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German Pages 252 Year 2017
Menschenrechte
Colloquia Raurica Die Colloquia Raurica werden alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum veranstaltet. Sie finden auf Castelen, dem Landgut der Römer-Stiftung Dr. René Clavel in Augst (Augusta Raurica) bei Basel, statt. Jedes Colloquium behandelt eine aktuelle geisteswissenschaftliche Frage von allgemeinem Interesse aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Einen Schwerpunkt bilden dabei Beiträge aus dem Bereich der Altertumswissenschaft. Um möglichst vielseitig abgestützte Erkenntnisse zu gewinnen, erörtern die eingeladenen Fachvertreter das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Schriftenreihe Colloquia Raurica publiziert.
Das Collegium Rauricum
Jürgen von Ungern-Sternberg Peter Blome Joachim Latacz Hansjörg Reinau
Band 15
Menschenrechte
Begründung – Universalisierbarkeit – Genese Herausgegeben von Kurt Seelmann
ISBN 978-3-11-053542-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053713-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053602-7 ISSN 1616-1157 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Kurt Seelmann Einführung 1 Gerhard Luf Menschenrechtsbegründung aus vernunftrechtlicher Perspektive Tatjana Hörnle Menschenrechte als universale Rechte?
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Stephan Kirste Die Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung der Rechtsperson
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Philippe Mastronardi Menschenrechte und Diskurs – Reflexionen über einen Begründungszusammenhang 69 Heiner Roetz Ein Problem der Politik und nicht der Kultur: Menschenrechte in China
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Andreas Urs Sommer Menschenrechte gebrauchen. Zur philosophischen Relevanz ihrer Historizität 126 Klaus Meister Sophistische Konzepte vom Menschen in ihrer Bedeutung für die späteren Menschenrechte 142 Arbogast Schmitt Menschenrechte in der Aufklärung und bei Aristoteles? Okko Behrends Die Person im Recht
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Inhalt
Theo Kobusch Homo inquantum homo Personenverzeichnis Sachverzeichnis
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Kurt Seelmann
Einführung Das Colloquium Rauricum XV, abgehalten vom 26. bis 30. August 2015 auf dem Landgut Castelen in Augst bei Basel, war der philosophischen Idee der Menschenrechte gewidmet. Es hat sich dieser Thematik auf zwei Wegen angenähert: unter Berücksichtigung der aktuellen systematischen Debatte und über die historische Entwicklung und Vorbereitung einer Idee von Menschenrechten. Im ersten Teil des Kolloquiums ging es um die aktuelle systematische Debatte über Menschenrechte, innerhalb derer Themen der Anthropologie, der Politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie im Vordergrund stehen. Die heutige öffentliche Debatte stellt hier eine Fülle von Begründungs- und Anwendungsfragen. Unter ihnen wurden als Gegenstand für das Colloquium Rauricum zwei für einen modernen Humanismus und eine kulturvergleichende Perspektive besonders drängende Fragen ausgewählt: zum einen war es das Ziel, die Suche nach einer Begründung der Menschenrechte nachzuzeichnen. Dabei sollte, soweit dies möglich ist, nach einer solchen Begründung dieser Menschenrechte gesucht werden, die sich nicht einfach auf positiv-rechtlich geltende Rechtsnormen beruft. Und eine zweite Frage innerhalb dieses systematischen Kontextes richtete sich darauf, ob überhaupt und ggf. bis zu welchem Grad die Menschenrechte eine universelle Geltung haben sollten oder auch nur haben können. Zum einen also geht es in der aktuellen systematischen Debatte um die Begründung unverlierbarer, vielleicht sogar unveräusserlicher Menschenrechte, die unabhängig sind von innerstaatlicher oder international-überstaatlicher Positivierung, die also in ihrer Geltung nicht bestimmt sein sollten durch einen Akt menschlicher Gesetzgebung. Ist eine solche nicht-positive Begründung von Menschenrechten konstruktiv überhaupt möglich und wenn ja, wie müsste eine solche Begründung aussehen, um uns überzeugen zu können? Diese Frage der Begründung von Menschenrechten war lange Zeit ein zentrales Thema insbesondere der modernen Anthropologie, man suchte aus dem Wesen des Menschen oder aus seinen Bedürfnissen angeborene Rechte herzuleiten. Denn was stört uns an einer bloss positiv-rechtlichen Festlegung der Menschenrechte? An einer solchen bloss positiven Begründung, am Hinweis darauf, viele Menschenrechte seien nun einmal durch nationale Gesetzgeber und durch internationale Verträge festgeschrieben, stört uns, dass dann dieselben Gesetzgeber, die solche Rechte geschaffen haben, durch einen Federstrich die Menschenrechte wieder zum Verschwinden bringen könnten. Das widerspricht offenbar ganz fundamental unseren inzwischen tief verwurzelten Intuitionen
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und wäre auch in einem Rechtsstaat befremdlich: Eine Mehrheit, die Menschenrechte abschafft, möchten wir uns lieber nicht vorstellen. Und doch ist das nur die eine Seite unserer Vorbehalte. Auch das andere Extrem, eine naturrechtliche Begründung von Menschenrechten, hat es heute zu Recht schwer. Denn traditionelle, insbesondere vorkantische Natur- und Vernunftrechtskonzepte im Sinne objektiver Pflichten- oder Wertlehren oder eines schlichten Versicherns, dass es nun einmal angeborene Rechte gebe, scheinen uns heute zur Begründung von Menschenrechten auch nicht mehr uneingeschränkt plausibel und werden jedenfalls in der wissenschaftlichen Debatte nur noch mit grosser Vorsicht und methodischer Zurückhaltung verwendet. Selbst eine erheblich anspruchsvollere Anknüpfung an Kant kann, wie Gerhard Luf in seinem Beitrag zeigt, keine kompakten Antworten geben, aber doch immerhin fundamentale Ansprüche wachhalten. Im Vordergrund stehen deshalb heute nicht selten eher prozedural zu nennende Überlegungen, die das Problem der Begründung der Menschenrechte von der Anthropologie zur Politischen Philosophie und zur Rechtsphilosophie verschieben. Es geht dann nicht mehr um Erkenntnisprobleme etwa im Hinblick auf die besonderen Eigenschaften des Menschen, sondern eher um argumentative Konstruktionen eines gut begründeten Zuerkennens von Rechten. Im Beitrag von Tatjana Hörnle wird in diesem Sinn ein Weg vom Erkennen natürlicher Rechte zu einem Aushandeln, Anerkennen und Analysieren des Anerkannten vorgeschlagen. Zu solchen das klassische Naturrecht eher verabschiedenden und neue Wege der Begründung von Menschenrechten beschreitenden Ansätzen gehören insbesondere kontraktualistische oder diskurstheoretische Vorgehensweisen. Die modernen kontraktualistischen Begründungsversuche der Menschenrechte stützen sich entweder auf die klassische Debatte seit Locke und Pufendorf oder aber, in letzter Zeit, auf neuere Varianten von Vertragstheorien etwa bei John Rawls oder bei Otfried Höffe, basierend entweder auf dem Gedanken der Verteilungs- oder aber auf dem der Ausgleichsgerechtigkeit. Können, so fragen manche Kontraktualisten, moralische oder juridische Rechte evtl. dann als philosophisch legitimiert gelten, wenn im Rahmen eines bestimmten Procedere alle eine bestimmte Verteilung von Freiheitrechten akzeptieren könnten – das wäre das Abstellen auf Regeln der Verteilungsgerechtigkeit. Eine andere Richtung des modernen Kontraktualismus fragt danach, ob Personen etwa über den Gedanken eines wechselseitigen Gewaltverzichts darin übereinkommen könnten, einander Rechte zuzuerkennen. Das wäre ein neuerdings auch empfohlener Weg über das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit. Diskurstheoretische Ansätze werden zu unserem Thema in der Tradition von Rousseau und Kant u.a. von Jürgen Habermas oder Robert Alexy vertreten. Nach
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solchen diskurstheoretischen Konzeptionen sollten wir uns für die Begründung von Menschenrechten fragen, ob und ggf. welche Rechte zuerkannt würden, falls ein möglichst herrschaftsfreier Diskurs aller Betroffenen unter Bedingungen der Verallgemeinerbarkeit geführt würde. Eine dritte aktuelle Möglichkeit von Begründungsversuchen der Menschenrechte neben dem Kontraktualismus und der Diskursethik gibt der Gedanke einer Grundlegung der Menschenrechte in der Menschenwürde. Für eine solche Begründung könnte man die Menschenwürde verstehen im Sinne eines „Rechts auf Rechte“ wie Hannah Arendt oder Christoph Enders es vorschlagen, und aus diesem Recht auf Rechte könnte man dann versuchen, die einzelnen Menschenrechte zu begründen. Wie es in einer langen Entwicklung zu einem Verständnis der Würde als Basis für die Freiheiten im Recht und den Status als Person kommen konnte, zeigt hier der Beitrag von Stephan Kirste. Oder man versteht schliesslich die moderne Menschenrechte begründende Menschenwürde als Bezeichnung für einen „universalisierten Rang“, weist also in Gestalt der Menschenwürde allen Menschen das zu, was früher eine herausgehobene Ehrenstellung war, und versteht die Menschenrechte als Instrumente zum Schutz eines solchen verallgemeinerten Ehrenstatus – das wäre die Position von Gregory Vlastos und Jeremy Waldron. Natürlich lastet die Begründung für die Menschenrechte bei letzterem Vorgehen nunmehr auf dem Prinzip des Menschenwürde-Schutzes, ist also nur von den Menschenrechten zur Menschenwürde verschoben. Die Frage stellt sich, ob etwa eine Anerkennungstheorie, die den Kontraktualismus mit den Konstitutionsbedingungen der Person zu verbinden wüsste, hier weiter helfen könnte. Soweit zur Begründungsproblematik. Zum anderen ging es im Colloquium Rauricum, immer noch in der modernen systematischen Debatte, neben diesen Begründungsfragen der Menschenrechte auch um den Streit über Universalisierung versus Relativität der Menschenrechte, oder, man könnte statt Relativität auch sagen: Kulturalität von Menschenrechten. Sind, so müssen wir uns diese weitere Frage stellen, Menschenrechte im dem Sinn universell, dass unsere Vernunft uns allein schon hinreichend über den Inhalt dieser Menschenrechte belehrt? Dann gäbe es vielleicht im übrigen nur ein Vermittlungsproblem, so dass wir also den Menschen in anderen Kulturen nur diese auch für sie geltende Vernunft noch besser kommunizieren müssten? Das wäre die Urform einer universalistischen Menschenrechte-Konzeption. Oder sollten Menschenrechte Gegenstand eines gemeinsam erst noch durchzuführenden Universalisierungsprogramms unter Beteiligung verschiedener Kulturen sein? Das wäre eine in ihrem Ziel zwar universalisierende, bestehende Unterschiede aber auch inhaltlich ernst nehmende Konzeption der Menschenrechte. Eine solche Sichtweise stellt Philippe Mastronardi in seinem Beitrag
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vor. Orientieren wir uns in dieser Weise am Projekt einer noch vorzunehmenden Universalisierung, so müssten wiederum verschiedene Begründungsmodelle auf diesen interkulturellen Prüfstand. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: Sollten wir etwa die Menschenrechte aus der Menschenwürde begründen wollen, so wäre zu klären, wie verbreitet eigentlich in anderen Kulturen Äquivalente zu dem sind, was wir bei uns Menschenwürde nennen – und wo selbst dann noch, wenn man Äquivalente fände, die verbleibenden Unterschiede relevant werden. Oder könnte es schliesslich gar sein, dass ein Projekt der philosophischen Begründung von Menschenrechten vielleicht gänzlich an der Verschiedenheit von Kulturen scheitert? Denn möglich wäre ja zum einen, dass Kulturen ganz unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis verschiedener „Generationen“ von Menschenrechten (Freiheitsrechte, wirtschaftliche Rechte, Gruppenrechte) haben, also etwa Gruppenrechte über Freiheitsrecht einzelner setzten, die „dritte Generation“ über die „erste“. Und denkbar wäre gar noch darüber hinaus, dass allein schon der Begriff eines subjektiven Rechts, der ja als Voraussetzung für das Verständnis von Menschenrechten erscheint, gar nicht überall denkbar ist, sondern nur unter sehr speziellen kulturellen Gegebenheiten entstehen kann? Wie komplex war doch die Entstehung eines Begriffs von „subjektiven Rechten“ allein schon im Westen und wie vieler Jahrhunderte bedurfte er zu seiner Entwicklung! Heiner Roetz ist in seinem Beitrag, was China betrifft, zuversichtlich für das Entstehen einer internationalen und auch interkulturellen Menschenrechtskultur. Es gebe in der dortigen Tradition, also im alten China, durchaus eine Traditionskritik und eine Herrschaftskritik als wichtige Voraussetzungen eines Denkens in Kategorien von Menschenrechten. Fragt man nach den Chancen für einen Universalisierungsprozess von Menschenrechten, so dürfte für die Beantwortung das Wissen über derlei ideengeschichtliche Voraussetzungen in unterschiedlichen Denktraditionen von grosser Bedeutung sein. In diesen Zusammenhang des Universalisierungsproblems fällt auch die in der Politischen Philosophie heute debattierte Frage, ob die Forderung nach weltweiter Verwirklichung der Menschenrechte wirklich immer auch ernsthaft an diesem Ziel orientiert ist oder mitunter nicht auch aus vordergründigen politischen Motivationen heraus erhoben oder gar missbraucht werden könnte. Wäre nicht auch denkbar, dass durch die Forderung nach Menschenrechten der nationalen Souveränität anderer Staaten nicht nur aus Gründen des Freiheitsschutzes, sondern auch aus anderen, aus machtpolitischen Gründen Beschränkungen abverlangt werden? Und verspricht man sich von der „Erfindung“ neuer Menschenrechte nicht auch Vorteile in der politischen Auseinandersetzung? Diese Problematik, dass Menschenrechte nie nur Selbstzweck, sondern immer auch politisches Mittel gewesen sind, greift Andreas Urs Sommer in seinem Beitrag auf.
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Gerade die Universalisierungsfrage führt bereits zum historischen Hintergrund der Menschenrechtsdebatte und damit zum zweiten Teil des Kolloquiums. Sie lässt uns zunächst nach der Verallgemeinerbarkeit des Begriffs fragen: Historisch gibt es jedenfalls kein die Epochen übergreifendes Verständnis von Menschenrechten und selbst wo der Begriff in der Neuzeit Verwendung findet, muss er noch nicht das bedeuten, was wir heute mit ihm verbinden. Wie nahe etwa der Begriff von „derechos humanos“ bei Las Casas im 16. Jahrhundert schon dem späteren Verständnis der Menschenrechte kommt, was man zu Las Casas’ Lob gelegentlich gern anzunehmen bereit ist, wäre erst noch genauer zu untersuchen. Wahrscheinlicher ist nach dem derzeitigen Stand der Debatte, dass „derechos humanos“ die spanische Übersetzung des lateinischen „ius humanum“ ist und im Gegensatz zum „ius divinum“, dem göttlichen Recht, steht. Also ist nicht, wie später, ein universalisierter Träger der Rechte mit „humanos“ gemeint, sondern der Gesetzgeber als menschlicher – und eben nicht göttlicher – Autor dieser Rechte. Viele solche begriffliche Fallen lauern auf dem Weg, wenn man die Entwicklung zu sehr von ihrem vorläufigen Endpunkt, nämlich der heutigen Menschenrechtsdebatte her, betrachtet und interpretiert. Umstritten ist deshalb in der Debatte auch, ob es Erfolg verspricht, gar hinter das 16. Jahrhundert zurück in Antike und Mittelalter zu gehen, um dort direkt nach der Idee der „Menschenrechte“ zu suchen, wie dies manchmal gemacht wird. Denn die heutige Idee der Menschenrechte ist so voraussetzungsreich, dass es aus der Sicht vieler Autoren Gründe gibt, sie erst mit der beginnenden Moderne zu assoziieren. Vorüberlegungen zur Beurteilung dieser Vermutung sollten die historischen Erörterungen zum zweiten Teil des Colloquiums liefern. Denn es ist für das Verständnis des heutigen Begriffs von Menschenrechten unverzichtbar, nach all jenen inhaltlichen Elementen und formellen Denkstrukturen zu forschen, aus denen sich unser heutiges Verständnis des Begriffs der Menschenrechte später zusammensetzt. Es sind dies Elemente, die implizit mit enthalten sind, wenn wir diesen Begriff heute verwenden. Offenbar gibt es wichtige Entwicklungen zeitlich vor den uns geläufigen Konzeptionen der Moderne, die, so könnte man sagen, als „Wege zu den Menschenrechten“ aufgegriffen werden können. Es lohnt sich, diese „Wege zu den Menschenrechten“ daraufhin zu untersuchen, in welcher Weise genau in ihnen Elemente der späteren modernen Menschenrechte schon enthalten sind oder auf die eine oder andere Weise aus heutiger Sicht vorbereitet sein könnten. Bedeutsam könnten die bereits in der sophistischen Philosophie entwickelten Varianten eines Verständnisses vom menschlichen Individuum sein, soweit diese Varianten auf eine weitere Entwicklung verweisen, die als Weg zu einem Verständnis von subjektiven Rechten aller Menschen verstanden werden kann. Klaus Meister sieht in seinem Beitrag schon im sophistischen Denken eine
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Bewegung in Richtung auf eine Gleichwertigkeit der Menschen, wenn etwa bei Antiphon über panhellenische Aspekte hinaus im Verhältnis zu den Barbaren ein Überlegenheitsgefühl abgelehnt und dezidiert jede Form von Xenophobie verurteilt wird, wenn sich Lykophron gegen alle Arten von sozialer Ungleichheit wendet oder wenn Alkidamas gar die Abschaffung der Sklaverei fordert und sich generell für die Gleichheit der Menschen ausspricht. Ein Blick lohnt auch auf das sehr flexible Recht auf Selbstverwirklichung bei Aristoteles verbunden mit der Frage, in welchem Verhältnis dieses Recht zum modernen Verständnis eines Katalogs von Menschenrechten stehen kann. Damit befasst sich Arbogast Schmitt in seinem Beitrag, in welchem bei Aristoteles unter dem Gesichtspunkt eines zu verwirklichenden Potentials des Menschen mehr gesehen wird als nur ein Schritt auf dem Weg hin zur Vorstellung von Menschenrechten, nämlich bereits tatsächlich dem Menschen zustehende vernunftbegründete Rechte. Das mindert nach Schmitt die Originalität des Zeitalters der Aufklärung. Das Mass aber, an dem sich ein von Vernunft geleitetes Handeln des Menschen orientiere, sei für Aristoteles nicht, dass man frei wählen könne, wie man ein selbstbestimmtes Leben führen möchte, sondern dass einem in seinem Leben eine bestmögliche Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten gelinge. Wichtig erscheint zudem der auch schon in der Antike entwickelte und im Beitrag von Okko Behrends analysierte Begriff der Person, in der Theatersprache und der Rechtssprache um sich greifend, der einen Kontext eröffnet für die Debatte über eine rechtliche Gleichheit unter Menschen. In einer ersten Entwicklungsstufe ist die Person das dem anderen zugewandte Gesicht. Später dann, in einer zweiten Stufe, insbesondere in der über Cicero und stoische Autoren vermittelten Rollenlehre des Panaitios, könnten sich in der Vorstellung einer die Rollen noch einmal vermittelnden Rolle vielleicht Ansätze eines Menschenbildes finden, das Voraussetzungen bietet für die spätere Entwicklung eines nicht statusabhängigen, sondern allgemein-menschlichen Begriffs von Menschenwürde. An der Epochenschwelle zum Mittelalter stossen wir sodann auf die mit spätantiken und frühmittelalterlichen Subjektivierungsschüben verbundenen kritischen Selbsterforschungs-Prozesse. Wir finden solche Prozesse etwa bei Augustinus und generell mit der Entstehung und zunehmenden Wichtigkeit der kirchlichen Beichtpraxis. Diese Entwicklung kann als ein weiterer Schritt in Richtung auf ein Selbstverständnis begriffen werden, das von einem identischen Rechtfertigungs-Status aller Menschen gegenüber dem Göttlichen ausgeht. Im Spätmittelalter und im Übergang zur Neuzeit entsteht dann eine mit dem Selbstverständnis des menschlichen Individuums verknüpfte Vorstellung eines subjektiven Rechts, indem man das „dominium actionum suarum“ zur Voraussetzung für das „dominium externarum rerum“ erklärt. Dies setzt eine bestimmte
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„facultas“ oder „potestas“ des Einzelnen gegenüber sich und der Welt voraus, beispielhaft etwa bei Fernando Vázquez und Francisco Suárez. Nur ausgehend davon, dass man „ius“ nicht nur als objektive Ordnung, sondern als subjektiven Anspruch begriff, konnte sich, möglicher Weise singulär in der westlichen Welt, eine Ordnung des gesamten Rechtsstoffs und der sozialen Welt unter Gesichtspunkten von Ansprüchen durchsetzen. Ab wann, so müssen wir fragen, und in welchem Masse sind solche Rechte unverlierbar? In der Neuzeit kommen schliesslich die von den Gesellschaftsvertragstheoretikern des 17. und 18. Jahrhunderts (Hobbes, Pufendorf, Locke, Rousseau) entwickelten rationalen Konstruktionen des Staatswesens hinzu. Sie sind nicht denkbar ohne eine Strukturierung des Gemeinwesens aus vertraglichen Pflichten und Rechten und bereiten so selbst dort, wo sie im Ergebnis keine unbeschränkbaren individuellen Rechte zubilligen (wie bei Hobbes), doch das Denken in der Kategorie von Rechten im politischen Raum vor. Theo Kobusch zeigt in seinem Beitrag, wie sich von Hobbes über Pufendorf bis Christian Wolff aus einer Pflichtenlehre heraus der Gedanke gleicher Rechte für alle langsam entwickelt und welche Bedeutung hierbei insbesondere den Gedanken der Unverlierbarkeit und der Unveräusserlichkeit zukommt. Von da an, also seit dem späten 18. Jahrhundert, stellen sich dann – wenn auch ihrerseits wiederum in einem Entwicklungsprozess – die aktuellen systematischen Probleme der Menschenrechte, die hier zu Beginn formuliert worden sind, also insbesondere das Problem der Begründung und das der Universalisierung der Menschenrechte. Die Reihenfolge der Referate ebenso wie der daraus entstandenen hier abgedruckten Beiträge folgt der Überlegung, dass zunächst einmal der derzeitige Diskussionsstand zum Thema Menschenrechte präsentiert werden soll, damit sich im anschliessenden historischen Teil überhaupt verstehen lässt, gemessen an welchem aktuellen Befund „Wege zu den Menschenrechten“ in früheren Überlegungen beschritten worden sind. Die Themen beginnen also mit einer Darstellung der aktuellen Fragen zur Begründung und zur Universalisierung der Menschenrechte und erst darauf werden die ideengeschichtlichen Voraussetzungen angesprochen, die für einen Menschenrechtsdiskurs unverzichtbar sind.
Gerhard Luf
Menschenrechtsbegründung aus vernunftrechtlicher Perspektive Einleitende Bemerkungen Der Titel des vorliegenden Beitrags ist mit seiner allgemeinen Bezugnahme auf das aufklärerische Vernunftrecht der Neuzeit sehr weit gespannt. Er bedarf daher einer näheren Konkretisierung und Spezifizierung, die in zweifacher Weise vorgenommen werden soll: Zum einen in genetisch-geschichtlicher und zum anderen in legitimatorischer Perspektive. In genetischer Perspektive gilt es der Frage nachzugehen, welchen historischen Beitrag das aufklärerische Vernunftrecht – und hier mit speziellem Blick auf die kontinentaleuropäische Tradition – für die Entstehung der Menschenrechte geleistet hat. Dabei gilt es insbesondere auch das Augenmerk darauf zu richten, wo die Grenzen eines solchen Beitrags gelegen sind. In legitimatorischer Perspektive geht es um die Frage, ob und welche Antworten auf aktuelle Herausforderungen der Menschenrechtsbegründung der Beitrag der systematische Rekurs auf das Vernunftrecht anzubieten vermag. Dabei spielt eine wohl zentrale Rolle die Frage nach der Möglichkeit, in Anknüpfung an Kant und in systematischer Weiterführung seiner rechtsphilosophischen Grundlagen, also im Lichte transzendentalphilosophischer Normenbegründung, aktuelle Antworten im Hinblick auf die begriffliche Legitimation der Menschenrechte gewonnen werden können.
Zur historischen Bedeutung des Vernunftrechts der Neuzeit Wenden wir uns zunächst dem ersten Themenbereich, also der Frage nach dem genetischen Stellenwert des Vernunftrechts im Rahmen der geschichtlichen Ausbildung der Menschenrechte, zu. Wenn in diesem Zusammenhang von Menschenrechten die Rede ist, so sind damit begrifflich nicht bloß allgemeine Prinzipien der Humanität gemeint, in denen der besondere Wert des Menschen als Menschen Ausdruck findet. Angesprochen ist darüber hinaus ihre Qualität als individuelle Freiheitsrechte, die mit dem Anspruch einhergehen, als Grundrechte in der staatlichen Rechts- und Verfassungsordnung institutionellen bzw. konstitutionellen Ausdruck zu finden. In der wissenschaftlichen Diskussion DOI 10.1515/9783110537130-002
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herrscht dabei weitgehende Übereinstimmung, dass der Einfluss des Vernunftrechts auf diese Entwicklung, die mit der Ausprägung moderner Staatlichkeit einher geht, unübersehbar ist und radikal Neues hervorgebracht hat. Thomas Simon weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Terminus „Grundrecht“ im Unterschied zu den Freiheitsgewährleistungen des mittelalterlichen Rechtsdenkens „untrennbar verbunden mit bestimmten rechtlichen Argumentationsmustern [ist], die erst im Rechtsdenken des Vernunftrechts hervorgebracht wurden.“1 Er nennt drei Topoi naturrechtlicher Provenienz, auf denen diese Institutionalisierung aufruht und auf die auch die klassischen Menschenrechtsdokumente Bezug nehmen: „Grundrechte sind ,angeboren‘, sie sind ,unveräußerlich‘ und stehen – weil eben jedem Menschen ,angeboren‘ – prinzipiell jedem Menschen gleichermaßen zu; daraus resultiert die enge Verbindung von Freiheit und Gleichheit im modernen Grundrechtsdenken.“2 Diese Topoi finden ihren grundsätzlichen Ausdruck in den vernunftrechtlichen Konzeptionen des Naturzustandes bzw. des Gesellschaftsvertrages, in denen die Idee einer natürlichen, weil jeder Staatsbildung vorgängigen, d.h. ursprünglichen und gleichen Freiheit die Grundlage bildet. Allerdings, und damit sind wir an der Frage nach den Grenzen des vernunftrechtlichen Beitrags angelangt, wurden diese Grundlagen für die Ableitung konkreter Menschenrechte in nur begrenztem Maße eingelöst. Dies gilt zunächst einmal speziell für das Kriterium der Unveräußerlichkeit grundrechtlicher Freiheit. Denn man ging im älteren Naturrecht der kontinentaleuropäischen Tradition, die sich in dieser Hinsicht markant etwa von Locke und seiner Konzeption des Naturzustandes unterscheidet, zunächst von der Vorstellung aus, diese ursprüngliche Freiheit des Naturzustandes sei verzichtbar und könne im Rahmen des Gesellschaftsvertrages gegenüber dem Staat gegen die Garantie von Frieden und Sicherheit eingetauscht werden. Die Konzepte des Gesellschaftsvertrags waren dabei primär auf die Begründung einer umfassenden obrigkeitlichen Staatsgewalt und nicht auf die individualrechtliche Begrenzung der Herrschaft gerichtet. Sie dienten der Herrschaftslegitimation, in deren Rahmen die ursprünglichen „iura connata“ auf den Herrscher und damit seiner Disposition im Lichte seiner Sorge für Frieden und Gemeinwohl übertragen wurden.3 Erst allmählich wurde die Vorstellung bestimmend, dass man auf diese ursprüngliche Freiheit nicht
1 Th. Simon, Die juristische Begründung der Grund- und Menschenrechte: Ein Ergebnis des Naturrechts? oder: Kann man im Kontext der mittelalterlichen Rechtsgarantien von „Grundrechten“ sprechen?, in: B. Schinkele u.a., (Hrsg.), Recht. Religion. Kultur, Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014, 854. 2 Simon (2014) 855. 3 Vgl. Simon (2014) 855 f.
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verzichten könne und diese somit auch in dem durch Gesellschaftsvertrag errichteten Staat bestehen bliebe. „Gegenüber dem Gedanken der Rechtsübertragung auf einen rechtlich danach nicht mehr gebundenen Herrscher wird nun“, so charakterisiert dies Simon, dann doch „die Idee der ,Unveräußerlichkeit‘ in Stellung gebracht.“4 Im Lichte dieser Entwicklung kommt den Lehren vom Naturzustand in der Tat hochgradige emanzipatorische Bedeutung zu, auch deshalb, weil sie es unternehmen, „den Menschen aus seinen Herkunftsbedingungen herauszudenken und ihn als Eigentümer seiner selbst sowie der Produkte seiner Arbeit und demgemäß als autonomen Produzenten seiner (Geschichts)Welt zu definieren.“5 Im Hinblick auf den Beitrag des Vernunftrechts zur Begründung von Menschenrechten zeigen sich aber auch weitere deutliche Grenzen. Zwar hätte der den Lehren von Naturzustand und Gesellschaftsvertrag methodisch zu Grunde liegende analytische Individualismus („resolutiv-kompositive Methode“) einen Ansatzpunkt geboten für die „Konstitutionalisierung von Individualrechten“.6 Doch stand dem, mit Blick auf die deutsche Aufklärung, insbesondere auf Christian Wolff, die Tatsache gegenüber, dass die Begründung natürlicher Rechte an einem pflichtenethischen Ansatz7 orientiert blieb. Naturrechtliche Rechtsprinzipien wurden nicht primär aus den Rechten, sondern aus den Pflichten abgeleitet. Die Rechte sind in dieser Sicht insofern Reflexe der Pflichten, weil sie die Menschen durch Rechtsgarantien in die Lage versetzen sollen, ihre Pflichten zu erfüllen. Im Rahmen eines aufklärerisch-obrigkeitlichen Wohlfahrtsdenkens setzt diese Vorstellung vom Vorrang der Pflichten vor den Rechten der Durchsetzung von angeborenen Freiheitsrechten deutliche Grenzen. Diese stehen unter dem Vorbehalt, der Erfüllung von Pflichten zu dienen und bleiben in ihrem Umfang von der rechtlichen Gewährleistung durch den absoluten Herrscher und seinen wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzungen abhängig. Diese Sicht des Verhältnisses von Rechten und Pflichten, nämlich des Vorrangs der Pflichten vor den Rechten, erfährt allerdings eine paradigmatische Umkehrung in der Rechts- und Staatsphilosophie Kants. Denn nunmehr bildet das auf dem unbedingten Prinzip der Freiheit basierende Recht den Ausgangspunkt für die Ableitung und Legitimation von Rechtspflichten. Der Freiheit kommt damit unbedingter Vorrang vor allen pflichtenorientierten Beschränkungen rechtlicher Freiheit zu. 4 Simon (2014) 856. 5 H. Hofmann, Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: JuS 1988, 847. 6 Vgl. G. Stourzh, Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution, in: Wege der Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien, Köln 1989, 155 ff. 7 Vgl. H. Hofmann (1988) 842.
Menschenrechtsbegründung aus vernunftrechtlicher Perspektive
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Kants kritisches Vernunftrecht und die Menschenrechte8 Im Folgenden soll das Augenmerk auf die Frage nach dem Beitrag der Rechtsphilosophie Kants zur Begründung der Menschenrechte gerichtet werden. Hier gilt es zunächst, den historischen Kant in den Blick zu bringen und dann, darüber hinausgehend, die Frage zu erörtern, welche Bedeutung eine systematisch an Kants Transzendentalphilosophie orientierter Ansatz für die gegenwärtigen Diskussionen um die Begründung von Menschenrechten zu leisten vermag. Die Beurteilungen in den wissenschaftlichen Diskussionen sind sowohl im Hinblick auf die historische Perspektive als auch im Hinblick auf aktuelle Begründungsdiskurse der Menschenrechte kontrovers und sollen im Folgenden erörtert werden. Den Ansatzpunkt der Diskussion bildet Kants Sicht der transzendentalen Freiheit als Fundament des Rechts. Dies wird in der bekannten Definition ausgedrückt, Recht sei „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“9 Dieser Freiheitsbezug des Rechts kommt nicht nur in dem zitierten objektiven Rechtsprinzip zur Darstellung, sondern auch in seiner Konzeption des Rechts im subjektiven Sinne. Seine Begriffsbestimmung der Freiheit als subjektives Recht ist nichts anderes als die in die Form des subjektiven Rechts gewendete Formel des objektiven Rechtsprinzips. Kants Begriffsbestimmung lautet: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“.10 Darin drückt sich der fundamentale Anspruch aus, auch in den Sphären des vom Recht erfaßbaren „äußeren“ Freiheitshandelns jeden Menschen als autonomes Subjekt anzuerkennen, den Raum zu freiheitlicher Selbstbestimmung unter ihresgleichen zu garantieren und solcherart in seiner Würde als Person zu respektieren. Nun spricht Kant von der grundlegenden rechtlichen Freiheit eines jeden Menschen hier nur im Singular und betont explizit, dieses angeborene Recht
8 Die folgenden Ausführungen, insbesondere die kritischen Auseinandersetzungen mit Wolfgang Kersting, orientieren sich an meinem Beitrag: Kant und die Menschenrechte. Überlegungen zur aktuellen Diskussion über die Begründung von Menschenrechten, in: Freiheit als Rechtsprinzip. Rechtsphilosophische Aufsätze, hg. von E. Holzleithner und A. Somek, Wien 2008, 283 ff. 9 Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, VIII, 337 (zitiert nach der zwölfbändigen Ausgabe des Suhrkamp-Verlages, Frankfurt/M 1977). 10 VIII, 345.
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sei „nur ein einziges“.11 Es stellt sich daher die Frage nach der Zulässigkeit bzw. Möglichkeit, aus diesem Freiheitsprinzip im Wege der Konkretisierung geschichtliche, inhaltlich näher determinierte Freiheitsverbürgungen, also eine Mehrzahl konkreter menschenrechtlicher „Freiheiten“ abzuleiten und in ein System von Grundrechten auszudifferenzieren.12 Eines ist im Hinblick auf diese Ausdifferenzierung freilich zu betonen: Es kann bei dieser nicht darum gehen, aus dem Freiheitsprinzip mit Blick auf die Garantie spezifischer individueller bzw. gesellschaftlicher Grundgüter einen überzeitlichen Katalog von Menschenrechten deduzieren zu wollen. Dies führte zu einer rationalistischen Verkürzung des notwendigerweise formalen Freiheitsprinzips, das sich einer endgültigen geschichtlichen Transformation entzieht. Andererseits muss das transzendentale Freiheitsrecht auf geschichtliche Konstellationen, bei den Menschenrechten speziell auf solche exemplarische Bedrohungen von Humanität anwendbar sein, weil es andernfalls zum „Verlust der eigentlichen Dimension des Menschenrechtsgedankens“13 käme. Das „einzige Menschenrecht“ müßte so gesehen als leitendes Prinzip der Menschenrechte fungieren, als kritischer bzw. legitimierender Maßstab, auf das die konkreten Menschenrechte bezogen werden könnten und müssten.
Das Freiheitsprinzip und seine grundrechtliche Ausdifferenzierung Die Möglichkeiten einer solchen grundrechtlichen Ausdifferenzierung des Kantischen Freiheitsprinzips werden, wie schon betont wurde, in der wissenschaftlichen Diskussion allerdings kontrovers beurteilt. Am radikalsten ausgeschlossen werden sie in jenen heute sehr verbreiteten metaphysikkritischen Richtungen, die das Verständnis der Freiheit als ein „Faktum der Vernunft“ als eine metaphysische Annahme kritisieren, die wissenschaftlichen Anforderungen nicht zu entsprechen vermag. Diese Kritik findet man allerdings bereits bei Kelsen, der die Auffassung vertritt, Kants Begriff der praktischen Vernunft selbst sei eine metaphyische Verirrung, weil er unzulässig Wissen und Wollen vermenge.14 Heute
11 Ebd. 12 Zu dieser Ausdifferenzierung vgl. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1998, 122 f. 13 S. König, Zur Begründung der Menschenrechte, Freiburg, München 1994, 245. 14 Zur Kritik an der Dichotomie von Wille und Vernunft bei Kelsen vgl. meinen Beitrag: Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht, in: Freiheit als Rechtsprinzip (2008) 42 ff.
Menschenrechtsbegründung aus vernunftrechtlicher Perspektive
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richtet sich der Fokus der Kritik zum einen darauf, dass Freiheit ein der intelligiblen Sphäre zuzurechnender Begriff auf phänomenale Herausforderungen, wie sie in den Menschenrechten zu Tage treten, gar nicht anwendbar sei. Zum anderen wird ganz allgemein betont, auf metaphysischen Prämissen beruhende Ansätze, wie eben auch der von Kants Freiheitsverständnis, stünden in ihrem Universalitätsanspruch im Widerspruch zu den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft und besäßen in ihrer prätendierten Allgemeinheit ideologischen Charakter. Aber auch unter jenen Theoretikern, die sich intensiver auf Kants Rechtsphilosophie einlassen, bestehen gravierende Auffassungsunterschiede im Hinblick auf Kants Verhältnis zu den Menschenrechten. Als besonders prominente Antipoden möchte ich hier Heiner Bielefeldt auf der einen und Wolfgang Kersting auf der anderen Seite nennen. Während Bielefeldt in allen seiner Beiträge zur Philosophie der Menschenrechte ganz zentral auf Kant Bezug nimmt und ihm auch für die moderne Menschenrechtsbegründung eine fundamentale Position einräumt,15 sieht Kersting im Gegensatz dazu in Kants „einzigem“ Freiheitsrecht keinen Ansatzpunkt für die Begründung von Menschenrechten. Die Kontroverse zentriert sich im Wesentlichen um die Frage, wie aus einem unbedingten Prinzip, wie dem der Freiheit, die Brücke geschlagen werden kann zu jenen geschichtlich-kontingenten Voraussetzungen und Herausforderungen, die in den Menschenrechten als Antworten auf menschliche Unrechts- und Leidenserfahrungen in Erscheinung treten und auf rechtlich-institutionelle Weise bewältigt werden müssen. Ich möchte mich im Hinblick auf diese Fragestellung kritisch mit Wolfgang Kersting auseinandersetzen, weil es mir dadurch möglich erscheint, konturierter die unterschiedlichen Standpunkte zu überblicken. Kersting nimmt im Zusammenhang mit der Menschenrechtsfrage einen gewissermaßen „puristischen“ Standpunkt ein. Er insistiert darauf, daß „das in der Rechtsidee begründete angeborene Recht . . . nur ein einziges sein und nur die Bestimmungen enthalten (kann), die im Konzept der rechtsgesetzlich definierten äußeren Freiheit enthalten sind.“16 Im Hinblick auf die Diversifizierbarkeit dieser Freiheit zu einer Vielzahl an Freiheiten folgert er sodann: „Eine Vielzahl von natürlichen Rechten, der eine Vielzahl von Freiheiten und Ansprüchen entspräche, läßt sich aus dem kantischen Rechtsgesetz nicht gewinnen, und zwar aus genau dem Grund nicht, aus dem sich aus dem kategorischen Imperativ kein inhaltlicher Pflichtenkatalog herausspinnen läßt. Die Allgemeinheit eines normativen Prinzips ist nur um den Preis seiner Formalität und Negativität zu bekommen. Jede Vermehrung des
15 Aus der Vielzahl seiner einschlägigen Arbeiten Heiner Bielefeldts sei nur verwiesen auf: Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998. 16 W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1993, 208.
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angeborenen Rechts auf Freiheit, die über eine Herausstellung seiner analytischen Bestandteile der Gleichheit und Selbständigkeit hinausginge, müßte sich auf materiale Elemente, auf Bedürfnisse, Interessen, Zwecke etc. berufen, und damit die reine praktische Vernunft als Fundament des Menschheitsrechts zerstören.“17 Das fundamentale Menschenrecht Kants dagegen formuliere bloß „die grundlegende Rechtsposition, die Menschen als Freie und Gleiche, als im Raum miteinander lebende Vernunftwesen im Verhältnis zueinander einnehmen, und (es konzentriere) in sich die Vernunftbedingungen einer von Naturbestimmungen losgelösten Welt.“18 Dabei nehme Kant „weder die allgemeinen Bedingungen der Verwirklichung menschenrechtlicher Freiheit in das Konzept der Menschenrechte auf, noch (reagiere) er auf besondere, geschichtlich erfahrene Freiheitsgefährdungen.“19 Als Konsequenz ergibt sich daraus für Kersting: „Eine den begründungstheoretischen Prämissen kantischen Philosophierens folgende Menschenrechtskonzeption muß sich auf die Darstellung der den Menschen als vernünftigen Wesen zukommenden rechtlichen Stellung und die Explikation der Grundelemente reiner Rechtssubjektivität beschränken und die konkretisierende Ausfaltung des Menschenrechtsgedankens in zwischen Vernunftrecht und positives Recht tretende Grundrechte der geschichtlichen Verfassungsbewegung und der sie tragenden juristischen und politischen Diskussion überantworten.“20 Nach dieser Interpretation kann daher die kantische Konzeption des „einzigen“ angeborenen Freiheitsrechtes für die Begründung von Menschenrechten kaum Anhaltspunkte bieten, sieht man einmal von der Anerkennung gleicher Rechtssubjektivität ab. Denn es bleibt in der Sicht Kerstings fraglich, auf welche Weise dieses Freiheitsrecht für die zweifellos notwendige juristisch-politische Positivierung konkreter Menschenrechte in der Geschichte als legitimierendes bzw. kritisches Prinzip dieser Konkretisierung zu fungieren vermag. Kerstings abstrakter Verweis auf die Aufgabenstellung konkreter Verfassungsgebung vermittelt jedenfalls den Eindruck, als ob innerhalb eines hochabstrakten, von jeder geschichtlichen Realität abgehobenen vernunftrechtlichen Rahmens nichts anderes als ein bloßer Grundrechtspositivismus freigesetzt würde, dem die Rückbindung an ein praxisleitendes Prinzip der Vermittlung letztlich fehlt.
17 W. Kersting, (1993), 208 f.; in seiner Einleitung zur Taschenbuchausgabe 1993, 26, bekräftigt er diese Position, wenn er schreibt: „Allen inhaltlichen Momenten des menschlichen Handelns gegenüber gleichgültig, weder an Bedürfnislagen, Handlungszwecken noch Gesinnungen interessiert, konzentriert er sich allein auf die Fragen der formalen Verträglichkeit der äußeren Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit des anderen.“ 18 W. Kersting, (1993), 211. 19 Ebd. 20 W. Kersting, (1993), 211 f.
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Vernunftrechtliches Staatskonzept versus liberale Abwehrrechte Dieser Eindruck wird im weiteren im Rahmen einer kontrastierenden Gegenüberstellung nachhaltig verstärkt, die Kersting zwischen Kants drei Prinzipien des „status civilis“ (Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit21) einerseits und der liberalen Idee einer Begrenzung staatlicher Macht durch staatsgerichtete Abwehrrechte andererseits vornimmt. Zwar hänge Kant, so wird betont, in seiner Gegnerschaft gegenüber dem paternalistischen Obrigkeitsstaat absolutistischer Provenienz zweifellos liberal-rechtsstaatlichen Vorstellungen an. Jedoch stünde sein vernunftrechtliches Staatskonzept doch in deutlichem Kontrast zu einer liberalen Grundrechtstheorie, die auf Begrenzung tendenziell mißbräuchlicher Staatsmacht ausgerichtet ist. Kant gehe es „nicht primär um die Zähmung des Leviathans, sondern um die grundsätzliche Frage der freiheitsgesetzlichen oder vernunftrechtlichen Bedingungen einer Staatseinrichtung. Der für die Grundrechtstheorie prägende Erfahrungshintergrund eines freiheitsbedrohenden Staates wird in der auf vernunftrechtliche Begründung des Staatsrechts zielenden reinen Rechtsphilosophie ausgeklammert.“22 Kersting verleiht dem ganzen im weiteren eine demokratische Pointe. Freiheit im Verständnis des kantischen Staatskonzepts sei, so betont er, nicht allein auf die Ausgrenzung von Freiheitssphären bedacht, sondern manifestiere sich in als Prinzip politischer Autonomie. Diese stellt den Anspruch, keinem Gesetz zu gehorchen, dem man nicht zugestimmt haben könnte, sie ziele also auf politische Partizipation ab. In diesem Sinne betont Kersting, Freiheit besitze als „Recht auf Mitbestimmung des gesetzgeberischen Willens . . . keinen liberalen, sondern einen demokratischen Charakter.“23 In diesem Rechtszustand herrsche Freiheit, „weil die Gesetze durch den vereinigten Volkswillen gegeben werden, und nicht aufgrund staatlicher Grundrechtsgewährleistung.“24 Resumierend betont Kersting daher: „Der Staat der Vernunft ist ein demokratischer Gesetzgebungsstaat. Die Grundrechte liegen nicht dem staatlichen Zustand voraus, sie bilden keinen materiell-rechtlichen Schutzwall der Individuen gegen staatliche Eingriffe in die individuelle Freiheitssphäre, sondern sie gehen als Konstitutionsbedingungen eines freiheitsgesetzlichen Rechtserzeugungsprozesses in diesen ein und in ihm
21 Vgl. MdS, Rechtslehre, VIII, 432. 22 W. Kersting, (1993), 371. 23 Ebd. 24 W. Kersting, (1993), 372.
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auf.“25 Wenn für Kersting schon liberale Grundrechte in Kants Staatsphilosophie keinen Platz finden, so gilt dies im Sinne eines Größenschlusses umso mehr für etwaige soziale Grundrechte, die darauf gerichtet wären, auf grundrechtlichem Wege soziale Gleichheitsbedingungen als Voraussetzung realer Freiheitschancen zu schaffen. Die von Kersting vorgenommene Interpretation ist unter drei Gesichtspunkten diskussionsbedürftig: Erstens im Hinblick auf die These, das „angeborene“ Freiheitsrecht, das die „reine Welt des Rechts“26 konstituiere, sei von allen materialen Momenten wie Grundgütern, Bedürfnissen, Interessen, Zwecksetzungen und Gesinnungen abgekoppelt und ihnen gegenüber gleichgültig, weil ausschließlich auf die Gewährleistung reziproker bzw. symmetrischer Konkordanz äußerer Handlungssphären bezogen. Zweitens im Hinblick auf die Weise, wie in dieser Interpretation die vernunftrechtlichen Prinzipien der kantischen Staatskonzeption einerseits und die liberalen, aus den Unrechtserfahrungen gegenüber dem Gewaltund Mißbrauchspotential moderner Staatlichkeit erwachsenen Menschen- und Bürgerrechte andererseits einander entgegengesetzt werden. Und, drittens, im Hinblick auf die Zulässigkeit, den Begriff der im Freiheitsprinzip ausgedrückten Autonomie ausschließlich prozeduralistisch zu deuten.
Geschichtliche Offenheit des Freiheitsprinzips Zum ersten Punkt: Kerstings Sicht des kantischen Vernunftrechts, dessen „reine“ Form er gegenüber „materialen“ Faktoren wie anthropologischen Konstanten, Interessen, Bedürfnissen, Zwecksetzungen etc. pointiert abhebt, führt zur systematisch zentralen Frage, auf welche Weise transzendentale Freiheit geschichtlich vermittelt werden kann. Dabei geht es im wesentlichen um
25 Ebd., in die gleiche Richtung gehen auch Habermas´ Überlegungen zu dem an Rousseau orientierten vernunftrechtlichen Postulat Kants, die gesetzgebende Gewalt könne „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ (VIII, 432). Habermas betrachtet es als die „Pointe dieser Überlegung“, daß in ihr „die Vereinigung von praktischer Vernunft und souveränem Willen, von Menschenrechten und Demokratie“ zur Geltung komme. Im Unterschied zu Locke´s Konzept naturständlicher Rechte werde bei Kant „der Autonomie der Gesetzgebungspraxis selbst eine vernünftige Struktur eingeschrieben.“ Es sei so „(d)er vereinigte Wille der Staatsbürger . . . , da er sich nur in der Form allgemeiner und abstrakter Gesetze äußern kann, per se zu einer Operation genötigt, die alle nicht-verallgemeinerungsfähigen Interessen ausschließt und nur solche Regelungen zuläßt, die allen gleiche Freiheit garantieren. Die Ausübung der Volkssouveränität sichert zugleich die Menschenrechte.“ (Volkssouveränität als Verfahren, in: Faktizität und Geltung (1998) 611.) 26 W. Kersting, (1993), 27, Einleitung zur Taschenbuchausgabe.
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eine zureichende Bestimmung des Begriffs der „Formalität“ des einen apriorischen Freiheitsrechtes. Ich meine, daß eine Interpretation, welche die „Form“ rechtlicher Freiheitssicherung gegenüber der „Materie“ des rechtlichen Handelns innerhalb spezifischer menschlicher Bedürfnis- und Interessenstrukturen völlig isoliert, der Gefahr unterliegt, inhaltlich leerzulaufen.27 Zwischen Formalität und Leere sollte aber unterschieden werden. Es gehört geradezu zum Charakter eines formalen Prinzips, dass in ihm der Bezug auf geschichtliche Wirklichkeiten offengehalten werden muss, will es überhaupt seinen Charakter als Prinzip wahren, das Freiheit vergegenwärtigt. Denn es sollte bedacht werden, dass, wie Bielefeldt bemerkt, „die apriorische Rechtsidee nur in der geschichtlichen Auseinandersetzung inhaltliche Bestimmtheit und positiv-rechtliche Wirklichkeit erlangen kann“.28 Gerade dadurch, daß Kant „den Dogmatismus vorgängig bestimmter Freiheitsrechte“ sprenge, öffne er, so Bielefeldt, die Rechtsidee implizit auf den Raum der Geschichte, obwohl . . . die Geschichtlichkeit als solche von ihm nicht eigens thematisiert wird.“29 Für die geschichtliche Applikation gilt daher: „Die apriorische Rechtsidee ist zwar der oberste kritische Maßstab, der aber als abstrakter Maßstab allein noch nicht zu materialen Gehalten führt; diese ergeben sich vielmehr erst in der geschichtlichen Erfahrung, die am Maßstab gedeutet wird.“30 In diesem Sinne ist die Ausdifferenzierung der apriorischen Freiheitsidee in konkrete Freiheitsrechte eine, wiewohl von Kant selbst nicht explizit, jedenfalls nicht ausreichend reflektierte, aber systematisch gleichwohl notwendige Vorgangsweise, um der Freiheit rechtliche Wirklichkeit zu verschaffen. Diese Ausdifferenzierung der Freiheitsrechte hat dabei Faktoren in den Blick zu nehmen, wie die Leiblichkeit des Menschen, seine seelische bzw. körperliche Unversehrtheit, elementare Bedürfnis- und Interessenstrukturen u.a.m. Diese stellen allesamt vitale Voraussetzungen gelingender Freiheitsverwirklichung dar und bedürfen dann, wenn sie in Frage gestellt und bedroht werden, menschenrechtlichen Schutzes. Ziel dieser Differenzierung der Menschenrechte kann es allerdings keineswegs sein, im Sinne einer materialen Wertethik eine objektive Wertordnung der Menschenrechte zu konzipieren. Die einzelnen Freiheitsrechte, welche angesichts der Formalität transzendentaler Freiheit in der
27 Vgl. K. Jaspers, Die großen Philosophen, München, Zürich 1992, 7. Aufl., 489: „Das unbedingte Apriori meines sittlichen Tuns muß hell werden in der Erfahrung des Materialen meines empirischen Daseins. Der kategorische Imperativ ist leer, wenn er nicht in der Welt am Materialen seine Prüfungsfunktion vollzieht.“ 28 H. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Perspektiven der Gesellschaftsvertragstheorien, Würzburg 1990, 115. 29 H. Bielefeldt, (1990), 227. 30 Ebd.
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Tat nicht in einen endgültigen Katalog übergeleitet werden dürfen, vermögen immer nur Perspektiven der Freiheit zu erfassen. Sie suchen in ihrer inhaltlichen Gestalt und unter Einbeziehung „materialer“ Komponenten jene Güter zu schützen bzw. Bedrohungen von ihnen abzuwehren, die für die rechtliche Garantie freier Lebensgestaltung als von essentieller Bedeutung qualifiziert werden. In dieser geschichtlichen Unabschließbarkeit zeigt sich gerade die Formalität des transzendentalen Freiheitsbegriffes. Die kritische Rückbindung dieser Freiheitsrechte an die Freiheitsidee als dem tragenden Grund und dem kritischen Prinzip31 dieser Konkretisierung verhindert, daß die notwendige gesetzliche Positivierung dieser Rechte zu einem kriterienlosen Grundrechtspositivismus verkommt. Dies geschieht aber nicht nur, wenn, wie im Rechtspositivismus, die Geltung überpositiver Rechtsprinzipien aus wissenschaftstheoretischen Gründen ausgeschlossen wird. Dies passiert auch dann, wenn der vernunftrechtliche Rahmen im Lichte einer strikten Dichotomie von Materie und Form derart gegenüber den geschichtlichen Realitäten abgehoben wird, daß eine Vermittlung von Idee und Geschichte nicht mehr vollzogen werden kann.
Grundrechte als liberale Abwehrrechte? Zum zweiten Diskussionspunkt: Kersting sieht, wie dargestellt wurde, einen essentiellen Unterschied zwischen der liberal-kontraktualistischen Menschenrechtstradition und Kant auch darin, daß dieser mit den apriorischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit vernunftrechtliche Grundlagen der Staatsbegründung liefern wollte. Sein Ziel sei es aber nicht gewesen, subjektive Abwehrrechte gegenüber staatlichem Machtmißbrauch zu begründen. Zwar ist die Identifikation der Menschenrechte mit liberalen Abwehrrechten, die sich in dieser Gegenüberstellung manifestiert, in der Menschenrechtsliteratur weitverbreitet. Eine solche Identifikation entspricht aber nicht den geschichtlichen Tatsachen. Denn die Menschenrechte wurden, jedenfalls in der kontinentaleuropäischen, von der Rechteerklärung der Französischen Revolution geprägten Tradition, nicht bzw. nicht primär als staatsgerichtete Abwehrrechte konzipiert. Eine solche Sicht wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und im Lichte eines Antagonismus von Gesellschaft und Staat entwickelt. Die Menschenrechte wurden vielmehr zunächst als jene leitenden Prinzipien angesehen, denen gemäß der überkommene Staat und seine Rechtsordnung, welcher durch feudale Privilegienstrukturen
31 So H. Bielefeldt, (1990), 110.
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und obrigkeitliche Willkür geprägt war, nach Gesichtspunkten der Freiheit und Gleichheit reformiert werden sollte. Die Rechteerklärungen sind, so charakterisiert Stourzh diese Konstellation, „Leitsätze für gesetzgeberische Aktivitäten eher denn Grenzsteine für die Begrenzung des Gesetzgebers gewesen.“32 Berücksichtigt man dies, so steht Kant in seinem Bemühen um eine Staatsbegründung auf der Basis von Freiheit und Gleichheit keineswegs in Distanz zu einer solchen liberal-aufklärerischen Grundrechtstradition. Er formuliert gerade im Gegenteil auf philosophischer Ebene eines ihrer Grundanliegen und nimmt in seinem Konzept der Republik als eines gewaltenteilenden, durch allgemeine Gesetze geordneten Rechtsstaates wesentliche Aspekte dieser Grundrechtsprogrammatik in seine politische Theorie auf.
Zur prozeduralistischen Sicht des Autonomieprinzips Zum dritten Punkt, also zur prozeduralistischen Sicht des Autonomieprinzips: Kerstings Interpretation beschränkt unter Bezugnahme auf Kants Prinzip politischer Autonomie, keinem Gesetz zu gehorchen, dem man nicht zugestimmt haben könnte, die juristische Ausfaltung des Freiheitsprinzips auf ein einziges Recht: das Recht auf Mitbestimmung des gesetzgeberischen Willens. Eine solche Prozeduralisierung des Autonomiebegriffs stellt Kant mit guten Gründen in die Tradition Rousseaus und begreift, mit Habermas gesprochen, die „Volkssouveränität als Verfahren“.33 Wie ist diese prozeduralistische Interpretation des Autonomieprinzips zu beurteilen? Zunächst ist es durchaus plausibel, dem Kriterium der allseitigen Zustimmungsfähigkeit von Gesetzen im Sinne eines Grundrechts auf demokratische Partizipation Gewicht zu geben. Aber, so ist zu fragen, bleibt Kants Autonomieverständnis darauf beschränkt? Schließt es andere individualrechtliche
32 G. Stourzh, (1989), 173; im selben Sinne betont auch D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt/M. 1991, 225 f., die Grundrechte erfüllten gegenüber der gesetzgeberischen Gewalt nicht primär die Funktion, ein Abstinenzgebot gegenüber dem Staat zu statuieren. Sie „fungierten . . . vielmehr als die obersten Leitprinzipien der Sozialordnung, die der langwierigen und komplizierten Rechtsreform Halt und Dauer geben sollten. Sie wiesen den Staat also zunächst nicht in Schranken, sondern richteten sich mit einem Handlungsauftrag an ihn. Ihrer Bestimmung nach waren sie Zielvorgaben für den Gesetzgeber zur grundrechtskonformen Umgestaltung des einfachen Rechts.“ 33 Vgl. J. Habermas, (1998), 600 ff.
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Garantien tatsächlich aus? Ich glaube, dass dies eine einseitig exklusive Interpretation der Kantischen Grundlagen wäre, gegen die bedenkenswerte systematische Gründe sprechen. Kant spricht dem allgemeinen Volkswillen ja nicht unmittelbar den Charakter einer realen demokratischen Prozedur, sondern den einer apriorischen Vernunftidee zu. Es sei, so Kant „eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelt (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe.“ Er charakterisiert sie als den „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes.“34 Dieses Kriterium allseitiger Zustimmungsfähigkeit als Gehalt der regulativen Vernunftidee eines „ursprünglichen Kontrakts“ drückt ganz allgemein den Anspruch aus, ein Staats- und Rechtssystem zu konstituieren, in dem die gleiche Freiheit aller Bürger gewährleistet ist. In diesem Zusammenhang mag die Betonung des partizipativen Aspekts zwar wichtig sein, darf aber keineswegs als eine exklusive, alle anderen Aspekte ausschließende Konsequenz gesehen werden. Im Lichte einer notwendigen Wechselseitigkeitsstruktur von Demokratie und Menschenrechten bedarf es nämlich grundrechtlicher Garantien, damit der demokratische Prozeß der potentiellen Gefahr entgeht, etwa durch schrankenlose Verwendung des Mehrheitsprinzips freiheitsbedrohend zu wirken35 und die Chancen individueller Rechtsdurchsetzung zu unterlaufen. Die Autonomie hat eben auch weitere Facetten, die im Wege von individualrechtlichen Garantien einzulösen sind. Sofern die Idee des vereinigten Willens den fundamentalen Anspruch artikuliert, den Staat und seine Gesetzgebung nach dem Kriterium gleicher Freiheit zu konstituieren und zu gestalten, spricht m.E. kein systematisches Argument dagegen, die Grundrechte als unerlässliche Garanten dieser gleichen Freiheit zu begreifen und sie juristisch zu transformieren. An den Abschluss dieser Ausführungen seien einige Überlegungen zur Aktualität Kants im Rahmen der gegenwärtigen Diskussionen über die Begründung der Menschenrechte angestellt.
34 Kant, Über den Gemeinspruch, XI, 153. 35 Zur „demokratiefunktionalen Legitimation der Freiheitsrechte“, wie insbesondere von Meinungs-Versammlungs- und Pressefreiheit vgl. O. Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, Kehl, Straßburg, 1981, 257.; kritisch zu einer demokratisch-funktionalen Sicht der Grundrechte E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/M. 1991, 133 ff.
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Kant selbst hat, das muss betont werden, sein „einziges und ursprüngliches“ Grundrecht der Freiheit nicht zu einem Konzept von individuellen Grundfreiheiten ausdifferenziert und dabei der Bedeutung institutionalisierter Garantien nur geringes Augenmerk geschenkt. Er war dabei offensichtlich von der Überzeugung geleitet, das vom gemeinsamen Willen aller getragene allgemeine Gesetz sei unabhängig von zusätzlichen verfassungsstaatlich institutionalisierten Garantien, also von selbst in der Lage, Freiheit und Gleichheit unter rechtsstaatlichen Bedingungen ermöglichen zu können. Den kontrastierenden Erfahrungshintergrund dieser Vorstellung bildet dabei der auf vielfältigen Ungleichheiten beruhende, paternalistische Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus. Aber auch mit dieser Vorstellung von der Prävalenz des allgemeinen Gesetzes steht Kant nicht im Gegensatz zu der von der Französischen Revolution geprägten Grundrechtstradition (im Unterschied zur amerikanischen), sondern befindet sich in weitgehendem Einklang mit ihr. Denn auch diese sah vorzüglich im allgemeinen, für alle gleichen Gesetz jenen Garanten, gleiche Freiheit durch Beseitigung der Partikularismen und Privilegienstrukturen des Ancien Regime erreichen und auch garantieren zu können. Der Grund dafür kann in dem Umstand gesehen werden, daß es, im Unterschied etwa zu Amerika, auf Grund mangelnder Erfahrungen mit „legislativer Despotie“36 an entsprechender Skepsis gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber gefehlt habe. Dennoch bietet Kant von seinen philosophischen Grundlagen her die Möglichkeit, im Sinne eines systematischen Weiterdenkens dieser Grundlagen zu einer tragfähigen Begründung der Menschenrechte aus heutiger Sicht zu gelangen. Das Freiheitsprinzip bietet den tragenden normativen Grund der Menschenrechte und bringt damit die unbedingte Anerkennung des Menschen als eines gleichen Freiheitswesens zum Ausdruck. Diese unbedingte Anerkennung richtet sich gegen alle Bestrebungen, grundlegende Rechte etwa unter Hinweis auf utilitaristische Zielsetzungen (z.B. Folterverbot, Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit im Lichte der Terrorbekämpfung) Vorbehalten zu unterstellen, zu relativieren und zu schwächen. Das Freiheitsprinzip ist zwar formal, ermöglicht es aber doch, die Brücke zwischen Transzendentalität und Geschichte zu schlagen. Denn es eröffnet die praktische Möglichkeit, anthropologischen Elemente, fundamentalen Interessenstrukturen, Bewertungen der Bedeutung gesellschaftlicher Grundgüter u.a.m., die in die juristisch-institutionelle Gestalt der Menschenrechte einfließen, einer kritischen Bewertung im Hinblick auf ihre Tauglichkeit
36 G. Stourzh, (1989), 170 f.
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zu unterziehen, der Verwirklichung fundamentaler Freiheitsansprüche zu dienen und grundrechtliche Realbedingungen des Freiheitshandelns zu schaffen. Damit wird vermieden, diesen empirisch-anthropologischen Faktoren unmittelbar einen absoluten, kulturinvarianten normativen Stellenwert zu verleihen. Eine solche Sicht ist auch für die aktuellen Diskussionen um die Universalität der Menschenrechte angesichts der Verschiedenheit der Kulturen und Zivilisationen von eminenter Bedeutung. Denn sie bietet die Chance, vom Freiheitsprinzip her Universalität in geschichtlicher Offenheit zu denken und damit eine fruchtlose Polarisierung von „Universalismus“ und „Eurozentrismus“ bzw. kulturellem Relativismus vermeiden zu helfen. 4. Die Konkretisierung von Grundfreiheiten ist nicht im Lichte einer linearen Emanzipationsgeschichte zu sehen, sondern hat Antwortcharakter gegenüber menschlichem Leid. Sie stellt die geschichtliche Antwort auf exemplarische Unrechtserfahrungen dar, in deren Rahmen die Bedrohungen fundamentaler menschlicher Güter zum Ausgangspunkt rechtlicher Verbürgungen wird. 5. Das Freiheitsprinzip hat im Hinblick auf diesen Vorgang der Konkretisierung als Prinzip sowohl affirmative als auch kritische Dimensionen. Es ist zum einen in den je konkret-geschichtlichen institutionellen Garantien gegenwärtig und fundiert sie, besitzt zum anderen aber auch kritisches Potential. Denn da es geschichtlich nicht auf vollendete Weise einlösbar ist, überschreitet es immer auch die jeweiligen geschichtlich-institutionellen Lösungen und stellt die Anforderung, stets den Blick für Deformationen der Menschenrechtspolitik und neue Unrechtserfahrungen zu bewahren und ihnen kritisch zu begegnen. Dieses sensible Bewusstsein um das Ausstehende im Bestehenden zu wahren, in dem die Ambivalenz von Freiheitsgewährleistung und Freiheitsentzug gegenwärtig bleibt, scheint mir eine wichtige Konsequenz aus einer systematischen Orientierung an Kant zu sein. Für eine gelingende Menschenrechtspolitik können dafür zwar keine kompakten Antworten geboten, aber fundamentale Ansprüche wachgehalten werden. Das bedeutet in einer Situation, in denen grundrechtliche Garantien häufig zu juristischen Allerweltsverbürgungen verkommen, schon sehr viel.
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Menschenrechte als universale Rechte? I. Zur Notwendigkeit der Differenzierung zwischen juridischen und moralischen Rechten Gibt es universale Menschenrechte? Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, wird in unserem Kulturkreis mehrheitlich davon ausgegangen, dass erstens die Antwort „ja“ sein müsse, und dass es zweitens empfehlenswert sei, in immer größerem Umfang universale Menschenrechte anzuerkennen.1 Ein faktischer breiter Konsens enthebt allerdings nicht der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, ob dahinter überzeugende Argumente stehen. Auf dem Weg zu einer Antwort ist eine Differenzierung erforderlich, nämlich die Differenzierung zwischen Menschenrechten im juridischen Sinn und Menschenrechten in einem dem positiven Recht vorgelagerten, vereinfacht ausgedrückt:2 moralischen Sinn. In der politischen Theorie und der politischen Philosophie ist die Unterscheidung zwischen juridischen und nicht-juridischen Herangehensweisen verbreitet.3 Der Rechtsanspruch, nicht in bestimmter Weise behandelt zu werden, ist von einem vorrechtlichen Anspruch, dass Handlungen unterbleiben (oder Leistungen erfolgen) sollten, abzugrenzen. Umstritten ist die vorgelagerte Frage, ob die Zusammenstellung der beiden Begriffe „moralisch“ und „Rechte“ zu „moralischen Rechten“ überhaupt sinnvoll ist.4 Der alltagssprachlich unreflektiert verwendete (aber auch in philosophischen oder politikwissenschaftlichen Debatten
1 S. für Kritik am Konzept der Menschenrechte Douglas Husak, Why There Are No Human Rights, Social Theory and Practice, 1984, S. 125 ff.; John Nelson, Against Human Rights, Philosophy 65 (1990), S. 341 ff. 2 Vereinfacht, da innerhalb von nicht-juridischen, dem positiven Recht vorgelagerten Überlegungen eine weitere Differenzierung sinnvoll ist, nämlich zwischen einer moralischen und einer politischen Herangehensweise, s. dazu Christoph Menke u. Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 68 ff. 3 S. z.B. zu diesen Überlegungen James Nickel, Making Sense of Human Rights, 1987, S. 33 ff.; Stefan Gosepath, Zur Begründung sozialer Menschenrechte, in: Stefan Gosepath u. Georg Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 146, 148 ff.; Georg Lohmann, Menschenrechte zwischen Moral und Recht, in: Gosepath u. Lohmann, a.a.O., S. 62 ff.; ders., Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, S. 135 ff. 4 Dies verneint z.B. Georg Mohr, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, S. 63 ff. DOI 10.1515/9783110537130-003
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nicht immer definierte) Begriff „Rechte“ wird bei näherer Betrachtung unscharf. Beschäftigt man sich mit der Frage, was konstitutive, notwendige Elemente sind und wie eine möglichst trennscharfe Eingrenzung des Begriffs „Rechte“ zu erreichen ist, gibt es durchaus gute Gründe dafür, im moralischen Bereich nicht von Rechten zu sprechen, sondern nur dann, wenn rechtlich verbürgte Ansprüche vorliegen. Aber die allgemeine Diskussion um den überzeugendsten Begriffsgebrauch kann hier nicht vertieft werden.5 Der sprachlichen Einfachheit halber wird im Folgenden von juridischen Rechten einerseits, vorpositiven oder moralischen Rechten andererseits die Rede sein. Menschenrechte im juridischen Sinn sind Inhalt einer Rechtsnorm. Die Rechtsquelle kann nationales Recht sein oder ein völkerrechtliches Übereinkommen, z.B. der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oder die Europäische Menschenrechtskonvention. In den Mitgliedsstaaten, in denen solche Übereinkommen ratifiziert wurden, gelten sie als bindendes Recht. Insoweit ist die Frage nach der Universalität von Geltung nicht besonders spannend: Menschenrechte im juridischen Sinne gelten, soweit die ihnen zugrunde liegende Rechtsnorm gilt. Wer davon erfasst wird und wem welche Inhalte garantiert werden, ergibt sich aus den jeweiligen Rechtstexten. Natürlich gäbe es auch aus einer juristischen Perspektive eine Reihe von Anschlussfragen, etwa, wie sich internationale Übereinkommen mit größerer Reichweite umsetzen lassen, warum sie in der politischen Realität nur unvollständig beachtet werden und wie damit umzugehen ist.6 Aber das sind nicht die hier zu behandelnden Themen. Die folgenden Ausführungen gelten der philosophischen Debatte um die Begründung und Reichweite von Menschenrechten. Gegenstand der folgenden Überlegungen ist, ob man in einem vorrechtlichen Sinne universal geltende Menschenrechte begründen kann. In diesem Kontext bedeutet Universalität zweierlei: erstens, keine Beschränkung derjenigen, die sich auf die Rechte berufen können. Allen lebenden Menschen kommen diese Rechte zu.7 Zweitens ist damit ein Anspruch gemeint, der unabhängig von tatsächlichen Praktiken und positivem Recht ist. Quelle und Motor von Menschenrechtsdiskursen ist die Überzeugung, dass ein Rekurs auf Menschenrechte auch dann Sinn ergibt, wenn noch keine entsprechende Rechtsnorm verabschiedet wurde. Damit werden Ansprüche gegen die Institutionen erhoben, die für die Umsetzung in juridische Rechte sorgen müssten.
5 S. dazu Joel Feinberg, The Nature and Value of Rights, The Journal of Value Inquiry 1970, S. 243 ff.; ein instruktiver Überblick findet sich bei Nickel (Fn. 3), S. 29 ff. 6 S. dazu etwa Eric A. Posner, The Twilight of Human Rights Law, 2014. 7 Und, was hier nicht vertieft werden kann, unter bestimmten Umständen (Stichwort: überlebende Menschenwürde) auch Toten.
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II. Eine einfache Idee: Universale Menschenrechte als natürliche Rechte Es gibt eine auf den ersten Blick bestechend einfache Lösung, um universal geltende Menschenrechte zu begründen. Diese liegt in der Vorstellung, dass es sich um natürliche Rechte handele. Warum „bestechend einfach“? Erstens, weil angenommen wird, dass sich Rechte aus dem Mensch-Sein als solchem ergeben. Damit folgt aus der Begründung der Menschenrechte auch das Universalitätsprinzip: Wenn maßgeblich nur die Zugehörigkeit zur Gattung „homo sapiens“ ist, ergibt sich zwangsläufig, dass Menschenrechte allen Menschen zustehen. Differenzierungen wären inkohärent. Zweitens wird Einfachheit suggeriert, wenn die Grundidee ist, dass sich etwas Vorgegebenes durch einen reinen Erkenntnisvorgang erschließen lasse. Man bewegt sich dann nicht in der Welt der Konstruktionen, Begründungen, Aushandlungen und Kompromisse, sondern kann sich darauf beschränken, das richtige Erkennen zu fördern. Natürliche Rechte müssen nur gesehen, nicht aber ausgehandelt werden. Solche Vorstellungen kommen in den Präambeln wichtiger Menschenrechtsdokumente zum Ausdruck. Ein Beispiel ist die Virginia Declaration of Rights von 1776: „That all men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.“ Die einen Monat später verabschiedete amerikanische Unabhängigkeitserklärung beginnt mit dem Satz: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Ein drittes Beispiel stammt aus dem 20. Jahrhundert und wird allgemein als Reaktion auf die vorausgegangenen Praktiken der Tötung und Misshandlung eingeordnet:8 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948). Auch dort heißt es in der Präambel: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet (. . .)“. Es ist kein Zufall, dass alle diese Dokumente als „declaration“ bezeichnet werden. Sie beruhen auf einer gemeinsamen methodischen Grundannahme. Den
8 S. zu Vorgeschichte und Entstehung Alison Dundes Renteln, International Human Rights. Universalism versus Relativism, 1990, S. 17 ff.
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Lesern dieser Erklärungen wird mitgeteilt, dass nichts Neues eingeführt werde, sondern nur gegebene natürliche Rechte aufgerufen. Die Funktion der Texte sei es, Vorhandenes empathisch ins Gedächtnis zu rufen. Dieser Zugang zum Thema „Menschenrechte“ wird auch als das „orthodoxe“9 oder klassische Verständnis bezeichnet; man kann auch von einem idealistischen Verständnis sprechen. Man könnte an dieser Stelle aus einer historisch-soziologischen Sicht nachfragen, inwieweit von einem lupenreinen Idealismus auszugehen ist, wenn man den Blick vom Erklärungsgehalt zu den Akteuren wendet. Die Frage wäre, inwieweit die Verfasser der historischen Menschenrechtsdokumente tatsächlich durch dieses idealistische Verständnis motiviert waren oder ob strategische Überlegungen und Rhetorik jedenfalls auch eine Rolle gespielt haben. Es liegt allerdings außerhalb meiner Kompetenz, auf die spezifischen, historischpolitischen Hintergründe einzugehen. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass bei den Adressaten der Menschenrechtserklärungen ein idealistisches, moralischnaturalistisches Verständnis von Menschenrechten vorausgesetzt wird und dieses affirmiert werden soll.
III. Die Kritik an natürlichen universalen Menschenrechten Die einfache Idee der Menschenrechte als natürliche und deshalb universale Rechte ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf Kritik gestoßen. Neu ist diese Kritik natürlich nicht. Starken Widerstand gab es schon bei den Kritikern der Revolutionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die die Gefahren und Risiken von revolutionären Bewegungen in den Vordergrund stellten. Eine bekannte Fassung einer dezidiert nicht idealistischen Position stammt von Jeremy Bentham: „Natural rights is simple nonsense: rhetorical nonsense – nonsense upon stilts.“10 In jüngerer Zeit hat Alasdair MacIntyre einen ähnlichen Gedanken formuliert:11 „natural rights are fictions“. Er vergleicht den Glauben an natürliche Menschenrechte mit dem Glauben an Hexen und Einhörner. Simple Denkmuster, die von einem „Rechts-oder-Links“-Schema ausgehen, neigen dazu, Kritik an natürlichen Rechten pauschal als „konservativ“ oder
9 James Nickel, Human Rights, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (revised version, Nov. 8, 2014). 10 Jeremy Bentham, Anarchical Fallacies, abgedruckt in: Jeremy Waldron (Hrsg.), Nonsense upon Stilts. Bentham, Burke and Marx on the Rights of Man, 1987, S. 46, 53. 11 Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, 1995, S. 98.
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„reaktionär“ einzuordnen. Das ist keine verallgemeinerbare korrekte Klassifikation, jedenfalls nicht für Jeremy Bentham. In vielerlei Hinsicht erweist sich Bentham im Vergleich mit Verfechtern der Naturrechtsidee als der weitaus modernere und menschenfreundlichere Denker, etwa wenn man die Positionen zur Todesstrafe und zur Rolle von Frauen vergleicht.12 Die passendere Beschreibung der divergierenden Positionen ist die eines Konflikts zwischen Realisten und Idealisten. Zeitgenössische Kritik am orthodoxen Verständnis von Menschenrechten speist sich aus mehreren Quellen, sowohl akademisch-wissenschaftlicher wie politischer Herkunft. Zum einen hat sich in der akademischen Welt eine starke Strömung gebildet, die kulturelle Differenz in den Vordergrund stellt. Diese Strömung wurde gespeist durch anthropologische und ethnologische Forschung, welche die Verschiedenheiten von Sitten, Gebräuchen und Werten beschreibt. Mit Blick auf manche intellektuelle Zirkel im 20. Jahrhundert kann man Anthropologie und Ethnologie geradezu als „Modewissenschaften“ bezeichnen. In jüngerer Zeit sind dabei allerdings an die Stelle von unbefangener Neugier und Faszination mit dem „exotischen Anderen“ vielfach Besorgnis und das Bedürfnis nach Abgrenzung getreten (Stichwort „Clash of Civilizations“13). Für unser Thema sind die normativen Konsequenzen der Betonung von kulturellen Unterschieden relevant. Der deskriptive Zugang, der Differenzen akzentuiert, fördert gleichzeitig auch das Auftreten von Skepsis gegenüber der Idee universaler Normen und Werte. Es wachsen Bedenken, dass diejenigen, die Allgemeingültigkeit postulieren, ihren eigenen Standpunkt verabsolutieren.14 Die Anklage lautet auf „Ethnozentrismus“. Aus einer soziologischen Sicht kann das Phänomen „Ethnozentrismus“ positiv zu werten sein: Es dient dem Zusammenhalt von Gruppen. Zu verweisen ist auf die Definition des amerikanischen Soziologen William Sumner „Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one’s own group is the center of everything, and all others are scaled and rated with reference to it.“15 Ins Normative gewendet, liegt es allerdings nahe, die Bezeichnung „Ethnozentrismus“ als Vorwurf zu verstehen, nämlich als Vorwurf einer kurzsichtigen Verallgemeinerung von nicht Verallgemeinerbarem. Eine naheliegende Folgerung für unseren Themenbereich ist dann, dass es fragwürdig wird, ob Menschenrechten eine universale, von kulturellen Unterschieden unabhängige Existenz zugeschrieben
12 S. dazu Hugo Adam Bedau, Bentham’s Utilitarian Critique of the Death Penalty, Journal of Criminal Law and Criminology 74 (1983), S. 1033 ff.; Miriam Williford, Bentham on the Rights of Women, Journal of the History of Ideas 36 (1975), S. 167 ff. 13 Samual P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, 1997. 14 S. Nelson (Fn. 1), S. 347. 15 William Graham Sumner, Folkways. A study of the sociological importance of usages, manners, customs, mores, and morals, 1906 u. Nachdruck 2007, S. 13.
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werden kann.16 In den letzten Jahren sind Publikationen erschienen, die eine kritische Tendenz zeigen, indem sie eine Hegemonie des Westens konstatieren und den Vorwurf erheben, dass viele Akteure in internationalen Organisationen nicht die Interessen von Bürgern ihrer Länder vertreten.17 Verstärkt wird der Trend zu nachlassendem Enthusiasmus gegenüber der Idee universaler Menschenrechte durch politische Bewegungen in Ländern außerhalb Europas. Diese machen es sich zum Anliegen, Menschenrechtsdiskurse zu modifizieren oder abzuwehren. Die Hintergründe solcher politisschen Strömungen und die Beweggründe der Akteure fallen heterogen aus. Zum einen gibt es gegen den „Westen“ gerichtete negative, auf Abgrenzung und Abwehr angelegte Strömungen. Diktatorische Regimes und egoistische Interessen staatsnaher Cliquen am Erhalt von Macht und ökonomischen Vorteilen befördern eine abwehrende Haltung gegenüber den „Zumutungen“, die Menschenrechtsaktivisten, internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen verursachen. Persönlicher Egoismus von Individuen oder einflussreichen Gruppen ist aber mitnichten das einzige Motiv für eine Zurückweisung des Konzepts der universalen Menschenrechte. Ein Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber „dem Westen“ besteht oft bei breiten Bevölkerungsschichten, darunter insbesondere auch bei denjenigen, die nach sozialen und ökonomischen Entwicklungen Benachteiligte und Verlierer sind. Die Selbstwahrnehmung einer fragilen, gefährdeten Identität bewirkt eine Ablehnung „westlichen“ Gedankenguts und die Hinwendung zu oder Konstruktion von Prozess der Findung neuer Identitäten.18 Je stärker die Verankerung von Menschenrechten im Schrifttum der europäischen Aufklärung betont wird, umso eher liegt es nahe, die derart begründeten Menschenrechte als „fremd“ zurückzuweisen. Aber auch der Verweis auf geschwächte Identitäten und andere Psychologisierungen ergeben nur einen Teil des Gesamtbildes. Nicht pauschal von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, dass es tatsächlich überzogene Hegemonieansprüche westlicher Länder gibt.19 Die in afrikanischen Ländern wachsende
16 S. zur Theorie des kulturellen Relativismus und deren Bedeutung für Menschenrechte Renteln (Fn. 8), S. 61 ff. 17 Abdullahi Ahmed An-Na‘im, Conclusion, in: ders., Human Rights in Cross-Cultural Perspectives, 2010, S. 427 ff. Andere Ansätze versuchen, gezielt die Interessen von indigenen Teilen der Bevölkerung durch die Berufung auf neue Menschenrechte zu stärken, so etwa James W. Zion, North American Indian Perspectives on Human Rights, in: Abdullahi Ahmed An-Na‘im (s. oben), S. 191 ff. 18 S. dazu Amartya Sen, Identity & Violence. The Illusion of Destiny, 2006, S. 84 ff. 19 S. dazu Makau Mutua, Human Rights: A Political and Cultural Critique, 2002.
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Skepsis und Verweigerung von Kooperation gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof20 könnte auf solche Faktoren zurückzuführen sein. Neben dem Motiv „Abwehr“ stehen positive Einstellungen zur eigenen Kultur, die weder auf Egoismus noch auf eigene Identitätsschwäche oder Hegemoniebefürchtungen zurückzuführen sind. Verwiesen sei auf Stellungnahmen zu „Asian Values“, die den individualistischen Charakter des „westlichen“ Verständnisses von Menschenrechten kritisieren. Sie wollen Pflichten (etwa gegenüber der Familie und anderen sozialen Gemeinschaften) und Tugenden stärker betonen als Rechte. Solche Überlegungen lassen sich nicht in einfacher Weise als simple Rechtfertigungsstrategie diktatorischer Regierungen „enttarnen“.21 Bestrebungen, den eigenen kulturellen Vorstellungen und Werten in verstärktem Maß Geltung zu verschaffen, sind häufig von der echten Überzeugung getragen, dass diese kulturellen Muster besser geeignet sind, zu einem gelingenden Leben von Menschen beizutragen. Schließlich ist auch die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, dass eine starke Betonung von Menschenrechten die wirtschaftliche Entwicklung in ökonomisch aufblühenden Ländern behindern und so mittelfristig Lebensqualität erheblich beeinträchtigen kann.22 Auch aus dieser Perspektive lässt sich argumentieren, dass ein undifferenzierter Anspruch auf Universalität jedenfalls für bestimmte Menschenrechte nicht umsetzbar sei.23 Noch komplizierter wird die Situation, wenn man sich vor Augen führt, dass „Universalität“ in zweifacher Weise verstanden werden kann: nicht nur als Antwort auf die Frage, wer die Träger von Rechten sind, sondern auch als Antwort auf die Frage, wer verpflichtet werden soll.24 Mit Blick auf Letzteres wird die Situation vor allem für soziale Teilhaberechte komplizierter, da politische und soziale Spielräume eingeengt werden. Damit stellt sich die ernst zu nehmende Frage: Sollte weiterhin am Konzept der universalen Menschenrechte festgehalten werden? Diese Frage wird im Folgenden in zwei Teilfragen aufgeteilt: Erstens, kann das orthodoxe Verständnis von universalen Menschenrechten als natürliche Rechte verteidigt werden? Zweitens, wenn dies nicht der Fall ist: Gibt es Alternativen zu der (vermeintlich) drohenden Konsequenz, dass alles in kulturellem Relativismus versinkt? 20 S. zu diesen Spannungen Gerhard Werle, Lovell Fernandez u. Moritz Vormbaum (Hrsg.), Africa and the International Criminal Court, 2014. 21 S. Joanne R. Bauer u. Daniel A. Bell (Hrsg.), The East Asian Challenge for Human Rights, 1999; Georg Lohmann, Zur Verständigung über die Universalität der Menschenrechte. Eine Einführung, in: Günter Nooke, Georg Lohmann u. Gerhard Wahlers (Hrsg.) Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, 2008, S. 47 ff. 22 Dazu krit. Amartya Sen, Human Rights and Economic Achievements, in: Joanne R. Bauer u. Daniel A. Bell (Hrsg.), The East Asian Challenge for Human Rights, 1999, S. 88, 90 ff. 23 Lohmann (Fn. 21), S. 49 f. 24 Lohmann (Fn. 21), S. 53.
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IV. Die Probleme mit natürlichen Rechten Das orthodoxe Verständnis wirft erhebliche Probleme auf. Die simple Idee, dass Menschenrechte als natürliche Rechte nur an das Faktum Spezieszugehörigkeit anknüpfend existieren, erweist sich als schwer zu verteidigen, sobald sie nicht mehr als selbstverständliche Wahrheit hingenommen wird. Keine überzeugende Lösung liegt darin, auf Attribute wie „angeboren“ zu verweisen. Eine solche Mitgifttheorie kommt etwa in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zum Ausdruck, mit der Formulierung „endowed by their Creator with certain unalienable Rights“. Mit dem Verweis auf den Schöpfer wird eine außerirdische Instanz benannt, die (in den Augen von Gläubigen) Rechte zuerkenne und ihnen Legitimität und Geltung verschaffe. Offensichtlich sind aber metaphysische Vorstellungen dieser Art für ein modernes Verständnis von Menschenrechten keine taugliche Grundlage. Als Begründung sind sie nur für diejenigen akzeptabel, die an die Existenz der höchsten Autorität, also an ein hinreichend übereinstimmendes Bild Gottes glauben. Und selbst wenn diese Voraussetzung grundsätzlich vorliegt, bliebe die kritische Rückfrage: Wie funktioniert die Kommunikation mit göttlichen Wesen, wie könnten irdische Wesen den Inhalt ihrer Mitgifttruhe erkennen? Das Problem ist auch nicht zu lösen, indem man mit Immanuel Kant Moralnormen nicht aus der Autorität Gottes, sondern aus der Figur des homo noumenon25 ableitet. Das Postulat einer hypothetischen Figur wird von Zweiflern genauso wenig als hinreichende Begründung anerkannt werden. Ein im zeitgenössischen Schrifttum häufig eingeschlagener Pfad stellt stattdessen auf reale Menschen ab und sucht nach fundamentalen menschlichen Eigenschaften, die als Grundlage für das Haben von Menschenrechten dienen könnten. Dazu gehören etwa Überlegungen, die auf Menschenwürde als Basis von Menschenrechten26 oder auf die Fähigkeit zu intentionalem Handeln und die dafür erforderlichen Voraussetzungen abstellen.27 Der Rekurs auf Menschenwürde als etwas, was jeder Mensch habe, führt allerdings lediglich kreisförmig zum selben Problem zurück: Auch insoweit verstricken sich Diskussionen in schlichte ontologische Behauptungen oder theologische Begründungen. Überzeugender scheinen auf den ersten Blick die Ansätze, die auf das Konzept der handlungsfähigen Person abstellen. Aber unabhängig davon, wie die relevanten Eigenschaften im
25 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Band VIII, S. 550. 26 S. z.B. Harro Otto, Über Menschenrechte und Bürgerrechte, in: Roland Hefendehl, Tatjana Hörnle u. Luis Greco (Hrsg.), Festschrift für Bernd Schünemann, 2014, S. 199 ff. 27 Alan Gewirth, The Basis and Content of Human Rights, Nomos 23 (1981), S. 119 ff.
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Einzelnen konzipiert werden: Es gibt ein Kernproblem, das sämtliche Ansätze betrifft, die auf gemeinsame Eigenschaften von Menschen abstellen. Wie auch immer man die zentrale Eigenschaft definiert (Bewusstsein, Vernunft, intellektuelle Fähigkeiten, Abwägen von Gründen etc.), die Extension der Klassenmitglieder ist immer kleiner als die der Spezies homo sapiens.28 Mit dem Verweis auf zentrale Eigenschaften, die alle Menschen haben, ist dem Egalitaritäts- und Universalitätsprinzip nicht Rechnung zu tragen.29 An dieser Stelle zeigen sich gegenläufige Effekte der Aufklärung. Zu den Kernaussagen aufklärerischen Denkens gehört, dass Menschen rational sind und die Fähigkeit haben, selbstständig zu denken und Prämissen kritisch zu hinterfragen.30 Ist die Fähigkeit zu aufgeklärtem Denken entwickelt, geraten Menschenrechtsargumente, die ontologisch argumentieren, schnell an Grenzen. Auch die tiefe subjektive Überzeugung, dass man selbst wie andere Rechte habe, ergibt keine Antwort auf kritische Rückfragen. Dass Bedürfnisse nach quasi-religiösen Systemen, Idealen und Utopien heute die Form von Bekenntnissen zu Menschenrechten annehmen,31 verbürgt keine Unangreifbarkeit, insbesondere nicht im Dialog mit tatsächlich religiösen Menschen, für die die Idolisierung von Menschen eher abstoßend erscheinen muss.32 Weitere Probleme liegen darin, dass moralische Begründungen, die beim autonomen Individuum ansetzen, die zentralen gesellschaftlichen und politischen Funktionen von Menschenrechten verkennen.33 Wenn man bei Kerneigenschaften von Menschen ansetzt, ist zudem die Folge, dass diese als personenbezogene Eigenschaften stabil und nicht abhängig vom jeweiligen Stand der Gesellschaft sind. Für diejenigen, deren Projekt es ist, die im positiven Recht etablierten, umfangreichen Menschenrechtskategorien mit Argumenten zu unterfüttern, ergibt sich auch hieraus eine Schwierigkeit. Viele der heute verpositivierten Menschen-
28 Husak (Fn. 1); Nelson (Fn. 1). 29 Tatjana Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2008, S. 41, 47. 30 S. Immanuel Kants klassische Definition: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. XI, S. 53. 31 S. zu der Verortung der Menschenrechtsidee beim Bedürfnis nach Utopien Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, 2012. 32 Michael Ignatieff, Human Rights as Idolatry, The Tanner Lectures on Human Values, 2000, S. 340 f. 33 Charles Beitz, The Idea of Human Rights, 2009, S. 64 ff.
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rechte sind abhängig von Zeitbedingungen und der Entstehung von Institutionen (ein Recht auf ein „faires Gerichtsverfahren“ macht etwa erst dann Sinn, wenn es öffentliche Gerichte gibt). Zwischenergebnis der bisherigen Überlegungen ist, dass das orthodoxe Verständnis von Menschenrechten als natürliche, angeborene, nur aus dem Status als homo sapiens fließende Rechte und eine darauf gestützte Anerkennung der universalen Geltung nicht gut zu begründen sind. Damit ist allerdings nicht das Ende der Diskussion erreicht – es gibt Alternativen.
