ohne Ruhm zu melden) mit dem be­ rühmten Geisterseher Swedenborg gemein habe“, nämlich „zu gewissen Zei­ ten sich in die Gesellschaft verstorbener Menschen (zu) versetzen.. .und sich selbst in Gespräche mit ihnen ein(zu)lassen“. 9

Wenn uns auch später der Name Swedenborg noch begegnen wird und ebenso ein Mann, der seine Gespräche mit einem Toten publizierte, so recht­ fertigten weder diese Fakten noch die stellenweise überraschenden Parallelen in den Lebensläufen von Reuß und dem Roman-Peregrinus bei seinen Irr­ fahrten durch „magische, erotische und theosophische Schwärmereyen“ und gnostische Sekten und selbst nicht die Tatsache, daß in dem Roman bei ge­ nauerem Hinsehen eine ganze Reihe wichtiger Momente der abendländi­ schen magischen Tradition sichtbar werden, Wieland und seinen Helden über die Eselsbrücke einer Namensähnlichkeit hier einzuführen. Vielmehr geht es darum, daß Wieland, der mit früheren Schriften zur Pflichtlektüre des Illuminaten-Ordens gehört hatte, mit seinem Roman Stellung nimmt zu diesem und anderen „Geheimorden“ seiner Zeit, ja, zu den konkreten Pro­ blemen, die Adam Weishaupt in einem besonderen Kapitel seines „Verbes­ serten Systems der Illuminaten“ (1787) als „Unterricht für alle Mitglieder, welche zu theosophischen Schwärmereyen geneigt sind“, attackieren mußte. Weishaupt und Wieland, jeder ein Aufklärer nach seiner Fasson, der hoffen durfte, das Seine getan zu haben, wären freilich über solche Andeutungen und erst recht über das, zu dem 100 Jahre später der Illuminaten-Orden her­ halten mußte — um es bei einem und dazu eher harmlosen Beispiel aus dem Leben des Theodor Reuß zu belassen — zu Recht erstaunt, wenn nicht be­ stürzt gewesen. Wenn wir nun versuchen, aus spärlichen und oft recht trübe fließenden Quellen den Lebenslauf unseres Merlin Peregrinus zu rekonstruieren, liegt natürlich die Frage nahe, ob das angesichts der angedeuteten Schwierigkeiten den Aufwand lohne. Es wird sich aber bald zeigen, daß die Geschichten, die sich um Reuß ranken, so unbedeutend sie meist auch sein mögen, mehr sind als Mosaiksteinchen einer beliebigen Biographie jener Jahrzehnte: Ein „Un­ tergrund“ der Geistesgeschichte scheint in ihnen auf, der längst als Vergan­ genheit abgetan war, und wer ihn — noch immer — übersehen oder bagatelli­ sieren wollte, dürfte kaum in der Lage sein, jene Zeit zureichend zu beschrei­ ben, geschweige zu interpretieren, wie die Studie am Leitfaden des Lebens von Theodor Reuß vielleicht deutlich machen kann. Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, beginnt in Augsburg um die Mitte des vorigen Jahrhunderts...

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I. „Augsburger Studien“ Zu denen, die zwischen enttäuschten Hoffnungen und restaurativen Ten­ denzen die „Zeichen der Zeit“ zu deuten suchten, gehörte auch der ehemali­ ge Paulskircheh-Abgeordnete Riehl, der 1851 als Redakteur an die renom­ mierte „Allgemeine Zeitung“ berufen worden war. Im gleichen Jahr noch entwarf er in einem Buch, das „in der sogenannten Reaktionszeit ganz be­ sonders Anklang und Verbreitung (finden sollte)“1, sein Bild der „bürgerli­ chen Gesellschaft“ als ein Gegen- und Miteinander ständischer „Mächte des Beharrens“ und „Mächte der Bewegung“, in das nur der heraufkommende „vierte Stand“ — für ihn noch eher ein Sammelbecken der „Proletarier der Geistesarbeit“ als der „Proletarier der materiellen Arbeit“ — ein störendes Moment hineintrug. Mochte sein Aufriß auch an den Vorstellungen des Vormärz orientiert sein, so erlebte er diese Jahre doch als „Wendepunkt einer alten und neuen Zeit“, die sich schon mit dem „Industrialismus“ anmeldete, und wenn seine Prognosen über den vierten Stand auch nicht bestätigt wurden, ist seine Zeit­ diagnose dennoch in vielerlei Hinsicht als Momentaufnahme von nicht ge­ ringem Interesse2. 1851 war das Jahr, in dem der Staatsstreich des ehemaligen Augsburger Gymnasiasten Bonaparte auch die deutsche Öffentlichkeit aufschreckte und zugleich die Hoffnung nährte, daß das „Gespenst der sozialen Revolu­ tion“ — dieses „jüngste Gericht im Volksglauben des neunzehnten Jahrhun­ derts“ — wieder „auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte“ gebannt sei3. Und nicht nur jener „achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ und seine Wahl zum Kaiser der Franzosen im folgenden Jahr, sondern auch der Versuch, sich im Krimkrieg (1853-1856) außenpolitisch zu profilieren, beschäftigte die Presse auf Jahre hinaus. Auf wirtschaftlichem Gebiet präsentierte sich die zweite Jahrhunderthälf­ te mit der ersten Weltausstellung in London (1851), die Napoleon III. 1855 in Paris zu übertrumpfen suchte, und es mag hier für anderes stehen, daß sich 1856 die neue Spezialisten-Klasse im „Verein deutscher Ingenieure“ organi­ sierte. 11

Der „Zustand voller Widersprüche“, wie Jacob Burckhardt später die Re­ aktionszeit diagnostizierte, charakterisierte aber auch die damalige „innere Crisis der Geister“4: Wenn Riehl als Folge der 48er Revolution die „neue Macht der Kirche“ registrierte5, so animierte andere der Aufschwung der Naturwissenschaften dazu, ihre Ergebnisse im Kampf gegen den „Köhler­ glauben“ einzusetzen, der im professoralen „Materialismusstreit“ von 1854 einen ersten Höhepunkt erreichte, ein Streit, der auch in den Spalten der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ ausgetragen wurde. Ludwig Büchners Schrift „Kraft und Stoff“ (1855 u.ö.) lieferte dieser Wissenschaftsgläubigkeit die Parolen6.

Ihr Fortschrittsoptimismus konnte freilich manches übersehen lassen, was mehr am Rand des zeitgenössischen Interesses — oder gar im „Unter­ grund“ — angesiedelt war: Gleichzeitig mit den Vorbereitungen zur Pariser Weltausstellung legte der als Eliphas Levi auferstandene „Abbe“ Constant mit „Dogme et Rituel de la Haute Magie“ das magische Hauptwerk des Jahr­ hunderts vor, ja, suchte in London in jenen Jahren Apollonius von Tyana zu evozieren7, und ab 1856 gastierte das Medium D.D. Home am Kaiserhof, der in der Folge noch weitere Okkultisten — wie etwa Paschal Beverley Randolph8 — anzog. Wenige Wochen nach einem Artikel in der Berliner „National-Zeitung“ hatte auch die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ ihre Leser mit der spiritistischen Welle bekanntgemacht, die — Ende der 40er Jah­ re in den USA entstanden —, nun den europäischen Kontinent erreicht hat­ te, und 5 Jahre darauf konnte Ferdinand Lassalle in Berlin, wo der Spiritis­ mus „auch...immer zahlreichere Bekenner (fand)“, gute Bekannte, die über das „damals modische Tischrücken“ diskutiert hatten, mit Demonstratio­ nen seiner angeblichen „außerordentlichen magnetischen Kraft“ düpieren9. Aber wahrscheinlich entging selbst solchen einschlägig interessierten Kreisen, daß z.B. der Stuttgarter Antiquar Johann Scheible seit 1849 mehrere differierende Ausgaben eines „6. und 7. Buch Mosis“ verlegt hatte und zahl­ reiche weitere Texte auf den Markt brachte, in denen sich Sympathie-Medi­ zin mit Segen, Beschwörungen und anderer handfester Magie mischten, dar­ unter nicht nur „Klassiker“ — wie Agrippa von Nettesheim oder Schriften des Hermes Trismegistos — sondern 1853 auch „Die egyptischen großen Of­ fenbarungen.. .oder des Juden Abraham von Worms Buch der wahren Prak­ tik“10, das — aus einer französischen Vorlage übersetzt — als „Sacred Magie of Abra-Melin the Mage“ am Ausgang des Jahrhunderts einen so großen Einfluß in Okkultistenkreisen gewinnen sollte. Und selbst jene anderen Ti­

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tel blieben nicht auf den Umkreis dörflichen Aberglaubens beschränkt, son­ dern wurden auch in größeren Städten wie Augsburg angeboten11. Man braucht aber gar nicht in solchen Randgebieten Ausschau zu halten, um in jener Zeit auf manches zu stoßen, was mit dem gängigen Bild nicht harmoniert und solche isolierten Beispiele in einen größeren Zusammen­ hang rückt. War schon die Renaissance der Schopenhauerschen Philosophie in den 50er Jahren an sich ein bemerkenswerter Vorgang — mochte man sich von der Willens-Metaphysik angesprochen fühlen oder seinen Pessimismus als Etikett eigener Gestimmtheit übernehmen12 —, so wollte sie auch Ri­ chard Wagner während der Arbeit am Nibelungen-Stoff zu „(seinem) Erstau­ nen...in (seiner) eigenen poetischen Konzeption...(als)...längst vertraut“ wiedererkennen und als Fundament seiner Zukunftsmusik bis zum „Parsifal“, der 1857 als Prosaskizze fürs erste in der Schublade blieb, ausgeben13. Darüber hinaus aber bereitete Schopenhauers Philosophie nicht nur der Be­ schäftigung mit der buddhistischen Gedankenwelt den Boden, sondern kon­ frontierte ein breiteres Publikum auch mit seinem „Versuch über das Gei­ stersehen und was damit zusammenhängt“ (1851) oder den erneut aufgeleg­ ten Ausführungen über „Animalischen Magnetismus und Magie“ (1854)14. Diesen „Lebensmagnetismus“, der seit den Tagen von Franz Anton Mesmer (t 1815) im Denken der Romantiker eine so eminente Rolle gespielt hatte, behandelte 1855 auch Carl Gustav Carus in einem längeren Beitrag für „Die Gegenwart“15. In mehr „naturwissenschaftlichem“ Gewand legte der ange­ sehene Chemiker Karl Frh.v.Reichenbach 1854 in zwei dickleibigen Bänden seine Untersuchungen „Der sensitive Mensch“ vor, der fähig sein sollte, eine — schulwissenschaftlich unbekannte — Kraft, das Od, als farbige Strah­ lung wahrzunehmen. Ja, dieses Od war nach den „Odisch-magnetischen Briefen“ (1852) — die zunächst in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ erschienen waren — ein „kosmisches Dynamid, das ...wie Licht und Wärme das Weltall umspannt“16. Und wenn er damit auch selbst bei dem Okkulten aufgeschlossenen Professoren, wie Zöllner und Fechner, keine Anerkennung fand17, lieferte er doch mit dem Terminus Od ein Schlüsselwort für Genera­ tionen von Okkultisten. So aufschlußreich dieses anhand von Stich- und Schlagworten verdeut­ lichte Interesse an Okkultem für das geistige Klima jener Zeit auch ist18, die sich weithin für Maß und Zahl entschieden hatte, dem Menschen nur einen Platz unter anderen in der Entwicklung der Lebewesen zubilligen wollte, die sich auf den „Realismus“ in der Literatur etwas zugutehielt und von „Real­ politik“ zu reden begann, so sagt doch auch das, was sich von all dem in Bei13

trägen und Anzeigen der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ spiegelte, di­ rekt nur wenig über Denken und Tun der breiten Schichten am Erschei­ nungsort aus, jener „stillen Stadt“, die Riehl vorfand und in den „Augsbur­ ger Studien“ (1857) porträtiert hat1’. Augsburg war damals eine Stadt von ungefähr 40 000 Einwohnern20. „Die große Bedeutung, welche Augsburg als Handelsstadt im Mittelalter hat­ te“, als die Fugger ihren Namen in alle Welt trugen, war freilich nur noch ei­ ne „geschichtliche Erinnerung“, wie ein Zeitgenosse notierte. Grund zur Resignation war in der Tat vorhanden, wenn man bedenkt, daß die einst reichsfreie Stadt 1805 dem neuen bayrischen Königreich von Napoleons Gnaden als Morgengabe vermacht worden war und Gefahr lief, zu einer Pro­ vinzstadt unter anderen zu werden. Man „pflegte“ noch jenen „reichen Schatz historischer Erinnerungen“, und diejenigen, deren „Sinne nicht durch das schale Treiben moderner Großstädte abgestumpft (waren, fühlten sich) von der ernsten Pracht der alten Reichsstadt und von der Romantik ih­ rer äußeren Physiognomie eigenthümlich angemuthet...Diese Stimmung sprach sich auch laut aus bei der Versammlung deutscher Geschichtsforscher (1857) und deutscher Philologen und Schulmänner (1862), während die deut­ schen Feuerwehrmänner und die Augsburger Studiengenossen (1862), denen ja auch Kaiser Napoleon III. einen Gruß zusenden konnte“, und die Teilneh­ mer der Gründungsfeier des schwäbisch-bayrischen Sängerbundes 1863 dem „trefflichen Gemeingeist“ der Stadt und der „schwäbischen Gemüthlichkeit ihre Anerkennung zollten“21. Wenn Augsburg in jenen Jahrzehnten auch die „Segnungen des Friedens“ genoß, und Riehl 1857 von einer „lebendigen Stadt“ sprechen konnte, die sich nach einer „langen Epoche der Verkommenheit“ damals „täglich kräfti­ ger (aufschwang) in dem Wettkampf des modernen Lebens“22, so überspielen solche Formulierungen tatsächlich eine Vielzahl innerstädtischer-Spannun ­ gen und Probleme. Jener Wettkampf des modernen Lebens begann in Augsburg in den 40er und 50er Jahren mit einem kräftigen Aufschwung der Textilindustrie, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnte; später folgte der Ausbau der Metallindustrie. Diese Entwicklung verlief nicht ohne Rückschläge und Stockungen, aber in den 50er Jahren konnte die Industrie doch zunächst sehr gute Gewinne erzielen, bis die Weltwirtschaftskrise von 1857 diesem Boom ein Ende setzte23. Im nächsten Jahrzehnt wurden teils sehr gute Ertragslagen von der Depression von 1866 abgelöst, bis die „Gründerjahre“ auch in Augs­ burg zu Rekordumsätzen führten, ohne daß wir hier jene Hektik mit nach­

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folgenden Zusammenbrüchen antreffen, die diese 70er Jahre so berüchtigt gemacht haben24. Aus der Sicht der Handwerker und Arbeiter nahm sich dieser Wettkampf des modernen Lebens freilich anders aus, sahen sie sich doch nach den schlechten Erntejahren vor der Revolution zwischen 1850 und 1860 mit star­ ken Preiserhöhungen für Lebensmittel konfrontiert, ein Trend, der sich bis in die Gründerjahre fortsetzte. Parallel hierzu stiegen z.B. die Mieten für Ar­ beiterwohnungen zwischen 1846 und 1879 um 55 — 166 %. Hinter dem, was sich in solchen Indexziffern vordergründig abzeichnete, verbargen sich tiefere soziale Ängste. Auf der einen Seite sahen sich die Handwerksmeister und konzessionierten Erwerbstätigen durch die Diskus­ sion über die Gewerbefreiheit bedroht, während die Augsburger Gesellen umgekehrt angesichts der damaligen Gewerbeverfassung und Arbeitsmarkt­ lage ihre Hoffnungen, sich selbständig machen zu können, zum guten Teil begraben mußten. Glaubten die Meister freilich noch, die Produktion der Fabriken eingrenzen und sie von ihrem Tätigkeitsbereich fernhalten zu kön­ nen, erhofften die Gesellen andererseits von ihnen neue Arbeitsmöglichkei­ ten, so durchschauten beide Seiten nicht, daß sie sich mit etwas eingelassen hatten, das ihnen bald über den Kopf wachsen sollte. Die Schicht, die mit den Fabriken aufkam, war um die Mitte des Jahrhun­ derts allerdings von einer klassenkämpferischen Einstellung gegenüber Staat und Gesellschaft hier noch weit entfernt. Zwar sahen manche Zeitgenossen das Schreckgespenst eines Proletariats, das „gleich einem wilden Gebirgs­ bach Alles zerstören“ könne, aber den gleichen Arbeitern wurde 1852 in Augsburg eine „konservative und loyale Haltung“ bescheinigt, ja, daß sie „eine wahre Stütze für die Ruhe und Ordnung in der Stadt“ in den Zeiten der Unruhe gewesen seien. So hatte auch in den 60er Jahren Lassalles Allge­ meiner Deutscher Arbeiter Verein dort keinen großen Zulauf25, und selbst die Gründung des Allgemeinen Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiter­ vereins mit Sitz in Augsburg im Jahr 1870 änderte daran nicht allzuviel. Ge­ rade die Metallarbeiter, die noch 1871 in einer Versammlung von „ihren Herren“ und den „Herren Meistern“ sprachen, hielten sich von der soziali­ stischen Bewegung fern und konnten auch in den nächsten Jahren nicht für die Partei gewonnen werden26. Die „soziale Frage“ aber — wie und von wem immer gestellt — verlangte auch in Augsburg eine Antwort, und es ist einer jener hintersinnigen Zufälle, daß im gleichen Jahr, in dem die Gewerbefrei­ heit verkündet wurde, in Augsburg auch der erste große Streik stattfand, ei­ ne Feststellung, die freilich einer wichtigen Modifikation bedarf.

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„Mit der modernen Fabrikstadt Augsburg hat es...seine eigene Bewandtniß“, schrieb Riehl ein Jahrzehnt zuvor. „Sie liegt zum besten Theile gar nicht in der Stadt, sondern vor den Thoren. So berührt sie denn auch die äu­ ßere Physiognomie der alten Reichsstadt bis jetzt nicht feindselig. Vor den Thoren entstanden riesenhafte Fabrikkasernen; innerhalb der Mauern dage­ gen sind überhaupt seit Jahrzehnten kaum ein paar Neubauten aufgestiegen. So sitzt auch das Volk der Fabrikarbeiter nur zum kleinen Theile in der Stadt; sehr Viele wohnen auf den naheliegenden Dörfern und wandern bis aus dem Schmutterthale täglich herüber zur Arbeit, viele Andere sind Aus­ länder, die als eine rasch ab- und zuwogende Masse das Augsburger Volksle­ ben nur flüchtig berühren“, und auch die „geistige Atmosphäre des eigentli­ chen Augsburger Volkes (sei) gewiß noch sehr wenig verdickt worden von diesen vielen Schornsteinen“27. Das „eigentliche Augsburger Volk“ wohnte innerhalb der Mauern, etwa im Bezirk C, wo auch das Rathaus stand, oder in den Bezirken B und D, wo die Brauer zu finden waren und sich weitere Behörden angesiedelt hatten. In diesem Stadtkern lebten — neben dem Westend — die wohlhabenderen Bür­ ger. Hier war nach einer Statistik von 1880 der Handel konzentriert, wäh­ rend das Handwerk in B und D merklich unter dem Durchschnitt der zur Peripherie hin gelegenen Bezirke lag; C mit dem zweithöchsten Anteil an Handwerkern dürfte noch ältere Verhältnisse spiegeln. Die Vorzugsstellung der Bezirke B, C und D zeigt sich in sehr augenfälliger Weise auch darin, daß die Sterblichkeitsrate in B und C deutlich unter der der anderen Bezirke in­ nerhalb der Mauern lag, und die von C — wenn auch mit merklichem Ab­ stand — doch noch an 4. Stelle rangierte, alle aber beträchtlich unter der Quote der Arbeitervorstädte. Für Riehl jedoch stellte „Augsburg ein tröstliches Beispiel des naturgemä­ ßen Uebergangs aus der alten Manufakturthätigkeit in das moderne Fabrik­ wesen“ dar, und durch „treffliche Anstalten zur socialen Consolidirung der Arbeiter“ in den Augsburger Fabriken seien die „nachtheiligen Einflüsse ei­ nes Fabrikproletariats nicht zu fürchten“. Das mochte trotz jener Arbeits­ kämpfe auch noch für die 60er und beginnenden 70er Jahre in gewissem Aus­ maß gelten, aber de facto lief dieser vermeintlich „naturgemäße“ Übergang doch auf eine Segregation der neuen Schichten aus dem Verband der alten Stadt hinaus, die dann freilich für einen Beobachter wie Riehl einen Hauch von heiler Welt aufkommen lassen konnte. Ob und wieweit diese sozialen Schranken auch für neugierige, abenteuernde Jugendliche im Volksschulalter bestanden, welche Eindrücke jene sozialen Entwicklungen bei Heranwach-

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senden etwa der unteren Mittelschicht hinterließen, solche Fragen bleiben leider unbeantwortet. „Mehr als bei Kleinbürgern“ registrierte Riehl eine „entscheidende Ver­ änderung“ in jenen Jahren „in den hohem Kreisen..., indem jetzt der mo­ derne Bankier, der Kapitalist und Fabrikherr immer entschiedener in die Stellung einrückt(e), welche früher der so grundverschiedene patricische Kaufmann und der Künstler eingenommen“ hatten, dem eine auf den ersten Blick erstaunliche parallel ging: „Seit Augsburg eine blühende moderne Fa­ brikstadt geworden, ehrt und bewahrt es seine Geschichtsalterthümer wie­ der, und als es die historische Mumie einer abgestorbenen mittelalterlichen Zunftstadt war, verachtete und zertrümmerte es dieselben“. Mochte man die Momente der Vergangenheit gering schätzen oder nicht, so ließ sich diese Vergangenheit in einer ehemaligen Reichsstadt, in der „jedes Quartier, jede Straße.. .eine besondere Phase des Volkslebens (verkörperte)“, nicht nur nicht liquidieren, sondern wirkte noch um die Jahrhundertmitte in das All­ tagsleben hinein, besonders in Gestalt einer Augsburger Eigentümlichkeit, der sogenannten „Parität“28. Diese „Parität“ war die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens der katholischen und protestantischen Bürger der von katholischem Territori­ um umgebenen Reichsstadt seit den Tagen der Reformation: „Schon vor dem Thore kündigt sich dem Wanderer diese Scheidung an, denn auf der Lechseite sieht er das katholische, auf der Wertachseite das protestantische Stadtjägerhaus, auf dem einen Flügel die protestantischen, auf dem andern die katholischen Schweineställe (nämlich die Schweineställe der protestanti­ schen und katholischen Bäckerzunft), und ältere Leute wollen sich erinnern, daß über der Thüre des einen Schweinstalles noch die Buchstaben AC ge­ standen — ,Augsburgische Confession * — und über der des andern C — ,Catholisch“*. Parität sollte „überall bestehen, bei den Bürgern und im Rath, bei Civil und Militär. Denn auch bei der Stadtgarde unterschied man eine katholische und eine protestantische Leutenantsstelle. Solche Unterschei­ dungen galten aber nicht bloß gestern, sie gelten vielfach auch heute noch. Soll der Protestant sein Fleisch bei einem katholischen Metzger kaufen? soll der Katholik ein zerbrochenes Stuhlbein bei einem protestantischen Schrei­ ner zusammenleimen lassen? Das sind für manchen Augsburger noch immer scrupulöse Fragen. Entschieden fordert aber die Sitte, daß katholisches Ge­ sinde nicht in protestantischen Häusern stehe und umgekehrt, und vollends daß eine ordentliche Bürgersfau sich nicht durch die Hebamme der andern Confession entbinden lasse“. Kann es da überraschen, daß die ältere Unter-

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Scheidung in der Tracht „bei dem conservativeren weiblichen Geschlecht“ zu Riehls Zeit noch immer „nicht ganz verschwunden “ war?:„Die prote­ stantischen Mädchen des eigentlichen Bürgerstandes tragen keine Hauben, die katholischen dagegen setzen die bayerische Riegelhaube auf, namentlich beim Kirchgänge“. Und daß all dies nicht Riehls Lust an kulturhistorischem Fabulieren entsprang, mag die Tatsache verdeutlichen, daß die Liberalen ge­ gen die konfessionelle Trennung der Patienten im städtischen Krankenhaus angehen mußten, daß es nicht nur zwei Friedhöfe, sondern auch zwei Anzei­ genblätter gab. Freilich wurde die „confessionelle Kluft“ nicht nur von den Liberalen, sondern auch vom Aberglauben übersprungen: Augsburger Pro­ testanten, die keinen katholischen Arzt, keine katholische Hebamme zuge­ zogen hätten, schickten, wie Riehl weiter berichtet, „wenn es gar schlimm (ging), wohl noch heimlich zur h. Kreuzkirche, um eine anonyme Messe für ihre Genesung lesen zu lassen“, oder ließen „ganz in der Stille ein wunder­ kräftiges Kissen bei St. Ursula holen, worauf man die Kinder legt(e), um sie vor Krämpfen zu bewahren“29. Aber auch von Randerscheinungen einmal abgesehen, dürfen wir annehmen, daß etwa Konvertiten — einen werden wir bald kennenlernen — in diesem Klima in prekäre Situationen geraten konn­ ten. Was hier mit Anekdoten aus dem Alltag illustriert wurde, bestimmte aber auch die städtische Politik. Vor 1848 gab es in Augsburg — wie in Deutsch­ land überhaupt — keine genehmigten politischen Vereinigungen oder gar Parteien im heutigen Sinne des Wortes. Wo man sich in Vereinen traf, han­ delte es sich um Geselligkeitsvereine, die die Politik ebenso ausklammerten oder ausklammern mußten30 wie später die Arbeiterbildungsvereine. Auch die 48er Revolution hatte in Augsburg keine hohen Wellen geschlagen. Nur am Rande äußerte sich die konfessionelle Animosität in Ausschreitungen ge­ gen einen katholischen Magistratsrat, dem Vergehen im Amt, und Bezichti­ gungen und Drohungen gegenüber katholischen Amtsträgern, denen religiö­ se Parteinahme vorgeworfen wurde. Wenn es sich hierbei noch um Ausnah­ mefälle handelte, so bestimmte diese Frontenbildung in den folgenden Mo­ naten bald auch die politische Auseinandersetzung, in der sich eine klerikal­ konservative Richtung — die die Gewerbefreiheit ablehnte, sich für das mon­ archische Prinzip aussprach und sich, außer auf die katholischen Kaufleute und Bankiers, auf die damals noch zum Augsburger Landtagswahlkreis ge­ hörende katholische Landbevölkerung stützen konnte — einer gemäßigt-li­ beralen gegenüberstand, zu deren Anhängern vor allem die Angehörigen der freien Berufe und die protestantischen Handwerksmeister gehörten. Und als

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in den 50er und 60er Jahren erneut Spannungen in der Bürgerschaft auftra­ ten, wurden die Kontrahenten im Sprachgebrauch der Bezirksregierung als „Protestanten“ und „Katholiken“ charakterisiert, wenn auch diese konfes­ sionelle Scheidung der beginnenden politischen Polarisierung nicht mehr ge­ recht wurde31. So konnten die „Protestanten“ bzw. Liberalen 1857 trotz des höheren katholischen Bevölkerungsanteils in der Stadt fast alle Konservati­ ven aus der Gemeindevertretung verdrängen, während sie bei den Landtags­ wahlen von der katholischen Landbevölkerung überstimmt wurden, bis Wahlkreiskorrekturen dann 1869 auch hier einen Sieg der Liberalen, deren führender Mann seit Anfang der 60er Jahre Bürgermeister Ludwig Fischer war, ermöglichte. Dabei ist zu berücksichtigen, daß vor 1869 Arbeiter und Gesellen in Ge­ meindeangelegenheiten kein Stimmrecht besaßen. Die in diesem Jahr erlasse­ ne Gemeindeordnung schaffte hier einen Wandel, verlangte jedoch den Er­ werb des Bürgerrechts, der mit beträchtlichen Ausgaben verbunden war, so daß ein Großteil der Unterschicht weiterhin von der Stimmabgabe ausge­ schlossen blieb32. Die stimmberechtigten Arbeiter aber, die noch 1863 in der Mehrzahl die liberale Fortschrittspartei gewählt hatten, wandten sich von den Liberalen ab, nachdem die Partei immer stärker in großbürgerliches Fahrwasser geriet und die sozialistische Arbeiterbewegung als neue Gruppie­ rung Fuß zu fassen begann, wenn auch — wie schon betont — bis Mitte der 70er Jahre mit nur recht begrenztem Erfolg. 1881 jedoch sah Benefiziat Hau­ ser — der Präses des katholischen Arbeitervereins — schon an der Spitze der SPD den „Dämon der Hölle“ und sorgte sich drei Jahre darauf, daß in dem von August Bebel in „Die Frau und der Sozialismus“ entworfenen Bild des Staates eine Fronleichnamsprozession nicht mehr denkbar sein werde. Das ist zwar nicht mehr die „stille Stadt“, die Riehl bei seiner Ankunft kennengelernt hatte, aber verglichen mit anderen Städten scheint in Augs­ burg zumindest in den 50er und 60er Jahren — die hier vor allem im Blick sind — das eingelebte System der „Parität“ die Gegensätze noch ausbalan­ ciert, scheinen die Bürger die Mahnung des städtischen „Friedensfestes“ ver­ standen zu haben. Dieses Friedensfest wurde am 8. August zur Erinnerung an den Westfäli­ schen Frieden gefeiert — noch bis heute im Stadtkreis Augsburg als gesetzli­ cher Feiertag —, und für Riehl war es eine „tiefsinnige Sitte“, daß man bei dem sogenannten „Kinder-Friedensfest“ die „kleinen Kinder zum erstenmale an dem Tage zur Kirche führt, da der religiöse Friede gepredigt wird“. Lei­ der hat er solche Beobachtungen nicht zu einer „Augsburgischen Volkskun­

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de“33, einer umfassenden Darstellung des städtischen und häuslichen Lebens, verwertet, eine Lücke, die durch die knappen Mitteilungen in der „Bavaria“ oder das dürftige Vergleichsmaterial jener Jahrzehnte aus anderen Städten al­ lenfalls zu verkleinern, aber nicht mehr zu schließen ist. Aufs Ganze gesehen hatte das Leben der kleinen und mittleren Bürger da­ mals noch das gemächliche Tempo und den einfachen Zuschnitt des Vor­ märz34, wenn auch die technische Entwicklung das Bild des städtischen Le­ bens nicht nur in den ausgesprochenen Großstädten zu ändern begann. Zwar mußte sich der Bürger zu Hause noch immer mit der „Funzel“ begnü­ gen, aber in den Straßen kannte Augsburg seit 1847 die Gasbeleuchtung, „und die im Verein mit den Hausbesitzern durchgeführte Belegung des Trot­ toirs mit grossen Steinplatten, wodurch die Pflasterung geradezu zum Mu­ ster für andere Städte geworden, (war ein) weiterer Beweis für das Streben, sich an jedem Fortschritt zu betheiligen“. Hinsichtlich der Wasserversor­ gung — um eines der alltäglichen Probleme anzusprechen, das wir in den Hintergrund gedrängt haben — dürften die Verhältnisse günstiger als in man­ cher anderen Stadt gewesen sein, doch wird 1851 neben Maschinen-Brunnenhäusern und Wassertürmen noch immer von 50 öffentlichen und 750 Privat­ brunnen berichtet, ebenso von einem „vielverschlungenen Canalnetz“. Andererseits ist nicht nur als Indiz für den Stand der damaligen Medizin, sondern auch der städtischen Hygiene, auf die noch immer grassierenden Epidemien hinzuweisen. So forderte die Cholera 1854 in Augsburg nicht we­ niger als 1236 Opfer35, und schon im Januar des folgenden Jahres mußte die „Allgemeine Zeitung“ über zahlreiche Fälle von Brechruhr berichten. Wir erfahren von Riehl jedoch nicht, wie die Augsburger mit solchen Be­ drohungen fertig wurden, wie wir z.B. auch nicht wissen, wie sie sich 1858 angesichts des Donat’schen Kometen verhielten, der andernorts als Kriegs­ vorzeichen galt, und müssen uns mit einem Aspekt des Alltagslebens begnü­ gen, der für Riehl doch immerhin ein Beleg dafür war, daß Augsburg zu sei­ ner Zeit „noch immer eine ganze Stadt..., consequent charaktervoll“36 war: mit den Augsburger Wirtshäusern. Nach den Statistiken von 1847 und 1861 war zwar die Zahl der „Wirte“ von 94 auf 13, die der Speisewirtschaften von 24 auf 21 zurückgegangen und nur die der Schankwirte, „Tabagisten“ etc. hatte sich von 49 auf 56 erhöht, doch weisen sie auch noch die Zahlen für 1861 als gewichtigen Faktor des städtischen Lebens aus. Riehl geht es freilich nicht um dieses Statistische, es waren vielmehr die Wirtshausnamen, die ihm für „die Naivetät, den Humor und den reichsstädtisch conservativen Geist der Bevölkerung Zeugniß (ab­

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legten)“, „feine Züge zur Augsburgischen Volkskunde“, die sich an einzelne dieser Namen knüpften. Und so notiert er nicht nur „des reinen Parfüms der Alterthümlichkeit“ willen Namen wie „Eisenhut“, „Sackpfeife“, „der rostige Harnisch“ etc., sondern auch „Aufschriften voll Derbheit, Cynismus und Humor ... ,die der modernen Prüderie gar zu saftig klangen“, aber „zur Hälfte“ noch im Gebrauch waren: „die Froschlache, das Stockhaus, das ... Bettelhäusle, das blutige Wamms, die Weiberschule,... das Kühloch,... zum leeren Trog, ... zum Paritätswirth, ... zur Rauchhütte“ etc. und registriert dabei auch gewisse historische Veränderungen: „Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts schlief der .Römische Kaiser' ein, aber im neunzehnten Jahr­ hundert erstand ein .Deutsches Haus“*37. Ein weiteres Beispiel hätte Riehl si­ cherlich akzeptiert, die Gastwirtschaft „Zum Schweizerhäuschen (vulgo Gifthütte)“, die nach der Reichsgründung zur „Kaiserlinde“ wurde: In ihr verlebte Theodor Reuß einen Teil seiner Jugend.

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II. Auf dem Weg nach Wahnfried Reuß wurde am 28. Juni 1855 in Augsburg geboren, wenige Wochen bevor sich die Stadt zur 900-Jahrfeier der Ungarnschlacht auf dem Lechfeld rüstete. Sein Vater war der Galanteriewarenhändler und „Platzwirth“ Franz Xaver Reuß, der am 15. Mai 1854 in zweiter Ehe Eva Barbara Margaret Wagner — die Metta gerufen wurde — geheiratet hatte1. Was wir von seinen Eltern wissen, geht kaum über das hinaus, was in je­ nen Jahren über Kleinbürger zu erfahren war: Nach dem Taufbuch der ka­ tholischen Pfarrei Ottmaring, Landgericht Friedberg bei Augsburg, wurde der am Tag zuvor — „hör. 3I,a vespert“ — geborene Franz Xaver am 8. Fe­ bruar 1813 getauft, „hon. parentum Spectati Domini Francisci Xaverii Reuß, Ludi- et Scholarum Magistri in Ottmaring, et Joannae uxoris ejus / : cujus pater hon. Bernardus Held, semicolonus in Rettershausen / : filius legitimus“. Uber seine Jugend ist nur wenig bekannt: Das Taufbuch weist ihn als 5. Kind seiner Eltern aus, eine Schwester und ein Bruder waren aber wohl schon verstorben; bis 1827 folgten noch 9 Geschwister, von denen wei­ tere 4 früh starben2. Erst 1836 taucht der 23jährige Dorfschulmeistersohn in der Liste der Absolventen des Gymnasiums zu St. Stephan in Augsburg auf, ohne daß klar wird, ob — trotz des für einen Gymnasiasten hohen Alters — mit regulärem Abschluß3. Zwei Jahre darauf meldet er sich, von Gaustadt bei Bamberg kommend, in Augsburg an und 1839 heiratet der „nunmehrige Krämer“ Sabine Kühn, eine um 22 Jahre ältere — protestantische — Kauf­ mannswitwe, die 13 Jahre zuvor ihren Mann verloren hatte und neben ih­ rem Geschäft auch einen erwachsenen Sohn von 23 Jahren, je einen von 15 und 14 Jahren sowie die 12jährige Adelheid mitbrachte4. Das waren nicht gerade günstige Voraussetzungen für eine glückliche Ehe, und so vermerkt der Familien-Bogen auch schon 1846, daß der „Mann von seiner Frau getrennt (lebe)“; im Herbst 1853 wurde Xaver Reuß dann vom Bamberger Appelationsgericht von seiner fast 63 Jahre alten Frau ge­ schieden, die 1873 starb. In den Jahren der Trennung sorgte die Stieftochter Adelheid für einige Aufregung, die auch den Stiefvater sicher nicht unberührt ließ: Im Novem­ 22

ber 1850 nämlich verzeichnen die Akten die erste uneheliche Geburt, 1851 fast auf den Tag genau die zweite, und 1857 mußte sie schließlich „wegen 3mal(iger) außerehel(icher) Entbindung mit 24stünd(igem) Pol(izei-)Arrest bestraft und vor Rückfall gewarnt (werden).“ Anscheinend mit Erfolg: 1858 erhielt sie eine „Lizenz zur Verfertigung und zum Verkaufe von Putzarbei­ ten“, Anfang der 70er Jahre scheint sie dann als „Gesellsch(afts)dame “ nach Rußland gegangen zu sein. Xaver Reuß, der seit 1851 auch als „Platzwirth“ geführt wurde, heiratete 1854 die am 9. Januar 1822 in Kunreuth, Kreis Forchheim/Oberfranken, ge­ borene Protestantin Metta Wagner und trat kurz darauf selbst zum prote­ stantischen Glauben über. Im folgenden Jahr wurde ihr einziges Kind gebo­ ren: ein Sohn, der Karl Albert Theodor getauft wurde5. Beide waren nicht mehr die Jüngsten, als sie die Ehe eingingen — Xaver Reuß 41, seine Frau 32 Jahre alt. Jede Ehe mußte für den Vater seiner frühe­ ren vorzuziehen sein — selbst wenn man von den Eskapaden der Stieftochter absehen wollte —, und wir dürfen mit einiger Wahrscheinlichkeit anneh­ men, daß die Freude des „späten Mädchens“ Metta, doch noch unter die Haube gekommen zu sein, sich auch auf die Geburt des Sohnes übertrug. Xaver Reuß muß in recht guten kleinbürgerlichen Verhältnissen gelebt haben: Während der ersten Ehe besaß er das Haus C 235, das 1868 von seiner geschiedenen Frau Sabine für 8800 Gulden verkauft wurde. 1862 wohnte der „Kaufmann“ Reuß im Haus D 50 (Karlstraße) und betrieb seine „Galanterieund Kurzwaren-Handlung“ im Haus D 34 (Ludwigsplatz). 1865 konnte er mit seiner zweiten Frau das Anwesen J 17 1/2 (Pferseer Straße) für 20 000 Gulden kaufen, das ihnen beim Verkauf im Jahre 1882 33 000 Gulden ein­ brachte. Es sind Häuser, die in den früher erwähnten besseren Quartieren la­ gen. 1865 erhielt er die Konzession als Platzwirt im Haus J 17 1/2 — dem „Schweizerhäuschen vulgo Gifthütte“ — und gab im folgenden Jahr seinen Galanteriewarenhandel auf; die Gastwirtschaft führte er bis 1882. Er lebte dann im Haus C 356 (Mittlerer Lech), das zur städtischen St. Jakobspfründe gehörte, wo er 1895 und seine Frau 1900 starben6. Da sich Theodor Reuß nicht über seine Kindheit geäußert hat, sind wir auch bei ihm auf die nackten Daten und ein paar naheliegende Vermutungen angewiesen7. Als einziger Sohn eines nicht unbegüterten Kleinbürgers der besseren Quartiere dürfte er keine schwere Jugend gehabt haben, die von sei­ nem 9. Lebensjahr an in der „Gifthütte“ farbiger als die mancher Altersge­ nossen gewesen sein wird. Sicher konnte ihm auch der Lebenswandel der leichtlebigen Adelheid nicht verborgen bleiben, besonders, wenn sie wirk23

lieh bis 1871 in Augsburg gelebt haben sollte und dort nicht nur gemeldet war. Mit ihrer Nachkommenschaft dürfte er allerdings nicht in Berührung gekommen sein: Die 5 Jahre ältere Tochter — ebenfalls eine Adelheid — scheint als Kind nach Wien verschlagen worden zu sein; ein Sohn starb in den 50er Jahren, der zweite — bei dem „St. Peter München“ und als Konfes­ sion „kathol(isch)“ vermerkt ist — 1862 in Göggingen. Bei einem Vater, der das Gymnasium besucht hatte, dann aber doch aus dem kleinbürgerlichen Milieu nicht herausgekommen war, hätte man erwar­ tet, daß der einzige Sohn das nachholen sollte, was dem Vater versagt blieb, vor allem da Theodor — wie wir gleich sehen werden — die intellektuellen Voraussetzungen besaß. Tatsächlich begegnet er uns jedoch im Schuljahr 1866/67 als lljähriger im Verzeichnis der „Handels-Abtheilung“ der „Kö­ niglichen Kreis-Gewerbsschule“ in Augsburg, die erst in späteren Jahren zur Oberrealschule ausgebaut wurde. „Zweck der Gewerbsschule mit den damit verbundenen Special-Abtheilungen für Handelskunde“ war zur Zeit seines Besuches „eine angemessene Bildung und eine theoretische Vorbereitung zunächst für den Eintritt in eine Gewerbs- beziehungsweise Handelslehre, wohl auch zum Uebertritte an die dermalen in Augsburg bestehende k(önigliche) Maschinenbauschule“ zu ver­ mitteln, und nach dem Wehrverfassungsgesetz von 1868 konnte sogar der „Nachweis über die für Zulassung zum einjährigen Freiwilligendienst erfor­ derliche höhere Bildung durch ein nach Absolvirung von drei Cursen der k(öniglichen) Gewerbs- und Handelsschulen ausgestelltes Maturitäts-Zeugniß ohne weitere Prüfung geliefert werden“. In einer Klasse von 52 Schülern nahm Theodor mit der Durchschnittsnote 2 den 9. Platz ein: In Religion und Arithmetik bekam er eine 1, nur in Deutsch lag er mit einer 3 unter je­ nem Durchschnitt, wobei man berücksichtigen muß, daß die Note 1 — ab­ weichend von neuerem Gebrauch — „vorzüglich“, 2 „sehr gut“ und 3 „gut“ bedeutete. Für seine Leistungen in protestantischer Religion wurde er mit ei­ nem Buch ausgezeichnet. Am Ende des nächsten Schuljahres rangierte er unter 36 Mitschülern mit der gleichen Durchschnittsnote an 6. Stelle. In der deutschen Sprache muß er sich erheblich verbessert haben, da er jetzt statt jener 3 eine 1 bekam, ebenfalls wieder in Geschichte und Religion; in Geographie, Naturlehre, Handelskun­ de und Französisch erhielt er eine 2, nur in der kaufmännischen Arithmetik, in der er noch im Jahr zuvor geglänzt hatte, langte es nur zu einer 3. Auch in die­ sem Schuljahr gehörte er zu den Preisträgern, die mit einem Buch ausgezeich­ net wurden, und wieder in „protestantischer Religionslehre“. 24

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Br. Peregrinus, Was muß man von der Freimaurerei wissen? Inhaltsverzeichnis der 4. Auflage. 118

Wie immer es um die Regularität jenes Jubiläums bestellt sein mochte, so war der Autor — wie wir bald sehen werden — tatsächlich dabei, auch auf diesem Gebiet wieder aktiv zu werden. Daß er mit der zunächst überra­ schenden Behandlung des Illuminaten- und Rosenkreuzer-Ordens — kaum zur Freude der regulären Maurer — interessierende Themen ansprach, wird im folgenden Kapitel ebenfalls noch deutlicher werden. Während ^lie endgül­ tige Trennung von Engel schon in der 2. Auflage eine Änderung des Illuminaten-Abschnitts notwendig machte, blieben die Berliner Kontaktadressen von Reuß jedoch unverändert stehen, nachdem er längst verzogen war, und selbst nach seinem Tode wurden suchende Rosenkreuzer noch immer in die „Bellealliancestraße 74“ verwiesen. Auch die „Einführung in den modernen Okkultismus und die Geheim­ wissenschaften der alten Kulturvölker“, die Hans Merlin 1902 im Untertitel seines Okkultismus-Bändchens versprach, mußten damals wie heute große Erwartungen wecken, die das Inhaltsverzeichnis auch zu erfüllen scheint, enthält es doch nicht allein Themen, die wir heute der Parapsychologie zu­ weisen, oder solche, die Gegenstand von esoterisch-erbaulichen Zirkeln zu sein pflegen, sondern neben „Theurgie“ auch „Schwarze Magie“ und „Nekromantie“. Und nicht zuletzt konnte die Frage, wie man „okkulte Kräfte“ erlangen könne und die Aussicht, über „okkulte Übungen“ informiert zu werden, neugierig machen. Da mit keinem Wort mehr Unfug getrieben werde als mit „Okkultismus“, umreißt Reuß-Merlin zunächst seine eigene Auffassung: „Der Okkultismus umfaßt die Erforschung (der) sogenannten .Nachtseite * der Natur und des Menschen, die nach okkultistischer Ansicht im Gegenteil gerade als dessen Lichtseite aufzufassen ist. Nichts anderes als moderne .Ma­ * oder erweiterte Naturwissenschaft ist nach du Prel, der einer der beru­ gie fensten Vertreter auf diesem Gebiete war, der Okkultismus“. Daneben stellt er eine Reihe anspruchsvoller — teilweise divergierender — Definitionen und Stellungnahmen, von Eduard v. Hartmann bis Aksakow, Franz Hart­ mann oder Madame Blavatsky oder die des früher erwähnten G.L. Dankmar, der den Okkultismus als zeitgenössische „Kulturbewegung“ herausge­ stellt hatte bzw. als „Teil der Anthropologie ... und seinem geistigen Gehalte nach praktische Metaphysik und Moral in einem“26. Aus dem breitgefächerten Spektrum dessen, was man damals unter Ok­ kultismus verstand, geht Reuß auf Spiritismus, Magnetismus und Hypnotis­ mus, Telepathie, Psychometrie oder Astrologie ein, ohne daß es sich lohnt, hier die sowieso nur knappen Ausführungen vorzustellen. Selbst beim Stich­

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wort „Schwarze Magie“ begnügt er sich mit ein paar Sätzen aus Kiesewetters „Die Geheimwissenschaften “ über das Hexenwesen. In den folgenden Ab­ schnitten kommen dann jedoch ausgiebiger Autoren zu Wort, die ihm nahe­ standen: Im Kapitel „Okkulte Naturwissenschaften“ wird ein Aufsatz von Dr. Groß über „Das Erzeugungs- und Auflösungsgesetz der Natur“27 refe­ riert, in dem über „Okkulte Heilkunde“ weitgehend der knappe Artikel über Prana-Therapie „aus der Feder des Schriftstellers Theodor Reuß“ wie­ dergegeben, die „okkulte Kosmogonie“ anhand der „Geheimlehre“ der Ma­ dame Blavatsky dargestellt, und nach allgemeinen Betrachtungen über die Frage, wie man okkulte Kräfte erlange, begegnet uns in der folgenden „An­ leitung zu okkulten Übungen“ ein ausführlicher Auszug aus Carl Kellners Yoga-Broschüre28. Die Warnung, solche Übungen nicht „ohne Führer oder Lehrer“ vorzu­ nehmen, leitet über zu der Frage, ob es zur Zeit geeignete Schulen für ange­ hende Okkultisten gebe: „Frankreich und Amerika sind Länder, woselbst der moderne Okkultismus bisher seine größte Ausbildung und Förderung erfahren hat. Wir finden daher in Frankreich sogar staatlich konzessionierte Schulen oder Akademien, auf denen okkulte Wissenschaften gelehrt werden“, die berühmteste die „Ecole hermetique“ des Dr. med. Gerard Encausse-Papus, von der wir noch hören werden. In den USA „besteht eben­ falls eine hervorragende Schule für das Studium des Okkultismus. Dieselbe heißt :,School for the revival of the lost mysteries of antiquity * und befindet sich in Point Loma, San Diego in Kalifornien“, gegründet von Madame Tingley, die wir schon als theosophische Kreuzfahrerin kennengelernt ha­ ben. In Deutschland seien verschiedene Versuche ohne sonderlichen Erfolg unternommen worden, so von Paul Zillmann, Berlin-Großlichterfelde29; ei­ ne Möglichkeit, okkulte Studien zu treiben, biete der „moderne Orden der Rosenkreuzer“ von Dr. William Wynn Westcott, dessen deutsche Sektion von „Magus Dr. med. Robert Groß, Bad Finneck in Thüringen“ geleitet werde, auch Dr. Franz Hartmann wird als „Lehrer und Kenner der alten Ge­ heimwissenschaften und des modernen Okkultismus“ kurz vorgestellt. Aber deutsche Suchende konnten hoffen: „In jüngster Zeit ist man ... in Deutschland ... dazu geschritten, dem Studium der alten Geheimwissen­ schaften und des modernen Okkultismus eine Heimstätte zu bieten, indem man nach amerikanischem Vorbilde, jenes System der Hochgrad-Freimaure­ rei in Deutschland einführte, dessen Hochgrade das Studium des Okkultis­ mus und der Geheimwissenschaften aller Zeiten zum Inhalt haben. Dieses System heißt der Orden der Alten Freimaurer vom Memphis und Misraim 120

Ritus... Organ dieses okkulten Freimaurer-Orden (sic) ist die Monatsschrift ,Oriflamme“‘. Als Lehrinhalte dieser „Schule des Okkultismus“(!) werden Kabbala, Alchimie und Astrologie neben den „Lehren der Gnosis und der Tempelritter,... der Veda und der Zend Avesta“ und ägyptische Geheimleh­ ren genannt. Auskunft über die Eintrittsbedingungen für die „Weisheits­ schule dieses Ordens“ empfahl Hans Merlin bei Herrn Reuß, Bellealliance­ straße 74 in Berlin, einzuholen, und rundete mit einer Diskussion über „die Strafbarkeit des Okkultismus“ seine Einführung ab. Gewiß kommen dabei seine eigenen Auffassungen nicht zu kurz, aber das Bändchen ist doch alles andere als eine Programmschrift, allenfalls indirekt durch die Auswahl der okkulten „Schulen“, die nur ein schiefes Bild des da­ maligen Okkultismus vermittelt. Selbst wenn man berücksichtigt, daß es sich nur um eine „Einführung“ handeln sollte, gewinnt man nicht den Ein­ druck, daß der „Eklektiker“ Reuß allzuviel an okkulter Praxis einzubringen hatte, dafür — wie wir im folgenden erneut sehen — um so mehr als rühriger Organisator und Manager auf okkultem Gebiet.

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VIII. Winkelmaurerei in Deutschland Mit jener „Schule des Okkultismus“ hatte Reuß ein Hochgrad-System pro­ pagiert, das — zumindest was die Zahl der Grade anbetraf — an der Spitze rangierte. Hochgrade — also Grade, die über die drei „blauen“, die JohannisGrade (Lehrling, Geselle, Meister) — hinausgehen, sind „eine der meistumstrittenen Einrichtungen der Freimaurerei“, wie Lennhoff und Posner in dem Artikel ihres Internationalen Freimaurerlexikons betonen und als Illu­ stration in einer Fußnote darauf hinweisen, daß die beiden Autoren in die­ sem Punkt selbst differieren1. Einig sind sie sich darin, daß die Hochgrade — die eine Weiterbildung des maurerischen Lehrinhalts in Aussicht stellen — zu ihrer Zeit „großteils Reste der ritterlichen Verirrungen der Freimaurerei im 18. Jahrhundert“ darstellten, die in England, dem Mutterland der König­ lichen Kunst, nie den Stellenwert besaßen wie in der übrigen Freimaurerei, aber auch dort in Nischen und Winkeln bei Randfiguren fortexistierten — sei es vielleicht auch nur auf dem Papier —, und neben den „ritterlichen“ ok­ kultistisch-exotische Züge ins Erscheinungsbild der Freimaurerei brachten. Die „Weisheitsschule“ des Memphis & Misraim-Ritus repräsentierte frei­ lich nur einen Teil der masonischen und pseudomasonischen Aktivitäten, mit denen sich Merlin-Peregrinus-Reuß in jenen Jahren befaßte. 1899 war zwar das Schisma der Illuminaten beendet worden, ohne daß der Orden sonderliche Fortschritte gemacht hätte, so daß die beiden Illuminaten-Häupter Reuß und Engel beschlossen, seine Attraktivität durch eine maurerische Fassade zu steigern. Wenn man von Reuß * früherer Mitglied­ schaft in der Pilger-Loge absieht, scheint es aber bei den Spitzenleuten der Il­ luminaten wenig masonische Beziehungen gegeben zu haben, und selbst die von Reuß waren nicht über jeden Zweifel erhaben. Trotzdem trafen sich am 12. März 1901 „die Illuminaten Theodor Reuß, Leopold Engel, August Weinholtz, Max Rahn und Siegmund Miller“, denen sich Max Heilbronner und Georg Gierloff anschlossen, in der Reußschen Wohnung in der Bellealliancestraße und „beschlossen, die im Jahre 1880 in München gegründete Freimaurerloge ,Ludwig“ wieder zu eröffnen“2. Nach dem Protokoll soll sie eine Loge der „alten und angenommenen Freimau­ 122

rer“ gewesen sein, was auf Unsicherheit in der maurerischen Terminologie schließen läßt. Wie schon früher betont, war diese Loge „Ludwig“ — oder was immer sich dahinter verborgen haben mag — sicher nicht regulär. Ein­ stimmig wählte man dann die folgenden Beamten: Meister vom Stuhl wurde Theodor Reuß, 1. Aufseher und stellvertretender M.v.St. August Weinholtz, 2. Aufseher Max Rahn, 1. Schaffner Leopold Engel, 2. Schaffner Georg Gierloff und Schatzmeister Max Heilbronner3. Bei Georg Gierloff dürfte es sich um den künftigen Schwager von Reuß handeln. Es fehlte nur noch ein Patent, das man bei Seydel & Co in Berlin drucken ließ. Ausgestellt war es vom Illuminaten-Orden und wies auf das „rechtmä­ ßig erworbene Ordensrecht (hin), Freimaurer-Logen zu begründen“. Reuß besaß nun das alleinige Recht, Maurerlogen gemäß den „Logengesetzen“ des Ordens zu konstituieren und zu weihen; alle maurerischen Dokumente soll­ ten in der Dresdner Geschäftsstelle des Ordens unterzeichnet und beglaubigt werden. Aus Gründen, die laut Reuß „bei Engel selbst“ liegen sollten, wurde die Gründung auf den 1. Januar 1900 (!) rückdatiert. Selbst der 77jährige Carl Engel wurde aufgeboten, um auf dem Patent als „Archivar u(nd) Siegelbe­ wahrer“ zu figurieren4. Im Hintergrund spukte aber auch noch ein anderes Patent oder etwas Ähnliches: Nach Engel hatte es Adam Weishaupt “von dem Prinzen vom Rosenkreuz, Bruder Louis Gabriel Lebauche aus Bazeille bei Sedan am 19. November 1786 in Regensburg (erhalten). Dieses Dokument ist stets im Be­ sitze von Illuminaten gewesen und...jetzt im Verwahr der Loge .Ludwig * “5. Die Gründung der (neuen) Loge „Ludwig“ wurde in der WeinholtzRahnschen Zeitschrift „Die übersinnliche Welt“ gebührend angezeigt: „Der Illuminaten-Orden gründet und konstituiert Freimaurer-Logen ... Es kön­ nen jedoch nur Freimaurer-Meister in die hohem Grade aufgenommen wer­ den oder Freimaurer-Logen gründen ... Der Orden steht in intimer Verbin­ dung mit Freimaurern in Frankreich, England und Amerika“. Ferner wurde betont, daß die Loge nach Maurerbrauch regulär sei und nach einem aner­ kannten Ritual arbeite, das auf dem „alten, ächten, englischen Ritual“ basie­ re. Neben den drei Johannisgraden gab es noch einen vierten Andreasgrad: „Freimaurer-Meister, die den Andreasgrad besitzen und Neigung für okkul­ tistische Forschungen haben, können dann noch in den Rosenkreuzergrad aufgenommen werden“6. Reuß muß auch hier recht aktiv gewesen sein; denn trotz der bald laut werdenden Vorwürfe, daß die Loge „Ludwig“ nichts als ein Ableger des Illuminaten-Ordens sei, und der Querelen, die schließlich zum endgültigen 123

Bruch mit Engel führten, gelang es ihm, weitere Logen an sich zu binden, so daß seine Obödienz — die Große Freimaurerloge für Deutschland des Illuminaten-Ordens — bis Ende 1901 außer der Loge „Ludwig“ noch folgende Logen umfaßte: „Adam zur Weisheit“ (Dresden), „Phönix zur Wahrheit“ (Hamburg), „Zur hellen Morgenröthe“ (Kattowitz), „Zur aufblühenden Ro­ se der Beständigkeit“ (Zittau) und „Katharina zum stehenden Löwen“ (Ru­ dolstadt). Keine von ihnen war von einer regulären deutschen Großloge an­ erkannt. Die Hamburger und Kattowitzer Logen hatten sich zuvor der All­ gemeinen Bürgerloge in Berlin angeschlossen, einer Pseudo-Großloge, die ei­ nige Jahre lang unter dem Berliner Buchhändler O. Hemfler arbeitete7. Reuß mußte schon bald erkennen, daß seine Große Freimaurer-Loge für Deutschland von den etablierten deutschen Großlogen niemals anerkannt werden würde, doch konnte er hoffen, die Position zu stärken, wenn er sich mit einer maurerischen Körperschaft, die nicht im Ruch der Irregularität stand, affiliierte, was dann auch auf dem Umweg über Frankreich bewerk­ stelligt wurde. Irgendwann im Jahre 1901 erfuhr Reuß, daß Dr. Gerard Encausse aus England die Erlaubnis erhalten hatte, den Swedenborg-Ritus in Frankreich zu bearbeiten. Encausse-Papus, der Chef des nicht-maurerischen Martinisten-Ordens, war allerdings selbst kein Freimaurer, ja, die französischen maurerischen Behörden betrachteten ihn mit Argwohn. Die Situation erscheint weniger befremdlich, wenn wir erfahren, daß je­ nes Patent von John Yarker aus Manchester stammte, der den SwedenborgRitus 1876 aus Kanada importiert hatte8. Im allgemeinen wird angenommen, daß bei Yarkers diversen maurerischen Unternehmungen — von denen der Antient and Primitive Rite of Memphis and Misraim nur die bekannteste war — finanzielle Erwägungen im Vordergrund standen, aber die vorliegen­ den Informationen sprechen gegen diese Ansicht. Er war eher ein reizbarer Exzentriker und Eigenbrötler, gegen den die Vereinigte Großloge von Eng­ land kaum Einwände erheben konnte, wenn er sich Großmeister dieser oder jener Körperschaft nannte, da er sorgfältig darauf achtete, nicht deren aus­ schließliche Kontrolle der Johannis- und Royal Arch-Grade anzutasten. Der Swedenborg-Ritus mit seinen 6 Graden — von denen die drei ersten in keiner englischen Swedenborg-Loge bearbeitet worden sind — war in England niemals populär. Ein Jahr nach Yarkers kanadischem Patent gab es 10 Logen, 1879 wurden 2 weitere installiert, 1886 dann noch in Limerick die Loge Nr. 13 („Eri“). Die Entwicklung stagnierte, bis um 1900 Encausse die Erlaubnis erhielt, die Loge „I.N.R.I.“ (Nr. 14) in Paris zu gründen, wobei 124

Encausse vermutlich Yarker zwar mitteilte, daß er kein Grand Orient-Frei­ maurer sei, aber verschwieg, daß er überhaupt niemals regulär initiiert wor­ den war. Reuß nahm nun wegen dieser Swedenborg-Aktivitäten mit Encausse brieflich Kontakt auf, der in einem undatierten Brief dem T. • .C. • ,F. ■. (Très Cher Frère) antwortete, daß er sich mit den „Messieurs“ des Swedenborg-Ri­ tus wegen einer Repräsentanz in Berlin in Verbindung gesetzt habe und ihm riet, sich an den uns schon bekannten Dr. Westcott zu wenden, der auch Su­ preme Grand Secretary des dahinsiechenden Ordens war9. Reuß erfuhr nun von Westcott, daß Yarker nicht nur den Swedenborg-Ri­ tus kontrollierte, sondern auch Sovereign Grand Master der vereinigten Ri­ ten von Memphis und Misraim war und ebenso des Cerneau „Scottish“ Rite of 33 °. Das war für Reuß weit attraktiver als der Swedenborg-Ritus, weil er mit diesen Riten Hochgrad-Freimaurerei offerieren konnte. Er bat also Westcott, sich bei Yarker für ein Memphis & Misraim-Patent zu verwenden, aber Westcott wollte damit nichts zu tun haben; denn obwohl diese Riten in England toleriert wurden, betrachtete sie das maurerische Establishment — und besonders der Oberste Rat 33 ° des Ancient and Accepted Rite — als un­ erwünschte Abweichungen. Aber er war bereit, Reuß hinsichtlich des harm­ losen Swedenborg-Ritus behilflich zu sein. Im Dezember 1901 erneuerte Reuß seine persönliche Bekanntschaft mit Westcott aus den Tagen der Theosophical Society ein Jahrzehnt zuvor10, nachdem er den Besuch durch jene am 17. Oktober dedizierten IlluminatenBroschüren gebührend vorbereitet hatte, ein Treffen, das anscheinend zu bei­ derseitiger Zufriedenheit verlief. Schon am 31. Januar 1902 konnte Westcott nach Deutschland berichten, daß er mit Yarker korrespondiere und hoffe, Reuß bald das gewünschte Patent zu beschaffen. Die Sache habe nur einen Haken: „Some of your German Masons are I hear hostile: some German Masonic Journalist is trying to attack you and suggests that you want to ,make masons clandestinely * — that is underhand — he has written to an Official of the Grand Lodge of England — who wrote to me for information-“11. In Erwartung des Swedenborg-Patents lösten Reuß und seine Freunde am 9. Februar 1902 die Große Freimaurer-Loge für Deutschland des Illuminaten-Ordens auf, da sie keine Verwendung mehr für sie hatten; aus der Loge „Ludwig“ wurde die Große Mutterloge „Ludwig“. Westcott meldete sich erneut am 14. Februar und deutete an, daß Yarker die Gründung einer Swedenborg-Loge in Berlin gestatten werde: „Bro. Yar125

ker is entirely within his rights to give you a known Master Mason of Eng­ land a Warrant for a Lodge but hesitates to issue written authority for 6 Lod­ ges — which your Latomia says are not regular12 — I had got his permission to make a Prov.G(ran)d Lodge of Germania for you, but now he hesitates — because he does not want to have half the German Masonic World condem­ ning him — as well half the English who condemn him for the A(ntient) & P(rimitive) Rite“. Eine Abschrift des Patents — in Westcotts Handschrift — vom 21. Fe­ bruar 1902 zeigt, daß Reuß jetzt autorisiert war, die Swedenborg-Loge „Zum heiligen Gral“ (Nr. 15) in Berlin zu gründen und Tochterlogen „at his discre­ tion“. Jene fünf — hier namentlich aufgeführten — Logen, die sich Reuß be­ reits eingefangen hatte, sollten akzeptiert werden „from the guarantee of Bro. Theodor Reuss“. Reuß wurde Provinzial-Großmeister und die meisten der früher erwähnten Illuminaten — außer Max Rahn — wurden zu GroßBeamten bestellt13. Als Draufgabe autorisierte Westcott am 24. Februar Reuß auch, einen deutschen Oberen Rat der Societas Rosicruciana in Anglia zu installieren, mit ihm als Magus und Engel als Magus Delegatus Primus. Diese Societas Rosicruciana in Germania hatte aber nie mehr als eine Handvoll Mitglieder; schon hier kann vorweggenommen werden, daß sie am 7. Juli 1907 vom High Council in London für erloschen erklärt wurde. Reuß und Engel entzweiten sich schließlich im Sommer 1902 endgültig, und die Beamten der Großen Mutterloge „Ludwig“ strichen Engel — und Siegmund Miller — am 3. Juli wegen eines nicht näher bekannten „Aktes der Falschheit und des Treubruchs“ aus der Mitgliederliste14. Engel seinerseits sprach später voll Bitterkeit über seine Liaison mit Reuß, der sich „so unwürdig wie nur möglich erwies“, daß er seinen Namen in der „Geschichte des Illuminaten-Ordens“ von 1906 „deshalb“ ver­ schwieg15. Der Engelsche Illuminaten-Orden entwickelte dann im Laufe der Jahre seine eigenen irregulären maurerischen Affiliationen. 1902 hatte auch Reuß’ Zeitschrift „Oriflamme“ zu erscheinen begonnen, anfangs monatlich, und laut Untertitel der Januar-Ausgabe als „Organ für die Interessen der deutschen Hochgrad-Freimaurer, des Swedenborg-Ritus und des Ordens der Rosenkreuzer“, eben jener Societas Rosicruciana in Ger­ mania. Reuß sah bald ein, daß dem Swedenborg-Ritus kein Erfolg beschieden sein würde, wahrscheinlich, weil seine drei höheren Grade auf ein ebenso ge­ ringes Interesse stießen wie in England während der 70er Jahre. Sie wurden 126