V. Alternativen 1. Empathie statt „Foundationalism“? Hatte Bentham mit seiner These Recht, dass es sich bei Bezugnahmen auf Menschenrechte um „nonsense on stilts“ handele? Das würde nicht zwangsläufig bedeuten, dass die vorhandenen juridischen Rechte abgeschafft werden müssten. Aber es wäre das Eingeständnis vorstellbar, dass hinter den in internationalen Rechtsdokumenten enthaltenen Menschenrechten faktisch-historische Entwicklungen stehen, von denen man nicht sagen kann, dass sie aus einer normativen Sicht zwingend geboten waren. Für die meisten im 20. Jahrhundert in Mitteleuropa sozialisierten Akademiker ist das ein unorthodoxer, ja ketzerischer Gedanke34 – was aber nicht bedeutet, dass er deshalb falsch sein müsse. In der Literatur wird dieser Standpunkt auch vertreten: Danach liege die Lösung darin, auf Tiefenbohrungen zu verzichten und das aufzugeben, was auf Englisch „foundationalism“ genannt wird. Die Bezeichnung als „foundationalism“ ist kritisch gemeint – wer diesen Begriff verwendet, plädiert dafür, auf eine unergiebige Suche nach tiefen, letzten Gründen zu verzichten und sich mit pragmatischeren und bescheideneren Argumenten zufrieden zu geben. So formuliert etwa der argentinische Jurist und Philosoph Eduardo Rabossi: „The world has changed; the human rights phenomenon renders human rights foundationalism outmoded and irrelevant“.35 Aus dieser Perspektive genügt es, auf die faktische Etablierung völkerrechtlicher und nationaler Rechtsinstrumente zu verweisen und auf eine sich daraus ergebende,
34 S. dazu Steven Lukes, Five Fables about Human Rights, in: Stephen Shute u. Susan Hurley (Hrsg.), On Human Rights. The Oxford Amnesty Lectures 1993, 1993, S. 19, 20. 35 Zitiert nach: Richard Rorty, Human Rights, Rationality and Sentimentality, in: Stephen Shute u. Susan Hurley (Hrsg.), On Human Rights. The Oxford Amnesty Lectures 1993, 1993, S. 112, 116.
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ein Eigenleben entfaltende Menschenrechtskultur. Ein Einwand liegt allerdings auf der Hand: Der Verweis auf das Faktische trägt nur insoweit, als die Begeisterung oder jedenfalls der faktische Konsens über eine in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte Menschenrechtskultur anhält. Es mag sein, dass es Zeitverschwendung ist, über tiefe Begründungen für eine Praxis zu grübeln, solange diese Praxis gut funktioniert. Sobald aber etwa die Vertreter von „Asian Values“ ihre abweichenden Überlegungen zu den Inhalten von Menschenrechten und zu Abwägungsentscheidungen vortragen, führt der pragmatische Verweis, man habe doch schon tatsächlich Vieles erreicht, nicht weiter. Wie geht ein Pragmatiker wie Richard Rorty mit diesem Einwand um? Seine Antwort ist: Diejenigen, die eine Kultur des humanen Umgangs miteinander fördern wollen, sollten sich nicht darauf verlassen, in abstrakter Weise die Überlegenheit dieser Kultur zu postulieren. Die Aufgabe von Philosophen liegt nach dieser Sichtweise nur darin, Intuitionen über das richtige Verhalten in bestimmten Situationen zu erfassen und sie zu einem schlüssigen System zusammenzufügen, während Versuche, eine unabhängige Unterstützung zu gewinnen (etwa durch den Rekurs auf Vernunft), sinnlos seien. Die Zusammenfassung und Verallgemeinerung von Intuitionen solle es zum einen erleichtern, in zukünftigen Situationen Entscheidungen zu treffen. Zum anderen gehe es darum, den Sinn für eine geteilte moralische Identität zu erhöhen.36 Das führt allerdings wieder zurück zu der Frage, was dies bedeutet, wenn vorhandene Intuitionen nicht übereinstimmen und sich nicht in ein kohärentes Gesamtsystem bringen lassen. Die pragmatische Pointe an dieser Stelle liegt in folgendem Argument: Zivilisatorische Fortschritte wie die Entstehung einer Menschenrechtskultur hätten nichts mit abstraktem moralphilosophischen Wissen zu tun, sondern seien ausschließlich Produkt des Sich-Hineinversetzens in die Lage anderer. Die Schlüsselfrage für Moral im Allgemeinen, aber auch für die Frage der universalen Menschenrechte laute: „Why should I care about a stranger, a person who is not kin to me, a person whose habits I find disgusting?“37 (Man könnte hinzufügen: whose religious beliefs I find disgusting.) Rortys Position lautet: Zu antworten, dass dieser Fremde auch zur Gattung homo sapiens gehöre und damit Zugang zu Vernunft habe, bewirke nichts. Fortschritt sei ausschließlich durch die Manipulation von Gefühlen und die Förderung von Empathie zu erzielen. Rortys scharfe, kategorische Zurückweisung der Rolle von Argumenten und Ideen erscheint überzogen. Jedenfalls manche Ideen diffundieren und beeinflussen langfristig auch gängige Intuitionen. Seiner Analyse von
36 Rorty (Fn. 35), S. 117. 37 Rorty (Fn. 35), S. 133.
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Wirkungszusammenhängen kann man allerdings in der Grundtendenz schlecht widersprechen: Ein gut gemachter, Gefühle ansprechender Spielfilm über menschliches Leiden mit internationaler Verbreitung trägt sicherlich mehr zur Unterstützung von Menschenrechten bei als dies die Fünfjahresproduktion aller philosophischen Fachpublikationen tun könnte. Aber aus einer akademischen Perspektive gesehen denkt Rorty zu pragmatisch-ergebnisorientiert: Die Anliegen von Menschenrechtsaktivisten und die Anliegen von Philosophen decken sich allenfalls teilweise.38 Es leuchtet nicht ein, warum man „Förderung von Empathie“ gegen „philosophische Untersuchungen“ aufrechnen sollte.
2. Politische Konzepte von Menschenrechten In der neueren Literatur zu Menschenrechten zeichnet sich eine Verschiebung von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie ab. Zeitgenössische Autoren aus dem Bereich der politischen Theorie vertreten ein praktisches Verständnis von Menschenrechten, das bei existierenden Lehren und Praktiken ansetzt.39 Solche Ansätze gehen nicht von natürlichen, durch Erkenntnis zu erschließenden Menschenrechten aus, sondern davon, dass Menschenrechte zuerkannt worden sind. Hierin liegt eine wichtige Umorientierung: vom Erkennen natürlicher Rechte zum Aushandeln, Anerkennen und Analysieren des Anerkannten. Der Schwerpunkt wandert dann von Universalität zu Universalisierung als Folge von Verständigung.40 Möglich ist dieser Blickwinkel zum einen aus einer historisch-beschreibenden Perspektive. Dies kann auf eine optimistische Erzählung hinauslaufen, derzufolge Menschenrechte heute deshalb großen Stellenwert genießen, weil sie sich als politisch-soziale Konstruktion zur Verbesserung menschlichen Lebens als sinnvoll erwiesen haben – allerdings wären auch Narrative vorstellbar, die den kontingenten Charakter historischer Entwicklungen stärker betonen. Die rekonstruktive Perspektive kann hier nicht verfolgt werden. Vielmehr geht es um die prospektiv-normative Perspektive, die fragt, warum Menschenrechte anerkannt werden sollten. Das Eingeständnis, dass Menschenrechte in politischen Interaktionen konstruiert und nicht vorgefunden werden, bedeutet gegenüber dem orthodoxen Ansatz eine Verbesserung. Aus politischer Sicht münden allerdings solche Überlegungen oft wieder in die dezidiert pragmatische Schlussfolgerung, dass man
38 S. für eine Analyse der Lücken in Rortys Herangehensweise Menke u. Pollmann (Fn. 2), S. 64 ff. 39 Beitz (Fn. 33), S. 102 ff. 40 S. dazu Philippe Mastronardi, Universalisierung: Ein Prozess inter-rationaler Verständigung, Zeitschrift für Politik 57 (2010), S. 187 ff.; Menke u. Pollmann (Fn. 2), S. 79 ff.
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den Streit über die richtige Begründung ausklammern dürfe, da man sich in der Sache schließlich einig sei.41 Aus einer rechtsphilosophischen Sicht ist dies, wie eben schon erwähnt, keine sonderlich befriedigende Antwort. Außerdem ist die Reichweite von Konsens beschränkt. Von einem unerschütterlichen Konsens ist nur für die Aussage auszugehen, dass es eine politische Verpflichtung gibt, Menschenrechte zu schützen.42 Deutsche Politiker wissen, dass sie anlässlich von Staatsbesuchen bei oder von z.B. Vertretern des russischen oder chinesischen Staats in Mikrophone sprechen müssen, dass sie selbstverständlich das Thema Menschenrechte einbezogen hätten. Aber es bleibt ein auffälliger Kontrast: Während „Menschenrechte ernstnehmen“ im zeitgenössischen Kontext einer der zentralen (und letzten) Kristallisationspunkte für politischen Konsens ist, ist gleichzeitig oft Dissens festzustellen, wenn es um Details geht. Insbesondere liegt bei der Bestimmung der Inhalte ein Problem, das nicht alleine mit Bezug auf politischen Konsens und tatsächliche Praktiken zu lösen ist. Bei Rückfragen muss auf Gründe Bezug genommen werden. Was aber könnten diese Gründe sein?
3. Kulturelle Übereinstimmungen und menschliche Bedürfnisse Ein möglicher Ansatz für die Begründung universaler Menschenrechte verweist auf Übereinstimmungen hinter unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen und Kulturen.43 Insbesondere wird darüber nachgedacht, inwieweit auch nicht-westliche Moral- und Religionssysteme Basis für die Ableitung universaler Menschenrechte sein können.44 Mit Verweis auf Gemeinsamkeiten, die in unterschiedlichen Kulturen zu finden sind, fiele die Begründung leichter, dass wir uns alle darauf verständigen sollten, derartige Bedingungen als Menschenrechte ausdrücklich
41 Jacques Maritain, Man and the State, 1951, S. 76 ff.; Stefan Gosepath, Sinn der Menschenrechte, in: Georg Lohmann u.a. (Hrsg.), Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig, 2005, S. 21, 25. 42 Georg Lohmann, Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig – Eine Skizze, in: Lohmann u.a. (Hrsg., Fn. 41), S. 5, 17; Gosepath (Fn. 41), S. 21. 43 Renteln (Fn. 8), S. 138 ff. verweist auf die Notwendigkeit empirischer Forschung, um solche Vorstellungen zu identifizieren. 44 S. z.B. Charles Taylor, A World Consensus on Human Rights, Dissent (Summer 1996), S. 15 ff.; Otfried Höffe, Die Menschenrechte im interkulturellen Diskurs, in: Walter Odersky (Hrsg.), Die Menschenrechte. Herkunft – Geltung – Gefährdung, 1994, S. 119 ff.; ders., Konfuzius, der Koran und die Gerechtigkeit, in: FAZ v. 17.8.2015, S. 6; James Griffin, On Human Rights, 2008, S. 140 f.; Mahmoud Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität, 2014.
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anzuerkennen. Dies scheint ein Weg, den zu verfolgen sich grundsätzlich lohnt. Allerdings sind auch kritische Reflektionen angebracht. Allzu optimistische Verweise auf kulturelle Übereinstimmungen wecken den Verdacht der Rosinenklauberei, also des mehr oder weniger willkürlichen Herauspickens passender Passagen aus religiösen oder philosophischen Schriften bei schamhaftem Verschweigen anderer Passagen. Andere Ansätze stellen nicht auf Kultur, sondern auf Anthropologie ab. Maßgeblich seien Bedürfnisse, die Menschen in stabiler Weise, auch in einer transkulturellen Betrachtung teilen,45 vor allem das Interesse am Überleben und weiterer Existenz,46 oder allen Menschen gemeinsame Fähigkeiten.47 Betrachtet man Auflistungen von Fähigkeiten und Bedürfnissen, die Menschen unabhängig von ihren jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Bindungen teilen, entstehen ebenfalls Abgrenzungsprobleme. In ihrer vollen Länge können solche Listen schwerlich in Menschenrechtskataloge umgesetzt werden (s. dazu sogleich 4.). Sobald es allerdings darum geht, grundlegende Fähigkeiten und Bedürfnisse von den weniger grundlegenden abzusondern, tauchen Schwierigkeiten auf.48 Auch wenn man davon ausgeht, dass es grundsätzlich ein vielversprechender Ansatz ist, auf kulturelle und bedürfnis- bzw. fähigkeitsorientierte Übereinstimmungen zu verweisen: Man muss sich der begrenzten Reichweite solcher Übereinstimmungen und der Abgrenzungsprobleme bewusst sein.
4. Für ein minimalistisches Konzept der Menschenrechte Aus einer konsequent moralisch-individualistischen Sicht, die die Bedürfnisse von Individuen ins Zentrum aller Überlegungen stellt, gibt es allenfalls praktisch-pragmatische Schranken für politische Aktivitäten, die auf eine immer weiter gehende Extension von Menschenrechten zielen. Soweit es sich in internationalen Organisationen durchsetzen lässt, kann man die juridischen Rechte noch weiter ausdifferenzieren und ausweiten. Wenn das Konzept der Menschenrechte aber nicht in Deflation versinken und wertlos werden soll, sollte es ein Schwellenbegriff sein – nicht alles, was Basis eines guten Lebens sein kann, muss mit Ansprüchen abgesichert werden, die als Menschenrechte eingeordnet werden.49
45 Griffin (Fn. 44), S. 32 ff.; Bassiouni (Fn. 44), S. 229 ff. 46 Wolfgang Kersting, Kritik der Gleichheit, 2002, S. 119 ff. 47 Martha Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das Gute Leben, 1998, S. 200 ff. 48 Gosepath (Fn. 3), S. 167 ff.; Renteln (Fn. 8), S. 49. 49 Ignatieff (Fn. 32), S. 321 ff.; Kersting (Fn. 46), S. 97 ff.; Joseph Raz, Human Rights Without Foundations, in: Samantha Besson u. John Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, 2010, S. 326 f.
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Von Menschenrechtsaktivisten, aber auch von moralphilosophischen Autoren wird dies oft verkannt. Auf der einen Seite soll der besondere Status, die „Heiligkeit“ von Menschenrechten, bewahrt werden. Auf der anderen Seite besteht die Tendenz, alle wesentlichen Voraussetzungen für ein gutes Leben mit der Berufung auf Menschenrechte zu schützen.50 Es ist aber erforderlich, zwischen moralischen Ansprüchen im Allgemeinen und der engeren Gruppe der Ansprüche, die den Titel „Menschenrechte“ tragen sollten, zu unterscheiden. Expansiven Tendenzen, die die Grenzen zwischen berechtigten moralischen Ansprüchen und der Subkategorie Menschenrechte mit dem Verweis auf umfassende menschliche Bedürfnisse verschleifen, ist aus mehreren Gründen zu widersprechen. Erstens zeigt sich ein konzeptuelles Problem mit einem umfassenden, auf menschliche Bedürfnisse fokussierten Ansatz, wie er in der neueren philosophischen Literatur vor allem zu sozialen Rechten vertreten wird.51 Bedürfnisse lassen sich nicht bruchlos in Rechte und Pflichten übertragen. Aus der Identifizierung von Bedürfnissen ergibt sich nicht, dass allein schon deshalb ein Anspruch gegen andere oder den Staat auf Bedürfnisbefriedigung bestehe. Wichtig-Sein mündet nicht automatisch in die berechtigte Forderung „ein Recht darauf haben“. Joseph Raz weist auf die verfehlte Logik mit folgendem Beispiel hin: Wenn für ihn die Liebe seiner Kinder das Wichtigste auf der Welt sei – habe er deshalb ein Recht darauf?52 Die entscheidende Frage ist die nach der Verpflichtung von Adressaten eines Rechts. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder man wendet sich wieder (der hier nur eingangs kurz gestreiften) Frage zu, wie das Konzept „Rechte“ zu definieren ist. Konzeptuell ist es möglich, den Begriff „Rechte“ zu verwenden, ohne darauf zu pochen, dass es zu jedem Recht konkrete Adressaten und Verpflichtete geben müsse.53 Aber eine solche, weiche Definition von Rechten ist schon auf der theoretischen Ebene unbefriedigend, da Rechte dann nicht mehr von allgemeinen Bekenntnissen zu wichtigen Zielvorgaben zu unterscheiden sind. Überzeugender ist es, „Menschenrecht“ als Relationsbegriff zu verstehen, der neben dem Inhaber oder Träger zwangsläufig auch einen Adressaten voraussetzt.54 Außerdem ist im politischen Diskurs der Rekurs auf Rechte in der Regel mit dem praktischen Anspruch verbunden, damit gegenüber einem Ansprechpartner eine Forderung geltend zu machen, der verpflichtet sei, diese zu erfüllen.
50 Krit. Raz (Fn. 49), S. 325 ff. zu James Griffin. 51 S. z.B. Regina Kreide, Globale Politik und Menschenrechte. Macht und Ohnmacht eines politischen Instruments, 2008, S. 60 ff., 100 ff. 52 Raz (Fn. 49), S. 325. 53 S. dazu Nickel (Fn. 3), S. 29 ff. 54 Peter Koller, Der Geltungsbereich der Menschenrechte, in: Stefan Gosepath u. Georg Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 96, 99; Gosepath (Fn. 3), S. 148.
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Interpretiert man aber Menschenrechte in einer Weise, die erstens Bedürfnisbefriedigung in den Vordergrund stellt und zweitens als notwendiges Korrelat Pflichten und Verpflichtete vorsieht, sind extensive Vorstellungen von Menschenrechten problematisch. Bedürfnisse, so nachvollziehbar sie auch sein mögen, begründen nicht zwangsläufig als Korrelat eine Pflicht für andere Individuen oder für Kollektive, dieses Bedürfnis zu befriedigen.55 Kein wesentlicher Fortschritt ist es, mit einem verbreiteten Argument darauf zu verweisen, dass durch umfassende soziale Menschenrechte nicht Individuen als Adressaten betroffen seien, sondern primär Staaten.56 Auch ein Ansatz, der einen Staat zur Absicherung aller wichtigen Lebensbedürfnisse verpflichten will, nimmt damit unausweichlich Individuen in Anspruch, nämlich diejenigen, deren Steuerzahlungen den öffentlichen Haushalt finanzieren. Zweitens: Je anspruchsvoller und umfassender Menschenrechtskataloge werden, umso mehr läuft dies auf eine Standardisierung der weltweiten Lebensverhältnisse hinaus, und umso schwieriger wird es, Entscheidungsspielräume auf lokaler Ebene zu erhalten. Wenn man davon ausgeht, dass eine Pluralität von Kulturen und Sozialsystemen nicht nur ein Faktum, sondern grundsätzlich wünschenswert ist, spricht auch dieser Punkt dagegen, sich in umfassender Weise an anspruchsvollen Erwartungen von möglichst weitgehender Bedürfniserfüllung zu orientieren. Drittens kann die Perspektive „Erfüllung menschlicher Bedürfnisse“ auch schon deshalb nicht die einzig relevante sein, weil für eine Diskussion über Menschenrechte die staatstheoretische Komponente von wesentlicher Bedeutung ist. Aus einer staatstheoretischen Sicht gibt es einen weiteren Aspekt zu bedenken: die Souveränität von Staaten. Auch an dieser Stelle kommt es nicht auf Details des positiven Völkerrechts an, sondern auf Überlegungen aus der politischen Philosophie. Die Idee der Menschenrechte muss auch von den Rechtsfolgen ausgehend überdacht werden, also mit Blick auf die Funktion und die Konsequenzen eines Vorwurfs der Menschenrechtsverletzung. Menschenrechtsverletzungen heben sich von einer Verletzung allgemeiner moralischer Pflichten dadurch ab, dass die Beeinträchtigung von Individuen einen erheblich negativ bewerteten Stand der jeweiligen öffentlichen Ordnung anzeigt.57 Ein Vorwurf wird Institutionen 55 Es bedarf vielmehr einiger Zusatzannahmen, etwa des Postulats, dass sich aus dem Prinzip gegenseitiger Achtung Umverteilungspflichten ergeben, so etwa Gosepath (Fn. 3), S. 173 ff. Diskussionsbedürftig ist dabei unter anderem Gosepaths Annahme, dass „die Begründunglast . . . auf seiten der Ungleichverteiler“ liege (S. 179). Dem wäre entgegenzusetzen, dass es sich umgekehrt verhält – wer Eingriffe plant, muss diese gegenüber denjenigen begründen, in deren faktisch persönlichen Status Quo verschlechternd eingegriffen werden soll. 56 Koller (Fn. 54), 100 f.; Kreide (Fn. 51), S. 119 f. 57 S. dazu z.B. Menke u. Pollmann (Fn. 2), S. 30 f.
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gemacht, die großflächiges, über das Versagen eines einzelnen Akteurs hinausgehendes Fehlverhalten schaffen oder tolerieren. Mit dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung wird ein öffentlicher Missstand angeprangert. Bei dieser spezifischen Funktion von Menschenrechten setzen etwa John Rawls58 und Joseph Raz an. Raz weist darauf hin, dass angesichts des Vorwurfs von Menschenrechtsverletzungen Staaten die Legitimation verlieren, sich die Einmischung durch andere zu verbieten.59 Menschenrechtsverletzungen machen verwundbar gegenüber den Interventionen anderer – nicht notwendigerweise in einem räumlichen oder gewalttätig-militärischen Sinne, sondern in Form von Vorwürfen, Sanktionen oder der Aufkündigung von Kooperation. Auch deutlich unterhalb von Sanktionen oder militärischen Interventionen kann erfolgreich Druck ausgeübt werden. Die Anschuldigung, ein Staat begehe Menschenrechtsverletzungen, bedeutet, dass eine Berufung auf Nicht-Einmischung nicht mehr funktionieren wird. Das führt zu der Frage: Wieviel Einmischung ist erwünscht? Die Antwort hierauf kann nicht sein: unbegrenzte Einmischung. Bei einem halbwegs realistischen Blick auf reale Machtverhältnisse in dieser Welt wäre es unpassend, das Prinzip der Staatensouveränität als rundum altmodisches, komplett abzubauendes Relikt einzuordnen. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil wesentliche Gefahren nicht mehr von intakten Staaten drohen. Michael Ignatieff hat schon im Jahr 2000 darauf hingewiesen, dass die Hauptbedrohung für Menschenrechte nicht mehr von Tyrannen herrühre, sondern von Bürgerkriegen und Anarchie.60 Diese Diagnose hat sich in den letzten Jahren deutlich bestätigt. Auch aus dieser, Staatensouveränität schätzenden Sicht ist Skepsis gegenüber ausufernden Menschenrechtsverständnissen begründet. Das mündet nicht in die Folgerung Benthams, dass das Konzept der Menschenrechte Unsinn sei. Aber die Konsequenz ist, dass ein realistisches und universal anschlussfähiges Verständnis ein minimalistisches Verständnis sein sollte. Dies spricht für eine stark eingeschränkte Reichweite, wie sie Michael Ignatieff vorgeschlagen hat: Zu schützen seien die „Mindestvoraussetzungen von Leben überhaupt“.61 Das Verdikt „Menschenrechtsverletzung“ ist danach nur dann angemessen, wenn grundlegende Lebensbedingungen in schwerwiegender Weise verletzt werden (durch absichtliche Tötungen, schwere Verletzungen – etwa auch in der Form von Folter –, durch Hungersnöte). Für diese Bereiche ist Universalisierung relativ einfach, da die Einordnung als gravierende Beeinträchtigung nicht kulturabhängig ist.62
58 John Rawls, The Law of Peoples, 1999. 59 Raz (Fn. 49), S. 327 ff. 60 Ignatieff (Fn. 32), S. 310. 61 Ignatieff (Fn. 32), S. 322. 62 Kersting (Fn. 46), S. 127 ff.
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VI. Schlussbemerkung Die eingangs gestellte Frage, ob es universale Menschenrechte als moralische Rechte gibt, kann bejaht werden. Zwar überzeugt die Berufung auf natürliche Rechte nicht. Aber der Rekurs auf interkulturelle Übereinstimmungen und geteilte menschliche Bedürfnisse ermöglicht es grundsätzlich, gegenüber Institutionen bestimmte, inhaltlich beschränkte Schutzansprüche zu begründen. Voraussetzung ist, dass grundlegende Lebensbedingungen, deren Bedeutung nicht von kulturellen Überzeugungen abhängig ist, in schwerwiegender Weise verletzt werden. Das für das Verhältnis von Staaten zueinander bedeutsame Verdikt „Menschenrechtsverletzung“ ist allerdings nur dann angebracht, wenn es sehr sparsam eingesetzt wird. Bei darüber hinausgehenden Ansprüchen sprechen die besseren Gründe für ein Zurückfahren der Menschenrechtsrhetorik. Das heißt nicht, dass Kritik an öffentlichen Missständen verstummen muss. Zurückhaltung gegenüber einer extensiven Berufung auf Menschenrechte kann ein Anzeichen für moralischen Relativismus sein, muss es aber nicht.63 Die Einordnung, dass verbesserte Lebensbedingungen moralisch wünschenswert wären, ist unabhängig vom Etikett „Menschenrechtsverletzung“ möglich.
63 Raz (Fn. 49), S. 335.
Stephan Kirste
Die Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung der Rechtsperson I. Einleitung Der Gedanke der Menschenwürde scheint nicht ins Recht zu passen. Erst im 20. Jahrhundert hat er den Weg dorthin gefunden und noch immer ist sein formaler Status als objektiver Wert oder als subjektives Recht umstritten. Auf der anderen Seite bezeichnet die Menschenwürde in den Verfassungen und Menschenrechtserklärungen, die sie anerkannt haben, ihr grundlegendes materiales Prinzip – so grundlegend, daß es den Anschein hat, sie sei zu breit und habe als Recht eine zu feste Form, um eine systematisch befriedigende Stellung in der juristischen Argumentation zu erhalten.1 Wegen seines basalen Inhalts dient der Menschenwürdegedanke entweder als allumfassende Lösung auch der kleinsten Belästigungen wie etwa der falschen Schreibweise von Namen in öffentlichen Akten. Oder er wird als Trumpf verwendet, der immer sticht, weil er so eng mit dem Menschen als solchen verbunden ist. Wenn diese Überlegung dann noch in ein subjektives Recht geformt wird, dann übertrifft es alle anderen Rechte der Rechtsordnung. Tatsächlich räumen moderne Verfassungen wie das Grundgesetz der Menschenwürde eine so starke Stellung ein, daß sie nicht mit anderen Rechten abgewogen werden kann, sondern nicht angetastet werden darf. Wie ist dann jedoch die Kollision zwischen der Würde des einen Menschen mit der Würde des anderen zu entscheiden?2 So, wie die Rechtsform die objektive Struktur des Rechts bezeichnet, so bezeichnet die Rechtsperson die grundlegende subjektive Stellung des Menschen im Recht. Als Rechtsperson hat der Mensch einen rechtlichen Status, kann von seinen Rechten Gebrauch machen, Rechtsobjekte sein Eigentum nennen und seine sonstigen Interessen verteidigen. Im Recht hat somit die Rechtsperson einen sowohl technischen als auch ethischen Wert. Ihr technischer Wert zeigt sich darin, daß sie allen möglichen Einheiten zugesprochen werden kann, die
1 Zu einer kritischen Analyse der Argumentation mit der Menschenwürde vgl. Ulfrid Neumann, „Die Tyrannei der Würde. Argumentationstheoretische Erwägungen zum Menschenwürdeprinzip,“ ARSP 84 (1998), S. 426; Eric Hilgendorf, „Die mißbrauchte Menschenwürde. Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion,“ Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), S. 137. 2 Winfried Brugger, „Würde gegen Würde,“ Baden-Württembergische Verwaltungsblätter 1995, S. 414 und 446 ff. DOI 10.1515/9783110537130-004
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rechtsfähig sein sollen und sich auf Rechte berufen können sollen. Entsprechend macht es keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Mensch, ein Unternehmen oder der Staat eine juristische Person ist.3 Diese technische Seite der Rechtsperson verdeckt aber ein wenig das rechtsethische Problem, daß in der Geschichte häufig Mitgliedern bestimmter sozialer Gruppen der Status einer (vollen) Rechtsperson verweigert wurde. Man denke nur an Sklaven oder Juden und Angehörige anderer Minderheiten im Nationalsozialismus. Während das fundamentale materiale Prinzip der Würde des Menschen Schwierigkeiten hat, eine angemessene rechtliche Form zu finden, steht das Institut der Rechtsperson vor dem Problem, welche materialen Kriterien dafür bestehen, wem der Status einer Person im Recht zuerkannt werden soll. Ich werde im folgenden argumentieren, daß beide Probleme gelöst werden können, wenn die Würde des Menschen verstanden wird als subjektives Recht des Menschen auf Anerkennung als Rechtsperson. Zur Begründung dieser These soll zunächst das Prinzip der Würde des Menschen und sodann die Entwicklung des Instituts der Rechtsperson untersucht werden.
II. Die Würde des Menschen 1. Einige Aspekte der Geschichte des Begriffs der Menschenwürde Die Wurzeln des Gedankens der Menschenwürde reichen bis in die Antike. Theologisch und philosophisch ist der Begriff sehr facettenreich. In deutlicher Abgrenzung dazu, hat das Rechtsinstitut der Würde des Menschen eine sehr kurze Geschichte. Sie beginnt erst mit einer Erwähnung in Art. 151 I der Weimarer Reichsverfassung von 1919.4 Ausführlicher wird es dann in der irischen Verfassung von 1937 erwähnt, die von „dignity und freedom of the individual“ in ihrer Präambel spricht. Die Franco Verfassung Spaniens machte von dem Begriff geradezu inflationären Gebrauch.5 Nach dem Ende des Nationalsozialismus begann dann jedoch der eigentliche Triumphzug der Menschenwürde durch die Texte des
3 Zur Personifikation im Recht vgl. Stephan Kirste, Die Hermeneutik der Personifikation im Recht. In: ARSP 101 (2015), S. 473–487. 4 „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ 5 Art. I 1.: „Dignity of human life“, Art. I 2. „personal dignity of the one who works“, but also Art. I 3. „dignity of the fatherland“; and also in the Charter of the Spaniards (17 July 1945): Art. 1, 25.
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internationalen Rechts,6 der Menschenrechtserklärungen7 und Verfassungen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Prinzip in den Verfassungen verschiedener Bundesländer und schließlich im Grundgesetz von 1949 kodifiziert. Die letzten Stationen des Siegeszuges dieses Rechtsprinzips durch das 20. und 21. Jahrhundert sind Art. 1 der Grundrechtecharta der Europäischen Union und der Vertrag über die Europäische Union: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen“. Rechtsprechungen nationaler und internationaler Gerichte entwickelten sie aber auch dort aus anderen Grund- und Menschenrechten, wo sie dem Wortlaut dieser Rechte nach nicht enthalten waren.8 Die bemerkenswert kurze Rechtsgeschichte im Unterschied zur jahrhundertealten philosophischen und theologischen Tradition des Begriffs mag erklären, warum sich der Rechtsdiskurs über das Institut der Menschenwürde inhaltlich noch nicht weit von anderen Diskursen über den Begriff entfernt hat. Dieser Import von außerrechtlichen Vorstellungen über die Würde des Menschen in das Recht hat jedoch zwei Probleme verursacht: Auf der einen Seite hat sich dieser Begriff in ethischen, theologischen und politischen Kontexten entwickelt, die ihm einen Inhalt und Wirkungen gegeben haben, die sich nicht leicht in einen rechtlichen Zusammenhang einfügen lassen. Auf der anderen Seite verlangt die Vielfalt der Vorstellungen von Menschenwürde eine Entscheidung zwischen ihnen oder eine abstrakte Fassung bestimmter gemeinsamer Aspekte zwischen ihnen. Die Auswahl zwischen verschiedenen Verständnissen der Würde des Menschen bedarf jedoch eines Kriteriums. Woher sollte dies gewonnen werden können? Ebenso bedarf die Suche nach einer gemeinsamen Bedeutung dieser Vorstellungen eines Bezugspunktes. Dies wiederum mag zur Gefahr eines zu
6 Präambel der Charta der Vereinten Nationen: „ . . . reaffirm faith . . . in the dignity and worth of the human person“. 7 Allgemeine Erklärung der Menschenrecht vom 10. Dezember 1948, Präambel: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet . . .“; Art. 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“.; auch der Art. 10 IPBPR; Art. 13 IPWSR; African [Banjul] Charter on Human and Peoples’ Rights, adopted 27 June 1981, Art. 5: „Every individual shall have the right to the respect of the dignity inherent in a human being and to the recognition of his legal status. All forms of exploitation and degradation of man particularly slavery, slave trade, torture, cruel, inhuman or degrading punishment and treatment shall be prohibited“. 8 Stephan Kirste, Menschenwürde im internationalen Vergleich der Rechtsordnungen. In: Das Dogma der Unantastbarkeit. Eine Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Würde. Hrsg. v. R. Gröschner u. O. W. Lemke. Tübingen 2010, S. 175–214.
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vagen allgemeinen Begriffs der Würde des Menschen führen, der nicht die argumentative Basis für beschränkte juristische Entscheidungen bilden kann. Die intensive rechtswissenschaftliche Diskussion betrifft insbesondere die Frage, ob der Rechtsbegriff eine philosophische oder theologische Fundierung besitzen sollte und im Fall, daß es darüber ein Einvernehmen gäbe, welches diese Grundlage des rechtlichen Verständnisses sein könnte: Sollte der Verfassungsbegriff der Menschenwürde in einer moraltheologisch katholischen Weise,9 in einem lutherischen Verständnis als „Gemeinschaft der Gotteskindschaft“,10 in humanistischer Vorstellung eines Pico della Mirandola,11 der ästhetischen Friedrich Schillers12 begriffen werden, oder gemäß den Aufklärungsphilosophen Christian Wolff, oder Samuel Pufendorf, im Lichte der Idealisten Kant,13 Fichte14 oder Schelling15 oder doch lieber im materialistischen Verständnis von Karl Marx,16 Ferdinand Lassalle17 oder Ernst Bloch,18 einem existenzialistischen im
9 Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Mainz 1996. 10 Eugen Biser, Gotteskindschaft und Menschenwürde Limburg 2005; Leiner, Menschenwürde und Reformation, in: Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, hrsg. v. Rolf Gröschner, Stephan Kirste and Oliver Lembcke, Tübingen, 2007, S. 49 ff. 11 Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen/Oratio de hominis dignitate. Hamburg 1990. 12 Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde. Stuttgart: Reclam, 1994, S. 69 ff. 13 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werke Bd. 7. Frankfurt/Main 1985, S. 59 ff.; Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten Tugendlehre, A 77 ff. Kant-Werke Bd. 8, Frankfurt/Main 1974, S. 557 ff. 14 Über die Würde des Menschen, beim Schlusse seiner philosophischen Vorlesungen gesprochen von J. G. Fichte. 15 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts, in Schriften von 1794–1798. Unveränd. Nachdr. d. Ausg. Stuttgart-Augsburg 1857, hrsg. Friedrich Wilhelm Joseph. Ort, 1980, S. 125–161. 16 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in MEW Bd. 4. Berlin 1980, S. 464 f.: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. . . . Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt“. 17 Ferdinand Lassalle, Das Arbeiterprogramm, in Ges. Reden und Schriften, hrsg. v. E. Bernstein, Bd. 2. Berlin 1919, S. 173 f. 18 Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main 1972, S. 11 ff., 14.
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Sinne von Jean-Paul Sartre,19 Martin Heidegger20 oder Werner Maihofer.21 Auch im Utilitarismus finden sich Ansätze zur Menschenwürde.22 Als zeitgenössische Konzeptionen bieten sich Jürgen Habermas,23 Niklas Luhmann24 oder postmodern Avischai Margalit an.25 Die Gefahr derartiger theologischer oder philosophischer Bedeutungsimporte liegt jedoch darin, daß diese Bedeutungen nicht oder nur schwer zu anderen Verfassungsnormen passen, bzw. diesen ebenfalls ein religiöses oder weltanschauliches Fundament vermitteln. Je stärker diese Begriffe der Menschenwürde mit Naturrechtstheorien verbunden sind, desto schwieriger wird es, sie in Rechtsbegriffe zu transformieren. Auch heute noch vertreten Verfassungsinterpreten die Auffassung, daß die Menschenwürde eine außerrechtliche Basis besitzt und ihre Kodifikation nur die Akzeptanz dieses Umstands bedeutet. Das Recht wird tatsächlich von solchen naturrechtlichen Vorstellungen von Menschenwürde geprägt, wenn – einer Traditionslinie bis zu den Kirchenvätern (etwa Origines)26 folgend – z. B. die Würde des Menschen als seine Gottebenbildlichkeit verstanden und die Aufgabe des Rechts darin gesehen wird, dem Menschen diese Stellung zu sichern. Alle Menschen haben ein subjektives Recht auf die Anerkennung ihrer Würde, die sie als Menschen besitzen. Aufgrund dieses Ursprungs der Würde, ist der Schutz der Würde absolut. Sie kann also nicht mit einem anderen Verfassungsrecht abgewogen werden. Die Strategie hinter diesem Argument ist es, gewissermaßen die Würde die Menschen bis zu einem unendlichen Punkt zu verlängern, den andere Rechte nicht erreichen und demgegenüber sie eine lediglich geringere Bedeutung haben. Dieses theologisch inspirierte Konzept der Würde wird jedoch heftig kritisiert. Seine Prämissen sind zu stark mit einer bestimmten
19 Jean-Paul Sartre, Ist der Existenzialismus ein Humanismus?, in Drei Essays. Frankfurt am Main, Berlin 1986, S. 7–51, 10 f. 20 Martin Heidegger, Über den Humanismus. Frankfurt am Main 1981, S. 12 f., 37 f., 43 f. 21 Rechtsstaat und menschliche Würde. Frankfurt 1968, S. 7 ff.; dazu auch Stephan Kirste, Die Würde des Menschen als Grundlage des Rechtsstaats. In: Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Beiträge zum Kolloquium für Werner Maihofer zum 90. Geburtstag. Hrsg. v. S. Kirste u. G. Sprenger. Berlin 2010, S. 103–120. 22 Norbert Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart 2002, S. 11 ff.; ders., Abtreibung im säkularen Staat. Frankfurt am Main 1991, S. 121 ff. 23 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2001), 62 ff. 24 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 4. Aufl. Berlin 1999, S. 53 ff. 25 Die Politik der Würde. Frankfurt 1999. 26 Theo Kobusch, Die Würde des Menschen – ein Erbe der christlichen Philosophie, in Des Menschen Würde – Wiederentdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, hrsg. Rolf Gröschner, Stephan Kirste u. Oliver Lembcke. Tübingen 2008, S. 235 ff.
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Weltanschauung verbunden. Mit einer säkularen Rechtsordnung und ihrer Neutralität gegenüber der Religion ist dies schwer verträglich. Der absolute Charakter der Menschenwürde ist insbesondere zweifelhaft, wenn es zu Konflikten zwischen der Würde des einen mit der Würde des anderen kommt, wie ihn Winfried Brugger im Fall der Anwendung von Folter gegenüber dem Entführer zum Schutz seines Opfers konstruiert hat:27 Die Verletzung der Würde des Entführers durch die Folterer müsse mit der verletzten Würde des Opfers durch den Entführer abgewogen werden. Auch werden die starken metaphysischen Annahmen über den Beginn des Lebens auf der Basis moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und ethischer Kritik angezweifelt. Die bloße Beobachtung, daß so unterschiedliche Rechtstexte wie der CIC,28 die Verfassung der Islamischen Republik Iran29 und die Verfassung der Volksrepublik China30 auf die Menschenwürde rekurrieren können, zeigt die Unsicherheiten der Entfaltung eines autonomen, rechtlich stimmigen Konzepts der Menschenwürde im Allgemeinen. Zunehmend differenzierte Verfassungsbestimmungen über bestimmte Aspekte der Verletzung der Menschenwürde – etwa das Folterverbot, der Schutz gegenüber willkürlicher Verhaftung (Habeas Corpus), der Schutz der Ehre, der Schutz des Embryos und anderer medizinisch gefährdeter Werte31 – sind Zeichen für den Versuch der Verfassunggeber, zu klaren Abgrenzungen über die Menschenwürde zu gelangen und sie dadurch juristisch handhabbar zu machen. Der allgemeine Begriff der Menschenwürde verliert dadurch nicht seine Bedeutung. Die Frage bleibt jedoch, was seine angemessene rechtliche Bedeutung und wie sie zu bestimmen ist. Juristen würden zunächst aufgrund des klassischen Kanon der Auslegungsmethoden die angemessene Bedeutung des Prinzips der Würde des Menschen
27 Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), S. 67–97. Winfried Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in Juristenzeitung 2000, S. 165–173. 28 CIC 1983, Canon 208: „Unter allen Gläubigen besteht, und zwar aufgrund ihrer Wiedergeburt in Christus, eine wahre Gleichheit in ihrer Würde und Tätigkeit, kraft der alle je nach ihrer eigenen Stellung und Aufgabe am Aufbau des Leibes Christi mitwirken“. vgl. auch Can. 212 und 768. 29 Verfassung des Irans vom 24.10.1979 in der Präambel: „. . . this Constitution . . . regards as its highest aim the freedom and dignity of the human race . . .“, Art. 22: „The dignity, life, property, rights, residence, and occupation of the individual are inviolate, except in cases sanctioned by law.“ 30 Verfassung Chinas vom 4.12.1982 in Art. 38: „The personal dignity of citizens of the People‘s Republic of China is inviolable.“ 31 Art. 119a der Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft: „Der Bund erlässt Vorschriften auf dem Gebiet der Transplantation von Organen, Geweben und Zellen. Er sorgt dabei für den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Gesundheit.“
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ermitteln wollen. Ich möchte zeigen, daß dies jedoch nur einen beschränkten Erfolg verspricht. Das Prinzip ist seinem Inhalt nach zu breit und in seiner Form als subjektives Recht zu stark dafür. Eine Reduktion entweder seiner inhaltlichen Bedeutung oder seiner Form könnte eine Strategie darstellen, um das Prinzip rechtlich handhabbar zu machen.
2. Die Würde des Menschen als Rechtsbegriff Nur teilweise folgt die Interpretation des Rechtsbegriffs der Würde des Menschen der überkommenen juristischen Hermeneutik. Berücksichtigt man die Breite und Unbestimmtheit des Begriffs, hilft die Wortlautauslegung nicht viel weiter. Auch die historische Auslegung führt nicht zu klaren Ergebnissen – jedenfalls im Bereich des deutschen Grundgesetzes: Die Auffassungen der Verfassungsväter waren zu heterogen und ebenso steht es mit der Dogmengeschichte.32 Die differenzierten Bestimmungen des Art. 1 GG geben immerhin Raum für eine systematische Interpretation. Den Begriff selbst muß diese Methode jedoch voraussetzen. Dieser grob skizzierte methodische Befund und die kurze Rechtstradition, ist die Grundlage dafür, daß sich die Interpretation nicht-juristischen Überzeugungen geöffnet hat. Daher ist es nicht überraschend, daß insbesondere in den frühen Stadien der Interpretationsgeschichte, verschiedene christliche Annahmen gemacht wurden.33 Der mehr oder weniger säkulare Charakter der westlichen Rechtstraditionen widerspricht diesem Ansatz jedoch. Die Transformation des Begriffs in die Verfassungen und Menschenrechtserklärungen könnte damit eine autonome Interpretation nahelegen. Ungeachtet der Vagheit des Begriffs der Menschenwürde, stellt die Kodifikation einen Filter gegenüber der Rezeption von nicht-juristischen Argumenten aus anderen sozialen Systemen auf. Jedenfalls ist sie systematischen Begrenzungen unterworfen, die sich aus anderen Verfassungsbestimmungen ergeben, auch wenn diese in der Normhierarchie der Menschenwürde untergeordnet sind. Philosophische Konzeptionen scheinen diesen Filter der Kodifikation des Begriffs der Menschenwürde passieren zu können. Daher ist es auch nicht
32 Horst Dreier, Art. 1 I GG, Rn. 42 f., in ders. Hrsg., Grundgesetz. Kommentar. Band 1, Präambel, Art. 1–19. 3. Aufl. Tübingen 2013, Rn. 1 ff. 33 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Eröffnung, in Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, hrsg. v. ders. /R. Spaemann, Stuttgart, 1987, S. 14 f.; Christian Starck, GG-Kommentar. München 1999, Art. 1 I Rn. 6: Art. 1 weise einen innerweltlichen Absolutheitsanspruch zurück. Kritisch dazu: Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Menschenwürdeprinzips, in Juristische Schulung 1983, S. 93 ff.
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überraschend, daß zunächst philosophische Ansätze die Interpretation beherrschten, die als breit konsensfähig und dazu noch über jeden totalitären Mißbrauch erhaben schienen. Das Menschenwürde-Verständnis Kants stand daher hoch im Kurs. Kant schien zudem eine Interpretation zuzulassen, die christliche Ansätze aufgriff, ohne in Konflikt mit dem säkularen Verständnis der Verfassung zu geraten.34 Eine andere Methode zur Begründung der Menschenwürde ist die Analyse nicht des juristischen, sondern des Alltagssprachgebrauchs und der Verwendung des Wortes in der Bevölkerung.35 Obwohl dies auch zunächst angesichts der Vagheit der Alltagssprache im Verhältnis zur immer noch größeren Präzision der juristischen Sprache zu offenen Ergebnissen führt, wird doch der Versuch unternommen, beim „Moral Sentiment“ (David Hume) beginnend, gewisse Grundbedeutungen zu bestimmen. Hier werden vor allem Verletzungen der Menschenwürde identifiziert. Das macht sich auch eine im weiteren Sinn historische Interpretation zu Nutze. Sie beruht auf dem Gedanken, daß die Menschenwürde in die Menschenrechtserklärungen und Verfassungen aufgrund der grausamen Unrechtserfahrungen von totalitären und diktatorischen Regimen eingeführt worden ist. Das Grundgesetz reagierte mit der Einführung der Menschenwürde auf die massiven Menschenrechtsverletzungen durch den Nationalsozialismus, der jüdischen Mitbürgern die Rechtsfähigkeit absprach und andere Bevölkerungsteile rassisch massivst diskriminierte und verfolgte. Nimmt man dies zusammen, argumentieren diese Ansätze juristischer, weil sie sich auf die Funktion der Verfassung, die Herrschaft des Rechts zu sichern und so willkürliche Diskriminierungen von Menschen zu verhindern, berufen. Diese allgemeinen Gesichtspunkte wurden systematisch zusammengeführt in dem Ansatz, daß die Menschenwürde nicht positiv definiert, sondern nur negativ, von ihren Verletzungen her bestimmt werden kann.36 Dieser negative Ansatz ersetzt die Frage, was Menschenwürde ist, durch die Frage, wann und unter welchen Umständen sie verletzt wird. In diesem Sinne schrieb etwa Günther Dürig: „Natürlich sollte man sich nicht anmaßen, das Menschenwürdeprinzip positiv verbindlich zu interpretieren, aber man kann sagen, was dagegen
34 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in Werkausgabe Bd. 3, hrsg. v. W. Weischedel. Frankfurt am Main 1988, S. 32. 35 Michael S. Pritchard, Human Dignity and Justice, in Ethics 82 1972, S. 300 f. 36 Cf. e. g. Philipp Kunig, Art. 1 Rn. 22,. in Grundgesetz. Kommentar, hrsg. v. Münch und Kunig. München 5 Aufl. 2000).
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verstößt.“37 Erniedrigung, Denunziation, willkürliche Verhaftung, Verbannung etc. sind ebenso Verletzungen der Menschenwürde wie Folter, Körperstraften, der unfreiwillige Gebrauch von Lügendetektoren oder die Injektion von Wahrheitsseren. So überzeugend diese negativen Ansätze klingen, hängen sie doch von drei Bedingungen ab: Erstens setzen sie entsprechende Verletzungen voraus. Das schränkt ihren Wert bei der Beurteilung ganz neuartiger Gefährdungen wie etwa in der Medizinethik aus. Zweitens läßt sich nicht sagen, was die Menschenwürde verletzt, wenn man nicht irgendeine Vorstellung davon besitzt, was dabei verletzt wird, was also die Menschenwürde positiv ausmacht. Welche Kriterien würde diese Erfahrung besitzen, um eine Verletzung der Würde des Menschen zu identifizieren und von derjenigen anderer Werte abzugrenzen? Schließlich fehlen dieser Theorie klare Kriterien, um das Gefühl der Verletzung einer Ungerechtigkeit und der Verletzung der Menschenwürde von der Verletzung anderer Werte oder von bloßen Belästigungen abzugrenzen. Dieser Ansatz argumentiert jedoch auf der Basis von rechtsstaatlichen Verfassungen. Die zentrale Aufgabe des Rechtsstaates ist es, Rechtsverletzungen zu verhindern. Das ist der positive Aspekt, bei dem eine Theorie der Menschenwürde ansetzen kann und relativ zu dem ungerechte Handlungen als negativ beurteilt werden können. Eine derartige Argumentation würde sich nicht auf außerrechtliche, philosophische oder theologische Rechtfertigungen beziehen, sondern auf die Form des Rechts selbst und seine Funktion. So würde der Begriff der Menschenwürde von vorneherein aus der rechtlichen Perspektive der Vermeidung von Rechtsverletzungen verstanden werden. Wenn das Recht auf der einen Seite soziale Probleme durch konkrete Antworten lösen soll und wenn auf der anderen Seite eine Pluralität von Verständnissen von Menschenwürde besteht, kann es sinnvoll sein, mit einer Definition des Begriffs aus der Perspektive der Würdeverletzungen zu beginnen. Positive Menschenrechte stammen von Setzungsakten der Staaten als Vertragspartner, der Verfassungs- und Gesetzgeber und anderer rechtsetzender Institutionen, deren Rechtsetzungen diskursiv gerechtfertigt sind. Die rechtliche Definition von Menschenwürde sollte diese Form ebenfalls berücksichtigen. Dies legt es nahe, nach einer juristischen Begründung des Inhalts der Menschenwürde zu suchen. Bevor dem näher nachgegangen werden kann, sollen jedoch einige formale 37 Günther Dürig, „Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III des Grundgesetze,“ in Festgabe für Theodor Maunz zum 70. Geburtstag. hrsg. H. Spanner. München 1971, S. 41 ff.; auch Oscar Schachter, Human Dignity as a Normative Concept, in The American Journal of International Law 77 (1983), S. 849, der jedoch ergänzt: „Without a reasonably clear general idea of its meaning, we cannot easily reject a specious use of the concept, nor can we without understanding its meaning draw specific implications for relevant conduct“, S. 852.
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Theorien der Menschenwürde vorgestellt werden. Auch hier konzentriere ich mich auf die Frage, welche außerrechtlichen Überlegungen die entsprechende Theorie beeinflußt haben.
3. Die formale Relativierung der Menschenwürde Bei ihrem Versuch, die Menschenwürde zu einem juristisch brauchbaren Rechtsbegriff zu formen, haben Verfassunggeber und Rechtswissenschaft versucht, die Begründung der Menschenwürde formal zu spezifizieren. Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutete es, die Menschenwürde nicht als subjektives Recht, sondern als ein objektives Prinzip oder einen Wert zu verstehen.38 Als ein derartiges objektives Rechtsprinzip, verpflichtet die Würde den Staat, gibt dem Einzelnen aber kein korrespondierendes Recht auf Anerkennung und Schutz seiner Würde.39 Einige moderne Verfassungen haben diese Idee aufgenommen, indem sie die Würde des Menschen zwar in der Präambel oder in einem anderen Teil der Verfassung, nicht aber unter den Grundrechten aufführen. Dies ist etwa in Art. 10 der spanischen Verfassung geschehen.40 Auch in Völkerrechtsdokumenten ist die Menschenwürde aus der Präambel der UN-Charta erst allmählich in die verbindlichen Rechtstexte selbst hereingewachsen. Zwar wird die Menschenwürde als solches Prinzip oder Wert in das Recht umgeformt; sie erhält jedoch eine gegenüber einem subjektiven Recht schwächere Form, da das subjektive Recht vom Einzelnen eingefordert werden kann. Die Tendenz, die Rechtsform der Würde abzuschwächen, wird noch fortgeführt, wenn einzelne Autoren ihr den Charakter eines anwendbaren Rechtsprinzips ganz versagen. In einer klassischen Formulierung hat Ernst Forsthoff die Menschenwürde als einen „allgemeinen Begriff“ bezeichnet, unter den man nicht subsumieren könne.41 Andere sprechen von einem Axiom der Verfassung
38 Günther Dürig war der Auffassung, daß die Menschenwürde ein Wert sei, der von der Verfassung anerkannt würde, jedoch kein subjektives Recht, Günther Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in AöR 42 (1956), S. 119. 39 Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG. Tübingen 1997, S. 118: „Der Absolutheit des Begriffs der Menschenwürde und der Unbestimmtheit ihres Schutzbereichs entspricht es demnach, wenn sich positivrechtlich aus Art. 1 I GG kein eigenständiges subjektives Recht ergibt, dieser vielmehr nur in einer objektiv-rechtlichen und auf alle Grundrechte bezogenen Funktion zum Tragen kommt.“ 40 Ignacio Gutiérrez Gutiérrez, Menschenwürde als europäischer Verfassungsbegriff. – Rechtsvergleichender und verfassungsgeschichtlicher Beitrag zur Debatte um die Menschenwürde, in Kritische Vierteljahresschrift 2006, S. 384–400. 41 Ernst Forsthoff, Rezension, in Der Staat 18 (1969), S. 524.
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mit lediglich „appellativem Charakter“,42 von einem „Konstitutionsprinzip“,43 einem obersten Ziel des Rechts44 oder auch einem Überzeugungssatz oder einem Satz mit der Verbindlichkeit einer Präambel. Der Vorteil dieser Relativierung der Form liegt im risikolosen Import starker Theorien des Inhalts der Würde. Wenn sich niemand direkt auf die Würde des Menschen berufen kann, dann ist es ungefährlich, sie als Ebenbild Gottes mit absolutem Status zu berufen. Als objektives Prinzip müssen staatliche Autoritäten die Würde berücksichtigen, insbesondere bei der Interpretation des Rechts; aus ihr können jedoch keine konkreten rechtlichen Konsequenzen gezogen werden. Wenn Sie gar kein Rechtsprinzip darstellt oder jedenfalls kein subjektives Recht, ist die Abwägung eines derart schwachen normativen Prinzips mit anderen Verfassungswerten wesentlich unproblematischer. Es kann als Prinzip um so höher gelobt werden, je geringer die daraus ableitbaren rechtlichen Konsequenzen sind. Pathos und rechtliche Konsequenzen fallen auseinander. Wegen der Abschwächung der Form wäre das Prinzip für religiöse oder starke philosophische Verständnisse offen.
4. Die Relativierung des Inhalts der Würde des Menschen Andere Theorien versuchen die angesprochenen Probleme mit der gegensätzlichen Methode zu bewältigen: Zusammen mit der Stärkung der Form der Menschenwürde als subjektives Recht, reduzieren sie ihre inhaltliche Bedeutung. Die betreffenden Theorien können in zwei Gruppen unterschieden werden, die wiederum weitere Untergruppen haben. Zunächst gibt es Ansätze, die den Inhalt der Würde aufgrund einer qualitativen Veränderung der Bedeutung spezifizieren. Zweitens gibt es Theorien, die eine Art quantitative Schwelle errichten, unterhalb derer eine Würdebeeinträchtigung als bloße Belästigung, nicht jedoch als deren Verletzung angesehen wird. In systematischer Perspektive geht der erste Ansatz vom säkularen Charakter der meisten westlichen Verfassungen aus. Legte man der Interpretation ein Verständnis der menschlichen Würde als Gottebenbildlichkeit zugrunde, könnte dies der Religions- und Gewissensfreiheit, der Nichtdiskriminierung aufgrund der Religion und der verfassungsrechtlich verankerten Abschaffung einer Staatskirche, die die Verfassung ebenfalls anerkennt, widersprechen. Anders als die
42 Rolf Gröschner, Des Menschen Würde. Humanistische Tradition eines Verfassungsprinzips, in Des Menschen Würde – Wiederentdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, hrsg. v. Rolf Gröschner, Stephan Kirste und Oliver Lembcke. Tübingen2007, 14. 43 BVerfGE 93, 266 ff. (293) – Soldaten sind Mörder; E 87, 209 ff. (228) – Tanz der Teufel. 44 BVerfGE 12, 45 ff. (51).
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irische Verfassung, die mit einer Invocatio Dei beginnt und darin die Integration jedenfalls einiger religiöser Perspektiven in die Verfassung zum Ausdruck bringt, wird damit die religiöse Interpretation der Menschenwürde in den eher säkularen Verfassungen zu einem fremden Element. Interpreten, die diese Implikationen vermeiden wollen, greifen daher gerne auf Immanuel Kant zurück. In seiner Philosophie ist die Würde bekanntlich eine Konsequenz der Autonomie.45 Daraus folgt, daß die Würde des Menschen auf individuelle menschliche Handlungen ausgerichtet ist. Das wiederum bedeutet, daß alle Menschen das Recht auf Anerkennung der Fähigkeit zu autonomem Handeln besitzen.46 Auf der Basis dieses inhaltlichen Würdeverständnisses kann dann der Rechtsbegriff der Würde als ein subjektives Recht konzipiert werden. Diese in der deutschen Grundrechtsdogmatik und auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Objekt-Formel“47 sehr prominente Theorie läßt jedoch das Problem ungelöst, daß sie – nicht nur über den Freiheitsbegriff – einer bestimmten Auffassung, der idealistischen Philosophie Immanuel Kants – verpflichtet ist. Auch die damit verbundenen Rationalitätsannahmen können kaum von allen unterschrieben werden, auch nicht von allen Philosophen. Diese Schwierigkeiten veranlassen zur Suche nach Konzeptionen, die die dualistische Unterscheidung von homo phaenomenon und homo noumenon ablehnen. Dazu greifen einige auf den Renaissancephilosophen Pico della Mirandola zurück, der gewissermaßen als Kompromißkandidat erscheint.48 Er nimmt an, daß sich der Mensch als zweiter Adam selbst seine Stellung in der Welt geben muß. Wie auch andere Renaissancephilosophen, vertritt er, daß der Mensch einem Chamäleon gleicht, das in der Lage ist, sich ständig zu wandeln.49 Diese genialische Fähigkeit unterscheidet ihn von anderen Geschöpfen. Sowohl die
45 Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in Werke Bd. 7, hrsg. W. Weischedel. Frankfurt/Main 1974, S. 69. 46 Was hier nur ganz grob skizziert werden kann, wird von Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant. Paderborn 2009 eingehend untersucht. 47 Zuerst entwickelt von Günther Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in AöR 42 (1956), S. 117–157 und später rezipiert von BVerfGE 9, 89 ff. (95); E 27, 1 ff. (6); E 28, 386 ff. (391); E 45, 187 ff. (228); E 50, 166 ff. (175); E 50, 205 ff. (215); E 57, 250 ff. (275); E 72, 105 ff. (116); E 87, 209 ff. (228). 48 Vgl. oben Fn. 11. 49 Oliver W. Lembcke, Die Würde des Menschen frei zu sein. Zum Verständnis der „Oratio de hominis dignitate“ Picos della Mirandola, in Des Menschen Würde: (wieder)entdeckt oder erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance? Hrsg. v. R. Gröschner, S. Kirste, O. Lembcke. Tübingen (Politika 1) 2008, S. 159–187, S. 173; Stephan Kirste, Menschenwürde und Freiheitsrechte des Status Activus. Renaissancehumanismus und gegenwärtige Verfassungsdiskussion. In: Des Menschen Würde: (wieder)entdeckt oder erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance? Hrsg. v. R. Gröschner, S. Kirste, O. Lembcke. Tübingen (Politika 1) 2008, S. 187 ff., 199 f.
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Spannung zwischen einer neutralen westlichen Demokratie und einer starken Theorie der Würde des Menschen auf der einen Seite und einer lediglich abstrakt geschützten Würde auf der anderen Seite, können vermieden werden, wenn wir dem großen Synthetisierer sowohl der christlichen und muslimischen Philosophie, Pico folgen. Allerdings bleibt die Frage bestehen: Nahezu kein Verfassungsvater hat sich auf Pico della Mirandola,50 Petrarca,51 Giannozzo Manetti52 oder andere Renaissanceautoren berufen. Schließlich ist auch bei Pico unklar, welche spezifische menschliche Fähigkeit diese freie Stellung des Menschen zum Ausdruck bringt und also auch verletzt werden kann. Starke und heute häufig nicht mehr geteilte metaphysische Annahmen können vermieden werden durch Theorien, die die Würde nicht als Substanz des menschlichen Wesens betrachten, sondern als seine Leistung. Der Soziologe Niklas Luhmann nimmt an, daß die Würde ein Resultat der Selbstdarstellung des Menschen in der Gesellschaft sei.53 Die Würde eines Menschen bedeutet dann die soziale Anerkennung als Ergebnis gesellschaftlicher Kommunikation. In der Tat findet diese Auffassung ihre Stütze in Menschenrechtserklärungen, wie etwa in Art. 45b der Charta der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAU): „Work is a right and a social duty, it gives dignity to the one who performs it . . .“. Diese Formulierungen sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Wenn Würde relativ zu den Errungenschaften des Einzelnen verstanden wird, dann schützt sie gerade diejenigen Personen nicht, die ihrer am meisten bedürfen, nämlicher diejenigen, die aufgrund von Behinderungen nicht in der Lage sind, soziale Anerkennung aufgrund eigener Verdienste zu erringen, weil sie vielleicht gar nicht kommunizieren können. Außerdem ist klar, daß schon von der Theorieanlage her, ungeborenes Leben aus dem Schutz der Menschenwürde herausfallen würde. Aus der soziologischen Perspektive von Niklas Luhmann kann es durchaus richtig und gerechtfertigt sein, Würde als ein Resultat der Zuschreibung aufgrund von Kommunikation anzusehen; als rechtliche Theorie ist sie jedoch problematisch, weil sie Menschen gerade in denjenigen Situationen nicht schützt, in denen sie am schutzbedürftigsten sind, nämlich dann,
50 Lembcke (Fußn. 49), S. 159 ff. 51 Alexander Thumfart, Giannozzo Manetti: Wir sind für die Gerechtigkeit geboren. Der Entwurf einer politisch-sozialen Würde des Menschen, in Des Menschen Würde: (wieder)entdeckt oder erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance? Hrsg. v. R. Gröschner, S. Kirste, O. Lembcke. Tübingen (Politika 1) 2008, S. 73–92, S. 81 f. 52 Thumfart (Fußn. 49), S. 73 ff. 53 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Berlin 2009, S. 68 ff.; zu Luhmanns Verständnis der Würde des Menschen vgl. auch: Andreas Noll, Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann – Vom Mangel an Würde zur Würde des Mangels. Basel – Genf – München 2006, 369 ff.
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wenn sie ihre Freiheitspotentiale nicht, noch nicht oder nicht mehr realisieren können. Zugleich zeigt Luhmann’s Theorie der Würde, daß nicht nur theologische, philosophische, sondern auch soziologische Ansätze Schwierigkeiten verursachen, weil Annahmen, die in ihrem jeweiligen Bereich völlig berechtigt sein mögen, für die spezifisch rechtlichen Zwecke nicht passen. Hier könnte es weiterhelfen, wenn man das Prädikat „Würde“ von ihrem Gegenstand – dem Menschen – unterschiede. In diesem Sinne versuchen andere Ansätze einen kontext-spezifischen Ansatz von „Würde“.54 So könnte man etwa das christliche Verständnis der Würde des Menschen als ein Ebenbild Gottes annehmen; man könnte unterschreiben, daß Menschen durch ihre Vernunft oder ihre Selbstgeschöpflichkeit von anderen Wesen unterschieden sind und kann doch einen Unterschied zwischen der Würde und dem relevanten Subjekt machen: Würde und Subjekt der Würde sind zweierlei! Die Würde selbst bringt demnach die Anerkennung oder den Anspruch auf Anerkennung zum Ausdruck. Sie ist ein normatives Prinzip. Zwischen ihm und einer bestimmten (philosophischen oder sonstigen) Anthropologie besteht kein notwendiger Zusammenhang. Die Würde des Christen als solchem ist unterschiedlich von der Würde des Partners in einer sozialen Kommunikation. Und sogar innerhalb eines Kommunikationssystems kann jemand unterschiedliche Würden besitzen. Würde als Anerkennung ist danach kontextspezifisch. Deshalb braucht eine christliche Verpflichtung, den Menschen als Gottebenbild zu behandeln, nicht ausgeschlossen werden. Sie kann sogar vom Recht geschützt werden. Aber diese religiösen Verpflichtungen für die Begründung des Rechts können nicht mit Rechtspflichten seiner Anwendung verbunden werden. Die Aufgabe bleibt, dem Menschen eine Würde zu garantieren, die ein rechtliches Äquivalent zu seiner ethischen Würde als moralische Person oder als Gottebenbild etc. ist. Wieder andere Theorien relativieren den Inhalt der Würde des Menschen dadurch, daß sie gewisse Schwellen für das Vorliegen von Verletzungen ansetzen.55 Belästigungen unterhalb dieses Niveaus werden nicht als Verletzungen der Würde des Menschen angesehen, auch wenn sie sich auf Aspekte von Ehre und sozialem Status beziehen. Diese Ansätze bemühen sich insbesondere, den inflationären Gebrauch des Prinzips der Menschenwürde zu vermeiden, der letztlich zu seiner Entwertung führt. Allerdings bedeutet dieses Bestreben eher eine Randkorrektur als ein Angreifen des Problems des Imports eines stark aufgeladenen ethischen oder theologischen Prinzips im Recht. Außerdem bestehen 54 Vgl. Habermas (Fn. 23); Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, in AöR 118 (1993), S. 353–377. 55 Eric Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde, in Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), S. 137 ff.; Hofmann (Fn. 52).
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Schwierigkeiten, allgemeine Kriterien für die Schwelle, ab der eine echte Verletzung der Würde des Menschen vorliegen soll, zu bestimmen. All diesen Theorieansätzen geht es um die Einpassung des allgemeinen, fundamentalen Prinzips der Menschenwürde mit seinen alten Traditionen und starken philosophischen und theologischen Annahmen in das Recht. Die formalen Ansätze gingen von der Annahme aus, daß ein derartig forderndes philosophisches Prinzip nur dann im Recht rezipiert werden könnte, wenn sein formaler Status auf ein objektives Prinzip oder sogar auf ein nicht-normatives Axiom reduziert würde. Die andere Gruppe von Theorien, die ich material genannt habe, versuchen das Prinzip der Würde des Menschen zu spezifizieren, indem sie bestimmte Bedeutungen seines Inhalts ausschließen. Auf diese Weise können sie einen starken formalen Status – nämlich den als subjektives Recht – aufrechterhalten. Während jedoch die formalen Ansätze in der Gefahr stehen, die Berufung auf Menschenwürde für irrelevant zu erklären, weil sie keine konkreten rechtlichen Konsequenzen besitzt, kann die andere Gruppe dazu führen, das Prinzip von innen her zu erodieren, weil es zwar ein Recht ist, jedoch in Situationen, in denen es Schutz bieten soll, dem Einzelnen gerade nicht hilft. Die Aufgabe wäre es, eine Theorie der Würde des Menschen zu entwickeln, die beides kombiniert und die formale Relevanz als subjektives Recht mit der traditionellen inhaltlichen Bedeutung der Menschenwürde als Höchstwert der Moralphilosophie verbindet und doch beide Probleme vermeidet.
5. Mensch und Würde Eine Möglichkeit der Verbindung beider Ansätze könnte sich aus der Unterscheidung zwischen dem Prädikat „Mensch“ und der Kontextsensitivität der Würde als sozialer Anerkennung ergeben. Die Frage wäre dann, was die Würde des Menschen im spezifischen Kontext des Rechts bedeutet. Mensch zu sein, wäre dann das normative Kriterium, bei dessen Vorliegen die soziale Anerkennung als „Würde“ geschuldet ist. Die Vorstellung, daß die Würde ein bestimmtes soziales Verhältnis bedeutet und in diesem Sinn kontextabhängig ist, hat eine lange Tradition. Marcus Tullius Cicero sprach von der „excellentia et dignitas“ und zeigte dabei, daß die Würde nicht die Essenz, das Wesen einer Person ist, sondern eine Eigenschaft.56
56 Dies wiederum war die Grundlage für eine ungleiche Würde. Marcus Tullius Cicero, De officiis. In Cicero in Twenty-Eight Volumes XXI. With an English translation by Walter Miller. Cambridge, Mass./London, Engl. 1990, 1, 30, 105 f.
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Er nahm damit eine Unterscheidung zwischen der Würde als Wert und dem „Träger“ oder Adressaten dieses Wertes vor. Entsprechend war die Würde auch nicht auf menschliche Wesen beschränkt. Der Staat („dignitas rei publicae“) oder das römische Volk („dignitas populi Romani“) besaßen ebenfalls eine Würde. Begründet war diese Würde als Anerkennung einer sozialen Eigenschaft dann im konkreten sozialen Status. Als solche war sie nicht absolut und relativ zu den sozialen Beziehungen.57 In der mittelalterlichen Philosophie wurden dann ewige Würden anerkannt. Damit traten dann der sterbliche Träger und die Würde stärker auseinander. Sie ergab sich aus der hierarchischen Ordnung der Welt und betraf etwa das Verhältnis Gott-Mensch, Papst-Bischof, König-Beamten. Diese Verhältnisse waren der Grund für die Verleihung, ggf. aber auch für den Entzug der Würde. Die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes übertraf freilich diese Würden: Sie sollte dem Menschen tatsächlich nicht entzogen werden können. Für Samuel Pufendorf und Christian Wolff58 – um nur zwei Aufklärungsphilosophen zu erwähnen – bezog sich die Anerkennung, die durch die Würde ausgedrückt wurde, auf die moralische Person. Es war mithin nicht der gesamte Mensch, dem Würde zukam, sondern nur sein besserer, moralischer Teil. Thomas Hobbes brachte diese Kontextualität, Selektivität und Relativität der Würde dadurch zum Ausdruck, daß er sie als „public value of Man“ bezeichnete.59 Er vertrat damit die Auffassung, daß Würde den Wert seines Trägers in einem bestimmten philosophischen oder sozialen Kontext bezeichnet. Sogar Immanuel Kant, der die Würde – anders als den relativen Preis – als einen „innerlichen“ und „absoluten“ Wert verstand, bezog ihn auf das Substrat der Würde, das rationale menschliche Wesen. Als solches ist der Mensch absolut. Als empirisches Subjekt besitzt er diese Eigenschaft hingegen nicht. In allen diesen Fällen ist ein bestimmter Aspekt des Menschseins das normative Kriterium für die Verleihung oder Anerkennung der Würde.
57 Marcus Tullius Cicero, De re publica. With an Engl. transl. by Clinton Walker Keyes. Cambridge, Mass. I, 27, 43. 58 Martin Lipp, „Persona moralis“, „Juristische Person“ und „Personenrecht“ – Eine Studie zur Dogmengeschichte der „Juristischen Person“ im Naturrecht und frühen 19. Jahrhundert, in Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 11/12 (1982/83), S. 217–263; Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. 2. Aufl. Darmstadt 1997, S. 67 ff. 59 Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. P. Smith. Oxford 1965, Part I, chap. 10. p. 68: „the publique worth of a man, which is the Value set on him by the Common-Wealth, is that which men commonly call Dignity.“
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Diese wenigen Stationen der Ideengeschichte mögen verdeutlichen, daß sich Würde immer auf einen bestimmten, unterscheidbaren Aspekt des Substrats oder Trägers, nicht aber auf ihn insgesamt bezieht. Die Würde des Amtes widerspiegelt die Bedeutung in der hierarchischen Ordnung des Staates. Diese Amtswürden werden dann in der sozialen Kommunikation durch entsprechende Symbole, insbesondere auch die Kleidung zum Ausdruck gebracht. Die Würde des Menschen in der christlichen Perspektive bezieht sich auf die Ordnung aller Geschöpfe, innerhalb derer der Mensch als Ebenbild Gottes eine herausgehobene Stellung besitzt. Die Würde in philosophischer Hinsicht bezieht sich etwa auf die Teilhabe an einer moralischen Ordnung. Dies rechtfertigt die Überlegung, daß wir zur Bestimmung des Begriffs der Würde zwischen der Basis der Würde in einem Substrat oder Träger (Mensch, Tier, Amt etc.) und dem entsprechenden Rahmen oder Kontext unterscheiden müssen. Mit Rücksicht auf diesen sozialen, philosophischen, religiösen oder anderen Rahmen ist die Würde relativ. Das kann sie auch in bezug auf das Substrat sein, muß es aber nicht. Aus der Würde des Menschen kann sich – muß aber nicht – eine Gnade in religiösen Zusammenhängen ergeben, die der Staat nicht gewährt. Von diesem Rahmen oder Kontext, auf den sich die Würde bezieht und von dem sie ihre Anerkennung erfährt, müssen wir die Begründung der Würde unterscheiden, die sich aus dem Substrat ergibt. Im Falle der Menschenwürde wäre dies also der Mensch. Würde ist mithin der Ausdruck des systematischen Wertes dieses Substrats. Sie bezeichnet den Wert eines Substrats in einem bestimmten Kontext. Daher ist sie relativ zu diesem Kontext, auch wenn der Wert dieses Substrats gegenüber anderen in diesem Kontext absolut sein mag. Wenn die Würde sich auf einen Wert bezieht, der zugunsten eines bestimmten Substrats mit Rücksicht auf einen spezifischen Kontext anerkannt wird, können wir spezifischer fragen: Gibt es eine Möglichkeit, die verfassungsmäßige Behauptung der Menschenwürde als höchstem Wert sinnvoll zu verstehen oder können wir nur, wenn auch pathetisch, von ihr reden, ohne daß ihr ein harter systematischer Wert zukommt. Meine Antwort wird sein, daß ein solches starkes Verständnis der Menschenwürde möglich ist, wenn wir sie als Recht auf Anerkennung als Rechtsperson verstehen. Dazu ist zunächst auf den Begriff der Rechtsperson einzugehen.
III. Der Begriff der Rechtsperson Der Begriff der Rechtsperson ist ein technischer Begriff des Rechts, der in erheblichem Maß philosophische Aspekte in sich aufgenommen hat. Er bezieht sich auf die Position eines homogenen Substrats im Recht. In der Form der „natürlichen
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Person“ ist das Substrat der Mensch im Recht. Sie ruht in der Rechtssubjektivität des Menschen, die wiederum die Fähigkeit zum Ausdruck bringt, Adressat von Rechten und Pflichten zu sein.60 Die philosophische Entwicklung des Begriffs von einem noch recht unspezifischen Verständnis als „Maske“ („prosopon“) im antiken Theater brachte schon erste Aspekte der spezifischen Funktion des Terminus hervor, insofern zwischen dem Träger der Maske, dem sie zur Darstellung und einerseits gewissermaßen der Außenseite der Maske, die dem Publikum eine bestimmte Rolle vorstellt und dessen Erwartungen daran bündelt andererseits, unterschieden werden kann.61 Der Begriff wurde von den Kirchenvätern erheblich weiterentwickelt, die das Problem von Einheit und Vielheit Gottes mit dem Begriff der Person zu bewältigen suchten. Die bekannte Definition von Boethius (475-524) bringt dies gut zum Ausdruck: „Persona est rationalis naturae individua substantia“ – die Person ist die individuelle Substanz einer rationalen Natur. Entsprechend bezog sich die Personalität nicht auf die gesamte empirische Substanz, sondern auf den vernünftigen Teil. Das meint wiederum nicht die Vernunft schlechthin, sondern die Vernunft, wie sie in einer individuellen Substanz erscheint.62 Bonaventura (1221–1274) entwickelt die Theorie der moralischen Handlung, wonach alle Menschen als moralische Personen verantwortlich sind. Thomas von Aquin versteht die Person als mit höchster Würde ausgestattete vernünftige Natur. Sie ist durch die besondere Weise der Existenz, durch das „per se existere“ ausgezeichnet.63 Mit Rücksicht auf die Form betont er, daß die Person eine mittlere Position zwischen der Gattung – etwa als Mensch – und einem individuellen Namen – etwa Sokrates – einnehme.64
60 Kobusch (Fußn. 56); Stephan Kirste, Verlust und Wiederaneignung der Mitte – zur juristischen Konstruktion der Rechtsperson, in Evangelische Theologie 60 (2000), S. 25–40; Stephan Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, in Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, hrsg. J. Bohnert, Chr. Gramm, U. Kindhäuser, J. Lege, A. Rinken u. G. Robbers Berlin 2001, S. 319–361. 61 Stephan Kirste, Die beiden Seiten der Maske – Rechtstheorie und Rechtsethik der Rechtsperson. In: Kirste, S., Gröschner, R. u. Lembcke, O. (Hrsg.): Person und Rechtsperson. Tübingen 2015, S. 345–382. 62 „Persona est rationalis naturae individua substantia“. Zum Folgenden Theo Kobusch, Person und Handlung. Von der Rhetorik zur Metaphysik der Freiheit, in Kirste, S., Gröschner, R. u. Lembcke, O. (Hrsg.): Person und Rechtsperson. Tübingen 2015, S. 1 ff.; Ernst Fuhrmann, Person I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in HWbPh VII, hrsg. K. Gründer Basel 1989, Sp. 269–283, Sp. 280; Kobusch (Fußn. 56), S. 28. 63 Brigitte Kible, Person II. Hoch- und Spätscholastik; Meister Eckhart; Luther, in HWbPh VII Basel 1989, Sp. 283–300, Sp. 287 f., Sp. 291; zum Begriff der Würde bei Thomas von Aquin und seinen rechtlichen Implikationen cf. Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG. Tübingen 1997, S. 180–184. 64 Kible (Fußn. 61), Sp. 292.
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Zusammengenommen bezeichnet Person die Privation der universellen Vernunft in einem einzelnen menschlichen Wesen in der Ergreifung seiner höheren Existenz. Wilhelm von Auxere führt das Prinzip der Personalität auch in die Rechtsphilosophie ein: „Persona est nomen iuris, id est potestatis et dignitatis“.65 Damit wird der Zusammenhang zwischen Person, Recht, Macht und Würde zum gängigen Begründungselement in der mittelalterlichen Philosophie. Mit der Spätscholastik und später in seiner elaboriertesten Form bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff wird die Theorie der „persona moralis“ ein Begriff der Natur des Menschen als Teil der moralischen Welt.66 Diese zweite Natur als moralische Person ist die Grundlage seiner spezifischen Würde. Der Mensch wird damit in der Metaphysik in zwei Personen unterschieden, eine natürliche und eine moralische. Damit wird klar, daß die Person eine bestimmte Funktion oder Gestalt mit Rücksicht auf einen ontologischen Rahmen bedeutet. Während Pufendorf den Status im Reich der Moral als „ens morale“ als Basis der Personalität versteht, geht Christian Wolff von Normen aus und versteht Personalität als Fähigkeit der Zuschreibung oder Imputation von Normen. „Persona Moralis“ bezeichnet damit den Status, Pflichten und Rechte zu besitzen.67 Immanuel Kant kann daran anknüpfen, unterscheidet aber die rechtliche und die moralische Begründung der Person.68 Obwohl er in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten von der Verpflichtung, alle Menschen als Personen anzuerkennen, spricht,69 tritt diese Pflicht in seiner Rechtsphilosophie nicht auf, sondern erst wieder in der Tugendlehre.70 Mithin ist die Verpflichtung, die anderen als Rechtspersonen anzuerkennen, keine Rechtspflicht. Dennoch ist die Fähigkeit des Subjekts, Zurechnungspunkt für Rechte und Pflichten zu sein, das maßgebliche Unterscheidungskriterium zwischen Subjekten und Objekten. Diese Fähigkeit ist – jedenfalls dem Grundsatz nach – allen Menschen gemeinsam. Kant zeigt deutlich, daß Personalität als Zurechnungsfähigkeit immer relativ zu bestimmten normativen Systemen ist. Daraus folgt, daß es moralische Personen
65 Kible (Fußn. 61), Sp. 287. 66 Marietta Auer, Die Substanz der Freiheit. Pufendorfs Begriff der moralischen Person, in Kirste, S., Gröschner, R. u. Lembcke, O. (Hrsg.): Person und Rechtsperson. Tübingen 2015, S. 81–100. 67 Wolfgang Schild, Person, IV. Recht- Rechtsperson; Rechtspersönlichkeit, in HWbPh VII. Basel 1989, Sp. 322–335, Sp. 324; Lipp (Fußn. 56), S. 238. 68 Tobias Herbst, Person und Bürger bei Kant, in Kirste, S., Gröschner, R. u. Lembcke, O. (Hrsg.): Person und Rechtsperson. Tübingen 2015, S. 145–174. 69 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. v. W. Weischedel. Frankfurt am Main, S. 7–102, S. 61: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 70 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797 u. 1798), hrsg. W. Weischedel. Frankfurt am Main 1977, AB 31, S. 600.
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und davon unterschieden Rechtspersonen geben kann, die jeweils Zurechnungssubjekte unterschiedlicher Normensysteme sind. Es verwundert nicht, daß damit dieser Bedeutungsgehalt des Begriffs der Rechtsperson vorbereitet war für die Rezeption in der Rechtstheorie. Diese Rezeption führte zu einer Differenzierung des Begriffs, die sich aus den rechtlichen Notwendigkeiten ergab. Als Friedrich Carl von Savigny den Terminus aufgriff, konnte er den Ausdruck „persona moralis“ auch „persona moralis composita“ ablehnen, weil er zu starke metaphysische Konnotationen besaß, und sich auf den juristischen Begriff der Rechtsfähigkeit konzentrieren.71 Rechtsfähigkeit als Fähigkeit Zurechnungssubjekt von Rechten und Pflichten zu sein, ist ein rein juristischer Begriff. Ohne Bindungen an andere Wertsysteme kann sie frei vom Recht zugeschrieben werden. Wer wiederum als Zurechnungssubjekt von Rechten und Pflichten anerkannt ist, ist Rechtssubjekt und Rechtsperson. Bei von Savigny ist in dieser Anerkennung die Verbindung mit der Moral freilich noch selbstverständlich. Er ist der Auffassung – die auch Art. 16 ABGB zum Ausdruck bringt -, daß jeder einzelne Mensch und nur das individuelle menschliche Wesen fähig ist, Rechte und Pflichten zu haben.72 Während also von Savigny die Rechtsfähigkeit von seiner Vorstellung des menschlichen Wesens her konstruiert und künstlichen Gebilden wie bestimmten Unternehmen nur in entsprechender Weise zuerkennt, dreht sein Schüler Friedrich Puchta das Argument um. Er schreibt, daß der Mensch ein Rechtssubjekt mit einem eigenen Willen ist, weil das objektive Recht ihm diese rechtlich anerkannte Macht verleiht und nicht umgekehrt sei der Wille des Menschen zuerst und bringe das subjektive Recht hervor.73 Mit dieser positivistischen Interpretation wendet sich die Begründung der Personalität des Menschen weg vom Substrat – also dem Menschen – und hin zum Kontext, dem objektiven Recht. Der Positivismus streift die moralische Verpflichtung, den Menschen als Rechtssubjekt anzuerkennen ab und versteht die Rechtsperson nur noch als Rechtssubjekt, das durch die Zuschreibung subjektiver Rechte und 71 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Zweyter Band. Berlin 1840, 240 f.: „Früher war sehr gewöhnlich der Name der moralischen Person, den ich aus zwey Gründen verwerfe: erstens weil er überhaupt nicht das Wesen des Begriffs[der juristischen Person, pp. K.] berührt, der mit sittlichen Verhältnissen keinen Zusammenhang hat: zweytens weil jener Ausdruck eher dazu geeignet ist, unter den einzelnen Menschen den Gegensatz gegen die unmoralischen zu bezeichnen, so daß durch jenen Namen der Gedanke auf ein ganz fremdartiges Gebiet hinüber geleitet wird.“ 72 Savigny (note 67), 2. Hierzu auch Chris Thomale, Rechtsfähigkeit und juristische Person als Abstraktionsleistungen Savignys Werk und Kants Beitrag, in Kirste, S., Gröschner, R. u. Lembcke, O. (Hrsg.): Person und Rechtsperson. Tübingen 2015, S. 175 ff. 73 Uwe John, „Einheit und Spaltung im Begriff der Rechtsperson,“ Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 11/12 (1982/83), S. 947–971, S. 949.
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Pflichten an irgendein beliebiges Substrat konstruiert wird.74 Hans Kelsen bringt das zum Ausdruck, wenn er diese Entwicklung zusammenfassend die natürliche und die juristische Person auf einen gemeinsamen Nenner, nämlich den Nenner des Rechts, bringt.75 Die Person ist damit im Recht zu einem strikt system-funktionalen Begriff geworden. Sie muß in dem betreffenden Rechtssystem als bloßes Subjekt der Zurechnung von Normen verstanden werden. Für diese Zurechnung hat jedes Rechtssystem unterschiedliche Kriterien. Diese Kriterien hängen nicht an der Beschaffenheit natürlicher oder moralischer Eigenschaften der betreffenden Substrate, sondern können vom Recht unabhängig von diesen zuerkannt werden. Die Person, die das Recht mit dem Material von Rechten und Pflichten schafft, besteht nicht aus Knochen und Fleisch. Bei der Zuerkennung der Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu tragen, hat sich das Recht von anderen Systemen wie der Natur, der Moral oder auch der Religion abgelöst. Es ist daher rechtlich ebenso möglich, ungeborenes Leben oder Verstorbene als Zurechnungssubjekte zu behandeln, die Rechte und Pflichten besitzen und sogar rechtlich handeln können (auch wenn sie ggf. vertreten werden müssen), wie lebenden Menschen wie Sklaven oder solchen Menschen die keine „Blutsgenossen“ der Nationalsozialisten waren, die Rechtsfähigkeit abzusprechen und sie daher nicht als Personen zu achten oder wie juristische Personen als teilrechtsfähig anzusehen. Das bedeutet nun aber auch, daß neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften und auch der Philosophy of the Mind nicht entscheidend dafür sind, Menschen als Rechtspersonen anzuerkennen oder nicht. Der Status der Rechtsperson gibt dem betreffenden Substrat eine Stellung im Recht, über die das Recht nach eigenen Kriterien entscheidet. Dieser Status ist der rechtliche Körper des Substrats, dessen Äußerungen dann rechtlich anerkannt werden können. In mittelalterlichen Worten ist dies der „mystische“ Körper, den die Person im Recht besitzt.76 Diese reine Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben, ist zugleich die Grundlage der rechtlichen Freiheit und Gleichheit.77 In dieser Fähigkeit sind alle Rechtssubjekte untereinander gleich und rechtlich radikal von solchen Substraten unterschieden, die nicht Subjekte des Rechts oder eben Rechtspersonen sind. Insoweit hatte Radbruch Recht, daß der Begriff der Rechtsperson ein Gleichheitsbegriff
74 Tilmann Altwicker, Rechtsperson im Rechtspositivismus, in Kirste, S., Gröschner, R. u. Lembcke, O. (Hrsg.): Person und Rechtsperson. Tübingen 2015, S. 225–245. 75 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 63. 76 Cf. Ernst Hartwig Kantorowicz, The Kings two Bodies. Princeton, S. 209. 77 In der Rechtsperson wird der moralische Minimalgehalt der Gleichheit festgehalten, Helmut Coing, Europäisches Privatrecht. Band I. Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800). München 1985, S. 171.
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ist.78 Insofern ist es auch zutreffend, daß die Rechtssujektivität die Grundlage der rechtlichen Freiheit ist: Recht zu haben bedeutet, über die rechtliche Macht zu verfügen, unabhängig sich die Gesetze seines Handelns selbst zu geben und an der politischen Autonomie teilzuhaben, sowie sich von anderen Einflüssen zurückzuziehen. Daraus folgt auch, daß das Institut der Rechtsperson mit der Differenzierung von Recht und Moral im 19. Jahrhundert die Erbschaft der moralischen Person im Bereich des Rechts angetreten hat. Nimmt man dies mit den vorstehenden Überlegungen zur Würde des Menschen zusammen, so läßt sich sagen, daß die Würde des Menschen die Anerkennung seines spezifischen Wertes im Kontext des Rechts bedeutet, wie die moralische Person diese Anerkennung in einer vorgestellten Welt der Moral ist.
IV. Die Achtung der Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung als Rechtsperson Es gibt einen Streit unter den Interpreten von Art. 1 I S. 1 GG, wie der erste Satz der Verfassung zu verstehen ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.79 Handelt es sich um einen deskriptiven Satz, weil Normen notwendig ein Sollen enthalten, S. 1 aber indikativ formuliert ist oder trotz dieser Formulierung um eine Norm? Während normative Sätze kontrafaktische Bestimmungen enthalten, können deskriptive Sätze grundsätzlich als wahr bewiesen oder jedenfalls falsifiziert werden. Wenn Satz 1 deskriptiv wäre, wäre er längst widerlegt, weil ganz offensichtlich die Würde des Menschen verletzt werden kann und in der Geschichte so oft auch angetastet wurde. Um also sinnvoll zu sein, muß der Satz als ein normativer Satz verstanden werden: „Die Würde des Menschen soll nicht angetastet werden“.80
78 Gustav Radbruch. „Rechtsphilosophie,“ hrsg. v. E. Wolf und H.-P. Schneider. 8. Aufl. Stuttgart 1973), S. 225 u. S. 227: „Alle Personen, die physischen wie die juristischen, sind Geschöpfe der Rechtsordnung. Auch die physischen Personen sind im strengsten Sinne ‚juristische Personen‘“. 79 So auch Art. 1 I der Europäischen GrCh. 80 Cf. Horst Dreier, Art. 1 I GG, Rn. 42 f., in ders. Hrsg., Grundgesetz. Kommentar. Band 1, Präambel, Art. 1–19. Tübingen, 3. Aufl. 2013); Matthias Herdegen, Art. 1 Abs. 1, Rn. 17 ff., in Grundgesetz. Kommentar. Band I, Art. 1–5, hrsg. Maunz-Dürig-Herzog-Scholz. München 2007; Christian Stark, Artikel 1, Rn. 13 u. 23 f., in Bonner Grundgesetz. Kommentar. Bd. 1, hrsg. v, Mangoldt-KleinStarck. 4. Aufl. München 1999); Christoph Enders, Art. 1 Rn. 47 ff., in Berliner Kommentar zum Grundgesetz. Bd.1, hrsg. Friauf-Höfling. Berlin 2005.
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Als Bestandteil des normativen Teils der Verfassung sollte er auch als rechtlicher Satz verstanden werden.81 Diese Form kann er aber nur als subjektives Recht besitzen. Wäre er nur ein Rechtsprinzip, könnte er mit anderen Rechtsprinzipien abgewogen werden. Dann könnte die Würde aber in bestimmten Fällen angetastet werden. Das wiederum wäre nicht mit der apodiktischen Formulierung vereinbar. Als subjektives Recht kann dieser Satz aber nur verstanden werden, wenn die Würde des Menschen als Rechtssubjektivität aufgefaßt wird. Rechtssubjekt zu sein, ist die höchste Würde, die das Recht verleihen kann. Ihre auszeichnende Eigenschaft ist die Rechtsfähigkeit. Rechte zu haben, bedeutet aber in rechtlich anzuerkennender Weise seine Freiheit betätigen zu können. Rechtsfähigkeit ist rechtliche Freiheitsfähigkeit. Die Fähigkeit, Rechte und Pflichten haben zu können, wird realisiert, wenn dem Menschen tatsächlich bestimmte Rechte und Pflichten gewährt werden. Ein Recht zu haben, bedeutet die Rechtsmacht, die Achtung dieses Rechts einfordern zu können. Wenn die Würde des Menschen ein subjektives Recht ist, bedeutet sie die rechtlich anerkannte Macht eines jeden menschlichen Wesens auf die Anerkennung seiner Rechtsfähigkeit. Wenn Rechtsfähigkeit nun dem Inhalt nach die Fähigkeit bedeutet, Subjekt von Rechten und Pflichten zu sein, wird diese Forderung erfüllt, sobald der Mensch Subjekt eines ihm zugewiesenen Rechts und nicht nur Rechtsobjekt für andere ist. Wenn also die Menschenwürde verstanden wird als Recht auf Anerkennung als Rechtssubjekt und wenn Rechtssubjekt zu sein bedeutet, Rechte und Pflichten zu haben, dann wird dieses Recht in Art. 1 I S. 1 GG oder Art. 1 I GrCh zugleich aufgestellt und erfüllt. In der Form eines individuellen Rechts sichert es dem Einzelnen den Anspruch, als Rechtsperson anerkannt zu werden. Da eine Rechtsperson zu sein bedeutet, Subjekt von Rechten und Pflichten zu sein, wird das Recht mit seiner Gewährung zugleich erfüllt. Wenn dieses Recht allen Menschen gewährt wird, dann werden zugleich mit der Gewährung als subjektives Recht alle Menschen als Rechtspersonen anerkannt. Insofern ist das Recht der Würde des Menschen in der Tat ein besonderes Recht. Während andere Ansprüche durch weitere, über ihre Gewährung hinausreichende Handlungen realisiert werden, wird das Recht auf Anerkennung als Rechtsperson mit seiner Kodifikation als Grundrecht zugleich insofern erfüllt. Mit dieser Positivierung erhält der Mensch ein Recht, das zugleich notwendig ist, um Rechtssubjekt zu sein. Das Recht der Würde des Menschen ist das elementare Recht, um als Rechtsperson
81 Hierin liegt meine Differenz zu Christoph Enders Art. 1 Rn. 47 ff., 68 f., in Berliner Kommentar zum Grundgesetz. Vol. 1, hrsg. Friauf-Höfling Berlin 2005; Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Tübingen 1997 94 ff., der den Rechtscharakter der Würde des Menschen nach Art. 1 I des deutschen Grundgesetzes bezweifelt.