auch weder übersetzt noch bearbeitet. Doch als Provinzial-Großmeister konnte Reuß jetzt mit Yarker verhandeln, ohne Westcott einschalten zu müssen, und schon im Sommer 1902 wandte er sich an ihn wegen eines Pa­ tentes für den Memphis & Misraim-Ritus, eines weiteren Exemplars seiner Riten-Sammlung. Der Memphis & Misraim-Ritus konnte schon auf eine längere Geschichte in Frankreich und den USA zurückblicken, bevor ihn Yarker aus einer du­ biosen amerikanischen Quelle erwarb16. Wir haben die sowieso nur teilweise aufgehellte — nur zu oft auf konkurrierenden Legenden basierende — Ge­ schichte der beiden Riten nur so weit zu skizzieren, wie es die Ereignisse des neuen Jahrhunderts erfordern. Beide Riten sind Epigonen der Hochgrad-Maurerei des 18. Jahrhunderts, beide postulieren — wie schon die Namen deutlich machen — Beziehungen zu Ägypten, und sie kommen auch darin überein, daß ihre Herkunft unsi­ cher ist, ihnen der Ruch der Irregularität anhaftet. Der ältere von beiden — der Misraim-Ritus — wurde in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in Mailand installiert und im zweiten Jahrzehnt von den Brüdern Bédarride mit gewissem Erfolg in Frankreich propagiert17. Soll­ te Cagliostros Rite égyptien wirklich zu den Ahnen gehören18, lieferte das für die spätere Entwicklung nur eine stilvolle Ergänzung. Trotz des Wider­ standes des Grand Orient, der den Ritus nicht nur nicht anerkannte, son­ dern sich gegen ihn aussprach, entwickelte er in den 30er Jahren neue Aktivi­ täten, wobei J.-E. Marconis de Nègre seine — nicht ganz sauberen — Hände im Spiel hatte. Wir verlassen den Ritus fürs erste, bis wir ihm in England wiederbegegnen. Wenn wir die Ordenslegende des Memphis-Ritus — wie sie der eben er­ wähnte Marconis 1849 in „Le Sanctuaire de Memphis“ vortrug — nur als sol­ che erwähnen und auch seiner Behauptung den gleichen Status belassen, ein gewisser Samuel Honis, der von französischen Offizieren 1799 in Kairo in den Rite Primitif des Philadelphes initiiert worden sei, habe 1813 mit seinem Vater Gabriel-Mathieu Marconis in Montauban eine Grande Loge des Phila­ delphes gegründet — was suggeriert, daß der Memphis-Ritus über die Fami­ lie Marconis de Nègre eine Art Ableger jenes älteren Ritus sei —, wird der Memphis-Ritus in dem Jahr greifbar, in dem Marconis de Nègre aus dem Misraim-Ritus ausgestoßen wurde: 1838. Im nächsten Jahr baute er seine Hochgrad-Geschäfte weiter aus. Noch im gleichen Jahr sollen die Brüder Bé­ darride als Chefs des Misraim-Ritus — laut Marconis de Nègre — versucht haben, die neue Konkurrenz als politische Vereinigung bei der Polizei zu de­ 127

nunzieren; tatsächlich mußte der Orden am 25. Februar 1841 auf Anord­ nung des Pariser Polizeipräfekten seine Tätigkeit einstellen. Nach der Februar-Revolution von 1848, die das Verbot privater Vereini­ gungen beseitigte, konnte auch der Memphis-Ritus seine Tätigkeit wieder aufnehmen, aber diese Wiederbelebung sollte nur von kurzer Dauer sein. Nach dem Staatsstreich Louis Napoleons, dem ein massives Vorgehen gegen Republikaner und Sozialisten korrespondierte, geriet auch der Memphis-Ri­ tus, dem eine Handvoll Republikaner und Sozialisten — aus welchen Grün­ den auch immer — angehörte, ins Zwielicht und wurde erneut am 21. De­ zember 1851 verboten, was Marconis de Nègre nicht hinderte, weiter Paten­ te zu verhökern. Überhaupt scheint Marconis ein etwas problematisches Verhältnis zum Geld gehabt zu haben, was ihn auch billige Tricks nicht verschmähen ließ, die ihm vor dem 7. Tribunal Correctionel des Département Seine eine Geld­ strafe einbrachte. Wichtig wird der Memphis-Ritus für uns in dem Augenblick, in dem er in England Fuß zu fassen suchte. Sein erster Großmeister wurde der franzö­ sische Journalist Jean-Philibert Berjeau, der sich allerdings schon 1850 in London aufhielt, also bevor der eigentliche Exodus der proscrits einsetzte. Im November dieses Jahres war er Mitglied der „Société Fraternelle des Dé­ mocrates-Socialistes Français“ — einer Art Auffangorganisation für emi­ grierte französische Freimaurer — der u.a. auch Louis Blanc angehörte1’. Am 31. Januar 1851 nun erhielt Berjeau ein Patent von Marconis, das angesichts der damaligen Verhältnisse mehr als dubios war, dem Londoner MemphisRitus in den Augen von Berjeau aber eine Art von Legitimation verschaffte. Im November 1853 kam Marconis de Nègre für kurze Zeit selbst nach Lon­ don, wobei das leidige Geld auch wieder eine Rolle spielte. Ein anonymes Pamphlet von 1860 stellt die Ereignisse so dar, daß man nach dem Verbot des Ritus in Frankreich die geretteten Archivalien bei der Loge Spectateurs Ménès in London deponiert und eine Großloge des Mem­ phis-Ritus installiert habe unter dem Namen der „Grand Lodge des Philadelphes“20. Die Tatsache einer Mitgliedschaft von Louis Blanc und anderer Emigranten wie die, daß Garibaldi und Mazzini ebenso Freimaurer waren wie etwa der Freidenker Bradlaugh, den wir schon im Zusammenhang mit Annie Besant kennengelernt haben, hat Boris I. Nicolaevsky dazu verführt, den Mitgliedern der Grande Loge des Philadelphes bzw. dem Memphis-Ri­ tus „a great role in the création of the First International“ in den 60er Jahren zuzuschreiben, eine Einschätzung, die auch von Anna Kriegei übernommen 128

wurde21. Wenn emigrierte Sozialisten im Memphis-Ritus u.U. eine Art An­ laufstelle, wenn nicht nur ein Fleckchen „Heimat“ im Exil sahen, wenn Louis Blanc sogar Logenreden gehalten haben soll, läßt sich weder aus ihm und Bradlaugh ein „radikaler Flügel“ der Freimaurerei konstruieren22, noch gar — trotz des unübersehbaren politischen Hintergrunds — aus Personal­ unionen eine „enormous... role“ des Memphis-Ritus bei den politischen Er­ eignissen vor und von 1864 ableiten, wie es in politischer Hinsicht auch nichts besagen will, daß Marx’ Schwiegersohn Charles Longuet 1866/67 in einem freimaurerischen Jahrbuch in der Liste der „Philadelphes“ auf­ taucht23. Eine Bestätigung von Nicolaevskys Behauptungen wäre angesichts der Londoner Aktivitäten von Reuß und seiner späteren Rolle im Memphis & Misraim-Ritus freilich nicht ohne Pikanterie gewesen. Auch der „reformierte“ Memphis-Ritus (Grande Loge des Philadelphes) von 1860 fand keine Gnade vor den Augen der englischen Großloge, nach­ dem schon im Jahr zuvor der Verkehr mit irregulären Logen per Rund­ schreiben generell untersagt worden war. Marconis’ Versuche, mit dem Grand Orient ins Gespräch zu kommen, endeten nach einigem Hin und Her 1868 mit dem Erlöschen des Ritus in Frankreich; in England hielten sich die „Philadelphes“ noch bis in die 70er Jahre. Wie der Misraim-Ritus war aber auch der Memphis-Ritus u.a. in die USA exportiert worden, wo sie in die Hände von Harry J. Seymour — „stormy petrel of high-grade Freemasonry“ — gelangten, ohne daß es möglich oder hier auch nötig wäre, die verschlungenen Pfade aufzuzeigen, auf denen das geschah. Wichtig für die weitere Entwicklung ist lediglich, daß der unermüd­ liche John Yarker 1872 beide Riten durch Kauf seiner Sammlung einverleibte und sie zum Memphis & Misraim-Ritus verband. In der November-Num­ mer 1884 seiner Zeitschrift „The Kneph“ gab er außerdem bekannt, daß er „the authority of the Cerneau Councils of the Ancient and Accepted Rite“ erlangt habe, eine Nachricht, die das Supreme Council 33 ° kaum erfreut ha­ ben dürfte. Reuß war nicht vergeblich bei Yarker vorstellig geworden: Er erhielt nicht nur ein Patent für den Antient and Primitive Rite of Memphis & Misraim, sondern auch für jene Cerneau-Version (New York 1807) des Ancient and Accepted Rite2'1. Im Zusammenhang mit seinen geplanten HochgradAktivitäten rekrutierte er zwei Herren, die bisher noch nicht in seine masonischen Manöver in Deutschland involviert waren, nämlich Heinrich Klein — der vor seiner Zeit Mitglied der Londoner Pilgerloge gewesen war — und den uns schon bekannten Dr. Franz Hartmann. Um ihnen den 129

notwendigen Status zu verschaffen, machte sie Yarker im Frühherbst 1902 zu hohen Beamten seines Souveränen Sanktuariums, einer Körperschaft, die anscheinend alle in seiner Hand befindlichen Hochgrad-Riten kontrollierte. Das erbetene Patent folgte am 24. September und autorisierte den Sovereign Grand Master General Reuß, Grand Administrator General Hartmann und Grand Keeper of the Golden Book Klein, ein Souveränes Sanktuarium in Berlin zu installieren und noch zu manchem anderen. In der Dezember-Nummer 1902 der „Oriflamme“ schrieb Reuß: „Das Souveräne Sanktuarium für das Deutsche Reich und Groß-Orient von Deutschland hat ... das Recht, in ganz Deutschland Freimaurer-Logen zu stiften, anzunehmen und einzuweihen, und die sämtlichen Grade, vom er­ sten oder Lehrlings-Grad (l.°) bis zum letzten, dem Grade des GeneralGroß-Inspektors und Groß-Konservators (33. ° - 95. °) zu bearbeiten, Suchen­ de aufzunehmen und zu befördern“. Der entscheidende Punkt ist hier natür­ lich, daß sich Reuß nun das Recht zuschrieb, Freimaurer aufzunehmen und die Johannis-Grade in Deutschland zu bearbeiten. Wie zu erwarten, weiger­ ten sich die im Großlogenbund zusammengeschlossenen Großlogen, Reuß oder seine Riten anzuerkennen. Reuß’ Verpflichtung als General-Großmeister blieb einer Zeremonie Vor­ behalten, die am 11. November 1902 in Berlin stattfand. Und wieder gab es einen jener Schwenks, die diese Geschichte der Reußschen Gründungen so verwirrend erscheinen läßt. Reuß verkündete nämlich, daß die Große Mut­ terloge „Ludwig“ mit ihren assoziierten Swedenborg-Logen zu existieren aufgehört habe. Das neue Souveräne Sanktuarium installierte nun neue Lo­ gen, die freilich nur die Nachfolger der aufgelösten waren: aus der Loge „Ludwig“ wurde die Loge „Zur siegenden Sonne“ in Berlin. Reuß hatte auch zu berichten, daß das Souveräne Sanktuarium bereits Re­ präsentanten mit verschiedenen Souveränen Sanktuarien, Groß-Orienten etc. in Italien, Spanien, Rumänien und Argentinien ausgetauscht habe; weni­ ge Monate später konnte er Kuba und Ägypten dieser Liste hinzufügen. Selbstverständlich tauschte keine dieser Körperschaften Repräsentanten mit der Vereinigten Großloge von England oder den deutschen Großlogen aus, alles spielte sich vielmehr in einer recht wunderlichen Memphis & MisraimUnterwelt ab, wenn auch nach dem in der Dezember-Nummer 1902 der „Oriflamme“ publizierten „Auszug aus den Allgemeinen Grundgesetzen des Groß-Orient und Souveränen Sanktuarium“ die Tochterlogen „bezüg­ lich des Rituals und des allgemeinen maurerischen Verhaltens in den Symbo­ lischen (St. Johannis-)Logen ... die allgemeinen Gesetze der Pilgerloge Nr. 130

238 Or. London vom 10. Juli 1782 und das von der Pilgerloge im Jahre 1852 in London eingeführte Hamburger (Schrödersche) Ritual“ zugrundelegen sollten. Es wäre eine starke Übertreibung, wenn man behaupten wollte, daß nun ein Ansturm von Bewerbern auf Reuß’ zusammengewürfelte HochgradKollektion eingesetzt habe. Ein Jahr nach Ausstellung des Patents betrug die Mitgliederzahl aller Logen des Souveränen Sanktuariums nicht mehr als 132 Brüder25. Einige von ihnen waren zugleich Mitglieder von Logen, die aner­ kannten deutschen Jurisdiktionen unterstanden. So amtete, als August Weinholtz im Herbst 1903 Badedirektor des „Stahlbads Finneck“ (bei Rastenberg/Thür.) von Dr. Groß wurde, ein gewisser Br. Uhlmann, der 30 Jahre zuvor in der Loge „Zu den drei Kleeblättern“ (Große Landesloge) aufge­ nommen worden war, als Deputierter Meister der Loge „Zur siegenden Son­ ne“, und Dr. phil. Gustav Diercks, der einer regulären Loge angehörte, war in den Jahren 1903/04 kurze Zeit Korrespondierender Sekretär des Souverä­ nen Sanktuariums. Die Großbeamten des Souveränen Sanktuariums von 1902 lernen wir aus einer Aufstellung der Dezember-Nummer der „Oriflamme“ kennen, die zu­ gleich auch einiges Licht auf ihren sozialen Status wirft: General-Großmei­ ster Reuß präsentierte sich als „Ritter des kaiserl. ottomanischen Medschidje-Ordens etc. etc. Chefredakteur in Berlin und Preßmanager beim kgl. Prinzregenten-Theater in München“, umgeben von „Dep. General-GroßKommandeur: Br. ■. Dr. Franz Hartmann, Privatgelehrter und Eigentümer der Lignosulfit-Werke in Hallein26, z.Z. Villa Maria, Florenz; General-GroßKeeper des Goldenen Buches: Br.-. Henry Klein, Inhaber von Polyphon Werken Leipzig und London (sic)27; General-Groß-Expert: Br.-. Dr. Robert Groß, Arzt und Eigenthümer des Stahlbades Finneck, z.Z. Berlin28; GeneralGroß-Ceremonienmeister: Br.-. Rudolf Barth, Direktor der städt. Gasan­ stalt in Rudolstadt; General-Groß-Schatzmeister: Br.-. Max Heilbronner, kaiserl. Hoflieferant und Antiquar in Berlin und Paris; General-GroßKanzler: Br.-. Reinhold Augsburg, Kaufmann in Berlin; General-Groß-Repräsentanten: Br.-. August Weinholtz, Kaufmann in Berlin. Br.-. Franz Held, Direktor der Pomril-Fabrik in Hamburg“29. Und in dem „Ehren-General-Großmeister: Br. •. Dr. Carl Kellner“ besaß das Souveräne Sanktuari­ um einen „Protektor“, der als „Mitglied des k.k. Industrie-Rates in Wien, Fabrikbesitzer in Hallein, Wien, Liverpool und Norwegen“ großbürgerli­ che Reputation mit einem ausgeprägten Interesse für Okkultismus verband, das — wie schon deutlich wurde — eigene Wege ging.

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Es spricht für die Überredungskünste von Reuß, daß es ihm im Frühjahr 1904 gelang, die angebliche Regularisierung einer nicht anerkannten maurerischen Körperschaft zu inszenieren, die einen weit größeren Mitgliederbe­ stand hatte als seine eigene. Es handelte sich dabei um die Große FreimaurerLoge von Deutschland mit 39 Logen und 702 Mitgliedern, mit Sitz in Leipzig30. Die Große Freimaurer-Loge von Deutschland war aus der irregulären Allgemeinen Bürgerloge von 1896 hervorgegangen, von der sich 1899 eine Reihe von Logen abspalteten und eine Allgemeine Bürgerloge in Leipzig gründeten, die sich im Juli 1900 mit ihren 21 Logen in Matthäi-Logenbund umbenannte. Im Juli 1903 wurde eine weitere Namensänderung vorgenom­ men: der Matthäi-Logenbund wurde zur Großen Freimaurer-Loge von Deutschland. 1904 scheinen Ziele und Arbeitsweise regulär gewesen zu sein, wenn auch offenbar ein Rest irregulären Unbehagens geblieben war. Ihr Großmeister A.P. Eberhardt berichtete ein Jahrzehnt später, er und seine Brüder seien an Reuß herangetreten, weil häufig Mitglieder ihren Aus­ tritt erklärt hätten, weil sie das Gefühl hatten, keine „richtigen Freimaurer“ zu sein. Und Reuß wußte Rat: Für 800 Mark rektifizierte er am 12. Mai 1904 die Große Freimaurer-Loge samt Tochterlogen und Zirkeln und machte die besorgten Mitglieder „regulär“. Eine Woche darauf teilte er dem Großlogen­ bund mit, daß das „Souveräne Sanktuarium und der Gross-Orient des A. und A. Schottischen und A. und P. Ritus von Memphis und Misraim für das Deutsche Reich“ nunmehr „1 Gross-Orient, 1 Grossrat, 4 Kapitel, 1 voll­ kommene Loge, 35 symbolische Logen und 9 Kränzchen mit 845 Mitglie­ dern“ umfasse, doch scheint auch diese Mitteilung vom Adressaten ignoriert worden zu sein. Reuß hätte nach diesen Angaben nur 143 Anhänger einge­ bracht. Eine Aufschlüsselung der 44 Meister vom Stuhl, Zirkelvorsitzenden und Groß-Beamten der neuen Körperschaft, bei denen bis auf 3 Fälle der Beruf angegeben ist oder ermittelt werden konnte, ergibt folgendes Bild: „Kaufleute“ „Lehrer“ (keine Oberlehrer) Beamte (staatliche/städtische)

9 6 6

Mit deutlichem Abstand folgen: Ingenieure (1 Dipl.-Ing.) Handwerksmeister Bankangestellte (-beamte)

3 3 2 132

Redakteure Buchdruckerei-Besitzer

2 2

Je einmal sind vertreten: Arzt, Rechtsanwalt, Fabrikdirektor, Brauerei-Besitzer, Rentier, Buchhändler, „Werkführer“ (im Stadtarchiv?), Bürogehilfe

8

Die erste Gruppe macht über 51 % aus. Ohne die 3 Handwerker, den „Werkführer“ und den Bürogehilfen verbleiben 36 Personen (knapp 88 %), die man der gehobenen Mittelklasse zurechnen kann. Der Anteil der sicher auszumachenden Akademiker (Arzt, Rechtsanwalt, Dipl.-Ing.) ist relativ ge­ ring; aus der Liste der Großbeamten von 1902 wären noch Kellner, Hart­ mann und Groß nachzutragen, ohne daß sich das Bild grundlegend änderte31. Es wird nicht recht klar, welche aktive Rolle bei all dem Karl Kellner spielte, der einmal eine „Academia Masónica“ gründen wollte. In der späte­ ren Auseinandersetzung mit seinem zeitweiligen Associé Eberhardt schrieb Reuß: „Dr. Karl Kellner war niemals Mitglied des Swedenborg-Ritus oder überhaupt Mitglied irgend einer der von mir in den Jahren 1900—1902 ge­ gründeten Freimaurerlogen gewesen. Dr. Karl Kellner war auch nicht Mit­ glied des von mir re-aktivierten Illuminaten Ordens gewesen, so lange Leo­ pold Engel mit demselben in irgendeiner Weise verbunden gewesen war ... Dr. Karl Kellner, mit dem ich allerdings schon lange vorher befreundet und verbunden war, trat im September 1902 dem Souveränen Sanktuarium des Alten und Primitiven Ritus der Freimaurerei bei, nachdem ich im Einver­ nehmen mit ihm ... von John Yarker in Manchester im August einen Char­ ter (Freibrief) erbeten und zugesagt bekommen hatte“32. Aber weder die knappe „Einführung in den Esoterismus unseres Ordens der A. und P. Frei­ maurer“33, noch das zusammen mit Reuß verfaßte Manifestó „Von den Ge­ heimnissen der okkulten Hochgrade unseres Ordens“ in der „Historischen Ausgabe der Oriflamme“ von 1904 verleihen Kellner als Freimaurer sonder­ liches Profil. Falls Reuß korrekt zitiert, muß Kellner eine hohe Meinung von ihm ge­ habt haben. Am 5. Januar 1903 versicherte er seinem Ordensbruder: „Auch ich bewundere Ihre Leistung, Ihre Energie und Ausdauer. Auch ich bin überzeugt, dass das, was Sie geleistet haben, zur Geschichte nicht nur der Freimaurerei, sondern zur Geschichte der höheren Entwicklung der Menschheit gehört, und nach langer, langer Zeit noch einen Mark- und Merkstein bilden wird“. Er — Kellner — werde das ihm „anvertraute Pfund (seinen) Brüdern ... überliefern. Dass mir das möglich ist, — dass ich die Ar-

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beit eines ganzen Lebens auch anderen nützlich machen kann, das verdanke ich nur Ihnen und dem hohen Gesetz, vor dem wir uns alle beugen“. Was hier verklausuliert angesprochen ist, wird uns noch ausführlich beschäftigen müssen. Eine Passage aus einem Brief vom 29. Mai 1903 könnte eher als Kommentar zu den bisher geschilderten Aktivitäten dienen: „Sie hätten eine Bismarck-Karriere als Diplomat gemacht!“34 Es spricht alles dafür, daß diese Wertschätzung auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber die esoterische Busenfreundschaft sollte nicht von langer Dauer sein. In der November-Nummer 1904 der „Oriflamme“ erschien eine Mit­ teilung „An alle Schüler des okkulten Kreises“: „Unser geliebter Führer Fra­ ter Carl Kellner liegt schwer krank danieder, die Hoffnung auf seine Wieder­ herstellung ist nur schwach. Alle Fratres des okkulten Kreises werden hier­ mit ersucht, sich in ihren Meditationen mit uns zu vereinen in dem Wun­ sche, daß uns unser Führer noch auf dieser irdischen Ebene erhalten bleibe! — AUM! Wien, den 4. November 1904 E.V. Das innere Dreieck“. Zwar er­ fahren wir im nächsten März aus einer „Amtlichen Bekanntmachung“, daß der „sehr schwer erkrankte“ Ehren-General-Großmeister „zur Zeit in Ägypten (weile)“, „seiner Gesundung entgegen(gehe)“ und alle Brüder, „na­ mentlich die fratres des occulten Kreises“ grüßen lasse35, aber diese Besse­ rung war nur vorübergehend: Am 6. Juni 1905 starb Carl Kellner in Wien und wurde zunächst in Oberalm bei Hailein unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit beigesetzt36, dann eingeäschert und auf einen von der Stadt gestifteten Ehrenplatz an der Halleiner Friedhofskapelle überführt, wo sich das Pentagramm und die freimaurerische Symbolik des Prunkgrabes in dem katholischen Milieu etwas deplaziert ausnehmen37. Die schleichende Krankheit, die seinen Tod verursachte, ist nie recht dia­ gnostiziert worden; der Toten-Schein sprach von „Herzlähmung in Folge chron(ischer) Eitervergiftung des Blutes“. Dies und der Tod eines Assisten­ ten in Kellners Wiener Laboratorium gaben bald Anlaß zu wilden Gerüch­ ten und Spekulationen, die Kellners Ende mit Schwarzmagie in Zusammen­ hang brachten oder wissen wollten, daß er bei seinen okkulten Übungen „niedere Geistwesen“ an sich gezogen habe38. Sein Nachfolger als Ehren-General-Großmeister wurde im August 1905 Dr. Franz Hartmann. Reuß will die Absicht gehabt haben, im Juli 1905 wieder nach London zu gehen. Im Hinblick auf die bevorstehende Abreise, die sich dann doch bis Anfang des nächsten Jahres verzögerte, wurden auf einer außerordentlichen Sitzung des „Souveränen Sanktuariums des Ordens der Alten Templer-Frei­

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maurer vom Schottischen, Memphis und Misraim-Ritus für das Deutsche Reich“39 am 27. August in Berlin mehrere wichtige Beschlüsse zur Reorgani­ sation des Reußschen Imperiums gefaßt, die wichtigsten: Die Diplome für die Hochgrade sollten weiterhin „ausschliesslich vom Souveränen Sanktuari­ um selbst ausgestellt“, die Erledigung der laufenden Ordensgeschäfte aber an den Groß-Orient des A. und A. Schottischen Ritus in Deutschland mit Sitz in Hamburg und die Symbolische Großloge des Schottischen Ritus für Deutschland mit Sitz in Leipzig delegiert werden. Letztere war die frühere Große Freimaurer-Loge von Deutschland40, die Reuß 1904 rektifiziert hatte. Zum Hamburger Groß-Orient unter dem Groß-Kommandeur Franz Held gehörten zwei Groß-Räte: einer in Ham­ burg unter Held und ein weiterer in München unter Max Dotzler. Seine Au­ tonomie erstreckte sich über die vier Kapitel in Hamburg, München, Augs­ burg und Hannover und sieben Johannis-Logen. Das Souveräne Sanktuari­ um (d.h. Reuß) sollte keine Kopfsteuer mehr erhalten, dafür 40 Mark für das erste Hochgrad-Diplom und 10 Mark für alle weiteren bis zum 30°. Die Ra­ tifizierung dieser Übereinkunft wurde mit der Auflage verknüpft, daß gewis­ se Gelder an Reuß zurückgezahlt würden, die er früher einmal vorgeschos­ sen hatte41. Schon nach kurzer Zeit ließen sich aber die Risse im Gemäuer des Souve­ ränen Sanktuariums nicht mehr übersehen: So weigerten sich die Münchner, die 2079 Mark zu ersetzen, die Reuß seiner Meinung nach zustanden, auch lagen die Chefs der Groß-Räte in Hamburg und München — Held und Dotzler — miteinander in Streit. Die Hamburger Gruppe löste sich schon im Dezember, 4 Monate nach ihrer Etablierung, wieder auf. Viele ihrer Mitglie­ der fanden den Weg in reguläre Logen unter den Obödienzen der Großloge von Hamburg und der „altpreußischen“ Großen Landesloge in Berlin. Wenn man noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückblickt, war es ein recht gewundener Pfad, der sie in den Schoß der Regularität zurückführte. Die Mitglieder der Symbolischen Großloge des Schottischen Ritus brauchten hierfür etwas länger.

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IX. Der O.T.O.: Geheimnisse um einen Geheimorden Trotz der Vielzahl und Vielfalt der bisher geschilderten Ordensaktivitäten sind die für die Geschichte des neueren Okkultismus folgenreichsten noch gar nicht in den Blick gekommen: die Gründung des Orientalischen Temp­ ler-Ordens (O.T.O.), der Versuch, Carl Kellners früher erwähnte Ideen zu realisieren. Die Frühgeschichte des Ordens liegt auch heute noch weithin im dun­ keln. Das ist nicht nur stilecht bei einer „okkulten“ Gruppe, die in den er­ sten Jahren des Jahrhunderts zudem kaum über Ansätze hinausgekommen zu sein scheint, und zum andern nicht nur selbst früh an ihrer eigenen Le­ gende arbeitete, sondern auch von Außenstehenden mit Legenden umgeben wurde. Aus der Rückschau der .Jubiläums-Ausgabe“ der „Oriflamme“ von 1912 stellt sich die Geburt des O.T.O. so dar: „Als (im) Juni 1902 die endgiltige Trennung zwischen Br. •. Reuß und sei­ nem Schüler Leopold E. eingetreten war, setzte sich Br. •. Kellner sofort in Verbindung mit Br. •. Reuß und veranlaßte die Erwerbung eines Freibriefes für Einführung des Memphis- und Misraim-Ritus der Freimaurerei in Deutschland, weil Br. ■. Kellner diesen Ritus mit seinen 90 bezw. 95 Graden als den geeignetsten hielt, seine Idee betreffs Einführung einer ,Art‘ maurerischer Akademie zu verwirklichen. Die rosenkreuzerischen, esoterischen Lehren der .Hermetic Brotherhood of Light'1 wurden reserviert für die we­ nigen Eingeweihten des Okkulten Inneren Kreises. Die Erkenntnis-Stufen dieses Inneren Kreises von Eingeweihten liefen mit den höchsten Graden des Memphis- und Misraim-Ritus parallel, und diese .Eingeweihten' bildeten den geheimen Stamm des Orientalischen Templer-Ordens“2. .Jubiläums-Ausgabe“ — könnte man aus diesen Sätzen herauslesen — wä­ re also in doppeltem Sinne aufzufassen: 10 Jahre „Oriflamme“ und 10 Jahre O.T.O. Leider fehlen aber eindeutige Beweise dafür, daß schon damals ein „Okkulter Innerer Kreis“ von Reuß-Freimaurern sich als O.T.O. verstand und aktiv war. Auch das von Frick genannte Gründungsdatum 1. September 190l3 ließ sich bisher dokumentarisch nicht absichern — und doch wird sich bald zeigen, daß Reuß in diesem Jahr sich nicht nur in Gedanken mit dem

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O.T.O. befaßt hat. Freilich sagt auch dieser Hinweis ebensowenig etwas über die Ordenswirklichkeit aus, wie ein vielleicht auffindbares Datum einer regelrechten „Gründung“, hinter der sowieso nur einige wenige gestanden hätten4. Statt Teile jener Legenden zu übernehmen, Organisationsschemata späte­ rer Jahre rückzuprojizieren oder mit Analogieschlüssen zu operieren, wer­ den wir gut daran tun, uns auf die wenigen gesicherten Details zu beschrän­ ken und uns über sie dem O.T.O. — oder was wir in jenen Jahren darunter zu verstehen haben — zu nähern. Recht aufschlußreich für die Atmosphäre, in der sich die Entwicklung vollzog, sind nicht zuletzt eine Reihe von Nachrichten über die private Si­ tuation von Reuß in diesen turbulenten Jahren, Abfallprodukte der bald ein­ setzenden internen Querelen, die in offenen und veröffentlichten Briefen in der „Oriflamme“, der französischen Freimaurerzeitschrift „L’Acacia“ und verwandten Publikationen ausgetragen wurden, was bei der Bewertung sol­ cher Informationen natürlich stets in Rechnung zu stellen ist. Danach scheinen die wirtschaftlichen Verhältnisse des Neuvermählten keineswegs gesichert gewesen zu sein, wenn er auch ab 1901 wieder als „Chefredakteur“ im „Kürschner“ erscheint. Jedenfalls kanzelte er am 19. August 1903 den aufsässigen Franz Held ab, daß ihn die Beantwortung sei­ ner häufigen Briefe über „prinzipielle Fragen“ jeweils einen „Arbeitsmor­ gen“ koste, „jetzt, wo (er) wieder (seinen) Unterhalt verdienen (müsse)“5, wobei vielleicht u.a. an jene Arbeiten für den Hugo Steinitz-Verlag zu den­ ken ist. Er ging auch seinen bekannten Nebenbeschäftigungen weiter nach, konn­ te aber dabei offenbar nicht mehr ganz das frühere Niveau halten. So hören wir z.B., daß er sich „im Juli 1905 ... verpflichtet hatte, nach England zu rei­ sen, um die Kapelle des Herrn (Anton) Schulz (aus Wien) in England zu pla­ zieren“. Diese Reise verzögerte sich, „weil er inzwischen noch zwei Kon­ trakte in Deutschland angenommen hatte, die ihm eine Einnahme von 1700 Mark brachten. Der zweite Kontrakt ging am 19. Dezember 1905 zu Ende“, so daß er erst im nächsten Jahr nach London übersiedeln konnte. Wenn wir seinen Gegnern glauben dürfen, hätte er das Geld auch wirk­ lich nötig gehabt: „11 n’avait point de ressources“, schrieb Franz Held mit Blick auf jene Zeit, und sein ehemaliger General-Groß-Sekretär Adriänyi se­ kundierte, daß Reuß, „ayant négligé son journalisme, a vécu, depuis 1905, à part le commerce maçonique, des représentations qu’il donnait avec de l’air liquéfié, non dans de grands théâtres, mais bien dans des théâtres de Varié137

tés“. Das richtet sich gegen den Reuß-Parteigänger Dr. Lauer, der sich in der gleichen Zeitschrift dagegen gewandt hatte, daß man den General-Großmei­ ster als „artiste de music-hall“ abzuqualifizieren suche: „11 a fait, en 1905, des conférences de physique avec démonstrations pratiques (sur l’air liquide, etc.)“. Aber Adrianyi konnte mit einer weiteren Enthüllung aufwarten: „Dans un des procès de Munich, le juge d’instruction a constaté, non sans s’en moquer, que le Souverain Absolu .Professeur Dr Reuss-Willson * Grand Maître de l’ancienne Maçonerie Templière Ecossaise, etc. etc., a .travaillé * dans un théâtre de Variétés à Munich, parmi les chansonnettes, hommes caoutchouc, acrobates et pitres...... Donc, si vous dites que M. Reuss est un .artiste de music-halls *, c’est tout à fait le titre qui lui convient actuellement, malgré ses faux titres de Professeur, etc.“6. Ob sich Reuß nun in Populärwis­ senschaft oder als Artist versuchte, in jedem Fall zeigte er sich durch das Ex­ perimentieren mit flüssiger Luft — für die erst seit wenigen Jahren ein für Großbetriebe geeignetes Verfahren vorlag — auf der Höhe der Zeit. Als Signor Saltarino 5 Jahre später „das Artistentum und seine Geschichte“ be­ schrieb, ging er gleichfalls auf diese Versuche ein, wenn sie auch in dem Kapi­ tel „Gaukler und Abenteurer in den Freimaurerlogen“ vor allem herhalten mußten, den Vergleich Cagliostro/Reuß zu rechtfertigen: „Mit der Alchimie konnte Reuß in unserer Zeit nicht mehr auf den Plan treten, deshalb machte er sich mit außerordentlichem Geschick die Erfindungen der Physik und Chemie zunutze ... Während der große italienische Gaukler das einfache Experiment der Geistererscheinung der staunenden Mitwelt vorführte, wurde Reuß ein moderner Artist und arbeitete in den Varietees mit flüssiger Luft“7. Aber es blieb nicht bei solchen despektierlichen Äußerungen, der Be­ hauptung des Apostaten Weinholtz, Reuß habe „sous un faux nom“ eine Zeitlang in Groß-Lichterfelde bei Berlin gewohnt, bevor er aus Deutschland verschwunden sei“, oder anderen Beispielen der von beiden Seiten praktizier­ ten billigen und peinlichen Polemik, sondern die Aufbauphase der Reußschen Ordensgründungen war darüber hinaus mit Prozessen belastet, die sich noch bis Ende des ersten Jahrzehnts hinzogen. Eine Affäre, die aller­ dings nur zu einer eidesstattlichen Erklärung geführt zu haben scheint, sich aber mit Anschuldigungen in einem Prozeß berührt, ist hier von besonde­ rem Interesse, weil sie nicht nur in spätere Darstellungen eingegangen ist, sondern der ebenso überraschende wie kompromittierende Vorwurf der Ho­ mosexualität indirekt auf das „Geheimnis“ des „Inneren Okkulten Kreises“ des O.T.O. zielt, das freilich mit dem freimaurerischen nicht mehr als das