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anerkannt zu sein. Dies ist allerdings konstitutiv für alle anderen Rechte und für das objektive Recht selbst. Hiermit wird eine Fähigkeit anerkannt, die Grundlage aller weiteren Rechte ist. Im Fall des Rechts der Würde des Menschen wird die Forderung auf rechtliche Anerkennung als Subjekt in der Form des subjektiven Rechts zugleich erfüllt. Eine andere Rechtsform würde diese Forderung nicht in gleicher Weise einlösen können. Die indikative Formulierung des Art. 1 I S. 1 GG und Art. 1 S. 1 Europäische Grundrechtecharta besteht also zu Recht. Gerade wenn man den Satz normativ ernst nimmt, wird das Recht mit seiner Proklamation zugleich erfüllt und kann insofern nicht mehr verletzt werden. Die Würde des Menschen in diesem rechtstechnischen Sinn zu verstehen, bringt einen rechtlichen Aspekt zum Vorschein, den das Konzept der Rechtsperson gerade in seiner positivistischen Ausdifferenzierung nicht besaß. Die posivistische Theorie der Rechtsperson, wie sie zuvor skizziert wurde, setzte nämlich die Antwort auf die Frage, wer denn Rechtsperson sein solle, voraus und hat sie mit der positivistischen Blickverengung zusehends vergessen oder ihre Beantwortung nicht als Aufgabe des Rechts angesehen. Mit der Ablösung der Theorie der Rechtsperson von derjenigen der „persona moralis“ mußte das Recht seine eigenen Kriterien für die Zuschreibung dieser Qualität entwickeln. Diese Frage beantwortet nun die Würde des Menschen, aber in juristischer Form: Jeder Mensch ist als Rechtssubjekt zu behandeln. Die Würde des Menschen tritt damit in der Form des subjektiven Rechts an diejenige Stelle in der Begründung von Rechtssubjektivität, die in der positivistischen Theorie der Rechtsperson leer geblieben war, nämlich die Frage nach dem Kreis der Zugehörigen zum Status einer Rechtsperson. Selbstverständlich liegt ein zentraler Einwand gegenüber dieser inhaltlichen Spezifizierung des Begriffs der Würde des Menschen zugunsten der Stärkung seiner rechtlichen Form nahe: Bedeutet nicht die Reduktion des Inhalts der Würde des Menschen zum Recht auf Anerkennung als Rechtsperson eine Verkürzung des Begriffs zu einem bloß formalen und technischen Werkzeug? In dieser ausgehölten Form scheint das Recht der Menschenwürde unfähig dazu, den Menschen den Schutz zukommen zu lassen, den er verdient, und der mit Recht von der Aufnahme eines so hehren Prinzips in die Verfassungen und Menschenrechtserklärungen erwartet werden kann. Jedoch bedeutet die Reduktion des Inhalts der Menschenwürde auf das Recht, als Rechtsperson anerkannt zu werden, seine rechtliche Stärkung: Das Individuum erhält ein Recht, in dieser Weise anerkannt zu werden. Entsprechende Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten vorausgesetzt, würde dieses Recht Juden und Sinti und Roma davor bewahrt haben, daß ihnen der Status als Rechtsperson im Nationalsozialismus vorenthalten wurde. Dieses Recht braucht nicht und kann in der Tat auch nicht mit anderen Rechten oder Werten abgewogen werden und ist insofern absolut. Niemand kann mehr oder weniger Subjekt von Rechten sein. Entweder man kann Rechte und Pflichten
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haben oder eben nicht. Wenn die Person aber das Recht der Würde besitzt, dann ist sie als Rechtsperson anerkannt und wenn nicht, dann ist sie es nicht. Man könnte ferner einwenden: wenn die Gewährung eines Rechts schon genügt, um den Anspruch auf Anerkennung als Rechtssubjekt zu erfüllen, warum soll man dann nicht dem Individuum das Recht geben, Sklave zu sein? Aber das ist kein durchgreifender Einwand. Denn dabei würde die Form eines subjektiven Rechts den Inhalt aushöhlen und gäbe ihm in Wirklichkeit kein Recht. Das Recht, als Sklave anerkannt zu werden, bedeutet: das Recht zu haben, keine Rechte zu haben – oder auf das Rechtehaben zu verzichten. Sklave zu sein, bedeutet, keine Rechte und Pflichten und vor allem nicht die Fähigkeit dazu zu haben und nur Objekt in der Hand seines Herren zu sein. Das wäre ein Recht, das die Rechtsfähigkeit zugleich anerkennt und bestreitet, mithin ein widersprüchliches Recht, das sich aufhebt. Als im Jahre 1824 Dred Scott aus Illinois, wo die Sklaverei verboten war, mit seinem Arbeitgeber Sanford nach Missouri zurückkehrte, wo sie erlaubt war, wurde er nicht gefragt, ob er seine Pflichten, die er im Norden freiwillig erfüllt hatte, auch im Süden leisten wolle.82 Er war einfach Teil des mobiliaren Besitzes von Sanford. Mit seinen Eigentumsobjekten ging Sanford aber kein Rechtsverhältnis ein. Wenn jedoch einem Sklaven die Freiheit gewährt wird, deren Anerkennung er verdient, nicht als Akt von Paternalismus, sondern aufgrund der Anerkennung seines Rechts, frei zu sein, würde er im selben Moment als Rechtssubjekt anerkannt werden. Mit der Anerkennung dieses Rechts, wird ihm die Würde als Rechtsperson zuteil und er verliert den Status als Sklave. Wenn wir diesen Gedanken auf das Problem der Gewährung des Rechts auf Anerkennung als Sklaven übertragen, sehen wir sofort, daß es ein Recht auf Sklaverei nicht geben kann, weil Sklaverei bedeutet, keine Rechte zu haben. Der Einwand, daß die Menschenwürde durch die vorliegende Theorie entwertet würde, ist damit freilich noch nicht entkräftet: Verlangt sie nicht mehr, als daß jeder Mensch ein Recht auf Anerkennung als Rechtssubjekt habe. Gibt es nicht weitere Gefährdungen, vor denen sie schützen soll? Das ist sofort zuzugeben. Daher reicht es auch nicht, wenn Verfassungen und Rechteerklärungen nur von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen sprechen. Grundgesetz und Europäische Grundrechtecharta setzen daher auch sofort hinzu, daß sie zu achten und zu schützen sei. Dies ist die Grundlage dafür, daß dem Einzelnen Rechte gewährt werden, die ihn auch in anderen Situationen davor bewahren, daß seine rechtliche Freiheitsfähigkeit beeinträchtigt wird. Das Rechtssubjekt als Grundlage der Rechtsperson war durch das gleiche Potential für die Zurechnung von grundlegenden Rechten und Gleichheit verstanden worden.
82 Dred Seott v. Sanford 60 U.S. 393.
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Die Erfüllung dieser Verpflichtung zum Respekt für und dem Schutz von Menschenwürde bedeutet, daß der Staat dem Einzelnen diese Rechte garantiert. Er bedarf der Achtung seiner Rechtsfähigkeit gegenüber einem Staat, der, statt ihn zu befragen und auf seine Antworten abzuwarten, Aussagen durch Folter aus ihm herausquetscht. Und er bedarf des Schutzes seiner Rechtsfähigkeit, wenn er durch Lebensumstände oder durch eigene Behinderungen nicht in der Lage ist, von seiner Freiheitsfähigkeit Gebrauch zu machen. Wenn moderne Verfassungen den Menschen gegenüber Folter, grausamer und degradierender Behandlung oder Bestrafung (Art. 15, 1 spanische Verfassung, Art. 3 III brasilianische Verfassung, Art. 3 EMRK)83, durch Abschaffung der Todesstrafe, durch Respekt seiner Privatheit schützen, dann konkretisieren sie dieses Recht. So, wie die Rechtsfähigkeit nicht die rechtlichen Handlungen selbst bedeutet, sondern deren Voraussetzung ist, bedeutet die Würde des Menschen das Recht auf Anerkennung des Potentials, weitere Rechte zu haben und meint nicht auch das Recht auf diese weiteren Rechte. Die Würde des Menschen ist nur die letzte Wurzel und die Quelle für diese später formulierten Rechte, wie Hans Carl Nipperdey es genannt hat.84 Diese Wurzel ist nicht notwendig an das aktuelle menschliche Leben gebunden. Ungeborene können dieses Recht ebenso besitzen wie Verstorbene. Es mag zu weit gehen, wenn der mittelalterliche Jurist Baldus schreibt: „Der König in seiner Person muß sterben; aber die Würde selbst . . . ist unsterblich“.85 Er nahm an, daß der König zwei Körper besitze, einen natürlichen und einen mystischen – oder in modernen Worten: einen empirischen und einen auf soziale Erwartungen gegründeten Körper. Vom letzteren behauptete er, daß er der Träger der Würde sei. Baldus trifft die Sache genau, daß nämlich die Würde eine Frage der Zuschreibung eines Wertes zu einem Substrat ist und dies nicht allein am Substrat selbst hängt. Das Recht hat diese Unterscheidung aufgegriffen, aber umgekehrt: Jedes menschliche Wesen hat ein Recht auf rechtliche Anerkennung. Dieses Recht besteht, auch wenn die Person – die natürliche wie die juristische – aufgehört haben, zu existieren. Aus seiner Würde besitzt der Mensch mithin einen postmortalen Schutz seiner Personalität.
83 Zu einem Vergleich der Menschenwürde in der deutschen und brasilianischen Verfassung vgl. Ana Paula Barbosa, Die Menschenwürde im deutschen Grundgesetz und in der brasilianischen Verfassung von 1988. Ein Rechtsvergleich. Dissertation. Münster 2007; auch Ana Paula Barbosa, A Legitimação Moral da Dignidade Humana e dos Princípios de Direitos Humanos, in Legitimação dos Direitos Humanos, hrsg. R. Lobo Torres. 2. Aufl. Rio de Janeiro- São PauloRecife 2007), 137–168. 84 Hans Carl Nipperdey, Die Grundrechte II. München 1966, S. 1, S. 11 f. 85 Kantorowicz (The king’s two bodies, Fn. 62), 398.
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Die hier vorgestellte Theorie der Würde des Menschen als ein Recht auf Anerkennung als Rechtsperson vermeidet die weiteren theologischen, philosophischen und soziologischen Konnotationen, die sich als zu sperrig für das Recht erwiesen hatten. Aber die formalen Elemente, aus denen es besteht, sind sehr wohl im Naturrecht entwickelt worden. Sie wurden jedoch in rechtliche Argumente transformiert. So passen sie gut in Verfassungen und Menschenrechtserklärungen mit säkularem oder neutralem Charakter hinsichtlich von Religion und Weltanschauung. Wenn jedoch eine Verfassung wie die irische ein stärker religiös geprägtes Verständnis von Menschenwürde besitzt, widerspricht dies dem gerade präsentierten Verständnis von Würde nicht. Das Konzept der Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung der Rechtsperson schließt nicht aus, daß der Umfang der Rechte und ihre Art einen breiteren Schutz des Menschen vorhält, wenn dies die Verfassung vorsieht. Dies hängt aber an der betreffenden Verfassung und nicht an der Menschenwürde selbst. Der Begriff selbst beschränkt sich auf das Recht auf Anerkennung der Rechtsperson als Grundlage dafür, Rechte haben zu können. Welches diese Rechte – und Pflichten – sind, ergibt sich nicht aus ihm. „Der Staat ist um des Menschen und nicht der Mensch um des Staates willen da.“86 Dieses Ziel, das unter den Verfassungsvätern des Grundgesetzes diskutiert wurde, kann durch einen Rechtsstaat nur mit den Mitteln des Rechts erreicht werden. Weil und wenn dieser Staat um des Individuums willen da ist, erreicht er dies Ziel insbesondere durch die Gewährung subjektiver Rechte. Der Rechtsstaat transformiert damit den vorrechtlichen Menschen in den Rechtsmenschen und das bedeutet in die Rechtsperson. Das ist kein abstraktes Ideal mit der praktischen Relevanz einer Sonntagsrede. Im Gegenteil: Das Recht selbst hängt von der Erfüllung dieses Ideals ab. Ohne Rechtspersonen gäbe es kein Recht. Ihre Fähigkeit, Rechtssubjekte zu sein, ist die Basis aller Rechtsverhältnisse.87 Das Gegenteil ist auch richtig: Ohne das Recht gäbe es keine Rechtspersonen. An diesem Ideal, das die Verfassungs- und Gesetzgeber in unterschiedlicher Weise interpretieren, orientiert, zwängen sie den Menschen durch das Nadelöhr der Rechtform. Wie die ethische Perfektion des Menschen seine freie Persönlichkeit als Basis seiner Würde als moralische Person ist, so ist die rechtliche Personalität das Fundament der weiteren Rechte, unter Einschluß der Rechte, die
86 Artikel 1 des Entwurfs des Herrenchiemseer Konvents: „(1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. (2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.“ 87 Kirste (Fußn. 3), S. 485 ff.
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der Mensch als vernünftige und freie Persönlichkeit verdient. In der Moral ist die Autonomie die Basis der Würde, wie sie etwa Kant konstruiert hat. Im Recht ist es umgekehrt die Würde des Menschen als Anerkennung seiner Rechtsfähigkeit, die Grundlage seiner negativen und positiven Freiheit ist. Die Transformation der Würde ins Recht dreht Begründung und Resultat um: Die Würde, die der Autonomie in der Ethik nachfolgt, ist die Basis für die Freiheiten im Recht und den Status als Person. Sie ist die Grundlage seiner Freiheit in Rechtsform. Es scheint Teil der Dialektik der Würde des Menschen als Rechtsprinzip zu sein, daß sie die rechtliche Bedeutung um so mehr verliert, je mehr sie mit außerrechtlichem Inhalt belastet wird und daß sie ihre Funktion um so eher erfüllt, als es auf die subjektive Fundierung des Rechtssystems reduziert wird. Derjenige, der vom Standpunkt der Moral oder des Naturrechts alles verlangt, steht in der Gefahr, das Prinzip komplett zu entwerten. Verstanden als ein Recht auf Anerkennung als Rechtsperson, vermeidet die Würde des Menschen diese Gefahren. Würde ist der Wert eines Substrats mit Rücksicht auf einen bestimmten Kontext. Das Recht als dieser Kontext gibt dem Menschen in der Rechtsform den Status, den ihm die Philosophie in der Moral gewährt, den eines freien und gleichen Wesens. Rechtlich eingelöst wird diese Aufgabe nicht nur dadurch, daß dem Menschen Rechte verliehen werden, sondern noch grundlegender, daß er als rechtsfähig anerkannt wird. Ausdruck dieser Rechtsfähigkeit ist es, daß er kein Objekt im Recht ist, sondern Rechtssubjekt. Die Rechtssubjektivität ist die Grundlage der rechtlichen Personalität. Die Würde des Menschen verlangt, daß er im Recht einen seiner Freiheitsfähigkeit entsprechenden Status erhält. Dieser Status kann nur derjenige einer Rechtsperson sein. Soll dies nicht verletzt werden können, muß der Mensch ein subjektives Recht auf Anerkennung als Rechtsperson haben. Nur so kann die Menschenwürde zugleich gefordert und insofern auch zugleich gesichert werden. Die weiteren Rechte anerkennen in immer zusätzlichen Bereichen diese Rechtsfähigkeit und tragen zur reicheren Ausgestaltung der Rechtsperson bei.
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Menschenrechte und Diskurs – Reflexionen über einen Begründungszusammenhang Der folgende Beitrag zum Sammelband soll die Menschenrechte in den Kontext von Freiheit und Gerechtigkeit stellen. Die Freiheit des Einzelnen bildet dabei den Mittelpunkt der vorherrschenden Betrachtungsweise, die eine streng individualistische Perspektive einnimmt. Die Gerechtigkeit hingegen ist Ausgangspunkt eines intersubjektiven Ansatzes. Dieser will der üblichen rechtsstaatlichen Begründung der Menschenrechte eine demokratisch begründbare Sichtweise zur Seite stellen. Auf staatsrechtlicher Ebene werden damit Rechtsstaat und Demokratie gleichermassen zu Quellen der Menschenrechte. Im Folgenden wird nicht analytisch vorgegangen. Vielmehr soll gestützt auf Thesen, welche dem Autor aus früheren Reflexionen zum Thema plausibel erscheinen, argumentiert werden. Ein Beispiel gleich vorweg: So wie die Menschenrechte den Kern der Rechtsstaatsidee darstellen, bildet die Diskursethik den Kern der Demokratie. Deshalb interessiert hier der Zusammenhang von Menschenrechten und Diskurs: Inwiefern lässt sich zwischen ihnen eine wechselseitige Begründung herstellen? Die leitende Fragestellung dabei ist die folgende: Sind Autonomie und Würde des Menschen subjektiv oder intersubjektiv zu begründen? Dahinter steht die Frage nach dem grundlegenden Menschenbild: Verstehen wir uns als einzelnes Subjekt, das primär durch seine Individualität definiert wird, oder als im Wesentlichen intersubjektiv konstituierte Persönlichkeit?1
I. Voraussetzungen 1. Methodenfragen Der Gegenstand bestimmt die Methode Aussagen über Menschenrechte sind keine Wahrheitsbehauptungen, sondern Aussagen über Wert- und Gerechtigkeitsfragen. Sie eignen sich daher nicht als Gegenstand blosser Deskription und Analyse. Sie lassen sich nicht allein vom 1 Der vorliegende Text fusst im Wesentlichen auf früheren Publikationen des Autors. Verweise darauf werden jeweils zu Beginn der einzelnen Abschnitte angebracht. Weiterführende Literatur ist den zitierten Quellen zu finden. DOI 10.1515/9783110537130-005
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Beobachterstandpunkt her bearbeiten, sondern erfordern stets eine Integration von Beobachtung und Teilnahme. Sie erfordern ein hermeneutisches Wissenschaftsverständnis. Ohne diese Stichworte näher auszuführen lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass der Respekt vor dem Gegenstand der Menschenrechte verlangt, dass wir die Methode unseres Herangehens den Besonderheiten dieses Gegenstands anpassen. Wie wir Wissenschaft betreiben wollen, können wir nicht unabhängig vom gesuchten Wissen entscheiden. Die erwarteten Wirkungen auf das Gesuchte prägen unser methodisches Handeln. So fordert der Gegenstand der Menschenrechte eine Reflexion unseres Vorverständnisses von den Werten unseres Zusammenlebens. Je nach unserer Perspektive verändert sich unser Verständnis der Menschenrechte.
Beobachten und Teilnehmen Beobachter- und Teilnehmerstandpunkt unterscheiden sich zunächst in der Stellung des Subjekts zum Gegenstand des Wissens. Der Beobachter hat Distanz dazu, der Teilnehmer steht mitten drin. Der Beobachter muss nicht entscheiden, der Teilnehmer wohl. Der Beobachter schildert den Ablauf einer Geschichte, der Teilnehmer gestaltet sie mit. Die Qualität des Beobachters misst sich an der Wahrheit seiner Aussagen, die Qualität des Teilnehmers an der Richtigkeit seines Urteils. In Fragen der Menschenrechte ist der Suchende freilich immer zugleich Subjekt und Objekt seiner Erkenntnis, weil er in der Gesellschaft lebt, welche er erforschen will. Er ist Teil seines Gegenstandes. Reine Beobachtung wird dadurch unmöglich. Der Teilnehmerstandpunkt lässt sich zwar unterdrücken, überwinden lässt er sich nicht. Die Reflexion über die subjektiven und normativen Elemente unseres Wissens ist daher unvermeidbar. Wir sollen uns zwar bemühen, den Beobachterstandpunkt einzunehmen. Wir müssen aber gleichzeitig zugeben, dass wir dabei den Teilnehmerstandpunkt nie verlassen können.
Ein therapeutischer Ansatz Auch unter diesen relativierenden Prämissen ist die Philosophie – hier die praktische Philosophie – geneigt, in Fragen der Menschenrechte der faktischen Welt eine normative Weltsicht entgegenzustellen – dem Sein ein Sollen entgegenzusetzen. In dieser Welt des Sollens spielen dann die Menschenrechte eine zentrale Rolle, indem sie Gebote und Verbote errichten. Bei der Begründung dieser Normen setzen freilich die erheblichen Schwierigkeiten ein, diese normative Welt zu begründen.
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Der hier verfolgte Ansatz erhebt einen bescheideneren Anspruch: Er versucht lediglich, vom Leiden an der faktischen Welt her Therapien zu entwickeln, welche dieses Leiden lindern können. Machtmissbrauch und Verletzung der Mitmenschlichkeit sollen durch konkrete Postulate normativ richtigen Verhaltens gemindert werden. Dazu braucht es keine umfassende Theorie normativer Richtigkeit, sondern nur eine Diagnose der Krankheit, an welcher unser soziales Zusammenleben leidet, sowie eine therapeutische Antwort darauf. Ein Therapeut will zuerst in seiner Diagnose die erkennbaren Symptome des vorhandenen Leidens analysieren, gewichten und auf gemeinsame Ursachen zurückführen, für welche er einen Behandlungsansatz entwickelt. Für die Therapie benötigt er anstelle einer umfassenden Theorie aller denkbaren Zusammenhänge nur ein begründetes Konzept zur Korrektur der erkannten Ursachen des Leidens. Er lässt sich dabei von einem Gegenbild der Krankheit leiten, das er als einen gesunden Zustand definiert. Von diesem Gegenbild her vermag er dann jene praktikablen therapeutischen Massnahmen vorzuschlagen, welche aus dieser Sicht als erfolgversprechend erscheinen. Aus dieser Sicht erscheinen die Menschenrechte als Massnahmen zur Gesundung unserer Gesellschaft. Sie postulieren eine Reform der faktisch geltenden Regeln unseres Zusammenlebens unter dem Horizont einer idealen Lebensform.
Fragen mit Fragen vergleichen Noch eine letzte methodische Voraussetzung gilt es zu klären: Der philosophische Streit um das richtige Konzept der Menschenrechte leidet unter einer Schwäche, welche die meisten wissenschaftlichen Dispute teilen: Wir streiten uns um Antworten, ohne vorgängig zu klären, ob wir uns in der Frage einig sind. Unterschiedliche Fragen führen richtigerweise zu unterschiedlichen Antworten. Es greift daher zu kurz, die Antwort eines andern von meiner Frage her zu kritisieren, ohne genau zu wissen, welche Frage der andere beantworten will. Und da es viele berechtigte Fragen gibt, gibt es auch etliche legitime Antworten darauf.2 Was also fragen die verschiedenen Versuche, die Menschenrechte zu verstehen? – Ist es die Frage nach der Freiheit als individuelle Autonomie? – Ist es die Frage nach der Gleichberechtigung aller Menschen? – Ist es die Frage nach der Gerechtigkeit im sozialen Zusammenleben?
2 Mastronardi Philippe und Windisch Florian, Vernünftig wissenschaftlich entscheiden. Zur Verfassung des interrationalen wissenschaftlichen Diskurses, Berlin 2013, S. 107–113.
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Ist es die Frage nach der Verletzlichkeit des Menschen und nach dem Schutz vor elementaren Verletzungen? Ist es die Frage nach der Begrenzung von Machtmissbrauch?
Alle diese und weitere Fragen sind berechtigte Zugänge zum Thema der Menschenrechte. Sie führen aber zu unterschiedlichen Antworten und Konzepten. Wir sollten daher zunächst Fragen mit Fragen vergleichen, bevor wir Antworten gegen Antworten stellen. Dann erkennen wir, dass es mehrere legitime Konzepte der Menschenrechte geben kann. Im vorliegenden Text soll der Frage nach der Freiheit – als individuelle Autonomie verstanden – die Frage nach der Gerechtigkeit – als Gleichberechtigung der Menschen verstanden – zur Seite gestellt werden.
2. Reflexion über Aussagen zu den Menschenrechten Menschenrechte gibt es nur in der Form von Aussagen. Sie sind sprachliche Texte. Wir müssen uns daher fragen, was die Bindung der Menschenrechte an das Medium der Sprache für Ihren Inhalt bedeutet.
Aussagen sind Äusserungen mit Geltungsanspruch auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit Jede Aussage ist die Äusserung eines Menschen. Wenn wir uns philosophisch oder wissenschaftlich betätigen, tun wir dies immer als Menschen. Als Menschen sind wir zu jeder Zeit zugleich in drei Weltbezüge eingebunden: – Wir sind immer Teil einer sachlichen (objektiven) Welt, die wir als wahre Welt in ihren Zusammenhängen zu begreifen suchen (im Zusammenhang der Menschenrechte geht es hier um die Frage nach den faktischen Machtverhältnissen); – in dieser objektiven Welt bewegen wir uns immer auch als zielstrebige, an Werten orientierte Personen (Subjekte), welche die objektive und soziale Welt so einzurichten suchen, dass sie für uns ein wertvolles Leben ermöglicht, also Werte verwirklicht (im Zusammenhang der Menschenrechte geht es hier um den Wert der individuellen Freiheit); – nicht zuletzt bewegen wir uns bei unserem Bemühen um ein gelungenes Leben stets in sozialen (d.h. intersubjektiven) Beziehungen zu anderen Personen, denen wir gerecht werden müssen, mit denen wir fair umgehen sollen (im Zusammenhang der Menschenrechte geht es hier um die gegenseitige Anerkennung unter gleichberechtigten Menschen).
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Aus diesen drei grundlegenden Aktor-Welt-Bezügen können wir uns nicht herausdrehen. Das hat allerdings auch für unsere philosophische oder wissenschaftliche Tätigkeit eine Bedeutung. Es bedeutet, dass wir stets zugleich Fragen der Wahrheit, des Werts und der Gerechtigkeit stellen müssen. Erst Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität zusammen ergeben eine vernünftige Erkenntnis.3 Philosophische und wissenschaftliche Äusserungen bewegen sich somit in drei Dimensionen der Vernunft: die Dimension Wahrheit (wie gestaltet sich die objektive Welt?), die Dimension Wert (was ist für ein bestimmtes Subjekt ein wertvolles Leben?) und die Dimension Gerechtigkeit (wie sind die Beziehungen zwischen den Subjekten fairerweise zu gestalten?). Ein Beitrag zu vernünftigen Entscheidungen erfordert, diese drei Dimensionen zusammen zu denken und sie zu integrieren. Dabei versteht sich, dass die normativen Dimensionen Wert und Gerechtigkeit nicht im Sinne der heute dominanten (aber partikulären) Rationalität objektiv „beobachtet“ werden können. Vielmehr müssen sie, ihren spezifischen Vernunftdimensionen entsprechend, subjektiv (Wert) bzw. intersubjektiv (Gerechtigkeit) teilnehmend bestimmt werden. Sofern dies im Rahmen eines angemessen verfassten Diskurses erfolgt, bedeutet dies keinen Verlust an Wissenschaftlichkeit. Im Gegenteil eröffnet sich erst so eine realistische Chance auf vernünftige Erkenntnis.
Erkenntnis ist ein Entscheidungsprozess Sowohl Philosophie wie Wissenschaft lassen sich als Versuche verstehen, die Richtigkeit von Entscheidungen zu gewährleisten.4 Richtigkeit stellt dabei die mögliche Annäherung an das Ideal der Vernunft dar. Grundlegend dafür ist das Konzept der Erkenntnis als Entscheidung. Erkenntnis beruht auf einem methodisch angeleiteten Entscheidungsprozess und ist Resultat einer für möglichst richtig gehaltenen Entscheidung. Erkenntnis ist unsere Antwort auf den Entscheidungszwang, dem wir als freie Menschen unterliegen. Wir antworten auf die faktische Entscheidungsnotwendigkeit mit der normativen Forderung nach vernünftiger Entscheidung. Dem widmen sich Philosophie und Wissenschaft. In Philosophie und Wissenschaft suchen wir eine Orientierungshilfe bei der uns obliegenden Entscheidung. Das Faktum der Entscheidungsnotwendigkeit ist dabei nicht nur Ausgangspunkt unserer Suche, sondern durchdringt diese in jedem ihrer Schritte. Oft wird angenommen, die Erkenntnis gehe der
3 Vernünftig wissenschaftlich entscheiden, S. 114–139 (Fn.2). 4 Vernünftig wissenschaftlich entscheiden, S. 94–101 (Fn.2).
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Entscheidung voraus. Zuerst müsse erkannt werden, was wahr oder richtig sei, und erst dann könne entschieden werden. Der Prozess der Erkenntnis ist der Entscheidung jedoch nicht vorgelagert, sondern ist selbst auch ein Entscheidungsprozess. Entscheidungen prägen den gesamten Prozess unseres Denkens.
Genesis und Gültigkeit von Aussagen sind nicht trennbar Eine praktische Konsequenz dieser Thesen zum Äusserungscharakter von Aussagen über die Menschenrechte ist, dass die Gültigkeit solcher Aussagen nicht unabhängig von ihrer Genese begründet werden kann. Dies steht in scharfem Gegensatz zum Postulat der Wertfreiheit wissenschaftlicher Aussagen, das heute noch etwa im Gefolge von Max Weber durch Ökonomen vertreten wird, die behaupten, die Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen sei unabhängig von ihrer Genese.5 Wissenschaftliche Hypothesen könnten und sollten danach unabhängig von Werturteilen formuliert und überprüft werden. Es sei (auch in den Sozialwissenschaften) möglich, wissenschaftliche Hypothesen unabhängig von Werturteilen zu formulieren und zu überprüfen. Diese positivistische Position scheint mir wissenschaftstheoretisch und sprachphilosophisch nicht haltbar zu sein. Sie spaltet uns als Suchende ab von unserem Gegenstand. Ihr fehlt die Reflexion über unser Tun. Ich verstehe sie als untauglichen Versuch, Objektivität und Sicherheit unserer Erkenntnis zu verbürgen. Dafür gibt es aber bessere Wege. Ich komme darauf unter dem Thema Kontingenz und Universalität und bei der Darstellung des Diskurses als Methode der Universalisierung zurück.
3. Intersubjektives Menschenbild Der Dichotomie von Objektivität und Subjektivität entkommen wir, wenn wir unsere Suche nach Vernunft in die Dimension der Intersubjektivität verlegen. Wenn wir uns als Teilnehmende an einem Suchprozess verstehen, der uns als Einzelne übersteigt, gewinnen wir den Zugang zu einem integrativen Verständnis von Objekt und Subjekt. Hier liegt wohl der Kern des hier vertretenen Paradigmas: Der Mensch als Beziehungswesen erlangt seine Identität und Individualität erst durch seine intersubjektiven Bezüge. Subjektivität wird intersubjektiv konstituiert.6
5 Etwa Gebhard Kirchgässner, vgl. die Auseinandersetzung damit in Vernünftig wissenschaftlich entscheiden, S. 34–37 (Fn.2). 6 Mastronardi Philippe, Verfassungslehre. Allgemeines Staatsrecht als Lehre vom guten und gerechten Staat, Bern 2007, Rz.91–113.
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Für einen Pluralismus von Menschenbildern Unser vorherrschendes Menschenbild ist das des modernen Individualismus, der seine Wurzeln im europäischen Liberalismus hat. Dieser betont die Autonomie des Individuums gegenüber Gesellschaft und Staat. Freiheit ist primär negative Freiheit und fordert die Unabhängigkeit des Einzelnen von nicht selbst gewählten Bindungen. Das kommunitaristische Gegenbild ist zwar auch ein westliches Ideal, entspricht in seiner Ausrichtung aber eher asiatischen, arabischen und afrikanischen Kulturen. Es betont die Einbindung des Menschen in seine Gemeinschaft. Der Einzelne definiert sich durch Teilnahme an der Gruppe, zu welcher er gehört. Freiheit ist hier das Vermögen, Bindungen mit anderen einzugehen, um geteilte Werte zu verwirklichen. Diese beiden idealtypischen Konstrukte bilden die Endpunkte eines Spektrums von Menschenbildern, welche Liberalismus und Kommunitarismus in unterschiedlichen Mischungen in sich aufnehmen. Dies führt zu Differenzierungen in der vertretenen Weltsicht. Je nach Menschenbild wird daher auch ein unterschiedlich gefärbtes Bild der Menschenrechte vertreten. Diese stützen aber ihrerseits ein bestimmtes Menschenbild, nämlich jenes der Vernunftfähigkeit des Menschen, wie es uns aus der Aufklärung überliefert ist. Damit nimmt das Konzept der Menschenrechte im Diskurs unter den Menschenbildern Partei zugunsten des Liberalismus. Der Mensch ist primär Individuum und wird als Träger von Rechten definiert, welche seine Würde schützen. Diese Parteilichkeit des Menschenrechtskonzepts sollte uns stets bewusst sein. Wenn wir über Menschrechte reden, reden wir implizit immer auch über unser Menschenbild. Unsere Position in der Diskussion über die Menschenrechte ist daher stets im Kontext der von uns vertretenen Menschenbilder zu deuten.
Konkurrenz und Kooperation In diesem Kontext spielt der in unserer Gesellschaft dominante Gegensatz von Wettbewerb und Solidarität eine prägende Rolle. Wir neigen heute dazu, Individualismus als eigennützige Position im Wettbewerb mit andern zu begreifen und dem die solidarische Kooperation unter sozialen Wesen gegenüber zu stellen. Dabei verleihen wir dem Wettbewerb prima vista den Vorrang vor der Solidarität, wenn wir das Verhältnis der beiden Prinzipien nicht näher untersuchen. Diese Einseitigkeit prägt auch unser Rechtsverständnis, wenn wir von Menschenrechten reden: Wir verstehen den Begriff „Recht“ in diesem Zusammenhang primär als subjektives Recht des Einzelnen, als Anspruch gegen den Staat und die andern. Wir unterschlagen dabei gerne, dass solche subjektiven Rechte nur Reflexwirkungen des objektiven Rechts sein können, also der Rechtsordnung,
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welche die Beziehungen unter den Einzelnen regelt. Unser individueller Rechtsanspruch ist nur dank der gesellschaftlichen Kooperation möglich, welche eine objektive Ordnung herstellt, die unsere Persönlichkeitsrechte achtet. Auch im Konzept des Rechts greift somit der Individualismus zu kurz.
Paradigmenwechsel vom Subjekt zur Intersubjektivität Methodisch führt der Standpunkt des Individualismus zu einer Verkürzung des Weltverständnisses. Die gesellschaftliche Perspektive verkümmert zu einer Konstruktion, die aus zahllosen Einzelnen besteht. Ihr wird die Ursprünglichkeit abgesprochen. Das Kollektiv ist eine von den Individuen abgeleitete Grösse. Das ist als Abwehr des Kollektivismus verständlich, denn die Ablösung des Individuums durch ein kollektives Subjekt würde alle Errungenschaften des Liberalismus zunichtemachen. Zu suchen ist nicht eine übersubjektive, sondern eine intersubjektive Ebene im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft.7 Dies ist die Ebene der Diskurstheorie, wie sie v.a. von Jürgen Habermas entwickelt worden ist. Danach wird der Mensch wesentlich erst durch Kommunikation mit andern zur Person. Vernunft ist nicht mehr eine Fähigkeit des aufgeklärten Menschen, sondern ein Ziel des intersubjektiven Prozesses der Verständigung. Der Einzelne hat Teil an Vernunft, soweit er sich an diesem Prozess beteiligt. Soll die Intersubjektivität menschlicher Vernunft ernst genommen werden, muss das individualistische Weltbild durch ein dezentriertes ersetzt werden. Gesellschaft und Individuum konstituieren sich wechselseitig. Kommunikative Vernunft entsteht aus der Interaktion von Person, Gesellschaft und Kultur, soweit diese in diskursiven Prozessen einer qualifizierten Überprüfung unterzogen werden kann. Das damit geforderte intersubjektive Menschenbild ortet Vernunft somit nicht als Qualität eines Subjekts, weder des Individuums noch der organisierten Gemeinschaft. Sie ist aber auch nicht einfach die Eigenschaft des Kommunikationsprozesses oder der diskursiven Prozeduren. Vernunft wird zur Leitidee der Kommunikation, zum idealen Massstab für die Qualität der Ergebnisse eines unter idealen Bedingungen ablaufenden Argumentationsprozesses. Vernunft bleibt damit subjektlos. Kein Subjekt kann ihren Besitz beanspruchen. Die Rede von der Vernunft des Menschen ist eine Kurzform dafür, dass der Mensch in intersubjektive Beziehungen treten kann, welche die Chance kommunikativer Vernunft enthalten. Der Paradigmenwechsel vom liberalen Weltbild des vernünftigen Menschen zum intersubjektiven Weltbild der kommunikativen Vernunft ist erst vollzogen,
7 Verfassungslehre, Rz.113 (Fn.6).
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wenn wir einräumen, dass wir nur im Prozess der kommunikativen Verständigung als Person konstituiert werden. Kultur und Gesellschaft formen unsere Persönlichkeit mit. Das kulturelle Weltverständnis und die normativen Ordnungsvorstellungen unserer Gesellschaft prägen nicht nur die Sozialisation, sondern auch die Individuation des Menschen. Kultur, Gesellschaft und Person bilden einen kommunikativen Kreisprozess, aus dem wir nie heraustreten können. Damit müssen wir unseren Vernunftanspruch an diesen Prozess vernünftiger Verständigung abtreten. Vom Subjekt der Vernunft werden wir zu deren Teilhaber. Das hat auch Konsequenzen für den Diskurs über die Menschenrechte. Es wird schwieriger, die Menschenrechte aus der Vernünftigkeit des Menschen herzuleiten. Dafür lassen sie sich besser mit der Gleichberechtigung der Menschen und mit der Pflicht zur Anerkennung des Andern begründen. Darauf komme ich bei der Darstellung meines Konzepts der Menschenrechte zurück.
4. Kontingenz und Universalität Das intersubjektive Menschenbild verschafft uns nicht nur eine Mittelposition zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern auch zwischen Kontingenz und Universalität unseres Weltbildes.8
Universalismus und Relativismus Die Menschenrechte sind heute wohl Hauptgegenstand eines Universalismus, der die Gültigkeit seiner Position für die gesamte Menschheit beansprucht. Die Menschrechte sind universal – oder sie sind nicht. In ihrer starken Fassung behauptet diese Position die Existenz von universellen Normen. In einer schwächeren Fassung behauptet sie, für die Menschenrechte universalistische Gründe anführen zu können, d.h. solche, welche bei Vertretern aller Kulturen und Zeiten Anerkennung verdienen. Die Menschenrechte bilden in dieser Weltsicht den Gegenpol zum Relativismus, dessen Vertreter die Möglichkeit bestreiten, universale Normen zu begründen. Sie anerkennen nur wandelbare Werte. Für sie können Normen weder universell gültig sein noch für konkrete Situationen universalistisch begründet werden. Alles Normative ist situativ. Die erste Position vertritt einen Unitarismus, der von der Einheit des Denkens aller Menschen ausgeht. Die zweite Position vertritt einen Partikularismus, der von der Selbständigkeit der
8 Mastronardi Philippe, Juristisches Denken, 2. Aufl. Bern 2003 (Rz.468–551).
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Denkweisen aller Menschen ausgeht und ihre unterschiedlichen Weltsichten als nicht generalisierbar versteht. Die beiden Positionen vertreten die Endpunkte einer linearen Skala zwischen Vielheit und Einheit. Sie sind aber beide der Rationalität der Einheit verpflichtet, die eine positiv, die andere negativ. Eine andere Qualität des Denkens ermöglicht erst ein diskursiv verstandener Kulturalismus, der die kulturelle Prägung des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt und die verschiedenen Konzepte der Menschenrechte von da her zu universalisieren sucht.
Kulturalismus und Diskurs Wenn wir den Menschen als Kulturwesen verstehen, der durch seine natürlichen Bedingungen nicht vollständig determiniert wird, gewinnen wir eine Perspektive, die auf der Achse zwischen Relativismus und Universalismus nicht möglich ist. Während diese Achse auf die Wahrheitsfrage antwortet (Gibt es eine universale Wahrheit?) erfasst die Kulturperspektive alle drei Dimensionen der Vernunft als Orientierungen menschlichen Handelns (Wie können wir möglichst richtig entscheiden?). In jeder konkreten Situation sind unsere Handlungskriterien kulturell geprägt (und daher nicht universal gültig). Wenn wir uns aber für den Diskurs unter den Kulturen öffnen, haben wir die Chance, überlappende Konsense herzustellen. In diesem Diskursprozess sind das Wahre und das Richtige nicht objektiv erkennbar, werden aber zum Ziel der intersubjektiven Verständigung. Die Kriterien der Richtigkeit verschieben sich in die Legitimation des Ergebnisses durch die diskursethischen Anforderungen an die Fairness des Verfahrens.
Universalisierung kultureller Rechte Entstehungsgeschichtlich sind die Menschenrechte ein europäisches Kulturgut. Ausserhalb der Denkachse von Relativismus und Universalismus ist dies kein Mangel. Alles Recht ist kulturell entstanden. Deshalb darf im Kulturalismus kein Zerfall vermeintlich universaler Wahrheit in einen Pluralismus kulturell bedingter Wahrheiten erblickt werden, der durch einen essentialistischen Rückgriff auf eine verkannte Universalität bestimmter Prämissen aller relativistischer Positionen rückgängig gemacht werden müsste. Die Antwort heisst daher nicht Universalität, sondern Universalisierung. Das Universale ist nicht vorgegeben, sondern aufgegeben, bleibt idealer Endpunkt einer kontingenten Geschichte. Ausgangspunkt ist nicht ein Apriori, sondern die Vielzahl kulturell
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differierender Standpunkte. Im Diskurs unter diesen Positionen sind Gemeinsamkeiten zu suchen, Überlappungen der verschiedenen Rationalitäten, aus denen sich ein „wiederholender Universalismus“ im Sinne Michael Walzers9 entwickeln kann. Gesucht ist ein post-metaphysisches Denkmodell, dass offen ist für alle drei Ebenen der Religion, der Philosophie und des Rechts. Das Recht kann dabei als institutionelle Stütze der Moral dienen. Die Gegenseitigkeit von Recht und Pflicht als Grundstruktur unserer Rechtsordnungen hat einen moralischen Wert. Das Recht erzieht die Mitglieder seiner Gemeinschaft zu gegenseitiger Achtung, wo die Sitte diese Pflicht nicht zu errichten vermag. Dabei ist Recht nicht bloss ein moralisches Minimum, sondern auch eine moralbildende Kraft. Aus sozialen Konflikten, welche nach einer rechtlichen Entscheidung rufen, entwickeln sich politische Prozesse, in welchen sich das moralische Bewusstsein der demokratischen Behörden für die Werte des Zusammenlebens schärft. Moral ist dabei nicht nur eine Ressource, von welcher die Politik zehrt, sondern auch das Umgekehrte gilt: Der politische Diskurs zu moralisch relevanten Fragen bildet unter günstigen Umständen neue moralische Überzeugungen heran. Dabei ist das Resultat stets ungewiss, nicht aus einem Apriori ableitbar, sondern muss in einem fairen Prozess erst hergestellt werden. Diese Ungewissheit verleiht der so geschaffenen Moral zwar eine Kontingenz, welche dem absoluten Moralbegriff widerspricht, weil unser herkömmliches Verständnis voraussetzt, dass moralische Orientierung etwas Vorgegebenes, Unwandelbares sein muss. Gemeinsam errichtete moralische Prinzipien müssen aber in ihrer normativen Qualität nicht minderwertig sein. Sie haben zumindest den Vorteil höherer Chancen intersubjektiver Geltung und faktischer Anerkennung. Die Menschenrechte werden so zum Kulturauftrag, das Ideal der menschlichen Würde und Freiheit zu verwirklichen. In einer solchen Politik der Menschenrechte muss versucht werden, die Menschenrechtsentwicklung zu verstetigen. Dafür stellt die Institutionenbildung eine minimale Garantie dar. Recht und Politik müssen in der Praxis leisten, was die Moral an Universalisierung nicht leisten kann. Das positive Recht ist aufgefordert, eine erhöhte Verbindlichkeit der moralischen Idee der Menschenrechte zu gewährleisten. Deutlichstes Beispiel dafür ist der Paradigmenwechsel, der 1948 als Lehre aus dem Holocaust von der UNO vollzogen worden ist: Die Menschenrechte haben einen Ebenen-Wechsel erlebt. Sie wurden von der nationalen Ebene auf die Weltstufe gehoben. Seither gibt es eine weltweite Kultur der Menschenrechte, welche jenseits aller kulturellen Differenzen auf
9 Michael Walzer, Lokale Kritik – globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Hamburg 1996, S. 139.
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dieser Erde ein Minimum an Gemeinsamkeit unter den Menschen schützt. Heute dürfen wir dieses gemeinsame Rechtsgut als den aktuellen Stand der Universalisierung – als vorläufig gegebenes Resultat der Menschenrechtsgeschichte würdigen. Wir wollen es weiterentwickeln, müssen es aber auch gegen Rückfälle verteidigen.
5. Universalistischer Geltungsanspruch Unter diesen Voraussetzungen verwandelt sich der Anspruch der Menschenrechte auf Universalität in einen universalistischen Anspruch. Die Menschrechte sind nicht universal, erheben aber den Geltungsanspruch, ihre kulturellen Werte mit verallgemeinerbaren Gründen verteidigen zu können.10
Geltungsanspruch Die Menschenrechte erheben für Ihre Aussagen einen hohen Geltungsanspruch. Sie fordern, dass die Werte, die sie vertreten, und die Gerechtigkeitsforderung, die sie aufstellen, gegenüber allen Menschen mit guten Gründen erhoben werden dürfen. Ein universalistischer Geltungsanspruch bedeutet, dass sich eine Behauptung gegenüber allen denkbaren Personen begründen lässt. Das aber ist genau der Anspruch dessen, der andern gegenüber den Wert von etwas geltend machen will. Er tritt an mit der Behauptung, gute (von allen anzuerkennende) Gründe dafür vorbringen zu können, dass etwas für ihn einen bestimmten Wert habe. Zu einem Geltungsanspruch wird der Wertanspruch erst durch die universalistische Struktur des Anspruchs, eine gegenüber allen Adressaten anerkennungswürdige Wertaussage zu machen. Der universalistische Charakter des Wertanspruchs liegt allerdings nicht darin, dass der Wert von etwas für jemanden auch für alle anderen gelten würde, sondern darin, dass er (als personenbezogene Werteposition und daher nur für diese) gegenüber allen anderen gültig ist. Wer gültig behauptet, dass etwas für sie oder ihn wertvoll ist, kann das gegenüber jedermann mit guten Gründen vertreten. Von der Frage der überpersonellen Universalität von Werten absorbiert, übersehen die Kritiker der Universalität diesen in der Wertfrage entscheidenden Punkt gerne.
10 Mastronardi Philippe, Universalisierung: Ein Prozess inter-rationaler Verständigung, in: Zeitschrift für Politik, München 2010, S. 187–206.
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Universalität als Fluchtpunkt Universalität bleibt wichtig: Sie gehört zur obersten regulativen Idee der Vernunft, die zwar unerreichbar bleibt, aber richtungsweisend wirkt. Vernunft kann nicht mehr sein als eine regulative Idee, ein Appell, wonach wir uns an Prinzipien halten sollen, welche verallgemeinerbar sind. Von diesem Vorgriff aus lassen sich dann die realen Verhältnisse kritisieren. Der gesamte Prozess, in welchem einerseits der ideale Beurteilungsmassstab konstruiert und anderseits die reale Praxis kritisiert wird, bleibt dabei kontingent. Eine Letztbegründung des moralischen Standpunktes ist diesseits von Glaubensbekenntnissen nicht herzustellen. Alles menschliche Bestreben bleibt in den hermeneutischen Zirkel eingebunden und hat keinen festen Anfangs- oder Endpunkt der Erkenntnis. Wir können nicht von einem gegebenen „Moral Point of View“ her, sondern immer nur auf ihn hin argumentieren. Unser Diskurs kann unter optimalen Bedingungen nur eine Annäherung an ein gemeinsames Verständnis des Richtigen herstellen. Sein Resultat steht immer wieder erneut auf Probe.
Universales Leiden – konkrete Antworten Die Menschenrechte sind eine Antwort auf unsere Erfahrung der Verletzlichkeit und erlittener Ungerechtigkeit. Intuitiv glauben wir in der übereinstimmenden Reaktion aller Menschen auf die Verletzung elementarer Bedürfnisse und auf krasse Ungerechtigkeit einen universalen Kern von Menschenwürde und Menschenrechten zu erkennen. Die Negation unserer Werte und Gerechtigkeitsforderungen weckt in uns allen den gleichen Ruf nach einer positiven Formulierung von Rechten, die uns vor solchen Verletzungen schützen sollen. Die Menschenrechte sind die Negation der Negation des Menschen. Sie sind ein Kampfbegriff in unserer Abwehr von Machtmissbrauch. Die faktischen Verletzungen und Unrechtserfahrungen spielen damit eine konstituierende Rolle für das normative Konzept der Menschenrechte. Denn die negative Erfahrung ist stets eine konkrete Tatsache und damit leichter in Worte fassbar. Die positive Antwort darauf hingegen ist abstrakt und mehrdeutig, ein normatives Postulat, das die subjektiven und intersubjektiven Elemente der Leidenserfahrung generalisieren und darauf idealerweise eine gemeinsame Antwort geben soll. Das kann nur teilweise gelingen. Die Geschichte der Menschenrechte ist der Versuch, diese Antwort zu entwickeln. Jede Zeit und jede Kultur leistet dazu ihren Beitrag zum Universalisierungsprozess. Was wir gegenwärtig als universale Menschenrechte bezeichnen, ist nicht mehr als der momentane Stand der Therapie, die wir für die Heilung unserer Verletzungen entwickelt haben.
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Freiheit und Gerechtigkeit Im europäischen Kontext verstehen wir den Geltungsanspruch der Menschenrechte seit der Aufklärung als Errungenschaft der Freiheit. Menschenrechte sind Individualrechte, also Ansprüche jedes Einzelnen auf bestimmte Freiheiten. Ihr Kern ist unsere Autonomie als Subjekt. Wir fordern ein subjektives Recht auf Selbstbestimmung. Die Menschenrechte fallen demnach unter die Kategorie der Freiheit. Im globalen Kontext stellt sich freilich eine andere Frage: Ist die Freiheit, die wir geltend machen, im Vergleich zu den realen Möglichkeiten der Menschen auf der Erde legitim? Müssen wir, wenn wir unseren Menschenrechtsanspruch global ausweiten wollen, diesen nicht auf das Kriterium der Gerechtigkeit ausrichten? Wenn ja, heisst dies, dass Menschenrechte aus der Gleichheit – der Gleichberechtigung aller Menschen heraus zu begründen sind. Weil – und nur soweit – wie wir alle die gleichen Ansprüche erheben können, sind wir frei. Global ist der Anspruch der Menschenrechte aus dem Prinzip der Gerechtigkeit zu legitimieren. Die Menschrechte fallen hier unter die Kategorie der Gerechtigkeit. Vielleicht haben wir mit dem Prinzip der Freiheit die falsche Priorität gesetzt. Vielleicht sollte die Gerechtigkeit nicht bloss ein Korrektiv zum Primat der Freiheit sein – also die Rücksicht auf die andern nicht nur als Grenze unserer individuellen Freiheit verstanden werden -, sondern wir sollten die Freiheit als eine Frucht der Gerechtigkeit begreifen – als Anspruch eines jeden aus einer gerechten Ordnung, welche alle Menschen in ihrer Individualität anerkennt. Im Spannungsfeld „gleiche Freiheit“ gegen „freie Gleichheit“ ist vielleicht die Gleichheit das Fundament der Freiheit und nicht umgekehrt. Zumindest haben wir Anlass, den Versuch einer Begründung der Freiheit aus der Gleichheit (hinten, Ziff. II., 3) ernst zu nehmen.11
6. Interrationalität Letztlich ist die Aufgabe, die Menschenrechte universal zu verfassen, ein Problem unterschiedlicher Rationalitäten. Es gilt, verschiedene Zugänge zur Vernunft – insbesondere kulturell und disziplinär unterschiedliche Denkweisen – miteinander zu verknüpfen.
11 Nicht ohne Grund verficht Friedrich Dürrenmatt in seinem ganzen Werk, explizit aber insbesondere in den „Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl“ (Gesammelte Werke in sieben Bänden, Zürich 1991, Band 7, S. 691–707) den Primat der Suche nach Gerechtigkeit vor der Suche nach Freiheit.
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Moral – Kultur – Recht Um die Mehrdimensionalität der Menschenrechte zu erfassen, müssen wir sie aus verschiedenen Denkrichtungen her angehen: Religion, Ethik, Kultur und Recht. Auf all diesen Ebenen heissen die Menschenrechte Verwandtes, aber durchaus Unterschiedliches. Wer den Begriff der Menschenrechte auf mehr als einer Ebene benutzt, sollte sich der Transformationen bewusst sein, die an den Grenzen der verschiedenen Denkweisen erforderlich werden. Während die grossen Religionen der Erde den höchsten Wert des Menschen nicht der körperlichen Existenz, sondern der Seele des Menschen zusprechen, will die Ethik dem realen Individuum mithilfe moralischer Normen einen universalen Anspruch auf Unversehrtheit seiner Existenz sichern; die verschiedenen Kulturen pflegen dabei je ihren eigenen Entwicklungsprozess von Menschenrechten mithilfe ihrer sozialen Normen und Traditionen. Das Recht schliesslich verleiht den Menschenrechten drei Konkretisierungsgrade: Vom programmatischen Gehalt einer Zielnorm über den Grundsatzgehalt von Rechtsprinzipien bis hin zum Individualrechtsgehalt einklagbarer Rechtsansprüche. Religion, Ethik, Kultur und Recht bilden interdependente Begründungsstränge der Menschenrechte. Die Suche nach Universalität muss daher als inter-rationaler Diskurs unter den Denkweisen unterschiedlicher Kulturen und Disziplinen begriffen werden. Keine Denkweise kann in diesem Prozess einen Primat beanspruchen.
Ein Mehrebenenmodell Für die Verknüpfung der verschiedenen Denkweisen bietet sich ein Mehrebenenmodell an, in welchem jeder Denkweise eine eigene Ebene – und damit eine selbständige Rationalität – zugestanden wird, diese aber zugleich auf die Beiträge der anderen Denkweisen angewiesen bleibt. So kann die Ethik die Leitbilder der Autonomie des Individuums und der Gerechtigkeit unter den Menschen beisteuern, die Kultur die institutionellen Garantien schaffen, welche die aktuelle Verwirklichung dieser Leitbilder garantiert, und das Recht die individuellen Ansprüche sichern, welche daraus abgeleitet und durchgesetzt werden können. Als methodisches Hilfsmittel sind solche Mehrebenenmodelle aus verschiedenen Disziplinen bekannt. In der Rechtwissenschaft wird ein solches Modell in der Grundrechtstheorie verwendet, insbesondere für die Menschenwürde.12 Es lässt
12 Mastronardi Philippe in: St. Galler Kommentar zu Art. 7 BV, 3. Aufl. Zürich/St. Gallen 2014, Rz.22–30.
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sich aber für die Menschenrechte generalisieren: Auf einer programmatischen Ebene verlangen sie die Emanzipation des Menschen aus archaischen Zwängen und eine Orientierung von Gesellschaft und Politik am Leitbild der freien Gemeinschaft freier Menschen. Auf der Ebene der Grundsatzgehalte fordern sie als Richtlinie für Gesetzgebung und Praxis den Abbau von Ungerechtigkeiten und die Achtung der menschlichen Persönlichkeit. Auf der Ebene der Individualrechte bilden sie einen unmittelbar durchsetzbaren Anspruch auf Schutz vor Verletzung. Die drei Ebenen sind interdependent und müssen zusammengedacht werden. Das Gleiche gilt für ihre Bezüge des Rechts als Ganzes zur Menschenrechtskultur und zum moralischen Ideal der Würde und des Rechts der Menschen.
II. Das Konzept der Menschenrechte Von den möglichen Konzepten der Menschenrechte sollen im Folgenden nur zwei erwähnt werden. Das erste, das auf dem Autonomiegedanken aufbaut, dient zudem nur zum Vergleich mit dem zweiten, das auf der gegenseitigen Anerkennung der Menschen beruht und hier vertreten wird.13
1. Individuelle Autonomie? Aufklärung, Liberalismus und Individualismus begründen ein weit verbreitetes Konzept der Menschenrechte als Garantien der individuellen Autonomie des vernunftfähigen Menschen. Die Menschenrechte schützen insbesondere die Menschenwürde als Kern des aufgeklärten Menschenbildes. Diese Konzeption greift letztlich auf eine transzendentale Begründung zurück.14
Subjektives Recht? Der ethische Begriff der Menschenwürde beruht in dieser Konzeption auf der Autonomie und Vernunft des Menschen. Der Mensch hat Würde dank seiner
13 Zur Dogmatik der Menschenrechte vgl. am Beispiel der Menschenwürde: Mastronardi Philippe, Der Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde in der Schweiz. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis der Grundrechte, Diss. iur. Bern, Berlin 1978 (v.a. S. 214–256). 14 Ich räume gerne ein, dass ich diesem Denken teilweise auch gefolgt bin, bis ich zu meinen heutigen Überlegungen gelangt bin.
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Autonomie, die ihm gestattet, nach seinem freien Willen zu entscheiden und zu handeln, und dank seiner Gabe der Vernunft, die ihn zur Erkenntnis befähigt. Autonomie und Vernunft setzen sich dabei gegenseitig voraus und stehen zugleich in einem Spannungsverhältnis zueinander. Die Transformation der Menschenwürde von der Ethik ins Recht muss dieses Ergänzungs- und Spannungsverhältnis von Autonomie und Vernunft in Rechtsform abbilden. Sie tut dies mit den Instituten des subjektiven Rechts und der Rechtspflicht des Einzelnen. Dabei entspricht das subjektive Recht der Autonomie, während die Rechtspflicht die Umsetzung der Vernunft ins Recht darstellt.
Der Staat als Adressat? Der subjektivistische Standpunkt dieser Konzeption verlangt, dass das Menschenrecht als subjektives Recht des Einzelnen einen Adressaten hat, der durch das Recht verpflichtet werde. In liberaler Tradition ist das in erster Linie der Staat. Die historische Erfahrung zeigt, dass die Menschenrechte primär durch staatliche Macht verletzt werden. Daher ist es der Staat, der in Pflicht genommen werden muss. Die auf diese Weise begründete Staatsgerichtetheit der Menschenrechte passt zudem gut zur liberalen Trennung von Gesellschaft und Staat nach dem Denkschema der Spaltung unseres Lebens in einen privaten Bereich und einen öffentlichen Raum. Aus liberaler Sicht hat das Recht zuallererst die Aufgabe, die private Freiheit vor staatlichem Zwang zu schützen. Macht ist primär Staatsmacht und damit Machtmissbrauch primär Amtsmissbrauch. Die Menschenrechte adressieren ihre Forderungen daher im Kern an den Staat. Allfällige Horizontalwirkungen, also solche unter Privaten, sind Reflexwirkungen dieser Staatsgerichtetheit und werden als Drittwirkung bezeichnet oder durch Schutzpflichten des Staates ausgestaltet.
Autonomie als Norm? Wird die Autonomie als Grundlage der Menschenrechte gesetzt, macht man diese Rechte von der tatsächlichen Freiheitsfähigkeit ihrer Träger abhängig. Als Faktum geht diese Fähigkeit jedoch etlichen Trägern von Menschenrechten ab, denen wir ihr Recht aber nicht absprechen wollen. Die Autonomie des Menschen muss daher als Norm gesetzt werden, die auch dann gilt, wenn sie tatsächlich nicht erfüllt wird – und zwar nicht nur vom Verpflichteten, sondern auch vom Berechtigten. Autonomie muss – juristisch gesprochen – zu einer Fiktion erhoben werden. Damit wird es aber schwer zu begründen, warum dann ebenso
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empfindungsfähige und daher verletzliche Lebewesen wie die Tiere nicht die gleichen Rechte haben sollten, ja, warum nicht allem Leben ein Schutzanspruch zustehe. Diese und ähnliche Schwierigkeiten legen es nahe, Autonomie nicht als etwas zu verstehen, was jedem Menschen qua Mensch a priori zu eigen ist, sondern als etwas, was uns erst intersubjektiv zugeschrieben werden kann, ein Gut, das wir einander zusprechen. Autonomie wird dann ein Relationsbegriff, bezogen auf unseren Grad an Selbstbestimmung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bezügen. Erst dann wird sie zu einer Norm für das Verhalten unter Menschen.
Private und öffentliche Autonomie Die so verstandene Autonomie des Menschen ist zudem doppelt gespalten. Zum einen in eine individuelle Autonomie, welche die persönliche Freiheit des Einzelnen schützen soll, und eine kollektive Autonomie, welche die Freiheit der Gesellschaft, also eine liberale Lebensweise, garantieren soll. Die individuelle Autonomie ihrerseits ist nochmals gespalten in eine private und eine öffentliche Autonomie. Im Privaten geht es um die Selbstbestimmung jedes Einzelnen – im Kern um Freiheit von Zwang. Im Öffentlichen geht es um die Freiheit aller zur gemeinsamen Gestaltung des öffentlichen Zusammenlebens. Beide Male geht es um Freiraum, aber je in einem engeren oder weiteren Zusammenhang. Beide Formen der Autonomie sind wechselseitig voneinander abhängig: Private Autonomie wird in Prozessen der öffentlichen Autonomie gesetzt – öffentliche Autonomie wird von uns gemeinsam als Träger privater Autonomie geschaffen. Private Selbstbestimmung und öffentliche Selbstgesetzgebung setzen sich gegenseitig voraus. Sie sind zwei Elemente eines zirkulären Zusammenhangs. Private Autonomie muss um ihrer selbst willen darauf ausgerichtet sein, öffentliche Autonomie zu fördern und umgekehrt. Diesem Zweck dienen im modernen Verfassungsstaat die Institutionen des Rechtsstaates und der Demokratie. Die private Autonomie ist die Zielnorm des Rechtsstaates, die öffentliche Autonomie jene der Demokratie.15
2. Die Anerkennung des Anderen Der bekannten rechtstaatlichen Begründungsschiene der Menschenrechte soll hier die demokratische zur Seite gestellt werden. Sie fusst auf dem intersubjektiven Menschenbild, nach welchem die Anerkennung durch andere konstitutiv
15 Verfassungslehre, Rz.75–89 (Fn.6).
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ist für die Individuation des Einzelnen. Das Recht zieht daraus die Konsequenz, dass wir uns auch als Rechtsträger gegenseitige Anerkennung schulden. Anerkennung ist daher zugleich Recht wie Pflicht.
Das Recht auf Anerkennung Unser Recht auf Anerkennung folgt ethisch aus unserer Teilhabe am Diskurs über Fragen des richtigen Zusammenlebens. Die sprachtheoretische These, wonach der Sprechende auf ein Einverständnis des Hörers abzielt, das sich nicht erzwingen lässt, gibt das diskursethische Modell für die Anerkennung des Anderen als gleichberechtigten Partner in der Demokratie ab. Es kann als Grundlage für die demokratische Begründung der Menschenrechte dienen. Nach der Diskurstheorie anerkennt der Sprechende mit seinem Sprechakt den Hörer zwangsläufig als ebenbürtig, wenn er das Ziel der intersubjektiven Verständigung verfolgt. Er setzt voraus, dass der andere ebenso zur Kommunikation befähigt ist wie er. Sonst hätte sein Reden keinen kommunikativen Sinn. Der Sprechende anerkennt faktisch, dass beide einer Kommunikationsgemeinschaft zugehören, in der sich alle Mitglieder wechselseitig als gleichberechtigte Gesprächspartner anerkennen. Das Recht auf Anerkennung folgt zwar nicht logisch aus dieser Prämisse, weil niemand zum Diskurs verpflichtet ist. Wenn er aber darin eintritt, muss er den Anderen das gleiche Recht zusprechen, das er für sich beansprucht.
Die Pflicht zur Anerkennung Zur Pflicht, den andern anzuerkennen, wird die Diskursethik erst im Kontext der Verletzlichkeit, welche die Menschenrechte begründet. Es ist nicht der Stolz der eigenen Autonomie, sondern die Einsicht in die eigene Verletzlichkeit, die uns erkennen lässt, dass wir auf die Anerkennung und den Schutz durch den Andern angewiesen sind. Wenn wir unsere Intersubjektivität ernst nehmen, ist jede Verweigerung der Anerkennung durch den Andern eine Verletzung unserer Person. Aus dieser konstitutiven Bedingung unserer Du-Beziehung erwächst die gegenseitige Verpflichtung zur gegenseitigen Verständigung und zum Verzicht auf die Instrumentalisierung des Anderen. Die Diskursethik konkretisiert sich dann im Rollentausch, zu dem sie uns auffordert. Sie wird zur Übung in Gerechtigkeit, indem sie uns einlädt, die Wirkungen unseres Handelns auf die andern zu ermessen, indem wir uns in sie versetzen. Der Andere wird zu unserem Spiegel. Unter subjektphilosophischen Prämissen könnte diese Reziprozitätsforderung als Kontraktualismus gedeutet werden. Der Gesellschaftsvertrag wäre dann ein Geschäft, welches bereits fertig individualisierte Subjekte miteinander
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schliessen. Unter der Voraussetzung der Intersubjektivität unserer Person ist die gleiche Reziprozität aber kein Geschäft, sondern eine Verfassung unserer Persönlichkeit, eine Bedingung unserer Existenz. Die Gegenseitigkeit der Menschenrechte Die Menschenrechte nehmen Partei in der modernen Spaltung der Welt in Nutzen und Gerechtigkeit. Während im Nutzendenken der Mensch nur einen Träger von Interessen darstellt, ist er in der Kategorie der Gerechtigkeit ein Rechtsträger. Für eine gerechte Entscheidung genügt es nicht, einen Ausgleich von Vor- und Nachteilen der Betroffenen herzustellen. Das wäre nur eine Antwort in der Dimension der Interessen. In der Gerechtigkeitsdimension geht es immer um die Machtfrage: Welches Machtverhältnis unter Menschen wird mit der Antwort geschaffen oder korrigiert? Die Menschenrechte stellen die Machtfrage dabei von den Betroffenen her: Welche Rechte der Betroffenen werden durch das Machtverhältnis verletzt? Den Menschen als Rechtsträger zu verstehen ist eine hohe kulturelle Leistung. Sie beruht auf der demokratischen wie rechtsstaatlichen Prämisse der Rechtsgleichheit unter allen Menschen. Sie setzt das allgemeine Gesetz als Grundlage voraus, dass die Gleichbehandlung aller Menschen vorsieht. Die subjektiven Rechte des Einzelnen sind nur Reflexwirkungen dieser Allgemeingültigkeit aus der Perspektive des Einzelnen, nicht die Grundlage seiner Ansprüche. Was aus der Allgemeingültigkeit des Rechts aber folgt, ist der Anspruch eines jeden auf Anerkennung durch die Andern: die Gegenseitigkeit der Menschenrechte.
3. Freiheit durch Gleichheit Das Denken in der Dimension des Subjekts führt zur Begründung der Menschenrechte aus der Freiheit des Einzelnen heraus, das Denken in der Dimension der Intersubjektivität aus der Gerechtigkeit – der Gleichheit aller Menschen. Dieser Unterschied lässt sich am besten am Beispiel der Menschenwürde zeigen. Die Gleichheit als Grundlage der Menschenrechte Die deutsche Würdediskussion konzentriert sich auf die Dimensionen der Autonomie und des subjektiven Rechts. Sie nimmt den Blickwinkel des einzelnen Individuums ein. Dieses Denken folgt der Kategorie des Rechtsanspruchs, nicht der Rechtsbeziehung. Letztlich geht es immer um „meine Freiheit“ gegenüber den andern. Die Universalisierung besteht in der Generalisierung des Ichs, das als Träger des Rechtsanspruchs vorgestellt wird.
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Wird statt der Autonomie des Einzelnen die Rechtsgleichheit, letztlich die Gerechtigkeit, zum Ausgangspunkt genommen, verändert sich der Blickwinkel.16 Es geht dann von Anfang an um Freiheit und Gleichheit für alle. Recht entsteht dadurch, dass wir alle andern in ihrem Freiheitsanspruch als gleichwertig anerkennen. Ich erhalte meine Würde nur, weil ich Teil der Menschheit (Menschheit als normatives Konzept des Menschen verstanden) bin. Umgekehrt kann ich sie auch niemandem absprechen, solange ich nicht weiss, wie ich den Ausschluss eines Anderen aus der Menschheit rechtfertigen könnte. Daraus ergibt sich eine Umkehrung der Argumentationslast: Weder ich noch der Andere müssen belegen, dass wir autonom sind. Vielmehr ist es ein Nichtwissen, das mein Urteil über den Anderen verunmöglicht. Und weil jeder von uns nicht alleine über seine Autonomie verfügen kann, sind wir verpflichtet, sie uns gegenseitig anzuerkennen. Es genügt, dass wir uns beide der Menschheit als zugehörig betrachten. Mein Menschenrecht beruht auf der Anerkennungspflicht der Anderen. Aus dieser Sicht schützt die Menschenwürde jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft vor der Verletzung elementarer Persönlichkeitsrechte, unabhängig davon, ob es hinreichend autonom ist, seine Betroffenheit kundzutun. Diese Umkehr der Argumentationslast rechtfertigt sich daraus, dass es schlicht willkürlich wäre, jemandem den Schutz zu verweigern, solange sich nicht beweisen lässt, dass der zum Objekt Erniedrigte diese Behandlung nicht als Demütigung empfinden kann. Nicht seine potentielle Fähigkeit zur Autonomie, sondern unser Nichtwissen über das mögliche Leiden des Betroffenen schützt ihn dann vor Erniedrigung.
Die Menschenwürde als Willkürverbot Die Menschenrechte sind geschichtlich als Antworten auf elementares Unrecht, auf Verletzungen des Rechtsgefühls, letztlich auf Entwürdigung durch den Staat entstanden. Sie reagieren auf staatliche Willkür gegen besonders empfindliche Entfaltungsbereiche des Menschen. Damit gerät die Verwandtschaft von Menschenwürde und Willkürverbot – und ihre Zugehörigkeit zur Dimension der Gerechtigkeit – in den Blick. Beide gehen aus von der Verletzlichkeit des Menschen und wollen darauf eine gerechte Antwort geben. Das Willkürverbot schützt den Einzelnen in sämtlichen Rechtsbeziehungen vor besonders krasser Rechtsverletzung, die Menschenwürde schützt den Einzelnen in besonders verletzlichen Rechtsbeziehungen vor jeder Unrechtmässigkeit. Für den Vorwurf der Willkür braucht es ein besonders schweres staatliches Unrecht, dafür kann dieses alle Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat
16 St. Galler Kommentar zu Art. 7 BV, Rz.33 (Fn.11).
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und dem Einzelnen erfassen; für den Vorwurf der Verletzung der Menschenwürde genügt jede Rechtswidrigkeit, aber nur in Bezug auf elementare Entfaltungsbereiche des Menschen. Ein Unrecht verletzt die Menschenwürde durch das Was der Verletzung, das Willkürverbot verletzt es durch das Wie. Willkürverbot und Menschenwürde haben somit das gleiche Ziel. Sie schützen beide den Menschen vor staatlicher Missachtung. Sie verhalten sich dabei komplementär. Die Rechtsnorm der Menschenwürde erklärt bestimmte Verletzungen der Persönlichkeit für rechtswidrig, während das Willkürverbot besonders krasse Formen der Rechtswidrigkeit als Verletzungen der Persönlichkeit behandelt. Wird die Menschenwürde von der Dimension der Gerechtigkeit – und damit von der Machtfrage – her verstanden, dann liegt ihr Kern im Verbot von Machtmissbrauch in Fragen der Persönlichkeit. Damit wird sie zur Grundlage des Willkürverbots. Die Menschenwürde schützt den Einzelnen vor Missbrauch staatlicher Macht. Sie leitet den Rechtsstaat an in dessen Aufgabe, Macht zu beschränken. Sie ist der Kerngehalt der Gerechtigkeit in deren Kampf gegen die Willkür.
4. Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie Der hier vertretene Ansatz will nicht die demokratische Begründung der Menschenrechte an die Stelle der rechtsstaatlichen setzen. Vielmehr sollen beide Argumentationslinien zu ihrem Recht kommen.
Zur rechtsstaatlichen Begründung der Menschenrechte Nach herrschender Lehre bilden die Menschenrechte den Kern des Rechtsstaatsgedankens. Sie verschaffen dem Einzelnen einen Bereich elementarer Rechtspositionen, in welchem sein Rechtsanspruch keinen Nützlichkeitserwägungen weichen muss. Juristisch entspricht dies der Kerngehaltsgarantie der Grundrechte, die der Güterabwägung im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung entzogen ist. In diesem Bereich gibt es keine überwiegenden Interessen, die dem Anspruch des Einzelnen entgegengehalten werden können. In diesem Kernbereich obsiegt somit das Rechtsstaatprinzip über die Demokratie. Die Menschenrechte setzen der demokratischen Willensbildung eine Grenze, jenseits welcher das öffentliche Interesse keinen Eingriff in subjektive Rechte legitimiert. Insoweit ist die rechtsstaatliche Begründung der Menschenrechte unverzichtbar und wird hier nicht bestritten.
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Für eine demokratische Begründung der Menschenrechte Die grenzsetzende Funktion des Rechtsstaates gegenüber der Demokratie rechtfertigt freilich keinen Monismus der Argumentation. Die Menschenrechte sind nicht nur historisch, sondern auch in ihrem Geltungsgrund das Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Sie fussen auf der gegenseitigen Anerkennungspflicht der Teilnehmer im Diskurs über die Vereinbarung von Rechten und Pflichten unter den Mitgliedern der Gesellschaft. Dieser Diskurs stellt sowohl die private wie die öffentliche Autonomie der Menschen her, die an ihm teilnehmen. Denn beide Formen der Autonomie bilden sich erst in der diskursiven Auseinandersetzung unter Gleichberechtigten heraus. Die Menschenrechte positivieren auf diese Weise das Diskursprinzip der wechselseitigen Anerkennung der Gesprächsteilnehmer und geben ihm dadurch die verlässliche Rechtsform. Umgekehrt gewinnen die Menschenrechte durch ihre diskursethische Fundierung ihre horizontale Ausrichtung: Sie sind nicht nur (Abwehr-)Rechte im vertikalen Verhältnis zum Staat, sondern horizontale Ansprüche der Menschen gegeneinander.
Republikanismus als gemeinsame Grundlage Welches Konzept der Menschenrechte vertreten wird, hängt somit vom Menschenbild und von der Art des Gesellschaftsvertrags ab, den man seinem Rechtsverständnis zugrunde legt. Ein rein liberales Konzept engt die Menschenrechte auf ihre rechtsstaatliche Komponente ein. Ein intersubjektiv gestaltetes Menschenbild fordert, dass die rechtsstaatliche durch eine demokratische Komponente ergänzt werde. Dies leistet ein republikanisches Konzept des Gesellschaftsvertrags, das die Gleichheit zur Grundlage der Freiheit macht. Freiheit ist danach zuallererst das Recht zur gleichberechtigten Teilnahme aller am Diskurs über das Recht.17 Zur Klärung der Menschenrechtskonzeption können natürlich zahlreiche Ausprägungen von Liberalismus und Republikanismus ausgebreitet werden. Ich würde dabei für ein Konzept werben, das die eingangs erörterten Voraussetzungen aufnimmt und von da her Rechtsstaat und Demokratie integriert. Zentral schiene mir, dass beide als Prozesse, letztlich als Diskurse, verstanden werden. Massgeblich ist somit, was unter Diskurs verstanden wird. Anstatt die Debatte über Liberalismus und Republikanismus zu vertiefen, möchte ich daher im Folgenden ein Diskursverständnis darlegen, das mir für unsere Debatte fruchtbar erscheint.
17 Verfassungslehre, Rz.218–229 (Fn.6)
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III. Diskurs als Methode der Universalisierung Mit Diskurs ist in diesem Text bisher jede argumentative Auseinandersetzung unter Gleichberechtigten verstanden worden, welche sich den diskursethischen Grundsätzen der Fairness unterzieht. Dieses summarische Verständnis ist nun zu schärfen. Insbesondere soll es auf den Prozess der Universalisierung der Menschenrechte zugespitzt werden.
1. Integratives Diskursverständnis Der Diskursbegriff wird im Folgenden von Jürgen Habermas übernommen, aber etwas ausgeweitet.18
Engführung bei Habermas (nur Rechtfertigung vorgeschlagener Normen) Die Diskurstheorie verzichtet darauf, das Wahre und das Richtige erkennen zu wollen. Sie zieht den Anspruch der Philosophie auf das Verfahren zurück, in welchem festgelegt werden soll, was als wahr und richtig gelten soll. Wir müssen uns darauf in einem herrschaftsfreien Diskurs einigen. Die Diskurstheorie vertritt somit die Konsenstheorie der Wahrheit und der Richtigkeit. Die sprachphilosophische Grundlage dafür liegt in der Sprechakttheorie, welche die Sprache als menschliche Handlung (Äusserung und nicht nur Aussage) begreift. Das Sprechen zielt auf eine Verständigung, die nicht erzwingbar ist. Voraussetzungen der Gültigkeit eines Konsenses sind die Bereitschaft des Sprechers zur Selbstbindung, die Reziprozität der Beziehung unter den Diskurspartnern (gegenseitige Anerkennung), die Symmetrie der Rahmenbedingungen des Gesprächs (das Fehlen verzerrender Machtverhältnisse) und die zwanglose Zustimmung. Faire Verfahren der Kommunikation begründen für ihre Ergebnisse die Vermutung der Vernünftigkeit. In der Fassung von Jürgen Habermas verzichtet die Diskurstheorie dabei auf den Anspruch auf Letztbegründung. Der Rückzug auf die Prozeduren macht die Aussagen der Diskurstheorie allerdings sehr abstrakt. Inhaltsfragen lassen sich so nicht mehr aus moralischer Sicht entscheiden. Alle Inhalte moralischer Auseinandersetzungen sind realen Diskursen zu überantworten. Darin ist jeder Partei. Sämtliche Äusserungen sind
18 Verfassungslehre, Rz.370–416 (Fn.6); Vernünftig wissenschaftlich entscheiden, S. 177–181 (Fn.2).
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begründungspflichtig und in ihrem Geltungsanspruch von der Zustimmung aller anderen abhängig. Das gilt selbst für die Diskurstheorie: Sie ist dem Diskurs über ihre Gültigkeit nicht entzogen. Auch sie gilt nur, soweit sie zu überzeugen vermag. Ohnehin lassen sich aus der Sprachtheorie keine moralischen Pflichten ableiten. Niemand ist gehalten, in den Diskurs einzutreten. Die Diskurstheorie liefert somit keine Letztbegründung der Moral. Sie gilt nur unter der Voraussetzung, dass die Beteiligten eine Verständigung anstreben. Sie hat damit nur den Status einer „Wenn-dann-Theorie“. Schliesslich hat Habermas seiner Fassung der Diskurstheorie einen besonders eingeschränkten Status verliehen: Der Diskurs wird von ihm nur als Verfahren zur Prüfung der Gültigkeit vorgeschlagener und hypothetisch erwogener Normen verstanden. Es geht ihm nur um die diskursive Einlösung von normativen Geltungsansprüchen.19 Damit dient der Diskurs nur der Rechtfertigung individuell bereits vorgefasster Entscheidungen, nicht aber der Herstellung von Entscheidungen. Er ist kein Verfahren zur Erzeugung gerechtfertigter Normen. Diese Einschränkung soll hier fallen gelassen werden.
Diskurs als konstitutiver Prozess (Entscheidung über Fragen der Wahrheit, des Werts und der Gerechtigkeit) Im Folgenden soll die Argumentation, die in praktische Diskurse eingebracht wird, nicht nur instrumentellen, sondern auch konstitutiven Charakter erlangen. Der Diskurs dient dann nicht nur als Testgelände ingeniöser Begründungsangebote, sondern auch als Ort originärer Meinungsbildung. Der Diskurs wird damit zu einer „Deliberation“, zu einer kommunikativen Interaktion, die Grund und Voraussetzung für vernünftige Aussagen und Entscheidungen ist. Im Geben und Nehmen von Gründen, im Austausch von Argumenten, aber auch von zugrunde liegenden Gefühlen, Einstellungen und Wünschen, sollen sich die Gründe und die sich aus ihnen ergebenden Thesen auch bilden. In dieser Ausgestaltung meint der Diskursbegriff neben dem Ideal immer auch den realen Diskursprozess, der sich am Ideal messen lassen muss. In bewusster Weiterführung des originären Verständnisses der Diskurstheorie bei Jürgen Habermas dient der Diskurs hier also nicht nur der Rechtfertigung individuell vorgefasster Entscheidungen, sondern der Herstellung der Entscheidungen selbst. Er wird zur Methode der Überprüfung von Vorverständnissen und der Entwicklung von begründeten Entscheidungen.
19 Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, S.113.
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Dies ist eine Konsequenz zweier grundlegender Prämissen meiner Ausführungen: des Entscheidungscharakters von Erkenntnis einerseits, der Intersubjektivität des Einzelnen anderseits. Wenn Erkenntnis in einem Entscheidungsprozess zustande kommt, muss dieser Prozess zum Gegenstand einer vernünftigen Verfassung gemacht werden. Er muss einer methodischen Anleitung zugänglich sein. Es geht nicht mehr nur um die Rechtfertigung getroffener oder vorgeschlagener Urteile, sondern um deren diskursive Entwicklung. Und wenn Intersubjektivität konstitutiv für Subjektivität ist, muss jede subjektive Wertung, die in den wissenschaftlichen Prozess eingehen soll, auf ihre intersubjektiven Quellen hin befragt werden. Sie ist dann selbst das Ergebnis eines mehr oder weniger qualifizierten Diskurses und keine externe Vorgabe, die kraft der Legitimation der einzelnen Diskursteilnehmenden in die Auseinandersetzung aufzunehmen wäre. Wohl bleibt jede Person, die sich in einen Diskurs einbringt, autonom in allem, was sie darin geltend machen will. Sie muss aber ihre Vorentscheidungen transparent machen und rechtfertigen. Behauptungen haben ihre eigene Diskursgeschichte, bevor sie aufgestellt werden. Damit wird das Diskursmodell vielschichtig. Im Diskurs, der zu einer philosophisch oder wissenschaftlich legitimierten Entscheidung führt, muss sowohl die Geschichte der eingebrachten Positionen rekonstruiert wie deren Integration zu einem gemeinsamen Entscheid angeleitet werden. Die Diskursgrundsätze sind sowohl Massstab der Analyse der einzelnen Behauptungen wie des Argumentationsprozesses, auf dem die Entscheidung aufbaut (aus diesem Grunde wurden eingangs die Voraussetzungen dieser Ausführungen so explizit gemacht: Es wäre nicht konsequent, wenn ich nicht auch mein Vorverständnis zum Gegenstand des Diskurses über meine Interpretation der Menschenrechte machen wollte). Für den Fortgang des Gedankenganges zur Begründung der Menschenrechte bedeutet dies, dass die Menschenrechte aus ihrer Diskursgeschichte heraus zu verstehen sind. Sie sind das gegenwärtige Ergebnis eines umfassenden Deliberationsprozesses in der aufgeklärten Öffentlichkeit. Für die Menschenrechte ist das Konzept der deliberativen Demokratie konstitutiv.
2. Deliberative Demokratie Die deliberative Demokratie ist die staatsrechtliche Umsetzung des Diskursprinzips. Das Staatsrecht münzt die wechselseitige Anerkennung der Diskursteilnehmer in die Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger um. In der Form der Menschenrechte schützt es sowohl unsere private wie unsere öffentliche Autonomie.
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Deliberation über Menschenrechte Während Demokratie auf den Diskurs innerhalb der Staatsbürgerschaft beschränkt ist, ermöglicht die Deliberation die Teilnahme aller Betroffenen an der öffentlichen Auseinandersetzung zu einem Thema. Die Schranken der Stimmberechtigung und der nationalen Zugehörigkeit entfallen. Dies ist insbesondere für den Diskurs über die Menschenrechte bedeutsam, weil im Menschenrechtsprozess keine Schranken der Beteiligung zulässig sind. Damit lässt sich die Universalität der Menschenrechte wenn nicht im Ergebnis, so doch zumindest im Verfahren verwirklichen: Der Prozess der Universalisierung der Menschenrechte soll universal sein. Deliberative Demokratie als historischer Prozess der Universalisierung von Menschenrechten Zwischen den Menschenrechten und dem Diskursprinzip entsteht auf diese Weise ein Verhältnis der gegenseitigen Bedingung: – Das Diskursprinzip begründet die Deliberationsform der gegenseitigen Anerkennung aller Betroffenen, in welcher die Menschenrechte eine Chance auf Entwicklung haben. – Die Menschenrechte ihrerseits begründen die Voraussetzungen, unter denen eine Deliberation entstehen kann, welche die Chance hat, den Diskursanforderungen und damit der regulativen Idee der Vernunft zu entsprechen. Menschenrechte und Diskurs stehen daher in einem Verhältnis der wechselseitigen Begründung. Sie fördern gegenseitig einen Prozess der Universalisierung sowohl der Rechte wie der Vernunft des Menschen. Deliberative Demokratie dient der Universalisierung der Menschenrechte – der Universalisierungsprozess der Menschenrechte stützt die deliberative Demokratie. Dieses Verhältnis der Gegenseitigkeit soll im letzten Teil dieser Ausführungen vertieft werden. Vorher muss aber noch eine Konsequenz der eingangs gemachten Voraussetzungen geklärt werden.
3. Integration von Genesis und Geltung Unter den eingangs erörterten Voraussetzungen (Ziff. I. 2) wurde die wissenschaftstheoretische Unmöglichkeit einer Trennung von Genese und Geltung von Aussagen dargestellt. Diese Bedingtheit wirkt sich unmittelbar auf das Verhältnis von Universalisierung und Universalität der Menschenrechte aus. Damit stellt sich die Aufgabe einer Integration von Genesis und Geltung der Menschenrechte.
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Zur These einer Trennung von Genesis und Geltung Dass eine Aussage sachlich gültig sein könne, also normative Geltung beanspruchen dürfe, obwohl sie in ihrer Entstehung Mängel aufweise, ist eine These, welche die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis vor einer Relativierung durch subjektive Einflüsse schützen soll. Sie geht letztlich auf die cartesianische Trennung von Subjekt und Objekt zurück, äussert sich aber aktuell v.a. in der Abhebung der Wahrheitsdimension von den Dimensionen Wert und Gerechtigkeit, die nach der hier vertretenen Auffassung zwingend zu jeder vernunftorientierten Äusserung gehören. Die Möglichkeit, Genesis von Geltung zu lösen, ist aber auch Voraussetzung der These der Universalität der Menschenrechte. Während die Universalisierung der Menschenrechte ein Prozess der Genese ist, der wohl nie abgeschlossen werden kann, postuliert Universalität einen bereits erreichten Zustand, der sich unabhängig von Mängeln der Universalisierung definieren lässt. Die Menschenrechte werden als globaler Konsens dargestellt, also als feststehendes Ergebnis ihrer Genesis. Gestützt wird diese These oft mit der Feststellung, dass die Menschenrechte moralisch universal begründbar seien. Der Begründungsdiskurs der Menschenrechte gilt damit als abgeschlossen, die realen Probleme sollen bloss Fragen eines Anwendungsdiskurses beschlagen. Dass diese Spaltung des Diskurses eine juristische Engführung ist, welche die Ganzheitlichkeit des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens verletzt, wird dabei übersehen.
Herstellen und Darstellen Methodisch dürfte allen, die als Autor versucht haben, einen Gedankengang zu entwickeln und Anderen in Wort oder Schrift mitzuteilen, bewusst sein, dass es wesentliche Unterschiede zwischen dem Herstellen und dem Darstellen eines argumentativen Ergebnisses gibt. Das Herstellen ist ein iterativer Prozess: In der fachlichen Ausdrucksweise eines Juristen beginnt die Suche nach dem Entscheid beim Vorverständnis und verläuft über den Urteilsentwurf und dessen methodischer Überprüfung oder Falsifikation bis zu seiner Bewährung oder Korrektur. Bei der Darstellung unseres Ergebnisses hingegen beleuchten wir bestenfalls jene methodischen Schritte, die sich im Nachhinein als entscheidungsrelevant erwiesen haben. Jedenfalls beschränken wir die Darstellung auf jene Argumente, welche wir für die bereits getroffene Entscheidung als erheblich erachten. Die Darstellung ist somit immer eine nachträgliche Selektion von Elementen aus dem Herstellungsprozess. Dargestellt wird nie das Wie der Entscheidung, sondern nur das Was sowie ein nachträglich konstruiertes Warum.
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Bezogen auf die Menschenrechte bedeutet dies, dass die historische Entwicklung, also die Herstellung einerseits, und die philosophische Begründung, also die Darstellung der Menschenrechte anderseits, zwei Erzählungen sind, die nicht den gleichen Inhalt haben. Ein integrales Verständnis bedingt, dass wir beides, Herstellung und Darstellung, zusammenführen, d.h. relationieren. Keine der beiden Erzählungen kann für sich einen absoluten Geltungsanspruch erheben.
Für die Integration von Universalisierung und Universalität Ausgangspunkt unserer Verständigung über die Menschenrechte kann immer nur der Diskurs sein, der von einem historisch gegebenen Zustand aus versucht, den Universalisierungsprozess voranzutreiben. Auch wenn wir für unser Verständnis eines Menschenrechts einen universalistischen Geltungsanspruch erheben, tun wir dies als Subjekt mit dem Anspruch auf Wahrheit, Wert und Gerechtigkeit unserer Aussage. Wir bringen unsere Position damit ein in den historischen Herstellungsprozess der Menschenrechte. Dieses Handeln ist zwangsläufig kontingent. Das braucht uns freilich nicht zu hindern, für unsere Position Universalität, also universale Geltung für alle, zu beanspruchen. Nur sollten wir uns bewusst bleiben, welchen Status dieser Anspruch hat: Wir machen den utopischen Entwurf einer Zielnorm, einen Vorgriff auf ein mögliches Ergebnis des gesamten Diskurses, in dem wir uns befinden. Solche Vorausentwürfe können richtungsweisend wirken und bilden eine Kraft, welche den Herstellungsprozess stützen kann. Wie jeder Entwurf ist aber diese Vision korrekturbedürftig. Korrekturen müssen dabei sowohl von idealen Gegenentwürfen wie von realen Entwicklungsstufen der Menschenrechte her kommen. Das Verhältnis von Norm und Faktum der Menschenrechte muss als dialektischer Prozess begriffen werden. Die Darstellung der Idee und die Herstellung der Praxis der Menschenrechte sind Teile des historischen Diskurses ihrer Universalisierung.
IV. Die wechselseitige Begründung von Diskurs und Menschenrechten Mit den drei bisherigen Schritten des Gedankenganges sind die konzeptionellen Grundlagen gelegt, auf denen die Wechselseitigkeit von Diskurs und Menschenrechten beruht. Abschiessend soll dieses Zusammenspiel näher erläutert werden. Vorauszuschicken ist, dass Kultur hier nicht im Sinne eines essentialistischen Kulturalismus zu verstehen ist. So wie die Person nicht als unteilbares
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Individuum, sondern als intersubjektiv konstituiertes Subjekt zu begreifen ist, muss eine Kultur auch als nach innen wie aussen kommunikativ offen gefasst werden. Kulturen werden durch interne wie externe Kommunikationen konstituiert. Sie sind weder intern homogen noch haben sie scharfe Grenzen, sondern gehen ineinander über. Der Kulturbegriff ist ein Idealtypus, der nur in konkreten Kontexten Wirklichkeit wird. Offen muss hier auch bleiben, wie eine Kultur handlungsfähig wird, insbesondere wie sie ihre repräsentative Vertretung im Diskurs über die Menschenrechte organisiert. Faktisch wie normativ gibt es hier strittige Ansprüche auf Repräsentation. Dieser Streit betrifft aber nur die Legitimation einer Äusserung, namens einer Kultur Geltung zu beanspruchen. Er betrifft nicht die Existenz eines Pluralismus von Konzepten der Menschenrechte.
1. Interkultureller Diskurs über Menschenrechte Mit dem Anspruch auf Universalisierung überschreitet der Menschenrechtsdiskurs den europäischen Kulturkreis, aus dem er stammt. Damit gilt für beide Ideale – Diskurs und Menschenrecht – eine Begründungslast für ihren universalistischen Geltungsanspruch gegenüber den Denkweisen anderer Kulturen. Weder die Diskursidee noch die Idee der Menschenrechte kann dabei gegenüber anderen Kulturen den Anspruch auf Universalität erheben, sondern muss sich der Herausforderung der Universalisierung stellen. Dabei stützen sich aber die beiden Konzepte gegenseitig. Die Diskursethik kann ihre Anforderungen an die Teilnehmenden und ihre Fairnessregeln auf menschenrechtliche Postulate stützen und diese können sich auf die Diskursregeln berufen. Wer die eine Position anerkennt, trägt die Argumentationslast dafür, die andere Position zu negieren. Und wer für sich den einen Anspruch erhebt, muss den andern auch gegen sich zulassen. Das macht die beiden Positionen zwar nicht automatisch universal, stärkt aber ihre argumentative Kraft im interkulturellen Diskurs. Wenn Diskursethik und Menschenrechte nicht als gültig vorausgesetzt werden können, müssen sie sich vorab einem Metadiskurs über die Regeln des interkulturellen Diskurses stellen. Es ist zwar durchaus möglich, einen interkulturellen Diskurs zu akzeptieren, darin aber die Position des eigenen Kulturkreises zu vertreten. Letztlich bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Diskurspartner vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Auch der Standpunkt der Menschenrechte ist hier ein Parteistandpunkt. Denn die von uns als gültig anerkannten Voraussetzungen der Aufklärung können von Vertretern anderer Kulturen in Frage gestellt werden; viel wahrscheinlicher aber ist, dass unsere Begriffe zwar übernommen werden, darunter aber etwas anderes verstanden wird.
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Unser eigener aufgeklärter Standpunkt fordert, dass der interkulturelle Diskurs nicht nach den Spielregeln einer Partei – auch nicht der unsrigen – definiert werde. Nicht einmal die faktische Anerkennung dieser Spielregeln durch die anderen genügt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese Akzeptanz durch verzerrte Kommunikationsstrukturen, also Machtverhältnisse, motiviert ist. Daher haben gerade Angehörige des westlichen Kulturkreises Anlass zu selbstkritischer Reflexion ihrer eigenen Prämissen. Freilich ist es uns wegen unserer eigenen kulturellen Bedingtheit nicht möglich, von den anderen Kulturen her denken. Zum Glück lässt sich aber vieles, was uns etwa von asiatischem Denken trennt, in unserer eigenen Geschichte in zum Teil ähnlicher Form wiederfinden. Familie, Gemeinschaft und Solidarität haben auch in europäischer Vergangenheit mehr Bedeutung gehabt als heute. Unsere Denkgeschichte weist Elemente auf, die uns mit anderen Kulturen verbinden. Wir sollten daher danach fragen, welche modernen Entwicklungen uns von jenen früheren Gemeinsamkeiten mit anderen Traditionen trennen. Leitgedanke für die Ausgestaltung des interkulturellen Diskurses sollte sein, unseren Geltungsanspruch auf den Wert der Menschenrechte mit dem gleichzeitig erhobenen Anspruch auf Gerechtigkeit zu verbinden. Die Universalisierung von Diskursidee und Menschenrechtskonzept muss den anderen kulturellen Denk- und Lebensweisen gerecht werden. Gerechtigkeit muss hier die Leitidee der Einheit ersetzen, welche von den Universalisten vertreten wird. Gerechtigkeit ist denn auch bloss die logische Folge der Anerkennung der Eigenständigkeit gegenläufiger Rationalitäten im interkulturellen Diskurs. Gleichbehandlung ist die einzige legitime Umgangsform mit der rationalen Pluralität von Welten. Denn Anerkennung verpflichtet zur Achtung und zum Schutz der Rechte des Anerkannten. Die Vernunft wird zum Anwalt diskursiver Gerechtigkeit unter den partiellen Diskursen. Für den Menschenrechtsdiskurs bedeutet die Anerkennung unterschiedlicher Rationalitäten, dass die in einem Kulturkreis konkret gesetzten Grundrechte nur die Rationalität einer partikularen Welt besitzen. Es steht jeder Kultur frei, die Menschenrechte abzulehnen; den anderen bleibt aus den eigenen Prinzipien heraus nur die Anerkennung dieses Widerstreits. Die Menschenrechtsidee selber verbietet uns, den andern mit Gewalt zur Vernunft zu zwingen, da wir so seine Autonomie verletzen würden. Allerdings wird diese relativistische Konsequenz durch eine andere Überlegung ihrerseits relativiert: Die Anerkennung der Andersartigkeit als schützenswert folgt erst aus der Leitidee der Menschenrechte. Sie allein begründet das Gewaltverbot im Umgang mit dem Anderen. Wer sich darauf berufen will, muss sie auch gegen sich gelten lassen. Dafür ist gar keine Universalität erforderlich. Es genügt ein pragmatischer Standpunkt: Die europäisch geprägte Menschenrechtstradition ist die einzige, welche die Anerkennung des Anderen konsequent
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umsetzt. Sie ist daher heute das einzige Modell, das die Frage beantwortet, wie unterschiedliche Kulturen friedlich zusammenleben können. Mangels eines besseren Konzepts ist es daher legitim, die europäische Menschenrechtskonzeption dem Zusammenleben der Kulturen zugrunde zu legen. Die europäische Menschenrechtsgeschichte ist ein Beispiel menschlicher Erfahrung, eine Antwort des Rechts auf historisches Leiden. Sie ist nicht mehr (aber auch nicht weniger) als „ein Sinnangebot“ an die anderen Kulturen. Aus universalistischer Sicht mag diese pragmatische Begründung bedauerlich sein. Das Argument des performativen Widerspruchs dessen, der sich auf etwas beruft, das er nicht gegen sich gelten lassen will, liefert nur eine schwache moralische Grundlage. Die heute vorherrschende Menschenrechtskonzeption wird daher letztlich nur soweit legitimiert, als sie sich im Wettstreit mit anderen Konzepten bewährt. Ihre Geltung ist nicht für alle künftigen Streitfälle im Voraus gesichert. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass Diskursethik und Menschenrechtskonzeption sich strukturell weitgehend stützen. Alle Inhalte müssen aber realen Diskursen überantwortet werden. Diese können bestenfalls einen kollektiven Lernprozess unter den Kulturen auslösen, der die Entwicklung eines moralischen Bewusstseins weltweit fördert. Im Geist der Interkulturalität ist dabei nicht die Universalität einer bestimmten Moral anzustreben, sondern Gemeinsamkeit der grundlegenden Wertungen.
2. Menschenrechtspolitik Abschliessend lassen sich einige Folgerungen für eine diskursethisch legitimierte Menschenrechtspolitik ziehen. In der internationalen Menschenrechtsdebatte wird den Rahmenbedingungen der Interkulturalität oft zu wenig Rechnung getragen. Implizit oder explizit wird die Aufklärung, etwa in der Form der kantischen Philosophie, als gemeinsame Grundlage des interkulturellen Diskurses vorausgesetzt. Damit werden Eurozentrismus, Individualismus und Anthropozentrismus als allgemeingültige Prämissen postuliert. Das führt zu Missverständnissen, im schlechtesten Fall sogar zu kulturimperialistischer Gesprächsverzerrung, wenn der Partner nicht die Macht hat, diese Rahmenbedingungen zur Diskussion zu stellen. Zwei Dinge sind demnach sorgfältig auseinanderzuhalten: (1) Die westliche Menschenrechts politik, die sich mit guten Gründen darum bemüht, die Errungenschaften der Aufklärung in der Welt zu verbreiten. (2) Die westliche Menschenrechts theorie, welche die universale Geltung der Menschenrechte behauptet und dabei voraussetzt, dass die Grundsätze der Aufklärung bereits allseits anerkannt seien.
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Die Menschenrechtspolitik ist eine legitime westliche Position im Menschenrechtsdiskurs. Sie vertritt und begründet die Freiheit des Individuums und die säkularisierte Selbstverantwortung. Der Anspruch auf Universalität hingegen, den die Menschenrechtstheorie oft erhebt, ist nicht schlüssig. Er bleibt trotz aller gegenteiligen Versicherung blosse These der westlichen Menschenrechtspolitik. Denn die Menschenrechte können nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie dem liberalen Aufklärungsdenken entsprechen. Dieses ist selber Partei in einem Diskurs, der ihm vorgeordnet ist und dessen Spielregeln zwischen den Kulturen ausgemacht werden müssen. Die Menschenrechte sind eine Kulturleistung, die durch Überzeugen verbreitet werden muss. Sie können nicht aus einer universalen Moral abgeleitet, sondern müssen als Politik aufgebaut werden. Sie sind nicht Politik gewordene Moral, sondern moralisch werdende Politik. Die westliche politische Kultur kann hier einen Weg weisen, weil in ihr eine Idee von Recht und Staat enthalten ist, die über die Kulturen der Völker hinweg Überzeugungskraft hat. Es ist die Idee des Rechts, das Ideal der Gerechtigkeit, die Forderung nach Anerkennung des Anderen. Darin liegt das weltgeschichtliche Projekt beschlossen, das Gute, das sich in allen Kulturen findet, in die Form der Gerechtigkeit zu giessen und damit allen zugänglich zu machen. Universalisierung wird dann zum praktischen Ziel einer Rechtspolitik. Menschenrechtspolitik macht das Postulat der Universalisierung der Rechtsidee zur Leitfrage des interkulturellen Diskurses: Wollen wir unseren kulturellen Werten eine gemeinsame Rechtsform verleihen? Das Recht erhält damit die Form einer Frage – nicht einer Antwort! – an die Kulturen dieser Welt. Die Universalisierung der Menschenrechte ist die Frage des Rechts an die Kulturen. Denn es ist die zentrale Aufgabe des Rechts, alle Kulturen aufzufordern, sich über die Werte zu einigen, die allen Menschen zuerkannt werden sollen.
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Ein Problem der Politik und nicht der Kultur: Menschenrechte in China Am Fall China entzündet sich immer wieder der Streit um die Universalität oder Relativität ethischer, auch für die Politik verbindlicher Normen und damit auch der Menschenrechte. Er betrifft zugleich die Auseinandersetzung um die globale Legitimität der Moderne, in der der Bezug auf China seit Hegel eine feste Größe gewesen ist. Die Menschenrechte sind zumindest dann ein integraler Teil des „Projekts Moderne“, wenn man von dessen klassischem Selbstverständnis als Umsetzung des Prinzips „freier Subjektivität“ ausgeht, wie es Hegel, nicht ohne Kautelen, in seiner Rechtsphilosophie formuliert hat.1 Denn freie Subjektivität bedeutet die Selbstbestimmung des Einzelnen, der nicht mehr auf die Vorgaben einer tradierten Sittlichkeit verpflichtet werden kann. Sie bedeutet darüber hinaus, dass auch die Gesellschaft im Ganzen ihr Selbstverständnis nicht mehr aus der Autorität vergangener Vorbilder bezieht, sondern aus den freien Überzeugungen ihrer Mitglieder und aus entsprechenden Möglichkeiten unbevormundeter Meinungsbildung und partizipativer Entscheidungsfindung. Dies impliziert eine freie Öffentlichkeit und eine rechtsstaatlich gesicherte Demokratie. Nur der demokratische Verfassungsstaat kann erfüllen, was mit den Menschenrechten gemeint ist.2 Um gleich einem an dieser Stelle oft gemachten Einwand zuvorzukommen: Dies heißt nicht, dass damit auch die „westliche“ parlamentarische Parteiendemokratie, die sich als Standardmodell durchgesetzt hat, festgeschrieben wäre. Demokratie kann nicht nur eine einzige institutionelle Form haben. Demokratie in modernem Sinne ist jede Staatsform, die in Form subjektiver Rechte sicherstellt, dass die von Entscheidungen Betroffenen zugleich an den Entscheidungen beteiligt sind, und die Abraham Lincolns Satz gerecht wird, „No man is good enough to govern another man without that other‘s consent.“3 Man sollte diesen Anspruch nicht unterbieten, um autoritären Systemen entgegenzukommen, denen man eine kulturelle Berechtigung meint zusprechen zu müssen, in der Regel, ohne
1 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986, §§ 124 und 273. 2 Ich folge hierin Robert Alexy, „Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat“, in: Stefan Gosepath und Georg Lohmann, Hg., Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998, S. 244–264, und nicht Ernst-Wolfgang Bockenförde, „Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte?“, in: ebd., S. 233–243. 3 Abraham Lincoln, „Peoria Speech“, 16.10.1854, Stephen B. Smith, Hg., The Writings of Abraham Lincoln, New Haven and London: Yale University Press, 2012, S. 76. DOI 10.1515/9783110537130-006
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sich mit den betreffenden Kulturen überhaupt beschäftigt zu haben.4 Die wahre kulturelle Zumutung besteht nicht darin, die Menschenrechte auch für die Chinesen zu fordern, sondern darin, sie für die Abendländer zu reservieren. Freie Öffentlichkeit und Demokratie haben sich in den beiden letzten Jahrzehnten auf Taiwan entwickelt; sie fehlen aber in der Volksrepublik China und damit in jenem Staat, der mehr und mehr, je unglaubwürdiger die alte sozialistische Selbstdefinition wird, mit dem Anspruch auftritt, die vom „Westen“ signifikant verschiedene chinesische Kultur zu repräsentieren. Dies scheint Hegel zu bestätigen, der China bekanntlich auf die Seite der subjektivitäts- und damit modernitätsfeindlichen „Substanz“ brachte, ein später in vielen Varianten wiederholtes Urteil (u.a. von Weber), das das westliche Chinabild teils offen, teils unterschwellig bis heute prägt. Allerdings geht von Hegel auch eine andere Argumentationslinie aus, die sich mit der ersten verbunden hat: Nämlich die einer Kritik der modernen Gesellschaft, in die das Prinzip freier Subjektivität hineinführt. Hegel, Schillers Charakterisierung der „losgebundenen Gesellschaft“ als „System“ des „Egoism“ aufgreifend,5 sieht die „bürgerliche Gesellschaft“ im Dienst des „selbstsüchtigen Zwecks“ des Individuums, und Marx wird vom Mitglied dieser Gesellschaft und entsprechend vom Träger des Menschenrechts als dem „egoistischen Menschen“6 sprechen. In den Augen ihrer frühen Kritiker geht von der Subjektivität eine „entzweiende“ Wirkung auf die menschlichen Beziehungen aus. In der Tat öffnet Subjektivität nicht nur den Raum für die Autonomie des Menschen als ens morale und für die soziale Freiheit und das Partizipationsrecht des homo politicus, sondern sie begünstigt auch den Besitzindividualismus des homo oeconomicus, der alles, auch die anderen Subjekte, der Zweck-Mittel Rationalität unterwirft. Zur „Versöhnung“ der Entzweiung ist dann der Staat auf den Plan gerufen worden, der sich selbst zum neuen Subjekt aufschwingt.7 Die moderne politische Geschichte Chinas ist hierfür beispielhaft. Verstärkt wurde dabei die Neigung zum „stateism“ durch das Programm der Konstituierung der chinesischen Nation unter dem Zwang zur Organisation einer nachholenden Entwicklung, nachdem der Westen nahezu uneinholbar in Führung gegangen war und die Konkurrenzbedingungen bestimmte.
4 Dies gilt etwa für John Rawls, „Das Völkerrecht“, in: Stephen Shute und Susan Hurley, Hg., Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch, 1993, S. 53–103. 5 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser, 1962, S. 579 und 580. 6 Hegel, Rechtsphilosophie §183, Karl Marx, “Zur Judenfrage”, MEW l, Berlin: Dietz, 1976, S. 36, und “Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie”, MEW 13, S. 615. 7 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986, S. 53.
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In dieser Konstellation, also in der Geschichte etwa der letzten eineinhalb Jahrhunderte, wurzelt m.E. das Problem der Menschenrechte in China, weniger in älteren Kulturschichten, die in diesem Zusammenhang immer wieder bemüht werden.8 Dies bedeutet nicht, dass die vormodernen Traditionen Chinas für die Thematik der Menschenrechte irrelevant wären; sie können im Gegenteil, ganz ähnlich wie es in Europa der Fall war, sowohl eine hinderliche als auch eine entgegenkommende Rolle spielen. Allerdings haben zum einen die traditionellen philosophisch-politischen Lehren, trotz eines sehr aktuellen Versuchs, sie gegen „westliche“ und „universale“ „Werte“ in Stellung zubringen,9 seit dem 19. Jahrhundert ihre Hoheit über den politischen Diskurs Chinas verloren. Sie sind zwar keineswegs verstummt, doch liegen sie seitdem in vielen Amalgamierungen mit westlichen Philosophien vor, wobei nicht zu vergessen und gegen Hegel und die ihm folgende Tradition in Erinnerung zu bringen ist, dass sie jene ihrerseits durch ihre Wirkung auf die europäische Aufklärung bereits beeinflusst haben.10 Zum andern erklären sich die Eigenarten des modernen chinesischen politischen Diskurses eben sehr viel mehr aus der konkreten globalen Problemsituation des chinesischen Nationalstaats als aus einem traditionellen, etwa konfuzianischen, „Erbe“. Zu den westlichen Einflüssen gehört auch die Idee der Menschenrechte, die in China im 19. Jahrhundert bekannt geworden und seitdem aus dem politischen Diskurs nicht wieder verschwunden ist. Sie erreicht China in den letzten Jahrzehnten der Qing-Dynastie, die seit den Opium-Kriegen und dem Taiping-Aufstand in Agonie liegt. In der irritierenden Unübersichtlichkeit der heraufbrechenden
8 Ein Musterbeispiel für die kulturalistische Argumentation liefert Chi Zhang, „The Conceptual Gap on Human Rights in China-Europe Relations“, in: Zhongqi Pan, Hg., Conceptual Gaps in China-EU Relations, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012, S. 83–97. Auch Xuewu Gu, Die große Mauer in den Köpfen. China, der Westen und die Sucher nach Verständigung, Hamburg: Körber-Stiftung, 2014, tendiert zu dieser Sicht. Lt. Gu gehört der „Primat des Kollektivs“ zum „Grundcharakter der chinesischen Zivilisation“ (s. 111). 9 Vgl. etwa das Parteidokument „Guanyu jinyibu jiaqiang he gaijin xin xingshi xia gaoxiao xuanchuan sixiang gongzuo de yijian” von Januar 2015 (engl. „Opinions concerning Further Strengthening and Improving Propaganda and Ideology Work in Higher Education Under New Circumstances”, https://chinacopyrightandmedia.wordpress.com/2015/01/19/opinionsconcerning-further-strengthening-and-improving-propaganda-and-ideology-work-in-highereducation-under-new-circumstances/, Zugriff 10.2.16), das im Bildungswesen die Rede von universalen Werten unter Verbot stellt; ausdrücklich erwünscht ist hingegen der Bezug auf die „traditionellen chinesischen Tugenden“ und den „chinesischen Geist“. 10 Vgl. Heiner Roetz, „The Influence of Foreign Knowledge on Eighteenth Century European Secularism“, in: Marion Eggert und Lucian Hölscher, Hg., Religion and Secularity. Transformations and Transfers of Religious Discourses in Europe and Asia, Leiden: Brill, 2013, S. 9–34.
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Moderne versuchen Reformer, das sich Bahn brechende Neue auf praktisches know how (yong), Industrie und Technik zu reduzieren, und intakt zu halten, was sie als die kulturelle Identität bzw. Substanz (ti) Chinas verstehen. Für Zhang Zhidong (1837–1900), einen der Protagonisten dieser Bemühungen, besteht die Substanz Chinas in der traditionellen Sozialstruktur, die durch die konfuzianische Ethik gestützt worden ist. Im Kern dieser Ethik stehen für ihn die – allerdings im zhouzeitlichen Konfuzianismus nicht formulierten – „drei Bindungen“ (san gang): die Unterordnung des Untertanen unter den Herrscher, des Sohnes unter den Vater und der Frau unter den Mann.11 Damit wären auch die Demokratie, die Rechtsgleichheit der Generationen und die Gleichstellung der Geschlechter unchinesisch. Der Reformierung Chinas soll damit eine Grenze gezogen werden, die genau diesseits des „Prinzips der freien Subjektivität“ verläuft – „Selbstbestimmung“ (zizhu) ist lt. Zhang Zhidong nicht denkbar.12 Freigegeben ist allerdings die technologisch-industriell-organisatorische Seite der modernen Entwicklung, gegen die die sozialen Beziehungen abgeschottet werden sollen. Mit diesem Bewusstsein, mit dem Zhang Zhidong nicht allein steht, werden die Weichen für eine hybride Modernisierung gestellt, die in die heutige Mischung aus Kapitalismus und Diktatur geführt hat. Zhang Zhidong konnte nicht verhindern, dass die Idee des subjektiven Rechts in China Einzug hielt. Ihre Aneignung blieb aber in der erwähnten „etatistischen“ Weise verzerrt, und dies bis heute, wobei die zeitgleichen westlichen Importe wie Rechtspositivismus und Darwinismus und schließlich die leninistische Variante des Marxismus ein übriges taten. Aufschlussreich für die typische Gebrochenheit ist die Stellungnahme Liang Qichaos (1873–1929), eines der bedeutendsten politischen Philosophen der späten Kaiser- und frühen Republikzeit, zunächst Anhänger einer konstitutionellen Monarchie und dann Vordenker eines republikanischen Nationalismus. Liang sieht in der Vorstellung subjektiven Rechts überhaupt „die herausragende Komponente des europäischen und amerikanischen politischen Denkens“. „Was Menschenrechte, Patriotismus und Klassenkampf genannt wird [. . .] wie alle möglichen anderen Aktivitäten,“ so Liang, „rührt ohne Ausnahme von hierher. Sogar die einfachsten und intimsten sozialen Beziehungen wie jene zwischen Vater und Sohn und Mann und Frau sind nach
11 Zur tatsächlich komplexeren Architektur der konfuzianischen Ethik vgl. Heiner Roetz, „Staat und Gesellschaft im klassischen Konfuzianismus. Lunyu, Mengzi und Xunzi“, in: Gregor Paul, Hg., Staat und Gesellschaft in der Geschichte Chinas: Theorie und Wirklichkeit, Baden-Baden: Nomos, 2016, S. 21–48. Die drei Bindungen finden sich sinngemäß erstmals im legistischen Hanfeizi, Kap. 51, Zhuzi jicheng Bd. 5, Hong Kong: Zhonghua, 1978, S. 358, mit dem Vorwurf, dass die Konfuzianer hiergegen gerade verstoßen. 12 Zhang Zhidong, Quanxue pian [1898], Taipei: Wenhai chubanshe, 1967, S. 54.
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diesem Modell organisiert.“13 Liang drückt gegenüber diesem Rechtsverständnis zunächst sein Befremden aus: „In den Köpfen von uns Chinesen ist dies einfach unverständlich.“ Chinesen nämlich, dies ist Liangs Überzeugung, die sich ähnlich bei anderen Autoren findet,14 kommen ihren Pflichten nach und pochen nicht auf ihre Rechte. Es herrscht der quasi Hegel‘sche Verdacht, der Appell an das subjektive Recht könnte dazu führen, sich selbst statt die Gemeinschaft zum „Standard“ zu machen.15 Liang Qichao führt dies aber nicht dazu, den Rechtsgedanken zu verwerfen; er macht ihn im Gegenteil zum zentralen Baustein seines nationalistischen Programms. Die Kraft der Nation kann nur aus der Kraft des Volkes erwachsen, und dazu braucht der einzelne Bürger Rechte. Doch diese summieren sich zum Recht des Kollektivs: „Das Recht des Staates setzt sich aus den Rechten der Privatpersonen zusammen.“16 Der Staat wird dann zum eigentlichen Subjekt der Gestaltung der Nation, mit prekären Konsequenzen für das Recht des einzelnen Bürgers, das vom Staat aufgesogen wird, weil dieser ihm trotz aller republikanischen Rhetorik misstraut. Das chinesische Volk, so sagt Sun Yatsen, kein Geringerer als der Begründer der chinesischen Republik, ist wie ein „Haufen loser Sand“, in dem es nicht zu wenig, sondern zu viel Freiheit gibt und in den „mit Wasser und Zement Festigkeit gebracht werden“ muss.17 Aus Sun Yatsens technischer Diktion spricht eine Überzeugung, der sich unter den desaströsen Bedingungen der Jahrzehnte nach dem Zerfall des Kaiserreichs auch demokratischer Gesonnene nicht immer haben entziehen können und die bis heute für weite Teile der politische Elite Chinas kennzeichnend geblieben ist. Ihre Vertreter sehen sich als die Maurer, die Ärzte, die Architekten oder die Gärtner18 der Gesellschaft, sehen den Staat als Entwicklungsagentur und
13 Liang Qichao, Xian Qin zhengzhi sixiang shi (Geschichte des politischen Denkens der VorQin-Zeit), Taipei: Taiwan zhonghua shuju, 1984 [1922], S. 87. 14 Vgl. hierzu Heiner Roetz, „Menschenpflicht und Menschenrecht. Überlegungen zum europäischen Naturrecht und zur konfuzianischen Ethik“, in: Konrad Wegmann, Wolfgang Ommerborn, Heiner Roetz, Hg., Menschenrechte: Rechte und Pflichten in Ost und West (Strukturen der Macht: Studien zum politischen Denken Chinas, Bd. 9), Münster: LIT, 2001, S. 1–21, hier 1–3. Teile dieses Beitrags finden sich in überarbeiteter Form auch im vorliegenden Artikel. 15 Chen Guyuan, Zhongguo wenhua yu zhongguo faxi (Die chinesische Kultur und das chinesische Rechtssystem), Taipei: Sanmin shuju, 1969, S. 55. Vgl. Roetz 2001, S. 2. 16 Liang Qichao, Xinminshuo (Über die Erneuerung des Volkes), Shenyang: Liaoning renmin chubanshe, 1994, S. 53. Vgl. Stephen Angle und Marina Svensson, The Chinese Human Rights Reader: Documents and Commentary, 1900–2000, London und New York: Routledge, 2015, S. 13. 17 Sun Yatsen, „Sanminzhuyi, minquanzhuyi, dier jiang“ (Die drei Volksprinzipien. Das Prinzip der Volksherrschaft. Zweite Rede) [1924], in: Sun Zhongshan xuanji, vol. 2, Hongkong: Zhonghua, 1973, S. 678–679. 18 Vgl. meinen Beitrag „China und die ‚Harmonische Gesellschaft‘: Die Welt als Garten“, in: Deutsche China Gesellschaft, Mitteilungsblatt 53, 2009, S. 10–17.
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verstehen Politik als Regieren. Sie verwehren den Bürgern, sich als Mitautoren der Verhältnisse verstehen zu können, unter denen sie leben, und monopolisieren die Autorschaft und damit die Subjektivität, das Prinzip der Moderne, für sich selbst – wie in Mao Zedongs vielsagendem Bild vom chinesischen Volk als „weißem Blatt Papier“, worauf sich „die neuesten und schönsten Schriftzeichen schreiben, die neuesten und schönsten Bilder malen lassen“.19 In der Haltung der Volksrepublik China zu den Menschenrechten schlägt sich dieses Bewusstsein unmittelbar nieder.20 Die Menschenrechte sind in China erst seit dem UN-Beitritt 1971 ein größeres Thema, vor allem aber nach 1989 in Reaktion auf die weltweite Kritik an der Niederschlagung der Tianmen-Bewegung. Seither steht China im Fadenkreuz internationaler Menschenrechtsorganisationen. China reagiert mit einem Bündel von Argumenten, die in einer Serie von Weißbüchern21 und in Stellungnahmen von Pseudo-NGOs wie der „Chinese Society for Human Rights Studies“ stereotyp wiederholt werden. Die Orientierungspunkte liefern zunächst selektiv gehandhabte Beschlüsse der Vereinten Nationen, unter ihnen vor allem das 1986 als Menschenrecht der „dritten Generation“ proklamierte „Recht auf Entwicklung“. Das offizielle China lehnt die Idee der Menschenrechte damit nicht im Grundsatz ab; es sieht sich sogar an der Spitze der internationalen Menschenrechtsbewegung. Es wirft dem Westen seinerseits die fortwährende Verletzung der Menschenrechte vor und erinnert zumal an die Verbrechen des Kolonialismus. Zugleich räumt es manchen Nachholbedarf ein und hat z.B. – auf dem Papier – Korrekturen am Strafrecht und am Strafprozessrecht vorgenommen. China hat ferner eine Reihe von UN-Pakten ratifiziert oder zumindest unterschrieben. Überdies wurde 2004 in §33 der Verfassung der Satz aufgenommen „Der Staat achtet und schützt die Menschenrechte“. Allerdings sind all dem die alten systembedingten Grenzen gesetzt. §51 der Verfassung bestimmt nach wie vor: „Die Ausübung von Freiheiten und Rechten darf weder die Interessen des Staates, der Gesellschaft und des Kollektivs noch die gesetzlichen Freiheiten und Rechte anderer Bürger verletzen.“ Die übergeordneten Interessen aber sind durch die Präambel und Teil 1 der Verfassung
19 Mao Zedong, „Eine Genossenschaft wird vorgestellt“, Worte des Vorsitzenden Mao, Beijing: Renmin chubanshe, 1967, S. 44–45. 20 Ich beziehe mich im folgenden auf die offizielle chinesische Position. In der philosophischen Literatur finden sich darüber hinaus verschiedene Modelle. Einigen von ihnen diskutiert Philippe Brunozzi in „Menschenrechte und Pluralismus. Begründung der Menschenrechte bei Li Buyun, Xia Yong und Xu Xianming”, in: Hans Jörg Sandkühler, Hg., Recht und Kultur, Frankfur/M.: Lang, 2011, S. 203–222. 21 Information Office of the State Council of the People‘s Republic of China, White Papers of the Government, http://www.china.org.cn/e-white/, Zugriff 5.2.16.
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als jene der „demokratischen Diktatur des Volkes“ unter der Führung der Kommunistischen Partei bestimmt.22 Dass diese Form von „Demokratie“ der eingangs gegebenen Definition nicht entspricht, bedarf keiner weiteren Erklärung. Innerhalb des Menschenrechtskatalogs setzt China den Primat des „Rechtes auf Subsistenz“ (shengcun quan), ein typisches Recht der „zweiten Generation“. Dieser Primat aber, so heißt es, lässt sich unter den vom Westen geschaffenen ungünstigen historischen Bedingungen nur über das „Recht auf Entwicklung“ (fazhan quan), ein Recht der dritten Generation, sicherstellen. Das Recht auf Entwicklung wiederum kann nicht von einem Einzelnen, sondern nur von einem Kollektiv wahrgenommen werden und von dessen politischer Organisationsform, dem Nationalstaat. Zur letzten Absicherung des Menschenrechtsprojekts wird damit das Recht auf Souveränität (duli quan) und Nichteinmischung – womit sich der Kreis schließt und die Menschenrechte unter die Ägide des Staates geraten, vor dessen Macht sie doch schützen sollen. Die chinesische Politik zu kritisieren und Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, wird entsprechend als Versuch zur Sabotage der chinesischen Entwicklung denunziert. Dieses entwicklungstheoretische Argument hat in der chinesischen Rechtfertigung in der Regel im Vordergrund gestanden. Es lässt sich grundsätzlich im Rahmen der alten „sinomarxistischen“ Argumentationsstrategie verstehen, die schon immer die „historische Besonderheit“ China betonte. Seit einiger Zeit aber hat das chinesische Regime begonnen, sich nicht mehr nur auf den Stand der Geschichte, sondern auf die zeitlose Eigenart der chinesischen Kultur zu berufen, die über ihr eigenes, vom Westen signifikant verschiedenes Wertesystem verfügen soll. Damit bewegt es sich allerdings gerade auf vom Westen, namentlich von Kulturrelativismus und Historismus ausgetretenen Bahnen. Sogar Karl Jaspers‘ Idee der Achsenzeit, nach den katastrophalen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs einmal dazu gedacht, jeden „Anspruch der Ausschließlichkeit“ für alle Zukunft zu verhindern,23 ist von der westlichen „multiple modernities“ Theorie derart um ihren Universalismus und ihre normative Nötigung gebracht worden, dass sie sich als Propagandawerkzeug des chinesischen Regimes eignet.24 Achsenzeit
22 The National People’s Congress of the People’s Republic of China, Constitution of the People’s Republic of China, http://www.npc.gov.cn/englishnpc/Constitution/node_2825.htm, Zugriff 5.2.16. 23 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt/M.: Fischer, 1955, S. 31. 24 Vgl. hierzu meine Beiträge „China – eine andere Moderne?“, in: Thomas Schwinn, Hg., Die Vielfalt und die Einheit der Moderne, Wiesbaden: VS-Verlag, 2006, S. 131–150, und „The Axial Age Theory between Philosophy and Religion, Sociology and History. With a Look at the Normative Discourse in Axial Age China“, in: Robert N. Bellah und Hans Joas, Hg., The Axial Age and its Consequences, Cambridge Mass. und London: Belknap, Harvard University Press, 2012, S. 248–276.
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bedeutet nun nicht mehr, die je eigene Welt kritisch zu transzendieren, sondern unkritisch wieder aus den alten Quellen zu schöpfen und zum Club der großen Zivilisationen zu gehören, die sich von anderen nichts sagen lassen müssen.25 China liefert mehrere Begründungen für die kulturalistische Argumentationslinie: Zum einen werden alle Passagen in UN-Dokumenten hervorgehoben, die die Respektierung der kulturellen Identität der Mitgliedsstaaten verlangen – wenngleich genau besehen nie im Sinne der hier gewünschten Einschränkung der fundamentalen Freiheitsrechte.26 Zum andern finden sich Verweise auf die fundamentale Bedeutung des „Faktors Kultur“, die wie aus dem 19. Jahrhundert klingen und an den monadischen Volksbegriffs Herders und der Romantik erinnern.27 Und last but not least wird suggeriert, dass der Anspruch auf kulturelle 25 S. z.B. Guo Ronghai, „Zhouxin shidai de yiyi zaiyu fanben kaixin“ (Erneuerung aus Rückkehr zu den Wurzeln ist die Bedeutung der Achsenzeit), Guangming ribao 11.2.2015, unter Bezug auf eine Rede des Parteivorsitzenden Xi Jinping, http://theory.people.com.cn/BIG5/n/2015/1102/ c40531-27764267.html, Zugriff 10.2.16. Eine solche Lesart der Achsenzeit-Theorie findet sich seit längerem bei Tang Yijie (1927–2014), einem der einflussreichsten Philosophen seiner Generation; s. Tang, Xin zhouxin shidai yu zhongguo wenhua de jiangou (Die neue Achsenzeit und der Aufbau der chinesischen Kultur), Nanchang: Jiangxi renmin chubanshe, 2007, und Tang Yijie, Confucianism, Buddhism, Daoism, Christianity and Chinese Culture, Heidelberg: Springer, 2015, S. 294–304. 26 Ein Beispiel ist §5 der Vienna Declaration von Juni 1993: „While the significance of national and regional particularities and various historical, cultural and religious backgrounds must be borne in mind, it is the duty of States, regardless of their political, economic and cultural systems, to promote and protect all human rights and fundamental freedoms.“ §8 der Bangkok Declaration der ASEAN-Staaten von April 1993 setzt den genau umgekehrten Akzent: „Recognize that while human rights are universal in nature, they must be considered in the context of a dynamic and evolving process of international norm-setting, bearing in mind the significance of national and regional particularities and various historical, cultural and religious backgrounds.“ 27 Vgl. etwa Guangming lilun (Guangming online) 17.9.2014, „Zhongguo meng de jingshen ziyang he wenhua zhuiqiu“, http://theory.gmw.cn/2014-09/17/content_13259553.htm, in Kommentierung einer Rede des Parteivorsitzenden Xi Jinping: „Die Erfahrungen der Entwicklung der Weltgeschichte und des Voranschreitens der Modernisierung machen die je eigentümlichen geistigen Anlagen und kulturellen Besonderheiten der verschiedenen Staatsvölker deutlich und widerspiegeln die unterschiedlichen Staatsgeister und Kulturtraditionen. Hegel schreibt in seiner Geschichtsphilosophie, dass ‚das eigentliche Wesen der Weltgeschichte die Dialektik des Nationalgeistes oder Staatsgeistes ist’, dass also die Fähigkeit eines Landes, der Weltgeschichte die Richtung zu weisen, von einem herausragenden Staatsbewusstsein und einer herausragenden Kulturtradition abhängt. Diese Feststellung Hegels ist nicht ohne Wahrheit, auch wenn sie in ein Denken eingebettet ist, das die Spuren des westlichen Ethnozentrismus trägt. Die stimulierende Wirkung des Faktors Kultur für die ökonomische und soziale Entwicklung hat schon früh Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Marx und Engels haben in ihrem Spätwerk wiederholt betont: Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft ist nicht nur ein Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern unterliegt auch den Bedingungen ideell-kultureller Faktoren.“
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Authentizität und Eigenständigkeit direkt aus der traditionellen chinesischen Kultur selber folge, die ihn zum Ausdruck ihres Selbstbewusstseins erhoben habe. Hierzu dient an vorderster Stelle das heute en masse bemühte umgedeutete Konfuzius-Zitat he er bu tong, „harmonieren, aber nicht den Gleichklang suchen“ bzw. „Harmonie ja, Anpassung nein“.28 Es ist zum obersten Motto geworden, mit dem das Regime seit einigen Jahren nach außen auf der internationalen Bühne auftritt und nach innen einen anti-westlichen Nationalstolz zu mobilisieren versucht.29 He er bu tong bedeutet ursprünglich allerdings nicht „harmonious coexistence of diverse cultures“, wie es das heutige China möchte.30 Dem klassischen Konfuzianismus war jeder Relativismus fremd, bis hin zur Intoleranz gegenüber anderen Lehren bei den Nachfolgern des Konfuzius. He er bu tong ist eine individualethische Maxime des „Edlen“, des Protagonisten der frühkonfuzianischen Ethik, der mit ihr seine Bereitschaft zum Dissens verkündet. Der frühe Konfuzianismus, geboren im Zusammenbruch der sozialen und politischen Kontexte in einer der tiefsten Existenzkrisen der chinesischen Zivilisation, ist wie die anderen damals entstehenden Philosophien durch einen ausgesprochenen Schub zur Subjektivierung gekennzeichnet, da externe Verhaltensorientierungen durch Tradition und Gemeinschaft nicht mehr griffen. Ein „Edler“ zu sein, zeigt sich nun gerade darin, „nicht anerkannt“ zu sein.31 Eben diese Subjektivität verweigert aber das heutige China seinen Bürgern; der Staat setzt sich vielmehr selbst an die Stelle des Subjekts der konfuzianischen Ethik. Zugleich wird suggeriert, dass in den Ethiken, die die alte chinesische Kultur hervorgebracht hat, eine vom Staat und der Gemeinschaft unabhängige Rolle des Einzelnen gar nicht vorgesehen sei. Dies unterbietet den Anspruch der Tradition, auf die man sich beruft. Allerdings wird deren Okkupierbarkeit durch Ambivalenzen in ihr selbst und vor allem ihre elitistische Schlagseite (s.u.) begünstigt. China baut so eine massive kulturell gestützte Gegenposition zum klassischen „westlichen“, die bürgerlichen Schutz- und Partizipationsrechte betonenden Menschenrechtsverständnis auf. Dies trifft allerdings im Westen durchaus auf Sympathie, z.B. unter Wirtschaftsführern und Politikern, die sich, wenn sie
28 Lunyu 13.23, Harvard-Yenching Sinological Index Series, A Concordance to the Analects of Confucius, Reprint Taipei 1972: „Ein Edler harmoniert mit anderen, aber er macht sich ihnen nicht gleich. Ein [charakterlich] Gemeiner macht sich anderen gleich, harmoniert aber nicht mit ihnen.“ He er bu tong ist auch mit „Einklang, aber nicht Gleichklang suchen“ übersetzbar. 29 Vgl. Heiner Roetz, „Das Konzept einer harmonischen Gesellschaft“, in: Paul 2016, S. 119–130. 30 So Tang Yijie, Confucianism, Buddhism, Daoism, Christianity and Chinese Culture, Heidelberg: Springer, 2015, S. 295. 31 Vgl. Heiner Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992, S. 260–269.
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mit China kooperieren, von Verantwortung entlastet sehen und die Moral „nach dem Geschäftspartner hängen“.32 Schützenhilfe kommt auch aus der kulturrelativistischen Sinologie, für die die Idee individueller und nicht nur kollektiver Menschenrechte auf einem „atomistischen“ Menschenbild beruht, das in Ostasien ein Fremdkörper sei. Eine kommunitaristische Strömung geht noch weiter und meint unter dem Schlagwort „Riten statt Rechte“ (rites instead of rights) den Konfuzianismus auch im Westen selbst gegen die dortige Rechtskultur in Stellung bringen zu können.33 So darf sich das chinesische Regime in der Tat mit westlichen Interessengruppen und Teilen der westlichen Wissenschaften im Bunde fühlen. Darf es dies mit dem gleichen Recht aber auch mit den chinesischen Traditionen und namentlich dem Konfuzianismus? Hat der Konfuzianismus tatsächlich die Gemeinschaft auf Kosten des Individuums und Pflichten auf Kosten von Rechten betont, und kennt er nur soziale Rollen, aber keinen Begriff des Menschen? Und warum spräche dies gegebenenfalls überhaupt gegen die Gültigkeit von Menschenrechten, die sich nicht auf Rechte des Kollektivs reduzieren lassen, und nicht vielmehr gegen die Gültigkeit der chinesischen Tradition? Ich will mich im Folgenden vor allem der Frage der Legitimation qua Tradition und der Frage von Recht und Pflicht zuwenden,34 ohne mich ausschließlich auf den Konfuzianismus zu beziehen. Dabei gehe ich davon aus, dass die Gültigkeit der Menschenrechte, verstanden im Sinne der nicht durch die Rechte der „dritten Generation“ aushebelbaren subjektiven Rechte der ersten und auch der zweiten Generation, nicht von einer Beurteilung der chinesischen Kulturtradition oder überhaupt einer Kulturtradition abhängt. Wäre dies der Fall, dann wären alle beliebigen Gewaltverhältnisse legitim, wenn sie sich nur mit dem Anspruch des kulturell Üblichen schützen – wie im Übrigen, wie wir sehen werden, schon das alte China erkannt hat. Sehr wohl aber kann man durch einen differenzierten Blick auf die Kulturtraditionen, an dem es der westlichen Menschenrechtsdiskussion in aller Regel mangelt,35 zumal jene Kulturtraditionen, die einen gewissen
32 So der ehemalige Baden-Württembergische Ministerpräsident Lothar Späth in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Geschäftsführung der Jenoptik AG. Vgl. Heiner Roetz, „Der konfuzianische Humanismus und sein Ursprung aus dem Geist der Traditionskritik“, in: Lena Henningsen, Heiner Roetz, Hg., Menschenbilder in China, Wiesbaden: Harrassowitz, 2009, S. 40. 33 Vgl. hierzu Roetz 2006, S. 141–142, und Roetz 2009, S. 126–128. 34 Zur Frage der Rollenmoral vgl. Roetz 2016 (Nomos), mit der These, dass der Konfuzianismus keineswegs nur den Rollenträger, sondern zugleich den Menschen als solchen adressiert. 35 Die philosophische Literatur berührt das Problem meist nur abstrakt, indem sie allgemein von „kultureller Differenz“, „fremden Kulturen“, „anderen kulturellen Identitäten“, „Andersheit“ oder gar „radikaler Andersheit“ usw. spricht, aber selten zur Kenntnis nimmt, dass man es
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Komplexitätsgrad vorweisen oder gar schon Perioden der Aufklärung durchlaufen haben, den Gegnern der Menschenrechte Argumente aus den Händen nehmen. Diesem Verfahren kommt somit zwar keine apodiktische, aber gegebenenfalls sehr wohl eine pragmatische argumentative Kraft zu, auf die zu verzichten dem ostasiatischen Autoritarismus geradezu in die Hände spielte. Von vornherein ist dabei nicht dahinter zurückzugehen, dass das vormoderne China die Idee der Menschenrechte nicht formuliert hat. Was gleichwohl geleistet werden kann, ist zweierlei. Zum einen lässt sich auf Basis des vorliegenden Textmaterials eine virtuelle materiale chinesische Vorgeschichte der Menschenrechts-Idee rekonstruieren, die einen anamnetischen Effekt der Wiedererkennung auszulösen imstande ist, indem sie zeigt, dass das, was mit der modernen Idee gemeint ist, so weit entfernt von dem nicht ist, was vormoderne chinesische politische Philosophen in ihren aufgeklärten Momenten einmal wollten, und dass die Menschenrechtsidee zumindest als überzeugende Antwort zur Lösung genau der Probleme, die jene vor Augen hatten, verstanden werden kann. Hierzu kann auf die chinesische Tradition der Machtkritik zurückgegriffen werden, die bis in den antiken Konfuzianismus und darüber hinaus zurückreicht, wobei Machtkritik angesichts entgleisender Herrschaft sogar ein wesentliches Movens für die Entwicklung philosophischen Denkens war. Zum andern kann auf die chinesische Tradition der Traditionskritik zurückgegriffen werden, die ebenfalls gleichursprünglich mit der Entstehung der chinesischen Philosophie ist und mit der sich Kulturargumente der beschriebenen Art nicht material wie über die Tradition der Machtkritik, sondern formal in Frage stellen lassen. Denn bereits das alte China hat in der tiefsten Traditionskrise, die es vor der Moderne erlebt hat, das Ungenügen der Berufung auf eine Tradition zu durchschauen gelernt und in einer Serie differenzierter Argumente formuliert.36 Die Existenz einer solchen Tradition der Traditionskritik führt allein schon jeden Kulturalismus ad absurdum, zeigt sie doch, dass die Einsicht in die Fragwürdigkeit des Appells an die Tradition schon Bestandteil dieser Tradition selbst ist. Qua Tradition zu argumentieren, so heißt es schon im 3. Jahrhundert v. Chr., ist
bei den angesprochen „Kulturen“ mit höchst komplexen und heterogenen Gebilden zu tun hat. Vgl. hierzu Elmar Holenstein, „Interkulturelle Beziehungen – multikulturelle Verhältnisse“, in: Holenstein, Menschliches Selbstverständnis, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985, S. 104–180. 36 Es lassen such u.a. logische, epistemologische, historische, ethische und ideologiekritische Argumente voneinander unterscheiden; vgl. meinen Beitrag „Tradition, Moderne, Traditionskritik. China in der Diskussion“, in: Torsten Larbig und Siegfried Wiedenhofer, Hg., Kulturelle und religiöse Traditionen. Beiträge zu einer interdisziplinären Traditionstheorie und Traditionsanalyse. Münster: LIT, 2005, S. 124–167.
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dasselbe, wie ein Kind in einen Fluss zu werfen, nur weil „der Vater ein guter Schwimmer war“, oder statt den Acker zu bestellen einen Baumstumpf zu hüten, nur weil sich einmal ein Hase an ihm das Genick gebrochen hat.37 Derartige Traditionen „zweiter Ordnung“,38 Traditionen distanzierten, dezentrierten Denkens, sind für das hier diskutierte Problem von großer Bedeutung, da sie die traditions- und kulturübergreifende Perspektive des Menschenrechts bereits strukturell teilen. Ein Beispiel für ein solches Denken ist ein Argument Mo Dis, des Begründers des nach ihm benannten „Mohismus“, eines Philosophen des 5. Jahrhunderts v. Chr., der möglicherweise als Anhänger des Konfuzianismus begonnen, sich aber dann zu dessen erstem großen Kritiker entwickelt hat. Mo Di beanstandet pompöse Begräbnisriten und lange Trauerzeiten. Dass diese Sitten angeblich dem „Weg der genialen Könige“ der Vergangenheit entsprechen, kann sie in seinen Augen nicht rechtfertigen. Denn, so Mo Di: „Dies bedeutet, das Eingeübte (xi) als angemessen und den Brauch (su, auch: Gewohnheit) als Norm (yi, auch: gerecht) zu betrachten. In alter Zeit gab es östlich von Yue ein Land namens Kaishu. Man zerstückelte dort die Erstgeborenen, aß sie auf und nannte dies vorteilhaft für den nächsten Sohn. Wenn der Großvater starb, dann nahm man die Großmutter auf den Rücken und setzte sie aus, da man mit der Frau eines Totengeistes nicht zusammenleben könne. Die Oberen sahen darin die rechte Ordnung, und die Unteren einen Brauch. So betrieb man dies weiter, ohne davon abzulassen. Aber ist denn dies etwa der Weg von Menschlichkeit und Gerechtigkeit? Dies bedeutet, das Eingeübte als angemessen und den Brauch als Norm zu betrachten.“39
Das Herkommen allein kann somit keine Gültigkeit begründen, denn es schließt Unmenschlichkeit nicht aus. Übergreifende moralische Normen werden von der Tradition nicht etwa ausgestochen, sondern als Antwort auf ihr Ungenügen geradezu gefordert. Übertragen auf die Frage der Menschenrechte würde dies heißen, dass nicht die Tradition über deren Gültigkeit entscheidet, sondern umgekehrt die Gültigkeit der Tradition sich am Maßstab der Menschenrechte erweisen muss. Die Konsequenz dieses Denkens ist der Übergang von der Orientierung an dem, was war oder ist, zur Methode, wie man selbst etwas Gültiges findet,40 und zum gedanklichen Schritt in eine Streitkultur mit dem Primat des besseren
37 Lüshi chunqiu 15.8, Zhuzi jicheng Bd. 6, Hong Kong: Zhonghua, 1978, S. 177, Hanfeizi 49, S. 339. Vgl. Roetz 2009, S. 45–46, und 2005, S. 140, und Roetz 2016 (Nomos), S. 37. 38 Vgl. Karl Popper, „Towards a Rational Theory of Tradition“, in: Popper, Conjectures and Refutations, London 1963, S. 127. 39 Mozi 25, Zhuzi jicheng Bd. 4, Hong Kong: Zhonghua, 1978, S. 115–116. 40 Vgl. meinen Beitrag „Überlegungen zur Goldenen Regel. Das Beispiel China“, in: Jens Ole Beckers, Florian Preußger und Thomas Rusche, Hg., Dialog – Reflexion – Verantwortung. Dietrich
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Arguments.41 Es handelt sich um die zentrale kategoriale Ebenenverschiebung der „Achsenzeit“ von der „law-maintaining“ hin zur „law-making perspectice“ und damit vom „konventionellen“ zum „postkonventionellen“ Bewusstsein.42 Die These, dass der Anrufung der Tradition in der Frage der Menschenrechte kein apodiktischer Status zukommen kann, ist in der chinesischen Tradition somit selbst antizipiert worden – es würde letzterer also selbst widersprechen, sich anders als auf eine Tradition zweiter Ordnung auf sie zu berufen. Schon dies macht jede Operation mit einen einfachen Kulturbegriff erster Ordnung in der Menschenrechtsfrage problematisch. Was liefert nun der Blick in die materiale der beiden genannten Ressourcen, die Tradition der Machtkritik? Im Folgenden soll nur eine der sich hier bietenden Möglichkeiten aufgezeigt werden, nämlich die Reformulierung der Ethik des antiken Konfuzianers Mengzi (ca. 370–290), der für die „neu-konfuzianische“ Philosophie des 20. Jahrhunderts die unter dem Strich wichtigste Quelle gewesen ist, um den Konfuzianismus auf Basis der Anerkennung der Moderne neu zu rekonstruieren. Mengzi, wie im übrigen auch Mo Di, ist weit davon entfernt, ein politisches System zu entwerfen, das auf die rechtlich geschützte persönliche Freiheit und Partizipation seiner Bürger gegründet wäre. Beide haben vielmehr nicht über die Monarchie hinausgedacht. Gleichwohl – oder besser: gerade deshalb – drängen sie aber darauf, dass die relativ schwache, nicht institutionalisierte Kontrolle der Herrschaft von unten durch eine starke Kontrolle von oben ausgeglichen wird: nämlich die Kontrolle durch den Hochgott Tian, den „Himmel“. Hiermit greifen sie auf die Lehre vom „Himmlischen Herrschaftsmandat“ (tianming) zurück, mit der im 11. Jahrhundert v. Chr. die Zhou den Sturz der Vorgängerdynastie Shang rechtfertigten. Der Himmel, so betonen die Zhou, verleiht die Macht nur dem Tugendhaften, und er lässt einen schlechten Herrscher durch einen Rebellen beseitigen. Mengzi nun belässt es nicht bei der
Böhler zur Emeritierung, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013, S. 221–240, hier 234–236, und Roetz 2016 (Nomos), S. 37. 41 S. Mozi 39, S. 182: „Menschen, die die Menschlichkeit besitzen, teilen einander die Grundsätze mit, warum sie etwas akzeptieren oder verwerfen und warum sie etwas für richtig oder für falsch halten. Wer keine Gründe vorbringen kann, folgt dem, der Gründe vorbringen kann. Wer nichts weiß, folgt dem, der Wissen hat. Wer keine Argumente hat, wird sich gewiss unterwerfen. Und wer etwas Gutes erkennt, wird seine Position ändern. Warum sollten sie sich da [bekämpfen]?“ Die Mohisten polemisieren hier gegen den Konfuzianismus, haben sich aber selbst kaum an den formulierten Grundsatz gehalten. Vgl. Roetz 1992, S. 385 f., und Roetz 2012 (Harvard), S. 265. 42 „Law-maintaining“ und „law-making“ kennzeichnen den Unterschied zwischen der konventionellen Stufe 4 und der postkonventionelle Stufe 5 in der „cognitive developmental theory“ des Entwicklungspsychologen Lawrence Kohlberg. Siehe Kohlberg, Essays on Moral Development, Volume I, The Philosophy of Moral Development, San Francisco: Harper § Row, 1981, S. 152.
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Beschwörung der lohnenden und strafenden Autorität des Himmels. Er identifiziert die Kontrolle von oben mit jener von unten, indem er „Augen und Ohren“ des Volkes zum Sensorium des Himmels selbst erklärt, womit die Beachtung von dessen Auftrag mit der Orientierung an den Interessen des Volkes zusammenfällt und die „Akzeptanz“ (shou) durch das Volk die Herrschaft sichert.43 Hierbei unterfüttert Mengzi seine Argumentation mit einer moralischen Anthropologie: Wenn er sich nämlich darüber empört, dass die Herrscher seiner Zeit die Menschen wie wertlose Dinge („Erde und Kraut“) oder Tiere und gar noch schlimmer behandeln,44 dann deshalb, weil der Mensch als Gattungswesen in besonderer Weise ausgezeichnet ist: Er verfügt über eine ihm angeborene moralische Natur (xing), die ihn, wenn sie sich ungehindert entfalten kann, aus sich heraus zum rechten Handeln und Urteilen bringt. Moralisches Handeln wird allerdings zur Zumutung, wenn eine ruinöse Politik die Menschen unter das Existenzminimum zwingt.45 Die politische Herrschaft hat sich deshalb ganz in den Dienst des moralischen Vermögens des Menschen zu stellen. Sie hat ihm durch eine „menschliche Politik“ (ren zheng) die günstigsten Entwicklungsbedingungen zu verschaffen; sie hat nicht die Aufgabe, den Menschen durch harte Institutionen in Zucht zu nehmen und allererst zu einem gemeinschaftsfähigen Wesen zu formen. Der Mensch bzw. dessen moralische „Natur“ verkörpert die Normen des „Himmels“, die ihm nicht erst „von außen eingeschmolzen“ werden müssen, sondern die er „ursprünglich in sich hat“.46 Das Mandat des Himmels wird in einer Wende zur immanenten Transzendenz in den Menschen selbst hineingenommen.47 Mengzi spricht nun in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise von der „Würde“ (gui) der dem Menschen eigenen moralischen Natur, die den politischen Würden, die ein Herrscher verleihen und wieder aberkennen kann, scharf entgegengestellt werden: „Der Wunsch nach Würde ist eine Ambition, die alle Menschen teilen. Aber jeder einzelne Mensch hat eine Würde/etwas Würdiges in sich selbst, an die er nur nicht denkt. Denn was die Menschen im allgemeinen als Würde schätzen, ist nicht die gute Würde (liang gui). Wen aber ein Zhao Meng (ein Machthaber) würdigen kann, den kann er auch erniedrigen.“48
43 Mengzi 5a5, zit. nach Harvard-Yenching Institute Sinological Index Series. A Concordance to Meng Tzu. Reprint Taipei 1973. Zum Mengzi vgl. auch Wolfgang Ommerborn, Gregor Paul und Heiner Roetz, Das Buch Mengzi im Kontext der Menschenrechtsfrage, Münster: LIT, 2011. 44 Mengzi 4b3. 45 Mengzi 1a7. 46 Mengzi 6a6. 47 Vgl. hierzu meinen Beitrag „Die Internalisierung des Himmelmandats. Zum Verhältnis von Konfuzianismus und Religion“, in: Walter Schweidler, Transcending Boundaries. Practical Philosophy from Intercultural Perspectives, St. Augustin: Academia, 2015, S. 145–158. 48 Mengzi 6A17.
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Entsprechend unterscheidet Mengzi an der vorangehenden Stelle die „menschlichen Ränge“ der politischen Hierarchie von den höheren „himmlischen Rängen“ der Tugenden – Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Wohlwollen, Verlässlichkeit und der „unermüdlichen Freude am Guten“.49 Es ist allerdings unklar, ob man von der Würde der dem Menschen angeborenen Natur direkt auf eine Würde des Menschen selber schließen kann, und ob der Mensch nicht zum Tier wird, wenn er sich nicht gemäß seiner moralischen Natur verhält, und dann auch wie ein Tier behandelt werden kann,50 etwa wie in Kants Diktum, „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird.“51 Der Text ist hier nicht eindeutig; eine Passage in Mengzi 6a8 scheint aber zu besagen, dass die Eigentümlichkeit des Menschen auch dann erhalten bleibt, wenn die aktuelle Praxis ihr nicht entspricht: „Wenn andere sehen, dass jemand sich wie ein Tier verhält, werden sie meinen, dass es sich um jemanden handelt, in dem niemals andere Anlagen vorhanden waren. Wie könnte aber dies der Eigentümlichkeit (qing) des Menschen entsprechen!“
Offenbar bindet Mengzi hier das Menschsein im normativen – und in der Extrapolation: rechtlich relevanten – Sinne an das moralische Vermögen und nicht erst an dessen Aktualisierung, so dass der Gedanke der Würde des Menschen und nicht nur der von ihm getrennten „Natur“ naheliegt. Dieser Unterschied ist folgenreich, denn anders würde, wieder in Extrapolation, der Genuss von Rechten an das Erbringen und nicht die Erbringbarkeit von Leistungen im Sinne der Erfüllung von Pflichten gebunden. Der Leistungsvorbehalt aber würde die Rechtfertigung unterminieren, ist doch die Pflicht schon für die Begründung des Rechts vergeben und nicht noch einmal für den Genuss des Rechts einforderbar.52 Ob nun die offenbar stark naturrechtlich angehauchte Lehre Mengzis aber überhaupt zu einer Rechtsordnung führt, ist eine weitere nicht einfach zu beantwortende Frage. Mengzi könnte das spätere chinesische Strafrecht, konkret die Abschaffung der Verstümmelungsstrafen durch den Han-Kaiser Wen, beeinflusst haben, und zwar mit dem Gedanken, dass einem Wesen, das seine Moralität
49 Mengzi 6a16. Vgl. zu diesen Stellen meinen Beitrag „Die Kritik der Herrschaft im zhouzeitlichen Konfuzianismus und ihre aktuelle Bedeutung“, in: Deutsche China Gesellschaft, Mitteilungsblatt, 1/2008, S. 95–107. 50 So interpretiert z.B. Randall Perenboom, Law and Morality in Ancient China, Albany: SUNY Press, 1993, p. 12. 51 Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Kant, Werke in 10 Bänden, Hg. W. Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982, Bd. 7, S. 572 (A 98). 52 Hier liegt die Gefahr eines folgenreichen Kategorienfehlers, den in der Tat manche Gegenwartskonfuzianer zu begehen scheinen; vgl. Roetz 2001, S. 18.
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immer wieder neu entdecken kann, kein irreversibler Schaden zugefügt werden darf, auch wenn es straffällig wird.53 Es ist für den klassischen Konfuzianismus und so auch für Mengzi aber zweifellos zunächst kennzeichnend und geradezu die Dignität des Moralischen ausmachend, die Einlösung der Besonderheit des Menschen über die Selbstverpflichtung des Handelnden und nicht über die Forderung des Betroffenen und damit auch nicht über das subjektive Recht sicherzustellen. Der Appell der konfuzianischen Ethik geht an die Verantwortungsträger, namentlich die Mächtigen, die ihnen Unterworfenen als menschliche Wesen zu achten und nicht wie Tiere zu behandeln, er ergeht nicht an die Unterworfenen, damit diese ihren Anspruch auf Achtung auch aktiv gegen die Mächtigen geltend machen.54 Hier zeigt sich der Elitismus der Konfuzianer, die überzeugt sind, dass das „Volk“ – unter den sozialen Bedingungen der chinesischen Antike aber auch kaum anders vorstellbar – in der Praxis kaum zu einer Vertretung der eigenen Interessen in der Lage ist und der advokatorischen Fürsprache eben der Elite bedarf. Auch Mengzi teilt diese Neigung zum wohlwollenden Paternalismus, wenngleich er in seiner Anthropologie bereits die Grundlage gelegt hat, über ihn hinauszugehen. Er schreibt nämlich jedem Menschen, dem einfachsten wie dem Kulturschöpfer, die alle „von gleicher Art“ (tong lei) sind,55 bereits im prä-sozialen Zustand, vor allem „Lernen“ und vor aller „Überlegung“, ein und dasselbe moralisch relevante „gute Vermögen“ und „gute Wissen“ zu.56 Seine antiken Kritiker Xunzi (ca. 310–230) und Dong Zhongshu (179–104) haben hierin die Absage an Tradition, Erziehung und Staat gewittert.57 Der Begriff „Rechte“ ist deshalb in Bezug auf den klassischen Konfuzianismus in der Tat mit Vorsicht zu gebrauchen. Gleichwohl lassen sich die Handlungen, die er befürwortet, nicht vollständig in Begriffen der Pflicht formulieren. Mengzi spricht nicht nur von gebotenen, sondern auch von berechtigten Handlungen. So bezeichnet er es als „zulässig“ (ke), den Dienst bei einem Machthaber zu beenden, wenn dieser Unschuldige tötet. Auch seine Legitimation des Sturzes der tyrannischen letzten Könige der Xia- (ca. 2000–1600) und der Shang-Dynastie (ca. 1600–1045) antwortet auf die Frage nach der „Zulässigkeit” (ke) der Tötung eines Herrschers durch einen Untertan.58
53 Vgl. hierzu Roetz 2016 (Nomos), S. 35. 54 Diese Stoßrichtung entspricht jener, die Josef Pieper für die christliche naturrechtliche Gerechtigkeitslehre des Mittelalters feststellt; vgl. Pieper, Über die Gerechtigkeit, München: Kösel, 1954, 2. Auflage. Vgl. Roetz 2001, S. 10–12 und 14. 55 Mengzi 6a7. 56 Mengzi 2a6 und 7a15; vgl. Roetz 2009, S. 54 und 55–56, und Roetz 2016 (Nomos), S. 32. 57 Vgl. Roetz 2009, S. 62. 58 Mengzi 4b4 und 1a8; vgl. Roetz 1992, S. 122–123.
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Man kann deshalb fragen, ob bei Mengzi nicht zumindest eine implizite Vorstellung von Rechten oder, wie Hans Lenk vorgeschlagen hat,59 „Anrechten“ vorliegt, namentlich in Bezug auf Widerstand gegen unzumutbare Herrschaft. Mehr noch: Eine solche Vorstellung sollte sich ihm regelrecht aufgedrängt haben, sind doch die Grenzen des pflichtzentrierten Ansatzes, der ein durch die Praxis nicht gedecktes übermäßiges Vertrauen in die Integrität der Mächtigen voraussetzt, allzu offenkundig. Dies bestätigt Mengzi selbst, wenn er die Fürsten wieder und wieder Räuber und Mörder nennt, die „ihren Tieren die Menschen zum Fraß vorwerfen“ und „dem Territorium Menschenfleisch opfern“.60 „Unter den Menschenhirten von heute“, so Mengzi, „gibt es keinen, dem nicht danach gelüstet, Menschen zu töten.“61 Wenn deshalb Mengzi sich vorbehaltlos auf die Seite des Volks von Zou stellt, als dieses sich weigert, im Krieg gegen Lu für seine Vorgesetzten zu sterben, da diese vorher mit angesehen hatten, wie es hungerte, und er den Verantwortlichen sogar erklärt, dass sie das Volk hierfür nicht einmal tadeln dürfen,62 so bestreitet er offenbar nicht nur die Legitimation unmenschlicher Herrschaft, Strafen zu verhängen. Er bejaht auch das Recht der unmenschlich Behandelten, sich der Herrschaft zu widersetzen. Dieser Zusammenhang wird dadurch unterstrichen, dass Mengzi an gleicher Stelle einen Satz des Konfuzius-Schülers Zeng Shen zitiert: „Hütet euch, hütet euch! Denn was von euch ausgeht, das wird auf euch zurückkommen.“ Er ist Ausdruck einer Gegenseitigkeitserwartung, die dem konfuzianischen Verständnis sozialer Ordnung bei allem Sinn für Hierarchie zugrundeliegt und deren moralische Sublimierung die von Konfuzius gleich mehrmals formulierte Goldene Regel ist.63 Schon in der horizontalen Logik dieser Erwartung liegt offenkundig die Korrespondenz von Rechten und Pflichten. Wann sie explizit wird, ist nur eine Frage der Akkumulation historischer Erfahrung. Es genügt die Erkenntnis, dass primär auf die Einsicht der Entscheidungsträger zu setzen, in einer Zeit de facto nicht existenter Partizipationsmöglichkeiten der Betroffenen gerechtfertigt und sogar notwendig gewesen sein mag, aber auf lange Sicht und zumal unter modernen Bildungs- und Kommunikationsmöglichkeiten keine vertretbare Option darstellt. Von hier ergibt sich aber nicht die Abdankung der Moral zugunsten einer formalen Rechtsordnung, sondern gerade die moralische Nötigung, den Schutz der menschlichen Würde anders und besser zu organisieren: nämlich durch eine
59 Hans Lenk, „Menschenrechte oder Menschlichkeitsanrechte?“, in: Gregor Paul und Caroline Y. Robertson-Wensauer, Hg., Traditionelle chinesische Kultur und Menschenrechtsfrage, Baden-Baden: Nomos, 1997, S. 25–36. 60 Mengzi 4a14 und 1a4. 61 Mengzi 1a6. 62 Mengzi 1b12. 63 Zur Goldenen Regel vgl. Roetz 1992, S. 219–241, und Roetz 2013.
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Arbeitsteilung zwischen Recht und Pflicht, die verhindert, dass Moral zur Zumutung wird. Recht und Pflicht stehen dann nur scheinbar in jenem Gegensatz zueinander, der die Anerkennung der Menschenrechte in einem konfuzianisch beeinflussten China ausschließen soll. Mou Zongsan (1909–1995), einer der großen „neu-konfuzianischen“ Philosophen des 20. Jahrhunderts, hat diesen Weg mit dem Gedanken der „Selbstnegation der moralischen Vernunft” (daode lixing zhi ziwo kanxian) möglich gemacht.64 Das moralische „gute Wissen“ (liang zhi) selbst nimmt sich zurück, ohne sich aufzugeben, und kommt zu einer neuen Akzentuierung des Unterschieds von Recht und Pflicht: zugunsten des einen, aber nicht auf Kosten des anderen. In der Begründung von Menschenrechten geht dann die Pflicht bzw. die Moral als zu unterstellendes „Vermögen“ dem Recht voran, im aktualen Genuss von Menschenrechten aber das Recht der Moral. Dieser Schritt erinnert in seiner subjektphilosophischen Pointe, der Generierung der Richtigen durch die moralische Autonomie, trotz seiner metaphysischen Grundierung an die westliche Bewusstseinsphilosophie, mit einer besonderen Nähe zu Kant. Dass er erst im modernen Konfuzianismus vollzogen worden ist, lässt sich weit besser als mit dem Fehlen der theoretischen Denkbarkeit zum einen mit der mittlerweile globalen Verbreitung der bürgerlichen Gesellschaft und zum anderen machtsoziologisch erklären: Solange die konfuzianische Beamtenschaft sich im Besitz eines moralischen Wächteramts wähnen und an die eigene „Selbst-Kultivierung“ glauben konnte, sah sie wenig Anlass, Verantwortung zu delegieren und Abstriche von ihrem elitistischen Selbstverständnis zu machen. Die alternative Position, die in der moralischen Anthropologie Mengzis bereitlag mit der Überzeugung, ein jeder Mensch, nicht nur der Edle, verfüge im Prinzip aus sich heraus über die Befähigung zu richtigem Handeln und Urteilen, kam erst zum Tragen, als der Konfuzianismus mit dem Ende des Kaiserreichs seine dominante institutionelle Position verlor. Erst dann wurde es möglich, wieder an seine antike Dynamik anzuknüpfen. Dies entspricht der Hilfestellung seitens der Geschichte, die die christlichen Kirchen benötigten, um ihre Liebe zu den Menschenrechten zu entdecken – sie mussten in Europa erst zu einer Minderheit werden.65 Noch im 19. Jahrhundert hat der Katholizismus den Gedanken
64 Mou Zongsan, Zhengdao yu zhidao, Taipei: Guangwen shuju, 1961, S. 58. 65 Vgl. Schrey, H.-H., „Wiedergewinnung des Humanum? Menschenrechte in christlicher Sicht“, Theologische Rundschau 48, 1983, S. 64–83. Schrey schreibt (S. 71): „Leider vermisse ich [. . .] eine sozialkritische Hinterfragung dieses Wandels. Diese hätte zum Ergebnis gehabt, dass die Kirche im Zustand der Identität mit der Gesellschaft der Forderung nach Gewissens- und Meinungsfreiheit äußerst zurückhaltend gegenübersteht, da diese auf einen zentrifugalen Pluralismus hinausläuft, während sie sich positiv zur Forderung nach Religionsfreiheit stellen kann, wenn Kirche und Gesellschaft getrennt sind und die Kirche in eine politische Minderheiten-, wenn nicht gar Märtyrersituation gedrängt wird.“
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der Menschenrechte auf übelste und bis heute von keinem chinesischen Politiker übertroffene Weise diffamiert. Auch im Westen sind die Menschenrechte keineswegs kulturelles Urgestein, sondern Ergebnis sozialer Prozesse,66 und sie mussten sowohl in Anschluss an die Traditionen als auch im Kampf gegen sie erstritten werden. Der Widerstand, der in Europa aufgrund des kirchlich institutionalisierten Absolutheitsanspruchs der christlichen Offenbarung zu überwinden war, ist in China, das weit größere religiöse Freiheit und weniger Dogmatismus kannte, sogar ohne Parallele. Der skizzierte „menzianische“ Ansatz zu einer Begründung von Menschenrechten steht nicht nur mit dem historischen Erscheinungsbild des Staatskonfuzianismus, den etatistischen Präferenzen der modernen chinesischen politischen Kultur und der anti-modernistischen Richtung in der Sinologie in Widerspruch. Er widerspricht auch einer Theorie von Menschenrechten, die auf eine Ethik verzichtet und den Rechtsträger primär als kalkulierendes Interessewesen sieht. Hierzu gab es in Taiwan eine Auseinandersetzung zwischen Konfuzianern und Liberalisten. Die Liberalisten beschuldigten den Konfuzianismus und gerade die hier thematisierte Linie Mengzis, die auf das Gute im Menschen setzt, mit der optimistischen Anthropologie den Glauben an eine wohlwollende Obrigkeit begünstigt und so die Demokratie und die politische Moderne verhindert zu haben. Skeptische Anthropologien wie jene Hobbes‘ hingegen und sogar die der antiken chinesischen Legisten67 hätten das Potential, über die Institutionalisierung der Kontrolle der Macht in die Freiheit zu führen. Vertreter der Linie Mengzis haben dem m. E. zu Recht widersprochen.68 Zum einen kann der Bonus, den eine positive Anthropologie dem Menschen zuerkennt, gerade den Bürgern einer freien Gesellschaft zukommen – dies ist schon der Verdacht des erwähnten
66 Vgl. Peter-Paul Müller-Schmid, „Die Menschenrechtsphilosophie als Paradigmenwechsel vom Ordodenken zur Subjektivitätsphilosophie der Moderne. Zur Frage der politischen und normativen Bedingungen“, in: Müller-Schmid, Hg., Begründung der Menschenrechte. Beiträge zum Symposium der Schweizer Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) vom 22.4.1983 in Genf, Stuttgart: Steiner, 1986, S. 19–27. Zum Streit um die antiken Grundlagen der Menschenrechte s. Klaus M. Girardet und Ulrich Northmann, Hg., Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart: Steiner, 2005. 67 Vgl. meinen Beitrag „Der antike Legismus – eine Quelle des modernen chinesischen Totalitarismus?“, in: Harro von Senger und Marcel Senn, Hg., Maoismus oder Sinomarxismus? Stuttgart: Steiner, 2016, S. 75–99, hier S. 92. Zur minimalistischen Anthropologie des Legismus vgl. auch Roetz 1992, S. 408–417. 68 Vgl. Li Minghui, „Xingshanshuo yu minzhu zhengzhi” (Die Lehre von der guten Menschennatur und die demokratische Politik“), in: Li, Mengzi chongtan, Taipei: Lianjing, 2001, S. 133–168. Vgl. auch David Elstein, Democracy in Contemporary Confucian Philosophy, New York: Routledge, 2015, S. 102. Vgl. auch Qianfan Zhang, Human Dignity in Classical Chinese Philosophy, Basinstoke: Palgrave, 2016.
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hanzeitlichen Mengzi-Kritikers Dong Zhongshu –, während der Malus der negativen gerade ein Zwangssystem begünstigen kann.69 Zum andern ist zu fragen, ob sich Menschenrechte nicht nur unter ethischen Vorannahmen wie solchen Mengzis überhaupt rechtfertigen lassen. Sie anzuerkennen impliziert die Unterstellung, dass die Rechtsträger dessen auch würdig sind und dass sie mit ihren Rechten, die ja nicht nur passive Schutzrechte, sondern auch aktive Gestaltungsrechte sein sollen, grundsätzlich pflichtbewusst und nicht nur zweckrational umzugehen wissen. Für diese Unterstellung gibt es aber keinen Grund, wenn der Mensch, wie etwa im Kontraktualismus, in der modernen Spieltheorie oder, in der historisch frühesten Form, bei den chinesischen Legisten, auf einen berechnenden Egoisten reduziert wird. Denn diesem noch Rechte zuzusprechen, hieße mit einer chinesischen idiomatischen Wendung, „dem Tiger noch Flügel zu verleihen“. Dass der Mensch Rechte habe, impliziert, dass er um seine die Selbsterhaltung übersteigenden Pflichten weiß und somit schon in einer positiven, nicht nur strategisch berechnenden Beziehung zum „Anderen“ steht. Menschenrechte setzen so gesehen die Möglichkeit moralischer Autonomie voraus. Hier berührt sich eine menzianisch inspirierte Ethik mit einer kantianischen,70 unbeschadet der Tatsache, dass Mengzi im Unterschied zu Kant in einem ontologischen Paradigma denkt und moralische Autonomie „vorkritisch“ als ein in der menschlichen Natur gründendes Vermögen verstanden hat. Die Folgen des Verzichts auf Ethik oder doch zumindest starke ethische Annahmen in der Begründung von Menschenrechten sind möglicherweise an der westlichen Menschenrechtspraxis ablesbar. Gerade jene „Kultur“, die westliche, die heute meint, sich die Menschenrechte als ihr „Proprium“ ans Revers heften zu können, hat historisch und aktuell eine erschreckende Bilanz von Menschenrechtsverletzungen zu verantworten, nicht zuletzt in der von ihr beherrschten außerwestlichen Welt, und dies nicht nur vor, sondern auch nach den feierlichen Erklärungen des 18. Jahrhunderts. Der oberste westliche „Wert“ ist nach den Erfahrungen der nicht-westlichen Völker nicht das Recht, sondern der Profit.71 Diese Praxis hat zur Diskreditierung der Menschenrechtsidee möglicherweise mehr beigetragen als die Behauptung ihrer Unverträglichkeit mit nichtwestlichen
69 Vgl. Noël O’Sullivan, Conservatism, London: Dent & Sons, 1976, Kap. 1 „Conservative Ideology: A Philosophy of Imperfection“. 70 Lee Ming-huei (Li Minghui), der wohl wichtigste Repräsentant einer kantianischen Richtung im Gegenwartskonfuzianismus, hat überzeugend für den Primat individueller statt kollektiver Rechte argumentiert; s. Li Minghui, „Rujia chuantong yu renquan“, Yuandao 7, 2003, S. 36–55. 71 Es ist bemerkenswert, dass in den Verhandlungen zwischen der EU und China die EU von chinesischer Seite als Interessengemeinschaft und nicht, wie die EU es möchte, als Wertegemeinschaft gesehen wird. Ich verdanke diesen Hinweis Dr. May-Britt Stumbaum, die die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der VR China beobachtet.
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Traditionen. Stellt sie nur eine skandalöse Inkonsequenz dar? Oder ist sie durch eine reduktionistische Sicht des Menschenrechtssubjekts als des monadischen Besitzindividualisten72 begünstigt worden? Ist also das Abgleiten ins Strategische in einem Verständnis des Rechtsträgers als des interessierten „Eigentümers“ von Rechten bereits angelegt, wozu passt, dass das Eigentumsrecht selbst im frühen Menschenrechtsdenken an vorderer Stelle rangiert?73 Hatte nicht Mengzi die bessere Einsicht, als er meinte, dass wenn man auch nur einmal den persönlichen Besitz „voranstelle“, bereits alles verloren sei, denn man werde dann „nicht eher satt sein, als man nicht alles an sich gerissen hat“, und dass deshalb von Beginn an der Standpunkt der Gerechtigkeit gegen den Standpunkt des Vorteils zur Geltung gebracht werden müsse?74 Allerdings hat Mengzis an das ältere europäische Naturrecht erinnernder Ansatz mit dem neuzeitlichen besitzindividualistischen Modell eine Crux gemein. Es ist auffallend, dass Mengzi den moralischen Menschen – wenngleich noch eine Entwicklung der natürlichen Anlagen in gemeinschaftlicher Praxis, zunächst vor allem im Rahmen der Familie, vorgesehen ist – als vorsoziales und weitgehend selbstgenügsames Wesen anspricht. Dem korrespondiert seine starke Betonung unabhängigen Handelns mit der Bereitschaft, gegebenenfalls gegen eine unverständige Welt „seinen Weg allein zu schreiten“ (du xing, s.o.). Entgegen dem von Hegel mit großem Erfolg verbreiteten „Substantialismus“-Klischee-eine immer noch nicht abgetragene Hypothek für eine Auseinandersetzung mit China auf Augenhöhe–, aber gegen die Erkenntnis manches Philosophen der Aufklärung,75 liegt hier gerade ein Überschuss an Subjektivität, der sich der Krise der Lebenskontexte in den radikalen sozialen und politischen Umbrüchen der „Zeit der Streitenden Reiche“ verdankt. Ohne diesen Überschuss würden sich die philosophischen Ethiken der chinesischen Antike erst gar nicht herausgebildet haben. Erst ihm verdankt sich Chinas Eintritt in die „Achsenzeit“ mit dem Durchbruch zum „dezentrierten“, „postkonventionellen“ Denken, und erst er macht auch Rechtsträgerschaft prinzipiell denkbar. Nur um den Preis der Entmündigung kann es hinter ihn ein Zurück geben. Gerade aufgrund seiner Radikalität bleibt dieser Schritt aber monologisch. Die Intersubjektivität als Konstitutionsbedingung des
72 Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford: Oxford University Press, 1962, deutsche Übersetzung Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1967. 73 Vgl. Iring Fetscher, „Menschenrechte und praktische Vernunft“, Funkkolleg praktische Philosophie/Ethik, Weinheim und Basel: Beltz, 1981, Studienbegleitbrief 10, S. 39–89. 74 So Mengzi 1a1, die berühmte Eingangspassage des Buches. Vgl. hierzu Roetz 1992, S. 303 und 376. 75 Zu denken ist vor allem an Christian Wolff; vgl. Roetz 2013 und 2016 (Academia).
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Menschen wird ebensowenig ernst genommen wie in der neuzeitlichen politischen Philosophie des Westens, die den „possessive individualist“ zum Modell macht. In deren Robinsonaden wird das Subjekt zum homo oeconomicus, der seinen privaten Vorteil sucht und sich zu diesem Zwecke vertraglich arrangiert. Im Konfuzianismus aber, der den homo oeconomicus eher verachtet, gleitet Subjektivität in den Elitismus des moralischen Virtuosen ab. Dieses Denken steht entgegen der Selbstauskunft des Gegenwartskonfuzianismus76 gerade nicht im Paradigma der Intersubjektivität, das die Tücken des Besitzindividualismus umgeht und die intrinsische Wechelseitigkeit von Rechten impliziert. Hier scheint sich der theoretische Ausweg anzubieten, Mengzis Anthropologie des präsozialen moralischen Vermögens mit Konfuzius‘ Maxime der Goldenen Regel, die für das moralisch richtige Handeln nicht aus der einsamen Eingebung des natürlichen „guten Wissens“, sondern aus dem Rollentausch von ego und alter schöpft, zu verbinden.77 Allerdings ist nicht gesichert, dass die Goldene Regel die Grenzen des Subjektivismus durchbricht, meint doch das Ich schon in reiner Reflexion auf sich selbst das Richtige für den Anderen zu kennen, ohne mit ihm allererst kommunizieren zu müssen.78 Wir stehen hier vor typischen Ambivalenzen der konfuzianischen Ethik, die auf der einen Seite ihr starkes Potential zum egalitären Denken, zum sebstbewussten Dissens mit ungerechter Herrschaft und zur sozialen Solidarität ausmachen, auf der anderen Seite aber auch das Abheben einer Elite fördern können und damit, wie heute wieder, anti-demokratisch ausnutzbar sind. Es konnte in diesem Beitrag allerdings gar nicht darum gehen, eine „konfuzianische Lösung“ der Menschenrechtsfrage anzubieten. Er hat sein Ziel erreicht, wenn es ihm gelungen ist, durch den Aufweis formaler und inhaltlicher Elemente einer virtuellen chinesischen Vorgeschichte der Menschenrechtsidee die Behauptung ihrer kulturellen Unverträglichkeit zu entkräften. Dass in beiden Traditionen, der westlichen wie der chinesischen, verwandte Aporien auftauchen, bestätigt nur ihre Affinität. Der Beitrag Chinas zu einer Kultur der Menschenrechte erschöpft sich aber nicht in der Möglichkeit einer solchen nachträglichen Rekonstruktion der Menschenrechtsidee mit traditionellen chinesischen Mitteln. Er ist vielmehr schon ein weitgehend vergessener Teil ihrer realen Geschichte. Einer der wichtigsten 76 Vgl. Heiner Roetz, „Confucianism between Tradition and Modernity, Religion and Secularization: Questions to Tu Weiming“, in: Dao 7, No. 4, 2008, S. 367–380, hier S. 377–378. 77 So der Vorschlag in Roetz, „Human Rights in China: An Alien Element in a Non-Western Culture?“, in: Walter Schweidler, Hg., Human Rights and Natural Law. An Intercultural Philosophical Perspective, St. Augustin: Academia: 2012, S. 296–313, hier S. 310. 78 Vgl. Roetz 2016 (Nomos), S. 38.
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Autoren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 nämlich war ein Chinese, der Diplomat Chang Peng-chun (Zhang Pengchun, 1892–1957), der in den Vereinten Nationen wiederholt Mengzi zitierte und überdies an den Einfluss des Konfuzianismus auf die europäische Aufklärung erinnerte, womit er China schon einen wie immer kleinen Platz in der frühen Geschichte der Menschenrechtserklärungen zuwies.79 Chang Pengchun aber ist nicht nur in China eine Unperson, weil er der falschen Regierung, nämlich der der Guomindang, diente. Weil er aus der falschen Kultur kam, gehört er auch nicht in das von Fremdvergessen und Selbstgenügsamkeit geprägte historische Bewusstsein des Westens, das geneigt ist, die Menschenrechtserklärung von 1948 je nach politischem Standort für ein abendländisches Geschenk oder einen abendländischen „Oktroi“80 zu halten. Ich habe zu zeigen versucht, dass das Problem der Menschenrechte in China nicht zureichend als kulturelles beschrieben werden kann und damit ein politisches ist. Man mag einen solchen Nachweis für irrelevant halten, weil es unter modernen Bedingungen unnötig sei, sich Argumenten qua Herkommen überhaupt auszusetzen. Dem wäre grundsätzlich zuzustimmen. Die Tatsache allerdings, dass sich dieses Argument seinerseits, wie wir sahen, schon in den klassischen chinesischen Texten selbst findet, zeigt, dass die Moderne schon in der Antike begonnen hat und die Verständigung mit den alten philosophischen Texten damit gar nicht Teil eines obsoleten, sondern eines aktuellen Diskurses ist. Sie sind nicht nur auf die eine oder andere Weise auswertbare „Quellen“. Sie verdienen noch heute Gehör und eine Stimme – sozusagen selbst als Teilhaber einer raum-und zeitübergreifenden auf Partizipation gebauten Menschenrechtskultur, deren Grundlage, den Primat des besseren Arguments, sie in ihren aufgeklärtesten Momenten selbst formuliert haben. Es bleibt dennoch richtig, dass die Frage nach den Menschenrechten nicht primär als Frage nach den Möglichkeiten der Kulturtraditionen gestellt werden kann – dies hieße ja gerade, hinter die Einsicht der „Alten“ wieder zurückzufallen. Sie muss primär aus der Gegenwart heraus für die Zukunft gestellt werden,
79 Zu Chang Peng-chun vgl. Pier Cesare Bori, From Hermeneutics to Ethical Consensus among Cultures, Atlanta: Scholars Press, 1994, S. 69–70, und Mary Ann Glendon, A World Made New. Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, New York: Random House, 2002. Zum Argument des möglichen indirekten Einflusses des Konfuzianismus auf die französische Menschenrechtserklärung s. Heiner Roetz, „Transfer in Dispute. The Case of China“, in: Jörg Feuchter, Friedhelm Hoffmann, Bee Yun, Hg., Cultural Transfer in Dispute. Representations of Asia, Europe and the Arab World since the Middle Ages, Frankfurt/New York: Campus, 2011, S. 263–281, hier S. 273 f. 80 Hierzu kritisch Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München: Kösel, 2015.
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und das heißt, mit Blick auf die Dynamik der heutigen chinesischen Gesellschaft. Diese aber ist, trotz aller Bemühungen um ideologische Uniformität, so plural geworden, dass nicht vorstellbar ist, sie könne auf Dauer durch die Verordnung geteilter „Werte“ zusammengehalten werden und nicht durch das subjektive Recht,81 was auch immer die Überlieferungen hierzu sagen.82 Allerdings hat das chinesische Regime bislang eben diese Konsequenz mit Erfolg zu verhindern versucht, und es baut zu diesem Zweck die Tradition als Bollwerk im politischen Kulturkampf gegen den Westen auf. So behält denn der Streit, „wessen Held Konfuzius ist“,83 doch seinen Sinn. Man sollte die Tradition, ohne sie zu idealisieren und ihr das letzte Wort überlassen zu wollen, den Feinden der Menschenrechte nicht schenken. Mehr als vom Ausgang dieser Debatte wird die Zukunft der Menschenrechte davon abhängen, wie sich die demokratischen Gesellschaften des Westens entwickeln. Es bleibt in China nicht unbeobachtet, wenn sie es sich weiter leisten, bürgerliche Mitbestimmungsmöglichkeiten durch Lobbyismus, ökonomische „Sachzwänge“ und die Macht von Finanzmärkten aushöhlen zu lassen und die Demokratie zum Auslaufmodell machen. Dies wird das Menschenrecht auf Partizipation in einer Weise entwerten, dass der chinesische Autoritarismus allein dadurch schon leichtes Spiel haben wird. Wir sind Teil des Problems, über das wir reden.
81 Vgl. hierzu Heiner Roetz, „Das Menschenrecht und die Kulturen. Sieben Thesen“, in: Gregor Paul, Thomas Göller, Hans Lenk und Guido Rappe, Hg., Humanität, Interkulturalität und Menschenrecht, Frankfurt/M.: P. Lang, 2001, S. 39–49. 82 Vgl hierzu Jürgen Habermas, „Zur Legitimation durch Menschenrechte“, in: Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998, S. 185, mit dem Argument, dass sich die „entscheidende Alternative gar nicht auf der kulturellen, sondern auf der sozioökonomischen Ebene“ stellt, weil die „kapitalistische Modernisierung der asiatischen Gesellschaften“ von selbst in eine „individualistische Rechtsordnung“ hineindränge. 83 Nach Bernd Guggenberger, „Wessen Held ist Sokrates? Überlegungen aus aktuellem Anlass“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.1.1984.