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Wort gemein hat. Da es sich hier nun in der Tat um das Zentrum des Reußschen Okkultismus handelt, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen und einige Punkte zu rekapitulieren. Zu Carl Kellners esoterischen Aktivitäten der 90er Jahre hatte ja nicht nur die Planung einer „Academia Masónica“ gehört, sondern auch jene län­ gere Beschäftigung mit Yoga. Und zu Beginn des Jahrhunderts war er bei kei­ nem Geringeren als William James — wenn auch nur in einer Fußnote — zu „a European witness“ in Sachen Yoga avanciert9, ohne daß dies seinen neuen Geistesfreunden bekannt gewesen sein dürfte, bei denen er ohnedies An­ klang fand10. Dabei standen sicher nicht Kellners isolierte und vage Hinwei­ se auf Ansätze in der europäischen esoterischen Tradition im Vordergrund des Interesses — der auf Swedenborgs Betrachtung über den Zusammenhang von Denken und Atmen oder die Feststellung, „dass unter den christlichen Mystikern Jacob Boehme in seinem Gespräch des Meisters mit dem Schüler, und der unter dem Pseudonym Kerning in den fünfziger Jahren auf dem Ge­ biete literarisch thätig gewesene J. Krebs das Beste über Yogaübungen in deutscher Sprache geschrieben (hätten)“11 —, sondern spezielle Yoga-Über­ lieferungen, die — neu und faszinierend für Okkultisten wie Reuß — bei Kellner recht verklausuliert angedeutet werden. Kellner referiert nämlich kurz die „altindischen phisiologischen Be­ zeichnungen für die Vayus“ — die 5 großen und 5 kleinen, zum „inneren“ und „äusseren Körper gehörend“ —, Schlüsselbegriffe der esoterischen Physiologie, die sowohl ihrer Bezeichnung wie ihrer Systematik wegen dem europäischen Verständnis beträchtliche Schwierigkeiten bereiten. Während er nun die Namen von 9 der 10 Vayus korrekt wiedergibt und sie auch der indischen Überlieferung entsprechend charakterisiert, steht bei ihm an der Spitze der kleinen Vayus „näpa“ mit der Erläuterung: „voll­ zieht die Befruchtung“. Die übliche Bezeichnung lautet dagegen „näga“, was sich aber nicht auf den Sexualbereich bezieht, sondern mit „aus-, auf­ stoßen“ umschrieben wird. Es ist völlig unklar, woher Kellner jenes seltsa­ me „näpa“ übernommen haben könnte, sofern es sich nicht um einen Ab­ schreibfehler handelt12. Das alles könnte auf sich beruhen bleiben, wenn dieses philologisch nicht gesicherte „vollzieht die Befruchtung“ neben dem Hinweis, daß die Asanas auch „auf den Geschlechtstrieb Einfluß nehmen“, die einzige Stelle in der Broschüre wäre, in der explizit die Sexualität the­ matisiert würde, und damit Thema, das in diesen Jahren bald im Mit­ telpunkt stehen sollte. Selbst wenn man die Richtigkeit von „näpa“ unterstellt, wäre nicht recht

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ersichtlich, welche weitreichenden Geheimlehren sich an dieses Stichwort knüpfen könnten, so daß man annehmen müßte, neben diesem diskreten Hinweis eines gutbürgerlichen Autors für ein gutbürgerliches Lesepubli­ kum — wie die Teilnehmer des III. Internationalen Psychologen-Kongresses — seien noch andere Lehren im Spiel gewesen, die nicht ohne weiteres aus der von Kellner zitierten Hathayoga Pradipika herzuleiten sind13. Der genaue Inhalt dieser Lehren, die dem „Okkulten Inneren Kreis“ des Mem­ phis & Misraim-Ritus vorbehalten bleiben sollten, und die Reuß in seinem Testament als von Kellner stammend anerkannte, liegt auch heute noch ebenso im dunkeln wie ihre Herkunft, wenn es auch an phantasievollen Be­ hauptungen hierüber nicht gefehlt hat. So schrieb noch John Symonds in seiner Crowley-Biographie, daß Kell­ ner in Indien gewesen sei und den O.T.O. nach der Rückkehr „from an ex­ tensive tour in the East (where he had been initiated by the Arab fakir, Soliman ben Aifha, and the Indian yogis, Bhima Sen Pratap and Sri Mahatma Agamya Guru Paramahamsa“ gegründet habe14. Leider bleibt er jeden Beleg für diese Story schuldig, die nur die Sagenbildung um den weitgereisten Fa­ brikanten Kellner — der jedoch, soweit bekannt, nicht in Indien war — fort­ spinnt, die schon bald nach seinem Tod einsetzte. So ist bereits 1912 bei Jean Paar über den „Dr. Karl K.“, der „im Lager der schwarzen Magie landete“, zu lesen: „Zuerst nahm er Unterricht bei dem Araber Soliman ben Aisha, der ihn lehrte, wie man sich die Augen aus dem Kopf nehmen und die Zunge durchstechen kann. Dann ließ er sich den Inder Bheema Sena Pratapa kom­ men, von dem er die Kunst lernte, sich selbst in einen Scheintodzustand zu versetzen ... Schließlich weihte ihn der Inder Sri Mahatma Agamya Guru Paramahamsa in die letzten Geheimnisse des Hata Yoga ein“15. Um diese drei Gurus zu treffen, hätte Kellner in der Tat keine Orientreise nötig gehabt, da sich alle drei in jenen Jahren in Europa aufhielten: Auf „Bheema Sena Pratapa aus Lahore“ hatte ja Kellner selbst in der Yoga-Broschüre hingewiesen, und wir haben gehört, daß er eingeladen und betreut von Franz Hartmann, an Kellners Wohnort Hailein und dann in München sein Können demonstrierte, nachdem er vorher auf einer „Ausstellung in Budapest“ angeblich entlarvt worden war16. Auch Agamya war in eingeweihten Kreisen damals kein Unbekannter. 1903 demonstrierte er in Oxford seine Yogi-Künste, und anläßlich „eines früheren Aufenthaltes in England (war) er von dem berühmten Indologen Prof. Max Müller daraufhin genaue­ stens untersucht worden“, der ihn anläßlich dieses Besuches im August 1900 — dem Todesjahr Müllers — als „the only Indian saint he had

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ever known“ charakterisierte17. Weniger hoch war die Meinung von Br. Dotzler, der 1906 in der „Oriflamme“ beklagte, daß „der berüchtigte Paramahamsa ... in Europa (auftauchte) und Kellner ... verblendet genug (war), dem Teufel zum Opfer zu fallen“, wie ihm „Herr Reuss zugleich mit der Schilderung der Nebenumstände“ erzählt habe18. Und daß „Soliman Ben Aissa“ im ausgehenden Jahrhundert „fast in allen grösseren Städten auch in Deutschland“ auftrat, bestätigte 1896 Uriarte19, während Gustav Meyrink 1907 den „unverwundbaren Oberkellner ,Hadji Soliman ben Aissa * aus Lyon“ erwähnte, dessen „Freundschaft“ er sich „einstens zugezogen und mit dem (er) stundenlang gelacht habe, als berühmte Arzte seine harmlosen Würfelnattern ... für Giftschlangen hielten und um sein Leben besorgt wa­ ren, wenn er sich hatte in die Zunge beißen lassen“20. Nach diesen Nachrichten dürfte also nicht nur ein Kontakt zwischen Kellner und den beiden Indern stattgefunden, sondern auch eine Begegnung mit Soliman für einen an okkulten Erscheinungen Interessierten nahegele­ gen haben. Aber es ist nach Agamyas erbaulichem „Shower from the High­ * ’ schwer einzusehen, worin denn das Besondere der Belehrung bestanden est haben sollte, das über die allgemeinen Yoga-Lehren der Kellner-Broschüre hinausgegangen wäre, ebensowenig aber auch Agamyas Verteufelung. Ande­ rerseits läßt die wohl als „offiziell“ anzusehende Version in dem von Reuß abgesegneten Brief Dotzlers an die Apostaten Held und Adriänyi gleichfalls fast alle Fragen offen: Reuß habe ihm — Dotzler — „des öfteren erklärt, dass Dr. Kellner und er das gleiche Wissen aus voneinander ganz unabhängigen Quellen empfangen hatten ... Jeder bekam (es) für sich allein und zum ersten von Nachkommen von Rosenkreuzern (Tempelbrüder, nicht Goldmacher), und zum zweiten von Männern des Ostens (Asien). Im Jahre 1895 und 1899 verglichen diese beiden Männer ihre gegenseitigen Erkenntnisse, und daraus entstand 1902 unser Ordensgeheimnis“, dessen Kenntnis er Held und Adriä­ nyi abspricht und das auch er, „(er) sage das ganz offen, noch nicht ganz er­ fasst habe“21. Dieses „Ordensgeheimnis“ war Gegenstand von Lehren und Übungen des „inneren okkulten Kreises“, der nach Dotzler 1906 „nur wenige Einge­ weihte (zählte)“, die ihr „Wissen ... ausschliesslich mündlich erhalten (hat­ ten)“, was demnach über das hinausging, was Reuß in seinem OkkultismusBüchlein den an der „Weisheitsschule“ des Memphis & Misraim-Ritus Inter­ essierten mit Kabbala, Alchimie und Astrologie in Aussicht stellte, wenn freilich auch in jener exoterischen Darstellung die Erwähnung der „Lehren 141

der Gnosis und der Tempelritter“ im „Grad des Ritter Kadosh“ diesen Rah­ men sprengte. Was hat es also mit dem geheimnisumwitterten „Inneren Kreis“ auf sich? Wenn Dotzler von ihm als einem mit den „höchsten Graden (des Memphis & Misraim-Ritus) parallel laufenden“ spricht, korrespondiert dem zwar eine Passage in der .Jubiläums-Ausgabe“ der Oriflamme von 1912, aber es läßt sich damit nicht ohne weiteres vereinen, daß Adriänyi — der ehemalige General-Groß-Sekretär des Ordens — selbst diese Grade besaß und sich doch als Uneingeweihter von Dotzler sagen lassen mußte, er und Held würden am „allerwenigsten“ die „.Neugierde * befriedigen können“, wenn sie glaubten, ihn durch Angriffe auf seine Person „zum reden zwingen zu können“22. Un­ klar ist ferner, ob Held früher einmal für den Okkulten Inneren Kreis vorge­ sehen war oder ob auch außerhalb dieser Elite Yoga-Übungen durchgeführt wurden, jedenfalls antwortete Reuß am 19. August 1903 sehr unwirsch auf Helds Klagen, daß ihm die Sitz-Übung Kopfschmerzen verursache, er stelle ihm frei, „dieses Resultat dem Dr. Kellner selbst zu melden und seine Mei­ nung einzuholen. Wenn einer das Wasser nicht verträgt, kann er auch nicht schwimmen lernen“23. Daß es bei dem Okkulten Inneren Kreis um mehr als Körperübungen ging, unterstreicht auch Dotzler in seinem Belehrungsbrief: „Die ersten Stu­ fen der Übungen sind templerischen (rosenkreuzerisch-gnostischen) Ur­ sprungs, die höheren Übungen bezw. Stufen sind Atemübungen und Yogi, von denen ich eine Probe bekam, sind Yogismus, reine Yogaübungen, die man zum Teil in Verräterschriften eines Bondegger u.s.f. jetzt gedruckt um eine Mark kaufen kann“2“'. Der „sogenannte okkulte Lehrgang, der sich den geeigneten Mitgliedern (des) Ordens darbot“, sei aber „von vielen ... gänz­ lich falsch aufgefasst..., bezw. in ganz unberechtigter Weise mit dem Orden als solchem verquickt (worden)“. Nirgends existiere „in allen drei Riten eine Vorschrift oder Lehre derartiger Übungen oder derartiger Erkenntnisse“, und die „ältesten Mitglieder der drei Riten“ würden so etwas „weit von sich weisen und dagegen protestieren“, mit Grund“; denn was die „Geg­ ner“ dem Okkulten Inneren Kreis anlasteten, war nichts weniger als „soge­ nannter Phalluskult“. Im gleichen Atemzug müssen sich die einstigen Brr. aber belehren lassen: „Alle freimaurerischen Riten von der reinsten Jo­ hannismaurerei der ersten drei symbolischen Grade bis zum Memphisritus mit 95. ° (besitzen) die Symbole und die mystischen Zeichen und Worte der Sexual-Magie, des Lingam-Yoni-Kultus u.s.f.! Die Mitglieder der Riten haben aber die Deutung der Symbole, Zeichen und Worte verloren !“. Die 142

„moderne christliche Zivilisation“ habe die wahre Deutung „im Interesse unserer modernen Scheinmoral und bürgerlichen Scheinheiligkeit ver­ wischt, verdunkelt, und teilweise ausgelöscht“, während gerade die „katholi­ sche Kirche sie assimiliert und ins Katholisch-Orthodoxe umgemodelt“ ha­ be, so daß Dotzler auf die scheinbar „paradoxe Tatsache“ verweisen zu kön­ nen glaubt, „dass man als .gutgläubiger Katholik * in anderen ,Worten * und mit anderer Umkleidung ungefähr dasselbe gelehrt bekommt, wie als ein Schüler des inneren okkulten Kreises“. Freilich nur „ungefähr“, worin auch zugleich der Grund zu suchen sei, „warum die katholische und nur die ka­ tholische Kirche die Hochgradmaurerei ... so tödlich hasst und sie unver­ söhnlich verfolgt“. Ähnlich hatten sich 1904 auch Kellner und Reuß in jenem Manifesto „Von den Geheimnissen der okkulten Hochgrade“ ausgesprochen, wo es heißt, daß sich auch das „Kirchentum“ mit der „Lösung (der) Frage ,vom verlorenen Wort * (beschäftige)“; dabei verweise es den „Suchenden aber im­ mer auf den Weg der Gnade und (stelle) es stets als ein Geschenk und nicht als Selbstzuerwerbendes oder Erworbenes hin“. Der Orden liefere dem „ge­ hörig vorbereiteten Br. (aber) die praktischen Mittel ..., das .verlore­ ne Wort * wiederzufinden“. Erläutert wird die „Frage ,vom verlorenen * Wort ** als die nach dem „verlorenen ewigen Leben“. Das „Geheimnis“ des Ordens erlaube nun dem Eingeweihten, sich „schon in diesem irdischen Le­ ben Beweise seiner Unsterblichkeit zu verschaffen“. Diese „praktischen Mittel sind aber keine .Geisterbeschwörungen * oder andere .spritistischen Praktiken *, sondern es sind Mittel, die sich nur mit der inneren Stimme und mit den inneren Sinnen des Kandidaten beschäftigen“ und die Möglichkeit bieten, „sich mit dem Weltbewusstsein, der Ur-Schöp­ ferkraft, bewusst und selbst gewollt schon in diesem Leben zu vereinen“. Dieses „Geheimnis“ — „eines der wahren maur(erischen) Geheimnis­ se“ — sei auf den Orden „durch mündliche Ueberlieferung von den Vätern aller wahren Frmrei. den ,weisen Männern des Ostens * überkommen“23. Und Dotzler, der auf dieses Manifesto, wie auf Kellners „Einführung in den Esoterismus“ des Ordens — in der davon die Rede war, daß „die unser Sein bedingenden Energieformen weiter erweckt und entwickelt werden kön­ nen“26 — anspielt, glaubt in seiner Auseinandersetzung mit Held und Adrianyi über den gleichen Gegenstand zu sprechen, wenn er verdeutlicht, daß das Geheimnis also „von ausserhalb“ in den Orden „hineingetragen“ wor­ den, die „wahre Deutung des verlorenen Wortes ... von uns dem Orden zu­ rückgegeben worden“ sei; „denn ohne unser Geheimnis des okkulten Krei143

ses findet man eben in keinem bestehenden Freimaurer-Ritus eine wirklich wahre Deutung des freimaurerischen Geheimnisses und des verlorenen Wor­ tes“27. Diese „harte, ... aber nicht wegzuleugnende Wahrheit“ habe er „nicht nur von Herrn Reuss vernommen, sondern ... sie auch in einem Brie­ fe des Herrn Dr. Kellner an Reuss gelesen“28. Hiermit ist ein Problem angerührt, das für Person und Stellung Kellners im neueren Okkultismus wie für dessen Geschichte von erheblicher Bedeu­ tung ist: Handelt es sich hier wirklich um das gleiche „Geheimnis“ oder könnte Reuß nach Kellners Tod — wie Adriänyi will — sein „Geheimnis“, das sein Jünger Dotzler im Auge hat, für das Kellners — das der Vereinigung mit dem „Weltbewusstsein“ mittels Yoga — substituiert haben? Anders for­ muliert: Besteht wirklich ein Zusammenhang zwischen Kellners „Ur-Schöpferkraft“ und der vorhin angesprochenen Zeugungskraft im Sinne des Lingam-Yoni-Kultus? Für den Yoga-Adepten Dotzler ist der Sachverhalt klar: „Es ist doch für alle Personen, die sich jemals mit Yogaübungen befasst haben, bezw. die gei­ stig und moralisch dazu reif waren oder auch nur Einschlägiges darüber gele­ sen haben, eine offenkundige Tatsache, dass die Reproduk­ tionsorgane, also der Phallus, der Lingam und die Yoni eine grosse Rolle spielen zur Erreichung ganz bestimmter Yogazustände. Man braucht sich in dieser Beziehung doch nur auf die auch von Kellner in seiner Schrift ,Yoga‘ erwähnte indische Literatur zu beziehen; und ausserdem weise (er)... auf die Schriften des Professors Hermann hin und nicht zum wenigsten auch auf du Prel ,Die vorgeburtliche Erziehung des Menschen * “29. Wenn seine Kontra­ henten all das als „Schweinerei“ betrachteten, richteten sie sich nicht nur sel­ ber, sondern dann seien „eben auch die Übungen der Yogi, der indischen ,Heiligen *, da sie sich auf die Reproduktionsorgane beziehen, auch Schwei­ nerei!!!“. „Reuss (habe) in seiner Schrift .Okkultismus * auf den eben besprochenen Zusammenhang hingewiesen“, und wer hierin Dotzler nicht uneinge­ schränkt zustimmen kann, erhält jedenfalls in der ,Jubiläums-Ausgabe“ der Oriflamme von 1912 eine klare Antwort auf die Frage nach dem „allen frei­ maurerischen Symbolen unterliegenden Geheimnis“: „Unser Orden besitzt den Schlüssel, der alle maurer. •. und hermetischen Geheimnisse er­ schließt, es ist die Lehre von der Sexual-Magie, und diese Lehre erklärt restlos alle Rätsel der Natur, alle freimaurerische Symbolik, und alle Re­ ligions-Systeme“. In jenem Manifesto habe man „praktische Mittel“ ver­ sprochen, „sich schon in diesem irdischen Leben Beweise seiner Unsterblich­ 144

keit zu verschaffen. Wohlan, eines dieser Mittel ist eine gewisse YogaUebung“, die sich auf jenen dubiosen „Vayus Napa (im Reproduktionsor­ gan)“ bezieht, mit dem sich „die Sexual-Magie (beschäftigt). Diese Uebung wird genannt ,die Transmutation der Reproduktions-Energie'“30. Da sich Reuß in seinen zugänglichen Schriften hier am deutlichsten geäu­ ßert hat, dürfte ein vollständiges Zitat seiner Erläuterung angebracht sein: „Diese Uebung der Transmutation der Reproduktions-Energie wird nicht gemacht zu sexuellen Exzessen, sondern zur Stärkung der Ewigen Gottes­ kraft auf der irdischen Ebene, wozu sexual starke, vollkommene Menschen, männlichen und weiblichen Geschlechts, nötig sind. Die ReproduktionsEnergie ist Schöpfungs-Prozess. Göttlicher Aktus! Im Reproduktions-Organ (männlich und weiblich) ist auf den kleinsten Raum die größte Vital-Kraft konzentriert. Im Verlaufe der ziemlich umständlichen Uebung konzentriert der Uebende seine Gedanken, daß er die Reproduktions-Energie aus dem Organ heraufzieht zum Solar-Plexus (Sonnengeflecht), wo er .will *, daß es aufgespeichert werde zu Transmutationszwecken. Damit wird ein genau ge­ regeltes Atmen verbunden. Daran schließt sich der Aktus der Transmutation der Energie, und schließlich tritt die Große Vereinigung ein, wo der Ueben­ de zum Seher wird — bei vollem Bewußtsein, — und das Gesehene erlebt. Dies ist weiße Sexual-Magie!“31 Was hier beschrieben wird, ist offensichtlich eine Form von KundaliniYoga, eingebettet in eine nur recht vage charakterisierte Metaphysik des Se­ xus, alles aus damaliger Sicht sicher nicht gerade gutbürgerlich, aber doch noch recht weit entfernt von dem, was in Zusammenhang mit der schon ge­ streiften „Metropol“-Affäre vorgebracht wurde. Der Hergang läßt sich anhand der Andeutungen beider Seiten nur unvoll­ kommen rekonstruieren: In seinem Buch über die Winkellogen verlegte Eberhardt den Vorfall in das Jahr 1905, wo sich „in München im Hotel Me­ tropol unter dem Deckmantel des Okkultismus recht unliebsame Sachen zu­ getragen (hätten)“32, und der anonyme Verfasser einer Artikelserie in „Der Judenkenner“ von 1936, der hier höchstwahrscheinlich ältere Gerüchte kol­ portierte, ergänzt, daß die Novizen, die Reuß in jene Geheimnisse einführen wollte, so angewidert gewesen seien, „daß sie die Polizei alarmierten, um den Lüstling Reuß festnehmen zu lassen, der nur mit Mühe seiner Verhaftung an der Mittagstafel des Hotels ,Metropol' entging“33. Wenn diese kriminalro­ manreifen Arabesken der Phantasie jenes Anonymus entsprungen sein soll­ ten, kommen Äußerungen der ehemaligen Reuß-Gefolgsleute Held und Adriänyi, die 1907 veröffentlicht wurden, darin überein, daß es sich bei je­ 145

nen „unliebsamen Sachen“ um eine „initiation phallique homo-sexuelle“ ge­ handelt habe, „attouchements mutuels des organes génitaux“34. Auch die ei­ desstattliche Erklärung von Peter Christoph Martens, der am 1. November 1906 vor dem Amtsgericht Hamburg zu Protokoll gab, daß Reuß an ihm ein „homosexuelles Attentat“ versucht habe, bezieht sich wohl auf die Münch­ ner Vorgänge, gehört jedenfalls in den gleichen Zusammenhang35. Nachdem schon Carl Lauer in jener Diskussion in „L’Acacia“ für Reuß Partei ergriffen hatte, publizierte Reuß 1914 seine Version als Entgegnung auf die Darstellung im Winkellogen-Buch: „Der Vorgang', auf den Eber­ hardt ... glaubt anspielen zu müssen, ereignete sich schon im Jahre 1903. Und da gibt es gar nichts zu verheimlichen. Ich gab dem Br. Dotzler, auf des­ sen Wunsch hin, gewisse Aufklärungen über gewisse Yoga-Uebungen, die al­ len Kennern von Hatha-Yoga wohl bekannt sind. Alte Weiber männlichen Geschlechts, die beim Frühschoppen oder Abendtrunk gerne ,neue Sachen' auf dem Gebiet der Zote sich zuflüstern, machten aus der Sache eine .Schwei­ nerei', und da ... derartige geflüsterte Klatschereien immer wachsen und wachsen, je weiter sie ausgetragen werden von Mund zu Mund, so bekam die Sache eine künstliche Bedeutung, die sie in Wirklichkeit gar nicht hatte“, und er verweist auf einen Brief Dotzlers vom 17. April 1906, in dem er Reuß sein „tiefstes Bedauern“ darüber ausdrückt, daß seine „unberechtigte Weiter­ gabe der von (ihm) missverstandenen und falsch aufgefassten Lehren des ok­ kulten Kreises“ von Reuß’ „Feinden in niederträchtiger Weise als schmutzi­ ge Waffe gegen (ihn) ausgebeutet worden (sei)“36. Dotzler dürfte hier auch die Prozesse im Auge gehabt haben, die seit 1904 von der „Clique Weinholtz-Augsburg“ gegen Reuß geführt wurden, wobei dann wohl von Augsburg die Behauptung vorgebracht wurde, er habe Reuß gehörende Kof­ fer beschlagnahmen lassen, „in denen Briefe gefunden worden seien, die be­ stätigen, dass Reuss homosexuelle Beziehungen zu Herrn Dotzler, etc. ge­ habt hätte“, was Augsburg 1908 in einem Brief an Reuß’ Rechtsanwalt je­ doch bestritt, womit sich Reuß aber nicht zufriedengeben wollte und seiner­ seits klagte, ohne daß wir etwas über den Ausgang des Rechtsstreits erführen37. Und daß auch die eidesstattliche Erklärung von Martens offen­ bar keine juristischen Konsequenzen hatte, ist immerhin auffällig. Wägt man das Pro und Contra in dieser Affäre ab, dürfte Reuß in Beweis­ not gekommen sein — unbeschadet der offenkundigen sexuellen Elemente im Hatha-Yoga —, eine Übung zu nennen, in der die Partner bzw. Guru und Schüler gegenseitig die Genitalien berühren. Und es würde auch nicht über­ raschen, wenn es in den inkriminierten Fällen tatsächlich zu solchen Berüh­ 146

rungen gekommen wäre, was juristisch den Tatbestand einer homosexuellen Handlung erfüllt hätte. Nur dürfte dann die Anregung eher aus jener SexualMetaphysik stammen, die vorhin bei Reuß anklang, wo er Ideen aufgriff, die — nachdem einmal das Interesse an „phallischen Kulten“ geweckt war — im Laufe des 19. Jahrhunderts gerade bei Okkultisten zu weitreichenden Spekulationen geführt hatte, wobei in den Reuß vorgeworfenen Fällen viel­ leicht weniger indische Vorstellungen im Spiel waren, als der Eid bei den Genitalien38, über den ihn, falls notwendig, so verschiedene Autoren wie Dulaure (1805/1825) oder Major-General Forlong (1883) — denen wir bald noch einmal begegnen werden — hätten aufklären können. Casanova kannte ihn ja sogar als „Eid ... der Bruderschaft der Rosenkreuzer“39. Wenn wir nun angesichts dieser Vorgänge die Frage wieder aufgreifen, welcher Anteil an all dem Carl Kellner zukommt, der von der einen Seite als „Führer“ des Okkulten Inneren Kreises herausgestellt, von der anderen spä­ ter als Opfer von Reuß entschuldigt wurde, muß Adriänyi konzediert wer­ den, daß sich weder in der Yoga-Broschüre, noch in dem Manifesto etwas fin­ det, was erlaubte, ihn ohne weiteres mit den angeführten Praktiken oder Lehren in Verbindung zu bringen. Andererseits können ihm schwerlich die Münchner Vorfälle von 1903 verborgen geblieben sein, ohne daß bekannt ge­ worden wäre, daß er sich von Reuß, den er im Januar und Mai dieses Jahres noch überschwenglich gefeiert hatte, distanziert hätte; vielmehr ließ er ja noch in der März-Nummer der „Oriflamme“ von 1905 über ihn die „fratres des occulten Kreises“ grüßen, nachdem Merlin-Reuß im November 1904 in einem „Karma“ überschriebenen Beitrag auf „Vorgänge der letzten Monde“ und seine „Prüfungen“ angespielt, andererseits betont hatte, daß „die geisti­ gen Führer des inneren Kreises, die die Lehren (sic) des praktischen Okkul­ tismus (seien)“, keinem das Recht zubilligten, „über den Charakter der Füh­ rer des Ordens zu Gericht zu sitzen“40. Damit soll keineswegs unterstellt werden, daß er jene Reuß zur Last ge­ legten „Yoga-Übungen praktiziert oder auch nur gutgeheißen hätte. Aber es ist schwer vorstellbar, daß Kellner nach den Verheißungen des „Manifestos“ nur ganz allgemein an Yoga gedacht hätte, noch dazu vielleicht in der land­ läufigen Auffassung, über die auch seine Broschüre nicht hinausging. Und selbst die wenig konkretisierten Versprechungen von Unsterblichkeit in der Hathayoga-Pradipika — die schließlich in Übersetzungen leicht zugänglich war — dürften so kaum geeignet gewesen sein, als „Geheimnis“ der „okkul­ ten Hochgrade“ des Memphis & Misraim-Ritus angepriesen zu werden. Zum mindesten müßte es sich — wie schon angedeutet — um Kundali147

ni-Yoga gehandelt haben, wenn nicht Kellner sogar Kenntnisse von tantri­ schen Überlieferungen einbrachte, was am einfachsten das Auftauchen des Terminus kurz nach seinem Tod bei Reuß erklären könnte. Das sind nicht mehr als Vermutungen, aber Vermutungen, ohne die eine Passage in Reuß’ Testament — was ihr besonderes Gewicht verleiht — kei­ nen rechten Sinn ergäbe; denn ob sie nun in dieser Form zutreffen oder viel­ leicht doch an die völlig im dunkeln bleibenden „ersten Stufen“ der Geheim­ übungen des Okkulten Inneren Kreises anzuknüpfen wären, die nach Dotzler „templerischen (rosenkreuzerisch-gnostischen) Ursprungs“ gewesen sein sollen — was immer man sich unter diesem Synkretismus vorzustellen hät­ te —, so muß irgendwo in Kellners esoterischer Gedankenwelt die Sexualität in einer Weise ins Spiel gekommen sein, wie wir das — vielleicht vergrö­ bert — bei Reuß kennenlernten, da nur so die Auflage für einen potentiellen Erben verständlich wird, eine Verteidigung seines Lebens und „(seiner), von Dr. Carl Kellner (ihm) überlieferten Lehren“ zu schreiben. Über die Details dieser Lehren, die als Lehrinhalte des Okkulten Inneren Kreises anzusehen wären, sind wir nur recht unzulänglich informiert, selbst wenn wir jene Reuß-Version in toto als authentisch akzeptieren könnten, da vor allem die theoretischen Elemente im Vagen bleiben. Hier kann aber — wie sich zeigen wird — die vorhin anvisierte Literatur einspringen, wobei Dotzlers Stichwort „templerisch (rosenkreuzerisch-gnostisch)“ ein Finger­ zeig für zeitgenössische Interessenten sein konnte. Richard Payne Knights „An Account of the Remains of the Worship of Priapus“ (1786) brauchte nicht auf Th. Wright zu warten, um einen Mitstrei­ ter zu bekommen.41 1805 erschien „Des Divinités génératrices, ou du culte du Phallus“ von J.-A. Dulaure42, 1834 etwa Henry O’Briens „The Round Tower of Ireland“, worin diese Rundtürme als phallische Symbole gedeutet werden; 1869 wurden Essays von John Davenport publiziert als „a supple­ ment (and uniform with) Payne Knight“, deren erster — „Ancient Phallic Worship“ — seine Themen aufgriff, während der dritte — „Aphrodisiacs and Anti-Aphrodisiacs“ —, der dem Buch zugleich den Titel gab43, auch ein an­ deres Publikum ansprechen konnte. Diese Hinweise mögen genügen um zu verdeutlichen, daß sowohl eine religions- und altertumswissenschaftliche oder -pseudowissenschaftliche wie sexualkundliche Literatur existierte, als 1870 das kurios-konfuse Buch von Hargrave Jennings „The Rosicrucians, their Rites and Mysteries“ erschien, das allein zu seinen Lebzeiten 3 Aufla­ gen erreichte44, nicht nur in „rosenkreuzerischen “ Kreisen Englands ernst­ genommen wurde43, sondern auch auf andere Okkultisten bis auf unsere Ta148

ge wirkte46, und mit präfreudianischem Elan Rose und Kreuz, Obelisk, Kirchturm und Maibaum oder was sonst noch Jennings Sammeleifer nicht entging im Sinne einer „Phallic Theory“ zu interpretieren suchte, die sein 1884 erschienenes Buch „Phallicism“47 verhieß, eine Theorie, „(furnishing) the necessarily mystic groundwork of ALL RELIGION — nay, ... alto­ gether the reasons for religion“48. Im wesentlichen konzentriert sich aber sein Rosenkreuzer-Buch — wie es schon im Untertitel heißt — auf den „Phallicism“ und „its connexion with the Rosicrucians and the Gnostics and its Foundation in Buddhism“, und so entschleiert er „the Mysteries of the Phallus; its idealised Gnostic, Rosicru­ cian or Christian renderings“, führt seine Leser ein in „Rites and Ceremo­ nies of the Indian Phallic Worship“ und beleuchtet „the Transcendental Ideas of the Rosicrucians; their Cabbalistic Philosophy as to the interchange of Natur and of Magie“, um nur abkürzend einige Kapitelüberschriften an­ zuführen, die immer wieder den im Kapitel „Phallic .Symbol-Structures * “ vorgetragenen Gedanken variieren, daß Säule, Turm oder Pyramide „express the same religious, mysterious idea; which is, swelling, rising, or extension — the characteristic or the motive movement, in both sexes, for that ,grand * — that grand human act — which secures us everything, the uprising and act protrusion of the peculiar instruments, male and female, for success in the sexual magic congress. This we shall declare ... to be MAGIC, and a holy sacrament or charm“. Von „celestial magic“ — in die der „Rosicrucianism“ einmünde — ist an anderer Stelle die Rede, sie sei „the only true faith, be­ cause forbidden to all, and secret to all, in the state of flesh, for Man cannot sustain the .disclosure of God, and live *. Under all this, Masonry (that is, au­ thentic Masonry) can alone live and spring“, „true .Masonry * , die einmal in ** Indien existiert habe4’. Die hier noch fehlenden Templer waren schon ein­ mal in dem älteren Buch mit der Behauptung vorgestellt worden, daß „the society bearing the name of Rossicrucians (or Rosicruxians) is closely allied with the Templars“50, während das folgende Kapitel die „connexion be­ tween the Templars and Gnosticism“ zu verdeutlichen sucht. Ja, in „Phalli­ cism“ hätte Reuß in Gestalt der „cabbalistic philosophers“ — auch „weise Männer des Ostens“ — Vorläufer für seinen in der ,Jubiläums-Ausgabe“ er­ hobenen Anspruch finden können, da sie ebenfalls behaupteten, „that they alone hold the keys ... which unlock all the mysteries of time, space, and of Heaven and Hell, and all the wonders of the inexhaustible physical universe. Hence the importance of the Phallic doctrines and of the magic validity of the Phallic religion“51. 149