Andreas Urs Sommer
Menschenrechte gebrauchen. Zur philosophischen Relevanz ihrer Historizität Die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 bemüht dreimal einen Begriff, nach dem man in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 noch vergebens Ausschau hält: den Begriff der Werte. Im allerersten Satz heißt es, die „Völker Europas“ seien „entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.“1 Die Formulierung lässt offen,2 wie genau die „gemeinsamen Werte“ mit der Entschlossenheit der genannten Völker zu einer „friedlichen Zukunft“ zusammenhängen; die wohlklingende Wendung „auf der Grundlage“ verschleiert, welche Art von Verhältnis zwischen diesen Werten und der Friedenszukunftsentschlossenheit besteht: Sind die Werte Wirkursachen dieser Entschlossenheit oder womöglich Finalursachen, sind sie Möglichkeitsbedingungen oder bloß rhetorische Garnitur? Über das offenbar einzig mögliche Mittel, wie man die „friedliche Zukunft“ erreichen kann, will die Präambel indes keine Zweifel aufkommen lassen: Es ist der noch engere Zusammenschluss der europäischen Völker innerhalb der Union – während der ausgeklammerte Zweifel ja möglicherweise die ketzerische Vermutung nahelegte, dass die europäischen Völker gerade dann eine friedliche Zukunft haben könnten, wenn sie einander möglichst aus dem Weg gingen. Wer im ersten Satz der Präambel die Auskunft darüber vermisst, was denn die „gemeinsamen Werte“ seien, wird gleich im zweiten Satz darüber belehrt: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“3 Immerhin vier Werte
1 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, hg. vom Deutschen Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit. Berichte und Dokumentation mit einer Einleitung von Jürgen Meyer und Markus Engels, Berlin 2001, S. 40. 2 Ich verzichte darauf, zur Erhellung des Gemeinten die offiziellen Versionen in den anderen Sprachen beizuziehen, da es hier nicht um eine juristische Exegese, sondern um eine Symptombeschreibung ohne rechtsprechende Absicht geht: Die Verwaschenheit der hochgestimmten Proklamationsrhetorik ist offensichtlich Absicht. 3 Ebd. DOI 10.1515/9783110537130-007
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werden also nicht nur konkret benannt, sondern gleichzeitig als unteilbar und universell propagiert, so dass der europäische Rahmen zumindest dem Anspruch nach gesprengt wird, ohne dass man von einem Gesetzestext wohl erwarten dürfte, dass er diese Werte wiederum begründend absichere oder sich um ihre Harmonisierbarkeit kümmere.4 Dass Würde des Menschen vage bleibt, Freiheit, Gleichheit und Solidarität einander jedoch leicht ins Gehege kommen können, bekümmert diejenigen, die hier im Namen der „Völker Europas“ sprechen, offenkundig nicht. Ein Problem liegt auf der Hand: In welchem Verhältnis stehen denn diese Werte zu den Grundrechten, um die es in der Charta doch geht? Diese Frage wird auch bei der dritten und letzten Nennung der Werte nicht geklärt: „Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei.“5 Dass man diese Werte erhalten will, überrascht nicht, vielleicht aber doch, dass sie irgendwie entwickelt werden können. Soll das bedeuten, dass sie doch nicht so fest und unwandelbar dastehen, wie die Behauptung ihrer Unteilbarkeit und Universalität nahezulegen schien, sondern dass sie dem Wandel der Zeiten unterworfen, also in ihrem Kern historisch geworden und historisch vergänglich sind? Oder will der Hinweis auf die „Entwicklung“ bloß besagen, dass sie noch nicht überall verwirklicht sind, aber überall verwirklicht werden sollen?6 Lassen wir diese letzten, aber hier nicht lösbaren Fragen beiseite – der europäische Gesetzgeber hält sich hier augenscheinlich an die Inversion einer These
4 Auch im Vertrag über die Europäische Union wird mit Werten gewuchert: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ (Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union, Amtsblatt der Europäischen Union, C 83/13, 30. 03. 2010, Artikel 2). 5 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 41. 6 In der Präambel des Vertrags über die Europäische Union heißt es von den vertragschließenden europäischen Souveränen, sie schöpften „aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“. Das ließe sich so lesen, als ob diese Entwicklung ein europäisches Privileg wäre – eine historisch möglicherweise adäquate, aber nach den heutigen Maßstäben politisch schwerlich korrekte Darstellung . . .
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Wittgensteins: „Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich auch unklar aussprechen“.7 Mich interessiert hier eine andere Vermutung, nämlich diejenige, dass der europäische Gesetzgeber sich in Sachen „Grundrechte“ in chronischer Erklärungs- und Rechtfertigungsnot zu befinden scheint, wenn er zu ontologisch so obskuren Wesenheiten wie „Werten“ seine Zuflucht nehmen muss, um erstens deren Universalität und Unteilbarkeit zu behaupten, zweitens deren Vereinbarkeit (die zumindest bei Freiheit und Gleichheit kontrovers sein dürfte), aber drittens schließlich offen zu lassen, wie die Werte auf die Grundrechte bezogen werden sollen (was heißt „auf der Grundlage . . .“?). Was das Dritte angeht, kann man immerhin feststellen, dass die konkret benannten vier Werte Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität die Überschriften der ersten vier Charta-Kapitel darstellen, die die entsprechenden Grundrechte auflisten – die singularische Freiheit freilich in eine vielsagende Pluralität von „Freiheiten“ aufgespalten. Werte wären nach der Textlogik der Charta also eine Art summierende Oberbegriffe oder die Gattungsbezeichnung für eine Reihe einzelner Grundrechte. Könnten sie dann gleichzeitig eine grundrechtsbegründende Funktion erfüllen? Bei der Würde des Menschen verhält es sich sogar explizit so, dass sie gleichzeitig ein Wert und zudem nach Artikel 1 das erste Grundrecht ist. Sollen Grund- oder Menschenrechte als Werte gelten, damit sie in einer Sphäre der Unantastbarkeit konserviert werden können?8 Diese Beobachtungen eines juristischen Laien an einem jüngeren, hochoffiziellen Dokument der Grund- und Menschenrechtskodifizierung demonstrieren vor allem eines, nämlich die Verlegenheit, in der sich der europäische Gesetzgeber (neben seinem dilettantischen Ausleger) befindet, wenn es um die Bestimmung der Fundamente positiven Rechts geht. Weder der europäische Gesetzgeber noch die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes wollen bei diesen Fundamenten als positiv rechtsetzende Instanzen auftreten, daher suggerieren sie, dass die Grundrechte und da insbesondere die Würde des Menschen etwas seien, was der rechtsstaatlichen Ordnung quasi transzendental vorausgehe,9 und was man auch schon als konkrete Utopie von explosiver Kraft verstanden wissen
7 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main 1960, Satz 4.116. 8 Niklas Luhmann: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, S. 8: „Die Fixierung solcher Themen wie der Grundrechte in der Verfassung entzieht sie der Diskussion, mögen sie auch Gegenstand achtungsvoller Auslegung bleiben. Ihre dogmatische Behandlung als unantastbare Werte verstärkt dieses Tabu und gibt ihm eine moralische Weihe.“ 9 Kurt Seelmann: Menschenwürde: ein Begriff im Grenzgebiet von Recht und Ethik, in: Michael Fischer u. Michaela Strasser (Hg.): Rechtsethik, Frankfurt am Main 2007, S. 29–41, hier S. 34 u. Thomas Gutmann: Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff = Preprints of the Centre for Advanced Study in Bioethics, Münster 2010, S. 4.
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wollte.10 Spricht die juristische Lehrbuchdefinition davon, dass ein Menschenrecht „das dem Menschen kraft seiner Geburt gegebene Recht auf Respektierung seiner individuellen Rechtsgüter wie Leben, Freiheit, Gesundheit und Eigentum“ sei, während als Grundrechte „die in der Verfassung niedergelegten Menschenrechte“ gelten,11 täuscht auch diese Differenzierung nicht darüber hinweg, dass Grundrechte ebenso wenig wie Menschenrechte als „gesetzt“ oder „gemacht“ erscheinen sollen. Und dennoch ist jedem einigermaßen Informierten klar, dass Menschenrechte historisch geworden sind; dass die Menschheit die längste Zeit ihrer Geschichte weder über den Begriff noch über die Sache „Menschenrechte“ verfügt hat. Ihre angebliche Universalität und Unbedingtheit sind keine historische Universalität und Unbedingtheit, kein faktischer Bestand, sondern ein Sollen. Nicht einmal ein beinharter Menschenrechtsuniversalist wird behaupten, die Menschenrechte hätten wie die drei Hauptsätze der Thermodynamik eigentlich immer schon gegolten, seien aber erst im Laufe der Geschichte entdeckt worden. Den Menschenrechten liegt ein anderes Bild vom Menschen zugrunde als es die längste Zeit der menschlichen Geschichte über vorherrschend war, ohne dass dies notwendig ein unterbelichtetes oder prinzipiell defizientes Bild gewesen sein müsste: Für Aristoteles beispielsweise war es selbstverständlich, dass es den „Sklaven von Natur“, φύσει δούλος gebe, der einem anderen gehöre und der an der Vernunft, am λόγος nur partizipiere, wenn er das durch einen anderen tun kann (Politik 1254a). Wenn es Freie oder Sklaven von Natur gibt, ist es zu denken verwehrt, ihnen gleichermaßen so etwas wie Menschenrechte zuzuschreiben, zumal nicht nach den in der Charta der Grundrechte festgelegten Hauptrubriken Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Nun fällt es leicht zu sagen, das aristotelische Menschenbild sei eben voraufklärerisch und antiquiert, jedoch fällt es sichtlich schwerer zu begründen, inwiefern dieses Menschenbild unwahr oder falsch ist, so wie wir das heute von weiten Teilen der aristotelischen Physik behaupten würden. Die Anthropologie der vormodernen Philosophie ist schlicht eine andere als die in der Gegenwart westlicher Gesellschaften vorherrschende auf der das Konzept der Menschenrechte gründet. Will man sich über Menschenrechte aufklären, muss man sich zunächst über das ihnen zugrunde liegende Menschenbild verständigen. Und dabei stößt man auf einen bemerkenswerten, jedoch in der Debatte um Menschenrechte vernachlässigten Befund: Im Laufe der Neuzeit wird der Mensch schrittweise seiner metaphysischen und seiner religiösen Attribute
10 Jürgen Habermas: Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 343–357. 11 Gerrit Manssen: Staatsrecht II: Grundrechte, 8. Auflage, München 2011, S. 5.
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entkleidet. Er gilt nicht länger als Ebenbild Gottes, er verliert seine Privilegien als Krone der Schöpfung. Radikalaufklärern wie Julien Offray de La Mettrie war der Gedanke nicht mehr fremd, dass der Mensch doch womöglich nichts anderes sei als ein Tier oder eine Maschine12 – ein Gedanke, der im 19. Jahrhundert breiten Widerhall fand: Die Evolutionstheorie verstand den Menschen als Produkt einer allgemeinen animalischen Entwicklung, die keineswegs auf den Menschen als Zweck abzielte. Der Mensch wird als Tier unter die Tiere zurückgestellt;13 er verliert seine Ausnahmestellung im Gefüge der Lebewesen. Die Entwicklung der neuzeitlichen Anthropologie stellt sich als Prozess einer radikalen Ernüchterung dar. Der bemerkenswerte Befund ist nun, dass diese radikale Ernüchterung, diese metaphysische Depotenzierung des Menschen einhergeht mit der fundamentalen rechtlichen, eben menschenrechtlichen Aufwertung des Menschen, und zwar ausdrücklich jedes Menschen, ganz unabhängig von seinem Stand, seinem Geschlecht, seinem Vermögen, seinem Handeln. Je stärker die metaphysische Kontamination des Menschenbildes abnahm, je mehr man ihn als Tier unter die Tiere zurückstellte, desto mehr zeigten mentalitätsprägende Kräfte bis hin zu nationalen und supranationalen Gesetzgebern die Bereitschaft, dem Menschen eine metaphysische Neodignität zuzuschreiben, und zwar mittels Menschenrechten. Nach und nach wurde die Person sakralisiert.14 Unter diesem Blickwinkel erscheinen Menschenrechte also nicht als Resultat einer vertiefteren, verbesserten Erkenntnis dessen, was den Menschen tatsächlich ausmacht, gegründet auf die Entdeckung des wahren Wesens des Menschen. Menschenrechte sind vielmehr das Resultat menschlicher Geschichte, einer Geschichte, in der der radikalen Ernüchterung des Menschen über sich selbst etwas entgegengesetzt wird, nämlich das Konzept seiner unveräußerlichen Würde, seiner Freiheit, seiner Gleichheit. Man könnte sagen, die Menschenrechte seien geschaffen worden, um die natur-historisch fundierte Erkenntnis, dass er ein Tier unter Tieren ist, erträglich zu machen. Um diese Erkenntnis vergessen zu machen.
12 Vgl. [Julien Offray] de La Mettrie: Œuvres philosophiques. Nouvelle édition, corrigée & augmentée. Tome premier, Berlin 1774, Bd. 1, S. 347 f. 13 Vgl. Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist. Ecce homo. DionysosDithyramben. Nietzsche contra Wagner = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 6/2, Berlin / Boston 2013, S. 83 f. 14 Vgl. in der Weiterentwicklung von Émile Durkheim Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, zu den zwingenden Konsequenzen Andreas Urs Sommer: Lexikon der imaginären philosophischen Werke, Berlin 2012, S. 274–278.
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Das Grundproblem der Historizität sowohl der Werte als auch der Grundrechte will ich hier nicht weiter diskutieren. Ich will mich auch nur am Rande in die Debatten um die systematische Begründbarkeit der Menschenrechte einmischen. Dass ihre Entstehung auf traditionellen, allerdings modifizierten Vorstellungen des Naturrechts gründet, wird man als historischen Sachverhalt akzeptieren.15 Daraus folgt freilich nichts Normatives, denn wie sollte man die alten Vorstellungen des Naturrechts reaktivieren können, die auf eine metaphysischen Anthropologie bauen? Ebenso fallstrickreich erscheint der aus der Diskursethik stammende Versuch, die Menschenrechte post festum zu legitimieren. Postuliert man einen herrschaftsfreien Diskurs, eine ideal-apriorische Kommunikationsgemeinschaft, in der alle Partizipanten übereinkommen müssen, es sei das Vernünftigste und Beste, allen Betroffenen dieselben Rechte zu gewähren, gerät man in einen vitiösen Zirkel. Denn das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses setzt bereits voraus, was doch erst bewiesen werden müsste: nämlich, dass alle Diskursteilnehmer prinzipiell gleichberechtigt sind. Die diskursethische Begründung der Menschenrechte hat also das menschenrechtliche Gebot der Gleichberechtigung schon zur unausgewiesenen Prämisse. Wer diese Prämisse nicht teilt, wird sich auch mit der Begründung nicht arrangieren wollen, die die konkreten Diskursteilnehmer ausblendet, indem sie allein auf die zustimmungspflichtigen Argumente abhebt, deren Macht sich kein vernünftiges Wesen entziehen könne. Für den Kritiker der Diskursethik gibt es in Fragen der Praxis (im Unterschied zur Mathematik oder Logik) keine neutralen und zwingenden Argumente jenseits der Personen, die sie vorbringen – und was, wenn diese Personen nicht gleich, sondern ungleich sind? Menschenrechte wollen die konkreten gesellschaftlichen Hierarchien aufheben16 oder zumindest suspendieren, womit sie sich historisch als revolutionär erwiesen haben. Weniger revolutionär ist es heute, das menschenrechtliche Gleichheitsgebot in den systematischen Begründungsgang der Menschenrechte selbst hineinzuschmuggeln. Es hilft m. E. erst recht nichts, allen Menschen prinzipiell einen Anspruch auf Rechtfertigung zuzugestehen, ja einen solchen Anspruch gar für die Basis der Menschenrechte zu halten („human rights have a
15 Vgl. James Griffin: On Human Rights, Oxford 2008, dazu die kritischen Beiträge in Roger Crisp (Hg.): Griffin on Human Rights, Oxford 2014. Sibylle Tönnies: Der westliche Universalismus. Die Denkwelt der Menschenrechte. 3. überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2001, S. 16–18 betont hingegen, dass der moderne Universalismus nicht mehr naturrechtlich begründen lasse. Zu „naturalistic theories“ in der Menschenrechtsbegründung und ihren Lücken siehe auch Charles R. Beitz: The Idea of Human Rights, Oxford 2009, S. 48–72. 16 Vgl. Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 11.
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common ground in one basic moral right, the right to justification“),17 und dann in den Rechtfertigungen, die man gibt, einfach nur das zu implizieren, was allererst gerechtfertigt werden müsste. Einen alten Grundsatz von Hugo Grotius variierend („etsi deus non daretur“18), argumentiert die Diskursethik in ihrem Menschenrechtsgrundlegungsbemühen anscheinend nach drei Maximen: 1. Etsi potestas non daretur, 2. etsi tempus non daretur und 3. etsi mundus non daretur. Leider aber gibt es nach meinem Wissensstand weder machtfreie, noch geschichtsfreie noch weltfreie Räume reiner praktischer Vernunft.19 Diese Bemerkungen haben wohl hinreichend deutlich gemacht, dass ich weder an die Möglichkeit, noch an den Nutzen oder an die Notwendigkeit einer universellen normativen Begründung eines historischen und damit kontingenten Phänomens, nämlich der Menschenrechte glaube. Gerne versehe ich diesen meinen Unglauben mit dem Index pyrrhoneischer Vorläufigkeit: Bisher hat mir noch niemand sein oder ihr Begründungskonzept für die Menschenrechte als unbedingt zwingend zu vermitteln vermocht, ebenso Erklärungen dafür, weshalb eine solche Begründung notwendig oder auch nur nützlich sei. Mir scheint bei all den Versuchen leicht das aufzutreten, was man einen normativistischen Fehlschluss nennen könnte: Dieser Fehlschluss besteht darin, einem als normativ empfundenen, sozialen Druck nachzugeben und die unumstößliche Wahrheit einer Hypothese zu behaupten, für die es keine extranormativen empirischen Befunde gibt, oder die diesen Befunden sogar widerspricht. Der normativistische Fehlschluss
17 Rainer Forst: The Justification of Human Rights and the Basic Right to Justification. A Reflexive Approach, in: Claudio Corradetti (Hg.): Philosophical Dimensions of Human Rights. Some Contemporary Views, Dordrecht/Heidelberg/London/New York 2012, S. 81–106, hier S. 82. 18 Die Kurzformel, die sich so erst im 20. Jahrhundert nachweisen lässt, gründet auf Hugo Grotius’ De iure belli ac pacis: „Et haec quidem, quae iam diximus, locum aliquem haberent etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana.“ (Hugo Grotius: De iure belli ac pacis libri tres, in quibus ius naturae & Gentium: item iuris publici precipuae explicantur, Paris 1625, Prolegomena 11, unpaginierte Bogensignatur a vj verso f.). 19 Nebenbei bemerkt dürfte es ein lohnenswertes Unterfangen sein, einmal den Einfluss von Christian Wolff und seiner Schule im 18. Jahrhundert mit dem Einfluss von Jürgen Habermas und seiner Schule im 20. Jahrhundert zu vergleichen. Es scheint beiden geistesgeschichtlichen Bewegungen das Bemühen eigentümlich, durch „vernünftige Gedanken“ mentalitär, sozial und politisch zu begradigen und zu stabilisieren. Das wiederum zieht breitflächige intellektuelle Sklerose nach sich. Vgl. dazu Andreas Urs Sommer: Philosophie als Wagnis, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 20 (2014), S. 19–27.
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besteht darin, aus der (gesellschaftlich) herrschenden Annahme, etwas gelte unbedingt, abzuleiten, dass es tatsächlich unbedingt und notwendig gilt. Nun, ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, wenn mir jemand die Möglichkeit, den Nutzen und die Notwendigkeit einer universellen normativen Begründung der Menschenrechte einsichtig machen kann. Hier hingegen klammere ich fortan dieses ideal-apriorische Begründungsgeschäft aus, weil ich bisher nicht einzusehen gelernt habe, wie etwas historisch Kontingentes, etwas bereits konkret Gestaltetes, nachträglich durch Begründung in eine überhistorische Sphäre gehoben werden kann. Sind wir, wenn wir ehrlich sind, in Fragen menschlicher Praxis und Lebensform nicht zum Historismus verurteilt, der uns nur vorletzte, aber keine letzten und universellen Begründungen gestattet?20 Und nebenbei die unziemliche Frage: Sind es womöglich Machtinteressen, die hinter der Forderung nach letzter und universeller Begründung stehen – nämlich die eigene Sicht dauerhaft durchzusetzen? Deshalb will ich mich im Folgenden nicht weiter in den Letztbegründungslabyrinthen herumtreiben, sondern nach der Realität der Menschenrechte fragen, um Hinweise zu erhaschen, welches denn eigentlich ihre Funktion ist, abgesehen von dem, was sie garantieren wollen und sollen – prominent individuelle Würde, Freiheit und Gleichheit. Die leitende Vermutung geht dahin, dass wir aus der Realität der Menschenrechte womöglich mehr zu ihrer Legitimation gewinnen können als aus Letztbegründungsanstrengungen. Gewiss wären diese Legitimationsansätze gänzlich vorläufig – aber mehr ist unter irdischen Bedingungen bei irdischen Gegenständen womöglich nicht zu haben. Ich frage also nach dem Gebrauch und auch dem Missbrauch der Menschenrechte – wobei mir der Ausdruck „Missbrauch“ etwas Unbehagen verursacht. Denn um Missbrauch von Gebrauch trennen zu können, müsste ich über eine moralische Metaposition verfügen, zu der ich mir keinen rechten Zugang zu verschaffen weiß. Man könnte dazu neigen, jede Form des Umgangs mit Menschenrechten, die zu etwas anderem dient, als just diese Menschenrechte umzusetzen, als Missbrauch zu brandmarken. Menschenrechte seien absolute Zwecke und dürften niemals zu Mitteln degradiert werden. Der moralische Absolutist, der sich so äußert, vergisst freilich großzügig, dass die Menschenrechte bereits im Kontext ihrer politischen Sedimentierung, nämlich im Vorfeld und während der Amerikanischen sowie der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts beileibe nicht nur Selbstzweck, sondern auch Mittel waren. Sie dienten als
20 Vgl. Andreas Urs Sommer: Von der Dringlichkeit eines neuen Historismus. Philosophiegeschichte als Provokation, in: Langthaler, Rudolf u. Hofer, Michael (Hg.): Geschichtsphilosophie. Stellenwerte und Aufgaben in der Gegenwart. Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. XLVI, Wien 2015, S. 107–120.
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Mittel, die faktischen Machthaber – das britische Kolonialregiment, das Ancien Régime – zu diskreditieren und ihrer Legitimität zu entkleiden. Menschenrechte waren revolutionäres Kampfmittel21 – ein höherrangiges als jeder Bezug etwa auf das Common Law bei den Kolonisten in der Neuen Welt oder auf die Ungerechtigkeit der Ständeordnung bei den Angehörigen des Dritten Standes in Frankreich: Die Berufung auf Menschenrechte zerstörte die traditionale Ordnung und wirkte als Waffe gegen alles verheerend, was bis dahin als gut und heilig galt, nämlich das ständische Gefüge der sozialen Wirklichkeit, in dem jedem Individuum nur nach seinem Stand seine Rechte und Pflichten zukamen. Die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789 lässt sich durchaus auch als Versuch lesen, die partikularen bürgerlichen Interessen durchzusetzen, als Selbstermächtigung einer aufstrebenden, aber politisch noch ohnmächtigen Schicht. Schon in der Phase ihrer politischen Etablierung können Mittel und Zweck der Menschenrechte nicht fein säuberlich separiert werden. Aus der Perspektive des realexistierenden Marxismus, nämlich im quasi partei- und staatsoffiziellen Philosophischen Wörterbuch der DDR, liest sich das dann wie folgt: „Die Selbstkennzeichnung der bourgeoisen Bürgerrechte als Menschenrechte widerspiegelt den allgemeinen Versuch des Bürgertums, sein spezielles Klasseninteresse als das allgemeine Interesse aller Menschen auszugeben“; „Die Grundrechtskataloge sind so Rechtfertigung und Verschleierung des mit Ewigkeitsanspruch ausgestatteten politischen Systems des Konkurrenzkapitalismus.“22 Der Stein des Anstoßes liegt für die marxistischen Kritiker also darin, dass in den als „bürgerlich“ charakterisierten Menschenrechtskodifizierungen die Freiheit die Oberhand habe, bei der es letztlich allein um die Freiheit des Eigentums gehe. Das freilich führt diese marxistischen Kritiker nicht dazu, die Menschenrechte preiszugeben, im Gegenteil sollen sie im Sozialismus „einen jeden zur Mitwirkung an der Gesellschaftsentwicklung, speziell zu seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung berechtigen“.23 Der realexistierende Sozialismus ist nun längst verblichen, so dass man geneigt sein könnte, die von dieser Seite eingebrachten Einwände gegen Konzept und Gebrauch der Menschenrechte vom Tisch zu wischen. Hat denn nicht wenigstens in Europa jenes andere politische System, das demokratisch-kapitalistische, auf ganzer Linie gesiegt, das auf die Freiheit als menschliches Fundamentalrecht
21 Vgl. z. B. Jonathan Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790, Oxford 2011, bes. S. 897–936 u. Lynn Hunt: Inventing Human Rights. A History, New York 2007. 22 Georg Klaus u. Manfred Buhr: Philosophisches Wörterbuch. 8., berichtigte Auflage, Leipzig 1972, Bd. 1, S. 461. 23 Ebd., S. 460.
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setzte und die Gleichheit in den Hintergrund treten ließ? Werden denn heutzutage nicht sogar Kriege im Namen der Menschenrechte geführt – gegen Länder, die die Freiheit ihrer Bürger beschneiden? Man mag geneigt sein, solche Kriege gutzuheißen, wenn sie von der „westlichen Wertegemeinschaft“ getragen werden. Mehr Schwierigkeiten hat man dann, wenn etwa Russland die Annexion der Krim gleichfalls damit rechtfertigt, gegen ukrainische Menschenrechtsverletzungen an der russischsprachigen Bevölkerung vorgehen zu wollen. Wo hört der legitime Gebrauch der Menschenrechte auf, wo fängt der Missbrauch an? Menschenrechte sind nach wie vor eine starke Waffe im politischen Kampf, und sei diese Waffe auch nur eine rhetorische. Auf den ersten Blick scheint es so, als habe die Freiheit im Gefüge der Menschenrechte die unbestrittene Dominanz bewahrt. Wie viel ist beispielsweise übrig geblieben vom Versuch des chinesischen Intellektuellen und UN-Diplomaten P. C. Chang, in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 die „pluralische [. . .] Gegebenheit der moralischen Existenz des Menschen – als der eines Menschen, der mit einem anderen in Beziehung steht“,24 einfließen zu lassen? Zählt nicht schon die Allgemeine Erklärung eine stattliche Anzahl von freedoms auf, die dem Individuum als Menschenrechte zustünden, alle subsumierbar unter der liberty des dritten Artikels?25 Und dass sich diese Freiheiten ein halbes Jahrhundert später in der europäischen Charta der Grundrechte sogar noch deutlich vermehrt haben, ist das nicht ein Beweis für das Majestätsrecht der Freiheit, das alle anderen Menschenrechte majorisiert? Für die weiteren Erkundigungen zum Gebrauch der Menschenrechte will ich die Frage nach der für den juristischen und theologischen Laien schwer greifbaren Menschenwürde deshalb ausklammern und stattdessen die drei anderen Hauptkategorien aus der Charta der Grundrechte heranziehen, nämlich Freiheit(en), Gleichheit und Solidarität. Menschenrechte sind nicht nur polyvalent; sie können auch in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich gebraucht werden. Im gegebenen Rahmen ist es unmöglich, all die möglichen Kontexte und die sich daraus ergebenden Fallkonstellationen auch nur zu nennen, geschweige denn, sie erschöpfend zu analysieren. Ich beschränke mich daher auf drei Beispiele, die mir für den gegenwärtigen Diskurs über Menschenrechte charakteristisch zu sein scheinen, ohne ihre Repräsentativität beweisen zu können. Ich nehme sie als Symptome: 24 Lydia H. Liu: Abgründe des Universalismus. P. C. Chang entgrenzt die Menschenrechte, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Bd. 9 (2015), Heft 1: Lange Leitung, München, S. 17–30, hier S. 24. 25 Universal Declaration of Human Rights, http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language. aspx?LangID=eng (Stand 14. 08. 2015), article 3: „Everyone has the right to life, liberty and security of person.“
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Das oberste griechische Verwaltungsgericht hat im Juni 2015 im Einklang mit der griechischen Parlamentspräsidentin festgestellt, dass die von den „Institutionen“ geforderte Sparpolitik sowie der Schuldendienst gegen die Menschenrechte verstießen. Namentlich, so befand das Gericht, die bereits von den Verträgen zum ersten Rettungspaket implementierten, pauschalen Rentenkürzungen seien menschenrechtswidrig, weil sie vielen Rentenbezügern kein menschenwürdiges Dasein mehr ermöglichten.26 Menschenrechte werden also nicht nur als negative Anspruchsrechte des Individuums gegenüber dem Staat verstanden, der das Individuum möglichst in Ruhe lassen sollte, sondern als positive Anspruchsrechte: Ich kann von meinem Staat verlangen, dass er mich versorgt, wenn ich es nicht selber zu tun vermag. Und wenn dieser Staat solche Garantien nicht erfüllen kann, weil er beispielsweise bankrott ist, kann ich diesen Anspruch auf eine supranationale Ebene übertragen – etwa auf die Europäische Union – , die für meine Bedürfnisse einzustehen hat. Das Gemeinwesen hat nach diesem Verständnis eine umfassende Versorgungspflicht für das Individuum, der keine gleichrangige Verpflichtung des Individuums gegenübersteht, für das Gemeinwesen zu sorgen. Dieses Ungleichgewicht könnte zur inneren Erosion des Gemeinwesens führen. Unvorgreifliche Schlussfolgerung: Solidarität ist etwas, was das Individuum von den anderen – namentlich vom Staat und supranationalen Institutionen – fordern kann. Der Umfang dieser Forderungen nimmt gewaltig zu. Meinungsäußerungsfreiheit ist als eines der grundlegenden Menschenrechte zumindest nominell hoch im Kurs. Hunderttausende haben nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ mit dem Bekenntnis „Je suis Charlie“ dazu ein scheinbar mutiges Bekenntnis abgelegt. Näher besehen erscheint freilich dieses Bekenntnis bei manchen politischen Entscheidungsträgern scheinheilig, handelt es sich doch allzu oft um dieselben Leute, die sonst nach strenger rechtlicher Ahndung politisch missliebiger Äußerungen z. B. gegen „den“ Islam, gegen Ausländer oder Homosexuelle rufen. In Frankreich sind diverse Gesetze in Kraft, die die Verunglimpfung anderer teilweise drakonisch sanktionieren, auch dann, wenn die Äußerungen ausgesprochen allgemein bleiben, z. B. Zweifel daran äußern, dass der Islam aufklärerisch-europäisch zivilisierbar sei.27 Die vehementen Verteidiger der
26 Vgl. auch Alexandra Endres im Interview mit Margot Salomon: Die Austeritätspolitik verletzt Menschenrechte, in: Die Zeit, 20. Juli 2015, http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-07/sparpolitikgriechenland-menschenrechte (Stand 14. 08. 2015). 27 Vgl. Jonathan Turley: Charlies falsche Freunde, in: Schweizer Monat. Die Autorenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Ausgabe 1023, Februar 2015, S. 12–15.
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Meinungsäußerungsfreiheit sehen eine düstere Zeit auf die westliche Welt zukommen, in der diese Freiheit unterdrückt wird unter Verweis auf politische Korrektheit, und wähnen eine auf Mainstreamisierung aller Menschen abzielende Verschwörung am Werk. Versucht man den Streit um Meinungsäußerungsfreiheit aus größerer Distanz zu betrachten als das politische Tagesgezänk es zulässt, wird man freilich vorsichtiger abwägen: Sicher, John Stuart Mills Auffassung, jeder müsse stets alles sagen können, wie absurd diese Meinung auch sei, ist aller Ehren wert – „diversity [is] not an evil, but a good“28 –, aber sie ist der Welt der Gentlemen-Clubs entsprungen und geht nicht von der digitalen Massengesellschaft aus, wo tatsächlich jede Meinung jeder Person jederzeit und überall gehört werden kann. Wird heute die Meinungsäußerungsfreiheit eingeschränkt, ist das wesentlich der Angst vor Verletzung geschuldet. Dass ein Individuum überhaupt verbale Äußerungen als Verletzungen erfährt, die gar nicht gegen einzelne Personen gerichtet sind, sondern Allgemeinbegriffe wie eine Weltanschauung oder eine sexuelle Orientierung betreffen, hängt mit einer allgemeinen Senkung der Empfindlichkeits- und Schmerzschwelle zusammen, die für die Moderne bezeichnend ist: Mitteleuropäer empfinden Widerfahrnisse als verletzend und schmerzlich, die unsere Ahnen einfach weggesteckt hätten. Andererseits empfinden viele nach Europa einwandernde Menschen, namentlich Muslime, die Beleidigung ihrer Religion als Fundamentalangriff auf sich selbst. Da ist nicht die individuelle Empfindlichkeitsschwelle gesenkt, sondern die vormoderne Vorstellung herrschend, Meinungen als solche hätten eine zerstörerische, magische Macht – eine Vorstellung, die jedem „Meinungsmacher“ eigentlich schmeicheln müsste. Unvorgreifliche Schlussfolgerung: Meinungsäußerungsfreiheit stößt an ihre Grenzen, sobald die Empfindlichkeitsschwelle möglicher Adressaten erreicht wird. Sie ist erst dann als Menschenrecht vor Nachstellung sicher, wenn die geäußerte Meinung mit Sicherheit niemanden stört. Zu beobachten sind seit Längerem die Bestrebungen aller möglichen Gruppen, ihre Interessen unter den Schutz der Menschenrechte zu stellen. Das können Völker sein, die unter Berufung auf die sogenannte dritte Generation der Menschenrechte ihr Selbstbestimmungsrecht gegen einen Staat reklamieren, in dem sie sich nicht hinreichend repräsentiert oder gar unterdrückt fühlen. Das können soziale Minderheiten sein, die für sich Rechte
28 John Stuart Mill: On Liberty/Über die Freiheit. Deutsch – englisch. Übersetzung von Bruno Lemke. Mit Anhang und Nachwort hg. von Bernd Gräfrath, Stuttgart 2009, S. 160.
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reklamieren, die bisher angeblich der Mehrheit vorbehalten waren. So wird beispielsweise gefordert, dass das Recht auf Eheschließung für jeden und jede ungeachtet der sexuellen Orientierung gelten müsse. All diese Bestrebungen zielen auf Inklusion: Jeder soll alles haben können. Allgemeine Egalisierung scheint die Folge.29 Und da gibt es noch die andere, komplementäre Seite: Für den Fall, dass man seine Gruppeninteressen unter Rekurs auf die allgemeinen und universellen Menschenrechte nicht durchsetzen kann, erfindet man flugs seinen eigenen Menschenrechtskatalog, der diese Interessen bedient. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990, die westliche Beobachter fast selbstverständlich für einen Missbrauch der Menschenrechte zu halten geneigt sind. Bekanntlich erklärt sie die Scharia zur Grundlage des angemessenen Verständnisses der Menschenrechte. Nehmen wir aber den Befund ernst, dass die normative Absicherung der Menschenrechte schwankend ist, wird man auch dieser Form der Absicherung nicht prinzipiell ihre Eigenrechtlichkeit und vor allem nicht ihren partikularen Nutzen (nämlich für Muslime) abstreiten können. Sicher, die Reichweite dieser Menschenrechte für Muslime ist geringer als die Reichweite der für alle Angehörigen der Spezies Mensch geltenden Rechte. Aber auch Letzteres ist womöglich nur ein Speziezismus. Unvorgreifliche Schlussfolgerung: Die Ausdehnung der Menschenrechtsansprüche wirft die Frage nach dem Grenznutzen auf. Menschenrechte scheinen nur solange durch ihren allgemeinen Nutzen gerechtfertigt, als sie nicht von partikularen Zwecken völlig vereinnahmt werden. Diese Gefahr ist in der Struktur der Menschenrechte, nämlich Anspruchsrechte von Personen und Personengruppen zu sein, schon angelegt. Es könnte einem so vorkommen, als seien diese Ansprüche, gerade als positive Ansprüche, beliebig steigerbar – und unentwegt in Steigerung begriffen. Schließlich scheint es, als ob Egalisierung und Partikularisierung häufig Hand in Hand gingen, mögen sie sich auf der politisch-medialen Schaubühne noch so sehr bekriegen. Nimmt man diese drei Gebrauchsbeispiele als Symptome, wird man zunächst eine Verschiebung hin zu den sozialen Menschenrechten feststellen können, ganz ohne dass dafür eine marxistische Weltrevolution nötig gewesen wäre. Für eine große Mehrheit der Menschen in den westlichen Ländern kommen die Menschenrechte heute ihren eigenen Interessen entgegen; sie dienen nicht (mehr),
29 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Gleichheit: Schicksalsfrei leben. Deutungsversuch unserer breiten egalitären Gegenwart. Ein Essay, in: Schweizer Monat. Die Autorenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Ausgabe 1025, August 2015, S. 54–61.
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wie die realsozialistischen Kritiker unkten, nur einer kleinen besitzbürgerliche Klasse. Tatsächlich sind die meisten Europäer jetzt Menschenrechtsnutznießer, aber die Entwicklung bewegt sich weg von den Freiheitsrechten hin zu den Gleichheitsrechten. Die unaufgelöste Spannung, die zwischen Gleichheit und Freiheit in den traditionellen Menschenrechtskatalogen besteht, verschiebt sich immer mehr Richtung Gleichheit – damit nimmt die Spannung ab, aber auch die Freiheit. Die von Tacitus sorgenvoll diagnostizierte libido servitii30 der Menschen bekommt in der Moderne einen ganz neuen Klang. Nun könnte man über die allgemeine Egalisierung und Sozialdemokratisierung zu lamentieren geneigt sein. Allerdings ist diese Entwicklung nichts anderes als eine Antwort auf die ungeheure Ausdehnung der Freiheitsspielräume in der Moderne, die dem Individuum schon im Normalfall ungeahnte Möglichkeiten eröffnet hat. Es scheint, als ob die gegenwärtige Menschenrechtspolitik als Politik der Inklusion die schrankenlose – v. a. ökonomische – Ausdehnung dieser Freiheitsspielräume eindämmen wolle. Man könnte nun nüchtern fragen, was es für Gesellschaften sind, die Menschenrechte brauchen, und wie sie sich von anderen Gesellschaften unterscheiden, die ohne sie auskamen oder auskommen. Die Antworten überlasse ich gerne der Soziologie,31 merke aber doch an, dass die Moderne nicht nur die Spielraumerweiterung der Individuen kennzeichnet, sondern ebenso die Entwicklung abstrakter, überindividueller Institutionen sowie eine gewaltige Ausdifferenzierungswelle unterschiedlichster gesellschaftlicher Subsysteme. Das Individuum steht dadurch in unterschiedlichsten Funktionszusammenhängen; unterschiedlichste Rollenanforderungen werden an es herangetragen, während es in der Vormoderne gewöhnlich nur über ein sehr begrenztes Rollenrepertoire verfügte. Menschenrechte bilden für jede dieser unterschiedlichsten Rollen des modernen Individuums sozusagen den Minimalnenner. Sie dienen so wesentlich dem reibungslosen Ablauf der sozialen Maschinerie. Kommen wir abschließend noch einmal zurück zur desillusionierenden anthropologischen Einsicht an der Schwelle der Moderne: Menschen sind Tiere unter Tieren. Mit dieser Einsicht kann man den diversesten Rollen des Menschen in hochkomplexen Gesellschaften offensichtlich nicht gerecht werden. Daher wird der Anschein erzeugt, er sei ein Wesen, dem ein Wert an sich zukomme. Das mag ein kontrafaktisches Postulat sein – aber ein überaus hilfreiches für
30 Publius Cornelius Tacitus: Historien I 90, 3. 31 Luhmann: Grundrechte als Institution, gibt bereits die entscheidenden Hinweise.
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Gesellschaften, in denen Menschen sich so viele verschiedenartige Aufgaben zutrauen. Menschliche Gesellschaften sind keine Termitenbauten. Man kann das Optimum aus den Menschen herausholen, wenn man ihnen all die Rechte zugesteht – sie so behandelt, als ob sie diese Rechte von Natur hätten. Menschenrechte legitimieren den Staat, der sie vertritt, weil sie die Individualopposition gegen ihn – nämlich nicht gehört zu werden – im Keim ersticken. Menschenrechte müssen sich über ihren Gebrauch rechtfertigen. Theoretisch ist das Dilemma unauflösbar: Einerseits nimmt man an, der Wert eines einzelnen Menschen sei absolut und mit nichts aufzuwiegen, die Menschenwürde unantastbar. Andererseits erfährt sich jeder als beschränkt, fehlbar, fragil: kurzum als unvollkommen, als relativ – als sterbliches Tier unter anderen sterblichen Tieren. Praktisch hingegen weiß man diesem Dilemma sehr wohl zu begegnen: Je schwankender der normative Grund der Menschenrechte, desto exzessiver und umfassender wird ihr Katalog und ihr Anspruch. Man könnte das eine Strategie des Übertünchens oder des Übertönens nennen, nämlich das Schwankende des normativen Grundes mit einer Fülle von Kodifizierungen vergessen zu machen. Oder aber es handelt sich um eine Strategie der funktionalen Stabilisierung: Gerade weil der Grund schwankend ist, baut man das Gebäude möglichst groß und vor allem so, dass es jeder und jedem dienlich erscheint. Menschenrechte wären dann nicht legitimiert, weil sie auf einem sicheren normativen Grund stehen, sondern weil sie einer möglichst großen Anzahl Menschen und Staaten nützlich sind. Aus der Gebrauchsanalyse der Menschenrechte könnte man folgende beiden Hauptfunktionen herauszudestillieren geneigt sein: Erstens dienen sie dem Schutz des Menschen vor sich selbst und Seinesgleichen. Zweitens artikulieren sie den Anspruch des Menschen an sich selbst und Seinesgleichen. Es gibt keine Stände- oder Naturordnung mehr, die den Menschen schützen könnte und von der er das ihm Zukommende beanspruchen könnte. Die Menschenrechte etablierten eine neue Ordnung, nachdem die alte verloren war. Die Entwicklung scheint dahin zu gehen, den Aspekt des Anspruchs den Aspekt des Schutzes zuerst überlappen, schließlich überdecken zu lassen. Aus der Perspektive des Staates heißt das, eine umfassende Fürsorge für die Bürger zu entfalten. Und ein Letztes: Die ontologische Un-, die Unterbestimmtheit bei den Menschenrechten trotz all ihrer feinen Differenzierung ist wie bei den Werten, die angeblich die Grundlage der Menschenrechte bilden sollen, nicht bedauerlich oder gar verderblich, sondern eigentlich wünschbar. Wir wissen nicht, was konkret die Werte des Anderen sind, mit dem wir reden, und mit dem wir gerade auch über Werte reden. Wir reden immer nur von Werten so, als wüssten wir es.
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Ein entscheidender Vorteil des Wertredens ist nicht nur die Unbestimmtheit des Begriffs „Wert“, sondern auch die Unbestimmtheit seiner Konkretisierung. Wäre man Ironiker, könnte man sagen, damit habe die Transzendentalphilosophie in den moralischen Alltagsdiskurs Einzug gehalten, denn wenn wir über Werte reden, reden wir quasi über die Bedingungen der Möglichkeit guten Handelns – „Werteorientierung“ –, nicht über das konkrete Gute selbst und unterstellen, der andere wolle, weil „wertgeleitet“, sicher auch das Beste . . . Menschenrechte scheinen mit dieser Wertgrundlage auf dünnes Eis gestellt. Aus Werten ist grundsätzlich alles deduzierbar, zumal, wenn sie nicht expliziert werden. Aber daraus erst folgt die vielfache Funktionalisierbarkeit. Unterbestimmtheit macht Menschenrechte womöglich erst umfassend brauchbar.
Klaus Meister
Sophistische Konzepte vom Menschen in ihrer Bedeutung für die späteren Menschenrechte Zunächst danke ich Herrn Kollegen Kurt Seelmann für die ehrenvolle Einladung zu diesem Kolloquium; ferner meinem Freund Jürgen von Ungern Sternberg, dessen Vortrag von 2011 an dieser Stelle „Wer soll an der Polis teilhaben? Das Dilemma des Aristoteles“1 sich in mancher Hinsicht mit dem eigenen Thema berührt und mir wertvolle Denkanstöße vermittelte. Zudem hatte ich Gelegenheit, in Berlin einige Punkte mit ihm persönlich zu erörtern. Auch mit meinem Studienfreund Eckart Schütrumpf, dem Aristotelesfachmann und Kommentator von dessen Politik, diskutierte ich mehrfach über diverse Aspekte des Themas. Was die Gliederung meiner Ausführungen angeht, so stehen einige allgemeine Bemerkungen über die Sophistik, ihre Hauptvertreter und zentralen Themen am Anfang; es folgt die Behandlung der für die Sophisten charakteristischen Gegenüberstellung von nomos und physis = positivem Recht und Naturrecht. Danach werden mehrere Sophisten, die für die späteren Menschenrechte besonders wichtig sind, unter diesem Aspekt besprochen: Zunächst Hippias von Elis, der mutmaßliche Begründer der nomos-physis-Antithese, sodann Antiphon von Athen, der sich am ausführlichsten mit diesem Problem auseinandersetzt. Anschließend kommen Lykophron und Alkidamas von Elaia zur Sprache, die der zweiten Generation der Sophisten angehören. Am Ende stehen eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie ein Kommentar zu dem Ausspruch von Jacob Burckhardt (siehe unten!): „Menschenrechte giebt es im Alterthum überhaupt nicht.“ Zunächst also ein paar allgemeine Bemerkungen zur Sophistik: Es handelt sich um eine geistige Bewegung, die etwa seit der Mitte des 5. Jh. v. Chr. in Griechenland, besonders in Athen, mehr und mehr an Boden gewann und von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) mit der europäischen Aufklärung des 18. Jh. verglichen wurde. Sie rückte den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung gemäß der berühmten Maxime des Protagoras: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind.“ Die Sophisten, zu denen u.a. Gorgias von Leontinoi, Prodikos von Keos, Hippias von Elis, Antiphon von Athen, Thrasymachos von Chalkedon, Kallikles von Acharnai, der sogenannte Anonymus Iamblichi, Lykophron und Alkidamas von Elaia gehörten,
1 Veröffentlicht in: Colloquium Rauricum, Bd. 13, 2013, S. 69–101. DOI 10.1515/9783110537130-008
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zeichneten sich durch eine rationale und skeptische Grundhaltung gegenüber traditionellen Anschauungen und Vorstellungen auf dem Gebiet der Kultur, des Staates, der Gesellschaft, der Religion und der Ethik aus. Bevorzugte Themen, die ausführlich in meinem Sophistikbuch von 20102 behandelt werden, waren u.a. Ontologie und Erkenntnistheorie, universelle und polyhistorische Ausrichtung, Erziehung und Bildung des Menschen, Rhetorik, Dialektik und Antilogik, Probleme von Sprache, Literatur und Dichtung; ferner befaßten sich die Sophisten mit der Entstehung des Staates, der Kultur und der Zivilisation, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen sowie der Frage nach dem Ursprung der Religion. Bei der Erörterung dieser Probleme fällt die große Vielfalt der Antworten auf, so daß man die Sophisten mit Recht als die Begründer der Meinungs- und Gedankenfreiheit bezeichnet hat. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr in der Sophistik das Verhältnis von nomos und physis = Positivem Recht und Naturrecht, das für die späteren Menschenrechte von zentraler Bedeutung ist und deshalb im Folgenden näher analysiert wird. Über dieses Thema verfaßte F. Heinimann3 vor langer Zeit eine Monographie, die noch heute als Standardwerk gilt. In jüngerer Zeit haben St. Kirste, K. Waechter, M. Walther4 und andere Forscher in einem Sammelband sich ebenfalls ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Auch in meinem Sophistikbuch5 nimmt das Thema nomos und physis einen hohen Stellenwert ein. „Nomos bezeichnete im archaischen Denken nicht nur das Gesetz, sondern die höchste menschliche, göttlich sanktionierte und daher allgemein verbindliche und unabänderliche Norm.6 Mit der Ausweitung des geographischen Horizonts, speziell im Verlauf der Großen Griechischen Kolonisation, und der zunehmenden Bekanntschaft der Griechen mit fremden Gebräuchen und Gesetzen, büßte nomos mehr und mehr seine autoritäre Geltung ein und bezeichnete die Konvention, der Plural nomoi die Gesetze und Bräuche verschiedener Stämme und Völker, die nur für diese verpflichtend, für andere dagegen unverbindlich oder gar unvorstellbar waren. Dies verdeutlicht besonders der folgende Herodotpassus (III 38,2–4): 2 K. Meister, „Aller Dinge Maß ist der Mensch.“ Die Lehren der Sophisten, 2010. 3 F. Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des. 5. Jh., 1945, seither mehrfach nachgedruckt (= Schweizer Beiträge zur Altertumswissenschaft I). 4 St. Kirste, K. Waechter u. M. Walther, Hrsg., Die Sophistik. Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht, 2002. 5 K. Meister, a.a.O., S. 83–101. 6 Vgl. G.B. Kerferd u. H. Flashar, Die Sophistik, in: Die Philosophie der Antike, Bd. 2/1, H. Flashar, Hrsg., 1998, S. 12.
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„Als Dareios König war, ließ er die Hellenen an seinem Hofe rufen und fragte sie, um welchen Preis sie sich dazu bereit erklären würden, ihre toten Väter zu verspeisen. Sie erwiderten, um keinen Preis. Darauf ließ er die Kallatier rufen, einen indischen Volksstamm, bei dem die Leichen der Eltern gegessen werden, und fragte sie in Gegenwart der Hellenen mit Hilfe von Dolmetschern, um welchen Preis sie zugeben würden, daß man die Leichen ihrer Väter verbrenne. Sie schrieen laut auf und sagten, er solle solch gottlose Worte lassen. Herodots Kommentar: So steht es mit den Sitten der Völker, und Pindar hat meiner Meinung nach ganz recht, wenn er sagt, das Gesetz sei König aller Dinge (nomon panton basilea einai).“
Das Wort physis bezeichnete vor der Mitte des 5. Jh. den Wuchs, das Gewachsene, im Hinblick auf den Menschen dessen angeborene Art. Namentlich in der archaischen Adelsethik steht physis nach F. Heinimann7 für „die durch Abstammung bedingte, mit der Geburt gegebene Anlage, die Wesen und Leistungen eines jeden Menschen bestimmt.“ Allgemein gesprochen, betraf physis nach G.B. Kerferd/ H. Flashar8 das Wesen der Erscheinungen und die wahre Natur der Dinge. Physis erlangte damit geradezu normative Geltung und grenzte sich somit scharf vom Konventionellen und Akzidentellen des nomos ab. Nach meiner Überzeugung verwandte Hippias von Elis als erster die beiden Begriffe in dem Sinne, daß sie unvereinbare Gegensätze bezeichneten. Im platonischen Dialog Protagoras (337 c-d=DK 86 C 1), der ca. 433 spielt9, redet Hippias die im Hause des Kallias versammelten Sophisten folgendermaßen an: „Ihr Anwesenden ‚ich glaube, daß ihr Verwandte, Freunde und Mitbürger (von mir) seid, von Natur aus, nicht durch Gesetz (physei, ou nomoi). Denn das Gleiche ist dem Gleichen von Natur aus verwandt, das Gesetz aber, der ein Gewaltherr über die Menschen ist (tyrannos ton anthropon on), erzwingt vieles wider die Natur, und so ist es für uns eine Schande, daß wir zwar das Wesen der Dinge kennen, aber trotzdem, obwohl wir von den Griechen die Weisesten sind und aus diesem Grunde jetzt gerade in Griechenlands Zentrum der Weisheit zusammengekommen sind, uns dieser Würde nicht als würdig erweisen, sondern wie die primitivsten Menschen miteinander streiten.“
Hippias hob demnach, indem er das Pindarwort vom König nomos variierte und ihn als Tyrann nomos bezeichnete, das Gewaltsame und Widernatürliche des nomos gegenüber der physis hervor. Fr. Reimer10 nennt diese Gegenüberstellung im vorliegenden Kontext mit Recht „völlig unpassend“; ähnlich betonten bereits
7 F. Heinimann, a.a.O., S. 12. 8 Vgl. G.B. Kerferd u. H. Flashar, a.a.O. S. 8. 9 B. Manuwald, Platon, Protagoras. Übersetzung und Kommentar, 1999,S. 12 (=Platon, Werke VI 2). 10 Fr. Reimer, in: St. Kirste, K.Waechter u. M. Walther, Hrsg., Die Sophistik, 2002, S. 93.
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G.B. Kerferd-H. Flashar11, daß sich diese Antithese nur schwer in den Gesprächskontext integrieren läßt. Es sei vielmehr die bewußte Absicht Platons, „die sich zur Unzeit und zum unpassenden Thema vordrängende Polymathie des Hippias karikieren zu wollen.“ Die beiden Gelehrten ziehen aus dieser berechtigten Feststellung schwerwiegende Konsequenzen12: „Ob man daher in dieser kurzen Rede, die fest in den dramatischen Ablauf des Dialogs ‚Protagoras‘ eingebunden ist, Überzeugungen des historischen Hippias wiederfinden kann, bleibt fraglich. Es spricht viel dafür, daß ihm Platon Worte in den Mund legt, die im Sinne einer wirkungsvollen Rhetorik . . . . . Ansichten als Argumente benützt, für die das Publikum aufgeschlossen ist, die aber nicht Ansichten des Redners sein müssen“ (eigene Sperrung). In Wahrheit legt die diesem Passus unmittelbar vorangehende Intervention des Sophisten Prodikos von Keos (Prot. 337 a) die entgegengesetzte Schlußfolgerung nahe: Ebenso wie Prodikos als erster scheinbar bedeutungsgleiche Worte streng voneinander unterscheidet und dies an mehreren Beispielen veranschaulicht (z.B. amphisbetein-erizein = bezweifeln-streiten, eudokimeinepaineisthai = in gutem Rufe stehen-gelobt werden, euphrainesthai-hedesthai = sich erfreuen-sich vergnügen), darf Hippias als Initiator der nomos-physis-Antithese gelten. Was aber besagen seine Worte? Darüber herrscht in der Forschung kein Konsens: Mehrere Gelehrte, darunter M. Untersteiner13, M. Gigante14, G.B. Kerferd15 und I. Jordovic16, sind der Ansicht, Hippias vertrete hier die Gleichheit aller Menschen und somit eine Art Kosmopolitismus. Zahlreiche Forscher, z.B. E.A. Havelock17, E. Schütrumpf18, H. Scholten19 und Fr. Reimer20, meinen dagegen, daß Hippias hier nur die Gleichheit der Griechen verkünde und somit panhellenische Ideen äußere, die ursprünglich aus seiner Rede bei den
11 G.B. Kerferd u. H. Flashar, a.a.O., S. 15. 12 G.B. Kerferd u. H. Flashar, a.a.O., S. 68. 13 Z.B. M. Untersteiner, I sofisti III, 1954, S. 104 . Ders., a.a.O. 2, 2. Aufl. 1967, S. 130 f. 14 M. Gigante, NOMOS BASILEUS, 1956, S. 147 f. 15 G.B. Kerferd, The Sophistic Movement, 1981, S. 114. 16 I. Jordovic, Die Anfänge der Jüngeren Tyrannis, 2005, S. 49 f. 17 E.A. Havelock, The Liberal Temper in Greek Politics, 2. Aufl. 1964, S. 225. 18 E. Schütrumpf, Kosmopolitismus oder Panhellenismus? Zur Interpretation des Ausspruchs von Hippias in Platons Protagoras (337 c ff.), Hermes 100, 1972, S. 5–29= Ders., Praxis und Lexis, 2009, S. 13–35 (=Palingenesia Bd. 95). 19 H. Scholten, Die Sophistik. Eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis?, 2003, S. 186. 20 Fr. Reimer, in: St.Kirste, K. Waechter u. M. Walther, Hrsgg., Die Sophistik, 2002, S. 95, 99.
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Olympischen Spielen stammten. Wieder andere Autoren wie z.B. K.F. Hoffmannn21, G.B. Kerferd/H. Flashar22 und B. Manuwald23 beziehen diese Aussage lediglich auf die anwesenden Weisen und damit auf eine elitäre ‚république des savants‘. Mir persönlich erscheint die letzte Interpretation am plausibelsten, da sich Hippias tatsächlich nur auf die anwesenden Weisen bezieht. Entsprechend scheidet dieser Passus als angeblicher Beleg für die Gleichheit der Menschen aus; die praktischen Folgerungen, welche Hippias aus dem Gegensatz von nomos und physis zieht, sind also eher bescheiden. Von zahlreichen Forschern, beginnend mit F. Heinimann24, wird Antiphon von Athen (DK 87) als Begründer der nomos-physis-Antithese bezeichnet, in Wirklichkeit galt dies, wie soeben dargelegt, für Hippias von Elis. Bei Antiphon findet sich jedoch die ausführlichste Erörterung dieses Verhältnisses, und zwar in der Schrift „Wahrheit“. Zunächst einige Hinweise auf die Überlieferungslage dieser Abhandlung, die durch mehrere Papyrusfunde teilweise wieder ans Licht gekommen ist und ständig an Umfang zugenommen hat, ein Tatbestand, der für das Thema nomos und physis außerordentlich bedeutsam ist. Von der Wahrheit existierte in den älteren Ausgaben der Fragmente der Vorsokratiker von H. Diels/W. Kranz (bis zur 3. Auflage von 1912) lediglich ein vier Wörter umfassendes Zitat bei dem kaiserzeitlichen Lexikographen Harpokration s.v. agoi, das folgendermaßen lautet: Antiphon en to peri aletheias phesi: „tus nomus megalus agoi“ anti tu hegeito. „Antiphon sagt in der Schrift Über die Wahrheit: „die Gesetze hoch halten“ anstelle von „hoch schätzen.“ 1915 erfolgte die Publikation des Papyrus POx. 1364, der sieben Kolumnen einer anonymen Schrift enthielt. Darunter befanden sich die vier von Harpokration zitierten Worte: Sie bewogen den berühmten Philologen U. von Wilamowitz-Moellendorff dank seiner herausragenden Kenntnis der griechischen Litertur zur Identifizierung dieser Schrift mit der Wahrheit Antiphons. Zu dem genannten Papyrus kam der 1922 veröffentlichte POx. 797, der weitere zwei Kolumnen der Wahrheit ans Licht brachte. Der 1989 publizierte POx. 3647, enthielt zusätzliche vier Kolumnen. Auf diese Weise wuchs diese ungemein wichtige Abhandlung von ursprünglich vier Worten auf ca. 300 Zeilen an.25
21 K.F. Hoffmann, Das Recht im Denken der Sophistik, 1997, S. 157 f. 22 G.B. Kerferd u. H. Flashar, a.a.O. S. 67 f. 23 B. Manuwald, a.a.O., S. 294. 24 F. Heinimann, a.a.O. S. 143. 25 Letzte Veröffentlichung der genanntenPapyri: F 44a-c bei G.J. Pendrick, Antiphon the Sophist. The Fragments. Edited with Introduction, Translation and Commentary, 2002.
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Der Text beginnt mit den Worten: „Gerechtigkeit besteht darin, die gesetzlichen Vorschriften des Staates, in denen man Bürger ist, nicht zu übertreten. Es dürfte also ein Mensch für sich am meisten Nutzen bei der Anwendung der Gerechtigkeit haben, wenn er vor Zeugen die Gesetze hochhält, alleine und ohne Zeugen dagegen die Gebote der Natur. Denn die Gesetze sind willkürlich, die Gebote der Natur dagegen notwendig; und die Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die Gebote der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart. Wer also die gesetzlichen Vorschriften übertritt, ist, wenn er ihren Vereinbarern verborgen bleibt, von Schande und Strafe verschont, wenn er ihnen nicht verborgen bleibt, dagegen nicht.
Antiphons Attacke gegen die bestehenden Gesetze besteht demnach auf einer naturalistischen bzw. utilitaristischen Ethik, die um die Grundthese zentriert ist, daß die Menschen das tun, was ihnen „zuträglich“ ist, und das lassen sollten, was ihnen „unzuträglich“ ist. Nach seiner Ansicht herrscht zwischen nomos und physis ein scharfer Gegensatz, wobei die Gebote der physis denen des nomos weit überlegen sind. Dieser Gedanke wird anschließend näher ausgeführt und aufgezeigt, daß die meisten gesetzlichen Bestimmungen in feindlichem Verhältnis zur Natur stehen: „Es sind ja Gesetze aufgestellt für die Augen, was sie sehen dürfen und was nicht; und für die Ohren, was sie hören dürfen und was nicht; für die Zunge, was sie sagen darf und was nicht; für die Hände, was sie tun dürfen und was nicht; und für die Füße, wohin sie gehen dürfen und wohin nicht; und für den Sinn, wessen er begehren darf und wessen nicht.“
Im zweiten Abschnitt bezieht sich Antiphon auf die geltende Rechtpraxis in Athen, die ebenfalls die Problematik des nomos belegt. Er nennt dabei u.a. folgende Beispiele: – Man darf einem potentiellen Aggressor nach dem Gesetz nicht zuvorkommen, sondern kann ihn erst nach erlittenem Unrecht zur Verantwortung ziehen. – Man ist gesetzlich dazu verpflichtet, die Eltern selbst dann zu ehren und zu unterstützen, wenn man vorher von ihnen schlecht behandelt worden ist. Im dritten Abschnitt sucht Antiphon nachzuweisen, daß gängige Auffassungen von Gerechtigkeit inakzeptabel sind, so z.B. die Ansicht „Es ist gerecht, niemandem zu schaden, wofern man kein Unrecht von ihm erlitten hat.“ Sagt beispielsweise ein unbeteiligter Dritter als Zeuge vor Gericht gegen einen anderen aus und wird letzterer auf Grund dieser Aussage verurteilt, so fügt der Zeuge dem Angeklagten Schaden zu, ohne vorher von ihm Schaden erlitten zu haben. Betrafen diese Ausführungen über nomos und physis lediglich den innerstaatlichen Bereich, nämlich das (in Athen) geltende Rechts-und Gerichtswesen, so greift der vierte Abschnitt weit über die Grenzen der griechischen Polis hinaus und betrifft das Verhältnis Griechen-Barbaren.
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„Wir kennen und achten unsere eigenen Gesetze (nomus) und auch die der Nachbarn, die aber der ferne Wohnenden kennen wir weder noch achten wir sie. Dadurch sind wir einander zu Barbaren geworden (pros allelus bebarbarometha), wo wir doch von Natur aus alle in allem die gleichen Voraussetzungen haben, Barbaren oder Griechen zu sein. Man kann nämlich beobachten, daß die von Natur aus notwendigen Eigenschaften bei allen vorhanden und vermöge derselben Fähigkeiten verfügbar sind. Und in eben diesen Dingen ist niemand von uns dazu pärdestiniert, Barbar oder Grieche zu sein. Denn wir alle blasen den Atem in die Luft durch Mund und Nase aus, und wir lachen, wenn wir uns in unserem Sinn freuen, oder weinen, wenn wir traurig sind. Und mit dem Gehör nehmen wir die Laute auf; und bei Licht sehen wir vermöge des Gesichtssinnes; mit den Händen arbeiten wir und mit den Füßen gehen wir.“
Dieser Passus ist vor der Publikation von POx. 3647 vielfach auf Grund unsicherer Textergänzungen, welche die Abschaffung sozialer Unterschiede in Griechenland zum Inhalt hatten26, falsch interpretiert worden. Nach der gesicherten Lesart von Pap. Ox. 346727 geht es jedoch um den nomos und das Verhalten der Griechen gegenüber den Barbaren. Folgende sind die Hauptaussagen dieses Textes: 1. Wir (sc. Griechen) kennen und achten die eigenen Gesetze und die der Nachbarn, diejenigen der ferne Wohnenden kennen und achten wir nicht. 2. Mit dieser Nicht-Achtung fremder Nomoi benehmen wir uns ebenso wie die (von uns verachteten) Barbaren. 3. Dieses Verhalten ist deshalb absurd, weil kein Mensch von Natur aus dazu bestimmt ist, Grieche oder Barbar zu sein. Alle Menschen sind vielmehr von der Natur mit den gleichen physischen und biologischen Eigenschaften ausgestattet. 4. Die zentrale Interpretationsfrage lautet: Enthält die letzte Feststellung implicite die Idee der Gleichheit der Menschen oder ist die Aussage wesentlich beschränkter? Darüber herrscht in der Forschung kein Konsens: Die meisten Gelehrten, z.B. H. Diels28, W. Nestle29, E.A. Havelock30, A. Lesky31,
26 Vgl. G. J. Pendrick,a.a.O.S. 180 Anm. So ergänzten beispielsweise H.Diels-W.Kranz anstelle von „Wir kennen und achten unserr eigenen Gesetze“: „wir kennen und achten diejenigen, die von vornehmen Vätern abstammen“ etc., K. Schmidt „wir kennen und achten diejenigen, die von Reichen abstammen“ etc. 27 Die richtige Lesart bei F. Decleva Caizzi-F. und G. Bastianini, Antipho in: Corpus dei papiri filologici greci e latini, 1989,S. 176–236 sowie bei Pendrick,a.a.O., S. 180. 28 H. Diels, Ein antikes System des Naturrechts, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Bd. 11, 1916, Sp. 81 ff. Das folgende Zitat Sp. 96 f. 29 W. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 2. Aufl. 1942, S. 377, 380 f. 30 E.A. Havelock, The Liberal Temper in Greek Politics, 2. Aufl. 1964, S. 256–258. 31 A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, 3. Aufl. 1971, S. 404.
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W.K.C. Guthrie32, H. Ottmann33, G.J. Pendrick34 und H. Scholten35, sind der Ansicht, es handle sich mit den Worten von H. Diels erstmals um „das radikale Evangelium der aufklärerischen Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ bzw. nach der Formulierung G.J. Pendricks um „a full-blown theory of the unity, equality and even brotherhood of all mankind.“ Eine Minderheit von Forschern, u.a. G.B. Kerferd/H. Flashar36 und P. Unruh37, lehnt dagegen diese weitgehende Interpretation ab. Letzteres geschieht meines Erachtens zu Recht. Antiphon vertritt zwar eindeutig die biologische und physiologische Gleichheit der Menschen, doch hebt er nicht den Unterschied zwischen Griechen und „Barbaren“ grundsätzlich auf. Vielmehr verurteilt er lediglich die Unkenntnis bzw. Mißachtung der Gesetze der ferner Wohnenden durch die Griechen. Es ist dies, um einen höchst aktuellen Terminus zu gebrauchen, ein dezidiertes Plädoyer gegen Xenophobie und für Philoxenie.38 Zutreffend erscheint mir demnach die folgende Einschätzung von P. Unruh: „Mit dieser Annahme einer natürlichen Gleichheit wird die Möglichkeit individueller Unterschiede in der körperlichen und geistigen Ausstattung der Menschen nicht ausgeschlossen. Egalitarismus, Kosmopolitismus und Visionen über Brüderlichkeit sind damit nicht vereinbar.“ Ähnlich betonen G.B. Kerferd/H. Flashar: „Es ist dies ein erstes, so erst in der hellenistischen Philosophie wiederaufgenommenes Zeugnis nicht nur für ein abstraktes Ideal der Gleichheit aller Menschen hinsichtlich ihrer natürlichen Ausstattung, sondern – wie Antiphon ausdrücklich betont – für den Respekt (sebomen) und das Verständnis (epistametha) dem Angehörigen eines anderen Kulturkreises gegenüber. Wenn wir diesen Respekt nicht aufbringen‚ ,benehmen wir uns wie Barbaren‘ (bebarbarometha), betont Antiphon in der suggestiven Form der 1. Person Plural.“ Diese Interpretation wird durch eine Herodotstelle (I 134) untermauert. Denn die Aussage Antiphons, wonach wir die eigenen Gesetze kennen und und achten, die der entfernt Wohnenden aber nicht, verrät strukturell wie inhaltlich dessen Vorbild:
32 W.K.C. Guthrie, The The Sophists, 1971, S. 152 f. mit Anm. 5. 33 H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1, 1, 2001, S. 218. 34 G.J. Pendrick, a.a.O., S. 354 f. 35 H. Scholten, a.a.O. S. 227. 36 G.B. Kerferd u. H. Flashar, a.a.O., S. 78. 37 P. Unruh, in: S. Kirste, K. Waechter u. M. Walther (Hrsgg.), Die Sophistik, 2002, S. 81. 38 Vgl. den Titel des von U. und P. Riemer herausgegebenen Sammelbandes XenophobiePhiloxenie. Vom Umgang mit Fremden in der Antike, 2005. Hier wird der Antiphonpassus von Chr. Lüthe auf den Seiten 168–171 behandelt.
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„Die Perser achten nach ihnen selbst am meisten die nächsten Nachbarn, dann die entfernteren. Am wenigsten in Ehren aber halten sie die am entferntesten Wohnenden. Sie sind nämlich der Überzeugung, sie selbst seien die weitaus besten unter den Menschen, die anderen hielten es entsprechend ihrer Entfernung mit der areté, die am weitesten von ihnen entfernt Lebenden aber seien die Schlechtesten.“
Eine indirekte Bestätigung für die richtige Deutung des vorliegenden Antiphonpassus liefert auch ein stoisch beeinflußtes Fragment des Eratosthenes von Kyrene ( fr. 676 Nickel bei Strabon I 4,9), welches im Unterschied zu dem Antiphonpassus tatsächlich die Gleichheit von Griechen und Barbaren thematisiert, ja sogar die Überlegenheit der Barbaren in mancher Hinsicht hervorhebt: „Am Ende seiner Geographie wendet sich Eratosthenes scharf gegen diejenigen, welche die ganze Menschheit in zwei Gruppen teilen, nämlich in Hellenen und Barbaren, und Alexander raten, die Hellenen als Freunde, die Barbaren als Feinde zu behandeln: Es sei besser, die Menschen nach ihrer Tüchtigkeit oder Schlechtigkeit zu unterscheiden. Denn viele Hellenen seien schlechte, viele Barbaren dagegen tüchtige Menschen, wie die Inder und Arianer, ferner die Römer und die Karthager, die so bewundernswerte Staatswesen besäßen. Deshalb habe sich Alexander nicht um diesen Rat gekümmert, sondern möglichst viele tüchtige Männer ohne Rücksicht auf ihre Nationalität an sich gezogen und ihnen Wohltaten erwiesen.“
Daß es sich hierbei um eine Kritik an Aristoteles handelt, ergibt sich aus dem folgenden Passus Zenons, des Begründers der stoischen Philosophenschule (fr. 698 Nickel). Dieser plädiert bei Plutarch (De Alexandri magni fortuna I 6, p. 329 A) folgendermaßen für die Einheit und Gleichheit aller Menschen: „Fürwahr, die viel bewunderte Politeia (=der Staat) Zenons enthält die Hauptthese, daß wir alle weder nach Städten noch nach Völkern organisiert, durch eigene Rechtsvorschriften voneinander getrennt leben sollten, vielmehr, daß wir uns als Mitglieder und Mitbürger eines Volkes und eines Staates betrachten und daß ein Leben und eine Ordnung existieren sollten ähnlich wie in einer Herde, die zusammenlebt und auf einer gemeinsamen Weide grast. Dies schrieb Zenon, indem er gleichsam ein Traum- oder Phantasiebild philosophischer Eunomie und Staatlichkeit entwarf, Alexander aber setzte diese Idee in die Tat um. Denn er folgte nicht dem Ratschlag des Aristoteles, die Griechen als Anführer (hegemonikos), die Barbaren als Despot (despotikos) zu behandeln und den einen als Freunden und Verwandten, den anderen als Tieren und Pflanzenm zu begegnen.“
Zur Erläuterung: Dieser Rat Alexanders spiegelt die am Anfang der Politik (I 2, 1252 a 24 ff.) vorgenommenen Unterscheidung des Aristoteles zwischen Menschen, die zum Herrschen und solchen, die von Natur aus zum Dienen bestimmt sind, wider. Dabei erwähnt Aristoteles u.a. das Verhältnis Griechen-Barbaren und bemerkt dazu: „Es ist wohlbegründet, daß Hellenen über Barbaren herrschen, da Barbar und Sklave von Natur dasselbe ist.“
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Anschließend geht es um zwei Sophisten der folgenden Generation, die beide Schüler des Gorgias gewesen und als Wegbereiter der Menschenrechte einen erheblichen Schritt weitergegangen sind als die bisher genannten Sophisten, nämlich Lykophron (unbekannter Herkunft, DK 83) und Alkidamas aus Elaia. Lykophron weilte nach Platon (ep. 2, 314 d) am Hofe Dionysios‘ II. von Syrakus, der seit 367 regierte. Von Wichtigkeit für das vorliegende Thema ist eine Stelle aus dem Dialog des Aristoteles Peri eugeneias = Über die edle Herkunft (fr. 91 und 92 Rose), die bei Stobaios (IV 24, p. 710 Hense) im Wortlaut überliefert ist und folgendermaßen lautet: „Bezüglich der edlen Herkunft bin ich gänzlich im Unklaren darüber, wen man eigentlich edel geboren nennen soll. Dazu bemerkt der Gesprächspartner: ‚Mit Recht sagte ich, bist Du darüber im Unklaren. Denn auch von den meisten und mehr noch von den Weisen werden teils widersprüchliche, teils unklare Antworten gegeben, speziell über ihre Bewertung. Damit meine ich, ob die edle Herkunft etwas Wertvolles und Ernsthaftes, oder aber, wie Lykophron sagt, etwas gänzlich Leeres ist (kenon ti pampan). Der nämlich vergleicht sie mit anderen Gütern und meint, die Schönheit der edlen Geburt sei unscheinbar, ihre Würde liege im bloßen Wort (eugeneias men un, phesin, aphanes to kallos, en logoi de to semnon).
Im Unterschied zu Aristoteles, der die eugeneia äußerst positiv als arete genus= Vortrefflichkeit der Herkunft bezeichnet, betrachtet Lykophron also die adelige Herkunft als völlig belanglos. Anders ausgedrückt: Er wehrt sich vehement gegen jede soziale Ungleichheit und spricht sich für die Gleichheit der Menschen, zumindest der Freien aus. Ob er auch die Sklaven mit einbezieht, muß offenbleiben. Mit Sicherheit tat dies sein Zeitgenossen Alkidamas, der in einer wörtlich überlieferten Partie (bei Schol. zu Aristot. Rhetor. 1373 b 18) dezidiert egalitäre Ansichten vertrat: „Gott hat alle Menschen freigelassen, die Natur hat niemanden zu Sklaven gemacht.“
Dieser Satz stammt aus seiner Rede für die Messenier, die von den Spartanern Jahrhunderte lang als Staatssklaven gehalten wurden, jedoch im Jahr 369 v. mit Hilfe der Thebaner die Freiheit erlangten. Der Ausspruch des Alkidamas richtet sich gegen Isokrates, der in seinem Archidamos unter Berufung auf den Nomos die historischen Ansprüche Spartas verteidigt hatte. Auf diesen Satz des Alkidamas bezieht sich auch Aristoteles in seiner Rhetorik (1373 b 18), wenn er unter den Vertretern eines physei koinon dikaion = „allgemeinen Natur-Rechts“ Alkidamas und dessen Messeniakos = die Messenische Rede erwähnt. Aristoteles paraphrasiert diesen Satz außerdem in seiner Politik (p. 1253 b 20–22), allerdings, ohne die Herkunft zu nennen und ohne ihm inhaltlich zuzustimmen, da er bekanntlich unter gewissen Voraussetzungen die These vom physei dulos=dem Sklaven
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von Natur aus vertritt (vgl. pol. 1253 b 14 ff.). Aristoteles bemerkt nämlich über „andere“ , womit zweifellos erneut Alkidamas gemeint ist (pol. 1253 b 20–22): „Andere halten dagegen das Gebieten über Sklaven für naturwidrig; denn nur nach dem Gesetz sei der eine Sklave, der andere ein Freier, nach der der Natur aber bestehe kein Unterschied zwischen ihnen; deswegen sei das Gebieten über Sklaven auch nicht gerecht, denn es sei gewaltsam.“
Der Satz des Alkidamas enthält eine pauschale Verurteilung der Sklaverei, die Verkündung eines „allgemeinen Naturrechts“ (so Aristoteles, siehe oben!) bzw. eine „erste antike Menschenrechtserklärung“ (so W. Nestle39). Ich erinnere in diesem Zusammenhang an zwei ähnlich lautende Artikel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. In Artikel 1 heißt es: Alle Menschen sind freigeboren und gleich an Würde und Rechten. Artikel 4 lautet: „Niemand darf in Sklaverei oder Knechtschaft gehalten werden. Alle Formen von Sklaverei und Sklavenhandel sind verboten.“ Zusammenfassend ist zu sagen: Die bei Lykophron und Alkidamas ausgesprochene Auffassung von der Gleichheit und Freiheit der Menschen ist das Ergebnis einer Entwicklung, die mit Hippias einsetzt und danach eine kontinuierliche Steigerung erfährt: Hippias spricht einerseits von der Gleichheit der Philosophen, andererseits von der Gleichheit der Griechen. Auch bei Gorgias findet sich dieser panhellenische Aspekt. Antiphon erweitert diesen Gedanken auf das Verhältnis von Griechen und Barbaren und erklärt zwar nicht deren Gleichheit, lehnt jedoch das Überlegenheitsgefühl der Griechen ab und verurteilt dezidiert jede Form von Xenophobie. Lykophron, eine Generation jünger als die bisher genannten Sophisten, wendet sich gegen jede soziale Ungleichheit, sein Zeitgenosse Alkidamas fordert als erster die Abschaffung der Sklaverei und spricht sich generell für die Gleichheit der Menschen aus. Demnach dürfen die genannten Sophisten als Vorläufer der modernen Menschenrechte gelten, auch wenn sie keine unmittelbare Wirkung etwa auf die französische Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers vom 26. August 1789 oder auf die bereits erwähnte Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 ausgeübt haben. Ein kurzer Nachtrag: Zu den Menschenrechten im Altertum bemerkt Jacob Burckhardt40: „Menschenrechte giebt es im Alterthum überhaupt nicht und auch bei Aristoteles nicht; die Polis ist ihm nur eine Gemeinschaft von Freien.“ Burckhardt erläutert diese Aussage nicht, doch darf man sie etwa so begründen:
39 W. Nestle, a.a.O., S. 380 f. 40 J. Burkhardt, Gesammelte Werke, Bd. 19, 2002, S. 54.
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Übertrieben formuliert brauchen die Bürger der griechischen Poleis keine ausdrückliche Zuerkennung der Menschenrechte, da sie im personalisierten griechischen Staat (die Athener, die Thebaner etc.) einen wichtigen Teil des Staates bilden und ihm keineswegs wie etwa der Mensch der Aufklärung feindlich gegenüberstehen. Die Bürger der griechischen Poleis sind in vieler Hinsicht privilegiert: Es eigneten ihnen zahlreiche Rechte, die in späteren Jahrhunderten der Geschichte gewaltsam erkämpft werden mußten, z.B. aktives und passives Wahlrecht, persönliche Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit der Meinung, Freiheit des Glaubens, Recht auf Besitz. Im Umkehrschluß weist neuerdings besonders G. Agamben41 mit Recht darauf hin, daß das bloße Menschenrecht ohne Bürgerrecht völlig ineffektiv bleiben muß. In der Einleitung zu Buch VIII der Nikomachischen Ethik des Aristoteles findet sich einerseits die Aussage, daß unter Freunden kein Rechtsschutz nötig sei, andererseits der Gedanke, daß die Polis durch Freundschaft zusammengehalten werde. Auch in einer so konzipierten Gemeinschaft waren expressis verbis zuerkannte Menschenrechte entbehrlich.42
41 G. Agamben, Homo sacer, 4 Bde. 1994. 42 Freundlicher Hinweis von J. von Ungern-Sternberg.
Arbogast Schmitt
Menschenrechte in der Aufklärung und bei Aristoteles? Zur Begründung der Menschenrechte in unterschiedlichen Vernunftbegriffen
I. Die Entwicklung der Menschenrechte aus einem Bruch mit Aristoteles in der Neuzeit Die Menschenrechte gelten in einer von Wissenschaft und Politik breit geteilten Überzeugung als ‚Errungenschaften‘ der Aufklärung der europäischen Neuzeit, oft sogar mit den Attributen der Erstmaligkeit und Einmaligkeit. Die große Zustimmung zu dieser Auffassung bedeutet nicht, dass man die mittelalterlichen und antiken Vorformen und Vorstufen überhaupt nicht beachten würde1. Dass insbesondere die Sophistik2 und die Stoa der Antike3 auf der einen und das Christentum4 auf der anderen Seite viel zu den Konzepten beigetragen haben, die in unser Verständnis von Menschenrechten eingegangen sind, ist relativ gut erforscht und gewürdigt. Wenn viele dennoch in Antike und Mittelalter nur Vorformen der modernen Menschenrechte finden, liegt das – neben der grundlegenden Überzeugung, auf die sich der folgende Beitrag konzentriert, dass erst die Neuzeit ein reflexives Wissen um die Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit der Vernunft gewonnen
1 Das Verhältnis zu möglichen Konzepten von Menschenrechten in nichteuropäischen Kulturen müsste, wenn es um die Behauptung der Einmaligkeit der modernen Menschenrechtsvorstellungen geht, auch berücksichtigt werden. Dass sich dieser Beitrag auf antike Vorformen, v.a. bei Aristoteles, konzentriert, hat aber auch eine sachliche Rechtfertigung, denn in Auseinandersetzung mit ihm bzw. seinen spätantiken und mittelalterlichen Nachfolgern hat sich der für die neuen Menschenrechte maßgebliche Vernunftbegriff ausgebildet. 2 S. Klaus Meister, Sophistische Konzepte vom Menschen in ihrer Bedeutung für die späteren Menschenrechte, in diesem Band. 3 S. Sebastian Kaufmann, Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau, in: Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann (Hgg), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Bd. 1, Berlin, New York 2008, 229–294. 4 S. Reinhard Marx, Menschenrechte in christlich-sozialethischer Perspektive, in: Klaus M. Girardet u. Ulrich Nortmann (Hgg), Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 215–224. DOI 10.1515/9783110537130-009
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habe – vor allem an drei Beobachtungen: Man findet in diesen Epochen keinen vergleichbaren Katalog – und jedenfalls nicht einen vergleichbar ausgearbeiteten, vollständigen Katalog von Menschenrechten.5 Sofern derartige Rechte bereits formuliert sind, fehlt ihnen zudem, so glauben viele, die rechtliche Verbindlichkeit, die die Rechte des Individuums gegen den Staat abgrenzt bzw. die Schutzpflicht für die Gewährung dieser Rechte durch den Staat sicher stellt6. Der dritte Einwand kommt aus der Beobachtung der Stellung der Sklaven und der Frauen der Antike7. Obwohl diese Stellung in verschiedenen Phasen der Antike sehr verschieden war, scheint doch die allgemeine Feststellung berechtigt, dass entweder in der Theorie oder in der Praxis, oft auch in Theorie und Praxis, für beide Gruppen, und das schließt oft die Beziehung zu fremden Völkern und Kulturen ein, Menschenrechte bestenfalls partiell eingeräumt wurden. Die Reduzierung antiker philosophischer Äußerungen über Rechte, die in unserem Sinn als Menschenrechte gelten, auf bloße Vorstufen und ebenso von gesetzlichen Bestimmungen, die den einzelnen Mitgliedern einer staatlichen Gemeinschaft Menschenrechte einräumen, ist nicht immer berechtigt, oft sind die Unterschiede, die das Neue der Neuzeit gegenüber der Antike, v.a. gegenüber der Stoa, ausmachen sollen, nur unpräzise oder falsch ermittelt. Oft handelt es sich lediglich um Akzentverschiebungen, die die Substanz nicht berühren, die aber als Wenden ausgegeben werden.8
5 Einen solchen Katalog gibt es nach Ansicht vieler zum ersten Mal bei Grotius. S. z.B. Christian Gellinek, Staat und Völkerrecht bei Grotius, in: Staat bei Hugo Grotius, hg. v. Norbert Konegen und Peter Nitschke, Baden-Baden 2005, v.a. 67–78. Zu einer Aufzählung von Naturrechten, aus denen sich die späteren Menschenrechte entwickeln konnten, s. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, hg. v. Walter Schätzel, Tübingen 1950, I,2,1: z.B. Fremdes Gut nicht antasten, Versprechen halten, Schaden ersetzen, Verbrechen bestrafen, usw. 6 S. z.B. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, 188f., der betont, dass sich die neuzeitlichen Menschenrechte aus einer Verlagerung von natürlichen Pflichten auf die natürlichen Rechte entwickelt hätten. 7 S. Verf., Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht, Heidelberg 2016, 405–410; s. gegen die hier vertretene Auslegung z.B. Eckart Schütrumpf, Aristotle on Slavery – a Platonic Dilemma, Ancient Philosophy 13, 1993, 111–123; Wolfgang Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998, 366–382. Dass die Literatur zur Sklaverei in der Antike unübersehbar ist, betont Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, München 2013, 377 und verweist auf 5635 Arbeiten zwischen 1970 und 2000. 8 Besonders häufig findet man die Überzeugung, die modernen Menschenrechte seien ‚erst‘ durch eine Wende von objektiven zu subjektiven Rechten zustande gekommen. S. z.B. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosphie. Antike und Mittelalter, Tübingen 20062, 350ff. Zu dieser Tendenz, Akzentverschiebungen als Wenden zu verstehen, hat Hans Blumenberg eine umfangreiche Abhandlung geschrieben, in der er, ausgehend von neueren Forschungen zu Kopernikus, an der Art und Weise, wie die Umstellung eines Parameters
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Im Zentrum dieses Beitrags sollen aber nicht diese Abgrenzungsprobleme stehen, sondern der Versuch, die Stellung, die Aristoteles in der Menschenrechtstradition einnimmt, genauer zu bestimmen. Anlass dafür ist die Diskrepanz zwischen der historischen Entwicklung der Philosophie nach dem Tod von Aristoteles, die einen scharfen Bruch bedeutete und von den damaligen gegnerischen Schulen auch so empfunden wurde, und der bis heute üblichen eher linearen Vorstellung von der geschichtlichen Weiter-Entwicklung der Philosophie in der Antike. Denn Aristoteles wird (und mit ihm Platon) von sehr vielen Interpreten in eine Entwicklungsgeschichte eingeordnet, die man im Sinn einer Aufstiegsbewegung mit den Vorsokratikern und den Sophisten beginnend über diese beiden Philosophen auf die Stoa zulaufen lässt. Erst die Stoa scheint die Philosophenschule gewesen zu sein, die universelle, für alle Menschen gleich gültige Rechte und Pflichten gefordert hat. Über bestimmte Einschränkungen eher theologisch hergeleiteter universell gültiger Rechte im Mittelalter führt man diese Linie von Autoren der Frühen Neuzeit wie Francisco de Vitoria, Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf bis zu Rousseau und Kant weiter, in deren Epoche die endgültigen Formulierungen der Menschenrechte fallen sollen. Es wird die These dieses Beitrags sein, dass Aristoteles dieser Linie gar nicht zugerechnet werden kann, aber gerade deshalb Interesse als Diskussionspartner verdient.
II. Die Rezeption von Vernunftbegriffen des Hellenismus in der Neuzeit als Ursache der Abwendung von Aristoteles Inhaltlich wird die übliche Geschichte der Genese der Menschenrechte häufig als eine fortschreitende Aufwärtsbewegung beschrieben. Denn die Entdeckung universell gültiger Rechte für jedes einzelne Individuum hänge von der Entdeckung der Spontaneität und Selbstbestimmtheit der Vernunft ab9. Das ist jedenfalls die
zur Vorstellung der ‚kopernikanischen Wende‘ wurde, den Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Differenzierung und ihrer öffentlichen Rezeption über die Neuzeit hin verfolgt und sie deshalb als ein kopernikanisches Zeitalter begreift. S. Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt/Main 1981. 9 S. die exemplarische Analyse durch Gerhard Krüger, Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, in: Logos 22, 1933, 225–272; wieder abgedruckt in: G.K., Freiheit und Weltverantwortung. Aufsätze zur Philosophie der Geschichte, Freiburg/München 1958, 11–69. Krügers Aufsatz ist vor allem deshalb grundlegend, weil er sehr präzise den Unterschied zwischen antiken
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übliche Deutung der Philosophiegeschichtsschreibung. Erst das reflexiv kritische Wissen der Vernunft über sich selbst (und nicht nur über die Gegenstände, auf die sie sich richten kann) habe den Menschen von der Vorherrschaft durch Theologie und andere gesellschaftliche Autoritäten befreien und zur souveränen Verfügung über sich selbst befähigen können10. Diese Entdeckung der ihrer selbst gewissen Vernunft gilt als eine intime Entdeckung der Neuzeit, die, sieht man einmal von einigen nicht systematisch entfalteten Äußerungen radikaler Sophisten und Skeptiker der Antike ab, vor der Aufklärung der Moderne nicht möglich gewesen zu sein scheint. Als ein Hauptbeleg, der die Überzeugung bestätigt, das Wissen um die Selbstbestimmtheit der Vernunft sei eine erst in der Moderne mögliche Entdeckung gewesen, gilt der Befund, dass von Platon und Aristoteles genauso wie von den Stoikern, den Neuplatonikern der Spätantike und den Aristotelikern des Mittelalters die Vernunft des Menschen auf eine göttliche Vernunft zurückgeführt wird, in der sie ihren Grund hat und von der auch ihre Rechtfertigung abhängt. Auch bei der Zeichnung dieser Linie wird ein Bruch mit der aristotelischen Lehre, dieses Mal mit ihrer Rezeption im Mittelalter, zu wenig in Rechnung gestellt. Denn das Befreiungspathos, das mit dem ‚neuen‘ Vernunftbegriff verbunden ist, ist, historisch gesehen, unmittelbar gegen das scholastische, d.h. das von
Formen der Analyse des Denkens und dem Bewusstseinsbegriff der Moderne herausarbeitet. Das zentrale Kriterium ist: dass das Bewusstsein ausschließlich aus seiner eigenen Aktbestimmtheit verstanden wird, weil es konsequent ohne jede inhaltliche Bestimmtheit des Denkens selbst gedacht wird. Dass Aristoteles in seiner Psychologie genau das auch fordert, dass das Denken selbst keine eigenen Inhalte haben darf, weil es sonst nicht die Fähigkeit, alles zu denken, haben würde, da es durch sein Eigensein die jeweiligen Erkenntnisse verstellen würde, hat Krüger allerdings nicht berücksichtigt. S. Aristoteles, De anima III,4,v.a. 429A18-29; s. dazu Verf. Konkretes Denken. Zur emotionalen und praktischen Bedeutung des Wissens im Platonismus und Aristotelismus, in: Christof Rapp u. Tim Wagner (Hgg), Wissen und Bildung in der antiken Philosophie, Stuttgart/Weimar 2006, 287–304. 10 S. z.B. die Einleitung von Hubertus Busche zu: Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy, Hamburg 2011, 3–12; wie selbstverständlich dieses (Vor-)urteil die Forschung beherrscht, kann man auch daran erkennen, dass es in verschiedenen Geisteswissenschaften die Basis für die Beschreibung des jeweils Neuen, neu Entdeckten gilt. So kann man z.B. bei einer Beschreibung der Bedeutung der Skepsis Montaignes für Shakespeare lesen: „Als Erkenntnisquelle galt nun nicht mehr, wie in der Scholastik, die göttliche Offenbarung und Lehrmeinung anerkannter Autoritäten, sondern einzig die empirische Wirklichkeit . . . .“. S.Ulrich Ritter, Montaignes Skeptizismus und dramatisierte Skepsis bei Shakespeare, Diss. Bochum 2004, 5. Diese Wiederholung des immer Gleichen spricht nicht für die Differenziertheit der jeweiligen Interpretation.
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einem neuplatonisch interpretierten Aristoteles geprägte Mittelalter gerichtet. Von den Bevormundungen dieser Epoche befreit sich die Aufklärung. Diese Befreiung wird vollzogen als eine Rückwendung auf eine als Einheit vorgestellte Antike, die aber zeitlich vor allem auf die Phase konzentriert war, in der in der hellenistisch-römischen Welt die großen Schulen der Stoa, der Skepsis und des Epikureismus diskursführend waren.11 Grundlage dafür, dass diese im Mittelalter bekannten, aber wenig beachteten Schulen des Hellenismus wieder in den Mittelpunkt des Interesses rücken konnten, waren Entwicklungen im Aristotelismus des Spätmittelalters selbst, v.a. die im Scotismus und Nominalismus neu begründete Lehre, dass das der empirischen Beobachtung zugängliche Einzelding die Quelle aller Begriffe sei, die durch den Verstand über es gebildet werden konnten.12 Ein früher, für die Neurezeption dieser Schulen wirkungsvoller und weitreichender Impuls kam von Petrarca, der in einer polemischen Streitschrift gegen die Aristoteliker seiner Zeit deren abstruse Theorielastigkeit kritisierte. Er habe, so berichtet er dort, die ganze Ethik des Aristoteles gelesen, sei dadurch kaum gelehrter, vor allem aber in keiner Weise besser geworden. Wenn er dagegen ‚einen der Unseren‘ – und damit meint er die klassisch römischen Autoren, v.a. Cicero, Seneca und Horaz – lese, dann brenne ihm das Herz vor Begehren, besser zu werden13. Diese Unterscheidung zwischen dem bloß gelehrten Aristotelismus (sc. des späten Mittelalters) und den auf Grund ihrer sprachlich-literarischen und moralischen Qualitäten Gefühle und Handeln der Menschen bewegenden Schriften der römischen Autoren enthielt den Keim zu einer Epochenunterscheidung.