Wenige Jahre nach Jennings „Phallicism“ erschienen als Privatdrucke — wohl ebenfalls bei seinem Verleger Redgrave — gleich 10 anonyme Bändchen einer „Nature Worship and Mystical Series“, anscheinend Auftragsarbeiten, die Bücher der bisher vorgestellten Art ausschrieben, und deren Ausrichtung schon ein Titel wie „Phallism“52 deutlich macht oder die Tatsache, daß „phallic“ in 7 weiteren Titeln oder Untertiteln begegnet: „Nature Worship, or an Account of Phallic Faiths and Practices“ (1891): „Phallic Miscellanies ... An Appendix of Additional and Explanatory Matter to the Volumes Phallism and Natur Worship“ (1891)53; „Phallic Objects, Monuments, and Remains“ (1889); andere Bände behandeln die Beziehung zwischen „phallic or sex worship“ and „Fishes, Flowers, & Fire“ (1890), dem „Cultus Arborum“ (1890), „The Masculine Cross“ (1891) oder „Ophiolatreia: ... Serpent Worship“ (1890). Nur „Mysteries of the Rosie Cross * (1891) und „Archaic Rock Inscriptions“ (1891) verzichten — im Titel — auf jenen Hinweis. Es handelt sich um gut ausgestattete Drucke, angeblich nur in „a very limited number“, die aber zumindest teilweise noch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Neuauflagen erlebten54. Hier sind wir nun nicht mehr auf Indizien angewiesen, um eine Verbin­ dung zu Reuß herzustellen, da er 1905 eines dieser Bändchen übersetzte, eine Illustration eines anderen für seine Ausgabe benutzte, und ihm die übrigen Titel anhand der angehängten Verlagsanzeigen bekannt sein mußten. Auch wenn wir in Literatur dieser Art nur die — von der Kellnerschen „verschie­ dene“ — Quelle55 für Reuß’ Sexual-Metaphysik und -Magie vor uns haben dürften, ist andererseits nicht vorstellbar, daß ein Mann wie Kellner, der so viel in seine okkultistischen Neigungen investierte — und schließlich auch über die Mittel verfügte —, ein Buch wie Jennings „Rosicrucians“ nicht ge­ kannt hätte, sei es auch nur als rosenkreuzerische „Fachliteratur“, denn von den erwähnten Überlappungen abgesehen, bezeichnete sich ja die „Oriflamme“ zunächst auch als Organ des „Ordens der Rosenkreuzer“. Es mag offenbleiben, ob man bei Kellner auch die Kenntnis eines weite­ ren Traditionsstranges annehmen darf, den Dotzler durch mehrfache Hin­ weise auf die „Schriften“ des Prof. Herman(n) für Reuß belegt. Dotzler mag vor allem das mehrteilige Werk „Genesis. Das Gesetz der Zeugung“ im Au­ ge gehabt haben, dessen III. Band „Bakchanalien und Eleusinien. Erfor­ schungen und Erfahrungen über Sexual-Kultus“ (1899) hier schon über den Titel den Anschluß herstellt56, wobei Hermans Ausführungen über den „se­ xual-religiösen Versuch“ der Oneida Community um Noyes57 und ihre spä­ ter als „Karezza“ bekanntgewordene Sexualpraxis nicht nur als Anmerkung 150

zur zeitgenössischen Ehe-Hygiene-Diskussion registriert, sondern auch im Zusammenhang mit der „Transmutation der Reproduktions-Energie“ gese­ hen werden sollten58. Herman zitiert außerdem des öfteren das Buch von Max Ferdinand „DIS, die arische ,Sexual-Religion'“, dessen drei Teile die „Sexual-Mystik der Vergangenheit“, die „Sexual-Moral der Gegenwart“ und die „Sexual-Magie der Zukunft“ abhandeln wollten59. Die Parallelität der In­ teressen von Prof. Herman und Max Ferdinand ist nicht überraschend für den, der weiß, daß beides Pseudonyme für Max Ferdinand Sebaldt sind. Der 1859 in Trier geborene M.F. Sebaldt war seit Anfang der 90er Jahre Chefredakteur verschiedener Zeitschriften und Zeitungen, u.a. von v. Egidys „Angewandtem Christenthum“, und hatte seit den 80er Jahren laut Kürschners Deutschem Literatur-Kalender eine breitgefächerte literarische Tätigkeit entfaltet, die Titel wie ,Jesus der Arier“ (1887) und .Jesuarische Religion“ (1888) ebenso umfaßte wie Belletristik (und in den Jahren um 1910 dann Publikationen über Wahlrecht, Nackt-Logen oder „Strategische Auto-Straßen“). Beiträge von ihm erschienen etwa in Zeitschriften wie „Sphinx“ (1895), „Psychische Studien“ (1900) oder in dem lebensreformeri­ schen Periodikum „Die Schönheit“, wo er 1904 für „Hochzeits-Heime“ plä­ dierte, in denen unter fachkundiger Beratung die Gefahren der Flitterwo­ chen auf ein Minimum reduziert werden sollten. 1896 erschien sein Name in „Die übersinnliche Welt“ unter dem Protokoll einer spiritistischen Sit­ zung — neben Max Rahn und August Weinholtz60; wir hören von seinem Auftreten in der Theosophischen Gesellschaft in Berlin (1896) und von „zahllosen Vorträgen“ in den von ihm gegründeten „Psychologischen Ge­ sellschaften“, wo er „unter dem Beifall wissenschaftlicher Fachleute ... dar­ auf hin(wies), dass nicht allein das normale Sexualleben ..., sondern dass auch die Sexual-Magie aller Mystik zu Grunde liegt“61. Vergegenwärtigt man sich den Tenor seiner Schriften über „arische“ Sexual-Religion, kann es nicht überraschen, daß wir einem Titel des „Baudirektors“ Sebaldt 1908 in einer Publikation der Guido-List-Gesellschaft unter den angezeigten „empfehlens­ werten Büchern“ begegnen62. Nehmen wir noch hinzu, daß er Mitte der 90er Jahre lobende Worte für „die nur die höchsten und edelsten Ziele des Menschtums predigende, echt theosophische Zeitschrift ,Das Wort' des we­ gen seiner Überzeugung von Rechts und Links geachteten Leopold Engel“ fand63, daß er 1906 als Redakteur der Zeitschrift „Die Schönheit“ tätig war, deren Verlag im gleichen Jahr ein Buch von Reuß vertrieb64, das ihm bei sei­ nen Interessen und der Kleinheit des Unternehmens kaum entgangen sein kann, entsteht aus all diesen eher anekdotischen Belegen das Bild eines Man­ 151

nes, der — ohne rechtes okkultistisches Profil zu gewinnen — doch mannig­ fache Berührungspunkte mit den Untergrundströmungen der Jahrzehnte vor und nach der Jahrhundertwende besaß. Wenn wir ihn 1913 aus den Au­ gen verlieren, fungierte er seit 1911 — laut „Kürschner“ — als Direktor der Kunstverlags-Gesellschaft „Selecta“ in Berlin65. Für Dotzler, der die Reuß-Kritiker auf die „Schriften des Professors Her­ mann“ verwiesen hatte, die dann auch als „Schweinerei“ bezeichnet werden müßten, könnte neben dem Spekulieren auf die Autorität des vermeintli­ chen „Professors“ Herman dessen Äußerungen über den „Sexual-Aw/iws“ in­ teressant gewesen sein, mehr jedenfalls als die sich auf den ersten Blick anbie­ tende „Sexual-Magie“66. Dieses Wort zielt bei Sebaldt primär auf so etwas wie „experimentelle“, auf Hypnose und Parapsychologie ausgerichtete Se­ xual-Magie67, nicht auf eine, welche die Sexualität mittels Yoga oder Zeremonialmagie für irgendwelche Zwecke nutzbar zu machen sucht. Freilich ver­ bergen sich dahinter weitergehende Vorstellungen, wie schon das frühere Zi­ tat und andere Hinweise verdeutlichen, die von Sexual-Magie als dem „Hauptprinzip der Natur“, von ihrer „kosmischen Wahrheit“ sprechen und sie als „Benutzung der polaren Gegensatzspannungen zur Erzeugung von Resultanten und Resultaten“ charakterisieren. Und diesem „polaren Weltge­ setz der Sexual-Magie“ stellt Sebaldt dann eine Anthropologie an die Seite, die Indisches — vermittelt durch Hübbe-Schleidens „buddhistischen Darwi­ nismus“ — gut okkultistisch mit „Entsprechungen“ zwischen Anorgani­ schem und Organischem, zwischen Planeten, Wochentagen, Farben, Tönen, Sinnesempfindungen, Gehirnregionen etc. oder Spekulationen über Kreuz und Kreis verbindet68. Wenn solche Themen auch für einen an Geheimwis­ senschaften Interessierten — und dazu sollten ja, nach Reuß, die Mitglieder des Memphis & Misraim-Ritus gehören — attraktiv sein mochten, dürfte Se­ baldt für Dotzler oder den Okkulten Inneren Kreis doch wohl nur eine Ali­ bifunktion in puncto Sexualität zukommen69. Der Okkulte Innere Kreis bleibt trotz der Geschwätzigkeit jenes DotzlerBriefes nicht nur hinsichtlich seiner Lehren im Halbdunkel, sondern auch im Hinblick auf seine Rolle innerhalb der Geschichte des O.T.O., wo er ja nach der Retrospektive der „Jubliläums-Ausgabe“ von 1912 den „geheimen Stamm des Orientalischen Templer-Ordens“ gebildet haben soll. Unklar ist weiter, welche Beziehungen zwischen dem Okkulten Inneren Kreis und dem „Esoterischen Kreis der Rosenkreuzer“ bestanden, in den am 1. August 1906 Karl Friedrich aufgenommen werden wollte70, da er der Reußschen Freimaurerei gerade nicht beitreten mochte. Andererseits ist zur

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gleichen Zeit in der „Oriflamme“ nicht nur von „esoterischen Freimau­ rern“ die Rede, sondern auch von dem „esoterischen Rosenkreuzer“ und dessen „Instruktion“ für eine „Yogi-Übung“, von Schülern des „inneren eso­ terischen Kreises des Ordens von Memphis und Misraim“ oder den „Einge­ weihten von Memphis, (den) esoterischen Rosenkreuzern“, was alles eher dafür spricht, daß jener „Esoterische Kreis“ nicht ohne weiteres den alche­ mistischen Adepten des „Ordens der Rosenkreuzer“ — der Societas Rosicruciana in Germania — gleichzusetzen ist, für den Reuß in seinem Okkultis­ mus-Buch von 1902 geworben hatte, sondern daß um die Mitte des Jahr­ zehnts dieser Rosenkreuzer-Zirkel und der Okkulte Innere Zirkel mehr oder weniger ineinander übergingen, ob nun auf Grund von Personalunion oder ob der relativ geringe Mitgliederbestand eine Fusion nahelegte — wobei auch nicht auszuschließen ist, daß unzureichende Informiertheit auf Seiten von Friedrich hier eine Konfusion angerichtet hat. Was schwerer wiegt: Unklar ist leider auch, wann sich der Okkulte Inne­ re Kreis zum O.T.O. mauserte, steht doch der Darstellung der , JubiläumsAusgabe“ die Behauptung von Adrianyi — der, wenn auch kein „Eingeweih­ ter“, doch anfangs einen hohen Rang in der Memphis & Misraim-Hierarchie bekleidet hatte — entgegen, daß „bis zum Erscheinen des die Fortsetzung der ,Oriflamme’ darstellenden Heftes INRI, Nr. VII, vom September 191271 ... von der Existenz eines O.T.O. nichts bekannt war“72; auch Eberhardt da­ tierte in seinem Winkellogen-Buch von 1914 den O.T.O. auf 191273, was als Feststellung von direkt oder indirekt betroffenen Zeitgenossen immerhin auffällig ist. Dagegen wandte sich nun schon Reuß gleich nach Erscheinen des Buches von Eberhardt in einer Erklärung „an die freimaurerische Presse Deutschlands“: Er selbst habe Eberhardt ein Exemplar der „Konstitution des Ordens“ zugesandt, „und aus dieser mußte er ersehen, daß die Konstitu­ tion des ,neu-organisierten‘ Ordens der orientalischen Templer vom Januar 1906 datiert“74. Diese „Constitution of the Ancient Order of Oriental Templars“ vom 22. Januar 1906 hielt Adrianyi für „antidatiert“ (sic)75. Vermut­ lich hätte er das auch von den „Allgemeinen Satzungen des Ordens der Orientalischen Templer O.T.O.“ vom 21. Juni 1906 gesagt, die Reuß in Lon­ don drucken ließ, in denen es heißt, daß unter diesem Namen ein „interna­ tionaler Verein reorganisiert worden (sei)“, aber zumindest scheint Adrianyi übersehen zu haben, daß Reuß 1906 in der „Oriflamme“ ein Edikt nicht nur als General-Großmeister des Memphis & Misraim-Ritus ergehen ließ, son­ dern auch als „Souveräner Ordensmeister der Orientalischen Templer-Frei­ maurer“, „gegeben ... am 10. Tage des Monats September A.D. 1906, A.O.

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788“, also die Templer-Zeitrechnung benutzte76. Auch hatte Reuß Eberhardt daran erinnert, er müsse, „als er im Jahre 1905 als Großmeister Paul Eber­ hardt an der Generalversammlung des Suveränen Sanktuariums in der Belle­ alliancestraße 74 in Berlin teilnahm, mit eigenen Augen gesehen haben, daß schon 1905 rechts von der Haustür des Hauses 74 Bellealliancestraße, gegen die Straße zu, ein großes Messingschild angebracht war, mit der Inschrift: Suveränes Sanktuarium des Ordens der Orientalischen Templer“77.

ORGANISATION DES ORIENTALISCHEN TEMPLER - ORDENS. 1« nn

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Schottischer (Amlrm *-JMearsr

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1 1

Detachiert

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Lehrling, Geselle, Meister.

| Schottischur Meister und Obermeister. Ritter Rom Croix und Prinz Maurer. a) Magus,

b) Theoretikus.

a) Praktikus,

b) Adeptns

a) Princepe,

b) lliuminat.

Jubiläums-Ausgabe der Oriflamme. 1912. S. 32.

All das sagt nichts über die Vitalität des O.T.O. zu diesem Zeitpunkt aus, wie überhaupt nicht klar wird, was es mit dieser Re-organisation auf sich hatte. Wir kämen mit diesem Datum auch nicht hinter Kellners Sterbejahr zurück, und Reuß hätte sicher von älteren handfesten Beweisen Gebrauch gemacht, wenn sie vorhanden gewesen wären. Aber solche Vorbehalte ließen sich durchaus mit seiner Darstellung vereinen, daß Kellner 1895 die Bezeich­ nung „Orientalische Templer“ vorgeschlagen hatte, daß solche Ideen dann auch in den ersten Jahren bei oder nach Installierung des Memphis & Misraim-Ritus mit im Spiel waren, wenn sie u.U. auch keine festere Form — al­ lenfalls die eines Okkulten Inneren Kreises — gefunden haben.

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Dafür spricht nicht zuletzt jenes sonst schwer deutbare Emblem, das den Umschlag und ein Innenblatt78 des Freimaurer-Büchleins von 1901 zierte — von der 2. Auflage an freilich wieder verschwand —, das im Oktober als Stempel auf den drei Westcott dedizier­ ten Broschüren prangte, immer wieder in späteren O.T.O.-Publikationen er­ scheint und — was ihm am meisten Ge­ wicht gibt — noch im letzten Lebensjahr von Reuß in seinen beiden Testamenten begegnet, was nicht nur seine hohe Schätzung des Emblems verdeutlicht, sondern vor allem die sehr enge Beziehung zu seiner Person. Das sind nur Mutmaßungen, bestenfalls sehr wahrscheinliche, für die sich bisher keine direkten Stützen finden ließen, aber es spricht hier eigentlich doch alles für die Lesart S „OTO“ M, wenn man dem Zufall nicht zu viel zumuten will. Falls diese Überlegungen korrekt sind, hätten wir also im Ja­ nuar 1901 einen Beleg zumindest für die Beschäftigung mit der Idee eines Orientalischen Templer-Ordens, ob nun SM für eine Rangbezeichnung steht oder nicht79. Neues Material könnte nur zu unerheblichen Änderungen der Chronologie führen.

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X. Ein Großmeister im Abseits

Von jenen Datierungsproblemen abgesehen, bildete das Jahr 1905 auch inso­ fern einen Einschnitt, als nicht nur mit Carl Kellner der Mann dahingegan­ gen war, der Reuß’ Unternehmungen den Anstrich des Seriösen gegeben hatte, sondern er selbst sich anschickte, Deutschland am Jahresende wieder einmal zu verlassen. Doch bevor er seine Zelte abbrach, publizierte er noch ein Buch, das in seinen Kreisen einigen Wirbel verursachte, jedenfalls zur Klärung der Fron­ ten beitrug. In diesem Jahr — wenn auch unter der Jahreszahl 1906 — er­ schien im Verlag Willsson, Gross-Lichterfelde-Berlin, Chausseestraße 76/77 — seiner damaligen Adresse — „Lingam-Yoni oder die Mysterien des Ge­ schlechts-Kultus als die Basis der Religion aller Kulturvölker des Altertums und des Marienkultus in der christlichen Kirche sowie Ursprung des Kreu­ zes und des Crux Ansata“. Das Buch war nach den Angaben auf dem Titel­ blatt „unter Benutzung alter Geheimschriften eines Ordens sowie der aner­ kanntesten Quellenwerke zusammengestellt und aus dem Englischen über­ setzt (worden) von Pendragon“. Schon eine flüchtige Durchsicht läßt erken­ nen, daß der Hinweis auf die „alten Geheimschriften eines Ordens“ schlich­ te Bauernfängerei ist und Pendragon-Reuß nichts anderes getan hat, als aus der früher erwähnten „Nature Worship and Mystical Series“ den Band „Phallism“ zu übersetzen, das Vorwort etwas zu erweitern und kleine Ände­ rungen und Ergänzungen vorzunehmen. Vorangestellt ist dem Text eine Illu­ stration der „Linga-Puja-Zeremonie“, die aus einem anderen Bändchen die­ ser Reihe, den „Phallic Miscellanies“, stammt. Der Leinenumschlag des auch in Lieferungen erschienenen Buches, das „als Manuskript für Brr. •. Frmr. •. und V: G: gedruckt“ worden war, trägt das SOTOM-Emblem1. Seine Zeit, urteilt Pendragon-Reuß in der Einleitung, sei eine „Zeit des Überganges“: „Neue Sitten, neue Ansichten und Lebensnormen, sogar eine neue Religion scheinen sich nach und nach aus unserer modernen westlichen Kulturgärungsbewegung herauszubilden. Es ist nur natürlich, daß dieser Gä­ rungsprozeß auch wunderliche Blasen treibt, stellenweise sogar sehr viel

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Stinkgas entwickelt2... Und wie im Grund genommen ... es doch nichts ab­ solut Neues gibt in der Welt, so knüpft auch die ,neue * Weltanschauung, die neuen Sitten, die neue Religion an Altes an! Das Perverse in all den Aus­ wüchsen modernen Gärens ist aber in seinem Urgrund doch ,göttlichen' Ur­ sprungs, ... eine unbewusste Anknüpfung an die Urreligionskulten (sic) der ältesten Kulturvölker unserer Erde, eine meistens unbewusste Wiederbele­ bung des alten Geschlechtskultus in modifizierter Form“. Es entspreche „ge­ wiss einem wahren Bedürfnis, authentisches Material über den Phallismus weiteren Kreisen zur Kenntnis zu bringen“, doch sei ein solches Werk „na­ türlich nicht für junge, unreife Personen bestimmt... Mancher Tartüff wird uns zwar ganz gewiss ,Unsittlichkeit', .Vergiftung der Moral' usw. vorwer­ fen. Darauf sind wir gefaßt, und erklären wir schon jetzt, dass dergleichen Angriffe uns nicht im geringsten Grade unangenehm sein werden“. Nicht ihm sei anzulasten, wenn „.Lüstlinge' beiderlei Geschlechts“ bei manchem zu „perversen Gedanken angeregt“ würden, und er salviert sich damit, daß „dem Reinen ... bekanntlich alles rein (sei)“: „Honny soit, qui mal y pense!“. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis von „Lingam-Yoni“ zeigt, daß der Band von 128 Seiten den Versuch macht, das weite Feld des „Phallismus in den verschiedenen Ländern“ darzustellen, wobei natürlich Themen behan­ delt werden müssen, die außerhalb des Blickfeldes eines Durchschnittslesers lagen und aus damaliger Sicht als „pikant“ gelten konnten, ohne daß das Buch auf dem Niveau „sittengeschichtlicher“ Laszivitäten anzusiedeln wäre, wie schon eine kursorische Lektüre bestätigt. Sie zeigt weiter, daß wir es bei „Lingam-Yoni“ bzw. „Phallism“ — wie den übrigen Bändchen der Reihe — mit Zettelkasten-Literatur zu tun haben, anekdotisch orientiert und nicht sonderlich um historische Nachweise bekümmert, die sich als Extrakt aus den Schriften der „berühmtesten Forscher auf dem Gebiete der Kulturhisto­ rik und Archäologie“ geriert3. Im Rückblick ist leicht einzusehen, daß Reuß eine solche „wissenschaftli­ che“ Stoffsammlung als Fundierung seiner sexual-metaphysischen Ordens­ lehren hochwillkommen sein mußte, die er nur hier und da mit zwei, drei erläuternden Sätzen für seine Zwecke anzureichern brauchte. So versucht er mehrfach, die Brücke zur Freimaurerei zu schlagen, besonders an einer Stel­ le, wo er auf die „Hochgrad-Maurerei, die die Templer-Tradition perpetuiert“, hinweist. Ein weiterer Einschub betrifft etwa die „androgyne Gott­ heit“, die man bei den „christlichen Gnostikern und den schismatischen Tempelrittern“ finde oder eine Parallele in Wagners „Rheingold“. Ferner in­

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terpretiert er — seine Vorlage ergänzend — den Querbalken des Kreuzes als das „weibliche Reproduktionsorgan“, den senkrechten Balken als das männ­ liche: „Die Vereinigung der beiden zum Kreuz + ist Lingam-Yoni, die Verei­ nigung von männlich und weiblich, von positiv und negativ, von passiv und aktiv oder ein Symbol der mystischen Hochzeit“. Und im Zusammenhang mit der phallischen Deutung der Crux ansata — des Ankh- oder Henkelkreu­ zes — verdeutlicht er in seiner Übersetzung den „Ring“ bzw. das Oval durch ein Symbol, wobei die spätere Beschreibung „als Buchstabe T mit dem Ei 0“ die Frage nahelegt, ob hier auf eine esoterische Bedeutung des Ordensna­ mens angespielt werden soll, die neben der direkteren eines Crowley stände, ohne sie auszuschließen.4 Eine eingehendere Kenntnis der ausgeschlachteten Überlieferungen dürf­ te — zumindest zu dieser Zeit — bei Reuß nicht vorauszusetzen sein, wenn er etwa seiner Vorlage folgend ohne Kommentar von dem „Bereich der schwarzen Magie oder der Tantrica“ spricht5. Festhalten sollten wir aber im Hinblick auf Späteres, daß in dieser Schrift die Rede ist von „Kraft und ... Materie (Kraft und Stoff), ... zwei bestimmte, co-existierende Prinzipien der Natur, das erstere das aktive Prinzip, das letztere das passive Prinzip oder das männliche und das weibliche Prinzip, und der Schöpfungsakt ist eben das Resultat der mystischen Vereinigung dieser beiden gegensätzlichen Prinzipien“, und der Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn er in ei­ nem Einschub wünscht, „daß unsere Zeit den Phallus resp. die menschlichen Reproduktionsorgane wieder als etwas ,Heiliges *, statt als etwas .Satanisches, Sündhaftes und Unsittliches * betrachten würde. Unsere Zeit würde dadurch nur an .Sittlichkeit * gewinnen, aber gewiss nicht verlieren“6. Nachdem nun schon die Münchner Vorfälle Reuß in den Augen gutbür­ gerlicher Freimaurer abgestempelt hatten, konnte auch dieses Buch bei ih­ nen nur unliebsames Aufsehen erregen und das u.a. von „Latomia“ kolpor­ tierte Gerücht aufkommen lassen, die Hamburger Gruppe habe sich „viel­ leicht“ seinetwegen von Reuß getrennt, wogegen er einwandte, Held habe das Buch erst am 20. Dezember 1905 — also nach der Trennung — erhalten, doch darf nach der früher erwähnten Einstellung Helds unbedenklich ge­ schlossen werden, daß es, falls es früher eingetroffen wäre, die Trennung si­ cher beschleunigt hätte, selbst wenn man Reuß konzedierte, daß sein „Inhalt ... nirgends als ,Ordenslehre * den Mitgliedern gegeben worden (sei)“7. Ein anderes Gerücht sah in der bald darauf erfolgten Abreise nach Eng­ land eine Flucht von Reuß, die mit den geschilderten Querelen und An­ schuldigungen in Zusammenhang stehen sollte. Auch hiergegen wandte er

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sich mit einer Gegendarstellung in der „Oriflamme“, die zugleich wieder sei­ ne beruflichen Tätigkeiten in den Blick bringt. An Belegen, daß es sich um eine Verleumdung handele8, führt Reuß nicht nur seinen neuen Reisepaß und die ordnungsgemäße Abmeldung beim Gemeindeamt Groß-Lichterfelde an, sondern auch einen Empfehlungsbrief des „Großbritannischen General-Konsulats in Berlin“ vom 4. Januar und „zwei Empfehlungsschrei­ ben des Direktors des Berliner Bureaus der amerikanischen Kabelnachrich­ ten-Agentur ,The Associated Press' vom 5. Januar 1906“. Weiter verweist er auf den schon erwähnten Vertrag mit dem Wiener Kapellmeister Schulz, des­ sen Kapelle er ja in England „plazieren“ sollte und die durch andere Kon­ trakte bedingte Verzögerung der Abreise’. Hauptberuflich war Reuß nun bei „Central News“ tätig und scheint für den deutschen Telegraphendienst zu­ ständig gewesen zu sein. Daß er auch in England nicht auf sein journalisti­ sches Spezialgebiet verzichtet hat, belegt ein Passierschein des Chefs des Gro­ ßen Generalstabs, der ihn berechtigte, „den Kaisermanövern in Schlesien am 10.-13. September 1906 als Berichterstatter beizuwohnen und die Sonderzüge der Manöverleitung ... zu benutzen“10. Zwar hatte Reuß im November 1904 anläßlich der damaligen Auseinan­ dersetzungen geschrieben: „Da ich ..., gemäß den Lehren des Orients, auf dem Standpunkt stehe, daß alles, was geschieht, einem höheren Zwecke dient, so sehe ich auch in diesen Personen“ — seinen Kontrahenten — „nur die Werkzeuge einer höheren Macht, welche einem mir zur Zeit noch unbe­ kannten höheren Zweck dieser höheren Macht blind dienen müssen. Da aber mein Karma nur besser werden kann durch diese Prüfungen, so wäre es meinerseits ganz verfehlt, wenn ich nach bürgerlichen Begriffen mir Genug­ tuung zu verschaffen suchte“11. Auf diese metaphysische Lösung seiner Pro­ bleme wollte er sich aber nun nicht mehr verlassen und führte auch von London aus seine publizistische Rechtfertigungskampagne weiter. So trug er in der ersten Nummer der „Oriflamme“ nach seiner Übersiedlung nach London die Gründe vor, die ihn bewogen hatten, Augsburg, Weinholtz, Dr. Gross, Hugo Hofmann, Seiderer, Held und Adolf Brecht „auszuschließen“ und das „Diplom des ehemaligen General-Großsekretärs Emil Adriänyi ... für null und nichtig (zu erklären)“: Sie stehen in Zusammenhang mit der er­ wähnten finanziellen Forderung an den Münchner Großrat, der nicht nur nicht entsprochen, sondern mit einer „Verleumdungs-Kampagne“ begegnet worden sei, und den dortigen „schleierhaften Vorgängen“ um eine Haus­ schenkung12. Wichtiger als dieses, nur für die desolaten Verhältnisse des Or­ dens aufschlußreiche Hickhack, sind Reuß’ Versuche, seine Angriffen und 159

Mißverständnissen ausgesetzte theoretische Position gegenüber denjenigen zu verteidigen, die nicht — wie Dotzler und Friedrich — Selbstkritik geübt und in sein Lager zurückgekehrt waren. Im „nichtamtlichen Teil“ des zweiten Halbbandes 1906 der „Oriflamme“ erschien bereits ein Beitrag „Lingam-Yoni oder die Mysterien des Geschlechtskultus“, Auszüge aus Kapitel I des zweiten Teils „dieses hochbedeutsamen Werkes“13, das — wie es im Vorspann heißt — „von den Zeloten heftig angegriffen worden (war)“, die aber „noch mehr“ den Verfas­ ser attackiert hatten, „ausgesprochene Alkoholiker und Zotenreisser am Biertisch“, die sich „sogar erfrechten, dem Autor Homosexualität, Unsitt­ lichkeit, Schweinerei und dergleichen vorzuwerfen“14. Dazu konnten aber nun weder Band I noch die folgenden Auszüge Anlaß geben, die sich darum bemühten, die Gottesvorstellung des „esoterischen Freimaurers, resp. .wah­ ren Rosenkreuzers“ “ zu verdeutlichen: „Der esoterische Freimaurer (spreche) nicht von einem .persönlichen Gott“ im landläufigen Sinne des Wortes“ und werde von den „Priestern der Kirchen-Christen“ zum Athe­ isten erklärt, zu Unrecht, „denn in Wirklichkeit (basiere seine) okkulte Phi­ losophie ... auf der .Allgegenwart Gottes“, der absoluten Gottheit“, und wenn er nicht vom persönlichen Gott rede, so deshalb, „weil ihm die .absolute Gottheit“ zu h e i 1 i g , zu unerfasslich als .Einheit“ (die im Schöpfungsakt vereinten und geeinten Urkräfte von Lingam-Yoni) dem in der Zeit geborenen Intellekt (sei)“. Diese „Einheit“ werde in allen alten Reli­ gionen und dem Christentum durch die „Vielheit“ göttlicher Eigenschaften und Manifestationen dem menschlichen Begreifen nahegebracht, wobei Reuß neben dem Dual Lingam-Yoni vor allem auf die Gnostiker verweist, um wieder „zurückgeführt (zu werden) auf die rein esoterische .Aletheia“, d.i. ,die Wahrheit der Mysterien“. Man findet die gleichen Wahrheiten niedergelegt in den deutschen Katechismen des Grades der Rit­ ter vom Rose Croix und des Tempel-Ritters KDSH vom Memphis- und Misraim-Ritus“. Der Mensch, doziert Reuß weiter, ist eine „Ausstrahlung des unerfasslichen Vaters, des Sohnes des bewussten Vaters aller Götter und alles Erschaf­ fenen, d.i. Ausgestrahlten! Der parallele irdische Akt der Ausstrahlung, der Schöpfung, der Zeugung ist daher ein Gottesakt!“. Und das sei eben der Zweck seines Buches: den „gedankenlosen Menschen zum Bewusstsein zu bringen, dass der Zeugungsakt ein Gottesakt ist, und dass die Vereinigung (Lingam-Yoni) eine göttliche, heilige Handlung sein muss!“ Personen, die in dieses Geheimnis eindringen wollen, müssen jedoch,

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„bevor sie überhaupt nur den Vorhof zum Studium betreten, den ,alten *Menschen ausziehen. Das heisst, sie müssen alle erlernten und ererbten An­ sichten über was moralisch oder unmoralisch, sittlich oder unsittlich, recht oder unrecht ist, ablegen, sonst werden sie nie die Wahrheit der Mysterien ergründen“. Der „Fortschritt des Suchenden hängt davon ab, daß er den hei­ ligen Satz: ,Aum Mani Padme Hum * begreifen lerne“, dann werde ihm auch die Bedeutung des „Symbols ... der Geburt Brahmas (männlich-weiblich) aus dem von sieben Zonen umgebenen Ei der Welt“ aufgehen. Diese „Geburt aus dem Weltei15 (dem Symbol des Ritus von Memphis)“ wird im folgenden als „kosmischer“ und „menschlicher Vorgang“ abgehan­ delt: „Gleichwie der kosmische Schöpfungsakt aus dem siebenzonigen Welt­ ei hervorgeht und der irdische Schöpfungsakt aus dem siebenteiligen Ei des Menschen, so ist auch der Mensch selbst an und für sich siebenteilig, hat sie­ ben Prinzipien und untersteht sieben Hierarchien“, denen — der okkultisti­ schen Korrespondenzenlehre entsprechend — sieben Farben oder Töne zu­ geordnet werden. Das ist der, theosophische Vorbilder variierende, Bezugs­ rahmen für die Exposition des „aurischen Leibes“ — durch Gedanken beein­ flußbar und für den Sensitiven in Hellblau leuchtend — oder des 6. und 7’. Sinnes, jenseits der 5 „physischen Sinne“: „Den sechsten Sinn können wir schon hier teilweise ausbilden (die Schüler des inneren esoterischen Kreises des Ordens von Memphis und Misraim empfangen Anleitungen dazu), der siebente Sinn ist das .Begreifen * des .Absoluten *, das gleich ist: mit Ihm Eins sein!“. Diese „Vereinigung mit dem allerhöchsten Prinzip, dem A.B.A.W.... ist S a m a d h i, ist ,Aindi saefac *, ist ,Lingam-Yoni“*16. Dieses Referat sollte den hochgradigen Eklektizismus von Reuß deutlich gemacht haben, auch, daß solche „Geheimlehren der esoterischen Rosen­ kreuzer, der Templer-Freimaurer, der indischen Okkultisten“ aus Materia­ lien zweiter und dritter Hand zusammengebastelt worden sind17. Aber es geht andererseits kaum an, mit dem alles andere als unvoreingenommenen Adriänyi zu unterstellen, Reuß habe „für sich selber ... durch Herausgabe ei­ nes Buches: ,Lingam-Yoni * eine Art Rechtfertigungsmittel konstruiert“18. Wir haben gesehen, daß die „Lingam-Yoni“-Vorlage älter als Reuß * Hochgrad-Aktivitäten und die sich in ihr manifestierende Tradition mit eini­ ger Wahrscheinlichkeit gerade für seine Anstoß erregenden Lehren verant­ wortlich ist. Und was der sich düpiert fühlende ehemalige General-Großse­ kretär Adriänyi in philiströsem Erschrecken ebenfalls nicht registriert zu ha­ ben scheint, ist, daß der Beschäftigung mit der Sexual-Magie bei Reuß eine wie immer zu bewertende mit Ehe- und Sexual-Problemen parallel ging.

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Noch vor dem „Lingam-Yoni“-Artikel hatte sich Reuß unter dem Pseu­ donym „Nothung, das neidliche Schwert“ in der „Oriflamme“ zum The­ menkomplex „Ehefragen, Sexualreform und Frauenlogen“1’ geäußert, nicht ohne darauf hinzuweisen, daß er bereits vor „bald zwanzig Jahren ... in eng­ lischer Sprache ein kleines Schriftchen erscheinen ließ, in dem er zu der Ehe­ frage als ,Ehelüge * Stellung genommen (habe)“ — eben jene uns, aber wohl kaum seinen deutschen Adressaten, bekannte „anarchistische“ Broschüre „The Matrimonial Question“. „Da die Frauenfrage eine der brennendsten (der) Zeit (sei) und der Orden des Memphis- und Misraim-Ritus in Allem dem wahren Fortschritt, der wahren Freiheit, der wahren Liebe (diene, könne) er an dieser wichtigsten Frage (der) Zeit nicht blind vorbeigehen, ... nicht, gewisser delikater Unter­ fragen wegen, eine blöde Vogel Strausspolitik treiben“. Der oberste Leiter des Ordens habe sich deshalb entschlossen, „die Adoptionsmaurerei auch in Deutschland einzuführen resp. zu reaktivieren“ — wir werden gleich ein Beispiel kennenlernen —, um aus den Adoptionslogen „Pflanzstätten zur Heranbildung von Pionieren (zu machen), welche die Frauenfrage zu lösen mithelfen sollen und werden“: „Die neue Frau, die neue Ehe und die neue Gesellschaft werden ihre vornehmsten Stützen aus unseren Logen rekrutie­ ren“20. Noch pathetischer hat der nie um große Worte verlegene Großmeister ei­ nige Jahre später die „Consequenzen aus den (Ordens-)Lehren für das All­ tagsleben“ dahin umschrieben, daß angesichts der Tatsache, daß das „Volks­ leben u.a. ... an der Auffassung vom Werte des Weibes, dass die .Mutter­ * schaft nicht mehr das höchste Ziel des Weibes (sei, kranke)“, der Orden „exoterisch, in praktischer Durchführung (seiner) Lehren“ anstrebe, „daß in Zukunft die .Mutter * als .Hohepriesterin * in ihrer Familie verehrt werde. Je­ des .Gesegnete Weib * ist uns eine .Heilige *, sie ist das Symbol der .Mensch­ werdung der göttlichen Schöpfungskraft *. Die .Mutter * soll als Hoheprieste­ rin ihres häuslichen Kreises ... die Hüterin des heiligen Feuers, die Ausspen­ derin des Mystischen Segens sein“21. Wer die lebensreformerische Literatur der Jahrhundertwende kennt, wird konzedieren, daß er weder der Sache noch der Diktion nach allein steht. Reuß, der sich als „überzeugter und energischer Gegner der ... .staatlich privilegierten Kaufehe * “ bezeichnet, räumt 1906 ein, daß er „inzwischen auch Wasser in seinen Wein von damals gegossen (habe)“, betont aber, daß die Entwicklung der Frauenbewegung zeige, daß „seine damaligen Ansich­ ten in allen wesentlichen Punkten richtig waren und heute schon zum gros­ 162

sen Teil Gemeinplätze geworden sind“. Bei der Antwort auf die „Ehefrage, die mit der Frage der Sexualreform organisch verbunden (sei)“, geht es ihm nicht darum, die „freie Liebe“ gegen die „standesamtliche Ehe“ auszuspie­ len; es sei vielmehr ein „Verbrechen, in Zeiten der höchsten Gärung hinsicht­ lich der Prägung neuer Sitten- und Moralwerke so unausgereifte Ideen, wie Karl Hetman resp. dessen geistiger Vater sie im Gehirne wälzt, auf die Bühne zu bringen“, und Frank Wedekind, dem Autor dieser „Bühnen-Sensation“, wird in der Einleitung von „Lingam-Yoni“ bescheinigt, daß mit seinem Werk der „Höhepunkt... der pornographischen Literatur“ erreicht worden sei22. Andererseits ist für ihn auch die „Reform der Ehescheidung und die Her­ beiführung der ökonomischen, finanziellen und geistigen Unabhängigkeit der Frauen“ nur ein „erster Schritt“, und mit Helene Stöcker glaubt er sich einig, daß es auf die „innere Gestaltung der Ehe“ ankomme: „Nicht die Gleichheit der Frau mit dem Mann, sondern die Gleichwertig keit der Frau mit dem Mann unter tatsächlicher Anerkennung ihrer Andersartig­ keit durch ihre völlige Befreiung von der gegenwärtigen absoluten Macht­ stellung des Mannes muss erstrebt werden“. Aufgabe der Mitglieder der Frauenlogen sei es nicht nur, den Mann zu einer „verantwortungstragenden Würde“ hinsichtlich der „Folgen des Aktes“ zu „erziehen“, sondern — und hier münden die Ausführungen in frühere Überlegungen ein — „der Vereini­ gungsakt der Liebe (müsse) wieder eine Religionshandlung werden“: „Der Zeugungsakt war zu allen Zeiten ein göttlicher Schöpfungsakt, eine göttliche Handlung, und bildete die verborgene Basis jedes höheren Religionskultus. Das Symbol hierfür war und ist sowohl das Kreuz wie das doppelte Dreieck, welche beide die Vereinigung des passiven und aktiven Prinzips darstellen“. Noch ein Schritt, und die Jungfrau Maria wird zum „Symbol der reinen, freien Seele ... Ohne Maria gäbe es keinen Christus, weil sich der Geist ohne Vermittlung der Seele mit dem Körper (der Materie) nicht verbinden könn­ te. Daher das Dreieck und die mystische Hochzeit! Diese mystische Hoch­ zeit findet ihre Ergänzung und ihren Abschluss in dem Symbol: der heilige Gral, in der Gralsgemeinschaft, in der Feier des heiligen Grals. Die Gralsfei­ er ist das höchste Mysterium des Ordens, die höchste Apotheose der Liebe, ... das Gralsgefäß ... nur das äussere Sinnbild für die esoterische Lehre“23.

Ähnlichen sexual-okkultistischen, -reformerischen und -metaphysischen Ideen werden wir bei Reuß bis an sein Lebensende begegnen. Im Augenblick kommt es nicht so sehr darauf an, wieweit er auch hier Gedanken anderer 163

aufgegriffen hat, sondern daß er sie propagierte und die O.T.O.-Lehre an ih­ nen ausrichtete, wie immer es um die Zahl seiner Gefolgsleute bestellt war. In die organisatorischen und dogmatischen Auseinandersetzungen der Zeit vor der Englandreise fiel nun ein Ereignis, das erst unter dem Datum „Ostern 1906 E.V.“ in der „Oriflamme“ eine gewisse Publizität erhielt und Anlaß zu mannigfachen Spekulationen geben sollte: „Dem Br.Dr. Rudolf Steiner, 33.°,95. °, in Berlin und den mit demselben verbundenen Brüdern und Schwestern ist die Erlaubnis erteilt worden, in Berlin ein Kapitel und ei­ nen Grossrat der Adoptionsmaurerei unter dem Namen .Mystica a e t e r n a ’ zu gründen. Br.Dr. Steiner wurde zum stellvertretenden Grossmei­ ster mit Jurisdiktion über die von ihm aufgenommenen oder aufzunehmen­ den Mitglieder ernannt. Schwester Marie von Sivers wurde als GeneralGrosssekretärin für die Adoptionslogen eingesetzt“24. Zwanzig Jahre später stellte es Steiner in seiner Autobiographie — nicht nur den Namen von Reuß, sondern auch den des Ordens unterschlagend — so dar, daß „man von einer gewissen Seite her Marie von Sivers und (ihm) die Leitung einer Gesellschaft von der Art an(trug), wie sie sich erhalten ha­ ben mit Bewahrung der alten Symbolik und der kultischen Veranstaltungen, in welchen die ,alte Weisheit' verkörpert war“25, ein Statement, bei dem man nicht nur den Stil als gewunden empfindet. Nicht die Kontaktaufnahme mit dem Generalsekretär der Theosophi­ schen Gesellschaft (Adyar) Steiner gibt Rätsel auf, auch wenn Reuß zur Hartmann-Richtung der Theosophie gehörte, sondern daß Steiner das Ange­ bot „von gewisser Seite“ zu diesem Zeitpunkt akzeptierte. Zwar hatten die früher geschilderten Vorgänge keine Schlagzeilen gemacht und auch in der Freimaurerwelt vor den Enthüllungen in „L’Acacia“ wohl allenfalls ein be­ grenztes Interesse gefunden, doch hätte Steiner bei seinen Verbindungen der freimaurerische Status der Yarker-Riten nicht entgehen können, wie es bei der Verflechtung von fringe masonry und Okkultismus auch unerfindlich ist, daß ihm jene Interna verborgen geblieben sein sollten, wenn er sich ernsthaft um eine Überprüfung seiner neuen Alliierten bemüht hätte. Sei es, daß er sich düpieren ließ, sei es, daß ihm das Angebot und die Würde eines Großmeisters gelegener kamen, als er später als Oberhaupt der Anthroposo­ phischen Gesellschaft wahrhaben wollte: Zum Preis von 1500 Mark26 „nahm (er) das Diplom der angedeuteten Gesellschaft, die in der von Yarker vertretenen Strömung lag“, an. Zu seiner Rechtfertigung brachte Steiner vor, er habe „immer Achtung vor dem historisch Gegebenen (gehabt). In ihm lebt der Geist, der sich im 164

Menschheitswerden entwickelt. Und so war ich auch dafür, dass, wenn ir­ gend möglich, Neu-Entstehendes an historisch Vorhandenes anknüpfe“, von dem er „nichts, aber auch wirklich gar nichts“ übernommen haben will, „als die rein formelle Berechtigung, in historischer Anknüpfung selbst eine sym­ bolisch-kultische Betätigung einzurichten“. Es ist Steiner, der hier so argu­ mentierend „das Lächerliche mit der Grimasse des Ernstes behandelt“, nicht diejenigen, die „später ... Bescheinigungen, die von Marie von Sivers und (ihm) bei der Anknüpfung an die historische Yarker-Einrichtung unter­ schrieben worden sind,... (als) Ausgangspunkte für allerlei Verleumdungen“ benutzt haben sollen. Und es spricht zumindest für ein etwas gestörtes Ver­ hältnis zu „historisch Vorhandenem“ — handelt es sich auch um Historie Yarkerscher Provenienz —, wenn er in der besten Manier alpenländischer Bauerntheater die Konsequenzen seines Handelns neutralisieren will: „Unse­ re Unterschriften waren unter .Formeln' gegeben. Das Übliche war einge­ halten worden. Und während (sic) wir unsere Unterschriften gaben, sagte ich mit aller Deutlichkeit: das alles ist Formalität, und die Einrichtung, die ich (sic) veranlasse, wird nichts herübernehmen von der Yarker-Einrich­ tung“. Was auch immer von der recht peinlichen Apologese zu halten ist, so gibt doch Steiner selbst zu, daß er sich auf der Grundlage jenes Diploms der „angedeuteten Gesellschaft“ jahrelang „symbolisch-kultisch“ betätigt hat, auch nach Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft, und daß deren „symbolisch-kultische Abteilung“ erst mit Beginn des Weltkrieges „einge­ schlafen“ sei.27. Das wirft ein merkwürdiges Licht auf die Mitteilung Adrianyis in „L’Acacia“, daß Steiner in mehreren Briefen die Art und Weise seiner Nomi­ nierung dementiert und „énergiquement contre les pratiques immondes" von Reuß protestiert habe21. Leider fehlt nicht nur zu diesem Punkt ergän­ zendes Material: Wenn Steiner auch nur zum Chef eines Memphis & Misraim-Ablegers avancierte, so gehörte er damit doch zu den „höchsten Graden“ des Ritus, die nach der .Jubiläums-Ausgabe“ von 1912 den „gehei­ men Stamm“ des O.T.O. ausgemacht haben sollen. Wir werden aber eine solche Formulierung nicht überbewerten dürfen, wie ja schon der Fall Adriänyi belegte, daß die Parallelität keineswegs durchgängig galt. Gerade weil die Steiner unterstellte O.T.O.-Mitgliedschaft später zu unqualifizierten An­ griffen auf ihn geführt hat, wäre eine Klärung dieser Frage von einem gewis­ sen Interesse. Wir verdanken sie Marie Steiner, die ausgerechnet bei dem Ver­ such, ihren Mann von der ihm und ihr unangenehmen Verbindung reinzu­ waschen, bestätigte, daß „das erwähnte Dokument ... Benennungen wie 165

Misraim, Memphis, O.T.O. (Orientalischer Templer-Orden) und drgl. ... aufzählte“; Rudolf Steiner habe sie als „ihres Wesens beraubte Hülsen“ betrachtet29. Es wären freilich recht teuer bezahlte Hülsen gewesen. Daß die Beziehungen zu Reuß oberflächlicher Natur waren,,daß es sich erst recht bei der O.T.O.-Mitgliedschaft um eine mehr oder weniger nominelle gehandelt hat, dürfte jedoch durchaus zutreffen, wie ja auch Reuß’ Abreise nach Eng­ land einer Intensivierung der Liaison nicht förderlich war. Für die Zeit dieses England-Aufenthaltes sind wir weithin auf die Nach­ richten in der „Oriflamme“ angewiesen, die Reuß von 1906 an mit Hilfe ei­ nes „Pressfonds“30 in „vergrößertem Umfange“ als Halbjahresschrift her­ ausgeben wollte, was aber auf Schwierigkeiten gestoßen zu sein scheint, da nach den beiden Bänden für 1906 von zusammen 128 Seiten die Zeitschrift 1907 überhaupt nicht und 1908 zweimal, ab 1909 nur noch eimal im Jahr als schmächtiges Heftchen erschien. Neben Berichten über Organisationsprobleme und die Fortführung der internen Auseinandersetzung — in deren Verlauf die Gruppe um Weinholtz wegen Verstoßes gegen die Schweigeverpflichtung des Rosenkreuzer-Ordens für „infam“ erklärt wurde31 —, verdient ein Inserat in der ersten „Oriflamme“-Ausgabe nach der Abreise Aufmerksamkeit, das deutlich macht, daß die Fäden, die Anfang des Jahrhunderts zu Papus geknüpft worden waren, wei­ tergesponnen wurden. Die Anzeige teilte mit, daß im Verlag von Br. Charles Detre in Nottingham seit April 1906 die Monatsschrift „INRI“ als britisches Pendant zur französischen „Initiation“ erscheine. Als „Hon.Direktor“ fun­ gierte „Papus, M.D., Doctor in Kabbalah“, als Redakteur „Teder (d.i. Detre), Doctor Herrn.Science“. Die Zeitschrift wird vorgestellt als „offizielles Or­ gan“ folgender Organisationen: „Independent Group of Esoteric Studies: 1600 members, 107 branches and correspondents (Head-quarters: Paris 5 rue de Savoie). Martinist Order. Kabbalistische Orden vom Rose + Croix. High School of Hermetic Sciences. Souveränes Sanktuarium für Grossbritannien und Irland. Swedenborg-Ritus der Freimaurerei. Souveränes Sanktuarium für das Deutsche Reich“. Als Mitarbeiter der „Initiatic Section“ begegnen u.a. Saint-Yves d’Alveydre, Sedir, Dr.Papus, Teder und Yarker — beide „Dr. of H.Sc.“ — und Theodore Reuss, unter „andere Sektionen“ etwa Fabre des Essarts und J. Bricaud32, also eine illustre Versammlung von Okkultisten, Esoterikern, Vertretern des Neo-Gnostizismus und der fringe masonry. Diese Beziehungen zwischen Reuß und Papus wurden Pfingsten 1908 durch den „Internationalen Freimaurer Congress zu Paris“33 noch enger ge­ staltet. Repräsentanten von „16 freimaurerischen Körperschaften und Gross­

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machten“ machten Front gegen die herkömmlichen Ansprüche der Großlo­ ge von England und des Grand Orient de France und beschlossen am 9. Juni, „einen Süprême Grand Conseil und Grand-Orient des Ritus der Alten und Ursprünglichen Freimaurerei für Frankreich und seine Dependenzen zu gründen, das constituirende Patent vom Souveränen Sanktuarium und Grand-Orient von Berlin anzunehmen, und ein Central Bureau unter dem Titel eines Secretariates der Föderation der Universalen Maurerei zu grün­ den“34. Zu den Unterzeichnern der Resolution gehörten neben EncaussePapus, 33 °, 90 °, 96 ° und Reuss, 33 °, 90 °, 96 °, übrigens auch René Guenon, 33 °, 90 °; mit von der Partie war Paul Chacornac. Auf der 7. ordentlichen Jahres- und Geschäftssitzung des Souveränen Sanktuariums am 24. Juni 1908 in Berlin, die S.G.G.M. Reuß leitete, wurde dann Frankreich als „unokkupirtes Land im Sinne (des) Ordens“ erklärt und „den antragstellenden fran­ zösischen Brüdern (der) nachgesuchte Freibrief (genehmigt)“, der „S.E.Br.Dr. Gerard Encausse (Papus)... zum Freundschafts-Representanten (des) Ritus und des S. Sanctuarium für das Deutsche Reich beim neuen Su­ prême Grand Conseil Général pour la France in Paris, und bei der Grossloge des Swedenborg Ritus für Frankreich ernannt“35. Neben den Schwägern Reuß und Gierloff — „General-Groß-Keeper of Sanctuary“ — signierten die Großbeamten Schwabe, Kirmiss, Klein, Rembe, Heilbronner und Dotzler. Allzu erfolgreich scheint dieses internationale Unternehmen aber nicht ge­ wesen zu sein; denn das „Rundschreiben des Sekretariats der Internationalen Freimaurerei der Union der maurerischen Riten in Paris“ vom 30. Novem­ ber 1909, das die notwendigen „grandes reformes“ ansprach, unterzeichne­ ten für das Bureau central Papus, für die Bureaux de correspondance neben Reuß nur noch drei weitere Deutsche und Morgan Ellidge, der Wien als Adresse angab36. Der Kongreß von 1908 könnte aber für Reuß in anderer Weise bedeutsam geworden sein, insofern die Kontakte zu J. Bricaud und der von ihm reprä­ sentierten Eglise catholique gnostique universelle, mit der wir uns später noch befassen müssen, damals zustandegekommen sein dürften. Auch zu Papus riß die Verbindung nicht ab, ja, sollte sich in einer Weise auszahlen, die Reuß hochwillkommen sein mußte. 1910 gründete Papus nämlich — legitimiert durch ein Gesetz vom 12. Juli 1875 — eine „Ecole su­ périeure libre des Sciences Médicales appliquées“, deren Statuten samt Orga­ nisationsschema, Lehrplan, Liste der paar Professeurs Titulaires und reprographiertem Récépissé N° 121 der Université de France, Académie de Paris vom 24. Juni 1910 in „L’Initiation“ nachzulesen sind; „membres 167

honoraires“ waren in Absatz V vorgesehen37. Was es mit dem Professor- und Doktor-Titel auf sich hatte, die den Spott der Münchner Richter provozier­ ten, liegt im dunkeln38; wenn er sich dagegen einige Jahre später auf seinen Visitenkarten als „Diplom. Hon.-Professor der Hochschule für angewandte medizinische Wissenschaften in Paris (Université de France)“ seines Br. Papus vorstellen wird, war das höchstwahrscheinlich formaljuristisch korrekt, was man auch von einer solchen akademischen „Würde“ denken mag39. Neben jenen Auftritten nehmen sich die Ordensaktivitäten jener Jahre — von der Sprache der Edikte und Verlautbarungen abgesehen — eher beschei­ den aus. Wir hören etwa, daß Reuß 1907 zum Kongreß der 12 Obersten Räte des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus am 13. und 14. April nach Berlin reiste, dann wieder im Juni des nächsten Jahres anläßlich der er­ wähnten Jahres- und Geschäftssitzung40. Am 24. Juni 1909 trennte sich Reuß von Paul Eberhardt, den er am 15. November 1906 zum General-Großmei­ ster des Schottischen, Alten und Angenommenen Ritus gemacht hatte, und erklärte sein Patent für „Null und Nichtig“41 — nach Eberhardts Darstel­ lung, weil Reuß fürchtete, er werde „seine Logen in den Deutschen Großlo­ genbund hinüberführen“42, nach Reuß, weil Eberhardt „während 3 langer Jahre nicht einmal den Versuch gemacht hatte, die Hochgrade zu bearbeiten“43. Leiter des Schottischen, A. und A. 33 ° Ritus in Deutschland wurde nun Dr. Carl Lauer aus Ludwigshafen44. Im August des folgenden Jahres hielt sich „Paul Kirmiss, 33°, 90°, 95°, amtierender General-GroßKanzler des Souveränen Sanktuariums“, 8 Tage in London auf, „um mit Un­ terstützung des S. General-Groß-Meisters... wichtige Amtshandlungen vor­ zunehmen, und besonders Ordensgeschäfte zu erledigen“45. Leider wird die Rolle, die der alternde Franz Hartmann bei all dem spiel­ te, nicht recht klar, da es trotz seiner großen Bedeutung für die esoterischen Strömungen jener Zeit, die ihn auch darüber hinaus bekannt machte46, noch immer an ausreichendem Material über seine letzten Jahre fehlt. Wir hörten, daß er 1905 „einstimmig an Stelle des verstorbenen Br.Dr. Carl Kellner zum Ehren-General-Großmeister erwählt“ worden war, nachdem er u.a. am 19. Juni 1904 auch die Philippika gegen Weinholtz gegengezeichnet hatte47. Wenn es zutreffen sollte, daß er von O. Gebhardi über Reuß aufgeklärt wur­ de und sich zurückgezogen habe48, so begegnen wir ihm jedenfalls doch noch 1911 als Mitglied des Obersten Rates 33.° des Schottischen Ritus und „Ehren-Groß-Meister“, und daß er nicht nur auf dem Papier überlebt hatte, zeigt ein Bericht, wonach „S. •. E. •. Br.Dr. Franz Hartmann, 33 °, 90°, 96°, IX °, Ehren-Groß-Meister und Ehrenmitglied des S(ouveränen) S(anktuari168

ums), ... der Johannisloge (der) Mannheimer Brüder beigewohnt (habe)“. Als bleibende Erinnerung wurde eine Blitzlichtaufnahme gemacht, „welche den Moment festhält, in dem M.. •. v.St. •. Br. •. Dr. Karl Lauer dem S. •. E. ■. Br. •. Dr. Franz Hartmann den Hammer (anbot), um die Festarbeit zu lei­ sten“49. Das sind alles gewiß nur freimaurerische Aktivitäten — aber im Rahmen der Reuß-Freimaurerei —, und daß Lauer ein treuer Parteigänger von Reuß war, konnte Hartmann schwerlich verborgen bleiben. Und mochte sich Crowley über den „dodderer Franz Hartmann“ mokieren50, mochte der al­ ternde Hartmann vielleicht nicht mehr den vollen Überblick in Ordensan­ gelegenheiten besessen haben51, so besagte das noch nichts gegen jenen IX ° (O.T.O.)52, der Zweifel an Adriänyis Behauptung aufkommen läßt, Reuß ha­ be den Verstorbenen 1912 in der .Jubiläums-Ausgabe“ ohne jede Berechti­ gung nur als Aushängeschild für seinen O.T.O. benutzt53. Wann jedoch Reuß und Hartmann zum letzten Mal zusammengetroffen sind, läßt sich — wie so manches andere Detail, das hier von Interesse wäre — nicht mehr fest­ stellen. Das unbefriedigende Ergebnis dieses Exkurses hat aber vielleicht doch auch das Gute, deutlich gemacht zu haben, wie schwer es ist, in jenen Jahren überhaupt eine O.T.O.-Tätigkeit auszumachen, was angesichts der „Consti­ tution“ und der „Allgemeinen Satzungen“, die 1906 datiert waren, eigent­ lich befremden muß. Auch was von Reuß zu berichten war, betraf ja fast nur freimaurerische Aktivitäten, die er auch in der Folgezeit fortsetzte54. Hinter dieser Fassade muß er sich nun in zunehmendem Maße auf den O.T.O. kon­ zentriert haben — auch hier anscheinend Masonisches und Templerisches kontaminierend55 —, bis er ihn 1912 mit der .Jubiläums-Ausgabe“ der „Oriflamme“ — jetzt „Amtliches Organ des Ordens der Orientalischen Templer u(nd) des Suveränen Sanktuariums der Alten Freimaurer in Deutschland“ — „weitesten Kreisen“ vorstellte, wobei nicht nur der Schleier des Ordensge­ heimnisses etwas gelüftet, sondern auch eine Photogalerie der führenden Mitglieder und ein Hinweis auf die gute Vermögenslage des Ordens56 präsen­ tiert wurden, nebst Ansätzen einer Ordenslegende, in der Hartmann — dar­ in dürfte Adriänyi zuzustimmen sein — stärker als gerechtfertigt in den Vor­ dergrund gerückt wird. Inzwischen hatte Reuß in England aber einen Inter­ essenten gefunden, der seine deutschen Gefolgsleute weit in den Schatten stellte: Aleister Crowley.

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Br.'. Theodor Reuß, 33°, 90°, 96° X°.

Br.-. Dr. Carl Kellner, 33°, 90°, 96°, X°. f

Aufgenommen in den Freimaurer-Orden in der Loge „Der Pilger , ** No. 23B, Or.-. London. Mitglied der Johannis-Loge „Humanidad“, No. 210, Or.‘. Paris, Hon. 33° in Amerika, Spanien, Rumänien, Griechenland, Italien etc. Suveräner General-Grossmeister ad vitam des Ordens der Alten Freimaurer vom Memphis- und Misraim-Ritus in Deutschland.

Aufgenommen in den Freimaurer-Orden in der Loge „Humanitas“, Or.'. Neuhäusl, gestorben am 8. Juni 1905 in Wien. gew. Erster Suveräner Ehren-General-Grossmeister in Deutschland und Grossbritannien des Ordens der Alten Freimaurer vom Memphis- und Misraim-Ritus. Dies Bild des geistigen Vaters unseres Ordens stammt aus d. J. 1895. OTO

OTO

*. Br.

Dr. Franz Hartmann, 33°, 90°, 95°, IX0. f

Aufgenommen in den Freimaurer-Orden in der Loge „Washington“, No. 12, Or.’. Georgetown, U.S.A., gestorben am 7. August 1912 in Kempten, gew. Erster General-Gross-Adm in ist rat or des Ordens der Alten Freimaurer vom Memphis- und Misraim-Ritus in Deutschland. Ehren-Grossmeister des (33°) Grossorient von Deutschland. Mitbegründer unseres Ordens

OTO

Br.'. Meister Crowley, 33°, 90°, 96°, X°. National-Grossmeister für Grossbritannien und Irland der Mysteria Mystica Maxima des Orientalischen Templer-Ordens

OTO

XI. Merlin kürt Baphomet, nebst Bibliotheca esotérica für Anfänger Aleister Crowley, vor zwei Jahrzehnten fast nur noch in Okkultistenkrei­ sen — je nach Ausrichtung — berühmt oder berüchtigt, ist im Zuge des occult revival so bekanntgeworden, daß sich die Vorstellung auf das Notwen­ digste beschränken darf. Edward Alexander Crowley, der sich später Aleister nannte, wurde am 12. Oktober 1872 in Leamington/Warwickshire als Sohn eines begüterten Bierbrauers geboren, der sich den Plymouth-Brethren — entschiedenen Sek­ tierern — angeschlossen hatte und in jenen Jahren eifrig missionierend über Land zog. Dies und seine bigotte wie unselbständige Mutter gehören zu den Eindrücken, die auf den jungen Crowley prägend wirkten. In der Biographie1 des begabten Schülers und Cambridge-Studenten ste­ hen dichterische Versuche neben sportlichen Leistungen, frühen Erfahrun­ gen auf sexuellem Gebiet — Geschlechtskrankheit inbegriffen — oder Erfol­ gen als brillanter Schachspieler. Der Gedanke an eine Diplomatenlaufbahn taucht auf, kommt aber über einen Versuch, deswegen Russisch zu lernen, nicht hinaus, wie er auch die Universität ohne Abschluß verläßt, auf der Su­ che nach angemesseneren Betätigungsfeldern. 1896 — in jenem Jahr, in dem sich Reuß und Engel als neue Illuminaten präsentierten — will er in einem Stockholmer Hotel eine Erleuchtung ge­ habt haben — erschreckend und beseligend zugleich —, die ihm seine magi­ schen Fähigkeiten bewußt gemacht haben soll. In den beiden letzten Jahren des Jahrhunderts treffen wir ihn in den Fe­ rien in der Schweiz, wo er sich nicht nur als Bergsteiger auszeichnete, son­ dern auch — seit der Lektüre von v. Eckartshausens „The Cloud upon the Sanctuary“2 auf der Suche nach einem „Meister“ — die Bekanntschaft eines englischen Chemikers machte, der ihn, beeindruckt von seinen alchemisti­ schen Kenntnissen, an einen Londoner Bekannten vermittelte, der zwar auch kein Meister war, aber einer okkulten Gesellschaft angehörte: dem Hermetic Order of the Golden Dawn3.