11 S. dazu Verf., Der Bruch mit der Antike des Mittelalters und der „Aufbruch in die Moderne“, in: C. Uhlig u. W. R. Keller (Hgg.): Europa zwischen Antike und Moderne. Beiträge zur Philosophie, Literaturwissenschaft und Philologie, Heidelberg 2014 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 334), 9–41. 12 S. dazu ausführlich und mit Belegen Verf., Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung, in: Arbogast Schmitt, Gyburg Radke-Uhlmann (Hgg.), Philosophie im Umbruch, Der Bruch mit dem Aristotelismus im Hellenismus und im späten Mittelalter – seine Bedeutung für die Entstehung eines epochalen Gegensatzbewusstseins von Antike und Moderne, Stuttgart 2009, 79–103. 13 S. Petrarca, De sui ipsius et multorum ignorantia. Über seine und vieler anderer Unwissenheit, übers. v. Klaus Kubusch, hg. und eingeleitet von August Buck, Hamburg 1993, 104f. dazu die immer noch aufschlussreiche Studie von Walter Rüegg, Cicero und der Humanismus, Zürich 1946 und jetzt: Jürgen Leonhardt, Petrarcas Liebe zu Cicero oder: Latein und die Sünde der Lust, in: Ulrike Auhagen u.a. (Hgg), Petrarca und die römische Literatur, Tübingen 2005, 35–54 (zur frühen Prägung Petrarcas durch Cicero).
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Denn Petrarca war überzeugt, sich von den Auswüchsen eines spätscholastischen Aristotelismus bis auf die römische Klassik zurückbewegen zu müssen, um ein Heilmittel gegen die ebenso unelegante wie wirkungslose Buchgelehrtheit der Aristoteliker seiner Zeit finden zu können. So stellte er diese ‚Antike‘ seiner eigenen ‚dunklen‘ Zeit unmittelbar gegenüber.14 Auf diese Weise wurde aus einer Kritik an den Aristotelikern des 14. Jahrhunderts eine Kritik an der gesamten Zwischenzeit zwischen ‚der‘ Antike und der eigenen Gegenwart, es entstand ein Mittel-Alter zwischen Antike und der neuen Zeit – mit der Abwendung von einer leeren ‚aristotelischen‘ Theorie in abstruser Sprache und der Hinwendung zur Praxis, vor allem zur Praxis eines guten Lebens, und mit der Suche nach einer an Cicero geschulten Erneuerung der Sprache, die fähig war, den ganzen Menschen zu ergreifen und zu bilden. Die Neuentdeckung der Antike hat ihre Besonderheit also darin, dass eine wichtige Quelle der Emphase und des Enthusiasmus, von denen sie getragen ist, die Hinwendung zu einer anti-aristotelischen Antike war.15 Der Aristoteles, der in der Neuzeit kritisiert wurde, war zwar ein scholastischer und d.h. ein durch eine neuplatonische Kommentierung rezipierter Aristoteles. Das unterscheidet den (oft sehr heftigen) Antiaristotelismus der Frühen Neuzeit von dem des Hellenismus, der sich ja unmittelbar gegen Aristoteles selbst gerichtet oder richtiger, der ihn nicht mehr zur Kenntnis genommen hatte. Da aber die Schulen der Stoa, der Skepsis und des Epikureismus in vielem Gedankengeber für das Selbstverständnis der Neuheit der Neuzeit waren (v.a. in ihrer Darstellung durch Cicero und Seneca)16, ergab sich fast zwingend die Übernahme der Hauptkonzepte dieser Schulen auch zur Abgrenzung gegen den scholastischen Aristoteles wie auch zur (später wieder einsetzenden) Neurezeption von Aristoteles selbst. Denn bereits im ersten Jahrhundert vor Christus gab es Tendenzen, die Stoa wieder mit Aristoteles zu versöhnen und von einer Harmonie der neuen Schulen mit den
14 S. T.E. Mommsen, Petrarch’s Conception of the ‚Dark Ages‘, Speculum 17, 1942, 226–242. 15 Das gilt auch umgekehrt für das Verhältnis der Aristoteliker selbst zu den hellenistischen Schulen: Noch im 3. Jahrhundert n. Chr. gibt es für den großen Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodisias keinen mehr kritisierten, ja bekämpften Gegner als die Stoa. S. v.a. Alexander von Aphrodisias: Über das Schicksal, griech.-deutsch, übers. und komm. von Andreas Zierl, Berlin 1995; bis in die neueste Forschung hinein findet man dagegen die Tendenz, Aristoteles und die Stoa einander weitgehend anzunähern. S. die Anm. 16 16 S. Jon Miller u. Brad Inwood (Hgg), Hellenistic and Early Modern Philosophy, Cambridge 2003; zu der im Folgenden vertretenden Position s. Verf., Der Bruch mit der Antike des Mittelalters und der „Aufbruch in die Moderne“, in: Uhlig, Claus und Keller, Wolfram R. (Hg.): Europa zwischen Antike und Moderne. Beiträge zur Philosophie, Literaturwissenschaft und Philologie, Heidelberg 2014, 9–41.
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großen Klassikern zu sprechen, – so z.B. bei Antiochos von Askalon, über den wir vor allem durch Cicero informiert sind.17 Auch in dieser Tendenz folgt die Neuzeit antiken Vorgaben und rezipiert Aristoteles neu unter der Vorgabe, dass er im Unterschied zu Platon, aber in Übereinstimmung mit der Stoa, die empirische Welt selbst als ein ideell geordnetes Ganzes, als ‚Kosmos‘, gedeutet habe. Während Platon ‚noch‘ an ewige, unveränderliche, rein geistige Urbilder geglaubt habe, habe er angenommen, das Allgemeine sei in den Einzeldingen selbst verkörpert. An die Stelle der universalia ante rem, seien bei ihm die universalia in re getreten. So ergibt sich in der Neuzeit nicht selten die Tendenz, Aristoteles mit Aristoteles zu bekämpfen, – den Scholastiker mit dem (hellenisierten) Empiriker. Das, was in beiden Tendenzen – der Ablehnung wie der Neuentdeckung – gleich blieb, ist aber eben das, was auch für Antiochos schon die Basis der Harmonie von Stoa und Aristoteles war: die ‚gemeinsame‘ Orientierung an der Vernunft, die von der Überzeugung getragen war, dass die Aufgabe der Vernunft darin bestehe, Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen des Denkens mit den den Sinnen gegebenen ‚natürlichen‘ Dingen herzustellen.18 Als das Kriterium, durch das erkennbar wird, ob diese Übereinstimmung gegeben ist, gilt in der Stoa die Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellung.19 Sind diese Kriterien erfüllt, ist eine Vorstellung ‚kataleptisch20‘, d.h. sie enthält den ‚Begriff‘ der Sache.
17 Zu Antiochos‘ These, zwischen der Stoa und dem Peripatos gebe es keine sachlichen Differenzen, bestenfalls Differenzen in den Formulierungen s. Cicero, De natura deorum 1, 16; eine ausführliche Darstellung der Lehrpositionen von Antiochos gibt Cicero in De finibus bonorum et malorum, Buch III und in Lucullus und den Academica posteriora. Zu Antiochos s. Woldemar Görler, Antiochos von Askalon und seine Schule, in: Hellmut Flashar, Grundriss der Philosophie. Die Philosophie der Antike Bd. 4/2: Die hellenistische Philosophie, Basel 19942, 938–980; David Sedley (Hg), The Philosophy of Antiochus Cambridge 2012. Zur Entstehung der Überzeugung einer Harmonie zwischen Platon und Aristoteles, die bei Antiochos einen wichtigen Anfang hat, aber später von den Neuplatonikern wieder klarer gegen die Stoa abgegrenzt wird, s. George K. Karamanolis, Plato and Aristotle in Agreement? Platonists on Aristotle from Antiochos to Porphyry, Oxford 2006; zu Antiochos s. S. 44–84. 18 S. dazu Marion Clausen, Maxima in sensibus veritas? Die platonischen und stoischen Grundlagen der Erkenntniskritik in Ciceros Lucullus, Frankfurt/Main 2008. 19 S. die ausführliche Darstellung der stoischen Erkenntnistheorie mit vielen Textbelegen bei Michael Krewet, Die stoische Theorie der Gefühle. Ihre Aporien. Ihre Wirkmacht, Heidelberg 2013, 27–140; v.a. 40 ff.; zur Bedeutung der klaren und deutlichen Erkenntnis in der Stoa s. v.a. Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos , hg.v. H. Mutschmann, Leipzig 1914, VII, 253–258; s. auch Michael Frede, Stoics and Sceptics on Clear and Distinct Impressions, in: ders., Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, 151–176. 20 ‚kataleptisch‘ von ‚katalambánein‘ (ergreifen) kann im Griechischen genauso wie das Deutsche ‚begreifen‘ auch metaphorisch verstanden werden, nicht als sinnliches Anfassen, sondern
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Dieses Verständnis von Vernunft wurde auch in der Neuzeit breit rezipiert21. In der Aufklärung, v.a. von Descartes über Leibniz bis Wolff ließ man das Erkennen in der Regel mit ‚dunklen und verworrenen‘ (ideae obscurae et confusae) Vorstellungen beginnen und führte diese Reihe über die ‚klaren und verworrenen‘ (clarae et confusae) Vorstellungen bis zu den ‚klaren und deutlichen‘ (clarae et distinctae), d.h. wirklich ‚aufgeklärten‘ Vorstellungen weiter. Die dunklen und verworrenen Vorstellungen gehörten zu jeder Art unmittelbarer Bekanntschaft mit den Dingen (‚immediate acquaintance‘), v.a. zur Wahrnehmung, aber auch zu Gefühl, Intuition, Genie, usw. Die ‚klaren und verworrenen‘ Vorstellungen wurden zum Bereich des common sense, des gesunden Menschenverstandes, des Geschmacks, der Urteilskraft gerechnet. Erst die klaren und deutlichen (und idealiter die adäquaten und vollständigen) Vorstellungen sollten den Bereich des begrifflichen Denkens bilden. Da Christian Wolff für die klaren und deutlichen Vorstellungen den Begriff des Bewusstseins terminologisch eingeführt und die dunklen und verworrenen daher dem Unbewussten zugewiesen hat, ist aus den allgemeinen Diskursen die Unterscheidung der verschiedenen Vorstellungsarten (von dunkel bis klar und deutlich) weitgehend verschwunden und durch die Begriffe des Bewussten und Unbewussten ersetzt worden22. Die gemeinte Sache ist aber die gleiche, wie z.B. Kant, dessen Sprachgebrauch für die Übernahme der neuen Begriffe vor allem verantwortlich ist, noch ausdrücklich macht, indem er die klaren und deutlichen Vorstellungen mit dem Bewusstsein, die dunklen und verworrenen oder undeutlichen mit dem Unbewussten gleich setzt.23 Da der Besitz der Vernunft in den Naturrechtstheorien wie in den Menschenrechtsdeklarationen die Begründung liefert, weshalb dem Menschen diese Rechte zustehen, ist die Ermittlung des Verhältnisses des hier knapp charakterisierten Begriffs von Vernunft in der Stoa wie in der Aufklärungsphilosophie zum Vernunftbegriff bei Aristoteles die wichtigste Voraussetzung, wenn geprüft werden soll, ob auch er ,bereits‘ über ein philosophisch reflektiertes Konzept von Menschenrechten verfügt haben kann.
als geistiges Begreifen. Eine kataleptische Vorstellung ist also eine Vorstellung, die das in ihr Vorgestellte begreift. 21 S. dazu ausführlich Verf., Wie aufgeklärt ist die Vernunft . . . (wie Anm. 7), 71–102. Hier auch weitere Literatur. 22 S. Ch. Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, in: Ch. Wolff, Gesammelte Werke, I. Abt.: Deutsche Schriften Bd. 3, hg. von Ch. A. Corr, Hildesheim 2012 ( = Halle und Frankfurt 17403), § 735. 23 S. Kant, Logik, Einleitung, V. Erkenntnis überhaupt – Intuitive und diskursive Erkenntnis; Anschauung und Begriff, (. . .) A 40–50 (=Logik Jäsche), in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. III, 457–463.
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Dass dieser Vergleich schwierig ist, dafür zeugt die lange Tradition neuzeitlichen Selbstverständnisses, die das Wissen der Vernunft um sich selbst als eine eigene Entdeckung verbucht und Aristoteles wie der Antike insgesamt nur einen geübten Gebrauch der Vernunft bei der Einteilung der Dinge der Welt zuschreibt.
III. Der Mangel eines Begriffs für Bewusstsein als Ursache der ‚Abhängigkeit des Denkens vom Sein‘ bei Aristoteles Über den im letzten Abschnitt besprochenen rezeptionsgeschichtlichen Befund hinaus führt auch der sachliche Vergleich der Vernunftbegriffe der Neuzeit mit dem aristotelischen in Aporien. Denn es gibt bei Aristoteles trotz vieler Begriffe für das, was in der Neuzeit Vernunft und Verstand heißen kann, (v.a. nous, diánoia, lógos) keinen dem modernen Begriff des Bewusstseins oder der mentalen Repräsentation analogen Begriff. Es gibt auch keine Auseinandersetzung mit der Bedeutung verschiedener Vorstellungsarten für die Qualität einer Erkenntnis. Obwohl Aristoteles die Begriffe des Konfusen (synkechyménos) ebenso wie der Klarheit (saphés, enargés) kennt und benutzt24, findet man keine Erklärung, wie durch den Weg von noch unaufgeklärten, dunklen Vorstellungen zu den klaren und deutlichen Übereinstimmung des Denkens mit seinen äußeren Gegenständen hergestellt werden kann und welche Kriterien garantieren, dass eine Vorstellung tatsächlich klar und deutlich ist. Auch wenn es verständlich ist, dass man bei dem Versuch, fremde Texte zu verstehen, von eigenen Begriffen ausgeht, zeugt es von einem zumindest inkonsequenten historischen Denken, wenn man dort, wo man ein solches Gegenstück nicht antrifft, einfach konstatiert, es gebe die entsprechende Sache gar nicht. Es gibt bei Aristoteles nicht nur Begriffe für Verstand (diánoia) und Vernunft (nous), es gibt auch viele Analysen und Reflexionen über die besondere Leistung dieser Formen des Denkens. Benutzt man bei dem Versuch, diese Lehrstücke zu verstehen, den eigenen Vorbegriff von Vernunft nicht einfach zu Ablehnung, sondern zur Abgrenzung, dann muss man zuerst das, was Aristoteles zum Vorstellungsvermögen zu sagen hat, untersuchen, denn an diesem Vermögen orientiert sich der neue Begriff von Vernunft der Neuzeit (wieder).
24 Aristoteles tut das gerade in seiner Analyse der Wahrnehmung. S. bes. Physik I,1, 184a16–b5.
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Tatsächlich bietet Aristoteles, insbesondere in seiner Psychologie, eine ausführliche Reflexion auf das Leistungsvermögen der Vorstellung.25 Obwohl auch er zwischen einer sinnlichen, von der Wahrnehmung abhängigen Vorstellungsart, einer ‚phantasía aisthetiké‘, und einer vom Verstand abhängigen ‚phantasía noeté‘, einer rationalen Vorstellungsart, unterscheidet26, schreibt er keiner dieser Vorstellungsarten eine eigene, aktive Erkenntnisleistung zu. Im Gegenteil, die Fähigkeit, einen Unterschied zu machen (krínein) und etwas als wahr oder falsch zu erkennen, kommt seinem Urteil nach nur der Wahrnehmung (aísthesis), dem Meinen (dóxa), dem rationalen Denken (diánoia) und dem intellektiven Einsehen (nous) zu27. Die Vorstellung hat ihre Inhalte von diesen Vermögen und ist dementsprechend sinnlich oder rational und hat auch die Qualität, wahr oder falsch zu sein, von diesen direkten Erkenntnisvermögen. Sie selbst ist im Sinn dieser Analyse nicht etwa unbedeutend, aber sie ist kein aktives Erkenntnisvermögen, sondern ein Medium, ein Vermögen, das sinnlich Wahrgenommene oder rational Begriffene auf eine raumzeitliche Weise zu vergegenwärtigen und es durch diese Repräsentation des Wahrgenommenen oder Gedachten dem Erkennenden präsent zu halten oder zu machen. Obwohl von Aristoteles her gesehen diese beiden Vernunftbegriffe in einem sachlichen Verhältnis zueinander stehen – erst muss man etwas durch eine sinnliche oder gedankliche Leistung unterschieden haben, dann kann man es sich in der Vorstellung bewusst machen, repräsentieren – nimmt es nicht wunder, dass dort, wo Vernunft mit Bewusstsein (oder mentaler Repräsentation) gleichgesetzt wird, allen aristotelischen Analysen der verschiedenen Leistungen der Vernunft das Entscheidende zu fehlen scheint: die spontane Aktivität und die aus dem Wissen um sie gewonnene Selbstbestimmtheit der Vernunft. Für das Bewusstsein ist der gesehene Baum, die gefühlte Angst, der geniale Einfall etwas, das es in sich vorfindet, sie sind da, sind ohne Bewusstsein zustande gekommen und erscheinen deshalb als etwas, das das Denken von außen empfangen hat. Die eigene Aktivität des Bewusstseins beginnt mit der ‚Arbeit‘ an den in ihm repräsentierten Gegenständen. Sie beginnt mit dem Zergliedern des ‚gegebenen‘ Gesamteindrucks, mit dem Trennen und Verbinden der Elemente, usw., insgesamt in der Aufklärung des dunkel Empfangenen. Da Aristoteles zu diesen Aktivitäten keine Erklärungen bietet, kritisierten ihn schon Anhänger seiner Schule in der Renaissance. Er habe dazu, wie aus 25 S. Verf. Wie aufgeklärt ist die Vernunft . . . (wie Anm. 7), 27–36. 26 S. v.a. De anima III, 10, 433b29; s. dazu Viviana Cessi, Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt/Main 1987, 104–127, v.a. 120f. 27 S. die allgemeine Feststellung De anima III, 3, 428a 4-6 und die Durchführung des Nachweises, dass nur die Vermögen der Wahrnehmung, der Meinung und des diskursiven und intellektiven Denkens selbständige Erkenntnisleistungen erbringen: 428a 6–428b 10.
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einer ‚subnotio‘, einem noch vorbegrifflichen Bemerken, ein distinkter Begriff entsteht, nichts Klares gesagt (non plane dixit).28 Dort, wo in heutiger Forschung nicht einfach vom einem als selbstverständlich vorausgesetzten Begriff des Bewusstseins geurteilt, sondern der Versuch gemacht wird, ausdrücklich nach Vergleichbarem bei Aristoteles zu suchen, kommt man zu einem gleichen Ergebnis: Es hat sich gezeigt, dass für beide Denker (sc. Platon und Aristoteles) das Bewusstsein nicht selbstschöpferisch und autonom ist, sondern dass es seinen Inhalt vom Seienden empfängt.29
IV. Die theologische Überlastung der Empirie als Bedingung der universalen Gültigkeit von Menschenrechten (im Hellenismus und der Neuzeit) Die im letzten Abschnitt behandelte Kritik (sogar) am Begriff der Vernunft bei Aristoteles und damit der Antike überhaupt ist wohlbekannt und entspricht im Wesentlichen immer noch dem Selbstverständnis der neuzeitlichen Philosophie von Descartes über Kant bis Hegel. Kaum Gegenstand einer eigenen Forschung ist dagegen die theologische Überlastung der Empirie, die v.a. durch die StoaRezeption in den neuen Vernunftbegriff einging und bis in die Gegenwart die Voraussetzung für die Überzeugung von der universalen Gültigkeit der Menschenrechte bildet. Denn dass diese Rechte allen Menschen über alle Unterschiede des Geschlechts, der Klasse, der Ethnizität30 in gleicher Weise zukommen, kann nur gesagt werden, wenn diese Rechte auf keine Weise von geschichtlichen und kulturellen Entwicklungen abhängig sind, sondern Rechte, mit denen man geboren wird, die also in der Natur des Menschen liegen. Die von vielen geteilten skeptischen Einwände gegen den mit dieser Überzeugung verbundenen ‚Essentialismus‘, für den es eine substantiell feste Natur des
28 S. dazu Thomas Sören Hoffmann, Dimensionen des Erkennens bei Girolamo Fracastoro, Vivarium 41, 2003, 144–174, hier 167. 29 S. Klaus Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewußtseinsproblems in der Antike, München 19842, 250f., 260f. 30 Martha Nussbaum, Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität, München 2015, 137 (= Creating Capabilities. The Human Development Approach, Harvard University Press, 2011), 129.
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Menschen mit unveränderlichen Grundeigenschaften gibt, machen einen guten Teil der Schwierigkeiten aus, die bis heute eine Einigung über das behindern, was für alle verbindlich zu den Menschenrechten gehört – und in welcher Weise und welchem Ausmaß es dazu gerechnet werden darf. In Bezug auf die Menschenrechte gibt es in den Diskursen der Gegenwart das Paradox, dass sie einerseits als Produkt der Aufklärung, und das heißt vor allem: der Aufklärung der Vernunft über sich selbst, akzeptiert werden und als universal verbindlich gelten, während andererseits ein verbindliches Wissen über die Vernunft und die von ihr geprägte Natur des Menschen weder in der Philosophie noch in den Naturwissenschaften für möglich gehalten wird. Einen wirklichen Schlüssel zum Verständnis dieses Paradoxons findet man, wenn man sich an die stoischen Grundlagen erinnert. Bereits die Stoiker hielten die platonischen Ideen für bloße Namen oder Begriffe, deren Bildung ihnen allein auf empirischem Weg möglich schien, dennoch waren sie überzeugt, dass alles Geschehen in der Welt, das menschliche wie das natürliche, bis ins Innerste von einer göttlichen Vernunft durchdrungen und geleitet war. Grund für diese Vereinbarung des Unvereinbaren ist die Stringenz, mit der die Stoiker die Konsequenzen aus genau der Überzeugung gezogen haben, die auch in der Neuzeit und weithin bis heute die Basis für dogmatisch-realistische wie skeptische Positionen bildet. Diese Basis ist: Die Begriffe des Denkens werden durch Abstraktion aus Beobachtungen von Einzeldingen gebildet. Diese Begriffe sind – oder wären – dann wahr, wenn ihre (Vorstellungs-) Merkmale mit den (realen) Eigenschaften der Dinge übereinstimmen. In der Antike jedenfalls teilen diese Basis die Skeptiker mit den ‚Dogmatikern‘ (d.h. der Stoa). Die Stoiker behaupten, dass es ‚Kriterien der Wahrheit‘, eben die Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen, gibt, an denen diese Übereinstimmung sicher festgestellt werden kann, die Skeptiker bestreiten genau diese Überzeugung, indem sie von vielen Aspekten her zeigen, dass auch die scheinbar deutlichste Evidenz in der Vorstellung (d.h. in der Terminologie Wolffs: im Bewusstsein) nur bezeugt, wie etwas uns erscheint, aber keine Garantie für die Übereinstimmung mit der Realität bietet. Die Besonderheit der stoischen Position ist, dass sie die Voraussetzung, die beide, die Realisten wie die Skeptiker, teilen, ausdrücklich machen und konsequent zu Ende denken. Ihre Argumentationskette kann etwa so rekonstruiert werden: Wenn die mit der menschlichen Vernunft gebildeten Begriffe dann wahr sind, wenn diese Begriffe von den Dingen der Welt selbst gewonnen sind, dann sind die Dinge selbst ‚wohlbestimmt‘, sind ‚res omnimode determinatae‘, d.h. sie enthalten in sich alle die begrifflichen Bestimmungen ‚wirklich‘, die das Denken ‚idealiter‘
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aus ihnen abstrahieren kann, noch genauer: sie enthalten diese Bestimmungen vollständig und ursprünglich in sich, während das Denken sie nur partiell und abgeleitet und von seinen Modi der Vergegenwärtigung überformt besitzen kann (mit Ausnahme des stoischen Weisen). Die aus Sicht der Stoa zwingende Folgerung ist, dass die Welt von einer universalen Vernunft durchdrungen sein muss, die für alle Einzeldinge und deren Veränderungen die notwendige und zureichende Ursache ist. Nur sie kann die Wohlbestimmtheit der Dinge garantieren und damit auch der Begriffe, die wir von den Dingen abstrahieren oder über sie bilden können. Diese für die Formung und Wandlung der Welt verantwortliche Vernunft identifiziert noch Seneca unmittelbar mit Gott: Ratio scilicet faciens, id est deus. Die Vernunft, d.h. die schaffende, das ist Gott.31
Diese in der Welt schaffende Vernunft darf man nicht, wie dies manchmal in der Spinoza-Rezeption geschehen ist, pantheistisch verstehen. Seneca meint nicht, alle Dinge der Welt seien unmittelbar eins mit Gott oder dem Göttlichen. Das Gemeinte ist: die göttliche Vernunft ist die der Welt immanente Ursache (causa) aller Dinge. Diese Dinge gelten in der Stoa aber als von der schaffenden Vernunft, der später sogenannten ‚natura naturans‘ hervorgebracht, sie manifestiert ihre unerschöpfliche Schaffenskraft in ihnen, ist aber mit keinem von ihnen identisch. Als Ursache ist die göttliche Vernunft also allen Dingen transzendent, als schöpferisches Prinzip ist sie der Welt immanent. Für die Konzeption von Natur-und Menschenrechten ergibt sich aus dieser ‚immanenten Transzendenz‘ des Göttlichen in der Welt, dass die menschliche Vernunft ihren Grund und ihr Maß an einer in der Welt wirkenden göttlichen Vernunft hat. Die Rechte und Pflichten, die der Mensch als Vernunftwesen hat, kommen ihm deshalb ‚von seiner Natur her‘ zu. Das Wissen über sie wird nicht, wie Cicero von der Stoa berichten lässt, gewonnen wie irgendein kreatives technisches Wissen, sondern eher wie das Können eines Schauspielers oder Tänzers, d.h. wie von jemandem, der etwas Anderes nachvollzieht. Wissen, das diesen Namen wirklich verdient, ist das Wissen um die Aufgabe, der Natur gemäß und mit ihr übereinstimmend zu leben (congruenter naturae convenienterque vivere).32 Diese theologische Überlastung des Verständnisses von Natur wird heute von kaum einer philosophischen Position mehr geteilt, sie ist aber von der Sache her die Voraussetzung für die universale Gültigkeit von Natur- und Menschenrechten.
31 S. Seneca, Briefe an Lucilius 65, 12. 32 S. Cicero, De divinatione III, 21–26.
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Dazu kommt, dass die hier nur kurz skizzierte erkenntnistheoretische Basis, die die Stoa und Skepsis der Antike gemeinsam haben, auch heute noch weitgehend unangefochten ist. Nach einer ausführlichen Diskussion der Probleme und Aporien des Empirismus kommt z.B. R. M. Burian zu dem Ergebnis: Auch wenn die wichtigsten Lehren des logischen Empirismus . . . ganz abgelehnt würden, würde das den grundlegenden Einsichten des Empirismus nicht den Boden entziehen – nämlich, daß die Welt, nicht die menschliche Vernunft der Schiedsrichter über alle substantiellen Aussagen mit Wahrheitsanspruch ist, und daß die Erfahrung die vorrangige Quelle des Wissens über die Welt ist.33
Die vielfache Gewohnheit, in diesen Bahnen zu denken, sollte den Absolutheitsanspruch, der hier mit ‚der Welt‘ verbunden wird, nicht übersehen. Alle substantiellen Wahrheiten haben demnach ihren Ursprung in der Welt, die also so, wie sie empirisch vorfindbar ist, selbst substantiell wahr sein muss. Dies entspricht der seit dem Nominalismus des späten Mittelalters in die Neuzeit eingegangenen Überzeugung, dass die wahre Katze die wirklich existierende Katze ist34, nicht eine Idee im Denken von ihr, usw., und dass deshalb das der Sinneserfahrung ‚gegebene‘ Ding und nicht das Denken wahre Erkenntnisse liefert.
V. Probleme mit der universalen Gültigkeit von Rechten, die dem Menschen ‚von seiner Natur her‘ zukommen Für die Natur- und Menschenrechtsdebatte folgt aus der im letzten Abschnitt besprochenen theologischen Überhöhung der (empirisch gegebenen) Natur, dass auch die menschliche Natur ein Produkt dieser (äußeren) Natur ist. Der Mensch wird mit der Fähigkeit zur Vernunft geboren. Das ist der Grund dafür, dass ihm eine Reihe von Rechten, die mit dieser in seiner Natur liegenden Fähigkeit gegeben sind, uneingeschränkt und unverlierbar zustehen. Das klingt überzeugender, als es ist. Auf jeden Fall ist es auch in unserem Sinn inkonsequent, denn dort, wo eine solche Fähigkeit offenkundig nicht
33 S. R.M.Burian, Artikel Empirismus, in: J. Speck (Hg), Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd.1, 157, Göttingen 1980. 34 Auf diese lange Tradition weist Charles Peirce nachdrücklich in einem viel zitierten Statement hin: All modern philosophy is built on Ockhamism. S. Charles Hartshorne u. Paul Weiss (Hgg), C.P., The Collected Papers of Charles Sandes Peirce, Harvard University Press 1935, Vol. 5, 61.
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vorliegt, z.B. bei kleinen Kindern, schränken wir diese Rechte ganz oder teilweise ein. Diese Einschränkung kann man – wieder mit der Stoa – als in der Natur begründete Ausnahme rechtfertigen. Denn erst wenn die Vernunft eines Menschen gleichsam ausgewachsen ist, im Sinn der Stoa etwa im 14. Lebensjahr, verfüge der Mensch genauso naturgemäß über seine Vernunft wie er etwa von der Zeit an, nach der er seine Fähigkeit zu laufen entwickelt hat, frei und selbstbestimmt mit dieser Fähigkeit umgehen kann. Aber auch nach dem ‚naturgemäß‘ entwickelten Besitz der Vernunft ist es keineswegs so, dass in der gegenwärtigen Praxis alle Menschenrechte uneingeschränkt allen zugestanden werden. Im Gegenteil, es gibt auch heute kaum ein Recht, dem nicht bestimmte Grenzen gesetzt werden. Nicht jede Meinung darf frei geäußert werden, nicht jede Religion ausgeübt, jeder Beruf ergriffen werden. Nicht überall und allen steht Versammlungsfreiheit zu, auch das Recht auf Eigentum findet, sogar wenn es rechtmäßig erworben ist, seine Grenzen, selbst das Recht auf Leben steht nicht jedem unverlierbar zu (z.B. nicht dem verbrecherischen Diktator), usw. Ziemlich große Unsicherheit herrscht allerdings auch, ja gerade heute über die Kriterien, die zu derartigen Einschränkungen berechtigen. Das genau ist der Punkt, von dem aus sich die Beschäftigung mit Aristoteles als fruchtbar erweist. Denn er macht einen Unterschied zwischen einer angeborenen Vernunft und einer Vernunft, die aus dem (reflexiven) Wissen um die Kriterien, durch deren Anwendung sie ihre Erkenntnisse gewinnt, überhaupt erst zu einer freien und selbstbestimmten Verfügung über sich fähig ist. Die angeborene Vernunft besitzen wir ‚von Natur aus‘ (physei). Diese Natur ist nach Aristoteles aber nicht die wahre Natur der Vernunft, sondern lediglich eine noch relativ unbestimmte natürliche Fähigkeit, sie zu entwickeln. Er unterscheidet daher diese beiden Naturbegriffe mit Hilfe der Begriffe des potentiell Möglichen und Wirklichen (wirklich Tätigen). So wie man durch die angeborene Natur über die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen, verfügen kann, und wie in dieser Natur die tatsächliche Fähigkeit, eine Sprache zu beherrschen nur angelegt, nicht wirklich vorhanden ist, so ist es auch bei der Vernunft im Allgemeinen.35 Sie ist nicht einfach aus der Natur im modernen Sinn des Wortes ableitbar, sondern hat ihre eigenen Bedingungen, die aus der Reflexion auf die Fähigkeit zu vernünftigem Denken erst erschlossen werden müssen und durch die erst das natürliche Potential entfaltet werden kann.
35 S. De anima 414a 410; 417a 22-30; s. dazu jetzt Andree Hahmann, Aristoteles‘ Über die Seele, Stuttgart 2016, 105–107 und v.a. Wolfgang Bernard, Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, 53–59.
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VI. Zur Unterscheidung zweier Naturbegriffe durch Aristoteles Bevor wir uns der Unterscheidung verschiedener Naturbegriffe durch Aristoteles genauer zuwenden, soll eine Erinnerung an Platon36 eine Hinführung bieten, die am konkreten Exempel deutlich macht, dass es sich auch um eine plausible Unterscheidung handelt. Am Beginn seines Dialogs über den Staat fragt Sokrates einen reichen, alten Mann, was für ihn die höchsten Werte in seinem Leben gewesen seien, an die man sich halten müsse, wenn man ein gutes Leben führen wolle. Die Antwort des alten Kephalos ist: Er habe auf Grund der Unabhängigkeit und Freiheit, die ihm sein Reichtum geboten habe, immer fremdes Eigentum respektieren und immer die Wahrheit sagen können. In seiner Antwort stellt Sokrates zwar nicht in Frage, dass es meistens gut ist, sich an diese Normen zu halten, aber er bestreitet ihre universelle Gültigkeit mit einem Beispiel: Wenn man von jemandem in einer Zeit, als dieser bei Verstand war, Waffen in Empfang genommen hat, die dieser in einem Zustand des Wahnsinns zurückfordert, werde man dann sein Eigentum respektieren und es ihm zurückgeben? Und werde man ihm die Wahrheit sagen, wenn er behauptet, man besitze diese Waffen? (Politeia 331c). Um den Eindruck zu vermeiden, diese Einschränkung des Eigentumsrechts gelte nur bei völligem Verlust der Vernunft, verallgemeinert Sokrates sein Beispiel und fragt, ob man nicht grundsätzlich, wenn jemand auf widervernünftige Weise die Respektierung seines Eigentums einfordert, diese Forderung ablehnen müsse (ebda 331e–332a1). Natürlich stimmt der alte Kephalos sofort zu, dass man in diesem Fall weder das Recht auf Eigentum noch die Pflicht der Aufrichtigkeit gegenüber anderen beachten müsse, und belegt damit, dass es bereits Sache eines erfahrenen Menschenverstands ist, die Beschränktheit universalisierter Regeln einzusehen. Auch der Grund für seine Zustimmung liegt bei diesem Beispiel auf der Hand: der Wahnsinnige ist nicht in der Lage, mit Vernunft frei über sich zu bestimmen, er weiß in diesem Zustand nicht, was wirklich gut für ihn ist.37
36 S. zum Folgenden Verf., Gerechtigkeit bei Platon. Zur anthropologischen Grundlegung der Moral in der Platonischen Politeia, in: D. De Brasi u. S. Föllinger (Hgg.), Anthropologie in Antike und Gegenwart. Biologische und philosophische Entwürfe vom Menschen, Freiburg 2015 (Lebenswissenschaften im Dialog, Bd. 18), 279–328, v.a. 279ff. 37 Das Beispiel benutzt (ohne auf Platon zu verweisen) noch Thomas von Aquin, um daran das grundsätzliche Problem zu lösen, dass Naturrechte eigentlich unveränderlich (immutabilia) sein müssen, etwas Unveränderliches aber ‚in rebus humanis‘ nicht vorgefunden werde (non invenitur). So beruhe es auf einer ‚naturalis aequalitas‘, dass man übernommenes Eigentum zurückgebe. Wäre die menschliche Natur immer fehlerfrei, müssten solche Rechte auch immer
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Dies zu erkennen ist nicht von einer metaphysisch spekulativen Erschließung ‚des‘ Guten abhängig, sondern ist Sache einer praktischen Vernunft, allerdings einer Vernunft, die Kriterien benötigt, wann und bis zu welchem Ausmaß eine allgemeine Regel angewendet werden kann und wann nicht. Die Einschränkung von Natur- oder Menschenrechten durch Kriterien, die unterschiedlichen Anlässen zu entsprechen versuchen, steht aber, so scheint es, in einem grundlegenden Widerspruch zum Anspruch der Unverlierbarkeit, Unveräußerbarkeit und der für alle gleichen Gültigkeit dieser Rechte. Der Widerspruch ergibt sich, wie ich zu zeigen versucht habe, aus der Gleichsetzung der vernünftigen ‚Natur‘ des Menschen mit einer angeborenen Natur des Menschen, die sich in einem im heutigen Sinn ‚natürlichen‘ Prozess der Entwicklung ausgebildet hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser natürliche Werdeprozess als von einer göttlichen Vernunft oder als von ‚der‘ Evolution gesteuert gilt. Die Folge ist in jedem Fall eine Fixierung auf das von Natur aus Vorhandene, der Empirie Vorliegende. Von Aristoteles kann man lernen, dass das ein zu undifferenzierter Naturbegriff ist. Das, was wir in aller Regel als die Natur eines Löwen, eines Menschen verstehen, ist nicht die Natur, mit der etwas zur Welt kommt. Ein junger Löwe z.B. hat noch nicht seine Löwennatur, obwohl er als natürliches Lebewesen ‚Löwe‘ schon existiert. Er kann diese Natur – im Sinn seiner Wesensbestimmtheit – gewinnen und auch wieder verlieren, z.B. im Alter, durch Krankheit oder dadurch, dass er seine natürlichen Anlagen nicht übt, etwa im Zoo oder durch Zähmung. Die Natur im Sinn des Wesens ist also nicht identisch mit dem natürlichen Lebewesen, das seine Natur, d.h. das, was es sein kann, ganz,
gewahrt werden. Da es aber auch Depravationen der Vernunft und des Willens beim Menschen gebe, – wie wenn z.B. ein Wahnsinniger (furiosus) oder ein Feind des Staates übergebene Waffen zurückfordere – gebe es bestimmte Fälle, in denen ein Eigentum nicht zurückgegeben werden dürfe (est aliquis casus in quo depositum non est reddendum). S. Summa theologiae 2–3. q 57 a2 ad primum. Der Titel der Quaestio ist: Utrum ius convenienter dividatur in ius naturale et ius positivum. Dass das gewählte Beispiel auch von Platon exemplarisch gemeint ist und auf viele andere allgemein akzeptierte Werte auch bezogen werden soll, zeigen die sog. aporetischen Frühdialoge. Es gibt keinen Wert in der Polis, den Sokrates nicht ‚destruiert‘, indem er seine Allgemeingültigkeit in Frage stellt. Wenn Tapferkeit als ein ‚Standhalten vor dem Feind‘ ausgegeben und gefordert wird, zeigt er, dass es Situationen gibt, in denen gerade die Flucht das eigentlich Tapfere ist. Oder wenn Besonnenheit als abwägend ruhiges Verhalten definiert wird, zeigt er, dass auch ein schnelles, wendiges Denken besonnen sein kann, usw. Grund ist nicht, wie bereits die Politeia klar macht, in der alle diese Werte als einer vernünftigen Erklärung zugänglich gelten, dass Platon gegen jedes Wertverständnis Skepsis zeigen wollte, sondern dass er diese Werte auf andere, nicht positivistisch festgelegte Weise definieren wollte, indem er sie ähnlich wie auch noch Aristoteles aus einem bestimmten Verständnis der Differenziertheit der menschlichen Fähigkeiten abzuleiten versuchte. S. Verf. wie Anm. 36.
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teilweise oder nur in sehr geringem Grad verwirklichen kann. Sie entwickelt sich daher auch nicht einfach auf natürliche Weise, sondern sie muss betätigt, geübt, entfaltet werden.38 Wie Aristoteles sagt, wird aus Übung auf diese Weise Natur, aber eben eine zweite, die tatsächliche Natur, die etwas oder jemand hat39/40.
VII. Die Natur des Menschen: spekulativ erschlossener Wesenskern oder entwickelbare Potenz? Zur Bedeutung des Begriffs der Fähigkeiten für das Verständnis von Menschenrechten bei Aristoteles Aus der Beobachtung der Differenz zwischen zwei ganz verschiedenen Weisen, wie man ‚Natur‘ verstehen kann, ergibt sich auch ein Begriff von der ‚Natur‘ des Menschen, der nicht auf einen spekulativ erschlossenen Wesenskern gegründet ist, der in allen Veränderungen des Menschen das identische Substrat bilden soll, sondern auf eine Reflexion auf die Fähigkeiten und Vermögen, über die der Mensch verfügt. Diese in den aristotelischen Texten gut belegbare Besonderheit, dass er das, was das Wesen oder die Natur von etwas ist, nicht aus erschlossenen Konstanten zu erklären versucht, sondern aus den Vermögen und Fähigkeiten,
38 S. Metaphysik IX, 5, v.a. 1047b 31ff. mit dem Hinweis auf Übung (Ethos) und Lernen (Mathesis), die als wirkliche Aktivitäten zu den angeborenen und in diesem Sinn natürlichen Vermögen dazu kommen müssen, damit sie sich sachgemäß und in diesem Sinn ihrer Natur gemäß entfalten. 39 S. v. a. Rhetorik I, 11, 1370a 3-14. Die Stelle ist auch wichtig für den Zusammenhang von Lust und Natur, d.h. der mit der naturgemäßen Entfaltung der eigenen Anlagen verbundenen Lust. 40 Im Verständnis heutiger Naturwissenschaften könnte man dieses Natur werden des Eingeübten z.B. an solchen Fällen erklären, bei denen in der ‚Evolution‘ entstandene genetische Programme nicht oder nicht mehr vorhanden sind. Wenn etwa bei einem Menschen bestimmte motorische Programme in der Großhirnrinde ausgefallen sind, ist es möglich, durch gezieltes Üben neue ‚Codes‘ im Gehirn anzulegen, die diese genetisch nicht vorhandenen Programme ersetzen können, so dass ein Mensch, der scheinbar ohne Bewegungsfähigkeit geboren wurde, sich wieder bewegen kann. In analoger Weise muss auch (nur) weiterführendes Lernen und jede Form einer Entwicklung als eine Neuformung vorhandener Programme, oder richtiger: schon programmierten Materials, verstanden werden, in denen das Gelernte zur neuen Natur wird. S. z.B. Lutz Jäncke, Lehrbuch kognitive Neurowissenschaften, Bern 2013; grundlegend für die Entdeckung dieser Plastizität: Donal Oding Hebb, The Organization of Behavior: A Neuropsychological Approach, New York 1949.
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über die etwas verfügt, ist in der Forschung viel zu wenig beachtet. Die aristotelische Grundregel kann man in dem Satz zusammenfassen: Wer wissen will, wer er ist, muss prüfen, was er kann. In aristotelischen Worten: Alles wird nach seiner (aktiven) Leistung und dem Vermögen dazu definiert (oder: bestimmt) Pánta de to érgo hóristai kai te dynámei, (Politik 1253a23).
Anders als für das, was als der ‚unverlierbare‘ Grund und ‚die‘ Natur des Menschen nur spekulativ erschlossen werden kann, gibt es für die Erkenntnis eines Könnens Kriterien. Denn jedes Können kann etwas Bestimmtes: . . . das, was eine Fähigkeit hat, zu etwas Bestimmtem fähig, und zwar zu bestimmter Zeit und auf bestimmte Weise und was sonst noch in die Begriffsbestimmung aufgenommen werden muss, . . . .41
In der Reflexion auf die Bedingungen dieser je bestimmten Fähigkeiten können, so ist Aristoteles überzeugt, die Kriterien gewonnen werden, die nötig sind, damit natürlich vorhandene Anlagen richtig erkannt und dann auch verändert und entwickelt werden können. Dass Aristoteles diese Überzeugung gewinnen und auch begründen konnte, setzt allerdings voraus, dass er Fähigkeiten zuerst von ihnen selbst her zu verstehen versucht hat, d.h. von den Bedingungen her, die erfüllt sein müssen, damit sie überhaupt verwirklicht werden können. Dass man das eigens betonen muss, liegt daran, dass gerade heute häufig Fähigkeiten von dem Nutzen her beurteilt werden, für den sie eingesetzt werden können. Dieser Nutzen gilt dann, z.B. in vielen Evolutionstheorien, als Ursache, weshalb sich diese Fähigkeiten überhaupt entwickelt haben. Auf einen solchen, am möglichen Nutzen orientierten Begriff von Fähigkeit stützt sich auch Martha Nussbaum bei ihrer (an sich berechtigten) Kritik an der oft inhaltsleeren und nur negativen Formulierung der modernen Menschenrechte. Gefordert werde durch diese Rechte lediglich, dass die politischen Gemeinschaften in diese Rechte nicht eingreifen bzw. dass sie ihre Mitglieder vor Eingriffen in sie schützen müssen, etwa vor einer Beeinträchtigung des Rechts auf freie Meinung, auf Freiheit der Religion, der Berufswahl, usw. Bestimmte Inhalte, von denen her man verstehen oder erlernen könnte, worin diese Freiheiten bestehen, gibt es nicht. Sie gelten eben deshalb als Freiheiten, weil es jedem Einzelnen frei steht, was er darunter versteht und wie er sie in Anspruch nehmen will.
41 Metaphysik 1047b 35 – 103a 2.
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Ein solches rein formales Verständnis von Menschenrechten genügt Martha Nussbaum nicht. Die politischen Gemeinschaften müssen mehr bieten. Dieses Mehr gewinnt sie aus einem Rückgriff auf Aristoteles, von dem sie die Einsicht übernimmt, dass menschliche Fähigkeiten zuerst unentfaltet vorliegen und auf die Unterstützung durch die Umwelt angewiesen sind.42 Mit Aristoteles legt auch Martha Nussbaum großes Gewicht auf die Unterscheidung zwischen einem bloßen Erhalt des Lebens und einem guten, d.h. alle positiven Möglichkeiten eines Individuums entfaltenden und ausschöpfenden Leben, und sieht die Aufgabe der staatlichen und auch der überstaatlichen Gemeinschaften darin, allen ihren Mitgliedern die Bedingungen zur Entwicklung eines guten Lebens zur Verfügung zu stellen. Ihre eigene Liste der ‚Central Human Functional Capabilities‘43 weicht aber in mehreren Aspekten von Aristoteles ab. Hauptgrund der Abweichungen ist Nussbaums Kritik an den schwerwiegenden Beschränkungen, denen das Denken des Aristoteles unterliegt.44 Aristoteles, so stellt sie fest, schien die grundlegende Idee menschlicher Gleichheit zu fehlen, des Wertes, den alle Menschen über alle Unterschiede des Geschlechts, der Klasse und der Ethnizität hinweg teilen.45 Obwohl sie mit Aristoteles das wichtigste Grundrecht des Menschen in dem Recht auf Bildung, d.h. auf Entfaltung, Entwicklung der vorhandenen Fähigkeiten erkennt, behandelt sie die in ihre Liste aufgenommenen Fähigkeiten – z.B. die Fähigkeit, ein normal langes Leben zu führen, eine gute Gesundheit zu genießen, sich frei von Ort zu Ort bewegen zu können, sicher vor Verletzungen zu sein, Sinne, Einbildungskraft und Denken benutzen zu können, usw. -wie Menschenrechte im modernen Sinn des Wortes, d.h. wie etwas, was jedem Menschen in gleicher Weise und ohne Unterschied ‚von Natur aus‘, d.h. bereits mit der Geburt, zukommt. In ihrer daraus resultierenden Kritik an Aristoteles übergeht auch sie allerdings seine Unterscheidung zwischen Zielen, um derentwillen man eine Fähigkeit erwirbt und einsetzt, das nennt Aristoteles ein ‚telos hoo‘ (Ziel wofür), und Zielen, auf die hin alles, was zur Verwirklichung einer Fähigkeit gehört,
42 S. Martha Nussbaum, Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität, München 2015, 137 (= Creating Capabilities. The Human Development Approach, Harvard University Press, 2011). 43 S. Martha Nussbauch, Aristotle on Human Nature and the Foundations of Ethics, in: J.E.J. Altham und Ross Harrison (Hgg), World, Mind, and Ethics. Essays on the Ethical Philosophy of Bernard Williams, Cambridge 1995, S. 86–131; s. auch dies., Die Verteidigung universaler Werte in einer pluralistischen Welt, Frankfurter Hefte 49, 2002, 4. 44 S. wie Anm. 42, S. 128f. 45 S. ebda 129.
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ausgerichtet sein muss (telos hou, Ziel wovon, woraufhin), damit sie überhaupt als diese bestimmte Fähigkeit zustandekommen kann.46 Vermutlich hat Aristoteles mit dieser Unterscheidung die phänomenale Evidenz auf seiner Seite, auch wenn sie heute besonders oft, v.a. in den Naturwissenschaften, unbeachtet bleibt. Wenn etwa die Frage gestellt wird, weshalb der Mensch einen aufrechten Gang entwickelt hat, dann verweist man auf die Vorteile, die eine solche Fähigkeit für die Anpassung an das Leben in einer Savannenlandschaft gebracht habe, z.B. dass die Hände nicht mehr zur Fortbewegung genutzt werden mussten, sondern frei waren für andere Aufgaben, Nahrungsgewinnung, Herstellung von Werkzeugen, usw. Selbst wenn das alles richtige oder sogar notwendige Bedingungen für das Bedürfnis, aufrecht zu gehen, sind, sie erklären in keiner Weise, was der Mensch erlernen musste, um überhaupt aufrecht gehen zu können – mit welchem Ziel auch immer. Denn um die Fähigkeit, aufrecht zu gehen, zu erlernen, muss man zumindest den Unterschied von senkrecht und waagrecht bemerken. Zum Gehen überhaupt gehören natürlich noch viel mehr Unterschiede: gerade und im Kreis (und dann viele Zwischenformen zwischen diesen Grundmöglichkeiten), vorne und hinten, vorwärts und rückwärts, langsam und schnell, usw. Die Ziele, die man durch die Entwicklung und Ausübung einer bestimmten Fähigkeit erreichen wollte, können sehr verschieden sein. Sie lassen sich daher nicht klar ermitteln und bestimmen. Anders ist es, wie schon dieses eine Beispiel plausibel macht, wenn man (in reflexiver Rückwendung auf das eigene Können) fragt, welche Bedingungen vorhanden sein und wie sie zusammenwirken müssen, damit überhaupt eine bestimmte Fähigkeit zustande kommt.
VIII. Von der Wahrnehmung zum Wissen: Über den Weg der Vernunft zu sich selbst Von der Frage, was ausmacht, dass eine Fähigkeit ein ganz bestimmtes Können hat, geht Aristoteles auch aus, wenn er zu ermitteln versucht, was die Vernunft ist, die den Menschen auszeichnet und ihm die Fähigkeit gibt, sich selbst zu bestimmen.
46 S. Physik II, 2, 194a 35f.; II, 3, 194b 35f. S. dazu Konrad Gaiser, Das zweifache Telos bei Aristoteles, in: Ingemar Düring (Hg.), Naturphilosophie bei Aristoteles und Theophrast, Heidelberg 1969, 97–113.
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Anders als in Repräsentationsphilosophien beginnt die Aktivität der Vernunft für ihn allerdings nicht erst mit dem Bewusstsein, sondern, wenn auch in einem eingeschränkten Sinn, mit der Wahrnehmung. In der Perspektive des Bewusstseins beginnt das Denken, wenn ihm seine Gegenstände irgendwie ‚gegeben‘ sind. Dieses ‚irgendwie‘ schließt Wahrnehmungen ebenso ein wie Gefühle, Intuitionen, Einfälle und dergleichen. Erst der dogmatische, skeptische oder kritische Umgang mit diesem Gegebenen gilt als Denken im eigentlichen Sinn. Für Aristoteles gibt es dagegen Entwicklungsstufen der Vernunft und daher auch verschiedene Freiheitsgrade in diesen Stufen und verschiedene Rechte, die ihnen zugesprochen werden können und müssen.
a. Die Wahrnehmung Gemeinsam mit den hellenistischen oder neuzeitlichen Ansätzen ist Aristoteles, dass er den Anfang des Erkennens in der Wahrnehmung sucht. Da er die Wahrnehmung aber nicht aus der Perspektive des Bewusstseins betrachtet, – in dieser Perspektive erscheint sie zwingend als etwas der aktiven Rationalität Vorhergehendes, nur Gegebenes, ‚Seiendes‘ – fragt er nach der für sie eigentümlichen Fähigkeit. Das führt einerseits zu einer erheblich eingeschränkteren Einschätzung der Leistung der Wahrnehmung, andererseits zu einem Aufweis des Anteils an aktiver Vernunft in ihr.47 Die Einschränkung ergibt sich aus der Rückwendung auf das, was die jeweiligen Wahrnehmungen von sich aus können. Das Auge, das Ohr und noch deutlicher der Geruchs- oder Geschmackssinn haben nicht die Fähigkeit, Gegenstände wahrzunehmen. Sie nehmen Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke wahr, und haben dabei, wie Aristoteles betont, zwar die Gegenstände mit diesen Eigenschaften vor sich, sie nehmen sie aber nicht als Gegenstände wahr.48 Als Grundlage der Erfahrung von Gegenständen taugen die Sinne also nicht. Aber sie sind keine bloßen Widerfahrnisse, sondern erfassen an einzelnen Materien eine allgemeine Bestimmtheit. Es genügt nicht, dass eine Luftdruckschwankung ans Ohr und dann über mehrere Vermittlungen an eine bestimmte Stelle im Gehirn trifft, man hört kleine Luftdruckschwankungen oder Neuronenimpulse, sondern Töne oder Geräusche. Ein Ton aber hat unabhängig von seiner jeweiligen Realisierung eine gleiche Bestimmtheit. Deren allgemeiner
47 Zur Wahrnehmung bei Aristoteles, s. Verf., Wie aufgeklärt ist die Vernunft . . . (wie Anm. 7), S. 127–135, s. auch 103–122. 48 S. Zweite Analytiken I, 31, 87b 28-30; II, 19, 100a16-b1.
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Gehalt tritt bei Tonverhältnissen besonders deutlich zu Tage. Wer eine Quint oder Quart oder eine Oktave hören können will, muss zwar nicht beim Hören erkennen, dass sich die Tonschwingungen in einem bestimmten Zahlenverhältnis zueinander befinden, aber er muss die von diesen Zahlenverhältnissen bestimmten Tonverhältnisse, die in der je bestimmten Bewegtheit bestimmter Materien (z.B. den Saiten einer Laute, aber auch in gleicher Weise in der Bewegung des Trommelfells oder der Neuronenimpulse) realisiert sind, hören können. Bereits die Reflexion auf die Leistung einer Wahrnehmung, z.B. der Fähigkeit zu hören, führt also auf die Unterscheidung einer je einzelnen Materie – einer Lauten- Saite, einer Luftdruckschwankung, eines Neuronenimpulses – von etwas allgemein Möglichem – einer Bewegung im Verhältnis von einfach zu doppelt, usw. Dieses allgemein Mögliche befähigt den Wahrnehmenden, über das, was das Ohr von sich aus aufgrund seiner Natur kann, hinauszugelangen. Sobald man hören kann, kann man auch Töne unterscheiden. Durch das Achten auf die eigentümliche Bestimmtheit einzelner Töne oder Tonverhältnisse kann man aber darüber hinaus selbst oder mit Hilfe eines Lehrers erlernen, verschiedene Töne und Tonverhältnisse genau und immer wieder gleich zu unterscheiden. Diese Gleichheit der Töne und Harmonien (bzw. Disharmonien) trotz der Realisierung dieser Tonverhältnisse in ganz verschiedenen Materien, die zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedene Weise erzeugt werden kann (mit der Stimme, mit verschiedenen Instrumenten usw.) – zeigt, dass bereits die Wahrnehmung in der Lage ist, etwas Allgemeines, z.B. das Verhältnis des Einfachen zum Doppelten (‚das ist eine Oktave‘), für sich zu beachten und von der jeweiligen Verwirklichung (‚auf dieser Flöte, mit diesem Sopran‘, usw.) zu unterscheiden. Das Verhältnis des Einfachen zum Doppelten (in der Oktave) oder des Dreifachen zum Zweifachen (in der Quint) kann offenkundig nicht als etwas begriffen werden, was in einer Evolution oder durch einen Prozess entstanden ist, der von einer der Natur immanenten Vernunft erst hervorgebracht worden ist. Einzelne Lebewesen können die Fähigkeit, Töne und Tonverhältnisse zu hören, in einer langen Phase der Evolution erst erworben haben, und man kann auch in einem einzelnen Lebenslauf diese Fähigkeit mehr oder weniger gut und präzise erwerben, – wenn sich auch diese Verhältnisse selbst im Lauf der Zeit verändern würden, gäbe es so etwas wie eine Oktave nur in einer bestimmten Phase. Vorher und nachher, d.h. wenn dieses Verhältnis in der Evolution noch nicht erreicht war bzw. wenn es sich verändert hätte, gäbe es sie überhaupt nicht. Noch drastischer wird dies deutlich, wenn man vom Bereich der Wahrnehmung absieht und z.B. allgemein das Verhältnis des Einfachen zum Doppelten in Betracht zieht. Ein solches Verhältnis kann mehr oder weniger genau erreicht oder getroffen werden,
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das, was unter diesem Verhältnis verstanden werden muss, z.B. dass etwas dann doppelt ist, wenn es etwas anderes um das Gleiche übertrifft (wie etwa die Zwei die Eins)49, ist entweder ein richtiger oder falscher Begriff von Doppelt-sein, es kann sich aber nicht ändern, ohne dass die Sachmöglichkeit, doppelt zu sein, selbst nicht mehr vorhanden wäre. Die Wahrnehmung nimmt dieses bei vielen Einzelwahrnehmungen Gleiche nicht durch eine Abstraktion wahr, sondern dadurch, dass sie auf die jeweilige Bestimmtheit einer bewegten Materie achtet. Sie tut das dadurch, dass sie auf die bestimmte Form achtet, in der sich eine bestimmte, nicht leere und nicht beliebige Möglichkeit verwirklicht, z.B. darauf, dass zwei sich im Verhältnis 1:2 bewegende Saiten einer Laute Töne mit der gleichen Charakteristik erzeugen. Durch diese Fähigkeit – etwas allgemein Mögliches in bestimmter Realisierung zu erfassen – hat nach Aristoteles bereits die Wahrnehmung teil an der einen menschlichen Vernunft, die dem Menschen als endlichem Wesen nicht einfach von Natur aus zur Verfügung steht, sondern deren Prinzipien und Kriterien er erst erschließen muss, um von dem, was die Vernunft in ihrem eigenen Sein ist, richtigen Gebrauch machen zu können.50
b. Die Fähigkeit, eine Meinung über etwas zu bilden51 Die Grenze zwischen einem bloßen Gebrauch machen von rationalen Kriterien, ohne sie überhaupt als sie selbst zu erfassen, und einem souveränen, auf Wissen beruhendem Gebrauch der Vernunft liegt nach Aristoteles im Vermögen des Meinens.
49 S. Aristoteles, Topik, 135b 25. 50 Aus diesem Angelegtsein der Vernunft bereits in der Wahrnehmung entfaltet Augustinus in seiner Abhandlung De musica den methodischen Weg, in dem sich die Vernunft aus diesen Anfängen bis zur Erkenntnis ihrer selbst entwickeln kann. Beachtenswert ist vielleicht, dass Augustin eine solche Wahrnehmungsanalyse mit dem Titel ‚De musica‘ überschreibt. Grund ist, dass er nicht primär den physiologischen Vorgang, wie ein Ton von den Hörorganen rezipiert wird, untersucht, sondern sich auf die Frage konzentriert, was das ist, was man bei Hören erfasst. Und das sind eben Töne, d. h. unterscheidbare Formen bewegter Materie. S. dazu Verf., Zahl und Schönheit in Augustins De musica VI, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N. F. 16, 1990, 221–237. 51 Zur erkenntnistheoretischen Analyse des Meinens bei Platon und Aristoteles s. Verf., Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart/Weimar 20082, 324–338; s. auch Christoph Horn, Platons episteme-doxa-Unterscheidung und die Ideentheorie (Buch V 474b-480a und Buch X 595c-597e) in Otfried Höffe (Hg), Platon Politeia (Klassiker auslegen), Berlin 1997, 292–312.
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Beim Wahrnehmen und beim Vorstellen hat man es immer mit der sinnlichen Phänomenvielfalt zu tun, in denen sich ein Gegenstand zeigt. Diese Phänomenvielfalt zeigt aber nicht, was das für ein Gegenstand ist, den man vor sich hat (auch wenn das bei sehr leicht erkennbaren Gegenständen so zu sein scheint). Wer z.B. als Archäologe auf ein Steingebilde trifft, kann auch aus der sorgfältigsten Sammlung und Ordnung aller sinnlichen Details nicht erschließen, was für ein Gegenstand dieses Gebilde ist, wenn er nicht die Aufgabe erkennt, der dieses Gebilde gedient hat. Erfasst er das aber, d.h. erfasst er, welche Fähigkeit dieses Gebilde verwirklichen konnte, z.B. dass es zum Backen von Brot geeignet war, dann erst gewinnen die einzelnen sinnlichen Merkmale und deren Anordnung ihre Bedeutung, die sie für die Erfüllung dieser Aufgabe hatten. Damit man eine Meinung über einen Gegenstand bilden kann, muss man sich also aktiv um die Erkenntnis der Fähigkeiten von etwas und der Weise ihres Vollzugs bemühen. Dabei löst man sich von der unmittelbaren Bindung an die Sinneserscheinungen und konzentriert sich auf die in ihnen verwirklichten Fähigkeiten, auf das, was Aristoteles das ‚Werk‘ von etwas nennt: Alles ist bestimmt durch das, was es verwirklicht. Denn nur das, was die Fähigkeit hat, sein Werk zu vollziehen, hat wahrhaft ein eigenes Sein, z.B. ein Auge nur, wenn es sieht, ein dazu unfähiges hat mit dem Auge nur den Namen gemein, wie z.B. ein toter Mensch oder ein Mensch aus Stein. Und auch eine Säge aus Holz ist keine Säge, sondern etwa eine Nachgestaltung. Das gilt auch für Fleisch, doch ist das, was es verwirklicht, weniger deutlich als etwa das der Zunge.52
Gegenstand des Meinens also ist etwas allgemein Mögliches in einer je einzelnen Verwirklichung. Das Problem, dass man den Unterschied zwischen einer (Sach-) Möglichkeit und ihrer konkreten Verwirklichung oft nicht leicht erfassen kann, thematisiert Aristoteles selbst, betont aber, dass diese Schwierigkeit kein Grund ist, das grundsätzliche Verhältnis zwischen einer Dynamis und ihrem Ergon bzw. ihrer Enérgeia in Zweifel zu ziehen: Man ist zu Recht darüber unsicher, was Teile der Sache sind und was nicht, sondern zum zusammengesetzten (synthetischen) Ganzen gehört. Und doch: solange das nicht klar ist, ist es nicht möglich, ein jedes einzeln distinkt zu unterscheiden (zu definieren). Denn auf das Allgemeine und auf die Sache (eídos) bezieht sich die Definition. Wenn also nicht klar erkennbar ist, welche Teile zur Materie gehören und welche nicht, kann auch der Begriff der Sache (prágma = eídos) nicht klar werden. Bei allem nun, was seine Existenz in etwas hat, das der Sache nach verschieden ist, wie z. B. beim Kreis im Erz oder in Stein oder Holz, scheint deutlich zu sein, dass der Stein oder das Holz nicht zum Sein des Kreises gehören,
52 S. Meteorologica 390a10-15; s. dazu Christopher Shields, The First Functionalist, in: John-Christian Smith, Historical Foundations of Cognitive Science, Dordrecht (u.a.), 1990, 19–34.
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weil man sie für sich von ihm unterscheiden kann. Wo man den Unterschied aber nicht wahrnehmen kann, hindert zwar nichts daran, dass es dasselbe Verhältnis gibt – wenn z. B. auch alle Kreise, die man beobachten kann, aus Erz wären, so würde doch genauso wenig das Erz zum Kreis gehören, aber man könnte gedanklich nur schwer davon abstrahieren. So tritt z. B. das Mensch-Sein immer in Fleisch und Knochen und Ähnlichem in Erscheinung, aber sind diese Teile deshalb Teil von Sache und Begriff „Mensch“? Offenbar nicht, sondern sie gehören zu seiner Materie. Es fällt uns nur schwer, sie voneinander zu trennen, weil der Mensch immer in diesen Materien existiert. (Metaphysik VII, 11, 1036a26–b8)
c. Die Vernunft und ihre Gegenstände Das Kreisbeispiel dient Aristoteles nicht nur dazu, eine wichtige Unterscheidung – zwischen der (je einzelnen) Materie und der (allgemeinen) Sache – augenscheinlich zu machen, sie dient ihm auch als Übergang zur Erklärung, was den Unterschied der Vernunft selbst zu einem bloßen Meinen ausmacht. Das ist: Die Vernunft bezieht sich auf die reine Sachmöglichkeit selbst, beim Kreis darauf, dass er Inbegriff der Möglichkeit ist, dass alle Punkte eines Ganzen zu ein und demselben in demselben Verhältnis stehen. Das allein ist das, was sein ,distinktes‘ (horisménon) Sein ausmacht und in seinen Begriff aufgenommen werden kann. Das Holz oder das Erz gehört zu jeweils anderen Begriffen. Auch beim Ganzen ‚Kreis aus Holz‘ muss man die beiden Begriffe unterscheiden und in ihrem jeweiligen Anteil am Ganzen ‚Holzkreis‘ erfassen. Den methodischen Weg zur allein im Denken erfassbaren ‚Sache selbst‘ hat Aristoteles v.a. in seinen sog. Zweiten Analytiken ausführlich ermittelt und erklärt.53 Beispiel ist ihm dort der Begriff des Dreiecks, von dem er zeigt, dass er auf alle Dreiecke, auf die gleichseitigen, ungleichseitigen, rechtwinkligen usw., zutreffen muss. Wenn er auf alle diese verschiedenen Formen in gleicher Weise zutreffen soll, kann er von keiner einzelnen abstrahiert werden, sondern kann sich nur noch auf die im Denken erschließbare Möglichkeit beziehen, dass Geraden in der Ebene die Winkelsumme von zwei Rechten bilden, die für alle Formen des Dreieckseins gilt. Ist ein solcher Begriff gefunden, bietet er zugleich das Kriterium, an dem man Dreiecke in jeder Art der Verwirklichung erkennen kann. Denn, so sagt Aristoteles, so lange suchen wir, bis wir das gefunden haben, was genau und nur eine Sache ist.54
53 Eine Interpretation dieses methodischen Wegs habe ich zu geben versucht in: Wie aufgeklärt ist die Vernunft . . . (wie Anm. 7) 213–310. Dort auch eine Auseinandersetzung mit den Grundtendenzen der Forschung. 54 S. Zweite Analytiken I,24, 85b 27-86a 3.
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IX. Die Unverlierbarkeit der Grundfähigkeiten des Menschen und die Würde des Menschen Diese kurze Erinnerung an den methodischen Weg von der Wahrnehmung zum Wissen muss in diesem Beitrag genügen, deutlich werden sollte, dass die Vernunft für Aristoteles eigene Kriterien hat, die nicht nur dazu dienen, sinnlich ‚gegebene‘ Gegenstände zu ‚denken‘, sondern eine eigene sacherschließende Potenz aufweisen. Diese Vernunft muss ihre Begriffe nicht von den empirisch zugänglichen Dingen abstrahieren und an ihnen wieder verifizieren, sondern sie kann sie benutzen, um die Empirie kritisch zu überprüfen und zu korrigieren. Ähnlich wie in der neuzeitlichen Menschenrechtskonzeption kann man auch bei Aristoteles feststellen, dass es die Vernunft ist, die den Menschen zu freier Selbstbestimmung befähigt. Anders als es etwa in dem berühmten ersten Satz des ‚Contrat Social‘ von Rousseau formuliert ist, könnte man von Aristoteles her allerdings nicht sagen: L’homme est né libre et partout il est dans les fers,
sondern müsste betonen, dass er zur Freiheit geboren ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Fähigkeit zur Freiheit dem Menschen aus aristotelischer Sicht nicht auch auf eine unverlierbare und unveräußerbare Weise zukäme. Im Gegenteil: Aristoteles hat rationale Gründe für diese Unverlierbarkeit und muss sie nicht spekulativ voraussetzen. Bereits bei der Wahrnehmung kann er zeigen, dass das bestimmte Können eines Vermögens nicht von der jeweiligen körperlichen Verfassung des Wahrnehmenden abhängt. Man kann es nicht nur entwickeln und weit über einen gegebenen Stand hinaus entfalten, man darf auch dann, wenn es durch einen körperlichen Defekt oder durch Krankheit oder Altersschwäche nicht ausgeübt werden kann, nicht den Schluss ziehen, dem Menschen sei das Vermögen selbst verloren gegangen. Verloren oder geschwächt ist die Möglichkeit der körperlichen Verwirklichung, des aktuellen Vollzugs eines Vermögens. Wenn man, so sagt er, einem alten Menschen neue Augen einsetzen (heute könnte man sagen, eine Brille aufsetzen) könnte, würde er wieder uneingeschränkt über sein Sehvermögen verfügen können. Ähnliches könne man durch viele Erfahrungen mit dem Wahrnehmen bestätigen. Eine Erkältung kann die Ausübung der Fähigkeit zu riechen und zu schmecken fast ganz außer Kraft setzen. Dass die Fähigkeit selbst dabei nicht betroffen war, erkennt man, wenn man nach Beendigung der körperlichen Schwäche wieder über seine Wahrnehmungsvermögen verfügen kann wie zuvor. Dass dasselbe auch für die Vernunft gilt, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen. Könnte man die Behinderungen im Gehirn eines Menschen mit Demenz
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durch Medikamente oder eine Operation wieder beseitigen oder eingrenzen (z.B. indem man bestimmte Botenstoffe wieder aktiviert), könnte der Betroffene je nach dem Ausmaß, in dem diese Behinderungen wieder verschwunden sind, auch wieder über seine Vernunft verfügen. Nicht das Vermögen der Vernunft geht verloren, nur seine Ausübung mit Hilfe des Körpers.55 Darin würde in aristotelischem Sinn das bestehen, was wir mit dem römischen Begriff der ‚Würde‘ (dignitas) des Menschen bezeichnen. Die Tatsache, dass diese Würde dem Menschen unverlierbar erhalten bleibt, bedeutet, dass die daraus ableitbaren – universal gültigen und für alle Menschen gleichen – Rechte an den Vermögen oder Fähigkeiten, zu deren Entfaltung der Mensch fähig ist, beurteilt werden müssen.
X. Die Hierarchie der Lebensformen (bioi) bei Aristoteles und die unterschiedliche Verfügung über (abstrakt gleiche) Menschenrechte Wie der Umgang Platons mit der Einschränkung von Werten, die wir sogar Menschenrechten zurechnen würden, gezeigt hat, ist das Hauptkriterium, wann man ein Menschenrecht in der konkreten Praxis sogar aussetzen kann, ob seine Gewährung gut für den in der Gemeinschaft handelnden Menschen ist, und zwar nicht grundsätzlich, sondern im jeweiligen konkreten Einzelfall. Aus Aristoteles‘ Vernunftbegriff kann man eine ausgearbeitete Theorie dazu gewinnen. Mit der neueren Forschung betont auch Martha Nussbaum, dass das, was dem Menschen zusteht, d.h. was ein gerechtes Verhalten der anderen gegen ihn und von ihm selbst gegen sich selbst ausmacht, ein gutes Leben ist. Ein gutes Leben meint: nicht nur gut überleben, sondern seine Fähigkeiten optimal entfalten und darin die dem Menschen eigentümliche Lust genießen.56 Den – fast axiomatisch zu nennenden – Ansatz formuliert Aristoteles im Eingangssatz seiner Nikomachischen Ethik, in dem er feststellt, dass alles Handeln um eines Guten willen geschehe (1094a1-3). Diese Behauptung zeugt nicht von einem naiven Optimismus, sondern von einer Analyse des Vorgangs des Handelns:
55 S. De anima I, 4, 408b 18-25; auf die Vergleichbarkeit des Erhalts der Vermögen der Wahrnehmung und der Vernunft über den körperlichen Verfall hinaus weist Aristoteles selbst an dieser Stelle hin. 56 S. Martha Nussbaum (wie oben Anm. 30), 129.
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Handeln und etwas einem anderen vorziehen, sind ein und dasselbe (Metaphysik 1025b24f.)
Wer handelt, muss etwas einem anderen vorziehen: das Tätigwerden der Ruhe, den Genuss dem Nichtgenuss, usw. Dieses Vorziehen bedeutet, dass man das Vorgezogene für besser hält als das, was man nicht vorgezogen hat. Auch wenn man es vorzieht, grundsätzlich oder in besonderen Fällen das Böse zu tun, hält man es für sich in diesem Augenblick für besser, es zu tun, als sich nach etwas Gutem zu richten. Das ist auch der Fall, wenn man sich selbst schädigt. Deshalb formuliert Aristoteles – und wieder in einem der für ihn so wichtigen Ausgangssätze einer Disziplin, in diesem Fall der Politik: Weil sie meinen, etwas sei gut für sie, tun alle alles.
Dieser Satz ist für ihn beinahe gleichbedeutend mit einem Vorziehen des jeweils Lustvollen (bzw. dem Meiden der Unlust): Um der Lust willen tun alle alles.57
Das Gute, das in jedem Handeln angestrebt wird, ist für ihn also nicht das objektiv Gute, sondern das, was jeweils gut zu sein scheint und als lustvoll erfahren wird. Die Lust aber bestehe in einer ‚apokatástasis‘, in der Herstellung oder Wiederherstellung der eigenen Natur: Lust macht jedem Einzelnen das, was seiner Natur gemäß (oikeion = eigentümlich) ist (Politik 1342a259).
Das, was für die Natur eines Menschen eigentümlich ist, ist, wie wir gesehen haben, nicht die angeborene Natur, sondern das verwirklichte Potential eines Menschen, das seine Vollendung in der Verwirklichung seiner Vernunft findet. Genau darauf bezogen definiert Aristoteles Lust als ein (direktes) Begleitphänomen der Tätigkeit, d.h. der ‚enérgeia‘, der vollendeten Verwirklichung einer Fähigkeit des Menschen. Die Lust ist der Ausdruck dieser Vollendung, sie stellt sich ein, wie er formuliert, wie die Schönheit in der Blüte der Jahre, d.h. nicht als
57 S. Nikomachische Ethik 1104b 8-13; 1110b 9-11; 1157b 17; s. dazu Verf., Zur Grundlegung der Ethik in einer „Kultur des Gefühls“ bei Aristoteles, in: Ch. Strosetzki (Hg.), Ethik und Politik des Aristoteles in der Frühen Neuzeit, Hamburg 2016, 277–302.
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etwas zur Tätigkeit Hinzukommendes, sonder etwas, das ein inneres Moment der Tätigkeit selbst ist.58 Aristoteles weist allerdings darauf hin, dass es so viele Lüste wie Tätigkeiten gibt. Deshalb könne man nicht einfach von ‚der‘ Lust sprechen. Es komme vielmehr auf die Lust an, die mit der Verwirklichung der dem Menschen eigentümlichen Vermögen verbunden ist, und unter diesen mit demjenigen Tätigsein, das für den ganzen Menschen und auf Dauer lustvoll ist. In diesem Fall sind die Lust und das für den Menschen Gute identisch, einzelne, unkoordinierte Lüste scheinen nur im jeweiligen Augenblick der Meinung oder Wahrnehmung lustvoll59. Für die Frage, welche Grundrechte jedem Menschen zugestanden werden müssen, ergibt sich damit als das erste Recht das Recht auf die Verwirklichung der eigenen Vermögen mit dem Ziel, auf diese Weise das größtmögliche Glück zu erwerben. Anders als aus der Perspektive eines aufgeklärten Vernunftbegriffs ist das allerdings kein abstraktes, jedem als frei wählbar überlassenes Recht, sondern zuerst ein Anspruch jedes Einzelnen auf Bildung, und nicht auf irgendeine Bildung, sondern auf eine optimale Entfaltung der für das Ganze eines Menschen relevanten Fähigkeiten mit einer dazu gehörenden Kultur der Gefühle. Ich kann das nur noch von wenigen wichtigen Aspekten her skizzieren: (1) Da für Aristoteles, wie wir gesehen haben, die aktive Vernunfttätigkeit bereits mit der Wahrnehmung beginnt, muss mit ihr auch die Bildung der sinnlichen Fähigkeiten einsetzen. Das Beurteilungskriterium dieser Bildung ist die in der Wahrnehmung erreichbare größte Lust. Sie stellt sich ein, wie Aristoteles sagt, wenn das Wahrnehmungsvermögen in einem guten, gut entwickelten Zustand und auf das beste, d.h. die größtmögliche Lust bietende Objekt gerichtet ist.60 Wie eine solche Bildung sinnlicher Gefühle v.a. durch musische Erziehung gestaltet sein müsste, erörtert er am Ende seiner Politik in einem leider nicht vollendeten Bildungsentwurf.61 Damit eine solche Entfaltung der sinnlichen Fähigkeiten möglich ist, müssen viele Bedingungen gegeben sein. Auf sie hat daher jeder einen
58 S. Nikomachische Ethik X, 4, 1174b 14-1175a 21; zum Vergleich von Schönheit und Lust als unmittelbarem Ausdruck einer Vollendung s. 1174b 31-33. 59 Belege und Begründung s. Verf., Was hat das Gute mit der Politik zu tun? Über die Verbindung von individuellem Glück mit dem Wohl aller in griechischer Philosophie und Literatur, in: Mathias Lotz, Mathias van der Minde, Dirk Weidmann (Hgg.), Von Platon bis zur Global Governance. Entwürfe für ein menschliches Zusammenleben, Marburg 2010, 27–36. 60 S. Nikomachische Ethik 1174b 14-21. 61 S. Politik Buch 7, Kap. 14–17 und Buch 8 (ganz).
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gleichen Anspruch. Dazu gehört alles, was zur Erhaltung des Lebens nötig ist, alle Berufe, die ihr dienen, auch die merkantilen und die, die zum Geldwesen gehören und etwa auch das Eigentumsrecht. Da nach Aristoteles höhere Fähigkeiten das funktionierende Vorhandensein der niederen voraussetzt62, muss z.B. auch das Eigentumsrecht als ein unverzichtbares Grundrecht gelten. Es kann aber nicht als ein absolutes, keinen Kriterien unterliegendes Recht gelten. Das Eigentum muss der Selbstverwirklichung des ganzen Menschen dienen und darf diese nicht behindern. Aristoteles stellte fest, dass jede Gesellschaft die Tendenz hat, in allen ihren Bereichen sich schrittweise immer konsequenter an die Verfassung anzugleichen, in der sie sich organisiert hat. Ist diese Verfassung primär ökonomisch, werden alle Tätigkeiten diesen Tendenzen unterworfen. Wenn dabei z.B. wirtschaftliche Interessen auch in der Schulbildung und in den akademischen Wissenschaften durchgesetzt und von ihnen her deren Inhalte bestimmt werden sollen, wäre das eine Verletzung von Grundrechten und also unzulässig. Auch das Recht, Eigentum zu bilden und zu besitzen, findet seine Grenze dann, wenn es mit dem Recht auf vollendete Entfaltung des ganzen Menschen kollidiert. (2) Den Beginn rationalen Denkens im strengen Sinn bildet für Aristoteles ein Denken, das sich auf die in einer sinnlichen Erscheinung verwirklichte Potenz richtet (das Meinen). Seine vollendete Form findet es beim Menschen in der Erfüllung der Aufgabe, dass jeder sich selbst verwirklicht und dasselbe Recht allen anderen zugesteht. Diese Aufgabenstellung hat formal eine große Ähnlichkeit mit dem zu den Menschenrechten gehörenden Freiheitsbegriff, bei dem auch gefordert wird, dass die Freiheit jedes Einzelnen mit der aller anderen zusammenstimmen muss. Der Unterschied zu Aristoteles kommt aus der inhaltlichen Bestimmung dieser Aufgabe, die sich bereits daran zeigt, dass diese Aufgabe auch als eine Bildungsaufgabe verstanden wird. Die Bildung in dieser Lebensform – für das richtige Urteil und für die dazu gehörenden Gefühle – gelingt ganz besonders durch die Darstellung des Gelingens und Scheiterns menschlichen Handelns durch die episch-tragische Literatur. Sie schafft zutreffende Gefühle dafür, wie jemand das Seine tun und verfehlen kann und wie die Gemeinschaft daran mitbeteiligt ist.63 Insgesamt geht es – auch durch andere Formen der Bildung – um eine Erziehung zur Gerechtigkeit. Die Gewährung von Respekt, Anerkennung und Ehre
62 S. v.a. De anima 413a 11–415a 13; s. dazu Hahmann (wie Anm. 35), S. 100–114. 63 S. dazu Verf., Die Moderne und Platon (wie Anm. 49), 341–380.
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und der Anspruch darauf gehören ebenso zu diesem ‚bios‘ wie das Recht der Beteiligung an Gemeinschaftsaufgaben, die Freiheit der Rede (heute: Meinungsfreiheit) usw. Nimmt man die Meinungsfreiheit als Beispiel, kann man ähnlich wie beim Eigentumsrecht im Bereich der sinnlichen Selbsterhaltung feststellen, dass sie ein Grundrecht ist, das jedem in diesem Stadium der Selbstentfaltung zusteht. Aber auch sie steht zwar jedem, aber nicht kriterienlos zu. Denn die Freiheit der Meinung und der Rede hat ihren Grund in dem Recht auf Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft, sie ist kein beliebiges Recht, zu allem und jedem eine Meinung öffentlich zu äußern. (3) Eine wirklich freie Selbstbestimmung erreicht der Mensch erst, wenn er das Vermögen zu vernünftigem Denken in reflexiver Ermittlung der Kriterien eines solchen Denkens entfaltet hat. Da sich der Vernunftbegriff von Aristoteles von dem der Neuzeit unterscheidet, ergibt sich auch ein anderes Verständnis derjenigen Rechte, die sich aus demWissen um diese freie Selbstbestimmtheit ableiten lassen. Sie ergeben sich nicht einfach als Rechte, die mit mehr oder weniger Evidenz als notwendig erscheinen, damit diese Selbstbestimmtheit gewährleistet werden kann, sondern aus einem inhaltlich bestimmten Begriff der Vernunft. Denn das Maß, an dem sich ein von Vernunft geleitetes Handeln des Menschen orientiert, ist für Aristoteles nicht, dass man (mit Willkür) frei wählen kann, wie man ein selbstbestimmtes Leben führen möchte (sc. ohne anderen zu schaden), sondern dass einem im Leben eine bestmögliche Entfaltung der eigenen Fähigkeiten gelingt, deren Ausdruck die größtmögliche und dauerhafteste Lusterfahrung ist. Dieses Ziel zu erreichen, ist Sache einer in der frühen Jugend einsetzenden Bildung, durch die man sich die Maßstäbe für das erarbeitet, was man von sich aus frei und selbstbestimmt kann und worüber man nicht verfügt. Diese Maßstäbe müssen bei Aristoteles an die Stelle dessen gesetzt werden, was in den modernen Menschenrechten in einem Katalog abstrakter Rechte formuliert wird.64
64 Dass Aristoteles erst dem, der souverän über die eigene Vernunft verfügt, alle Freiheitsrechte, die wir jedem Menschen in gleicher Weise zuschreiben, zugesteht, wird oft als elitärer Intellektualismus kritisiert. Man muss aber in Rechnung stellen, dass für ihn alle Aktivitäten der Vernunft mit Lust bzw. Unlust besetzt sind, zu denen bei ihm auch die mit sinnlicher Lust verbundenen Wahrnehmungen ebenso wie die mit der Freude an Anerkennung verbundene Lust an der Meinung über das ‚ergon‘ von etwas gehören, so dass von einem Intellektualismus im modernen Sinn des Wortes nicht die Rede sein kann. Außerdem kann man bedenken, dass diejenigen Einschränkungen, die er nur dort für angebracht hält, wo jemand noch nicht selbständig über seine Vernunft verfügt, in der Regel nicht als Einschränkungen empfunden werden. Die Art des guten Lebens, die man mit der Vernunft frei wählt, ist für den, der das gute Leben in Sinnesfreuden und
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Der Unterschied zu einem ausformulierten Katalog von Menschenrechten ist bei Aristoteles allerdings nicht so erheblich, wie er auf den ersten Blick erscheint65. Denn bedenkt man mit, dass es auch in einem heutigen Verständnis von Menschenrechten erforderlich ist, bei der Ausübung jedes einzelnen Rechts über Grenzen und nötige Einschränkungen zu diskutieren, verringert sich dieser Unterschied zumindest dort, wo heute der Konsens vernünftiger Diskussionsteilnehmer als Grundlage der Entscheidung gesucht wird. Denn in dieser Konsens-Praxis ist es ausdrücklich die Vernünftigkeit der Teilnehmer, die die Basis für die als sinnvoll erachteten Lösungen bildet. Von dieser Praxis unterscheidet sich Aristoteles dadurch, dass er sich nicht nur auf die Vernünftigkeit der Gesprächsteilnehmer beruft, sondern in sorgfältigen Reflexionen auf das ‚Können‘, das der Mensch verwirklicht, wenn er seine Vernunft betätigt, die Kriterien des Vernünftigseins ermittelt hat. Über die Kriterien, die die Vernunft durch eine Reflexion auf ihre eigenen Akte gewinnen und mit deren Hilfe sie das, was für den handelnden Menschen als ganzen gut ist, zu beurteilen fähig wird, kann man aus den aristotelischen Texten viel Aufklärung erhalten. In diesem kurzen Beitrag konnte es nur es darum gehen, die grundlegende Verschiedenheit der Vernunftbegriffe in der Aufklärung der Neuzeit und bei Aristoteles wenigstens von einigen Aspekten her herauszuarbeiten und auf wichtige Konsequenzen für das Verständnis von Menschenrechten hinzuweisen.
Besitz sucht, kaum attraktiv. Dasselbe gilt für den, für den Anerkennung, Ehre, Ruhm höchste Werte sind. Dass ihm die Freuden eines Lebens in der Theorie vorenthalten sind, ist für ihn kaum ein Verlust. Belege und Interpretation der Texte s. bei Verf. Wie aufgeklärt ist die Vernunft . . . (wie Anm. 7), 333–368; 410–426. 65 Das betont auch Christoph Horn, Menschenrechte bei Aristoteles?, in: Girardet, Klaus M. und Nortmann, Klaus (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 105–122. Die Untersuchung Horns berücksichtigt fast alle wichtigen Belege bei Aristoteles und bringt auch eine umfassende und überzeugende Kritik der Forschung.
Okko Behrends
Die Person im Recht Zu den philosophischen und religiösen Quellen eines antiken und modernen Fundamentalbegriffs I. An der Begriffsgeschichte des Wortes „Person“ (persona), gewiss eine der erfolgreichsten Prägungen des antiken römischen Rechts, lässt sich mit besonderer Deutlichkeit ablesen, welche zutiefst negativen Dauerwirkungen es gehabt hat, dass die von Savigny ins Leben gerufene Historische Rechtschule kraft der sie prägende Geistigkeit den Glauben begründet hat, die Begriffe des römischen Rechts seien gewissermaßen vom Himmel gefallen, nicht jeweils von Menschen für Menschen formuliert, sondern dem römischen Volksgeist exemplarisch für alle Zeiten offenbart worden. Diese Sicht bedeutete, dass das römische Recht mit seiner Begrifflichkeit zwar in der Geschichtlichkeit gewirkt hat, aber nicht in ihr entstanden ist, vielmehr einer übergeschichtlichen Quelle entstammt. Wo das geglaubt wurde oder wird, war und ist einer Erforschung der Geschichte des römischen Rechtsdenkens aus den geistigen Bedingungen der Antike der Boden entzogen, und zwar mit überaus negativen Folgewirkungen, auch für die gegenwärtige Romanistik. In der These meines unvergesslichen Lehrers Franz Wieacker, dass Dogmatik, d.h. der Bereich des Rechts, in dem sich das Bemühen um die Festlegung sinngebender Begriffe niederschlägt, keine Geschichte habe,1 hat diese Sicht
1 Vgl. meinen Nachruf „Franz Wieacker“, Savigny-Zeitschrift Rom. Abt 112 (1995) XLVI f. Zu dieser „lebenslangen Überzeugung“ Franz Wieackers jetzt auch Viktor Winkler, Der Kampf gegen die Rechtswissenschaft. Franz Wieackers „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ und die deutsche Rechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts. (2014) S. 247. Anmerkung: Der folgenden Text ist die bearbeitete, insbesondere mit zahlreichen Anmerkungen versehene Fassung des Vortrags, den ich unter dem Titel „Der ,stoische‘ Personenbegriff in seiner Bedeutung für die späteren Menschenrechte“ im Rahmen des Colloquium Rauricum XV Menschenrechte. Genese – Theorie – Praxis (26.–30. August 2015) gehalten habe. Das den Vortrag begleitende, dreißig engzeilig beschriebene Seiten umfassende, mit Erläuterungen versehene Quellenpapier ist, soweit tunlich, in die Fußnoten gewandert, auch dort, wo, wie der Leser erkennen wird, die Verweise zugleich implizit weitere Ausarbeitungen ankündigen. DOI 10.1515/9783110537130-010
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Okko Behrends
ihre schärfste, allgemeine Geltung beanspruchende Formulierung gefunden. Es ist eine These von großer Kühnheit und Eindeutigkeit, vorgetragen als Ertrag einer lebenslangen Bemühung um die römische und neuzeitliche Rechtsgeschichte, zugleich aber von geradezu atemberaubender Unrichtigkeit. – Die rechtlichen Denkformen, nach denen der Mensch seine Verhältnisse geordnet sehen möchte und letztlich seine Existenzbedingungen deutet, sollen keine Geschichte gehabt haben? Man denke für das Recht nur an die vielfältigem Wandel unterworfene Ordnungsfigur der Ehe oder an die so bewegte Geschichte der antiken und neuzeitlichen Verfassungen. Ihre verschiedenen Gestaltungen haben in den jeweiligen Räumen und Zeiten, in denen menschliches Denken sie in Geltung gesetzt hat, volle Verbindlichkeit beansprucht. Zugleich sind für sie im Laufe der Geschichte immer wieder neue Gestaltungen gefunden worden, teils zum Vorteil, teils zum Nachteil der betroffenen Menschen und Verhältnisse.2 In der Geschichte der hochkünstlichen Denkform persona verhält es sich nicht anders. Die Wandlungen, die sie im menschlichen Denken erfahren hat, sind nicht weniger geschichtlich bewegt und Geschichte bewegend als die der anderen Grundfiguren des Rechts. Ihre verschiedenen Fassungen waren vielmehr, da sie jeweils den Mensch definierten, von existentieller Tragweite. Das gilt mutatis mutandis auch für die Theologie, deren Dogmatik in der lateinisch sprechenden Hälfte des römischen Reichs den Begriff der Person in einer für die Rechtsgeschichte aufschlussreichen Weise zur Deutung der Trinität herangezogen hat. Niemand wird sich zu der These versteigen, dass die streiterfüllte Dogmatik der Theologie keine Geschichte gehabt habe. In der Tat bewegt sich die Geschichte des Wortes persona, mit der ich mich im Laufe der Jahre immer wieder beschäftigt habe,3 in klaren Stadien. Die Bedeutungsgeschichte beginnt im vorrechtlichen Bereich, anfänglich im Theaterwesen
2 Als subjektive Vorstellung nachvollziehen lässt sich der Gedanke nur, wenn man allein der „Gerechtigkeit“, die gegenüber dem Einzelfall erlebbar ist, Substanz zuschreibt und die juristischen Denkformen, die ihre Konkretisierung leiten, zu situationell auftretenden Hilfsbegriffen herabstuft. Dazu stimmt, dass im Mittelpunkt dieses Rechtsdenkens ein aus der „Transzendenz“ kommende „Gewissensanruf“ steht (Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit [1967]2 S. 609–618), und zwar als die eigentliche, allseits gefährdete Quelle der „praktischen Moral des öffentlichen Handelns“ (a.a.O. S. 402). Allein durch sie konkretisiert sich dann Rechtsdogmatik in den Entscheidungen als gerecht. Auf diese Weise erklärt sich die Entsubstantialisierung der Dogmatik auch aus Wieackers Glauben an eine „Gerechtigkeit als immanente Wirklichkeit“ (a.a.0 S. 610). Winkler (oben Anm. 1, S. 372) hebt ihn mit Recht hervor. 3 Vgl. die zur Entlastung der Anmerkungen dem Text angefügte, Kurzverweisungen ermöglichende Übersicht über die Vorarbeiten (Lit. Üb. insbesondere Ziff. 2, 3, 8, 9, 11, 16).