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Dieser Orden war 1887 von dem uns bekannten Coroner Dr. Westcott, einem nicht mehr praktizierenden Arzt namens Woodman und dem etwas exzentrischen Privatgelehrten Mathers auf Grund mysteriöser Briefe, die dann mit der fiktiven deutschen „Rosenkreuzerin“ A(nna) Sprengel in Zu­ sammenhang gebracht wurden, gegründet worden. Er rekrutierte sich zu­ nächst zum guten Teil aus den Mitgliedern jener freimaurerischen Societas Rosicruciana in Anglia, hatte es aber Ende 1893, wie Westcott Gustav Mey­ rink mitteilte, schon auf 200 Mitglieder gebracht: Akademiker, Künstler, Privatiers, durchaus nicht jene „muddled middle-class mediocrities“, die Crowley später in ihnen sehen wollte, ohne daß man das prominenteste und sehr aktive Mitglied zu bemühen brauchte: William Butler Yeats. Crowley fand dort in Allan Bennett einen Freund und magischen In­ strukteur und erreichte innerhalb weniger Monate in der Ordenshierarchie den 4. Grad, den höchsten im sogenannten „I. Orden“. Und noch etwas ver­ band die beiden Männer: beide waren Asthmatiker und griffen zu damals als Linderungsmittel noch frei erhältlichen Drogen, die Crowley auch ohne Asthma bis an sein Lebensende begleiten sollten4. Für Crowleys neues Engagement im Bereich des Okkulten mögen zwei Beispiele stehen, die in je verschiedener Weise Licht auf seine Person werfen können: So machte er sich nicht nur voller Eifer an die Lektüre des von Mathers vermeintlich zum ersten Mal in eine lebende Sprache übersetzten „Book of the Sacred Magie of Abra-Melin the Mage“ (1898) — das J. Scheible, wie wir hörten, schon Jahrzehnte vorher als Überlieferung eines „Abrahams von Worms“ herausgebracht hatte5 —, sondern war im Gegensatz zu anderen auch bereit, die Beschwörung in einem Landhaus nahe Loch Ness vorzuneh­ men — unter tragikomischen Umständen und ebensolchen Ergebnissen. Während dieser magischen Operationen und Exerzitien hatten die Zer­ würfnisse im Orden ein solches Ausmaß erreicht, daß Mathers — der nach Woodmans Tod Westcott auf den zweiten Platz verwiesen hatte — seinen Parteigänger Perdurabo-Crowley zum Kriegsrat nach Paris beorderte, wo er seit einiger Zeit mit seiner Frau Moina — einer Schwester des Philosophen Bergson — lebte: Das Ergebnis war Crowleys Versuch, sich der Ordensun­ terlagen zu bemächtigen, jenes denkwürdige Kommandounternehmen in Schottenrock und Western-Gesichtsmaske, dem Ellic Howe in seiner Ge­ schichte des Ordens als „The Battle of Blythe Road“ ein Denkmal gesetzt hat. Von der Gegenpartei angefeindet und in Bann getan, kombinierte Crow172

ley auf den nun folgenden Weltreisen Abenteurertum und okkultistisches In­ teresse, glänzte durch bergsteigerische Leistungen im Himalaya-Gebiet oder Mexiko — wo er auch den 33° des Schottischen Ritus erworben haben will — und ließ durch selbstfinanzierte Ausgaben seiner Dichtungen in kost­ barer Aufmachung sein einstmals beträchtliches Vermögen weiter schrump­ fen. Kurz bevor der schwerkranke Carl Kellner Ägypten aufsuchte, hatte Crowley in Kairo 1904 das Erlebnis, das für sein künftiges Leben entschei­ dend wurde: Uber seine medial veranlagte junge Frau nahm ein außerirdi­ sches Wesen namens Aiwass mit ihm Kontakt auf und diktierte in drei Sit­ zungen den Text des späteren Liber Legis, das zur Bibel seiner bald folgen­ den Ordensaktivitäten wurde, und in dem er nach Jahren die Losung des mit jenem Ereignis beginnenden neuen Äons erkennen wird: „Liebe ist das Ge­ setz, Liebe unter Willen!“ Die nächsten Jahre sehen ihn wieder im Himalaya, auf Großwildjagd in Indien oder auf einer Expedition, die ihn — begleitet von Frau und Baby — von Birma aus nach China führte. 1906 gewann Captain J.F.C. Fuller ein von Crowley veranstaltetes Preis­ ausschreiben in eigener Sache mit „The Star in the West. A critical essay upon the works of Aleister Crowley“, die damals schon einen beträchtli­ chen Umfang angenommen hatten6. Seine Aktivitäten auf okkultistischem Gebiet betreffen in jenen Jahren nicht nur den Aufbau eines eigenen Or­ dens — des A. •.A. •. (Astrum Argenteum) —, der großzügig zur legendären Great White Brotherhood mit einem Platz für die „Goldene Dämmerung“ im unteren Drittel hochstilisiert wird, sondern 1909 auch zeremonialmagische Operationen in der Sahara, wo er zusammen mit Victor Neuburg mit Hilfe der Techniken von John Dee und Edward Kelley erneut Kontakt mit nichtmenschlichen Wesen — an der Spitze diesmal Choronzon — auf­ nimmt7. 1909 begannen die „Equinox“-Halbjahresbände zu erscheinen, „The Re­ view ofScientifidlluminism“, auch „TheOfficialOrgan of theA.’.A.die später noch einen weiteren Untertitel erhalten werden, aufwendig ausgestat­ tete Bände, die nun auch seine esoterischen und magischen Ideen zugänglich machen sollten. Einem breiteren Publikum dürfte er 1910 jedoch allenfalls durch die Presseberichte über die von ihm in der Caxton Hall inszenierten „Rites of Eleusis“ bekanntgeworden sein, wobei offenbleiben mag, ob mehr die Texte und Tänze Anstoß erregten oder die nackten Füße seiner fiedeln­ den Freundin Leila Waddel. Wenn wir hier einmal eine Zwischenbilanz ziehen, so hatte sich Crowley

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damals nach einem abenteuerlichen Leben bürgerlich weitgehend diskredi­ tiert, was durch einen Prozeß im nächsten Jahr — in dem zudem das Thema Homosexualität zur Sprache kam —, denen weitere folgten, nur noch offen­ sichtlicher wurde; sein A. • .A. •. konnte kaum über allzu großen Zulauf in­ teressierter Okkultisten klagen, hatte er doch 1913 — auf dem Papier — al­ lenfalls 88 Mitglieder8, und Crowleys Vermögen war durch den großzügigen Lebenswandel und die selbstfinanzierten Publikationen weithin aufgezehrt. Stellt man all das in Rechnung, dürfte Reuß kaum von Minderwertigkeits­ komplexen geplagt gewesen sein, als er sich damals Crowley näherte. Die Darstellung der Umstände, die zu jener Begegnung führten, in Crow­ leys „Autohagiographie“ — an die man, was Details betrifft, auch nur hagiographische Maßstäbe anlegen darf — läßt sich glücklicherweise punktuell durch unpublizierte Briefe an Henri Birven aus den Jahren 1929/30 etwas er­ gänzen und korrigieren, wenn auch keine letzte Klarheit zu gewinnen ist. Der letztlich erfolglose Versuch von Mathers, im Frühjahr 1910 das Er­ scheinen des 3. Bandes von „The Equinox“ — in dem das 5°=6°-Ritual des G.D. mit der Christian Rosenkreutz-Legende im Mittelpunkt stand — ge­ richtlich zu verhindern, brachte Crowley einiges an Publicity ein: „For the first time, I found myself famous and my work in demand“, und da Mathers vor Gericht behauptet hatte, er sei der Chef des Rosenkreuzer-Ordens, wur­ de nun sein Kontrahent Crowley „invaded by 333 sole and supreme Grand Masters of the Rosicrucians. Among them was Reuss. I booted him with the other 332“’. In den „Confessions“ konzediert er Reuß immerhin „some method in his madness“, um ihn zugleich als „Grand Master of Germany of the Scottish, Memphis and Misraim Ritus of Freemasonry“ vorzustellen, was ihm als Aufhänger dient, mit seiner eigenen freimaurerischen Vergangenheit zu kokettieren: „I remembered that I had been made a Sovereign Grand In­ spector General of the 33 ° and last degree of the Scottish Rite in Mexico ten years before, but had never bothered my head about it, it being evident that all freemasonry was either vain pretence, tomfoolery, an excuse for drunken rowdiness, or a sinister association for political intrigues and commercial pi­ rates. Reuss told me a good deal of the history of various rites, which is just as confused and criminal as any other branch of history; but he did persuade me that there were a few men who took the matter seriously and believed that the foolish formalism concealed really important magical secrets“. Eine Bestätigung will er in dem ihm zur Besprechung zugegangenen Buch „The Arcane Schools“ von Yarker gefunden haben, der ihm nach einem 174

Briefwechsel seinen mexikanischen 33 0 anerkannte und ihm — was bei Yarker nicht mehr überraschen kann — auch noch den 90 ° Misraim und 95 ° Memphis verlieh. „By the end of 1910, thanks to my relations to the Grand Hierophant 97° of the Rite of Memphis (i.e. Yarker) ... I was now a sort of universal inspector-general of the various rites, charged with the secret mis­ sion of reporting on the possibility of reconstructing the entire edifice“. Was es tatsächlich mit dem „sort of“-Rang und der „geheimen Mission“ auf sich hatte, bleibt ebenso im dunkeln wie seine entsprechenden Aktivitäten, wo­ für weniger das von ihm vorgeschützte unauffindbare Tagebuch als die Aus­ landsreisen jener Zeit als Entschuldigung gelten könnten.

1912 will er jedoch „most of (his) time“ dem O.T.O. gewidmet haben, ohne daß er bisher überhaupt etwas über eine Aufnahme berichtet hätte: „The order was a great success and ceremonies of initiation were of almost daily occurrence“, wenn er in ihm zunächst auch nicht mehr als „a con­ venient compendium of the more important truths of freemasonry“ sah, wobei wir weder diesen noch den früheren Satz auf die Goldwaage legen dürfen. Seine Einstellung änderte sich erst an jenem denkwürdigen Tag, an dem ihm das „Geheimnis“ des O.T.O. aufging: „Shortly after publication (of ,The Book of Lies') the O.H.O.10 (i.e. Reuß) came to me ... He said that since I was acquainted with the supreme secret of the Order, I must be allow­ ed the IX ° and obligated in regard to it. I protested that I knew no such se­ cret. He said, ,But you have printed it in plainest language *. I said that I could not have done so because I did not know it. He went to the bookshelves and, taking out a copy of The Book ofLies, pointed to a passage“ im 36. Kapitel — „The Star Sapphire“ —, die also lautet: „Let the Adept be armed with the Magick Rood (and provided with the Mystic Rose)“, eine Lingam-YoniSymbolik, die keines Kommentars bedarf. „It instantly flashed upon me. The entire symbolism, not only of freemasonry but of many other tradi­ tions, blazed upon my spiritual vision. From that moment the O.T.O. assumed its proper importance in my mind. I understood that I held in my hands the key to the future progress of humanity“1 *. Als Datum dieses histo­ rischen Augenblicks gibt Crowleys „Magical Diary“ an „June, An. VIII (1912), O in II“12. So verlockend es wäre, an diesem Punkt mit Crowley und der Weltge­ schichte ein wenig zu verschnaufen, stört den großen Augenblick doch et­ was die Tatsache, daß zwar im Herbst-Band 1912 von „The Equinox" jenes Buch samt Inhaltsangabe angekündigt war, es laut Titelblatt aber erst 1913

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erschien, jedenfalls nach jener Begegnung13. Das ist mysteriös genug, aber nicht das einzige Detail in seiner Historiographie, das Rätsel aufgibt. Jene Lücke in Crowleys Darstellung können die Briefe an Birven auch nur zum Teil ausfüllen. Nach ihnen wäre Reuß nach dem Hinauswurf von 1910 „later on“ — also doch in näherer Zukunft — zurückgekommen als „Grand Master of Germany under Yarker. It was then that he informed me that I had published the secret of the ninth degree of the O.T.O. in plain lan­ guage“, und in einem anderen Brief: „In my conversations with him about the Secret of the O.T.O. I had only seen him once before“. Zum einen wür­ de das nicht mit der früheren Schilderung übereinstimmen, wonach er ja erst durch das Auftreten von Reuß als freimaurerischer Großmeister dazu ge­ bracht worden sei, seine masonische Vergangenheit zu reaktivieren und Ver­ bindung mit Yarker aufzunehmen, zum andern ist es schwer vorstellbar, daß der „Großmeister von Deutschland“ und der „sort of“-Großbeamte von 1910, den Yarker nicht zu verstecken brauchte, nicht in irgendeiner Form in Kontakt geblieben wären, obwohl Crowley „had been very badly impressed by (Reuss)“. Wenn nun die eine oder andere Version gestrichen werden muß, liegt es näher anzunehmen, daß nach dem (zweiten?) Besuch von Reuß die Verbindung nicht ganz abriß — ohne zu mehr als gelegentlichen Kontakten, unterbrochen durch Crowleys Reisen im Jahre 1911, zu führen — und Crowley irgendwie mit dem O.T.O. bekanntgemacht wurde, bevor ihm Reuß im Juni 1912 — einem angesichts der Tagebucheintragung unverdächti­ gen Datum — den IX 0 verlieh, ihn zum O.T.O.-Chef der Britischen Inseln machte, „with all the documents“ betraute und ihn bat, „to re-write the whole system“14. Freilich fehlt auch in der Brief-Version der Ereignisse nicht die BuchEpisode: „I denied all knowledge of the matter even after he had told me in detail the nature of the secret. He simply went to my bookshelves, took down the book and pointed out the passage. He was absolutely correct and I had one of the greatest shocks of my life“15. Die Szene ist zu stilecht, als daß man sie den nicht seltenen Gelegenheiten zurechnen möchte, in denen sich Crowley über sein Publikum lustig macht. Wir werden es wohl bei der „höheren Wahrheit“ der Schilderung belassen und uns mit der Möglichkeit zufriedengeben müssen, daß Reuß vielleicht ein anderes Zitat als Beweis vorbrachte und Crowley im nachhinein das treffen­ dere Beispiel substituierte16. Als Ergebnis all dieser recht okkulten Aktivitäten bleibt jedoch festzuhal­ ten, daß die .Jubiläums-Ausgabe“ vom September 1912 mitteilen konnte, 176

daß durch Stiftungs-Urkunde vom 1. Juni 1912 eine „National-Grossloge des Orientalischen Templer-Ordens für Grossbritannien und Irland“ gegründet worden sei, und Br. Aleister Crowley, 33°, 90°, 96°, X°, als „NationalGrossmeister“ der britischen Sektion des O.T.O. — der M.•. M.-. M. „Mysteria Mystica Maxima“ — samt Regalia vorgestellt wird17. Auch im 8. Band von „The Equinox“ erschienen im Herbst 1912 „Preamble“ und „First Instruction“ einer Verlautbarung des „Order of Oriental Templars“, die in den folgenden Bänden wiederholt wurden. Als Rex Summus Sanctissimus of Ireland, Iona and All the Britains des O.T.O. nahm Crowley den Namen Baphomet an. Die Amtseinführung hat­ te während eines kurzen Besuchs in Berlin stattgefunden, der schon im Jahr zuvor von Ab-ul-Diz — einem weiteren nichtmenschlichen Wesen — Crow­ leys damaliger Gefährtin Mary d’Este Sturgess während einer von Alkohol und Sexualmagie akkompagnierten Trance-Sitzung in einem Züricher Hotel avisiert worden war, nebst der Aufforderung, das „Book Four“ zu schrei­ ben18. Relevanter als jene organisatorischen Fragen — so folgenreich sie auch für den modernen Okkultismus werden sollten — ist in unserem Zusammen­ hang die andere, welche Aufschlüsse und Anregungen Crowley damals von Reuß erhalten konnte. Nach den „Confessions“ wären es kaum mehr als Stichworte gewesen, die ein Aha-Erlebnis auslösten: „I applied myself at once to learn all that he could teach me, finding to my extreme surprise that this was little enough. He fully understood the importance of the matter and he was a man of considerable scientific attainment in many respects: yet he had never made a systematic study of the subject and hat not even applied his knowledge to his purpose, except in rare emergencies“, im Gegensatz zu Crowley, der „practically the whole of (his) spare time to a course of experiments“ ver­ wendete, nachdem er sich vergewissert hatte, „that the new force was in fact capable of accomplishing the theoretically predictable results“1’. In die gleiche Richtung zielt auch Crowleys Bemerkung über die Rituale, die ihm Reuß überlassen hatte: „I found them of the utmost value as to the central secret, but otherwise very inferior. They were dramatically worth­ less, but the prose was unequal, they lacked philosophical unity, their information was incomplete and unsystematic. Their general idea was, ho­ wever, of the right kind; and I was able to take them as a model“20. Birven gegenüber hat er schließlich in eine Parabel gekleidet, wie er spä­ ter sein Verhältnis zu Reuß gesehen wissen wollte: „The Chief of Police of 177

Dumkopsdorf (sic) was a great criminologist. A great treasure had been hid­ den away and the only clue to its whereabouts was in a cypher which he and his experts had completely failed to read. The key to the cipher was accident­ ly found on a burglar when they arrested him for some offense. The burglar had very likely stolen the key, and without doubt it was of no use to him whatever. But the chief did not worry about these aspects of the matter. He had the key. This is the case in my relations with Reuss“21. Dieses Urteil — fast zwei Jahrzehnte nach den Ereignissen formuliert — mag, wenn man die Ausbildung von Crowleys magischem System während dieses Zeitraums zugrundelegt, vielleicht etwas überspitzt, aber nicht ganz unzutreffend sein, es dürfte aber nicht Crowleys Meinung von 1910/1912 spiegeln, wenn er noch am 5. Januar 1915 seinem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Magischen Tagebuch anläßlich einer nicht befriedigenden se­ xualmagischen Operation anvertraute: „I wish the O.H.O. were here to read and comment on this record“22, was er in einer für ihn so wichtigen Frage si­ cher nicht getan hätte, wenn Reuß damals für ihn nur der „illiterate burglar“ der Parabel gewesen wäre. Crowley „saw very little of Reuss“ in jener Zeit; „the principal occasions on which he called were for the purpose of attending (his) lodges with fellow initiates of his abroad“, und doch kannte er ihn „pretty well in a sort of way“. Wir hörten schon, daß er von Reuß „very badly impressed“ war: „But I had no reason to suppose him actually dishonest or ignorant. I thought merely that he was ill-mannered and a somewhat feeble bully“, von dem er sich aber nicht düpieren ließ; Reuß „did try to put one or two over (him), as they say in America, but (he) took no notice at all“. Dennoch: „He was not so bad when once one had called his bluff“, ein Charakterbild, das uns seit den frühen Tagen von Reuß bekannt ist. „Though he was, no doubt, a very stormy petrel from the political point of view, I do not think that this is necessarily altogether against him“, urteilt Crowley, dem das anarchisti­ sche Element in Reuß' Denken und Tun, aber kaum seine wechselnden poli­ tischen Standorte sympathisch sein konnten. „He served his country loyal­ ly, as far as I can make out, in the way of which his talents best fitted him. And in certain respects I don’t think he was fairly treated. He never com­ plained, and took it all as part of the game. I could never make out why he had such a bad reputation in Germany". Und auf eine Bemerkung oder An­ frage in den nicht überlieferten Briefen Birvens repliziert er: „It is not fair to say that Reuss was in the German Secret Service. I can only say that I have good reason for supposing this to be the case, which is very different from

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proof“23. Das ist alles andere als ein Panegyrikus, aber auch kein Pasquill, wobei in der hagiographischen Retrospektive Crowleys das Bild von Reuß sicher nicht zu dessen Gunsten überzeichnet worden ist. Immerhin trug aber Crowley keine Bedenken, sein Mysterienspiel „The Ship“, das 1913 in „The Equinox“ veröffentlicht wurde24, Theodor Reuß zu widmen. Ein Skandal, den in dieser Zeit in Belgien eine Broschüre „L’Eucharistie“ auslöste, spielt nun auch in unser Thema hinein, insofern sie nicht nur eine Stellungnahme von Reuß provozierte, sondern erneut indirekt Licht auf das vieldiskutierte und -berätselte „Geheimnis“ des O.T.O. wirft. Unser Be­ richterstatter ist René Guenon, der uns bereits als Inhaber des 33 ° und 90 ° im Umkreis von Papus begegnet ist, dann 1912 zum Islam übertrat und über seinen Tod im Jahre 1951 hinaus bis heute als esoterischer Schriftsteller und einer der führenden Köpfe der sogenannten „Traditionalisten“ wirken sollte25. Leider wird aus seinen Ausführungen in „L’Erreur Spirite“ — zuerst 1923 erschienen — nicht recht klar, warum es in den Jahren 1912/13 zum Eklat kam, da es nicht zutrifft, daß — wie Guenon meint — jene ’’étude hi­ storique“ 1912 erschien26. Vielmehr war die erste Auflage bereits 1906 im Selbstverlag in Anvers herausgekommen, der eine undatierte im Duodezfor­ mat folgte, wahrscheinlich diejenige, die Guénon im Auge hatte27. Vielleicht lag der Grund darin, daß der Verfasser jetzt als Präsident der „Fédération Spirite Beige“ und des „Bureau international du Spiristisme“ stärker ins Blickfeld einer einschlägig interessierten Öffentlichkeit geriet, vielleicht, daß die Widmung an Emmanuel Vauchez — „ancien collaborateur de Jean Macé à la .Ligue française de l’Enseignement’ “ — und dessen der Broschüre voran­ gestellter Brief Anstoß erregten. Da war es nun Theodor Reuß, der dem Ver­ fasser, dem Chevalier Le Clément de Saint-Marcq28, zu Hilfe eilte mit „ces lignes significatives (nous reproduisons scrupuleusement son jargon): Je vous adresse deux brochures: Oriflammes, dans lesquelles vous trouverez que l’Ordre des Templiers Orientaux a la même connaissance comme on trouve dans la brochure Eucharistie’ ”29. Guénon verweist dann auf jene Pas­ sage in der .Jubiläums-Ausgabe“ der „Oriflamme”, und eine Durchmuste­ rung der Eucharistie-Broschüre ergibt sehr bald, daß sich hier Geistesver­ wandte getroffen hatten. Jenes „privilège précieux” der Priester, „qui leur donne une supériorité réelle, un ascendant considérable sur le reste des humains”, „cet enseigne­ ment secret, cette doctrine occulte, transmise de bouche en bouche, au sein de l’Église, depuis le temps des apôtres”, wird anhand der Bibel, frühchristli­ cher Autoren, der Bhagavad Gita und anderer orientalischer Parallelen de­

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maskiert als kaschiert Sexuelles, „Fleisch“ und „Blut“, von denen Joh. 6,4755 spricht, als das „semi-solide, semi-liquide“ Sperma gedeutet und die Eu­ charistie in den Zusammenhang der „allusions à la spermatophagie sacrée“ gerückt, von denen es in den „allégories de l’ancien Testament“ wimmele30. Wenn sich auch Le Clément de Saint-Marcqs Broschüre mit Andeutungen begnügt und vieles im unklaren läßt, konnte sich Reuß doch in der Haupt­ these bestätigt sehen. Uber weiterreichende Kontakte zwischen ihm und dem belgischen Autor ist nichts bekannt. Es dürften auch wohl nur ober­ flächliche gewesen sein, da der ganz im Theoretischen verharrende Chevalier dem Sexualmagier Reuß — und erst recht seinem neuen Mitstreiter Crowley — schwerlich Neues bieten konnte. Diese Affäre wird auch von Dr. Birven in einem Brief an Gerald Yorke am 12. März 1950 kommentiert und zwar in einer Weise, die Früheres in ei­ nem völlig anderen Licht erscheinen ließe, wenn seine Behauptungen zu er­ härten wären, die aber auch als Meinung eines Insiders interessant genug sind. Birven schreibt über Reuß: „Bien que je ne l’aie pas connu personnelle­ ment, j’ai été en relation avec lui à l’intermédiaire d’un de mes élèves, un nommé Kurtzahn (de Hamburg), et de plus du pasteur Dr. Peithmann (de Westphalie). Lui et moi étions bons amis“, so daß seinen Mitteilungen eini­ ges Gewicht zukommen dürfte. „II entretenait une École des Mystères, où il professait une Magie sexuelle qu’il avait apprise par ses études de la Gnose an­ tique. Peithmann et Reuss avaient échangé leurs systèmes. Selon Peithmann, les grades de l’O.T.O. étaient sans valeur, et je savais déjà auparavant que les degrés 1-3 seuls étaient mis à point par Reuss. Ce n’est qu’après une profana­ tion publique en Belgique qui causa une émeute dans les cercles en question et de même chez les catholiques que Reuss croyait avoir saisi le sens de ce que vous appelez le secret du XI' degré, et il s’empressa d’écrire à l’écrivain belge qui était en correspondance avec moi que c’était là le vrai secret vital de l’O.T.O. * 31. Tout cela s’est passé bien longtemps avant que A(leister) C(rowley) se fût mis à établir le XI' grade. Et il est à retenir qu’avant la publication belge Reuss ne se doutait pas de ce secret selon les dires de Peithmann, qui, à mon avis, était le seul homme en Allemagne qui vît clair. Peithmann avait vécu 25 années en Californie. Il connaissait Guthrie — auteur de: The gâte of heaven — .médecin et philosophe d’une grande renommée. C’est lui proba­ blement qui initia Peithmann. Pour moi il est plus que vraisemblable que A.C. fut inspiré — ou par l’auteur belge (Le Chevalier Le Clément) directe­ ment ou indirectement par Reuss — dans ce qu’il a écrit concernant The Eucharist dans ,Magick‘“32.

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Wenn auch das, was Birven hier über Crowley schreibt, gegenstandslos ist — in seiner Crowley-Biographie fehlen dann auch entsprechende Äuße­ rungen —, verdienen seine anderen Hinweise um so größere Aufmerksam­ keit. Zu E.T. Kurtzahn33 nur so viel, daß er erst in den 20er Jahren mit okkul­ tistischen Schriften hervorgetreten ist: So publizierte er 1920 ein Tarot-Buch, 1924 „Die Runen als Heilszeichen und Schicksalslose“, und nachdem er sich 1920 über „Die Rosenkreuzer“ ausgelassen hatte, äußerte er sich 1925 unter dem Initiatennamen „ + E. Tristan K. auch zu dem uns interessierenden Thema in seinem sexualmagisch inspirierten Buch „Die Gnostiker“ — frei­ lich ohne auf Reuß einzugehen34. Wichtiger für uns ist Pastor Dr.phil. E.Christian H.Peithmann, der am 3. Mai 1868 in Südhemmern, Krs. Minden, geboren worden war. Von 18871890 studierte er Theologie, legte dann die beiden theologischen Examen ab und diente — obwohl militärdienstuntauglich — 1892/93 als Einjähriger, worauf ihm die Wahlfähigkeit für eine Pfarrstelle erteilt wurde. Der Kandi­ dat Peithmann ging 1894 in die USA33, wo er in Webster/South Dakota Pfar­ rer einer lutherischen Gemeinde wurde. 1898 promovierte Ernest Christian Peithman an der University of Minnesota mit einer Dissertation „Investigations on Kant’s Concept of Experience“ zum Ph.D.36. 1904 und 1909 hielt er sich besuchsweise in Südhemmern auf, kam 1914 anläßlich der Goldenen Hochzeit seiner Eltern erneut nach Deutschland, wo er vom Krieg über­ rascht wurde, ein Bändchen Kriegsgedichte „Das deutsche Schwert“ publi­ zierte und erst 1916 über Holland in die USA zurückkehren konnte. Nach dem Krieg wurde er — nicht zuletzt wegen jener Kriegsgedichte — aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen und lebte seit 1920 wieder in Südhemmern, wo er nicht nur das Backhaus des elterlichen Hofes zum „Sanatorium“ um­ funktionierte — seine Frau war Chiropraktikerin — und durch Freikörper­ kultur Aufsehen erregte, sondern auch jene „Gnostische Mysterienschule“ und eine Altgnostische Kirche ins Leben rief, was ihn so suspekt machte, daß er im März 1933 erneut ausgewiesen wurde und wieder in die USA ging, wo er am 4. Juli 1943 starb37. Peithmann hatte 1903/04 in der 4. Serie der „Biographia antiqua“ des uns bekannten Baumann-Verlages die „Gnostischen Väter“ in einer Reihe von populären Einzeldarstellungen präsentiert und 1904 im gleichen Verlag das 1. Heft eines „Gnostischen Katechismus“38 publiziert. Seine Auffassung ei­ ner „metaphysischen Bibelauslegung“ hatte er bereits 1903 „den Herren Professoren der Theologie, den Geistlichen und gebildeten Laien zur gefälli­

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gen Prüfung vorgelegt“, die darin gipfelte, daß, „wie es zwei durchaus ver­ schiedene Menschenklassen gibt, die aus ganz entgegengesetztem Material gemacht sind, ... sich ein zweifacher Sinn in den Schriften der Propheten und Evangelisten und Apostel (finde)“, der nicht von dem Verstand, sondern „der Seele oder dem .höheren Erkenntnisvermögen“1 erfaßt werden könne39, eine Broschüre, die nur „einige ungeordnete Gedanken über einen höheren Sinn der Bibel“ enthalte, wie er am 24. Mai 1923 auf einem Melde­ blockformular an Gustav Meyrink schrieb, der sich auf seiner lebenslangen Suche nach okkulten Gruppen auch um die Mitgliedschaft in der „Altgnosti­ schen Kirche von Eleusis“ bemühte40. Relevanter in unserem Zusammen­ hang ist eine Passage aus einem Brief vom 6. Juni 1923, in dem er Meyrink über Aufnahmebedingungen und den altgnostischen Studiengang informier­ te: „Die wenigen Schüler, die genügend Ernst und Ausdauer zeigen, werden ... zum esoterischen Kursus zugelassen und mit der Technik der gnostischen Umwandlung durch die Erlösung des Samens aus der Knechtschaft des Flei­ sches bekannt gemacht“41. Nur er scheint diese Technik perfekt beherrscht zu haben. Nach der ver­ klausulierten „Aufklärung“, die ein Neffe Peithmanns von seiner eingeweihten Mutter erhielt, zu urteilen, dürfte es sich bei diesem „gnostischen Ge­ schlechtsverkehr“ um eine Form von Karezza nebst spermatologischem Überbau gehandelt haben. Das wird gestützt durch die zahlreichen Unter­ streichungen und (englischen) Randbemerkungen Peithmanns in seinem Exemplar von R. Swinburne Clymer „Higher Race Development“, wo er etwa notiert, daß „the seminal Elixir should be used for higher purposes, for r ejuvenation and regeneration“: „Turn the stream of the Jordan River away from the Dead Sea and make it irrigate the garden; stem the tide of the River of Sex, turn it backward and upward“42. Wenn, dann dürften es solche Ideen und „Techniken“ gewesen sein, die Peithmann von Guthrie übernommen haben könnte, ohne daß etwas über eine Verbindung beider bekannt wäre. Reverend Kenneth Sylvan Launfal Guthrie (* 1871), A.M. (Harvard and Sewanee), Ph.D. (Columbia and Tulane), M.D. (Pennsylvania), D.D. (India­ napolis), der neben seiner Tätigkeit als Pfarrer auch als Professor in Exten­ sion, University of the South, Sewanee, fungierte, war ein überaus fruchtba­ rer Schriftsteller, der über Theologie, Religionswissenschaft, Altphilologie, Philosophie und Medizin eine kleine Bibliothek zusammenschrieb, in der auch nicht ein Titel wie „The Mithraic Mysteries restored and modernized

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... With Experiments for Every Day of the Year“43 fehlt, der seine Neigung zu esoterischer Praxis demonstriert. Im Gegensatz zu anderen Schriften — von denen einige auch in deutsche Bibliotheken gelangt sind —, ist das von Birven erwähnte Bändchen „Generation: The Gate of Heaven“ selbst in den USA nach dem National Union Catalog nur noch in zwei der großen Bi­ bliotheken vorhanden. Diese Schrift von 163 Seiten wurde fortgesetzt mit „Regeneration Applied“44, ein Buch, das er „for financial and personal rea­ sons ... with his own hands" gesetzt hatte. In jener Schrift suchte er, gestützt auf Wissenschaft, Bibel und die Erfah­ rungen der Geschichte, „the physical basis of immortality“ zu skizzieren. Wenn man von Details — zu denen auch „astrologische“ Überlegungen ge­ hören — absieht, läßt sich die schwerfällige Argumentation auf die Kernsätze reduzieren, „that the gone within the vesiculae seminales is constantly un­ dergoing transmutation of some kind... When by voluntary or other proc­ esses the subject has prevented the ekbole of the germ, it transmutes into vi­ tal force“; gone — „the physical secretion“ — verwandelt sich in zoe — „the vital energy“, ein Vorgang, der der Selbsterfahrung zugänglich ist: Wer in den Morgenstunden, in denen sich ungewollt Erektionen einstellen, wach bleibe, bemerke „a positive stream of transmuted vitality ascending (as the feelings would suggest) from the region of the generative organs upwards along the chest, across the throat longitudinally through the cavity of the mouth up to the brain ... This ... does not occur unless the subject has re­ mained conscious since midnight“. Wer sich an das Aufsteigen der Kundalini erinnert fühlt, wird jedoch kei­ ne Anhaltspunkte für eine Kenntnis dieser Vorstellung bei Guthrie finden, dessen beschriebene Erfahrung ebenso autochthon scheint wie die „male continence“-Praktik seines Amtsbruders Noyes, die man — ohne Beweise — mit indischen Sexualpraktiken in Zusammenhang bringen wollte. „It will be the glory of the twentieth century“, verheißt Guthrie seinen Lesern, „that men will learn to direct their vitality as intelligently as they feed and train their muscles and their digestive and secretive function. Then will it be possi­ ble for men to economize their vitality, and by control of their lower selves by the higher self, to use what formerly ministered to their self-gratification for the higher purposes of attaining the highest possible state of physical and psychical health, that they may live wholly in accord with all natural law, which is but the revealed portion of the blessed Will of the Father in Heav­ en“. Und so zieht Guthrie dann die Nutzanwendung: „We must, in our age, become converted, and become as little children. This can only be in respect 183

to our sexual organs. On this condition the kingdom of heaven may be en­ tered“, um später die Frage: „Why Christianity was Esoteric?“ so zu beant­ worten: „If our analysis of the content of baptism, the doctrine of sexual re­ generation, was correct, then we have a doctrine which would require very careful handling, and would naturally suggest such secrecy in the teaching of its tenets“43. Diejenigen aber, „who are practising Regeneration for selfish purposes, such as physical health, personal magnetism, mental and magical power, ,self development1, or the like“, finden in „Regeneration Applied“ viele Anre­ gungen. „But for those who really are desirous of making divine Attain­ ment“, ist es mit jenen Nachtwachen allein nicht getan, „there is one thing more needed, Consecration“. Wer diesen Weg allein gehen wolle, dürfe sich nicht wundern, wenn das Unternehmen scheitere. Den anderen wird „personal guidance“ in Aussicht gestellt „by addressing the General Secre­ tary of the Brotherhood of the Eternal Covenant, P.O. Box 9, Medford, Mass., U.S.A. The various degrees are not to be purchased for money, but depend entirely on firmness“46. Es dürfte nach solchen Kostproben einleuchten, daß die Ideen von Guth­ rie bei Neo-Gnostikern wie Peithmann auf fruchtbaren Boden fallen konn­ ten. Die gnostischen Schriften Peithmanns der Jahre 1903/04 — der Zeit, in der Reuß Kellnersche Anregungen zu realisieren suchte — verraten freilich noch nichts von jenem durchaus möglichen Einfluß, so daß sich Reuß allen­ falls — wie bei Le Clement de Saint-Marcq — im nachhinein bestätigt fühlen konnte. Sollte der von Birven behauptete Kontakt wesentlich später anzuset­ zen sein, würde seinen Ausführungen überhaupt der Boden entzogen. Wir hätten aber mit Guthrie und Peithmann in jedem Fall weitere Spielarten der damaligen Sexual-Esoterik kennengelernt, deren Breite schon die frühere — gleich noch zu ergänzende — Literatur demonstrierte, und die sich eben nicht allein auf Biographisches bei Crowley oder Reuß reduzieren läßt47. Nur muß man sich bei ihnen immer wieder vor Augen halten, daß der 1912 schließlich preisgegebene „Schlüssel“ des O.T.O. nicht Zugang zu erbauli­ cher Esoterik öffnen sollte, sondern für Sexual-Magie — d.h. Praxis — be­ stimmt war, und Crowley ihn ja auch in jeder auto-, hetero- und homose­ xuellen Weise benutzte, wie sein Magical Diary minuziös belegt. Das Auftreten dieser für die abendländische Tradition schockierenden — auch als Magie schockierenden — Praktiken fällt in die gleiche Zeit jenes be­ kannten Gesprächs zwischen Freud und Jung in Wien 1910, dessen Inhalt sich dagegen recht honorabel ausnimmt. Freud ersuchte damals Jung drin­

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gend, aus seiner „Sexualtheorie“ ein „unerschütterliches Bollwerk“ — nach anderer Version ein „Bollwerk der Vernunft“ — zu machen: „Etwas erstaunt fragte ich — Jung — ihn: ,Ein Bollwerk — wogegen? * Worauf er antwortete: ,Gegen die schwarze Schlammflut —‘ hier zögerte er einen Moment, um bei­ zufügen: ,des Okkultismus * **48. Die Szene hat fast etwas Unwirkliches: Da soll gegen den Okkultismus — unter dem Freud, wie sich mit Hilfe des Registers der Gesammelten Werke leicht überprüfen läßt, neben außereuropäischer Magie allenfalls Parapsy­ chologie, Theosophie und Verwandtes verstand49 — eine Sexualtheorie mo­ bilisiert werden, während unbemerkt, und doch unter den Augen der beiden Zeitdiagnostiker, in Mitteleuropa und England handfeste Sexual-Magie do­ ziert und praktiziert wurde. Wenn wir nun von den Höhen, in denen sich die Geistesgeschichte so wohl fühlt, in die Niederungen des okkultistischen Alltags hinabsteigen, se­ hen wir, daß die Arbeit im Schottischen, Memphis- & Misraim-Ritus und O.T.O. weiterging, und nicht nur auf dem Papier des Ordensanzeigers „Oriflamme“, wenn auch gegenüber Crowleys Behauptung von fast täglichen In­ itiationszeremonien ebenso Zurückhaltung angebracht ist wie gegenüber den von Reuß genannten Mitgliederzahlen. In der .Jubiläums-Ausgabe“ von 1912 schrieb er, daß der Orden „durch Aufnahme und Angliederung beste­ hender Organisationen ... die stattliche Zahl von ungefähr 1000 Mitgliedern erreicht“ hatte, die durch die Sezessionen von 1904 und 1905 in Berlin und Hamburg und dann durch den 1909/10 erfolgten Austritt der „sogenannten Eberhardt-Logen“ auf „zirka 500 Mitglieder in Deutschland, Oestreich und der Schweiz“ schrumpfte50, wobei die Rede von „unserem Orden“, die eine einheitliche Organisation seit Anfang des Jahrhunderts suggeriert, unter­ schlägt, daß z.B. die zahlenmäßig starke Gruppe der Eberhardt-Freimaurer niemals etwas mit dem O.T.O. zu tun hatte, daß er aber auch nur einen Bruchteil von Reuß’ Hausmacht ausgemacht haben kann — nicht nur in den Jahren des Okkulten Inneren Kreises —, wobei darüber hinaus offenbleiben muß, wer von den Gefolgsleuten nur an einer esoterischen Morgenlandfahrt teilnehmen wollte und wer bereit war, auch jenen „Schlüssel“ zu gebrau­ chen, von dem die ,Jubiläums-Ausgabe“ gesprochen hatte. Das ist auch im Auge zu behalten, wenn Reuß in der Auseinandersetzung mit Eberhardt be­ hauptete, „daß der Orden anfangs 1914 über 2400 Mitglieder in allen Län­ dern der Erde verteilt, zählte“51. Selbst wenn man den frischen Wind in Rechnung stellte, der mit Crowleys Auftritt spürbar wird, dürfte der weit­ aus größte Teil dieses erstaunlichen Zuwachses des Ordens auf das Konto

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von Gruppen gehen, die Crowley oder andere einbrachten, vielleicht aus der Konkursmasse der Körperschaften, deren Traditionen der O.T.O. fortzuset­ zen beanspruchte, wie wir gleich sehen werden. Kontrollierbar ist jene Zahl sowieso nicht; überprüfbar sind dagegen zwei Feststellungen, die wenig mit der Papierform des Ordens harmonieren wollen: Einmal nämlich siechte die „Oriflamme“ in dem gegenüber den Anfangsjahren erheblich reduzierten Umfang weiter dahin, und — was schwerer wiegt — auch ab 1912, als sie sich als „Organ des Orientalischen Templer-Ordens“ ausgab, findet sich außer den großen Männern des O.T.O. und großen programmatischen Worten nicht eine einzige Zeile, die Rückschlüsse auf konkrete O.T.O.-Aktivitäten erlaubte. Auch über die tatsächlichen Verhältnisse in England läßt sich keine rech­ te Klarheit gewinnen, nicht zuletzt, weil hier ebenso Winkelmaurerei und O.T.O. in einer Weise interferieren, die keine säuberliche Trennung zuläßt32. Unklar ist, wer der Träger jenes „neuerbauten Ordens-Heimes “ ist, das man in der „Oriflamme“ vom Dezember 1910 neben dem Ordensmeister und „Gründer“ Reuß bewundern kann, ebenso, ob es mit den „Homes“ in Ver­ bindung gebracht werden darf, die nach der „Constitution of the Ancient Order of Oriental Templars“ Mitgliedern nach „at least ten years good standing“ für jeweils „six months free residence“ zur Verfügung stehen sollten33. Unklar bleibt auch, wie weit sich die anderen Pläne konkretisier­ ten, nämlich eine „Literary and Masonic Association connected with the O.T.O., to be known as ,The Esoteric Rosicrucians' “ und ein „Department ... for the purpose of teaching Hermetic Science, to be known as the .Her­ metic Science College' “ zu etablieren. Zu letzterem Punkt liegt wenigstens ein Prospekt der „British Section" jenes „ .Hermetic Science College' ..., established under the auspices of the Order of the Oriental Templars", vor. In der Präambel heißt es, daß in den letzten 25 Jahren im Zuge des Trends zum Studium der „hermetic and hidden laws of nature" zahllose Gesell­ schaften, Vereinigungen, Orden, Gruppen etc. etc. gegründet worden seien, und wenn sie auch alle Gutes täten, indem sie den Suchenden auf die eine hermetische Wahrheit vorbereiteten, gebe es doch „but ONE ancient organi­ zation of Mystics which shows to the student a Royal Road to discover the Lost Mysteries of Antiquity and to the Unveiling of the One Hermetic Truth. This organization is known at the present times as the .ANCIENT ORDER OF ORIENTAL TEMPLARS'. It is a modern School of Magi". Mit einer Spitze gegen die Freimaurerei, die den „Schlüssel“ zu den gehei­ 186

men Überlieferungen den „crowds who have been initiated, advanced and raised“ in die Hände gespielt habe, wird allen, die „unselfishly desire, study and work“ in Aussicht gestellt: „The Symbols of Ancient Masonry, the Sa­ cred Arts of the Ancient Chemi (Egyptians), Homers Golden Chain, are but different aspects of the One Great Mystery. They represent but different de­ grees of the initiation to the neophyte. By the Right Use of the ,Key‘, alone, the .Master Word * can be found“. Dieser „very ancient order of sages“, der unter verschiedenen Namen schon „in the most remote and prehistorical times“ — ja, wie ein Bruder be­ haupte, „ever since the first day of creation“ — existiere, hat sich nach der „First Instruction“ nicht nur „the amelioration and spiritual elevation of mankind“ zum Ziel gesetzt, „it has caused social and political revolutions and proved to be the rock of salvation in times of danger and misfortune. It has always upheld the banner of freedom against tyranny in whatever shape this appeared“. Jemand, der an dieser Weltmission teilhaben will, kann durch keinen an­ deren eingeführt werden, „unless he has the power to enter it himself by vir­ tue of his own interior illumination“. Als Mitglied dieser „Society of the Children of Light“ werde er „instructed directly by Divine Wisdom, the Ce­ lestial Bride“: „Every sage that ever existed in the world has graduated at our school ... Our place of meeting is the Temple of the Holy Spirit pervading the universe“. In einer weniger hyperbolischen Sprache wirbt der Prospekt dann für die Ziele auf irdischem Plan: „One of the most principal branches of the Sacred Hermetic Arts and Sciences was the Art of Healing. In ancient times the mysteries of this magic art were inseparable from those of religion and phi­ losophy and were preserved .hermetically sealed * in the adyta of the temple. The Ord’er is therefore intimately connected with the HERMETIC SCI­ ENCE COLLEGE“, dessen Lehrplan — auf drei Klassen verteilt — tabella­ risch dargeboten wird: Anfänger sollten mit der elementaren Anatomie, Physiologie und Philosophie vertraut gemacht werden; in der „.Students * Class“ folgte die spezielle Anatomie und Physiologie bis hin zu Themen wie „Prana. Od. Psychic Force“ und „Magnetic Healing“; die „.Initiates * Class“ sollte sich mit „Nature’s Finer Forces“, „Mystic Anatomy“, „Her­ metic Initiation“ oder „Practical Hermetic Science“ befassen. Zu den nicht tiefen Spuren, die dieses Unternehmen in der Welt hinterlas­ sen hat, dürften die 5 Seiten eines Aufsatzes über „Mystic Anatomy“ gehö­ ren, die Merlin-Reuß in der „Oriflamme“ vom Juli 1913 veröffentlichte, 187

nicht ohne auf seinen alten „Pranatherapie“-Aufsatz hinzuweisen54, und sei­ ne Visitenkarten, auf denen er sich bald darauf nicht nur als Honorar-Profes­ sor, sondern auch als „ehern. Direktor der Hochschule für Hermetische Wis­ senschaften in London“ vorstellte. So ausgewiesen, konnte sich Reuß nun auch mit Haeckel anlegen: „Ange­ sichts der intensiven Propaganda, die von Anhängern des Haeckelschen Mo­ nismus in Freimaurerkreisen gemacht werden, wurde ich aus dem Kreise un­ serer Ordensmitglieder gebeten, zum Monismus, wie er von Haeckel in sei­ nem Werk „Die Welträtsel“ definiert wird, Stellung zu nehmen, und den von unserem Orden vertretenen Dualismus zu präzisieren. Dieser Anregung habe ich Folge geleistet in einem kleinen Werke, das sich im Drucke befin­ det“, aber offenbar nicht erschienen ist, so daß wir auf den „Auszug“ von knapp einer Seite in der „Oriflamme“ angewiesen sind55. Seinen Dualismus bringt Reuß auf den „Fundamentalsatz“: „Gott und Welt... sind ein allumfassendes, unermeßliches Reich ..., bestehend aus der bewußten Ur-Energie (oder Schöpferkraft), der positiven Charaktereigen­ schaft des Universums, und der unbewußten Ur-Substanz (oder Weltei), der negativen Charaktereigenschaft des Universums, welche durch Kontakt in sich (Urzeugung, Coition), neue Welten ... schaffen“. Weiter wollte er von der „Wesensgleichheit (Gottähnlichkeit) der Ge­ schöpfe“ handeln, die darin bestehe, „daß die Ur-Schöpferkraft... auch den Geschöpfen (innewohne)“, ferner über „Geist, Seele und Materie“: „Wenn man die wirkliche, restlose Lösung der Welträstel zu finden wünscht, so muß man die grundfalsche Art der Auffassung des Begriffs .Geist' in seiner Gegenüberstellung zur .Materie * außer Acht lassen. Die .Seele' ist ein geisti­ ges Ding (spirituelles Agens) und existierte von Ur-Beginn als Ur-Gefühl im Ur-Zeugungsakte ... Ohne Ur-Gefühl (Ur-Seele) gäbe es keinen UrZeugungsakt, keine geschaffene Welt“. Solche Ur-Einsichten werden uns noch öfter begegnen, so daß wir es hier bei dem Referat des Referats belassen sollten. Aufschlußreich für die ebenso prätentiösen wie luftigen Vorstellungen im O.T.O. jener Zeit ist auch das von Crowley publizierte „Manifesto of the ,M. •. M. •. M. •.'", in dem er erläutert, daß „Mysteria Mystica Maxima“ der Name der britischen Sektion des O.T.O. sei und der „eine Körperschaft von Eingeweihten, in deren Händen sich die Weisheit und Erkenntnis der folgen­ den Organisationen konzentriere: 1. Die Gnostische Katholische Kirche. 2. Der Orden der Ritter vom Heiligen Geist.

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3. Der Illuminaten-Orden. 4. Der Tempel-Orden (Tempelritter). 5. Der Johanniter-Orden. 6. Der Malteserritter-Orden. 7. Der Orden der Ritter vom Heiligen Grabe. 8. Die Geheime Kirche vom Heiligen Graal. 9. Der Rosenkreuzer-Orden. 10. Der heilige Orden vom Rosigen Kreuz von Heredom. 11. Der Orden vom Heiligen Gewölbe von Enoch. 12. Der Alte und Primitive Ritus der Maurerei (33 Grade). 13. Der Ritus von Memphis (97 Grade). 14. Der Ritus von Misraim (90 Grade). 15. Der Alte und Angenommene Schottische Ritus der Maurerei (33 Grade). 16. Der Swedenborg-Ritus der Maurerei. 17. Der Martinisten-Orden. 18. Der Sat Bhai-Orden. 19. Die hermetische Brüderschaft des Lichtes. 20. Der Hermetische Orden der Goldenen Dämmerung, und mehrere andere Orden von größerer und kleinerer Bedeutung“. Reuß hat diese Ahnengalerie 1914 in der „Oriflamme“ nachgedruckt56. Auf profanem Gebiet war Reuß weiter als Korrespondent tätig, während Crowley 1913 auch schon einmal als Manager von „The Ragged Rag-Time Girls“ in Moskau sein Geld verdienen mußte57. Leider sind uns aus jenen Jahren keine Artikel von Reuß bekannt geworden. Wir wissen andererseits von ihm selbst58, daß er damals zum Lokal-Vorstand des Londoner „Deut­ schen Wehrvereins“ avancierte, was angesichts der Reserveoffiziers-Mentali ­ tät jener Zeit und der Ausrichtung des Wehrvereins nahelegt, daß er die Tat­ sache, daß er niemals gedient hatte, durch stramm-nationale Gesinnung kompensierte, womit spätere Äußerungen übereinstimmen. Uber diesen am 28. Januar 1912 als Heeres-Lobby von dem Generalmajor a.D. August Keim gegründeten Verein erfahren wir aus Philipp Stauffs „Deutschem Wehrbuch“59, daß er laut Satzung „die Stärkung des vaterländi­ schen Bewußtseins, sowie die Erhaltung eines mannhaften Geistes im deut­ schen Volke (erstrebte). Besonders (trat) er dafür ein, die deutsche Wehr­ macht innerlich wie zahlenmäßig so stark zu machen, daß sie unbedingt im­ stande (sei), den Schutz des Reiches und dessen Machtstellung in der Welt zu verbürgen“. Stauff — Spezialist für „Runenhäuser“, der im nächsten Jahr sei­ nen „Semi-Gotha“ herausgeben wird — macht im Sinne dieser Zielsetzun­ 189

gen eine Rechnung auf, derzufolge 100 000 taugliche Wehrpflichtige nicht ausgebildet wurden, woraus neben der wehrpolitischen Gefahr die andere re­ sultiere, daß die jungen Leute ohne die „Schulung" durch den Heeresdienst leichter der „Verhetzung gegen Staat und Volk“ erliegen könnten, und dazu komme „nicht selten auch ein schwerer sittlicher Schaden, weil die Anstren­ gung der Militärdienstzeit dem jungen Manne über eine Periode seiner Na­ turentwicklung (hinweghelfe), die nicht ohne Gefahren (sei)“. War das im Hinblick auf die breiten Schichten formuliert, so hatte der Generalmajor die „obersten Schichten“ im Auge, denen es angesichts der Einstellung, daß es „nicht vornehm (galt), lebhaft vaterländisch zu empfinden“, klarzumachen gelte, „daß der vornehmste Idealismus dies (sei): ein guter deutscher Patriot zu sein“. Anzukämpfen sei gegen „übertriebenen Materialismus“ wie die „Folgen einseitiger Schöngeisterei“, nicht das Geistige allein sei das Ent­ scheidende, sondern dazu gehöre auch, „nach dem schwarzen Metall, dem Eisen und Stahl zu fragen“60. Zwei Jahre darauf war diese Frage auch für den Ausländskorrespondenten Reuß nicht nur eine rhetorische. Während sich die politischen Wetterwolken zusammenzuziehen began­ nen, war Crowley seit Ende 1913 dabei, mit seinem magischen Adlatus Vic­ tor Neuburg „the magical method of the O.T.O.“ zu testen61, oder etwas weniger verklausuliert: mittels (homo-)sexueller Zeremonialmagie die Göt­ ter Merkur und Jupiter anzurufen — mit mäßigem pekuniärem Erfolg. Reuß dagegen hatte in jenen Monaten Höheres im Sinn, ging es für ihn doch um nichts Geringeres, als das „Grals-Geheimnis“ zu enthüllen und ge­ gen Mißdeutungen zu schützen. Anlaß war eine von dem Bildhauer Richard Guhr62 im Dezember 1913 „privatim versendete“ kleine Schrift „Das Grals­ mysterium oder der esoterische Schlüssel zum Parsifal“, die als „Angelpunkt der Handlung ... (die) Wiedergewinnung des heiligen Speeres, ... das Sym­ bol der geschlechtlichen Askese“ erkennen wollte, und unter „Anwendung des esoterischen Schlüssels“ zu der „Wahrheit“ gekommen war, „durch ge­ schlechtliche Enthaltsamkeit ... (vermöge) der den Trieb beherrschende Mensch die erotischen Kräfte seines Leibes umzuwandeln in Heilkräfte, wel­ che demjenigen, der nicht die Kraft zur Askese besitzt, durch Uebertragung Gesundheit bringen können“63. Zwar zählte Guhr als „Schüler der mystisch hochbegabten Frau Valerie Gyigyi in Berlin, deren Meister wiederum Fra Merlin war, ... tatsächlich zu den Wissenden und Eingeweihten“, aber da er mit jener Interpretation „sein .Wissen' in falsche Bahnen (gelenkt hatte)“, mußten sich „die Wege der Ein­ geweihten und Wissenden von denen des Professors Guhr (trennen)“64.

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War nun schon die Gefahr, daß die Propaganda der „Geschlechts-Aske­ ten“ zu Geburtenrückgang führen könne, Grund genug, gegen Guhr zu pro­ testieren und für die „mannhafte und mannbare Entwicklung des deutschen Volkes“ einzutreten (S. 6, 9), wieviel mehr die Verfälschung der „neuen Heilsbotschaft der Sexual-Religion“, die sich im „Lohengrin“ ankündigte und im „Parsifal“ ihre Krönung erfuhr: „Wagner ist nicht nur der größte Held, sondern auch der größte Bekenner und Prophet der Sexual-Religion der Zukunft, welche auf der obligatorischen rituellen Vollziehung des Sexual-Aktes basiert“ (S. 11). Und wer wäre als Exeget kompetenter gewesen als Ur-Uter-Reuß, der „in seiner Jugend den großen Vorzug genossen, den unsterblichen Dichter-Komponisten ... persönlich gekannt, bei ihm in der Villa Wahnfried des öfteren als Gast verkehrt zu haben, und bei allen Proben und Aufführungen des ,Parsifal' persönlich zugegen gewesen zu sein“65 und „mit Mitarbeitern Wagners lange Gespräche über Parsifal und der, demsel­ ben unterliegenden .mystischen Idee *, geführt zu haben“? (S. 10). Auch für Reuß steht die „Wiedergewinnung des Speeres“ im Mittel­ punkt, dessen wahre Deutung für ihn nach einer langen Beweisführung — für die er u.a. auch wieder Le Clement de Saint-Marcq zu Hilfe ruft — in den Schlußworten des 3. Aktes liegt, „als Parsifal ,in höchster Ent­ zückung' auf den ,emporgehaltenen (aufgerichteten) Speer *, zu dessen .Spitze aufschauend' in Begeisterung singt: ,Oh, welchen Wunders höchstes Glück!' ... In diesen Worten liegt verborgen das höchste, hehrste, heiligste .Symbol der Sexual-Magie'! Hier fängt eben eine .Geheimlehre' an, die aus­ schließlich für .Eingeweihte * ist“ (S. 22), die er dann auch durch eine„Warnung an Alle/Beschränkte, Kleinliche oder Boshafte, Große und Kleine Geister!“, dieses Grals-Geheimnis nicht „buchstäblich“, sondern „symbolisch, auf rein geistige Vorgänge sich beziehend“ aufzufassen, abzusichern sucht (S. 23). Wir könnten es mit solchen Kostproben bewenden lassen, wenn dieser simplen wie drastischen „Parsifal“-Interpretation nicht überraschenderweise eine „Nutzanwendung“ von etwa gleichem Umfang angehängt wäre, in der Reuß — über die Kernsätze der .Jubiläums-Ausgabe“ hinausgehend — den „Grundriß des neuen O.T.O.-Tempels“ skizziert und „Bausteine“ hierfür in Gestalt von Zitaten und einer Zusammenstellung einschlägiger Literatur vorlegt: Die Misere der gegenwärtigen Zivilisation entspringt für Reuß aus deren Wurzel, dem „Christentum der Kirchenväter“ und dessen „Grundlehre“, dem Sündenfall, aus dem die „christliche Auffassung des Begriffes der * .Scham “ samt der Verachtung der „Schamteile“ und ihres Gebrauchs abge-

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leitet wurde: „Die ,Erlösung“, die Wagner dichterisch ersehnte“, das „neue Christentum“, kann dann nur „ein Christentum sein, das den Menschen die ,Erlösung von der Sünde“ — die Befreiung von der .Erbsünde“ — bringen muß“. Seine Ausgangsthese — für die ihm die Bibel wie die „heiligen Schriften anderer Religions-Systeme“ den Beweis liefern — ist, „daß alle Religio­ nen, die christliche mit inbegriffen, eine sexuelle Basis haben. Damit wollen wir demonstrieren, daß wir nicht eine neue Religion zu gründen be­ absichtigen, sondern daß wir den Schutt, den das Pseudo-Christentum auf die alte Weltreligion gehäuft hat, wegräumen wollen, damit die alte wahre Religion wieder zu ihrem Recht kommt“ (S. 27). So hat sich die sexuelle Basis im Christentum etwa im „Marien-Kultus“ erhalten, wozu er auf sein Buch „Lingam-Yoni“ verweist; „jeder Turm einer Kirche ist ein Symbol des männlichen Organes, jedes Schiff einer Kirche ist ein Symbol des weiblichen Organes“ — Jennings in nuce. Und aus jüdischen und indischen heiligen Schriften sei ersichtlich, daß die Zeugungs-Organe als „göttliche Attribute“, als „irdische Organe der dem Menschen innewohnen­ den Göttlichkeit“, als „ .greifbare Zeugen der unsichtbaren Gotteskraft“ ver­ ehrt wurden und werden“. Auf dieser „wiederhergestellten alten Auffas­ sung“ will Reuß seinen neuen Tempelbau errichten, „eingedenk des Aus­ spruchs Manus: ,Nur der, welcher die hehre Lehre von der Heiligkeit der Gottes-Organe verstanden hat, ist wahrhaft frei und von allen Sünden erlöst!““. Reuß bleibt nicht bei der religiösen Renaissance stehen: „Eine Gemein­ schaft von (geschlechtlich) freien Menschen, die ohne (Sexual-)Sünde sind, wünschen wir zu konstituieren! Wir wünschen Menschen zu schaffen, die sich ihrer Geschlechtsteile nicht zu schämen haben!“ (S. 28f.). Dieses Unter­ nehmen — die Erschaffung des damals so oft berufenen „Neuen Menschen“ — muß natürlich angesichts der bestehenden Verhältnisse auf „große Schwierigkeiten“ stoßen, und „im Großen kann der Versuch erst endgiltig siegreich sein, wenn der Nachwuchs schon von allerfrühester Ju­ gend an in den Grundsätzen der neuen Sittlichkeit auferzogen sein wird“: Aufgabe der Eltern ist es, bei der ersten Regung der Sexualität den Kindern die „Funktionen der Geschlechtsorgane ... als .heilige Handlungen“ (zu er­ klären)“. Diese Lehren werden dann „in den Schulen von den Aerzten und Aerztinnen, die an Stelle der jetzigen Religionslehrer priesterliches Lehramt ... ausüben, der heranreifenden Jugend wissenschaftlich begründet und ver­ tieft werden als ,Diesseits-Lehre“. Auf dem von den Leiber-Aerzten (priester-

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liehe Mediziner) gelegten festen Grunde wird dann erst von den SeelenAerzten (geistlichen Priestern) die Jenseits-Lehre“ aufgebaut“ (S. 29). Eine solche Jugend wird nicht mehr mit „Religions-Märchen“ vollge­ stopft, sondern lernt, daß der „Akt“ eine „irdische Wiederholung des göttli­ chen Ur-Schöpfungsaktes ist, in dem sich der Gott in uns offenbart, und durch dessen Ausübung wir uns mit Gott immer wieder von Neuem verei­ nen“. Ist der junge Mensch reif geworden, „dann wird er im Tempel, unter Leitung und Weisung der .Matrona“ (Oberpriesterin) in ritueller Weise und in der Form einer .sakralen Handlung“ den ersten Coitus vollziehen“, und „solange Jungfrau und Jüngling außerhalb des gesetzlich vorgeschriebenen Ehestandes leben, sind sie gebunden, alle Befriedigung des Triebes im Tempel zu suchen“ (S. 30). Das mag alles etwas schrullig klingen, erspart aber dem Leser wenigstens den modisch-pädagogischen Jargon späterer Reformer. Auch die „Vollziehung der Ehe ist eine sakramentale Handlung“, aber die Gatten sind „nicht auf Lebenszeit gebunden“, sondern können — ohne ge­ sellschaftliche Konsequenzen — „vom Bunde zurücktreten“. Die Kinder „werden in einem solchen Fall von Staatswegen erzogen“, die Kosten zum Teil durch eine Steuer gedeckt, die diejenigen zahlen müssen, die unverheira­ tet geblieben sind. „Männer und Frauen, welche aus irgend einem Grunde sich nicht zur Fortpflanzung der Rasse eignen, dürfen von Staatswegen keine Ehe einge­ hen“, wobei er zustimmend auf ein Gesetz des US-Bundesstaates Wisconsin hinweist, das Ehetauglichkeitsuntersuchungen vorschreibe. Zustimmung findet auch das recht vage Programm des Arztes UrbanGrulich66 „für die Bildung einer Gemeinschaft von ,sündenlosen * Christen“, das schon 20 Jahre zuvor der „selbst -süchtigen Liebe“ — als Ursache al­ ler unserer Leiden — die „ g e g e n -seitige“ vorhielt und aufrief, den „Gott in uns zu erwecken“ und in „Ausübung der gegen-seitigen, wahren Liebe mit Gott ... Eins zu werden schon hier auf Erden“: Dieser Aufruf, „das Reich Gottes auf Erden aufzurichten“, ziehe die Konsequenz aus dem „ent­ hüllten Grals-Geheimnis“. „Derjenige, der ,mehr“ wissen und lernen will, (solle) sich an Sor Vannah, 54, Shaftesbury Avenue in London W. wenden unter Beifügung eines adressierten und frankierten Kuverts für die Rückant­ wort“ (S. 34). Im nächsten Kapitel läßt Ur-Uter-Reuß dann in bunter Reihe seine „Ei­ deshelfer und Kronzeugen “ für verschiedene Aspekte seiner Lehre aufmar­ schieren und mehr oder weniger lange plädieren: Manu, Waddell, St. Augu­ stin67, Clifford Howard, Longinus, Prochus (sic), Prof. J. Matter, Dr. med.

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Alexander Wilder, Hargrave Jennings, Görres und Prof. Hermann, der „Nachkommen der alten Manichäer und Anhänger des alten klassischen Phallos-Kultus bis auf den heutigen Tag“ belegen soll: „In den letzten 10 Jah­ ren haben sie es sogar gewagt, wieder hier und da an die Oeffentlichkeit zu kommen, wenn auch unter neuem Namen und in neuem Gewände“ (S. 41f.). Wichtiger ist aber die Tatsache, daß mit Hilfe von drei Autoren direkt oder indirekt auf Tantra verwiesen wird: So muß Proclus für die Behauptung herhalten, die Zeremonien der Eleusinischen Mysterien seien „die der Tantriks“ gewesen“; J. Matter68 soll sein Gewährsmann für die Behauptung sein, „die gnostische Geheimlehre (geheime Christen) (sei) identisch mit dem Vamachari-Ritus der Tantriks“ (S. 38) und L.A. Waddell muß mit zwei Sätzen aus „seinem Buch über Tantra“ „Bausteine zum O.T.O.-Tempel“ liefern: „Tantra (Sexual-Religion) ist aufgebaut auf dem aktiven Zeugungsprinzip, wie es sich in der weiblichen Energie (Sakti) und der urmännlichen Kraft (Si­ va) manifestiert“, gefolgt von einem Hinweis auf die Phallos-Verehrung (S. 35)69. Wenn auch gerade die Zitate aufdecken, daß Reuß nur nebulöse Vor­ stellungen von Tantra gehabt haben kann, ist doch das mehrfache Auftreten des Terminus bemerkenswert; ein anderer Titel jener Jahre wird ihn mit Goethes „Faust“ zusammenbringen. Den Schluß der Broschüre bildet ein Verzeichnis der „Fundstätten“ der Baumaterialien, das von Ur-Vannah, jener nicht identifizierten Londoner Schwester „zusammengestellt“ wurde, wobei die meisten der zahlreichen Bi­ belstellen nur für überzeugte Reuß-Anhänger etwas „beweisen“ konnten, während die hier reproduzierte Bibliographie noch einmal das weltanschau­ liche Potpourri an Sekundärliteratur veranschaulicht, das wir bereits ken­ nengelernt haben, gewissermaßen die geistige Welt des damaligen O.T.O. auf einen Blick präsentierend70. Reuß’ Tempelbau sollte über das Reißbrett nicht hinauskommen: Nach­ dem ihm schon seit dem 1. August 1914 wie den anderen „Deutschen in London keine Ausländsbriefe mehr zugestellt“ worden waren, konnte er ge­ rade noch am 4. August, am Tag des „ganz unerwarteten“ Ausbruchs der Feindseligkeiten zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich, „un­ ter Hinterlassung seines ganzen Hab’ und Gutes England fluchtartig verlas­ sen“ — nach Crowley, der hier aber vielleicht kein allzu verläßlicher Be­ richterstatter ist — „among the personnel of the German Ambassador“71; denn als „Lokal-Vorstand des Deutschen Wehrvereins“ schien es ihm gera­ ten, sich der „drohenden Verhaftung“ — dem Schicksal von „vielen“ weni­ ger Glücklichen, die „als Kriegsgefangene in einem Konzentrationslager ... 194

. * 4, 10X3, E. V. al Maaobartar.

Dem treuen Freunde I

TheVeryIllortr.Bro. Henry KLK]N,33D,90o,WJX° MUt^reaa» Uwrre 0 T 0

Metamorphosen der „Oriflamme“

General-Groas-Regiatiar dea Ordern der Allen Freimaurer vom Motiphia- und MmraimRilu« in Daelshlaad. Honoiwy Membar ol üia Hovareißo Saneluary of «ha Aaliani aad Primitive Hila ol Maaonry ia aad tot Grrel Rrilaio aad Jrelaad «fc. Hiarb am 21 Juai !»13, E V in London. uMare Aanbal

ORDO TEMPLI ORIENTIS.

Synopsis of Degress

Classification

of

Members by Degrees

Outer Circle. I.' II.'

Probationers

The correspondence with candidates.

Minervals (Synods)

Preliminary state of preparation of candidates. Candidates may be admitted by correspondence.

Freemasonry. The following Masonic Degrees of the UniAccepted Scottish Rite of 33 degrees, of the and of the Egyptian Rite of Misraim of !)