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und der Grammatik eng verbunden mit dem griechischen Pendant Πρόσωπον (Prosopon), von dem persona im Lateinischen ein, wie man annimmt, über das Etruskische vermitteltes Lehnwort ist. In der Bühnensprache bezeichnet Prosopon wie Persona zunächst die Theatermaske und dann folgeweise die durch sie definierte Rolle. Die alexandrinischen Grammatiker verallgemeinern dann den durch das Theater populär gewordenen Begriff mit bis heute andauerndem Erfolg auf alle Sprechakte, in denen etwas spricht oder zu etwas oder über etwas gesprochen wird und etwas entweder allein (Singular) oder als Kollektiv (Plural) sprachlich eine Rolle spielt.4 Für das Recht, und zwar spezifisch für das lateinisch sprechende römische Recht, folgen zwei klar unterscheidbare, aber eng verknüpfte Entwicklungsstufen. Sie erfassen alle in der Tradition des durch die Theaterwelt und die Grammatik verallgemeinerten Personenbegriffs und jeweils im Rahmen philosophischer Weltdeutungen das Recht als eine spezifisch menschliche, mit den Mitteln der Sprache hervorgebrachte, jedem eine selbständige Rolle ermöglichende Schöpfung. Das geschieht im ersten spezifisch republikanischen Stadium streng humanistisch-kulturanthropologisch: Das Recht ist hier eine Schöpfung allein des natürlichen, in seinen Fähigkeiten beobachtbaren Menschen. Auf der zweiten Entwicklungsstufe, die mit Augustus die Herrschaft ergreift, wird das Menschenbild in platonisierender Weise um eine erinnerte Transzendenz erweitert, und zwar in einer Weise, die sich auch in der Zeit nach Konstantin behauptet und – mit Folgewirkungen bis heute – die Kodifikation Justinians beherrscht. In einer ersten Zusammenfassung der Ergebnisse dieses wesentlich auf die Antike beschränkten Überblicks kann man sagen, dass der zum Rechtsbegriff gewordene Term Person den Menschen so im Mittelpunkt des von ihm geordneten und gelebten Rechts hält, wie dies für die von ihm genutzte Sprache selbstverständlich ist. Er steht dabei für das stete Bemühen um eine kulturanthropologische, d.h. um eine geistige, nicht naturalistische Grundlegung des Rechts. In der Geistigkeit der Historischen Rechtsschule blieb diese Höhenlage bewahrt.5 Als dagegen Siegfried Schlossmann es unternahm, die Überflüssigkeit des Rechtsbegriffes persona
4 Dazu grundlegend Stephanos Matthaios, Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs: Texte und Interpretationen zur Wortartenlehre (1999), insbes. S. 392 ff. 5 Näher dargelegt in meinem Artikel „Savignys Geistigkeit und der Geist der justinianischen Kodifikation. Fortdauernde Wirkung trotz gravierender neuzeitlicher, nationalistischer und idealistischer Missdeutungen“, (Lit. Üb.) Ziff. 19.
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zu beweisen – die Bezeichnung Mensch genüge doch6 – war das ein vieles ankündigender Schritt seiner Sinnentleerung und Entsubstantialisierung. Er bedeutete Preisgabe der Normativität des alle Menschen unter das Gleichheitsprinzip stellenden Sinns des rechtlichen Personenbegriffs. Karl Larenz’ Versuch, die Rechtsfähigkeit der Person des BGB rassistisch-biopolitisch zu reduzieren,7 steht in dieser Tradition und bleibt als höchste Zuspitzung eines Irrwegs auch deswegen erwähnens- und bedenkenswert, weil auch diese wie jede rechtserhebliche dogmatische Begriffsfestlegung ein Akt war, der – damals in übelster, die menschliche Solidarität aufkündigender Inhumanität – nach Ursprung und Wirkung die Geschichtlichkeit der Dogmatik beweist. Alles denkerische Bemühen um die Definition des Menschen und anderer Grundelemente des Rechts mündet in dogmatischen, d.h. normativen Glauben heischenden rechtspolitischen Festlegungen, die durch Interpretation der Gesetze oder Erlass neuer Gesetze Recht werden wollen, auch heute. Der nun folgende Versuch, die geschilderte antike Entwicklungsgeschichte des Rechtswortes persona nachzuzeichnen, muss zwingend mit der ältesten und für alle weiteren grundlegenden Stufe der römischen Rechtswissenschaft beginnen. Ihr war zwar der Rechtsbegriff Person ganz fremd. Aber ihre ganz in einer pantheistischen Religion wurzelnde Vorstellung vom Ursprung des Rechts hat es erlaubt, dem von seinem erwähnten Ursprung her ganz auf das positiv Beobachtbare gegründeten Rechtsbegriff der Person in der erwähnten platonisierenden Weise eine höhere Legitimation des Rechts einzupflanzen.
II. Diese Vorstufe ist für unser Thema deutlich fassbar, nämlich in dem höchst auffälligen, man kann sagen brüsken Bedeutungswandel, mit dessen Hilfe das Wort persona im römischen Recht plötzlich die Herrschaft ergreift. In dem Ius civile der ältesten hellenistischen Rechtswissenschaft, in dem sich das pantheistisch
6 Siegfried Schlossmann, Persona und Πρόσωπον im Recht und im christlichen Dogma (1906). 7 Karl Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht – Zur Wandlung der Rechtsgrundbegriffe (1935), S. 21 = ders., Rechtsperson und subjektives Recht. in: Dahm u.a. (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft (1935), S. 225: „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Dieser Satz könnte an Stelle des die Rechtsfähigkeit ‚jedes Menschen‘ aussprechenden § 1 BGB an die Spitze unserer Rechtsordnung gestellt werden.“ Zu der von Larenz gelehrte Methode der „Reduktion“, die auch auf universale Geltung berechnete Begriffe von neuen in Sondergesetzen machtpositivistisch in Geltung gesetzten „Werten“ her einschränkbar macht, Hans F. Brandenburg, Teleologische Reduktion. Grundlagen und Erscheinungsformen der auslegungsunterschreitenden Gesetzeseinschränkung im Privatrecht, Göttingen 1983.
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durchgeistigte Weltbild der Stoa verwirklichte, war für einen Rechtsbegriff „Person“, der den Menschen zum Urheber allen Rechts erhebt, kein Platz. In der Zeit ihrer Herrschaft war persona kein Rechtsbegriff, sondern bezeichnete vielmehr entsprechend seinem ursprünglichen Sinn die Rolle und die Maske des Schauspielers8 und davon abgeleitet die unechte, die das wahre Wesen verstellende Charaktermaske. Er ist in Gegensatz gestellt zur facies, dem wahren Gesicht, aus dem die individuelle, ein Element des Göttlichen enthaltende Seele des Menschen hervorleuchtet.9 Daher wird der Spiegel zu einem von der providentiellen Natur geschaffenen Mittel der Selbsterkenntnis, eine stoische Vorstellung, die in Übereinstimmung mit dem Alter der vorklassischen Jurisprudenz bei Plautus bereits mit Selbstverständlichkeit begegnet.10 Der Mensch dieser Philosophie ist ein beseelter Körper (corpus),11 erkennbar und individualisiert pars pro
8 Die Rolle bezeichnet es in den Personenregistern der Plautuskomodien, die Maske z.B. in dem bekannten Text Aesop II 15: Personam tragoedi lupus in agro invenit, quam semel et iterum vertit. „O quanta species,“ ait, „et cerebrum non habet neque sensum!“ Haec fabula de illis dicitur qui gloriam et honorem habent, prudentiam vero nullam. (Ein Wolf fand auf einem Feld die Maske eines Tragöden und drehte sie einmal und dann noch einmal um: „Oh was für eine Schönheit, aber gehirnlos und ohne Verstand!“ Diese Fabel gilt denen, die Ruhm und Ehre, aber keinerlei Einsicht besitzen.) 9 Seneca, de beneficiis II 13,2 quid vultum habitumqe oris pervertat (sc. superbia), ut malit personam habere quam faciem? (Warum verkehrt er die Miene und den Gesichtsausdruck, so dass er lieber eine Maske trägt als ein menschliches Gesicht?); idem, epistulae morales 24,13 illi (sc. pueri) quos amant, quibus adsueverunt, cum quibus ludunt, si personatos vident, expavescunt: non hominibus tantum, sed rebus persona demenda est et reddenda facies sua. (Wenn Knaben maskiert sehen, die sie lieben, die ihnen vertraut sind, mit denen sie spielen, erschrecken sie; nicht nur den Menschen, sondern auch den Sachen muss ihre Maske abgenommen und ihr wahres Gesicht zurückgegeben werden.); Cicero, de legibus I 9, 27 is qui appellatur vultus, qui nullo in animante esse praeter hominem potest, indicat mores. (Das, was Miene genannt wird, die es in keinem anderen Lebewesen ausser dem Menschen geben kann, zeigt den Charakter an.) 10 Seneca, quaestiones naturales I 17,4 Inventa sunt specula, ut homo ipse se nosset, multa ex hoc consecuturus, primum sui notitiam. (Die Spiegel sind erfunden worden, auf dass der Mensch sich dadurch selbst erkenne, indem er viel daraus gewinnt, in erster Linie die Kenntnis seiner selbst); Plautus, Epicidus 382 PE(riphanes) Non oris caussa modo homines aequom fuit/ sibi habere speculum ubi os contemplarent suom,/ sed qui perspicere possunt [cor sapientiae;/ igitur perspicere ut possint] cordis copiam. (Nicht lediglich um des Gesichts willen ist es angemessen, dass die Menschen für sich einen Spiegel haben, in dem sie ihr Gesicht betrachten, sondern damit sie die Gehalte ihrer Seele erkennen.) 11 Ausgesprochen in der tria corpora-Lehre Pomponius 30 ad Sabinum D 41,3,30 pr.; von Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta (StVF) II S. 124 Ziff. 366–368 und Seneca ep. 102,6. Vgl. näher zu ihr in dem Beitrag „‚Corpus‘ und ‚Universitas‘“ (Lit. Üb. Ziff. 17) Ziff. 17.
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toto durch sein Haupt, sein caput, weil dieses sein beseeltes, ihn seelisch individualisierendes Gesicht trägt.12 Diese Anthropologie ist Teil des stoischen Weltbildes, das alles Sinnhafte und alle Sinnmöglichkeiten auf die qualitative Gegenwart eines sich in der qualitätslosen Stofflichkeit zur Geltung bringenden göttlichen schöpferischen Prinzips zurückführt. Das reicht von der menschlichen, zur Annäherung an das Göttliche aufgerufenen Seele über die Gestaltungsmöglichkeiten der sinnlich gegebenen Stoffe bis hin zu den politischen „Körpern“, die sich ihren providentiellen Sinnmöglichkeiten nähern, wenn sie, wie im vorklassischen Rom der Fall, eine Civitas bilden, die sich als Gliederung der Menschheit versteht, indem sie zwar durch ein ius proprium ihren Bürgern und ihrer Bürgerschaft eine selbständige Sonderexistenz gibt, sie aber zugleich als Menschen auffasst, die wie alle übrigen Menschen und in Gemeinschaft mit ihnen nach einem doppelten ius gentium leben, einem, das im Namen der stadtbürgerlichen Freiheit alle freien Menschen berechtigt, einem anderen, das nach den Prinzipien eines naturrechtlichen Verkehrsrechts alle Menschen in ihren jeweiligen Nähebeziehungen in Pflicht nimmt.13 Im Zentrum dieses pantheistischen Denkens stand nicht der Mensch, sondern das in allem aktuell oder potentiell wirksame, alles Sinnhafte erzeugende Göttliche. In der postulierten Höchstform des Menschen, dem Weisen, dessen Seele zu voller Übereinstimmung mit dem Göttlichen transfiguriert ist, hat es die volle Herrschaft erlangt und befähigt ihn, in welcher Lage er sich auch immer befindet, die ihn erfüllende und umgebende Sinndimension voll auszuschöpfen. Sobald die Rechtsverhältnisse seiner Stadt dem Richtigen so nahe gekommen sind, dass sie eine Mitwirkung an ihnen erlauben, betätigt er sich als der bestmöglich denkbare Bürger und Mitmensch.14 Die damaligen Juristen, die maiores unserer Überlieferung, waren überzeugt, dass es ihnen gelungen war, sich dem
12 Paulus 3 quaestionum D 11,7,44 pr. principale . . . id est caput (!), cuius imago fit, inde cognoscimur. (Die Hauptsache, d.h. das Haupt, von dem das „Bild“ ausgeht, an dem wir erkannt werden.); Martial 3,43 personam capiti (!) detrahit illa (sc. Proserpina) tuo. (Die Unterweltsgöttin entzieht Deinem „Haupt“ die Maske). 13 StVF II S. 111–116 Ziff. 299–324; für das Recht StVF III S. 79 f Ziff. 323; S. 87f. Ziff. 360. Näher interpretiert sind die das Recht betreffenden Stellen in „Che cos’ era il ius gentium“ (Lit. Üb. Ziff. 8). 14 StVF III S. 157,18 Ziff. 606 θείους τε εἶναι (sc. τοὺς σπουδαῖους). ἔχειν γὰρ ἐν ἑαυτοῖς οἱονεὶ θεόν. (Die unmittelbar das Vernünftige verwirklichenden Weisen sind göttlich. Denn sie haben gewissermaßen Gott in sich.) Daher ist Kennzeichen (vgl. Seneca, ep. 94, 48) des animus transfiguratus des Weisen, dass er kraft dieser seiner ihn führenden Seele alle sich bietenden Sinnmöglichkeiten der Welt in gottgleicher Weise erfassen und im Denken und Tun bestmöglich verwirklichen kann. In Folge dessen ist er auch, wo die Verhältnisse es gestatten, der schlechthin vorbildliche Bürger. Vgl. STVF III S. 157–160 Ziff. 611–624.
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Ideal des richtigen stadtbürgerlichen Rechts in ihrer Arbeit wenigstens weitgehend angenähert zu haben. In der Tat haben sie, ausgehend von den Zwölftafeln, von der ihre Rechtsfindung den Anfang nahm und die sie dem Buchstaben nach in Form von ius scriptum als ius proprium sorgfältig in Geltung hielten,15 durch Interpretation das soeben beschriebene Recht als ius non scriptum, als ungeschriebenes Recht freigelegt.16 Es war eine entschieden religiöse, auf Seelenführung gerichtete Rechtslehre. Dadurch erklärt sich auch, wie hier jedenfalls angedeutet sei, dass diese Jurisprudenz in dem Augenblick beginnt, in dem sich das für das Recht zuständige Priesterkollegium der Pontifices dem Hellenismus öffnete, und zwar mit dem ersten plebejischen Pontifex Sempronius, der sich durch sein Epoche machendes Wirken das griechische Cognomen der „Weise“ (sophus) verdient hat, und mit Tiberius Coruncanius, der Pontifex maximus, der als erster dieses von starken Werten des Zusammenlebens getragene Recht öffentlich zu lehren beginnt.17 Für die Wirkungsgeschichte dieses Rechts war dann aber nicht weniger bedeutsam, dass der pantheistisch-religiös motivierte Impuls, der sich in der zur Reife gekommenen Menschheit regte und sie dazu führte, Stadtstaaten zu gründen und in die Lebensform einer in Stadtstaaten gegliederten Kosmopolis überzutreten, eine ganz innerweltliche Ordnung meinte und daher auch alsbald ohne jeden Kontinuitätsbruch von „weltlichen“ Juristen betreut werden konnte, z.B. dem literarisch hervortretenden Zwölftafelkommentator Sext. Aelius.18 Aber
15 Cicero, de leg. I 5,17 a duodecim tabulis, ut superiores hauriendam iuris disciplinam; ders., de oratore I 43,193–45,200. Siehe auch Pomponius lb sg enchiridii D 1,2,2 §§ 5 und 38. Eine nähere Auslegung dieser Quellen gibt mein Beitrag „Che cos’ era il ius gentium antico?“ (Lit. Üb. Ziff. 8). 16 Die Parallelisierung der beiden Annäherungen an das Richtige, die jeweils in Vollkommenheit nie gelingen, geschieht durch das Wort ‚σπουδαῖος῾ (= unmittelbar tugendverwirklichend). Es ist zum einen dem Weisen vorbehalten (vgl. nur StVF III S. 150 Ziff. 567), den es, noch niemals nachgewiesen, als vollkommene Verwirklichung des Menschlichen vielleicht alle 500 Jahre einmal gibt (StVF III S. 164 Ziff. 657; Seneca ep. 42,1), zum anderen dem idealtypischen Gemeinwesen (StVF III S. 81 Ziff. 328), das nur als providentielle Möglichkeit gedacht werden kann: Als unerreichbares Vorbild verwirktlicht es, was der Name Polis (Civitas) nach diesem Denken fordert. Die real existierenden, notwendig unvollkommenen Stadtstaaten heißen nur uneigentlich so (STVF III S. 80 Ziff. 327). 17 Vgl. zu beiden Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I (1988) S. 534 ff., der zu Unrecht und ersichtlich, um das römische Recht tunlichst vor philosophischen Einflüssen zu „schützen“, entgegen der eindeutigen Überlieferung daran zweifeln möchte (S. 535), ob Sempronius (Konsul 304, Pontifex 300) angesichts seiner Prägung durch Philosophie überhaupt ein wirklicher Jurist war. 18 Vgl. zu ihm Wieacker a.a.O. S. 536 ff. mit dem anachronistischen Versuch, ihn im Unterschied zu Juristen, die gleichzeitig wie Sempronius Sophus als bedeutende Staatsmänner hervorgetreten sind, auf die Rolle des ersten professionellen „Zivilrechtsjuristen“ heutiger Art zu reduzieren.
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es ist nicht weniger bezeichnend, dass wir in der Endphase dieser Jurisprudenz, in der es um eine bedeutende, auch den Götterkult betreffende Neugewichtung des Verhältnisses zwischen freiheitlicher Berechtigung und fremdnütziger Inpflichtnahme ging, mit den P. Mucius Scaevola (Konsul 133) und seinem Sohn Q. Mucius Scaevola (Konsul 95) wieder zwei Pontifices maximi die Rechtswissenschaft dominieren sehen.19 Seneca meint sie alle, wenn er in einem Brief an Lucilius von den maiores qui crediderunt spricht, d.h. von den älteren Juristen, die gläubig waren, und im Hinblick auf Inhalt ihres Glaubens anfügt: Stoicos fuisse (sie sind Stoiker gewesen).20 Diese Juristen vertraten allesamt eine pantheistische Sicht, die von dem Denken, das am Ende die menschliche Person in den kreativen Mittelpunkt des Rechts stellen sollte, denkbar weit entfernt war.
Sextus führt den Spruch „se philosophari velle, sed paucis“ nicht im Munde, um sich unverbindlich an ihm zu erfreuen (so Wieacker S. 536), sondern weil Philosophie für ihn in einem bestimmten Rahmen, nämlich zur Erschließung der im Merkvers der maiores (Cicero, de off. III 17,69: quod civile, non idem continuo ius gentium, quod autem gentium, idem civile esse debet) eingeschlossenen Gehalte, notwendig war. 19 Hier nur soviel: Es ging in einer zentralen Frage darum, den verkehrsrechtlichen Zentralwert der Fides, der um das Jahr 250 unter dem Pontifikat des Coruncanius auf dem Kapitol ein Tempel errichtet worden war, unter Schonung des Staatskultes durch den anspruchsvolleren Wert der Bona fides zu ersetzen. 20 Die Feststelltung ist Teil der an seinen Briefpartner Lucilius gerichteten Aufforderung (Senecas, ep. 110,1): volo ut memineris maiores nostros qui crediderunt Stoicos fuisse; singulis enim et Genium et Iunonem dederunt. Er soll sich des stoischen „Glaubens“ der maiores erinnern, wenn er die Lehre bedenkt, dass Männern und Frauen je ein Genius oder eine Iuno innewohnt, dagegen die unstoische Vorstellung, die Ungenannte vertreten (quae quibusdam placent), dass jedem ein Gott als „Schutzgeist “ (deus paedagogus) zur Seite gestellt sei, abtun. Dass mit den Erinnerungswürdigen die hellenistischen maiores seit dem pontifex Sempronius sophus gemeint sind, ist dem Grundsatz nach nicht zweifelhaft. So wie die stoische Theologie Juppiter mit dem feurigen Aether, Juno dagegen mit der Luft identifizierte und am Ende eine elementare und zugleich rechtlich symbolisierte Hierarchie zwischen ihnen schuf (StVF II S. 313 Ziff. 1066: quoniam Iuno, hoc est aer subiectus est igni, id est Iovi, iure superposito elemento mariti traditum nomen est), so hat die stoische, in der vorklassischen Jurisprudenz praktisch gewordene Anthropologie gelehrt, dass nur der Mann consanguine Verwandtschaft weitergeben kann, die Frau dagegen nur uterine. Da die menschliche Zeugung die göttliche Urzeugung der „Erdgeborenen“ fortsetzt, ist damit dem Genius des Mannes, der ihn in seiner Geschlechtlichkeit definiert, gegenüber der Iuno der Frau in diesem pantheistischen Weltbild eine ontologische Überlegenheit zugesprochen, die dem göttlichen Vorbild entspricht. Siehe zu diesen in vorklassischer Zeit das Erbrecht der consanguinei in die Zwölftafeln einführenden und von Justinian endgültig beseitigten Vorstellungen zuletzt meinen Aufsatz „Custom and Reason“ (Üb. Ziff. 18) S. 353 ff.
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III. Der Vorgang, der den Menschen unter der Bezeichnung persona zum beherrschenden Zentrum der belebten Welt machte, war Ausdruck eines grundlegenden Wechsels der Perspektive. Er geht zurück auf die große Gegnerin Stoa, die skeptische Akademie, und zwar genauer auf die Römischen Vorlesungen, die der Leiter der Akademie und Enkelschüler des Carneades, Philon von Larissa, von der mithridatischen Partei aus Athen vertrieben, seit 88 v. Chr. in Epoche machender Weise in Rom darbot. Deren Wirkungen zeigen sich in gleicher Intensität auf zwei – durch sie damals in engste Verbindung getretenen – Gebieten, der Rhetorik und der Jurisprudenz. Philons durchschlagender Erfolg erklärt sich denn auch in erster Linie dadurch, dass er als erster in der von Platon gegründeten Akademie nach dem Vorbild des Aristoteles der Rhetorik neben einer schon zuvor skeptisch gewordenen Philosophie einen gleichgewichtigen, zu verschiedenen Zeiten unterrichteten Platz gegeben hat. Daher unterschied Cicero als sein Schüler auf seinem Tusculum ein Lykeion, in dem er morgens der Redekunst, von einer Academia, in der er nachmittags der Philosophie nachging.21 Gleich wichtig oder für Rom noch weit wichtiger war aber, dass Philon dem Redner, den er lehrte, darüber hinaus archetypisch die Rolle zuwies, durch eine Redefertigkeit, die überlegene, philosophische Einsichten über die Formen und Werte richtige Zusammenlebens überzeugend darzulegen vermochte, die Menschen einst zum Übergang in den Rechtszustand überredet zu haben. Wir finden daher die Zentralstellung der Person einerseits in systematischer Ausführung in Ciceros etwa um 83 v. Chr. abgefassten22 Jugendschrift De inventione, die ganz unter dem Einfluss jener Vorlesungen steht23 und denn auch programmgemäß eingeleitet wird durch jenen von Cicero seitdem als allgemeines Bildungsgut behandelten Mythos, der, indem der dem Redner das Verdienst zuschreibt, die Menschen zum Recht bekehrt zu haben, die Rhetorik in den Rang einer Kulturtechnik erhob.24 Die Person erscheint dort als Mittelpunkt einer
21 Vgl. Cicero, Tusc. disp. II 3,9; III 6,7; de divinatione I 5,8; II 3,8. 22 So zuletzt mit überzeugender Begründung Christoph Schwameis, Die Praefatio von Ciceros De inventione (2014) S. 171. 23 Vgl. die Worte Ciceros, de inventione II 3,9 f., in denen Philippson RE (1939) s.v. Tullius Sp. 1105 treffend das Bekenntnis zu Philon erkannt hat. Den Kontext dazu liefert Cicero, Brutus 89, 306 cum princeps Academiae Philo Mithridatico bello (= 88 v. Chr.) domo profugisset Romamque venisset, totum ei me tradidi admirabili quodam ad philosophiam studio concitatus und Orator 3,12 fateor me oratorem ex Academiae spatiis extitisse und das ebenda (16, 51) gesprochene Carneades noster. Vgl. auch die Quellen oben Anm. 21. 24 Die am Anfang gegebene ausführliche Schilderung des Mythos in De inventione I 1,1 – I 4,5 dient der Rechtfertigung des Wertes einer Beredsamkeit (eloquentia), die auf philosophischer,
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Kulturanthropologie, die in elf Attributen alles zu erfassen sucht, was an einem Menschen sozial relevant sein kann, beginnend mit seinem Namen über seine von Natur und Recht bestimmte Lebensstellung bis hin zu seinen Plänen, Taten und Reden.25 Wir finden sie andererseits in der Rechtswissenschaft, die von Servius Sulpicius Rufus, zunächst erfolgreicher Schüler der neuen philosophisch anspruchsvollen Redekunst an der Seite Ciceros, in einem scharfen Bruch mit der voraufgegangen Jurisprudenz durchgesetzt worden ist, indem er, wie Cicero aus bester Kenntnis berichtet, an die Stelle „fließender“ konkretisierungsbedürftiger Wertprinzipien der veteres die Anwendung prägnanter Regel-Begriffe setzte26 und statt der „ausgelegten“ Zwölftafeln das die Geltung der neuen Begrifflichkeit sichernde Edikt in das Zentrum der Rechtswissenschaft rückte.27 Die fundamental verschiedenen Grundannahmen begründeten biographisch vor allem einen unversöhnlichen Gegensatz des Servius gegenüber seinem bedeutenden Zeitgenossen Q. Mucius Scaevola pontifex maximus. So hatte Servius es als junger Redner hinnehmen müssen, wegen seines Unverständnisses des in Rom geltenden Rechts von Mucius energisch gerügt zu werden. Später, nachdem er sich durch intensive Studien mit dem Recht der maiores vertraut gemacht hatte, antwortete er mit einer gegen ihn persönlich gerichteten Grundsatzkritik, einer Monographie, den „Widerlegten Prinzipien des Scaevola“ (Reprehensa Scaevolae Capita).28 In dem von Servius erfolgreich zur Geltung gebrachten neuen Recht steht der Mensch im Zentrum als Person. Der nach dem Edikt gewährte Rechtsschutz wirkte zwischen berechtigten und verpflichteten oder sich einlassenden Personen.29
durch entsprechende Studien (studiis rationis et officii) erworbener Einsicht (sapientia) beruht. In der „Bearbeitung“ dieses Erstlings De oratore lässt I 8,33 Cicero den Redner Licinius Crassus, den Mentor seiner Jugend, den Mythos als eine kulturanthropologische Wahrheit darstellen. In der Rede pro Sestio 42, 91 behandelt Cicero ihn als allgemein konsentierte Meinung: Quis enim nostrum, iudices, ignorat etc. 25 Cicero, de inventione I 24,34–25,36, wiederholt unter dem Gesichtspunkt des Beweisarguments II 9,28–9,31. Erweitert wird der Blick durch vier negotiis attributa, d.h. Sachverhalte, in die der Mensch durch sein Handeln eintritt (vgl. I 26,37–28,43; entsprechend wiederholt II 12,38–42). 26 Cicero, Brutus 41,152–42,153. 27 Cicero, de leg. I 5,17; vgl. Pomponius lb sg enchiridii D 1,2,2, 44. 28 Vgl. einerseits Pomponius lb sg enchiridii D 1,2,2, 43, andererseits Gellius, Noct. Att. IV 1,20 sowie zur Arumentationsform der reprehensio Cicero, de inventione I 42,78. 29 Vgl. nur Ulpian 9 ad edictum D 3,3,25 und Gaius IV 2. Kennzeichnenderweise knüpft die erst mit dem klassischen Edikt auftretende Kategorie der in Pflicht nehmenden und daher in factum konzipierten Klagen und Einreden an das 9. Attribut der Person, ihre facta an, die in ius konzipierten, auf eine Berechtigung verweisenden Klagen dagegen an das 4. Attribut, die das Vermögen umfassende fortuna. Zu dem darin begründeten Klagformendualismus Gaius IV 45–46.
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Jeder Mensch ist Person und am Recht beteiligt, selbst der Sklave, so sehr ihn auch das Bürgerliche Recht zurücksetzt.30 Auslösend für dieses große, dem Begriff Person einen zutiefst positiven Sinn verleihende geistige Ereignis, das sowohl die lateinische Rhetorik wie das römische Recht dauerhaft geprägt hat, waren die in zwei Bänden publizierten, philosophiegeschichtlich höchst bedeutenden Römischen Vorlesungen Philons.31 Unter Philon hatte, wie Ciceros Crassus aus der Perspektive des Jahres 92 berichtet, die Rhetorik, soweit sie die Vorschriften für den konkreten, nach Ort, Zeit und Parteien definierten Rechtsstreit betraf, bereits in Athen, einen festen, wenn auch beschränkten Platz im Unterricht der Philosophenschule gefunden.32 Dagegen war das, was den Redner befähigen sollte, sich so maßgebend und vorbildlich über die Grundfragen des Rechts zu äußern, dass sein Ideal als zivilisationsstiftender Orpheus des Rechts gedacht werden konnte, zwar von Philon schon als Gegenstand der Lehre beansprucht worden, aber nach des gleichen Crassus’ Urteil so unzureichend ausgeführt, dass Philon dazu besser gar nichts gesagt hätte.33 Das änderte sich in Rom. In seinen Partitiones oratoriae stellt Cicero, ergänzt durch seine Topica, eine sorgfältig ausdifferenzierte ratio iuris vor, und
30 Daher heißt es in der klassischen (in der Kaiserzeit „prokulianischen“) Tradition bei Cervidius Scaevola 8 quaestionum D 29,7,14 pr.: non ante iuris ratio quam persona quaerenda (Das – berechtigende – Rechtssystem ist nicht vor der – zu berechtigenden – Person aufzusuchen.). Dass auch der Sklave, obwohl kein Bürger, für Servius nach materiellem Recht Person war, zeigt die Überlieferung Gaius III 179: Der Sklaven kann durch Begründung einer ihn treffenden Obligation eine Schuld übernehmen, aber, da der Hausgewalt unterworfen, nicht verklagt werden. Näher dazu The Natural Freedom (Lit. Üb. Ziff. 16) S. 7 f. Auch die Obligationen, die der Sklave im Rahmen der ihm übertragenen Vermögensverwaltung kontrahiert, treffen nach klassischen Recht ihn. Sie sind es, die durch die gegen seinen Eigentümer in Höhe des Aktivwertes des peculium gerichteten, in ius (!) konzipierten Klagen konsumiert werden. Vgl. nur Ulpian 28 ad edictum D 14,3,13 pr. 31 Grundlegend, insbesondere durch sorgfältige Zusammenstellung und Auswertung der griechischen Quellen, Charles Brittain, Philo of Larissa. The Last of the Academic Sceptics (2001). Zur notwendigen Ergänzung seiner Ergebnisse durch die Informationen, die wir aus der Wirkung gewinnen können, die Philons „Römische Vorlesungen“ für das Recht und die Rhetorik Roms gehabt haben, bereits „Die geistige Mitte“ (Lit. Üb. Ziff. 11) S. 100 ff. 32 Cicero, de oratore III 28,110 illud alterum genus, quod est temporibus, locis, reis definitum, obtinent (sc. Peripatetici philosophi et Academici), atque id ipsum lacinia (= in der Größe eines abgemessenen Feldstücks) – nunc enim apud Philonem, quem in Academia maxime vigere audio, etiam harum iam causarum cognitio exercitatioque celebratur, - Fortsetzung in der folgende Anmerkung. 33 Fortsetzung: alterum vero tantum modo in prima arte tradenda nominant et oratoris esse dicunt; sed neque vim neque naturam eius nec partis nec genera proponunt, ut praeteriri omnino fuerit satius quam attactum deseri; nunc enim inopia reticere intelleguntur, tum iudicio viderentur (sc. Peripatetici philosophi et Academici).
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zwar mit der Klarstellung: e media illa nostra Academia,34 eine Herkunftsbezeichnung, die dadurch bestätigt wird, dass wir die älteste Fassung der gleichen ratio iuris in der genannten Schrift De inventione finden.35 Ihren Erfolg können wir in der Folgezeit allenthalben, insbesondere aber in den Kommentaren zum klassischen, von Servius ins Zentrum gerückten Edikt nachweisen. Das neue Rechtssystem erscheint damit als Frucht der in Rom in den Jahren seit 88 geschehenen Begegnung der philonischen Philosophie mit der hochentwickelten vorklassischen Rechtswissenschaft. Diese Jurisprudenz musste – das war die Botschaft der Philosophie -, auf eine neue geistige Grundlage gestellt werden, war aber zugleich eine Rechtswissenschaft, die an alle, die sich an dieser Aufgabe beteiligten und sie ersetzen wollten, voran Servius, höchste Ansprüche stellte. In Athen, dessen Ius civile in den Augen der römischen Juristen, „inconditum ac paene ridiculum“ – „unfundiert und nahezu lächerlich“ – war,36 hatten dafür alle Voraussetzungen gefehlt. Nur in Rom fand Philons Philosophie die Bedingungen vor, die es möglich machten, an einem hochrangigen Rechtssystem Maß zu nehmen und es, in kritischer Weise sich an ihm abarbeitend, durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen, das als würdiger Inhalt in das Lehrprogramm der philonischen Rhetorik aufgenommen werden konnte. Ciceros Crassus weist denn auch in einer vaticinatio ex eventu, als ein durch Cicero informierter Prophet, aus dem Blickwinkel des Jahres 92 darauf hin, dass die Persönlichkeiten, die er demnächst in Rom die neue philosophisch legitimierte, das Recht umfassende Rhetorik in lateinischer Sprache lehren sehen werde – aus ihrem Unterricht sollten Cicero und Servius hervorgehen – die griechischen Rhetoriklehrer weit übertreffen würden.37 Eine entscheidende Voraussetzung für diesen Erfolg war, dass Philon in den Römischen Vorlesungen, wie das überlieferte Echo auf ihre Veröffentlichung beweist, eine neue Erkenntnistheorie entwickelt hatte,38 die auch gleich dem Begriff der Person zugutekommen sollte. Sie machte den Skeptizismus wissenschaftsfähig und führte in einer Weise über das skeptische Prinzip der Urteilsenthaltung hinaus, die ersichtlich ganz wesentlich mit der Begegnung mit dem römischen
34 Cicero, Part. orat. 37,129–131 mit 40,139 sowie Topica 23,90. 35 Cicero, de inventione II 22,65–68 und II 53,160–54,162. 36 Cicero, de oratore I 44,197 als Urteil aus dem Blickwinkel der maiores. 37 Cicero, de oratore III 24,94–95. Nachdem Crassus im Vergleich zu den rhetores Latini, die er als Censor aus der Stadt verwiesen hatte, ihren griechischen Kollegen bescheinigt hatte, dass sie sich wenigstens im Ansatz um eine fundierte Bildung des Redners bemühten: apud Graecos, cuicuimodi essent, videbam tamen esse praeter hanc exercitationem linguae doctrinam aliquam et humanitate dignam scientiam, sagt er mit Blick auf Rom: hominibus opus est eruditis, qui adhuc in hoc quidem genere nostri nulli fuerunt; si quando exstiterint, etiam Graecis erunt anteponendi. 38 Siehe nur die Einordnung der neuen Erkenntnislehre bei Charles Brittain, Philo of Larissa (oben Anm. 31) S. 359 als: „Epistemology: Roman“.
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Recht zusammenhängt. Denn die Art der erkenntnistheoretischen Differenzierung deutet darauf, dass für die neue Erkenntnistheorie die auch heute noch gültige Erfahrung maßgebend war, die für die Geltung und Ordnungskraft rechtlicher Begriffe ein verlässliches, vernünftig begründetes Meinen, eine h.M. (herrschende Meinung), ausreichen läßt. Philon hielt nämlich einerseits als Skeptiker daran fest, dass es eine „Begreifbarkeit“ der Dinge, die das Erfassen einer objektiven Wahrheit fordert, nicht gebe, wohl aber eine Wahrheit, die auf der „Natur“ der Dinge beruht, d.h. auf der Art und Weise, in der sie sich dem Menschen als Gegenstände seiner Umwelt in gleichmäßig wiederkehrender Weise verlässlich darbieten. Sextus Empiricus, Pyrrhon. Hypothes. I 235 Οἱ δὲ περὶ Φίλωνά φασιν ὅσον ἐπὶ τῷ Στοικῷ κριτηρίῳ, τουτέστι τῇ καταληπτικῇ φαντασίᾳ, ἀκατάληπτα εἶναι τὰ πράγματα, ὅσον δὲ ἐπὶ τῇ φύσει τῶν πραγμάτων αὐτῶν καταληπτἀ. (Die Schüler des Philon sagen, dass, soweit es das stoische Kriterium betrifft, d.i. nach einer [sc. „Wahres“] erfassenden Vorstellung, seien die Dinge nicht „begreifbar“, soweit es aber die Natur der Dinge selbst betrifft, seien sie begreifbar.)
Durch die Evidenz und die Gleichmäßigkeit der Sinneserfahrungen, ergänzt eine andere Quelle, sei Philon zu seiner Wende bestimmt worden.39 Damit war auch dem skeptischen Grundsatz des ‚nil opinari‘, die jede opinio, jede Meinung, als „dogmatisch“ (wir würden heute sagen, als „fundamentalistisch“) verwarf, der Boden entzogen. Vielmehr war jetzt ein festes, Wissenschaft möglich machendes „Meinen“ anerkannt, nur eben unter festgehaltener Ablehnung des „fundamentalistischen“, „höhere“ Wahrheitserfahrungen für möglich erklärenden percipere des stoischen Wahrheitskriteriums. Es gab jetzt ein percipere des gebildeten Redners, wie Cicero mit den auf seine Wissensform bezogenen Wendungen „ea, quae dicta, percepta“, „res percepta et cognita“, wenn man seine Terminologie kennt,40 unmissverständlich deutlich macht.41 Sie sprechen für den Redner die neue Sicht Philons aus, dass es ein verlässliches, zur Lehre und zum Aufbau einer Rechtordnung ermächtigendes Meinen auch ohne ein percipere im Sinne
39 Numenius fragm. ed. E. Des Places 79 (Brittain a.a.O. S. 357) ἡ δὲ τῶν παθημάτων αὐτὸν ἀνέστρεφεν ἐνάργειά τε καὶ ὁμολογία (Die Evidenz und Gleichförmigkeit der Sinneserfahrungen stimmten ihn um.). 40 Vgl. Keimpe Algra, The Cambridge History of Hellenistic Philosophy (2005) S. 298 ff: „‚perceptio‘ is used as a litteral translation of ‚katalēpsis‘“; „Cicero also renders katalēpsis’ by ‚cognitio‘“. 41 Cicero, de oratore I 11,48 Dicendi enim virtus, nisi ei, qui dicet, ea, quae dicta, percepta (!) sunt, exstare non potest (Die Tugend der Rede nämlich kann nur Wirklichkeit werden, wenn dem, der spricht, das, was er sagt, im Begriff fasslich geworden ist.); id. ibid. I 12,50 haec autem oratio, si res non subest ab oratore percepta et cognita (!), aut nulla sit necesse aut omnium inrisione ludatur (Diese Rede aber, wenn ihr kein vom Redner erfasster und erkannter Sachverhalt zugrundeliegt, ist notwendigerweise entweder nichtig oder dem Gespött aller preisgegeben.).
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der Stoa gibt.42 Da das gleiche Denken auch unkörperlichen rechtlichen Berechtigungsstrukturen eine menschliche Erkennbarkeit zuwies, die sie in ihrer verlässlicher Erfahrbarkeit den körperlichen Gegenständen gleichstellte,43 und zugleich im Menschen mit entsprechender Sicherheit rechtsethische Kräfte beobachtete,44 auf deren Geltung er vom Rechtssystem verhaltensleitend angesprochen werden konnte, waren alle Grundbegriffe, die für den Aufbau des klassischen Rechtssystems nötig waren, gegeben. Für die Inkraftsetzung dieser Gründung des Rechts kam es nur darauf an, wie es der Mythos der Überredung zur Zivilisation vor Augen rückt, die Menschen immer wieder erneut von der hinreichend gesicherten Wahrheit des auf dieser Grundlage aufgeführten Rechtssystems zu überzeugen, eine Aufgabe, die auch noch in einem auf uns gekommenen Fragment des klassischen Ediktkommentars anklingt.45
42 Cicero, Lucullus II 24,78 Licebat enim ‚nihil percipere et tamen opinari‘, quod a Carneade dicitur probatum: equidem Clitomacho plus quam Philoni (!) aut Metrodoro credens, hoc magis ab eo disputatum quam probatum puto. Philon vertrat den Eingangssatz, auch wenn er, wie es offenbar scheint, Unrecht darin hatte, sich für ihn – um das Neue seiner Wendung abzumildern – schon auf Carneades zu berufen. Die Rolle, die Metrodor in dieser nachgeordneten Frage spielt, ist ganz unklar (Brittain a.a.O. S. 6 Anm. 10). 43 Diese durch ihre doppelte Bezeugung, in Ciceros Topica 5, 26–28 und in den Institutionen des Gaius II 12–17, in einer für die Überlieferung des spezifisch klassischen Rechts typischen Weise dokumentierte Lehre verrät ihre spezifisch skeptisch-philonische Herkunft schon dadurch, dass die stoische Ontologie an den Orten, wo diese res incorporales auftreten, Unkörperliches nicht kennt. Ein Musterstück war im Recht der Bürgerrepublik die Ersetzung der vorklassischen körperschaftlichen societas publica durch die unkörperliche universitas singulorum. Vgl. „Corpus und Universitas“ (Lit. Üb. Ziff. 17). Für die Ablösung der vorklassischen Jurisprudenz war in diesen und in vielen anderen Fällen die Kategorie der res incorporales unverzichtbar. - Die Kategorie bildet zugleich eine Art Angelpunkt der Ersetzung einer pantheistisch geordneten, vom Menschen verstehbaren Welt durch eine vom Menschen äußerlich geordnete, in ihrer tieferen Sinndimension nicht verstehbare Welt. Denn für die Stoa sind unkörperlich das Sagbare, die Zeit, der Ort und Raum, d.h. Kategorien, die über den göttlich bewegten und mit Sinn erfüllten Kosmos zu sprechen erlauben, ohne ihn zu verändern oder irgendwie zu beeinflussen. Für die philonische Skepsis bilden dagegen die res incorporales gedankliche Kategorien, mit denen der Mensch seine Welt ordnet, indem er in sie Berechtigungsformen einführt 44 Cicero, de inv. II 53,161 naturae ius est quod non opinio genuit, sed quaedam in natura vis insevit; II 22, 65 quod nobis non opino, sed quaedam innata vis adferat. In der mythischen Rede kommen sie vor in der Erkenntnis des Redners (I 2,2): cognovit quae materia et quanta ad maximas res opportunitas in animis inesset hominum, si quis eam posset elicere et praecipiendo meliorem reddere; daher bewirkt seine Rede: urbibus constitutis, ut fidem colere et iustitiam retinere discerent. 45 In den folgenden Worten wird der Grundbegriff der Vertragslehre, die conventio, von der Zusammenkunft zur Staatlichkeit her beleuchtet (Ulpian 4 ad edictum D 2,14,1,3): Conventionis verbum generale est nam sicuti convenire dicuntur qui ex diversis locis in unum locum colliguntur et veniunt, ita et qui ex diversis animi motibus in unum consentiunt, id est in unam
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Der Begriff der Person ist gleich ein Paradebeispiel für die eine auf diese Weise gewonnene, nicht fundamentalistische, sich an Beobachtbares haltende Erkenntnis. Der Mensch ist durch ihn nicht mehr durch seine ein ihm anvertrautes Stück Göttlichkeit enthaltende Seele definiert, die eine seelisch wahre facies gegen eine Charaktermaske auszuspielen erlaubt, sondern durch äußere, sinnlich wahrnehmbare Merkmale, die individualisieren und zugleich unter allen Menschen Gleichheit herstellen. Die persona ist jetzt der Mensch als das von außen, von seinem für die anderen unmittelbar wahrnehmbaren, zum Sprechen eingerichteten und von Natur aus bei allen verschiedene Gesicht definierte Wesen. Das Bild der Theatermaske ist damit entschieden ins Positive gewendet. Kraft seines „sprechenden Gesichts“ ist ein jeder Mensch auf der Bühne des Lebens ein individueller und kommunikationsfähiger Akteur. Die Sprache, mit welcher der Mensch die Dinge benennt, Berechtigungsstrukturen und soziale Verhaltenswerte anerkennt und so die Voraussetzungen des Zusammenlebens schafft, ist jetzt das, was den Menschen über die Tierwelt, in der er in dieser Sicht nach Biologie und Soziobiologie wurzelt, hinaushebt und zur Errichtung von Rechtsordnungen befähigt. Die Zentralstellung der Person wurzelt damit in einer Sprachlehre, die über die Grundlegung der Formen der Grammatik hinausgehend Aussagen über die Natur des durch die Sprache herausgehobenen Menschen und seine Stellung in der Welt trifft. Das gilt schon für die Etymologie des Wortes, für die ein Grammatiker der Umbruchszeit zitiert wird. Sie leitet das Wort von einem zum vernehmbaren „Tönen“ (sonare) zweckmäßig eingerichteten Schädel und Gesicht des Menschen her und teilt damit eine selbständige, von der Theatermaske inspirierte anthropologische „Beobachtung“ mit.46 Tiefgründiger
sententiam decurrunt. (Das Wort Zusammenkunft ist allgemeiner Art. Denn wie man „Zusammenkommen“ von den Menschen sagt, die von verschiedenen Orten an einem Ort zusammengezogen werden und zu ihm hinkommen, so auch von denen, die von verschiedenen Gemütsbewegungen aus in ein und demselben übereinstimmen, d.h. zu einer einzigen Ansicht übergehen.) Die in der conventio zur Ruhe kommenden motus animi machen der auf Bewährung des als „wahr“ Anerkannten gerichteten Gesinnung (fides) Platz (vgl. Cicero, Part. Orat. 3,9), die den konsentierten, Berechtigungen zuordnenden Vernunftformen Achtung zu erweisen vermag, im Gegensatz zu den (Cic., Tusc. disp. III 4,7): motus animi rationi non obtemperantes. 46 Gellius, Noct. Atticae V 7,2 (Zitat aus Gavius Bassus. einem Grammatiker zur Zeit Ciceros): caput et os coperimento personae tectum undique unaque tantum vocis emittendae via pervium, quoniam non vaga neque diffusa est, in unum tantummodo exitum collectam coactamque vocem ciet, magis claros canorosque sonitus facit. Quoniam igitur indumentum illud oris clarescere et resonare vocem facit, ob eam causam persona dicta est o littera propter vocabuli formam productiore. (Der Kopf und das Gesicht ruft, von allen Seiten durch die Bedeckung der „Maske“ geschlossen und nur auf einem einzigen Weg für die zu äußernde Stimme offen, die vereinigte und
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finden wir die gleiche spezifisch skeptische Anthropologie in der Lehre, dass die Wechselrede in der ersten und zweiten Person Singular und Plural, d.h. in der Form des „Ich“ und „Du“ und der des „Wir“ und „Ihr“, auf die Menschen beschränkt ist, während über alles Übrige einschließlich der Tiere und Götter nur objektive Aussagen in der dritten Person Singular und Plural möglich sind. Sie stammt ebenfalls aus der durch die Wirkung der Römischen Vorlesungen Philons in der lateinischen Sprache heimisch gewordenen skeptischen Begriffsklärungskunst und ist damit Teil einer spezifischen philosophischen Ausprägung der uns bis heute geläufig gebliebenen, weit älteren Personenlehre der Konjugation. Martianus Capella IV De arte dialectica47 § 389 prima igitur et secunda persona et de homine tantum possunt intellegi et solae dictae aut verae aut falsae dici, quia cum his etiam nomina intelleguntur; tertio vero et non omnis
eingeengte Stimme allein durch einen einzigen Ausgang hervor und macht sie heller und tönender. Da also jener Überzug des Gesichts die Stimmer klarer ertönen und widerhallen lässt, ist er deswegen „persona“ („Durchtöner“) genannt worden, wobei der Buchstabe ‚o‘ um der Wortform willen verlängert erscheint.) Vgl. Donat, Ars minor, Gramm. lat. ed. Keil p. 248,33) dicitur persona, eo quod per se sonat (Man spricht von Person, weil sie „an sich“ tönt). Ausführlich zur Verknüpfung des Begriffs persona mit der Theatermaske Boethius, De personis et duabus naturis adversus Eutychem et Nestorium cap. III. Vgl. zuerst dazu „Der römische Weg zur Subjektivität“ (Lit. Üb. Ziff. 2) S. 234 [S. 396]. 47 Gemeint ist die auf Carneades zurückführende „Dialektik“ seines Enkelschülers Philon von Larissa, der ja nicht nur als erster nach dem Vorbild des Aristoteles die Rhetorik in das Lehrprogramm der Akademie aufgenommen, sondern durch seine erwähnte erkenntnistheoretische Differenzierung die platonischen Begriffskunst der Dialektik zu neuen philosophischen Ehren erhoben hat. Daher kann Brutus bei Cicero in dem ihm gewidmeten Dialog (42,153) als Anhänger der alten Akademie in der Begriffskunst des Servius die platonische „dialectica“ erkennen. Auf Carneades selbst verweist, dass dieser in dem Prooemium zu dem das obige Fragment enthaltenden Buch IV, in dem die „Dialektik“ unter den Göttern auftritt (327,10), als letzter in einem Vers lobend erwähnt wird, nach Aristoteles und Chrysipp (der letztere bezeichnenderweise mit dem Problem des Sorites, den Carneades berühmtermaßen dafür verwendet hat, Chrysipps Erkenntnislehre zu widerlegen, die an wahre Erkenntnis vermittelnde „Eindrücke“ glaubte; vgl. Cicero, Lucullus 29,93): Carneadesque parem vim gerat helleboro (und Carneades zeigte kraft des Nießwurzes gleiche Kraft“). Hierhin gehört auch, dass Diog. Laert. I 19 den Schüler des Carneades, Clitomachus, der dessen nur mündlich erteilte Lehre in Schriftwerke überführt und dadurch lehrbar gemacht hat, als Gründer einer „ethischen“ (d.h. sich auf Fragen des richtigen Lebens konzentrierenden) Schule einordnet, die als solche (!) „dialektisch“ genannt wird. Dem entspricht wiederum, dass Numenius in seiner Schrift über die Akademiker fr. 28 (vgl. den Text bei Brittain, oben Anm. 31, S. 357) von Philon sagt: τὰ δεδογμένα τῷ Κλειτομάχῳ ηὗξε („er kräftigte die Lehren des Clitomachus“), ihn also als erfolgreichen Fortsetzer der Schule des Clitomachus einordnet. Vgl. dazu auch oben Anm. 42 und 43.
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sola dici potest et non de solo homine intellegitur. (Die erste und zweite Person kann nur in Bezug auf einen Menschen verständlich verwendet werden und können nur deswegen, wenn ausgesprochen, für wahr oder falsch erklärt werden, weil mit ihnen auch die Namen verständlich werden48; die dritte Person dagegen kann insgesamt49 nicht allein verwendet werden und wird auch nicht allein in Bezug auf Menschen verstanden.)
Auf diese Klarstellung gestützt sagt Cicero in einer Senatsrede zu den Senatoren gewandt und sie zu selbständigem Denken auffordernd, sie sollten nicht glauben, es werde auf Erden einmal ein Gott an die Menschen herantreten und mit ihnen reden.50 Die damit in der Lehre von der Person getroffene Unterscheidung zwischen den Menschen, die mit einander sprechen und Gott und den Göttern, die nur ein „Über ihn oder über sie Sprechen“ erlauben, stimmt zugleich überein mit dem, was wir in der Attributenlehre der Person finden, wenn sie unter dem Attribut der Natur die sonst durchgehaltene Beschränkung auf den Menschen verlässt und auch Göttern und Tieren eine als Attribut einer Person gefasste Natur zuspricht,51 und zwar zu dem Zweck, dem Menschen als dem Wesen, das nicht zu und mit ihnen, aber über sie spricht, einen Ort zwischen beiden anzuweisen. Die gleiche Einordnung des Menschen finden wir auch, wenn das klassische ius humanum, ein aus berechtigenden Strukturen und in Pflicht nehmenden Werten bestehendes System, auf der einen Seite von der Ausstattung mit den
48 Der Name, das erste der elf Attribute (oben Anm. 25) der in das Zentrum gestellten persona, wird im Sprechakt (Attrib. 11, vgl. Anm. 59) durch die Person des Sprechenden oder Angesprochenen erschließbar. 49 Die vorausgesetzte Ausnahme findet sich a.a.O. 389 tertia vero persona non continuo intellegatur, nisi forte de deo dicatur aliquid, quod de eo solo potest intellegi; ut, cum dicimus ‚pluit‘, iam potest esse verum aut falsum, cum non addamus nomen. (Die dritte Person aber wird nicht sofort verstanden, es sei denn, es werde etwas von Gott gesagt, das allein von ihm verstanden werden kann; wenn wir z.B. sagen „ [sc. ‚Er‘] regnet [ = lässt regnen]“, kann es sofort wahr oder falsch sein, obwohl wir keinen Namen hinzufügen.) 50 Vgl. de haruspic. responso 28,62, zum Senat gewendet: Nolite enim id putare accidere posse quod in fabulis saepe videtis fieri, ut deus aliquis delapsus de caelo coetus hominum adeat, versetur in terris, cum hominibus conloquatur. (Glaubt nicht, es könne sich einmal ereignen, was ihr in den Theaterstücken häufig geschehen seht, dass nämlich ein vom Himmel herabschwebender Gott an eine Menschenversammlung herantritt, auf Erden weilt, mit den Menschen spricht.) 51 Cicero, de inventione I 24, 34/35. Weil unter den res personis adtributae die natura schwer zu definieren sei, greift die Darstellung zu einordnenden Distinktionen. Die daraufhin „Personen“ zugeteilten Teile der Natur (partes) werden teils einer göttlich-unsterblichen, teils einer sterblichen Gattung zugeteilt (partim divino partim mortali in genere); die letztere zerfällt in die Arten Mensch und Tier (mortalium autem pars in hominum, pars in bestiarum genere numerantur). Die Form partes vertritt hier auch den fehlenden Plural von species. Vgl. Cicero, Topica 3,14; 7,30.
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vorrechtlichen, sozio-biologischen Instinkten, die der Mensch mit den Tieren teilt, geschieden wird,52 auf der anderen Seite vom ius divinum, das die Rechte der Götter und Verpflichtungen ihnen gegenüber regelt und auf das menschliche Recht keinerlei Einfluss hat.53 Der gleichmässig nach seinem animus und corpus, nach seinen geistigen und körperlichen Möglichkeiten definierte Mensch54 ist damit als Person ganz auf sich gestellt. Rechtliches Handeln besteht in diesem System nicht mehr im möglichsten Einklang mit den kraft göttlicher Providenz in der Wirklichkeit geglaubten Prinzipien, sondern in der Achtung vor einem von einsichtigen Menschen konzipierten Recht. Daher lautet die Grundnorm dieses Rechts dahin, dass dem Menschen gewissermaßen kraft Natur, d.h. kraft seiner durch die Überredung zur Zivilisation verfeinerten Natur, vorgeschrieben ist, das systematisch ausgearbeitete Recht zu achten.55 Mit den Worten, die Cicero einem skeptischen Pontifex leiht: Dass es Achtung vor dem Recht gibt, beruht „ohne jedes göttliche Prinzip allein auf dem schweren Gewicht des Gewissens“.56 Daher ist der Mensch in diesem System auch berechtigt, den vernunftgemäßen
52 Vgl. zum Instinkt der Selbsterhaltung, der Menschen und Tieren gemeinsam ist, Carneades bei Cicero, de re publica III 12,21 omnes et homines et alias animantes ad utilitates suas natura ducente ferri und Ulpian 1 inst D 1,1,1,3 zum ius naturale quod natura omnia animalia docuit. 53 Die Unterscheidung der klassischen ratio iuris (Cic, Part. orat. 33,129) zwischen ius humanum (aequitas) und ius divinum (religio) bezieht sich ihrerseits zurück auf die allererste „ontologische“ Unterscheidung zwischen Natur und Norm (lex). Dadurch zerfallen beide Bereiche in (formal berechtigende) lex und (wertend berechtigende oder in Pflicht nehmende) natura. Im klassischen Edikt heißt die Unterscheidung für das Recht civilis aequitas und naturalis aequitas (siehe Labeo bei Ulpian 38 ad edictum D 47,4,1,1), in der Topica 23, 90 institutio aequitatis und natura. Für das ius divinum erschließt sich der Gegensatz zwischen einer die Götter formell berechtigenden religio civilis und einer die Götterverehrung unter Werte stellende religio naturalis. 54 In der Wiedergabe der Attributenlehre (oben Anm. 25) wird diese Teilung in corpus und animus dreimal hervorgehoben, für die Natur des Menschen, für seine Verhaltenstendenzen (habitus) und seine Gestimmtheit (affectio). 55 Cicero, Part. orat. 37,131 hoc in primis, ut nostros mores legesque tuemur quodam modo naturali iure praescriptum est. Auf diesem zivilisatorischen Naturrecht beruht das officium, die Amtspflicht des Gerichtsmagistrats, dessen auf die gesamte gesellschaftliche Rechtsordnung bezogenen Inhalte er, wie Lenel, Edictum perpetuum (1927)3 S. 16 richtig gesehen hat, im klassischen Edikt bekannt gibt. 56 Cotta spricht als Schüler des Philon (Ciceros De natura deorum I 59: Philo noster). Es geht um die Folge aus der skeptischen Einsicht, dass die Geltung des Rechts nicht auf göttlichen Prinzipien ruht (De natura deorum III 85): Invita in hoc loco versatur oratio; videtur enim auctoritatem adferre peccandi; recte videretur, nisi et virtutis et vitiorum sine ulla divina ratione grave ipsius conscientiae pondus esset; qua sublata iacent omnia. (Ungern verweilt die Rede an dieser Stelle; denn sie scheint die Erlaubnis zu geben, Böses zu tun; das würde zu Recht so scheinen, wenn es nicht ohne jedes göttliches Prinzip die schwere Last des unmittelbaren Gewissens gäbe; wird das aufgehoben, liegt alles danieder.)
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Gebrauch seines Gewissen sich selbst zum Ruhm anzurechnen, nicht mehr wie in der Stoa nur einer in ihm zu Geltung kommenden, göttlichen Kraft.57 In dem Maße, in dem diese Haltung bei Menschen habituell geworden ist, d.h. dem fünften Attribut der Person, seinem habitus, entspricht und dadurch in seinem animus zur Dominanz gekommen ist, entfaltet sich die Ordnungskraft des Rechts von selbst, ohne Eingreifen der Gerichtsbarkeit.58 Das spezifisch Humanistische oder Kulturanthropologische dieser Denkweise gipfelt in der Art, wie sie den Menschen in die empirisch erlebbare, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegliederte Zeitlichkeit stellt. Diese Zeitlichkeit bildet das Humanum schlechthin. Die Attribute, die den Menschen biographisch identifizieren, verfolgen die Person des Menschen von der Geburt und den mit ihr vorgefundenen Bedingungen, über Erziehung und Lehrzeit bis in das selbständige Leben der Volljährigkeit.59 Die weiteren Attribute, die den Menschen verantwortlich machen und entschuldigen, d.h. sein Handeln, die ihn treffenden Zufälle und seine Reden, werden unmittelbar nach den drei Zeitzonen gegliedert.60 Vor
57 Cicero, de natura deorum III 71 a deo tantum rationem habemus, si modo habemus, bonam autem rationem aut non bonam a nobis. Die ratio ist ein Attribut der natura und wird deswegen zugleich auf die Götter zurückgeführt, weil das Ausmaß des Gewährten als zufällig angesehen wird. Die moralische Qualität der Handhabung der Vernunft liegt dagegen in skeptischer Sicht allein in der freien Verantwortung des Menschen. Vgl. dagegen Seneca, ep. 41,2 Bonus vero vir sine deo nemo est; ep. 73,16 nulla sine deo mens bona est; ep. 92,3 talis animus esse sapientis viri debet qualis deum deceat. Der letzte Satz bedeutet, da nur der unendlich seltene (vgl. Anm. 14 und 16) „Weise“ durch Inkarnation göttlichen Geistes das Menschliche vollendet (ep. 115,3): in homine rarum humanitas. Vgl. dazu unten Anm. 77 und 79. 58 De inventione I 25,36 habitum autem appellamus animi aut corporis constantem et absolutam aliqua in re perfectionem, ut virtutis aut artis (!) alicuius perceptionem (!) aut quamvis scientiam et item corporis aliquam commoditatem non natura datam, sed studio et industria partam. Die Tugend der Gerechtigkeit verlangt daher ein das Verhalten bestimmendes Erfassen (perceptio) der ars iuris, so dass deren Ausarbeitung in ein fassliches System (de inventione II 22,65; 53,160; Part. orat. 30,129; Brutus 41,152 f.) primär ein ethisches Ziel verfolgt. 59 Vgl. a.a.O. Die dem Attribut Namen (nomen) folgenden Attribute Natur (natura), Lebensweise (victus), Glücksumstände (fortuna) führen den Menschen von seiner Geburt über die verschiedenen Stufen der Erziehung zu seinen Stellungen im praktischen Leben. Die restlichen sieben Attribute zeigen ihn um die Ausbildung seiner geistigen und körperlichen Anlagen bemüht (habitus), nach Geist und Körper Affekten unterworfen (affectio) und sehen ihn, beginnend mit der Philosophie, Studien hingegeben (studium), sinnvolle Pläne fassend (consilium) und in den drei Dimensionen der Zeit handelnd (facta), Zufällen unterworfen (casus) und redend (orationes). 60 De inventione I 25,36 facta autem et casus et orationes tribus ex temporibus considerabuntur. (Handlungen und Zufälle und Reden werden von drei Zeitpunkten her betrachtet.), etwa quid fecerit, quid faciat, quid facturus sit (was er getan, tut und tun wird.) In den in factum, d.h. auf einen verpflichtenden Handlungstypus hin konzipierten Klagen des klassischen Edikts hat dieses Attribut der Person eine besonders hervorstechende Bedeutung gewonnen. Vgl. Anm.
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allem aber wird seine Klugheit, die prudentia, der Leitwert der skeptischen Tugendlehre, die das richtige menschliche Verhalten ermöglicht, in dieser Weise gefasst, nämlich zeitlich gegliedert in Gedächtnis, Verstehen und Voraussicht: Das Gedächtnis (memoria) nutzt das Erinnerte, das Verstehen (intellegentia) begreift die Gegenwart, die Voraussicht (providentia) bewältigt die Zukunft.61 Das Recht ist in seinen berechtigenden Formen und Werten das mit Abstand wichtigste und ausdifferenzierteste Mittel, sich mit Hilfe des Erinnerbaren in der Gegenwart sicher zu bewegen und die Zukunft mit seinen Mitteln vernünftig zu gestalten. Als Teil der Tugendlehre wird es zur Haltung der „Gerechtigkeit“, zum habitus animi. Diese Gesinnung respektiert unter Wahrung des Gemeinwohls die Würde eines jeden Menschen in ihren durch das Recht definierten Formen und achtet dabei die eigenen und fremden Berechtigungen in einem Verhältnis der Gleichwertigkeit.62 In der Gewissheit, über diese drei Mittel zu verfügen und sie für sein Leben nutzbar machen zu können, die des Erinnerns, des Verstehens und der planvollen Sorge um die Zukunft, treten die Menschen dieser Lehre zu verfassten, das Recht ihrer Bürger und zugleich aller Menschen anerkennenden republikanischen Staaten zusammen, leben in ihnen politisch als Aktivbürger, um zugleich dort und potentiell zugleich in allen anderen Staaten als Weltbürger ihren jeweiligen Lebensinteressen nachzugehen. Es ist ein Konzept des Rechts, das in der Art, wie es die Menschheit normativ in offene, republikanisch verfasste Stadtstaaten gegliedert sehen möchte, demjenigen des vorklassischen Rechts ganz parallel gestaltet ist. Ein Hauptunterschied besteht darin, dass diese Ordnung nicht mehr wie in der vorklassischen Zeit, geglaubten, providentiell sich anbietenden und damit auf eine göttliche Vernunft zurückgeführten Möglichkeiten nachgestaltet
29. Auch die befreiende Wirkung des Zufalls und die verpflichtende Kraft der Rede sind allbekannte Grundelemente des klassischen Rechts. 61 Cicero, de inventione II 53,160 Partes eius (sc. prudentiae): memoria, intellegentia, providentia, memoria est, per quam animus repetit illa, quae fuerunt, intellegentia per quam ea perspicit, quae sunt; providentia per quam futurum aliquid videtur ante quam factum est. (Die Teile der Klugheit: Gedächtnis, Verstehen, Voraussicht. Das Gedächtnis ist das, wodurch das Bewusstsein zurückholt, was gewesen ist; Verstehen, wodurch es durchschaut, was ist; Voraussicht, womit etwas als Zukünftiges gesehen wird, bevor es geschehen ist.) 62 de inv. II 53, 159 virtus est animi habitus naturae modo atque rationi consentaneus. Ihre Teile sind (§ 160) Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia), innere Kraft (fortitudo) und Mäßigung (temperantia). Die Definition der Gerechtigkeit lautet: Iustitia est habitus animi communi utilitate conservata suam cuique tribuens dignitatem. Was das verlangt, ergibt sich aus dem anschließend mitgeteilten Rechtssystem (§ 161 – 54,162). Es ist identisch mit dem positiven System des neuen Rechts, nach dessen Werten und Strukturen vor Gericht gestritten wurde (II 22,65–68). Der individualistische Zentralwert ist jeweils die vindicatio genannte, eigene, aber auch in jedem anderen zu respektierende Selbstbehauptung (II, 22,65; II 53,161).
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ist, sondern allein Einsichten des Menschen folgt, der die Verhaltenswerte umfassenden Ordnungsmöglichkeiten seiner Umwelt erkennt. Übereinstimmung besteht dagegen darin, dass beide Konzepte keine vorherbestimmte, jemanden durch Geburt an die höchste Stelle berufende Hierarchie kennt, sondern es den individuellen, nach vorne offenen Biographien überlässt, wer von den Menschen sich fähig erweist, auf Zeit begrenzte Macht zu übernehmen. Der Kirchenvater Laktanz lobt stellvertretend Carneades dafür, dass er die von Platon und Aristoteles vertretene Ansicht, Gerechtigkeit sei eine Tugend nur der Richter und Machthaber, widerlegt habe.63 Gerechtigkeit sei vielmehr ein gemeinsames Gut, eine commune omnium bonum, und eine Eigenschaft, die auch der Geringste und Ärmste unter den Menschen beweisen könne.64 Das ist in der Tat die Überzeugung, die dem universalen Ius civile beider Traditionen innewohnt, gleich ob sie die Begreifbarkeit des Rechts pantheistisch oder humanistisch erklären, ob als Begabung einer für göttliche Wahrheiten empfänglichen Seele oder als Leistung eines rein menschlichen, in der Erfassung der Umwelt ordnender Erkenntnisse fähigen Bewusstseins. Diese beide Traditionen trotz ihrer erkenntnistheoretisch gewaltigen Unterschiedlichkeit vereinigende Gleichverteilung der Rechtsfähigkeit blieb in der Folgezeit grundsätzlich bewahrt, wurde aber durch eine Hierarchisierung modifiziert, die eine über dem positiven Recht stehende Herrschaft ermöglichte.
63 Lactantius, epit. 50 [55],5 = Cic. de re publica III 7,10 plurimi quidem philosophorum, sed maxime Plato et Aristoteles, de iustitia multa dixerunt, adserentes et extollentes eam summa laude virtutem, quod suum cuique tribuat, quod aequitatem in onnibus servet; et cum ceterae virtutes quasi tacitae sunt et intus inclusae, solam esse iustitiam, quae nec sibi tantum conciliata sit nec occulta, sed foras tota promineat, et ad bene faciendum prona sit, ut quam plurimis prosit. quasi vero in iudicibus solis atque in potestate aliqua constitutis iustitia esse debeat et non in omnibus! atquin nullus est hominum ne infimorum quidem ac mendicorum, in quem iustitia cadere non possit. summam illam virtutem, id est commune omnium bonum, paucis tribuerunt, eamque nullas utilitates proprias aucupari, sed alienis tantum commodis studere dixerunt. Die Gerechtigkeit wird von den beiden Philosophen allein Richtern und idealisierten Herrscher vorbehalten, weil sie sie – das ist die Kritik – einseitig fremdnützig stilisiert haben. Die Gerechtigkeit der beiden großen hellenistischen Lehren suchte dagegen immer und überall einen Ausgleich zwischen eigener und fremder Lebensnützlichkeit zu verwirklichen. 64 Fortsetzung: sed qui ignorabant quid esset, unde proflueret, quid operis haberet, summam illam virtutem, id est commune omnium bonum, paucis tribuerunt, eamque nullas utilitates proprias aucupari, sed alienis tantum commodis studere dixerunt. nec inmerito extitit Carneades, homo summo ingenio et acumine, qui refelleret istorum orationem, et iustitiam quae fundamentum stabile non habebat everteret.
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IV. Die dafür entscheidende, zweite, für die Neuzeit bestimmend gewordene Entwicklungsstufe des Personenbegriffs, welche die vorchristliche des augusteischen Prinzipats und die postkonstantinische, in Justinian mündende christliche Epoche vereinigt und in der sich ausgebildet hat, was die Zukunft bestimmen sollte, kann ich jetzt kurz umreißen. Für ihr Verständnis sind durch das bisher Gesagte alle Voraussetzungen geschaffen. Ihr Signum ist nämlich, dass mit ihrer Hilfe die beiden Traditionen, die vorklassische und die klassische, durch einen neuen, angereicherten Personenbegriff in ein fruchtbares Verhältnis zueinander treten. Der neue, für die Kodifikation des römischen Rechts bestimmend gewordene Personenbegriff war eine unter platonisierend personalen Vorzeichen erfolgte Vermittlung zwischen dem klassischen kulturanthropologischen und dem vorklassischen pantheistischen System. Sein leitendes Prinzip war die Erweiterung der Dreiteilung der menschlichen Zeit, die das Leben der Person in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gliedert, um eine transzendente Dimension, und zwar durch die Erweiterung der memoria, der Erinnerung durch eine normative, idealistische Sphäre. Dies geschah durch das Postulat eines grundsätzlich in die Ideenwelt zurückreichenden Gedächtnisses, kraft dessen der Mensch fähig ist, erinnernd und vergleichend sowohl das Richtige in der Tradition zu erkennen als auch es zum Besseren fortzubilden. Dieser neue, vom späten Cicero ausführlich mitgeteilte Begriff definiert den Menschen nach vier jeweils persona genannten Prägungen, die sich in ihm jeweils zu einer Einheit verbinden und sein Leben in der Zeitlichkeit individualisieren. Die erste Person ist die allgemeine Menschennatur, kraft derer ihm alle Wahrheit und alle Leitideen des richtigen Zusammenlebens der Menschheit kraft einer Präexistenz in potentiell durch Erinnern wieder aktivierbarer Weise von Geburt an mitgegeben sind.65 Die zweite Person verleiht dem Naturwesen Menschen alles Individuelle, vor allem die Art seiner Begabungen und damit das Maß, indem
65 Cicero, de officiis I 30,107 Intellegendum etiam est duobus quasi nos a natura indutos esse personis (Man muss verstehen, dass uns zwei personale Prägungen gewissermaßen von der Natur mitgegeben worden sind: quarum una (1) communis est eo, quod omnes participes sumus rationis praestantiaeque eius, qua antecellimus bestiis, a qua omne honestum et decorum trahitur et ex qua ratio inveniendi officii exquiritur. (Die eine von ihnen ist allen Menschen gemeinsam, weil wir alle der Vernunft und ihrer Vorrangstellung teilhaftig sind, durch die wir über den Tieren stehen; von ihr leitet sich alles Ehrenhafte und Sittliche her und aus ihr wird die zur Auffindung der Pflicht führende Vernunft ermittelt).
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er in sich die Möglichkeiten der höheren Menschennatur auszubilden vermag.66 Die dritte Person ergänzt die dadurch entstehende Differenzierung durch das, was sich in der Biographie eines Menschen zufälligen Umständen verdankt.67 Die vierte Person bezeichnet schließlich das, was der Mensch unter den drei vorgegebenen Bedingungen kraft seines Willen aus sich zu machen versteht, d.h. was er in seine Biographie, begrenzt durch Begabung und zufällige Umstände, kraft seines Willens aus den umfassenden Möglichkeiten seiner Menschennatur verwirklicht.68 Diese Personenlehre, die den Menschen als ein spezifisch kreatives und materiell urteilsfähiges Wesen definiert, hat das römische Recht der Folgezeit, d.h. in der Gestalt, die auf uns gekommen ist, geprägt, insbesondere dadurch, dass es einen kreativen, rechtsschöpferischen Willen des Menschen anerkennt. Sie geht zurück auf den Philosophen Antiochos von Askalon.69 Er war lange Zeit Schüler des Philon, d.h. des Urhebers der Personenlehre, hatte aber dann als dessen Nachfolger in einer großen Kehrtwende und in einer Rückkehr zur alten
66 Fortsetzung: altera (2) autem, quae propriis singulis est tributa. ut enim in corporibus magnae dissimilitudines sunt, alios videmus velocitate ad cursum, alios viribus ad luctandum valere, itemque in formis aliis dignitatem inesse, aliis venustatem, sic in animis existunt maiores etiam varietates. (Die andere personale Prägung ist diejenigen, die den Einzelnen im Besonderen zuteil wird. Denn so wie in den Körpern große Unterschiede vorhanden sind und wir die einen durch Schnelligkeit beim Lauf, die anderen durch Kraft beim Ringen tüchtig sehen und der äußeren Gestalt bei dem einen Würde, bei dem anderen Charme innewohnt, so treten auch in den seelischen Kräften große Unterschiede auf.) 67 Cic. de off. I 32,115 Ac duabus iis personis, quae supra dixi, tertia (3) adiungitur, quam casus aliqui aut tempus imponit. (Und den beiden personalen Prägungen, die ich oben erwähnt habe, wird eine dritte hinzugefügt, die uns ein Zufall oder die Zeitumstände auferlegen.) 68 Fortsetzung: quarta (4) etiam, quam nobismet ipsi iudicio nostro accommodamus. (Auch eine vierte, die wir uns selbst aufgrund unseres Urteils zumessen.) ipsi autem quam personam velimus, a nostra voluntate proficiscitur. itaque se alii ad philosophiam, alii ad ius civile, alii ad eloquentiam applicant, ipsarumque virtutum in alia alius mavult excellere. (Die Person nämlich, die wir selbst sein wollen, geht aus unserem Willen hervor. Daher widmen sich die einen der Philosophie, die anderen dem Bürgerlichen Recht, wieder andere der Redekunst und selbst in Bezug auf die Tugend will der eine in dieser, der andere in jener Tugend hervorragen.) 69 Vgl. die Nachweise in „Der biblische Gesetzesbegriff“ (Lit. Üb. Ziff. 7) S. 281 ff., 285 ff. [S. 433 ff, 437 ff.] und in „Die Republik und die Gesetze“ (Lit. Üb. Ziff. 14) S. 145 ff. [S. 525 ff.] Abwegig August Schmekel, Die Philosophie der mittleren Stoa (1892) S. 39 ff. Er will, von der damaligen Romanistik allein gelassen und daher ohne Vorstellung von dem, was die Rechtsentwicklung in der späten Republik bewegte (daher konnte er auch mit seiner „mittleren Stoa“ eine rechte, alle Differenzierungen verdunkelnde, philosophiegeschichtliche Schimäre in die Welt setzen), die ersten beiden Personenprägungen ausgerechnet einem Stoiker, nämlich Panaitios, zuweisen und in den beiden nächsten sogar einen eigenen Beitrag Ciceros erkennen.
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Akademie Platons, wie es zusammenfassend heißt, die gesamte Stoa in die platonische Philosophie herübergenommen. Sextus Empiricus, Pyrrhon. Hypothes. I 235 (= loc. supra cit.) Αντίοχος τὴν Στοὰν μετήγαγεν εἰς τὴν Ἀκαδήμιαν, ὡς καὶ εἰρῆσθαι ἐπ’ αὐτῷ ὅτι ἐν Ἀκαδημίᾳ φιλοσοφεῖ τὰ Στωικά· ἐπεδείκνυε γὰρ ὅτι παρὰ Πλάτωνι κεῖται τὰ τῶν Στωικῶν δόγματα. (Antiochos hat die Stoa in die Akademie überführt, so dass von ihm sogar gesagt wurde: In der Akademie lehrt er die Stoa. Er pflegte nämlich darzutun, dass die Lehren der Stoiker bereits bei Platon vorlägen.)
Im Ergebnis hatte er damit die platonische Anamnesis-Lehre in den Dienst eines Menschenbildes gestellt, das es ermöglichte, die beiden rechtswissenschaftlichen Traditionen als Versuche der Formulierung des ideell Richtigen zu interpretieren und zugleich – das war der Grund seines Erfolges – den verfassungsrechtlichen Bedürfnissen der Zeit entsprechend die Herrschaft eines kraft überlegener Einsicht über dem positiven Recht stehendenden Ausnahmemenschen zu rechtfertigen. Cicero hat bei diesem weitherzigen, politisch klugen Eklektiker gehört, ihn in seinen staatspolitischen Schriften vielfach herangezogen und vor allem dazu verwendet, um den Adoptivsohn Caesars, den neuen Caesar und künftigen Augustus, in berühmten Senatsreden, den Philippiken, als einen aus der göttlichen Sphäre kommenden, zur Rettung der Verhältnisse erschienenen Menschen zu legitimieren und so als gültige Verkörperung der persona principis anzuerkennen.70 Die Rechtsordnung, die Augustus im Jahre 27 v. Chr. als Res publica restituta, als eine Republik unter monarchischer Gewährleistung und Kontrolle gegründet hat und die im Kern die Rechtsordnung einer entpolitisierten Zivilgesellschaft war, ist von diesem Geist geprägt. Die eklektische Weiträumigkeit des antiocheischen Idealismus erlaubte es Augustus, die Jurisprudenz, die zur Pflege dieser Rechtsordnung berufen war, in einer Weise unter seine die Juristen ermächtigende Hoheitsgewalt zu nehmen – sie hieß auctoritas principis –, dass immer intensivere Rückgriffe auf die ältere, vorklassische Jurisprudenz möglich wurden. Das Ergebnis war die Entstehung der beiden kaiserzeitlichen Rechtsschulen, in denen von jeweils einer der beiden Traditionen darum gerungen wurde, die Privatrechtsordnung mit der
70 Dazu näher in: „Die Republik und die Gesetze“ (Lit. Üb. Ziff. 14) S. 148 ff. [S. 527 ff.]. Vgl. hier nur Cicero. Phil. VIII 10,29 O di immortales! quam magnum est personam in re publica tueri principis! (Oh ihr unsterblichen Götter! Was für eine große Sache ist es doch, im Gemeinwesen die Rolle des Prinzeps zu vertreten); ibid. V 16,43 quis populo Romano obtulit hunc divinum adulescentem deus? (Welcher Gott hat dem römischen Volk diesen göttlichen Jüngling geschenkt?); ibid. XII 4,9 C. Caesarem, deorum beneficio natum ad haec tempora. (C. Caesar, als Geschenk der Götter diesen Zeitläuften geboren.)
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neuen Verfassungslage in Einklang zu bringen. Konvergenzen von beiden Seiten waren die Folge, insbesondere auch in der Zeit Hadrians durch die Übernahme der Zentralstellung der Person auch in die Schule, in der an sich die Tradition des pantheistischen Ius civile erneuert worden war.71 Die Entwicklung steht unter dem Einfluss der neuen Verfassung. Denn die Tatsache, dass die an der Spitze des Staates stehende Person sich eine kraft „Erinnerung“ vernunftgeleitete Kreativität zusprach, die eine ganze komplexe Rechtsordnung in Geltung setzen und überall letztinstanzlich gewährleisten kann, hat die Kraft des Willens in den Zuständigkeiten des Privatrechts nicht geschwächt, sondern gestärkt. Auch im Privatrecht wird der Rechtsfolgewille zum bestimmenden Prinzip der Rechtsentwicklung. Noch bei Justinian, der in seiner Kodifikation diese Konvergenzen zum Abschluss zu bringen versucht, ist die voluntas, die im Privatrecht die Zukunft ordnende Rechtsfolgen in Kraft setzt, ein immer wieder genannter rechtspolitischer Leitgedanke der entsprechenden Reformgesetze.72 Die Person des Privatrechts hat durch diese Entwicklung alle Attribute erworben, die wir ihr auch heute zuerkennen. Um sich dessen zu vergewissern, genügt ein Blick auf die Person des BGB. Ihre Privatautonomie ist Willensherrschaft mit den Mitteln bereitliegender, von ihr kreativ nutzbarer Rechtsformen. Zugleich führt sie ihr Rechtsleben nach den Regeln der fünf Bücher des BGB in einem Medium fremdnütziger Werte wie Treu und Glauben und Verkehrssorgfalt, deren selbstverständliche Geltung in dieser Tradition auf eine Gemengelage von Naturrecht und dem Menschen einleuchtend gemachten sozialen Rechtswerten zurückführt. Die stärkste kontinuitätsbildende Kraft ging dabei davon aus, dass sich der bereits erwähnte und herausgestellte skeptische, Sprache und Recht verbindende Gedanke, dass der Mensch notwendig in der dreiteiligen, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestehenden Zeit lebt und das Recht in seiner Gegenwart sowohl als Mittel der Zukunftsbewältigung als auch als berechtigende Ordnung erlebt, die als solche immer schon da ist, sich nicht nur bis Justinian gehalten,
71 Die Institutionen des Sabinianers Gaius, die in systematischer Weise dem Menschen (persona) Vermögensrechte (res) und Klagformen (actiones) attribuieren, stellen das anschaulich vor Augen. Sie sind als Einführung in das komplexe Recht zu verstehen, das Julian, das hochklassische Haupt der Schule der Sabinianer, in der Kommentierung des von ihm im Auftrage Hadrians geordneten Edikts darstellt. Beide Werke, die Digesten Julians und die Institutionen des Gaius, beenden in dieser Schule die Alleinherrschaft der auf die Schulgründer Sabinus und Cassius zurückgehenden Darstellungen des Ius civile, die ihrerseits auf das die vorklassischen Jurisprudenz der Republik abschließende Werk De iure civili des Q. Mucius Scaevola pontifex maximus (cos. 95) zurückgehen. 72 Siehe unten Anm. 95.
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sondern bei ihm eine eigentümliche Vertiefung erfahren hat, die in christlicher Einkleidung den antiken, seit Augustus bestimmend gewordenen platonisierenden Idealismus erneut zur Geltung brachte und – ohne Rücksicht auf ihre jeweilige Religion – auf alle Menschen erstreckte. Justinian lehrt in seiner Kodifikation, dass das römische Recht, dessen Ursprung er ausdrücklich von Romulus herleitet,73 wie alle Elemente der Welt eine Schöpfung der Providenz der drei Personen vereinigenden göttlichen Trinität sei und dass er, wenn er als Gesetzgeber seiner Gegenwart in seiner Gesetzgebung die Elemente des Rechts für die Zukunft erneuere, dies kraft Inspiration durch diese Trinität tue. Das um die Personen gruppierte, die Gesetzgebung einleitende Institutionenlehrbuch, in dem die Elemente des Rechts, die Menschen und die Formen und Werte, durch die sie berechtigt werden, und die Klagen, die sie zur ihrer Verwirklichung erheben können, für die Kodifikation in erster geordneter Zusammenfassung vorgestellt werden, verweist denn auch im zweiten Titel Elementa74 auf eben diese Elemente. Deo auctore pr. . . . nostros animos ad dei omnipotentis erigimus adiutorium, ut neque confidamus nostro ingenio, sed omnem spem ad solam referamus summae providentiam trinitatis (!): unde et mundi totius elementa processerunt et eorum dispositio in orbem terrarum. (Unseren Geist richten wir empor zur Hilfe des allmächtigen Gottes, dergestalt dass wir nicht unserer Begabung vertrauen, sondern alle Hoffnung allein auf die Providenz der höchsten Dreieinigkeit setzen: Von ihr sind sowohl alle Elemente der gesamten Welt hervorgegangen als auch ihre Ordnung im Erdkreis.)
Constitutio Tanta § 1 quod caelesti fulgore et summae trinitatis favore confectum est secundum nostra mandata. (Was mit himmlischem Glanz und kraft der Gunst der höchsten Dreieinigkeit gemäß meinen Anordnungen vollendet worden ist ).
Dass Justinian der Trinität eine solche Rolle einräumen kann, beruht zunächst auf einer erfolgreichen Lehre Augustins, der sich hier wie so oft von Cicero inspiriert zeigt. Danach ist jeder Mensch, kraft seines Menschseins, bei aller Betonung 73 Daher sagt er mit dem kritischen Blick des Erneuerers Deo auctore § 1 omnem legum tramitem, qui ab urbe Roma condita et Romuleis descendit temporibus, ita esse confusum, ut in infinitum extendatur (Die gesamte Bahn des Rechts, die von der Gründung der Stadt und von romuleischen Zeiten herabführt, ist so verwirrt, dass sie sich ins Unendliche ausdehnt), lässt aber in seinen Worten keinen Zweifel, dass das von ihm für alle Zukunft erneuerte Recht (Const. Tanta § 22 Leges in omne aevum valituras) allein der römischen Tradition entstammt. 74 Siehe den Titel Institutionum sive elementorum liber primus. Entsprechend spricht Justinian in der Constitutio Omnem pr. von quatuor libris institutionum seu elementorum.
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des Abstandes zur göttlichen Dreieinigkeit ein Abbild der weltgeschichtlich wirkenden Trinität, weil er in den drei Zeitdimensionen lebt, der erinnerten Vergangenheit, der wahrnehmbaren Gegenwart und der vom sinnhaft motivierten Willen erfassbaren Zukunft.75 Zugleich ist der in die Zukunft gerichtete, durch die Erinnerung informierte Wille in diesem Menschenbild von Wahrheitsliebe geleitet und, da die Zukunft noch keinerlei Realität hat, in der Art, wie der informierte Wille von der Gegenwart her zuversichtlich auf die Zukunft zugreift, notwendig etwas Geistiges.76 Justinian seinerseits bewegt sich unmittelbar in der platonisierenden Anthropologie des Antiochos, die schon Augustus gerechtfertigt hat, wenn er für sich in seiner Gesetzgebung eine „Menschlichkeit“ (humanitas) in Anspruch nimmt, die auf eine ihm in seinem Wirken potentiell erreichbare Nachahmung Gottes (dei imitatio) gerichtet ist,77 und die ihn wie alle Kaiser als Rechtsquelle über das positive Recht stellt. Antiochos hatte insofern, wie Cicero bewahrt, den platonisierend gemeinten Satz, dass das Recht von der Natur des Menschen abzuleiten sei,78 aufgrund des spezifisch stoischen Satzes, dass göttliche und menschliche
75 Vgl. Augustinus, De Trinitate XV 43. Vgl. die ausführliche Wiedergabe und Interpretation des Textes in „Der biblische Gesetzesbegriff“ (Lit. Üb. Ziff. 7) S. 296 ff. [S. 448 ff.]. Zusammenfassend lehrt Isidor, Etym. VII 4,1 Trinitas appellata quod fiat totum unum ex quibus tribus, quasi Triunitas (Trinität wird genannt, was aus dreien ein einziges Ganzes macht, gewissermaßen eine Dreieinigkeit) ut memoria, intellegentia et voluntas, in quibus mens habet in se quandam imaginem divinae Trinitatis (wie Gedächtnis, Begreifen und Wollen, in welchen der menschliche Geist in sich ein gewisses Abbild der göttlichen Trinität trägt.). 76 Vgl. insofern die Klarstellung Augustinus a.a.0 (XV 7,13) non providentia nos instruit sed memoria (nicht die Voraussicht belehrt uns, sondern das Gedächtnis), ferner die Qualifizierung des Willens durch die Liebe als die stärkere Willensform (XV 21,41): amorem seu dilectionem quae valentior est voluntas) und schließlich die Zusammenfassung dieser auf die Zukunft gerichteten, mit dem Heiligen Geist verglichenen Fähigkeit des Menschen als (XV 22,43): „ein aus Wissen hervorgehendes, Gedächtnis und Verstehen verbindendes ‚liebendes‘ Streben des Menschen“ (amor hominis de scientia procedens et memoriam et intellegentiam coniungens). Postuliert ist damit die Möglichkeit einer praktischen, auf Wahres gerichteten Philosophie. Vgl. dazu Anm. 83. 77 CJ 5,16,27,1 (a.530) nihil aliud tam peculiare est imperiali maiestati quam humanitas, per quam solam dei servatur imitatio (Nichts ist der kaiserlichen Majestät so angemessen wie die „Menschlichkeit“ durch die allein die Nachahmung Gottes gewahrt wird.) Gemeint ist die (Const. Tanta pr.): divinae humanitatis providentia (die Fürsorge der göttlichen Menschlichkeit), die Justinian zur Kodifikation befähigt hat und die mit der weltlichen „Trinitität“, die dem Menschen Erinnerung, Verstehen und vernunftgeleiteten Willen gibt, zusammenfällt. Der herrscherliche Anspruch wird beleuchtet durch die im Hintergrund stehende, keineswegs ungültig gewordene Feststellung Senecas ep. 115, 3: in homine rarum humanitas (im Menschen ist „Menschlichkeit“ selten). Vgl. oben Anm. 57. 78 Cicero, de leg. I 5,17 natura iuris ab hominis repetenda natura; I 10,28 intellegi nos ad iustitiam esse natos, neque opinione sed natura constitutum ius. Die naturalis ratio, auf die in
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Tugend identisch sei,79 für den vollkommenen Menschen, der sich seiner göttlichen Herkunft und des damit verbundenen erinnerbaren, vollkommene Tugend vermittelnden Wissens umfassend bewusst ist, folgerichtig in der Weise gesteigert, dass er für ihn Gleichheit (similitudo) mit Gott postuliert.80 Das trat zugleich auf als eine Herleitung des Rechts „aus dem innersten Bereich der Philosophie“ (ex intima philosophia), die seinen Ursprung, wie Cicero ausspricht, über die beiden großen Rechtssysteme der Republik stellte81 und so dem Menschen an der Spitze die Möglichkeit verschaffte, sie selbst oder durch ermächtige Juristen zu interpretieren, fortzubilden und am Ende, wie Justinian es versucht hat, zu harmonisieren. Die platonisiernde Trinitätslehre, mit der Justinian dieses Recht in christlicher Einkleidung für sich selbst beansprucht, steht damit der spezifisch christlichen, die Justinian im ersten Titel seines Codex mit großer Sorgfalt in orthodoxer Weise kodifiziert hat,82 als Form der Begründung eines universalen Rechtglaubens ganz selbständig gegenüber. Ihretwegen kann Justinian an einer zentralen Stelle seiner Kodifikation auch sagen, dass die Juristen, die ausschließlich weltliches Recht lehren, Priester (sacerdotes) einer wahren Philosophie seien,83 und
der Kaiserzeit das Recht zurückgeführt wird (siehe nur Gaius I 1), ist daher die im platonische Sinne dem Menschen zum Begreifen und Ordnen mitgegebene “ideenreiche“, in Wahrheit im wesentlichen von den republikanischen Rechtstheorien genährte „natürliche“ Vernunft. 79 StVF I 129 Z. 9; III 59 Z. 12. Das Fragment III 59 Z. 21 erweitert die Wiedergabe des ersten Textes durch den Hinweis, dass diese stoische Lehre „um vieles der Frömmigkeit Platons ermangle“ (πολλοῦ δεόντες τῆς τοῦ Πλάτωνος ὁσιότητος). Vgl. oben Anm. 57. 80 Cicero, de leg. I 8,24 nullum est animal praeter hominem quod habeat notitiam aliquid dei. 25. Ex quo efficitur illud ut is agnoscat deum qui unde ortus sit quasi recordetur. Iam vero virtus eadem in homine ac deo est. est autem virtus nihil aliud nisi perfecta et ad summum perducta natura: est igitur homini cum deo similitudo. (Es gibt kein Lebewesen außer dem Menschen, das eine gewisse Kenntnis Gottes hat. Dadurch wird bewirkt, dass, wer Gott erkennt, sich gewissermaßen erinnert, woher er stammt. . Weiter ist in der Tat die Tugend im Menschen und in Gott dieselbe. Es ist aber die Tugend nichts anderes als die vollkommene und zu ihrer höchsten Vollendung gebrachte Natur. Es besteht also für den Menschen eine Ähnlichkeit mit Gott.) Vgl. oben Anm. 77. 81 Cic. de leg. I 5,17 Non ergo a praetoris edicto, ut plerique nunc, neque a duodecim tabulis, ut superiores, sed penitus ex intima philosophia hauriendam iuris disciplinam . (Das Recht sei also weder aus dem prätorischen Edikt [wie die seit Servius herrschende skeptische Jurisprudenz annimmt] noch aus den Zwölftafeln [wie die gläubigen maiores meinten], sondern aus dem Innersten der Philosophie zu schöpfen.) 82 Vgl. unten Anm. 92. 83 Ulpian 1 institutionum D 1,1,1,1 Cuius merito quis nos sacerdotes appellet; iustitiam namque colimus (Deshalb wird man uns zu Recht Priester des Rechts nennen; denn wir geben der Gerechtigkeit die Ehre.) Zuvor hatte es geheißen, dass ius als in der ars boni et aequi bestehend von der
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sich selbst als Gesetzgeber in der Tradition großer Vorgänger als jemand sehen, der ermächtigt ist, der Welt die ihr in Sachen des Rechts zugedachte und in der Geschichte bereits in bedeutenden, weiter zu führenden Ansätzen verwirklichte göttliche Wahrheit in gereinigter Form mitteilen kann. Er steht damit ganz in der Tradition des Augustus, der als erster mit dem Anspruch aufgetreten ist, als der Sohn des vergöttlichten Caesar für die gesamte von ihm beherrschte Welt das bisher erarbeitete Recht als eine geistige Ordnung in Kraft zu setzen, die kraft eines in ihm erschienen, höchsten, personal geprägten, vorsorglichen Willens gilt. Daher hat Justinian auch grundsätzlich nur Juristen in die Kodifikation aufgenommen, die von Augustus und seinen Nachfolgern zur Rechtsfortbildung ermächtigt worden waren. Seine Kodifikation vollendet damit zugleich die Wende Konstantins, indem sie bewusst dem spezifisch christlichen Aspekt der Trinität, die endzeitlich gestimmt war, einen eigenständigen in der Welt wirksamen Aspekt der Trinität des Rechts an die Seite stellte, die alle Menschen als nach dem Recht lebende und des Rechts bedürftige Personen erfasst und als solche der Welt Dauer verleiht. Darin liegt eine Aussage, die Recht und Religion mit der gleichen Klarheit unterscheidet und als Bereiche getrennt hält wie es die skeptische Akademie gelehrt und gegen die Stoa durchgesetzt hat.84 Zugleich gibt sie beiden eine gleichberechtigte Grundlage und Rechtfertigung. Dass Justinian, der Rechtskaiser, der zugleich als der größte Theologe seiner Zeit gilt, diese Aussage in die Form kleiden konnte, dass er in der Trinität zwei Aspekte unterscheidet, einerseits eine universale, welche die Welt und in der römische Geschichte für die Menschheit das ihrem Leben eine gesellschaftliche Ordnung gebende Recht hervorgebracht hat, andererseits eine religiöse, deren Offenbarung eschatologisch war, steht damit in ihrem ersten Teil ganz in der augusteischen Tradition und befriedet auf diese Weise zugleich eine alte Konfrontation. Die Art, in der das geschieht, bestätigt die Meinung, die der eingangs genannte Schlossmann im Rahmen seiner den Begriff der Person destruierende Untersuchung seinerzeit recht erfolgreich bekämpft hat, die Meinung nämlich,
iustitia abgeleitet sei. Beides, die Herleitung des Rechts von der Gerechtigkeit und ihre Bestimmung als wertegeleitete Kunst, bestätigen das Recht in dem Charakter einer aus einem normativ ideellen Raum schöpfenden praktischen Philosophie. Daher die schlußfolgernde Selbsteinordnung der Juristen als: veram nisi fallor philosophiam affectantes (als, wenn ich mich nicht täusche, eine wahre Philosophie Bekundende). Näher zu dem reichhaltigen, m.E. nach Stil und Geist von Justinian herrührenden Text in „Der Schlüssel zur Hermeneutik“ (Lit. Üb. Ziff. 15) S. 226 ff. 84 Vgl. zu der skeptischen Scheidung von ius divinum und humanum oben Anm. 53. Justinian konnte daher ohne Rücksicht auf die biblische Weisung für die den menschlichen Verhältnissen angehörende Ehe die Scheidungsfreiheit verteidigen und lehren: quidquid ligatur solubile. Vgl. „Der biblische Gesetzesbegriff“ (Lit. Üb. Ziff. 7) S. 417 [S. 264].
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dass das Phänomen, dass im lateinischen Westen die religiöse Trinität in die Gestalt dreier Personen gefasst wurde – nicht wie im Osten als drei Wesenheiten – auf eine Aneignung der Formensprache des Prinzipats zurückgeht.85 In der Tat hatte Augustus, der divi filius, Sohn eines Göttlichen kraft Adoption durch Caesar – nach einer schon von Sueton mitgeteilten Legende sogar ein von Apoll Gezeugter,86 – inspiriert durch den späten Cicero den Anspruch erhoben, als ein aus der göttlichen Sphäre Vollkommenheit mitbringender, von Juppiter gesegneter Mensch in der Welt einen neuen personal geprägten Geist verbreitet zu haben, der ihr durch ein alle Menschen erfassendes Recht dauerhaften Frieden bringen soll. Dass in dieser Sicht nicht nur Juppiter, auf dessen auguralen Kult und „väterlichen“ Segen der Augustus-Name zurückgeht, und der Princeps Augustus „Personen“ sind, sondern auch das Friedenswerk des Rechts, das durch platonisierende Interpretation ihrem Zusammenhang entstammt, fähig war, die gleiche Bezeichnung aufzunehmen, wird verständlich, wenn man bedenkt, dass hier das von Haus aus skeptische Wort persona in der Erkenntnislehre das stoische corpus ersetzt hat.87 Grundsätzlich war in der Sicht der philonischen Skepsis an die Stelle dessen, was in der pantheistischen Welt als material erfahrbar und daher erkennbar postuliert wurde, dasjenige getreten, was in der Sicht des Menschen, da beschreibbar vorhanden, Gegenstand der Sprache werden konnte. Zugleich hätte die platonisierende Lehre des Antiochos mit der Erweiterung der memoria auf die göttlichen Transzendenz die Zentralstellung der Sprache der menschlichen Person nicht aufgegeben. Wenn daher Plutarch sagt, dass Cato seine Rede (τὸν λόγον) als das Organ, das den Menschen zu den edlen Dinge befähigt wie einen zweiten Körper (ὥσπερ δεύτερον σῶμα) ausgebildet habe,88 dann hat Cato, übersetzt in die Sprache, für die der Mensch nicht corpus, sondern persona ist,89 eine weitere, von ihm unterscheidbare, aber nicht abtrennbare „Person“ ausgebildet, mit der er zu den Menschen spricht und durch
85 Hierzu bereits „Bibl. Gesetzesbegr.“ (Lit. Üb. Ziff. 7) S. 433 f. [S. 310 f.]. 86 Sueton, div. Augustus 94,4. Seine Quelle sind die libri Theolougomenon eines griechischen Autors namens Asclepias Mendes. Der Autor gab im Ergebnis eine Antwort auf Ciceros Frage (oben Anm. 70): Quis populo Romano obtulit hunc divinum adulescentem deus? 87 Alles was wirkt, ist im stoischen Denken „Körper“, d.h. ein in der qualitätslosen Stofflichkeit wirkendes göttliches und als solches „lebendes“ Wirkprinzip. Im skeptischen Denken wird dagegen zwischen belebten und unbelebten Stoffen scharf unterschieden, die Personifizierbarkeit aber der Sprache folgend auch auf letztere übertragen. Vgl. zu der hier eingreifenden fictio personarum (προσωποποιία) Quintilian 9, 2, 29–32 mit Verweis auf Cicero, Orator 25,85. Zu den daran anschließenden Personifikationen im Recht unten Anm. 91. 88 Plutarch, Marcus Cato I 4; vgl. Bibl. Gesetzesbegr. (Lit. Üb. Ziff. 7) S. 445 [S. 302]. 89 Vgl. Anm. 11.
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welche die Menschen ihn erfahren. Entsprechend würde man, wenn in der Überlieferung, wie möglich, gesagt worden wäre, Augustus habe mit seiner Wiederstellung des Rechtszustandes einen lebendigen corpus des gesamten Rechts aus sich entlassen,90 in einer entsprechender Übersetzung sagen, dass mit diesem Recht eine weitere, von ihrem göttlichen und menschlichen Ursprung nicht abtrennbare Person in die Welt getreten sei, die sich an die Menschen wendet und ihnen erfahrbar wird.91 Auf diese Interpretation bezogen erscheint die christliche Trinitätslehre der terminologisch und gedanklich schärfste Ausdruck des Gegensatzes zwischen einer endzeitlichen, auf eine Glaubensgemeinschaft beschränkten Religion und einem zukunftsoffenen menschheitlichen Rechts, beide gleichermaßen gestützt auf den der Skepsis fremden Glauben, dass das Göttliche durch besondere Menschen zu den Menschen in menschlicher Sprache sprechen kann. Umgekehrt erscheint dann Justinians Kodifikation mit seinem Bekenntnis zu einer Seite der Trinität, die als ein von Anfang an das Menschliche fürsorglich umfassende Schöpfungsprinzip auch das Recht hervorgebracht und dafür die römischen Geschichte ausersehen hat, als der klarste Ausdruck eines gefundenen Ausgleichs. Diese in der Welt wirkende und sie durch Recht erhaltende Kraft der „Trinität“ ermächtigte nicht nur den Kaiser, der durch besondere Nähe zur providentiellen Gottheit von ihr geführt das gesamte Recht gewährleistete. Sie erhob zugleich alle nach diesem Recht lebenden Menschen, die in der dreigliedrigen Zeitlichkeit allesamt notwendig an der imago trinitatis teil hatten, ungeachtet ihres Glaubens oder Unglaubens, in ihrem Bereich zu von einem höheren Prinzip ermächtigte, sie zukunftsfähig machenden Personen des Rechts. Darin liegt eine den individuellen Menschen als solchen erhöhende Wirkung des Rechts, deren Bedeutung für die europäische Geschichte gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
90 Livius formuliert für die Zwölftafeln, dass sie am Ende (III 34,8) velut corpus omnis Romani iuris in Kraft setzten werden, nämlich als prinzipiell unerschöpfliche (III 4,6) fons omnis publici privatique iuris. Dass diese Einordnung der Zwölftafeln als Quelle der gesamten „Verkörperung des Rechts“ den stoischen maiores gehört, zeigt Cicero, de oratore I 43,93 und de leg. I 5,17. Auch Justinian kennt den Ausdruck corpus iuris in diesem einen grossen, niemals Antworten verweigernden Prinzipienzusammenhang meinenden Sinn. Vgl. CJ 5,13,1 pr (a. 530). 91 Eine Parallele stellt, dass die Erbschaft, die wie eine politische Gemeinde vice personae behandelt wird (Florentin 8 inst D 46,1,22), dies in der Form darstellt, dass sie die Person des Verstorbenen vertritt (Florentin 11 inst D 30,116,3): hereditas personae defuncti qui eam reliquit vice fungitur. Vgl. auch Inst. 2,14,2. Und so wie sich der Erblasser mit der Erbschaft an den durch Testament oder Gesetz berufenen Erben wendet, so kann auch die durch von der augusteischen Res publica restitua getragene Rechtsordnung des Reichs als dessen Schöpfung unter Hinterlassenschaft zu den Menschen sprechen, personifiziert wie einst „cuncta Italia“ und „omnis res publica“ zu Cicero (vgl. Quintilian 9,2,32; Cic, in Cat. I 11,27).
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Wenn im übrigen der Kaiser im großen, die Orthodoxie der christlichen Trinität verteidigenden Eingangstitel des Codex Justinianus92 für die religiöse Trinität im Namen der orthodoxen Zweinaturenlehre die von den Nestorianern für die Menschwerdung Christi gelehrte rein menschliche „vierte Person“ als Anthropolatrie (Menschenvergötzung) verwirft,93 so erlaubt das, wenn man auf die gleichzeitige „weltliche“, über die imago trinitatis-Lehre alle Menschen erfassende Wirkungsgeschichte der Trinitätslehre zurückblickt, die Schlussfolgerung, dass in dieser Entwicklung von vornherein die durch dreigliedrige Zeitlichkeit gekennzeichnete Personenlehre die Führung hatte. Sie war es, deren memoria sich anamnetisch zur Transzendenz geöffnet und bewirkt hatte, dass die so hergestellte Beziehung zum Göttlichen auch für den gewöhnlichen Menschen eine unaufhebbare, bei aller individuellen Unvollkommenheit entwicklungsfähige Zweinaturenlehre begründete. Unter der damit hervortretenden Prämisse erscheint die insofern vorauszusetzende Einarbeitung des platonisierenden Leitgedankens des Antiochos in das dreigliedrige Menschenbild nicht nur nicht schwierig, sondern mehr eine Sache der Form als der Substanz.94 In jedem Fall war es die Folge der die Denkfigur des „bloßen“ Menschen abweisende imago trinitatis-Lehre, dass Justinian für sich beanspruchen konnte, mit Hilfe der Providenz in den Fragen der Rechtsetzung kraft inspirierter Erinnerung der römischen Rechtsgeschichte in seiner Zeit der Vollkommenheit nahegekommen zu sein, und in seinem Gesetzgebungswerk dem Willen jedes Einzelnen in seinem Bereich und seiner Biographie immer wieder bevorzugt rechtsgestaltende Kraft zuzusprechen vermochte.95
92 CJ I 1 DE SUMMA TRINITATE ET DE FIDE CATHOLICA ET UT NEMO DE EA PUBLICE CONTENDERE AUDEAT (ÜBER DIE HÖCHSTE DREIEINIGKEIT, DEN KATHOLISCHEN GLAUBEN UND DAS NIEMAND ÜBER IHN ÖFFNTLICH ZU STREITEN WAGE.) Er erhält sieben Konstitutionen und als achten Text aus dem Jahr 533 zwei Briefe von Papst Johannes II (533–535) und ein Antwortschreiben Justinians. 93 Vgl. CJ 1,1,6,7 (a. 533) und dazu Bibl. Gesetzesbegr. (Lit. Üb. Ziff. 7) S. 396 f. [S. 242 f.] mit Anm. 36. 94 Vgl. die vier Definitionen in den Fragmenten Anm. 65–68 mit der augustinischen Trias. Die erste Person des Antiochos hat danach die Erweiterung der memoria zur Transzendenz bewirkt. Dessen zweite Person, die den bloßen Menschen bezeichnet, verwandelt sich zusammen mit dessen dritter Person, die den dem Zufall ausgesetzten Menschen herausstellt, in die der jeweiligen Gegenwart zugewandte, sie erfassende und erleidende intellegentia. Dessen vierte Person bewirkte die durch die Transzendenz gestärkte, in die Zukunft gerichtete, dem Menschen mit den Mitteln des Gedachten die zukunftssichernde Gestaltung seiner Verhältnisse erlaubende voluntas. Immer handelt es sich um Aspekte des Menschen, die gegliedert, aber nicht getrennt gedacht werden können. 95 Vgl. nur etwa für die willenstheoretische Vertragslehre seine Entscheidungen CJ 8,41,8,1 (a. 530) und CJ 8,37,15 (a. 532) und für die entsprechend begründete Testamentslehre seine
Die Person im Recht
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Es bleibt jetzt nur noch zu bemerken, dass das römische Recht in der kaiserlichen Phase der Res publica restituta in steigendem Masse zu einem Privatautonomie ermöglichenden Privatrecht einer politisch entmündigten Zivilgesellschaft geworden war und auf diese Weise die Menschen den Gefahren, die von einer monarchischen überpositiven Interpretationsgewalt des Rechts bei willkürlicher Handhabung dieses Rechts ausgehen können, letzten Ende schutzlos ausgesetzt hat,96 dass es aber in sich den Gedanken der republikanischen Phase, dass die Vernunft, gleich ob pantheistisch oder humanistisch hergeleitet, als Lebensform des Menschen die politische, den Aktivbürger ermöglichende Republik will, nicht verborgen, sondern jederzeit und für die Neuzeit immer wieder wirksam sichtbar gehalten hat.97 Der Mensch im Recht, der, von seiner naturgegebenen Rechtsfähigkeit, seiner Befähigung für Recht, Gebrauch gemacht hat und in den Rechtszustand übergetreten ist, ist daher heute in dieser Tradition normativ grundsätzlich eine „bürgerliche“ Person, die als solche in ihrem Gemeinwesen, ihrer civitas, Aktivbürgerin, in jedem anderen als Angehörige der in den Rechtzustand übergetretenen Menschheit Trägerin von universalisierten „bürgerlichen“ Rechten ist, nicht die vorrechtliche, staatenlose (apatride), „natürliche“ Person, die unmittelbar auf Menschenrechte angewiesen ist und damit schon in der Antike auf eine Herrschaftsform verwiesen war, die kraft ihrer höheren, über allem republikanischen Staatsrecht stehenden Legitimation nicht mehr über Bürger, sondern – unter Umständen wohltätig, aber unkontrollierbar – einfach über Menschen herrscht.98 Bekundungen CJ 6,27,5,1a (a. 531) semper vestigia voluntatis sequimur testatorum und CJ 6,29,4,1 (a. 530): frequentissimas leges posuimus testatorum voluntates adiuvantes. 96 Für die ungerechten Rechtsentscheidungen des Kaisers galt grundsätzlich und a fortiori das gleiche, was Paulus in seinem Sabinus-Kommentar vom Gerichtsmagistrat sagt (Paulus 14 ad Sabinum D 1,1,11): praetor quoque ius reddere dicitur etiam cum inique decernit, relatione scilicet facta non ad id quod ita praetor fecit sed ad illud quod praetorem facere convenit. (Man sagt, dass der Prätor Recht auch dann gewährt, wenn er ungerecht entscheidet, indem man dabei nicht an das denkt, was der Prätor getan hat, sondern das, was dem Prätor zu tun gebührte.) Auch die Herrschaft des Prinzeps ist der verpflichtenden Idee nach Gewährleistung des Rechts, unterliegt aber keinerlei Kontrollen. Vgl. dazu Princeps legibus solutus (Lit. Üb. Ziff. 10). 97 Ein spätes, aber eindrucksvolles Beispiel ist die Verbindung zwischen Savignys universalem geistigen Republikanismus und dem politischen gewordenen, nicht weniger universalen Republikanismus Abraham Lincolns in dessen Gettysburg Address. Siehe dazu meinen Beitrag „Mommsens Glaube“ (Lit. Üb. Ziff. 6. S. 351 ff. [S. 340 ff.]). 98 Im humanistischen Recht der klassischen Republik war der Sklave als Mensch selbstverständlich Person, aber gleichzeitig als Nicht-Bürger von jedem Rechtsschutz ausgeschlossen. Vgl. den Nachweis oben Anm. 30. Die Kaiser konnten dagegen, da über den Rechtsformen der Republik stehend, ihm als Menschen und natürlicher Person Rechtsschutz gewähren. Vgl. Gaius I 7 sowie „Prinzipat und Sklavenrecht“ (Lit. Üb. Ziff. 1) und „The Natural Freedom“ (Lit. Üb. Ziff. 16).
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Damit bin ich am Ende meiner, wie eingangs gesagt, wesentlich auf die Antike beschränkten Untersuchung. Im Rückblick darf ich festhalten: Es ergeben sich bedeutende, das Denken belebende und bereichernde Zusammenhänge, wenn die Geschichte des Begriffs der Person in ihrem Durchgang durch Theaterkunde, Elementargrammatik, skeptische Philosophie und einen Stoa und Skepsis verbindenden platonisierenden Eklektizismus verfolgt wird. Wer behauptet, Dogmatik habe keine Geschichte, verschüttet diese Zusammenhänge und beraubt sich wertvoller Einsichten.
Literatur-Übersicht (= Lit.-Üb.) über Vorarbeiten des Verf. 1.
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Prinzipat und Sklavenrecht. Zu den geistigen Grundlagen der augusteischen Verfassungsschöpfung. In: Ulrich Immenga (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung (1980) S. 53–88; jetzt in Okko Behrends, Institut und Prinzip. Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Martin Avenarius, Rudolf Meyer-Pritzl, Cosima Möller (2004) S. 417–455. Der römische Weg zur Subjektivität. Vom Siedlungsgenossen zu Person und Persönlichkeit. In: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz, Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität (1998) S. 204–254 [= Institut und Prinzip S. 366–416]. Die Person oder die Sache – was stand im Mittelpunkt des klassischen römischen Privatrechts? Die Kontinuitätsfrage im Streit zwischen junger „Neopandektistik“ und nicht mehr ganz junger „Neoromantik“. In: Labeo 44 (1998) S. 26–60. La lex Licinia Mucia de civibus redigundis de 95 A.C. Une loi néfaste d’auteurs savants et bienveillants. In: Stéphane Ratti (Hrsg.), Antiquité et Citoyenneté (1999), jetzt in Okko Behrends, Scritti „italiani“ con un appendice „francese, una nota di lettura di Cosimo Cascione ed una postfazione dell’autore (2009) S. 525–543. Der Ort des Ius divinum. Vom klassisch-republikanischen Rechtssystem des skeptischen Rationalismus zur Rechtsquellenlehre des religiös legitimierten Kaisertums. In: Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link (2003) S. 557–585. Mommsens Glaube. Zur Genealogie von Recht und Staat in der Historischen Rechtsschule (2005); jetzt in O. Behrends. Zur römischen Verfassung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Martin Avenarius und Cosima Möller (2014) S. 311–380. Das staatliche Gesetz in biblischer und römischer Tradition. Sinn- und Gemeinschaftsstiftung durch Gehorsam fordernden Befehl oder positive Satzung im Rahmen einer immer schon bestehenden Rechtsordnung, in: O. Behrends (Hrsg.) Der biblische Gesetzesbegriff auf den Spuren seiner Säkularisierung (2006) S. 225–341 [= Zur römischen Verfassung (2014) S. 381–491]. Che cos’ era il „ius gentium“ antico? In: Tradizione romanistica et Costituzione I, dir. L. Labruna, cur. M.P. Baccari e C. Cascione (2006) S. 481–514 [= Scritti „italiani“ S. 435–468]. Das Geheimnis des klassischen römischen Rechts. Menschliche Freiheit und Würde in schützenden, friedlichen Wettbewerb erlaubenden Formen. In: Byoung Jo Choe (Hrsg.), Law, Peace and Justice. A Historical Survey (2007) S. 3–72.
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10. Princeps legibus solutus. In: Grote u.a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag (2007) S. 3–20 [= Zur römischen Verfassung S. 493–512]. 11. Die geistige Mitte des römischen Rechts. Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie. Savigny-Zeitschrift, Rom. Abt. 125 (2008) S. 25–107. 12. Das Sozialrecht. Sein Wert und seine Funktion in rechtshistorischer Perspektive. In: O.Behrends/ E. Schumann (Hrsg.), Gesetzgebung, Menschenbild und Sozialmodell im Familien- und Sozialrecht (2008) S. 1–29. 13. Das Kunstwerk in der Eigentumsordnung oder: Der Kunstbegriff der klassischen Jurisprudenz im Rahmen ihrer Weltdeutung. In: A. Hoyer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jörn Eckert (2008) S. 66–100. 14. Die Republik und die Gesetze in den Doppelwerken Platons und Ciceros. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2008 S. 133–182 [= Zur römischen Verfassung S. 513–558]. 15. Der Schlüssel zur Hermeneutik des Corpus Iuris Civilis. Justinian als Vermittler zwischen skeptischem Humanismus und panthetischem Naturrecht. In: Martin Avenarius (Hrsg.), Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts (2008) S. 193–299. 16. The Natural Freedom of the Human Person and the Rule of Law in the Perspective of the Classical Roman Legal Theory. In: The Tulane European and Civil Law Forum 26 (2011) S. 1–31. 17. „Corpus“ und „universitas“ und der Streit um die Aufklärungspflichten des Verkäufers. Nachrichten über zwei Hauptarten, das Recht zu denken. In: Index 41 (2013) S. 145–187. 18. Custom and Reason: Gender Equality nd Difference in Classical Roman Law. In: Stephan Meder, Christoph-Erich Mecke (Eds.), Family Law in Early Women’s Rights Debats. Western Europe and the United States in the nineteenth and early twentieh centuries. (2013) S. 321–372. 19. Savignys Geistigkeit und der Geist der justinianischen Kodifikation. Fortdauernde Wirkung trotz gravierender neuzeitlicher, nationalistischer und idealistischer Missdeutungen. in: Stephan Meder, Christoph Erich Mecke (Hrsg.), Savigny global 1814–2014. ‚Vom Begriff unserer Zeit‘ zum transnationalen Recht des 21. Jahrhunderts. (2016).
Theo Kobusch
Homo inquantum homo Zur Universalität, Unverlierbarkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte Der Gedanke der unverlierbaren und unveräußerlichen Menschenrechte konnte erst dann in unsere Welt kommen, nachdem die Philosophie sich der unbeschränkten Universalität des Moralischen bewußt geworden war, und dies geschieht am Anfang des neuzeitlichen Denkens. Das versucht der folgende Beitrag zu zeigen, indem er (1.) die Konzeption der ersten universalen Ethik verfolgt, (2.) die Univozität des Moralischen als neuzeittypischen Grundgedanken aufzeigt und (3.) den Begriffen des „Unverlierbaren“ und „Unveräußerlichen“ gerade auch aus historischer Sicht nachgeht.
1. Universale Ethik Der Beginn der neuzeitlichen praktischen Philosophie ist durch das Denken zweier Philosophen geprägt, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf. Beide leisten auf dem Feld der praktischen Philosophie in je verschiedener Weise, was Descartes in der Metaphysik vollbracht hat, nämlich eine neue Konzeption der jeweiligen Disziplin. Das betrifft sowohl die Methode wie auch den Inhalt. Methodologisch sind Descartes und Hobbes durchaus vergleichbar. Denn wie Descartes im Rahmen der von Pappus übernommenen Methode der „mathematischen Analyse“ die Analyse selbst im Gedankenexperiment des universalen Zweifels durchführt und so zu einem ersten unerschütterlichen Prinzip gelangt, so wird auch bei Hobbes in einem analytischen Gedankenexperiment der Staat als aufgelöst gedacht und die Erkenntnis der Natur der einzelnen Menschen als die Grundlage einer Staatstheorie angenommen. Während Descartes so die erste neuzeitliche Metaphysik entworfen hat, indem er sie nach der von dem spätantiken Mathematiker Pappus von Alexandrien übernommenen Methode der mathematischen Analyse komponierte, hat Thomas Hobbes die erste neuzeitliche praktische Philosophie etabliert, die gemäß der resolutiv-kompositiven Methode auf das Fundament eines ersten
DOI 10.1515/9783110537130-011
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Prinzips, nämlich das der Selbsterhaltung, gegründet ist.1 Pufendorf hat diesen methodologischen Zusammenhang zwischen beiden Denkern klar erkannt, indem er in beiden Fällen von einer (legitimen) „Fiktion“ spricht.2 Das Naturrecht erhält im 17. Jahrhundert durch das 1672 erschienene Werk von Pufendorf De Jure Naturae et Gentium sozusagen seine neuzeitliche Form. Denn ganz im Sinne Descartes’ folgt auch Pufendorf, jedenfalls in seinen späteren Werken, der Methode der mathematischen Analyse, die selbst aus einem analytischen und einem synthetischen Teil besteht.3 Pufendorf hat das Neue der neuzeitlichen Philosophie in der Anwendung dieser neuen, aber altbewährten Methode der Analyse gesehen, nach der es gilt, „nicht herumzuschweifen, sondern von sicheren Prinzipien aus gewisse Sätze durch gerechte Beweise zu bilden“.4 Für Pufendorf ist aber nicht nur Descartes, sondern auch Hobbes in methodologischer Hinsicht ein leuchtendes Vorbild. In seiner Abhandlung De statu hominum naturali hat Pufendorf besonders deutlich an die Hobbessche Methode angeknüpft und somit, wie dieser, seine praktische Philosophie auf ein letztes, unbezweifelbares Prinzip zurückgeführt. Eben dadurch ist der alten Naturrechtslehre die neuzeitliche Form verliehen worden. Zugleich hat sich Pufendorf jedoch in inhaltlicher Hinsicht deutlich von Hobbes distanziert. Während dieser die tierische Natur des Menschen als das durch die Analyse freigelegte, letzte Element des Gemeinwesens und somit als Ausgangspunkt der Synthese begriff, hat Pufendorf die Sozialnatur bzw. den Grundsatz von den entia moralia, der selbst auf der „Beobachtung“ der Natur des Menschen als einer Person beruht, als das Prinzip jeglicher moderner praktischer Philosophie angesehen.5 Was Pufendorf in der Introductio seines Hauptwerkes bemerkt, ist von außerordentlicher Bedeutung, und zwar sowohl im Hinblick auf seine Abgrenzung zur Aristotelischen Philosophie wie auch für den Charakter seines
1 T. Hobbes, De cive, Praef. ad lectores, OL 2, (ed.) G. Molesworth (1839), Repr. Aaalen 1966, p. 146, ferner c. XII 8, p. 291 und bes. c. VIII 1, p. 249. Auf die letztere Stelle nimmt auch Pufendorf, Eris Scandica, (ed.) Palladini, GW 5, Berlin 2002, p. 339, Bezug, um die gleiche Vorgehensweise zu erläutern, die auch Descartes befolgt. 2 Vgl. Pufendorf, Eris Scandica, (ed.) Palladini, GW 5, p. 64, 22–24. Dazu H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geisteswissenschaftliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972. 3 Zur Methode der „mathematischen Analyse“ und ihrer Rezeption in der Philosophie der Neuzeit s. T. Kobusch, Selbstwerdung und Personalität (im Druck). 4 S. Pufendorf, Eris Scandica und andere polemische Schriften über das Naturrecht, (ed.) F. Palladini, GW 5, p. 271. 5 Vgl. Pufendorf, Eris Scandica, (ed.) Palladini, GW 5, p. 179sq.; p. 182. Zu den Einzelheiten vgl. T. Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997, pp. 68sqq.
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eigenen Werkes. Die traditionelle Metaphysik aristotelischer Prägung hat ja den Anspruch erhoben, das Seiende im allgemeinsten Sinne und die „weitesten Bestimmungen der Dinge“ zu behandeln. Faktisch aber hat sie sich auf den Bereich der Naturdinge beschränkt und sich nicht um die Welt der Freiheit gekümmert. Ja „viele“, so lautet die berechtigte Kritik Pufendorfs, „haben nicht einmal über diese Gegenstände nachgedacht“. Da diese es aber sind, die das Leben der Menschen eigentlich bestimmen, bedarf es einer thematischen Behandlung dieser „von den Meisten vernachlässigten Lehre“.6 Das Naturrecht bezweifelt also den Allgemeinheitsanspruch der Aristotelischen Metaphysik und versteht sich selbst offenbar, soweit es Lehre von den entia moralia ist, als eine Form der Metaphysik. An anderer Stelle hat Pufendorf auch den Allgemeinheitsanspruch der Aristotelischen Ethik zurückgewiesen. Die Aristotelische Ethik ist in Wirklichkeit, da sie im Ganzen die Wirklichkeit und Normenwelt der griechischen polis widerspiegelt, nach Pufendorf eine partikuläre Ethik. Demgegenüber beansprucht seine Naturrechtslehre, die erste universalistische Ethik (ethica universalis) zu sein, deren Gegenstand die Welt der endlichen Freiheit darstellt und in deren Mittelpunkt die Person als das substantielle Sein der Freiheit steht. Das Naturrecht hat also einerseits als Disziplin etwas von einer Metaphysik an sich, andererseits versteht es Pufendorf als universale Ethik. Es ist beides in einem: Metaphysik und Ethik, ein Vorläufer der Philosophia practica universalis, der metaphysica moralis und schließlich auch der Kantischen Metaphysik der Sitten. Die Bedeutung des Hauptwerks De Jure Naturae et Gentium für die moderne Welt scheint noch gar nicht recht erkannt zu sein. Die Bedeutung liegt darin, daß Pufendorf die Lehre von den entia moralia als ontologische Grundlage der ersten „universalen Ethik“ ansieht. Gegenüber der Tradition der aristotelischen Ethik, die Pufendorf als an die griechische polis gebundene partikuläre Ethik begreift, erhebt Pufendorf den Anspruch, als „erster das Eis gebrochen“ und aufgrund reiner Vernunft (ex sola ratione) das eine Prinzip erforscht zu haben, das „alle Völker, welche Religion sie auch haben, zulassen oder zu dessen Zulassung sie doch durch die Evidenz der Gründe gezwungen werden (adigi) könnten“.7 Dieses Prinzip ist der Fundamentalsatz, der sich allein aufgrund der Beobachtung der menschlichen Natur ergibt, nämlich der von der „universalen Sozialität“, die „absolut alle Menschen“ betrifft und den Gesetzen aller partikulären Sozietäten
6 Pufendorf, De jure naturae et gentium I, c. 1, §1, (ed.) F. Böhling, GW 4.1, Berlin 1998, p. 13,1sqq. [übers. TK]. 7 Pufendorf, Eris Scandica, (ed.) Palladini, GW 5, p. 33. Zum Erstheitsanspruch vgl. ibid., p. 180.
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zugrunde liegt.8 In diesem Sinne sind die Fundamente des Naturrechts nach Pufendorfs ausdrücklicher Bemerkung von ihm deswegen gelegt worden, um alle Menschen, „insofern sie Menschen sind“, auf der Basis der Vernunft zu erreichen.9 Hält man sich diese selbstinterpretatorischen Bemerkungen vor Augen, kann es keinen Zweifel geben: Das Naturrecht in der Pufendorfschen Form versteht sich selbst als die erste, kultur- und religionsübergreifende universale Ethik, deren Anliegen durch die Philosophia practica universalis fortgesetzt und schließlich durch die Metaphysik der Sitten Kants vollendet wird. Es ist kein Zufall, sondern eher ein Beleg, daß der Ausdruck „universale Ethik“, durch den die Distanz zur partikulären aristotelischen Ethik gekennzeichnet wird, bei Pufendorf zum ersten Mal begegnet.10 Wenn heutzutage namhafte Aristoteles- und Kantforscher den aristotelischen und kantischen Ansatz in der praktischen Philosophie miteinander harmonisieren wollen, dann wird gerade dieses neue Selbstverständnis der universalen Ethik, das zum Verständnis der praktischen Philosophie Kants unverzichtbar ist, übersehen. Dieser Anspruch auf die Universalisierung der Handlungsregeln ist denn folgerichtig auch im Rahmen der Philosophia practica universalis erhoben worden.11
8 Ibid., p. 64: „Ea porro socialitas, non in illis tantum terminatur, qui peculiari nobiscum societate juncti sunt, sed ad omnes omnino homines porrigitur. Et leges universalis istius socialitatis quarumvis particularium societatum leges antecedunt, [. . .].“ Pufendorf charakterisiert öfter seinen „Fundamentalsatz“ als einen, der auf „Beobachtung“ beruht, d.h. auf Erfahrung, vgl. ibid., p. 164. Abgelehnt wird damit zugleich Velthems Ansicht, es sei ein apriorisches indemonstrables Prinzip vom Typ der per se nota: ibid., p. 179. Zur Unterscheidung dieser beiden Arten von Prinzipien, den principia per se nota und den auf Erfahrung beruhenden Prinzipien s. T. Kobusch, „Der Experte und der Künstler. Das Verhältnis zwischen Erfahrung und Vernunft in der spätscholastischen Philosophie und der neuzeitliche Wissensbegriff“, in: Philosophisches Jahrbuch, 90 (1983), pp. 57–82. 9 Pufendorf, Eris Scandica, (ed.) Palladini, GW 5, p. 133. Zur Formulierung „ad captum omnium hominum“ vgl. auch ibid., p. 282. Vgl. auch ibid., p. 154: „Verum cum nobis jus naturae et gentium hoc fine tractetur, ut sit regula actionum et negotiorum inter omnes homines non qua Christiani, sed qua homines sunt.“ 10 Pufendorf, Brief an Thomasius (19.6.1688), (ed.) Döring, GW 1, Berlin 1996, 194sq.: „Uber Aristotelis ethicam, und undecim nomina virtutum habe ich mich vielmal mit H. Weigelio zu Jena lustig gemachet. [. . .] Es befindet sich aber so wohl bey Aristotele, als allen Graecis, daß sie ihre democratias für die beste art von republiquen halten, und demnach auch ihre morale einrichten. [. . .] Denn damit könnte man selbiger morale auf einmahl die kehle abschneiden, als die nur particuliere ist, und auf gewiße formam civitatis eigentlich eingerichtet. Wir aber suchen ethicam universalem.“ Vgl. Pufendorf, Brief an Pregitzer (29.7.1687), (ed.) Döring, GW 1, p. 164. 11 Vgl. z.B. J. C. Gottsched, Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, Praktischer Theil, Leipzig 1762, §12: „Wir nennen diese Sittenlehre aber eine allgemeine, weil ihre Lehren sich in allen Altern, Geschlechtern, Ständen und Lebensarten der Menschen ohne Unterschied brauchen
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Heute, da die Werke Pufendorfs kaum mehr gelesen werden, ist auch nicht mehr bewußt, was sie für eine große Wirkung hatten. Um 1750 herum war das Hauptwerk in nicht weniger als dreizehn europäische Sprachen übersetzt. Überall in Deutschland wurde es, bzw. die Kurzfassung De officio hominis et civis iuxta legem naturalem, die 1673 erschien und 1691 ins Deutsche und 1715 ins Englische übersetzt wurde, den moralphilosophischen und politologischen Vorlesungen in Tübingen, Helmstedt und anderswo zugrundegelegt, freilich auch ebenso weitverbreitet und heftig kritisiert. Es gibt einen schönen literarischen Beleg für diese weite Verbreitung der Pufendorfschen Ideen. In Kleists Zerbrochenem Krug sagt der Dorfrichter Adam: „Die Welt, sagt unser Sprichwort, wird stets klüger / Und alles liest, ich weiß, den Pufendorf“.12 Tatsächlich sind die Ideen Pufendorfs und das heißt immer auch: seine Lehre von den entia moralia im 18. Jahrhundert auf breiter Ebene rezipiert worden und in das Naturrecht des 18. Jahrhunderts eingeflossen. Sie haben so vermittelt über Autoren wie Achenwall bzw. Nettelbladt und Heineccius, aber auch Leibniz auch die Werke Kants und Hegels tiefgreifend beeinflußt. Von besonderer Bedeutung in unserem Zusammenhang ist die Rezeption bei Christian Wolff und in der Wolffschule. Wolff hat eine neue Disziplin kreiert, in der die Prinzipien des Naturrechts behandelt werden: die Philosophia practica universalis, die ganz eng mit dem Naturrecht von 1740 und den Institutiones juris naturae et gentium von 1750 verbunden ist. Unter den entia moralia versteht Wolff vor allem die Rechte und Pflichten des Menschen, die ihn als sittliches Wesen konstituieren. Denn nach Wolff ist der Mensch als „sittliches Wesen (homo moralis) Träger von Pflichten und Rechten“.13 Der homo moralis ist der eigentliche Mensch, der Mensch als Mensch. Wolff hat als einer der ersten überhaupt diesen Begriff des Menschen als Menschen ins Zentrum seines Denkens gestellt und deutlich gemacht, daß damit der Mensch als Freiheitswesen gemeint ist. Als solchem aber kommen dem Menschen bestimmte Pflichten zu, die für alle Menschen dieselben sind und folglich auch Rechte, die ebenfalls für alle Menschen gelten.14 Es ist eine der großen Errungenschaften des
lassen. [. . .] Diese Allgemeinheit nun machet, daß diese Wissenschaft den Grund vor allen übrigen Theilen der practischen Philosophie in sich hält. Herr Bar. Wolff hat die Nothwendigkeit derselben zu allererst eingesehen, [. . .].“ 12 H. von Kleist, Der zerbrochene Krug, 4. Auftritt, in: Sämt. Schriften, II, Berlin 1826, 16. 13 Vgl. C. Wolff, Jus Naturae, (ed.) Thomann, GW II/17, §70, p. 43; Id., Institutiones Juris Naturae et Gentium, (ed.) Thomann, GW II/26, § 96, p. 50. 14 Ibid., §69, p. 36: „Quoniam obligatio naturalis in ipsa hominis essentia atque natura rationem sufficientem habet et cum ea ponitur, [. . .]; obligatio, qua homo quatenus homo est, tenetur, in omnibus hominibus eadem est, consequenter jura, quae homini competunt, quatenus homo est, omnis hominis eadem sunt.“
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Naturrechts, diese Abstraktion, oder wie Wolff selbst sagt, diese nützliche Fiktion des moralischen Menschen, d.h. des Menschen als Menschen oder des Menschen als eines Freiheitswesens geleistet zu haben und die Bestimmungen zu benennen, die ihm als solchem zukommen.15 Das Naturrecht hat damit erstmals klar seinen eigenen Gegenstand formuliert. Was der theoretischen Vernunft als das Allgemeinste erscheint, nämlich das Seiende als Seiendes und die ihm zukommenden Bestimmungen, so wie es die mittelalterliche Transzendentalienlehre entwickelt hat, das ist auf dem Feld der praktischen Philosophie der „Mensch als Mensch“ und die ihm zukommenden praktischen Bestimmungen, die wir seine Rechte und Pflichten nennen. Die neuzeitliche Philosophie hat diese Lehre vom praktisch Allgemeinsten, die wie eine praktische Transzendentalienlehre erscheint, als Kritik am spätscholastischen Voluntarismus entworfen. Was also in der mittelalterlichen Philosophie für die theoretische Philosophie, d.h. die Ontologie die dem Seienden als solchem zukommenden transzendentalen Bestimmungen sind, das sind, wie erst die neuzeitliche Philosophie ausführt, für die praktische Philosophie die dem Menschen als solchem zukommenden Rechte und Pflichten. Das dem Menschen als Menschen zukommende Recht muß ein angeborenes, universales Recht sein, denn es ist nicht abhängig von irgendeinem hinzuerworbenen Status oder Alter oder Umständen anderer Art, sondern „was dir ein angeborenes Recht ist, dasselbe ist es auch für mich“.16 Was Wolff eigentlich sagen will, ist, daß „im moralischen Sinne“, d.h. im Hinblick auf die ursprünglich jedem Menschen gegebene Freiheit, „die Menschen gleich sind, deren Pflichten und Rechte dieselben sind“. Die eigentliche Natur des Menschen ist also seine Freiheit. Deswegen kann Wolff auch sagen, daß „die Menschen als Menschen von Natur aus gleich sind“.17 Gleichheit und Freiheit sind gleichursprüngliche Bestimmungen des Menschen als Menschen. Aus dieser Grundverfaßtheit des
15 Id., Jus naturae, (ed.) Thomann, GW II/17, § 70, p. 43: „Nimirum quatenus homo spectatur quoad obligationes et jura, quae in ipsum cadunt, eatenus distinguitur a seipso et fingitur subiectum quoddam, cui non insunt nisi obligationes atque jura; [. . .] Fictio haec non inutilis, cum in Jure Naturae nobis non sit negotium cum homine, nisi quatenus obligationum atque jurium capax est, consequenter non nisi cum homine morali.“ 16 Ibid., § 31, pp. 23–24: „Jus connatum omnium hominum idem est. Etenim jus connatum omne universale est, consequenter homini cuilibet competit, quatenus homo est. Jus igitur connatum omnium hominum idem est. Quod igitur jus connatum tibi est, idem est etiam mihi.“ Vgl. auch ibid., § 21, p. 18 und Id., Institutiones juris naturae et gentium, (ed.) Thomann, GW II/26, § 68, p. 36. 17 Wolff, Institutiones juris naturae et gentium, (ed.) Thomann, GW II/26, § 70, p. 37.; vgl. Id. Ius naturae, (ed.) Thomann, GW II/17, § 78, p. 51; § 81, p. 52.
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menschlichen Wesens ergeben sich nach Wolff unmittelbar einzelne dem Menschen als solchem zukommende Grundrechte: das Recht, von Furcht vor Verletzung und Schaden befreit zu werden, das Recht der Notwehr und der Strafgewalt, das Recht auf Leben, das Recht auf die Integrität des Leibes, das Recht auf die Achtung des eigenen Rufes und der Ehre, das Recht auf Nahrung und Medikamente, das Recht auf Kleidung, auf Wohnung, ja sogar auf Arbeit, Erziehung und Bildung.18 Wolff ist es auch, der schon von einem unentziehbaren angeborenen Recht spricht und die Notwendigkeit erkennt, zwischen den veräußerbaren und den unveräußerlichen zu unterscheiden, ehe dann zum ersten Mal in dem von Turgot 1776 verfaßten Edikt Ludwig XVI. das Recht auf Arbeit ce droit inaliénable de l´humanité genannt wird und auch in der im gleichen Jahr verkündeten Declaration of Independence von „inalienable rights“ die Rede ist.
2. Univozität des Moralischen Was nun den Grundgedanken der universalen Ethik in außerordentlichem Maße stützt, ist die Entwicklung einer Idee, die, wenn nicht alles täuscht, konstitutiv für das Denken der Neuzeit ist. Das ist die Idee von der Univozität des Moralischen. Sie ist zuerst und vor allem – nachdem sie durch die Stoa in unsere Welt gebracht und durch das frühe Christentum rezipiert worden war19 – durch den englischen Deismus und den Platonismus der Cambridger Platoniker etabliert worden, und zwar als Kritik am spätscholastischen theologischen Voluntarismus, allen voran durch Ralph Cudworth. Gegenüber dem Cartesischen Skeptizismus, der in der göttlichen Allmacht die mögliche Erschütterung all unserer Gewißheiten sieht, hat sich Cudworth auf Origenes bezogen, der das Wissen als das einzig Sichere in dieser Welt bezeichnet hat.20 Die Sicherheit des sittlichen Wissens beruht nach Cudworth aber darauf, daß das Moralische keine göttliche Willenssetzung ist, sondern gerade das, wodurch Gott und Mensch miteinander verbunden sind: „Justice and honesty are no factitious things, made by the will and command of the more powerful to the weaker, but they are nature and perfection, and descend downward to us
18 Belege für diesen Katalog bei H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, Berlin 1977, p. 107. 19 Vgl. dazu T. Kobusch, „Die Univozität des Moralischen. Zur Wirkung des Origenes in Deismus und Aufklärung,“ in: Origeniana undecima. Origen and Origenism in the history of Western thought, Leuven 2016, pp. 29–45. 20 Vgl. R. Cudworth, The true intellectual System of the Universe, c. 5, London, printed for J. Walthoe et al., 1743, p. 721.
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from the deity“.21 Jene Ideologie dagegen, die, wie die Hobbessche, von einer falsch verstandenen göttlichen absoluten Macht auch eine politische absolute Macht abzuleiten versucht, die als ihre einzige Äußerung verstanden werden soll, macht in Wirklichkeit den eigenen Willkürwillen zur Regel der Gerechtigkeit und nicht diese zur Regel des Willens.22 Was zudem auf diese Weise unweigerlich verfehlt wird, ist die Universalität des Rechts und der Gerechtigkeit, denn soll das Gerechte sich universell auf alles erstrecken, auch auf die Gottheit selbst, dann kann Gott selbst nicht etwas befehlen, was seiner eigenen Natur nach ungerecht ist, dann ist ein willkürlicher Wille als Quelle und Regel der Gerechtigkeit, die andere verpflichtet, ein absoluter Widerspruch dazu. Dieser Gedanke zeigt, daß es nicht etwa der bloße Einfall eines Interpreten ist, die Univozität des Moralischen als eine Erweiterung der Universalität anzusehen, sondern daß das die Idee des Deismus und des Cambridger Platonismus selbst ist.23 Was daraus folgt für den Charakter der menschlichen Verpflichtung, liegt auf der Hand. Thomas Chubb hat die Konsequenz in klassischer Weise formuliert: Die Verpflichtung des moralischen Gesetzes kann nicht im positiven Willen Gottes ihren Grund haben, sondern nur in den „Gründen“ der Dinge, d.h. im Guten und Bösen selbst.24 Im englischen Deismus wird auch die besondere Rolle des Moralischen bewußt. Es ist die einzige wirkliche Brücke zwischen Gott und Mensch. Die moralische Wahrheit, so sagt Thomas Morgan in seinem bedeutenden Buch The Moral Philosopher von 1737, ist das einzige sichere Kriterium der göttlichen Wahrheit.25 Und Thomas Chubb unterstreicht diese besondere Funktion des
21 Ibid., c. 4, p. 205. 22 Ibid., c. 5, p. 699: „[. . .] a power of making their mere arbitrary will the rule of justice, and not justice the rule of their will“. Vgl. auch ibid., p. 897: „God’s will is ruled by his justice, and not his justice ruled by his will.“ 23 Ibid., p. 897: „[. . .] it extending universally to all, even to that of the deity itself. [. . .] and therefore God himself cannot command, what is in its own nature unjust. And thus have we made it evident, that infinite right and authority of doing and commanding anything without exception so that the arbitrary will of the commander should be the very rule of the justice itself to others, and consequently might oblige to anything, is an absolute contradiction, [. . .]“. 24 T. Chubb, The Comparative Excellence and Obligation of moral and positive duties (London, 1730), reprinted: New York – London, Garland, 1978, p. 17: „Then the Obligation of the moral Law does not arise from the positive Will of God, but from the Reasons and Fitnesses of Things“. Ibid., p. 18: „These fitnesses of Things, thus recommended and ratified to us, are the only Foundation of the Law of Nature, and not the positive Will of God.“ 25 T. Morgan, The Moral Philosopher (London, 1737), reprinted: New York – London, Garland, 1977, p. 85: „But the whole Truth of the Matter is, I think, in short this: There is one, and but one certain and infallible Mark or Criterion of divine Truth, or of any Doctrine, as coming from God, which we are obliged to comply with a Matter of Religion and Conscience: And that is the moral
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Moralischen, indem er darauf hinweist (mit Worten, die seinem Lehrer, S. Clarke, in den Mund gelegt werden), daß allein im Bereich des Moralischen Gott nicht willkürlich handeln kann, d.h. mit solchen Gründen, die nur ihm selbst bekannt und unserem Forschen entzogen wären. Andernfalls würde Gott die Autorität der Vernunft untergraben – der ja die Gründe offenbar sein müssen – und damit seine eigene Autorität.26 Daraus folgt aber, daß, wenn Handeln vernunftgeleitet sein soll, die Gründe des Handelns jedermann, d.h. allen vernünftigen Wesen zugänglich sein müssen. Diese Grundidee von der Univozität des Moralischen wird auch, was hier nur erwähnt werden kann, von Chubb und Matthew Tindal (Christianity as old as the Creation, 1730) weiterhin auf der englischen Seite und von der Aufklärung auf deutscher Seite, nämlich von Reimarus und Leibniz, um nur die Bekanntesten zu nennen, übernommen und im Einzelnen begründet. Was in unserem Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit ist, ist die Tatsache, daß diese Ansicht auch der Philosophie Immanuel Kants zugrunde liegt. Die Metaphysik der Sitten untersucht im Unterschied zur allgemeinen praktischen Weltweisheit die „Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens“.27 Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist, daß ein reiner, d.h. ein guter Wille allein jener Wille sein kann, der sich selbst ein Gesetz ist, d.h. dessen Maximen für eine allgemeine Gesetzgebung tauglich sind, oder, wie es an anderer Stelle heißt: „der mit sich selbst nach allgemeinen Gesetzen der freyheit zusammenstimt“.28 Kant sieht es als die Aufgabe der Metaphysik an, zu prüfen, ob das für alle vernünftigen Wesen, also auch für den göttlichen Willen gilt. Will man aber die allgemeine Notwendigkeit des moralischen Gesetzes für alle vernünftigen Wesen und damit die innere Verbindung zwischen dem objektiven Gesetz und dem Begriff des Willens überhaupt durchschauen, so muß man, wie Kant an einer bedeutsamen Stelle der Grundlegung sagt, „einen Schritt hinaus thun“ zur Metaphysik der Sitten.29 Gemeint ist die Idee einer Metaphysik, deren Gegenstand
Truth, Reason or Fitness of the Thing itself, whenever it comes to be fairly proposed to, and considered by, the Mind or Understanding.“ 26 Chubb, The Comparative Excellence [. . .], p. 61: „Only in moral Matters he thinks that God cannot act thus arbitrarily, and unsearchably, and for Reasons only known to himself. For where is it said, either in Scripture, or any other sober Writer, that God Almighty’s Commands in moral Matters are founded in Reasons to us unsearchable, and the sublimity of the divine Counsels, and Ways of acting brought in Justification of them? If they were, so that he could require us to act differently from what Reason concludes to be fit and right, to prefer a positive Duty before a moral, he would overthrow the Authority of Reason, and consequently his own Authority founded upon it; and therefore cannot do it.“ 27 I. Kant, GMS, AA IV, p. 390, 34–35. 28 I. Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie nr.7063, AA XIX p. 240. 29 I. Kant, GMS, AA IV, p. 426,28.
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nicht das Seiende als solches, sondern gewissermaßen das Wollen als solches, genauer gesagt: das reine Wollen als solches darstellt. Dieser Schritt in das Feld der Metaphysik der Sitten zeigt, was es mit dem Wollen eines Willens überhaupt, also mit dem menschlichen und göttlichen Wollen auf sich hat.30 Es kann nur als ein Wollen gedacht werden, das sich durch Vernunft, durch ein objektiv-praktisches Gesetz selbst bestimmt.31 Immer wieder ruft Kant in diesem Zusammenhang in Erinnerung, daß es hier um die Selbstbestimmung des Willens vernünftiger Wesen überhaupt geht. So muß z.B. auch der objektive Grund der Selbstbestimmung, den Kant den „Zweck“ nennt, „für alle vernünftigen Wesen gleich gelten“.32 Dieser Zweck ist aber nichts anderes als die Person. Es ist nun von entscheidender Bedeutung für das Metaphysische der Metaphysik der Sitten, daß das moralische Gesetz, das in der Formel des kategorischen Imperativs in folgender Weise seinen Ausdruck findet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“33 – der ja gar nicht mehr nur formal ist – daß also dieses Gesetz, freilich nicht in der Form eines Gebotes, auch für den göttlichen Willen gilt. Denn Kant hat ausdrücklich in der Kritik der praktischen Vernunft erklärt: „Diese Bedingung“ – nämlich ein vernünftiges Geschöpf nur dann als Mittel zu einem Zweck zu gebrauchen, wenn es zugleich auch als Zweck an sich selbst angesehen wird – „legen wir mit Recht sogar dem göttlichen Willen, in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt, als seiner Geschöpfe, bei, [. . .]“.34 Die Person hat somit nicht nur für den menschlichen Willen den höchsten Wert, insofern sie im Modus der Achtung, d.h. durch die den endlichen Vernunftwesen eigene Art der Wertschätzung, erkannt wird, sondern auch für den göttlichen Willen. Sie ist darüber hinaus das Einzige in der Welt, was einen absoluten Wert besitzt.35 Man hat versucht, die Person (nach Kantischem Verständnis) ihres Charakters eines „metaphysisch objektiven Gutes“ zu entkleiden mit dem Hinweis darauf,
30 R. Brandt hat das richtig erkannt. Nach seiner Interpretation („Kant als Metaphysiker“, in: V. Gerhardt (Hg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, p. 57–94, hier: p. 84f.) bezeichnet der von Kant angezeigte „Schritt“ (GMS, AA IV, 426,28) den Übergang von der Philosophia practica universalis zur Metaphysik der Sitten. Und zwar bestehe dieser Schritt allein darin, daß der Begriff eines Willens von vernünftigen Wesen überhaupt gewonnen wird. 31 Kant, GMS, AA IV, p. 427, 13–15. 32 Ibid., p. 427, 24. 33 Ibid., p. 429,10–12. 34 Id., KpV, AA V, p. 87, 27–29. 35 Vgl. Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie nr. 65978, AA XIX p. 103: „Daher nichts einen absoluten Werth hat als Persohnen, und dieser besteht in der bonitaet ihrer freyen Willkühr“.
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daß sie nur aus menschlicher Perspektive als „unüberbietbar hochwertiges Ziel“ erscheine und somit ihr absoluter Wert nur für ein menschliches Bewußtsein bestünde.36 Doch besagen die Kantischen Texte genau das Gegenteil. Die Person hat auch für ein göttliches Bewußtsein, dessen Wertschätzung freilich nicht „Achtung“ genannt werden kann, absoluten Wert. Das drückt schon ein Text der Grundlegung deutlich aus: „und was, [. . .] den absoluten Werth des Menschen allein ausmacht, darnach muß er auch, von wem es auch sei, selbst vom höchsten Wesen beurtheilt werden“.37 Die Person ist also, von welcher Perspektive auch immer betrachtet, ein höchster Wert. Der Begriff der Person hat deswegen, wie alle moralischen Begriffe, einen univoken Sinn. Dies ist zugleich auch die Uridee einer jeden Form des Liberalismus bis heute geblieben, daß die moralischen Gesetze und ethischen Normen als überall in dieser Welt und auch außerhalb derselben gültig gedacht werden müssen. Ist das nicht auch der wahre Sinn des berühmten Anfangssatzes der Grundlegung: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“?38 Das Moralische ist nur als das in allen möglichen Welten Gültige denkbar.
3. Das Unverlierbare und Unveräußerliche der Menschenrechte Seit der Aufklärung sprechen wir den Menschenrechten den Charakter der Unverlierbarkeit und der Unveräußerlichkeit zu. Mit beiden Begriffen – von denen man mit Recht gesagt hat, daß sie nicht verwechselt werden dürfen,39 – hat es eine je eigene historische Bewandtnis, die den besonderen Status der Menschenrechte noch deutlicher sichtbar macht. Was die Unverlierbarkeit betrifft, so hat Kant dieses Prädikat sowohl der Würde der Person als auch der sie begründenden Freiheit, verstanden als dem Inbegriff der Rechte, wie schließlich auch den Menschenrechten selbst zugeteilt. Das muß betont werden, weil es diesbezüglich merkwürdige Zweifel in der
36 C. Horn, „Die Menschheit als objektiver Zweck“, in: D. Sturma (Hg.), Kants Ethik, Paderborn 2004, pp. 195–212, hier: p. 211sq. 37 Kant, GMS, AA IV, p. 439,21–24. 38 Ibid., p. 393, 5–7. 39 Vgl. P. Schaber, „Philosophie der Menschenwürde“, in: Zeitschrift für Menschenrechte, 1 (2010), pp. 118–129, hier: p. 118.
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Forschung zu geben scheint.40 Das Unverlierbare der Freiheit muß von dem unterschieden werden, was von ihr verloren werden kann. Fragt man nach dem Ursprung dieser Unterscheidung, wird man in der Geschichte der Philosophie weit zurück geführt. Vorgedacht wurde diese Unterscheidung zwischen dem Verlierbaren und Unverlierbaren unserer Freiheit in der christlichen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Eine große Tradition, die von Irenäus, Clemens von Alexandrien oder Origenes bis ins hohe Mittelalter reicht, hat zwischen dem „Bild“ und „Gleichnis“ als zwei Momenten des inneren Menschen unterschieden.41 Bild Gottes ist der Mensch danach als das durch die erste Schöpfung Geschaffene, Gleichnis Gottes aber durch die selbsttätige Vollendung des Menschen.42 Wie so oft hat auch in diesem Falle Origenes den schulund traditionsbildenden Grundgedanken formuliert: Was die Philosophen, d.h.
40 Das Buch von C. Horn, Nichtideale Normativität, Berlin 2014 wird weder dem Geist noch dem Buchstaben Kants gerecht. Das mag daran liegen, wie R. Brandt in seiner Rez. in: Kant-Studien 106 (2015), S. 689–694, sagt, daß hier nicht begriffen ist, was Metaphysik der Sitten ist. Auf p. 107 des Buches heißt es, daß Kant die Menschenwürde nicht als unveräußerlich ansehe, wobei unveräußerlich und unverlierbar offenbar synonym gebraucht werden (vgl.: ibid., p. 73), sondern im Sinne der römischen dignitas als einen relativen Wert verstehe. Doch Kant spricht ausdrücklich in Metaphysik der Sitten, ‚Tugendlehre‘ §11, von der unverlierbaren Würde, in der ‚Rechtslehre‘, §40 von der unverlierbaren Freiheit und Kleine Schriften (AA VIII 303–304) von unverlierbaren, unaufgebbaren Rechten. Darüber hinaus heißt es in Reflexionen zur Moralphilosophie nr.7079, AA XIX p. 244 ganz unmißverständlich: „Daß die Menschheit in unserer eignen Persohn gewisse rechte habe, die unverletzlich und unveräußerlich seyn, und die unsere freyheit über uns selbst zu disponieren einschränken, imgleichen anderer ihre“. Das jeweils umzudeuten in das Verlierbare, Veräußerbare und Relative bedeutet, auch der Herkunftswelt Kants nicht gerecht zu werden. Denn Kant gebraucht den Begriff des „Unverlierbaren“ offenkundig terminologisch im Anschluß an eine große Tradition, von der gleich die Rede ist. Und was den Würde-Begriff angeht, so muß natürlich unterschieden werden zwischen dem harmlosen, relativen, steigerbaren Würde-Begriff (im Sinne der „Würde des Lehrers“ o.ä.) und der absoluten Würde der Person, die Kant bezeichnenderweise dem relativen Wert einer Sache gegenüberstellt. Im Hinblick auf dieses Begriffspaar „Würde“ – „Preis“, dessen Oberbegriff der „Wert“ ist, steht Kant aber nicht in der römischen Tradition, sondern in einer scholastisch-schulphilosophischen., s. dazu T. Kobusch, „Person und Handlung. Von der Rhetorik zur Metaphysik der Freiheit“, in: R. Gröschner / S. Kirste / O.W. Lembcke (Hgg.), Person und Rechtsperson. Zur Ideengeschichte der Personalität, Tübingen 2015, pp. 1–30, hier pp. 17sq. und Kobusch, Die Entdeckung der Person, s.v. „Wert“. 41 Zu dieser patristischen Unterscheidung und ihren weitreichenden Konsequenzen vgl. H. Merki, „Ebenbildlichkeit“ in RAC Bd. 04, Lfg. 25/32 (1959), pp. 459–479; H. Crouzel, Théologie de l’Image de Dieu chez Origène, Paris 1956, pp. 67–69; pp. 218–245; M. Frensch, Weisheit in Person. Das Dilemma der Philosophie und die Perspektive der Sophiologie, Schaffhausen 2000, pp. 213ff. 42 Clemens Alex., Stromata, II 22, 131, 6, (ed.) Mondésert, SC 38, p. 133: „ἢ γὰρ οὐχ οὕτως τινὲς τῶν ἡμετέρων τὸ μὲν «κατ’ εἰκόνα» εὐθέως κατὰ τὴν γένεσιν εἰληφέναι τὸν ἄνθρωπον, τὸ «καθ’ ὁμοίωσιν» δὲ ὕστερον κατὰ τὴν τελείωσιν μέλλειν ἀπολαμβάνειν ἐκδέχονται“.
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vor allem Platon, die „Verähnlichung mit Gott“ nannten, das hatte doch schon Moses im Buch Genesis im Blick, als er über die erste Erschaffung des Menschen berichtete mit den Worten: „Und Gott sprach: Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und nach unserer Ähnlichkeit“. Wenn Moses dann aber im nächsten Vers sagt: „Nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie“, hat er nicht etwa in schludriger Weise die Ähnlichkeit vergessen, sondern durch das Verschweigen der „Ähnlichkeit“ darauf hinweisen wollen, daß der Mensch zwar die „Würde des Bildes“ (imaginis dignitas) bei der ersten Schöpfung empfangen hat, daß aber die Vollendung der „Ähnlichkeit“ in seine eigenen Hände gelegt ist.43 Für die Kirchenväter, besonders für die griechischen, war es ganz evident, daß die Gottebenbildlichkeit des Menschen in seiner Freiheit besteht. Deswegen bezeichnen die biblischen Begriffe des „Bildes“ und des „Gleichnisses“ Momente der Freiheit. Das „Bild“ meint die Freiheitsausstattung, das „Gleichnis“ die Freiheitsverwirklichung. Wir könnten sagen: Bild Gottes ist der Mensch dadurch schon, daß er als unsterblicher, freier Geist, der Kinder zeugen und Häuser bauen kann, erschaffen wurde. Gleichnis Gottes aber wird er durch seinen aktuellen Willen, d.h. durch seine Freiheit, die ihn Gott ähnlich oder dem Tier ähnlich macht. Die Gleichnishaftigkeit kann somit verlorengehen, die Bildhaftigkeit nicht.44 Die menschliche Freiheit hat etwas
43 Origenes sec. translationem Rufini, De principiis III 6, 1, (edd.) Görgemanns / Karpp, pp. 642– 644 [= GCS 22, p. 280,10–17]: „Hoc ergo quod dixit « ad imaginem dei fecit eum“ et de similitudine siluit, non aliud indicat nisi quod ,imaginis‘ quidem dignitatem in prima conditione percepit, ,similitudinis‘ vero ei perfectio in consummatione servata est: scilicet ut ipse sibi eam propriae industriae studiis ex dei imitatione conscisceret, quo possibilitate sibi perfectionis in initiis data per ,imaginis‘ dignitatem, in fine demum per operum expletionem perfectam sibi ipse ,similitudinem‘ consummaret.“ 44 Vgl. Gregorius Nyss. [Sp.], De creat. hom., GNO suppl., p. 29,1–5: τὸ μὲν τῇ κτίσει ἔχομεν, τὸ δὲ ἐκ προαιρέσεως κατορθοῦμεν. ἐν τῇ πρώτῃ κατασκευῇ συνυπάρχει ἡμῖν τὸ Κατ’ εἰκόνα γεγενῆσθαι θεοῦ, ἐκ προαιρέσεως ἡμῖν κατορθοῦται τὸ Καθ’ ὁμοίωσιν εἶναι θεοῦ. Vgl. Ioh. Philoponos, De opificio mundi, (ed.) Reichardt, Leipzig 1897, 241,5–7: Εἰ δὲ τό ‘καθ’ ὁμοίωσιν’ ἰδίαν ἔχει παρὰ τό ‘κατ’ εἰκόνα’ σημασίαν, εἴη ἂν τό ‘καθ’ ὁμοίωσιν’ ἐκ τῆς κατὰ προαίρεσιν ἡμῶν εὐζωίας καὶ πρὸς θεὸν ὁμοιώσεως εἰρημένον· Vgl. Ioh. Damascenus, De virtutibus et vitiis, MPG 95, 97,6–10: Κατ’ εἰκόνα μὲν λέγεται πᾶς ἄνθρωπος, κατὰ τὸ τοῦ νοὸς ἀξίωμα, καὶ τὸ τῆς ψυχῆς, ἤτοι τὸ ἀκατάληπτον, τὸ ἀθεώρητον, τὸ ἀθάνατον, τὸ αὐτεξούσιον, ναὶ μὴν καὶ τὸ ἀρχηγὸν, καὶ τεκνογονικὸν, καὶ οἰκοδομικόν· καθ’ ὁμοίωσιν δὲ, κατὰ τὸν τῆς ἀρετῆς λόγον, [. . .]. Schon in den Ps.-Klementinen (4. Jh.) [= Ps.-Clemens Romanus, Recognitiones, V, c. 15, par. 2, (edd.) Rehm / Paschke, GCS 51, p. 172,21] heißt es in der Rufinischen Übersetzung: „[. . .] homini, qui imaginem dei in se gerit, etiamsi similitudinem perdidit.“ Vgl. Honorius Augustodunensis, Expositio in Cantica Canticorum MPL 172, 363 A: „Hoc autem differt inter imaginem et similitudinem, quod imago est in essentia naturae, similitudo vero in imitatione boni vel mali; imaginem Dei naturaliter habemus, similitudinem peccando perdidimus.“Vgl. Rupertus Tuitiensis, Liber de divinis
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Verlierbares, insofern sie Opfer eines anderen menschlichen Willens werden kann, der fehlbar und schwach ist und einen Hang zur Sünde hat. Sie hat aber auch etwas Unverlierbares, insofern sie ein absolutes Bei-Sich-Sein darstellt, das aller menschlichen Verfügbarkeit entzogen, der Dingwelt enthoben und Grund der individuellen Besonderheit ist. Da die Freiheit aber der Grund der Würde des Menschen ist, enthält auch sie diese beiden sie konstituierenden Momente: das Unverlierbare und das Verlierbare. Wenn wir von der Unantastbarkeit der Würde sprechen, meinen wir dieses unverlierbare, absolute, unbedingte, unverfügbare, unvergleichbare und unschätzbare Element unserer Freiheit.45 Wenn wir aber sagen, daß die Würde des Menschen zu schützen ist, dann meinen wir jenes anfällige, menschlicher Willkür und Verfügungsgewalt ausgesetzte, situationsabhängige, umstandsbedingte und in materiellen Gütern manifestierbare Element unserer Freiheit. Der Begriff der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte setzt demgegenüber noch einen anderen Akzent. Unveräußerlich sind jene Rechte, die man nicht an andere abtreten kann, obwohl man es vielleicht wollte, deren Veräußerung also nicht in unserer Hand liegt.46 Kant selbst hat keine eigene Theorie der Menschenrechte entwickelt, sondern alle Rechte in dem „Recht der Freiheit“
officiis, VII, (ed.) Haacke, CCCM 7, p. 227,109–111: „Quae imaginis et similitudinis dei distantia sit et quod non imaginem sed similitudinem homo peccando perdidit ad quam et reformatur per baptismum Christi.“ Vgl. Id., Commentaria in euangelium sancti Iohannis, IX, (ed.) Haacke, CCCM 9, p .481,276–278: „Rationem quippe secundum quam ad imaginem dei factus est homo non perdiderat sed imitationem bonitatis eius secundum quam ad dei similitudinem factus erat amiserat.“ Vgl. Bernardus Claraeuallensis, Sermones de diversis, serm. 12, 2, SBO 6/1, p. 128,5–6: „Verumtamen qui ad imaginem et similitudinem Dei creatus es, si perdidisti similitudinem, similis factus iumentis; sed in imagine pertransisti.“ Zur Differenz von Bild und Ähnlichkeit und ihrer Geschichte vgl. K. Meyer-Drawe, „Entbildung – Einbildung – Bildung. Zur Bedeutung der Imago-Dei-Lehre für moderne Bildungstheorien“, in: R. Behrens (Hg.), Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Sicht, Hamburg 2002 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft; Sonderheft), pp. 185sq., wo auch auf den ambivalenten Sinn der „Ähnlichkeit“ im Sinne der Selbstbildung hingewiesen wird, und T. Kobusch, „Bild und Gleichnis Gottes. Elemente menschlicher Freiheit“, in: (éds.) I. Atucha, D. Calma, C. König-Pralong, Mots médiévaux offerts à Ruedi Imbach (Textes et Études du Moyen Age, 57), Porto 2011, pp. 143–151. 45 P. Schaber (s.o. Anm. 36) sieht nur die eine Seite der Verletzbarkeit der Würde. Doch ist der Satz im Deutschen Grundgesetz, der von der Unantastbarkeit der Würde spricht, ein Ist-Satz, kein normativer Satz! So kommt P. Schaber, der im Ganzen vor dem Hintergrund der Kantischen Philosophie argumentiert, zu dem antikantischen Satz (s.o. An. 37): „Die Würde ist folglich keine Eigenschaft, die einem Menschen unverlierbar zukommt“ (p. 124). 46 Vgl. P. Schaber, „Unveräusserliche Menschenwürde“, in: Zeitschrift für Menschenrechte, 4/1 (2010), pp. 118–127, hier p. 118.
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zusammengefaßt, das dem Menschen als Menschen zukommt, „so fern dieser nämlich ein Wesen ist, das überhaupt der Rechte fähig ist“.47 Dieses umfassende „Recht der Freiheit“ nennt er aber ausdrücklich ein „unveräußerliches“.48 Am deutschen Begriff der Unveräußerlichkeit ist kaum zu erkennen, was es mit dieser Vorstellung historisch auf sich hat. Wenn man sich aber vor Augen hält, daß entscheidende Dokumente dieser Zeit von den „inalienable rights“, bzw. von „droits inaliénable“ sprechen, dann wird der Zusammenhang eher deutlich erkennbar. Im bedeutsamen Jahr 1776 erscheint das von dem Physiokraten Turgot verfaßte Edikt Ludwigs XVI., in dem das Recht auf Arbeit heißt: „ce droit inaliénable de l’humanité“. Aus demselben Jahr stammt die Declaration of Independence, wo von „inalienable rights“ die Rede ist, und 1789 spricht man von „droits naturels inaliénable et sacrés de l’homme et du citoyen“. Im Zentrum dieser Erklärungen steht der Begriff der alienatio, der Veräußerung. Nun wird dieser Begriff im juristischen Sinne, d.h. im Sinne des Verkaufs von Dingen oder des Gebrauchs derselben, des Vermögens oder auch von Herrschaftsanteilen traditionell schon sehr lange gebraucht, sowohl in der Philosophie wie auch im Römischen Recht, in der Kanonistik des 12. Jh. und bei Hugo Grotius. Philosophisch interessanter ist jener Sinn des Begriffs, demgemäß er gewissermaßen eine Selbstveräußerung meint, d.i. die Selbstentfremdung oder die Selbstentäußerung des Geistes. Von Origenes bzw. Augustinus an ist diese Bedeutung des Begriffs „alienatio“ geläufig und gilt als das lateinische Äquivalent zum griechischen Begriff der „ekstasis“.49 In dieser Bedeutung wird der Begriff schließlich auch in der Mystik übernommen. Hier kann er dann – oft in
47 Kant, Kleine Schriften, AA VIII, p. 291. 48 Ibid., p. 394. 49 Vgl. Origenes sec. translationem Rufini, De principiis II, 10, 6, (edd.) Görgemanns / Karpp, p. 432 [= GCS 22, p. 180,2]: „[. . .] mentis alienatione [. . .]“; ibid., III, 3, 4, p. 596 [= GCS 22, p. 261,4]: „[. . .] alienationem mentis [. . .]“. Vgl. Augustinus, Qu. in Heptateuchum, I, Quaest. Genesis, q. 80, ll. 1023–1025, (ed.) Fraipont, CCSL 33, p. 31: „quod habent latini codices: expauit autem Isaac pauore magno ualde, graeci habent ἐξέστη ἔκστασιν μεγάλην σφόδρα, ubi tanta commotio intellegitur, ut quaedam mentis alienatio sequeretur“. Vgl. Id., en. Ps., 103, s. 3, par. 2, (ed.) Dekkers / Fraipont, CCSL 40, p. 1499,30–33,: „illo igitur orante facta est illi mentis alienatio, quam graeci ecstasin dicunt; id est, auersa est mens eius a consuetudine corporali ad uisum quemdam contemplandum, alienata a praesentibus“. Vgl. Beda Venerabilis, Exposition in canticum Abacuc prophetae, (ed.) Hudson, CCSL 119B, p. 400,526–527: „Pro alienatione, in graeco scriptum est in extasi, quod quidam in stupore alii in excessu mentis interpretati sunt“. Vgl. Id., Retractatio in Actus apostolorum c. XII, 17, (ed.) Laistner, CCSL 121, p. 159,10: „Pro stupore mentis quidam codices habent mentis excessum, alii pauorem, alii alienationem; diuerse enim interpretatur Latine quod Graece dicitur ἔκστασις“.
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enger Verbindung mit dem Begriff der „Resignation“ – so viel besagen wie das Abstandnehmen von allen Dingen und mir selbst. Ja, das macht die eigentliche Vollkommenheit des Menschen aus, wenn er sich seinem eigenen Willen entfremdet, d.h. ihn aufgibt.50 Es gehört nun zu den erstaunlichsten Vorgängen in der modernen Zeit- und Geistesgeschichte, daß diese Idee von dem kenotischen, d.h. sich seiner total entäußernden, sich absterbenden, sich vernichtenden, sich selbst vergessenden, sich entfremdenden, d.h. sich veräußernden, resignierenden, entsagenden, auf sich Verzicht leistenden Willen für die Entstehung des modernen Staates von Bedeutung ist, und zwar in positiver und in negativer Hinsicht. Positiv liegt sie dem modernen Vertragsgedanken zugrunde. Das zeigt der Contrat Social von Jean-Jacques Rousseau. Im entscheidenden 6. Kap. des 1. Buches, da, wo es um die Konstituierung der volonté générale geht, nimmt Rousseau die Begrifflichkeit der Mystik in Anspruch. Um diesen „moralischen und kollektiven Körper“, der in der Tradition „corpus mysticum“ genannt wird, diese „öffentliche Person“ bilden zu können, bedarf es nach Rousseau der „totalen Entfremdung“ (l’aliénation totale), d.h. der Entäußerung der einzelnen Mitglieder mit ihren Rechten an die Gemeinschaft.51 Diese Entäußerung muß sich ausdrücklich „sans réserve“ vollziehen – ein Ausdruck, der bei Fénelon hundertmale vorkommt, um das völlige Sichhingeben in den göttlichen Willen zu bezeichnen. Nur so kann jenes „allgemeine Ich“ (moi commun) – auch ein Ausdruck, der von Oetinger und in der Mystik gebraucht wird – zustande kommen, das der Staat ist, der, weil die Einzelnen auf ihre partikulären Interessen verzichtet haben, ein „allgemeines Interesse“ (l’intérêt commun) [ in: II, c. 4] haben kann. Im Hintergrund dieses entscheidenden Passus der Vertragstheorie steht, wie angedeutet, ein Topos der mystischen Tradition. Es ist besonders die französische Mystik, die sich hier auswirkt. Mlle Antoinette Bourignon, Mme Guyon, Francois Fénelon und der von allen tief verehrte Francois de Sales haben
50 Thomas a Kempis, De resurrectione [. . .], 1, 8, vol. V, p. 264,26sqq.: „Suscipe gemitum meum cum pura intentione et plena voluntate me iam emendandi cum propria resignatione mei ipsius et omnium rerum alienatione, ut possim modo gratiam tuam et veniam omnium peccatorum in hac peregrinatione promereri per merita et orationes sanctissimae matris tuae Mariae et omnium sanctorum tuorum, qui saepissime fleverunt pro se et aliis multis in hac valle lacrimarum utiliter et fructuose ex caritate“. Vgl. Id., Epistula ad quendam cellerarium, 1, vol. I, p. 157,20sqq.: „Quicquid etiam per servos suos instituerit pro bono fit: et inde lucet servus Dei bonus, quoniam omnia in bonum accipit sciens quia consummatio perfectionis est alienatio omnis propriae voluntatis“. 51 J.-J. Rousseau, Du contrat social, I, ch. 6, OC III, Paris 1964, p. 360.
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terminologische Markzeichen gesetzt, die auch die Ausdrucksweise der späteren Philosophie geprägt haben. Sie haben das, was die mittelalterliche Mystik schon angedeutet hatte, gewissermaßen „totalisiert“. Der Wille muß, um wahrhaft leben zu können, seine partikularen Interessen gänzlich aufgeben, er muß seine Neigungen völlig abtöten, seinen ganzen Willen und jegliches Eigeninteresse nihilieren, den „totalen Tod“ des eigenen Willens erleben, den völligen Verzicht auf sich selbst, d.h. den Tod gegenüber sich selbst leisten, um sich ganz dem Willen Gottes hinzugeben.52 Die Mystik bezeichnet diesen Rückzug des eigenen Willens auch mit dem ursprünglich aus der Militärsprache stammenden Begriff der „résignation“.53 Schließlich erwähnt in diesem Zusammenhang Francois de Sales auch jenen Begriff, den Rousseau in seinem Contrat social aufgenommen hat, nämlich der „Selbstentäußerung“ (aliénation totale).54
52 F. de Salignac de La Mothe-Fénelon, Divers sentiments et avis chrétiens, in: Œuvres complètes
de [. . .] Fénelon, vol. IV, Paris 1810, p. 54: „Ces biens [sc. les véritables biens] sont les croix extérieures et intérieures, l’humiliation, le renoncement à sa propre volonté, la mort à soi-même, le règne de Dieu sur les ruines de l’amour propre“. Ibid., p. 82: „[. . .] ne songez qu’à poser le fondement de l’édifice, et à le bien creuser par un entier renoncement à vous-même et par un abandon sans aucune réserve aux ordres de Dieu“. Ibid., p. 180: „La nature corrompue se fait un aliment très subtil des grâces les plus contraires à la nature: l’amour-propre se nourrit, non seulement d’austérités et d’humiliations, non seulement d’oraison fervente et de renoncement à soi, mais encore de l’abandon le plus pur et des sacrifices les plus extrêmes“. Ibid., p. 259: „vous irez à l’amour de Dieu, au parfait renoncement, à la morte totale de votre propre volonté en accomplissant celle de Dieu qui vous mène selon son bon plaisir“. Id., Lettre CCXII, in: Œuvres [. . .], vol 5, p. 230: „Abandonnez donc tout sans réserve. La paix de Dieu ne subsiste parfaitement que dans l’anéantissement de toute volonté et de tout intérêt propre“. 53 François de Sales, Dissertation sur le Cant. des cant., in: Œuvres complètes [. . .], Vol. II, Paris 1836, p. 708: „‚Fuge, dilecte mi, et assimilare capreae [. . .] [Cant. 8.14].‘ En laquelle dernière protestation et résignation parfaite de l’âme en Dieu consiste la fin de l’oraison mentale“. Id., Traité de l’amour de Dieu, in: Œuvres [. . .], vol. IV, p. 324: „La résignation préfère la volonté de Dieu à toutes chose; mais elle ne laisse pas d’aimer beaucoup d’autres choses outre la volonté de Dieu.“ Pierre Poiret, L’oeconomie divine [. . .], Amsterdam 1687, p. 244: „Un renvoy continuel à Dieu: une nudité d’âme et une resignation admirable. Il se dépouille même de toutes ses idées et de toutes ses connoissance pour se faire enfant et idiot“. F. de Salignac de La Mothe-Fénelon, Lettre XVI, in: Œuvres complètes de Fénelon [. . .], (edd.)Gosselin/Caron, vol.7, Paris 1850, p. 215: „Vous saurez que cette volonté ne peut se reformer, changer, et enfin quitter, que par la soumission à la volonté de Dieu, la résignation, l’union, et même la perte de notre volonté en celle de Dieu“. 54 François de Sales, Explication Mystique du Cant. des Cant., in: Œuvres complètes [. . .], vol. II, Paris 1836, p. 692: „car lorsqu’en l’oraison, méditant et contemplant, l’homme s’attache tellement à l’objet, qu’il sort de soi-même, perd l’usage des sens, et demeure absorbé et attiré, cette aliénation d’entendement de la part de l’objet qui ravit l’âme, s’appelle ravissement; et de la part de la puissance qui demeure absorbée et engloutie, s’appelle extase, [. . .]“.
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Im Feld dieser mystischen Begrifflichkeit hat es eine besondere Bewandtnis mit dem Ausdruck des „Verzichts“. Auch dieser Begriff entfaltet seine eigentliche Karriere in der französischen Mystik, obwohl seine Geschichte früh beginnt und die mystische Bedeutung auch schon bei Autoren wie Johannes Cassian oder im Mittelalter bei Jan van Ruysbroek belegbar ist. Der Verzicht auf sich selbst, auf den eigenen Willen, auf die eigenen Wünsche, auf die partikulären Neigungen bezeichnet in der französischen Mystik einen bestimmten Grad der Vollkommenheit auf dem Weg, sich ganz dem Willen Gottes unterzuordnen.55 Der Begriff mit dieser Bedeutung ist in der modernen politischen Philosophie aufgenommen worden, wo er von zentraler Wichtigkeit ist, nämlich bei Rousseau wiederum und bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Rousseaus These von der „Totalen Selbstentäußerung“ ist nämlich nicht Rousseaus letztes Wort, wenn man so sagen kann. Sie ist nur gültig im Hinblick auf das Werden und Zustandekommen des Gesellschaftsvertrages. Man darf nicht vergessen, sagt der gelehrte Kommentator des Contrat social mit Recht, daß der „aliénation“ jener Zustand folgt, in dem die Individuen die Rechte in anderer Form wieder erhalten, auf die sie zuvor Verzicht geleistet hatten.56 Deswegen handelt es sich auch gar nicht, wie Rousseau in II 4 bemerkt, um einen „wirklichen Verzicht“ (renonciation véritable) oder eine Veräußerung, sondern eher um einen vorteilhaften Tausch, in dem eine unsichere und prekäre Lebensweise gegen eine bessere und sicherere eingetauscht wird. Deswegen konnte Rousseau schon im 4. Kap. des ersten Buches sagen, ganz so, wie es Kant wenig später auch sagen wird: „renoncer à sa liberté „c‘est“ renoncer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité, même à ses devoirs“.57
55 J. M. B. Guyon, Moyen Court & Très-Facile De Faire Oraison (1685), Köln 1720, p. 23: „L’abandon doit donc être, autant pour l’extérieur que pour l’intérieur, un délaissement total entre les mains de Dieu, s’oubliant beaucoup soi- même, & ne pensant qu’à Dieu. Le cœur demeure par ce moyen toujours libre, content & dégagé. Pour la pratique, elle doit être de perdre sans cesse toute volonté propre dans la volonté de Dieu; renoncer à toutes inclinations particulières, quelques bonnes qu’elles paraissent, si-tôt qu’on les sent naître, pour se mettre dans l’indifférence, & ne vouloir que ce que Dieu a voulu dès son éternité: [. . .]“. Id., Courte Apologie Pour Le Moyen Court, Köln 1720, pp. 118–119: „Si nous vivons selon l’esprit, il est seur que nous mourrons à notre homme charnel; & si nous mourrons à tout ce qui n’est point Dieu, nous vivrons à Dieu seul: mais comme la pratique du renoncement à tout nous fait vivre de la vie de l’esprit, & nous communique de plus en plus cette vie; aussi la vie de l’esprit pratiquée comme nous l’avons dit, nous fait renoncer à nous de plus en plus: car qui voudrait attendre d’être parfaitement renoncé pour vivre de la vie de l’esprit, ne pouvant parvenir au parfait renoncement que par cette vie, n’y parviendrait jamais: de même celui qui prétend être spirituel sans se renoncer soi-même, prétend une chimère, dont il ne viendra jamais à bout“. 56 R. Derathé in: Rousseau, OC III, p. 1445. 57 Rousseau, Du contract social, I, ch, 4, OC III, p. 356.
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Auch für Hegels Denken ist der Begriff des Verzichts von eminenter Wichtigkeit. Schon die Philosophie selbst, jedenfalls sofern sie „denkt“, kann nicht ohne dieses Moment gedacht werden. Denn Denken ist die Anerkennung eines objektiven an und für sich Allgemeinen, die sich vollzieht, indem das Subjekt auf sich als dieses in seiner Partikularität Verzicht leistet.58 Hegel hat in diesem Sinne den falschen Verzicht des Verstandesdenkens unzähligemale gerügt und damit das theoretische Denken gemeint. Aber auch in der Praktischen Philosophie Hegels ist der Verzicht von entscheidender Bedeutung. Denn er markiert in der Rechtsphilosophie den eigentlichen Unterschied zwischen der „Moralität“ und der „Sittlichkeit“. Am Ende des Moralitätskapitels wird jene Gestalt der Subjektivität betrachtet – nämlich die „Ironie –, die sich nicht in eine Sache vertiefen kann, sondern die Spitze subjektiver Eitelkeit darstellt, indem sie sich als Meisterin der Wahrheit, des Gesetzes und der Sache fühlt“. Und weshalb sie nie eine sittliche Gestalt werden oder sein kann, begründet Hegel so: „Sie besteht also darin, das sittlich Objektive wohl zu wissen, aber nicht sich vergessend und auf sich Verzicht tuend in den Ernst desselben sich zu vertiefen [. . .]“ (Rph. §140). Was aber für den politischen Willen gilt, das gilt auch für den Willen der Wahrheit überhaupt, und immer ist es der mystische Gedanke von dem Verzicht des Ich auf seine partikuläre Subjektivität, der die Anerkennung eines Objektiven, auch der objektiven Wahrheit, möglich macht.
58 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, (ed.) Jaeschke, in: Vorlesungen, Bd. 3, Hamburg 1983, pp. 208–209, ll. 295–306: „Indem ich über den sinnlichen Gegenstand reflektiere, so bin ich und der Gegenstand; ich bin unterschieden von dem Gegenstand; die Gedanken sind noch subjektiv, eben weil es Gedanken über die Sache sind; aber wenn ich mit diesen Gedanken über die Sache fertig bin und den Gedanken der Sache habe, so ist die Beziehung meiner als Besonderes gegen die Sache weggenommen, daß die Gedanken nur Subjektives seien, und ich verhalte mich objektiv; und eben hierin, indem das Allgemeine für mich die Bestimmung hat, das Wahre zu sein, so habe ich darin Verzicht getan auf mich als diesen nach meiner Partikularität; dies und denken, daß das Allgemeine das Affirmative, das Substantielle, mein Gegenstand ist, ist dasselbe, und ich tue Verzicht auf meine Partikularität aktualiter, realiter“. Ibid., p. 206, ll. 226–235: „Es muß ein Standpunkt aufgezeigt werden, worin das Ich in dieser Einzelheit Verzicht auf sich getan hat und Verzicht auf sich tut. Diese höhere Verzichtsleistung geschieht auf dem höheren Standpunkt. Ich muß die in der Tat aufgehobene, partikulare Subjektivität sein; so muß ein Objektives von mir anerkannt sein, welches ist das an und für sich Seiende, welches in der Tat für mich als Wahres gilt, welches anerkannt ist, als das Affirmative für mich gesetzt – in welchem ich als dieser Ich negiert bin, worin aber zugleich als Freies enthalten bin, meine Freiheit zugleich erhalten ist von diesem Objektiven.“ Ibid., p. 207, ll. 254–257: „[I]n diesem Anerkennen eines Objekts, eines Allgemeinen, da tue ich Verzicht auf meine Endlichkeit, auf mich als diesen. Mir gilt das Allgemeine als Wesen; ein solches wäre nicht, wenn ich als dieser erhalten bin“.
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Was nun die zweite Auswirkung dieser mystischen Grundidee angeht, so hat sie gewissermaßen ex negativo die moderne Person mit ihren unveräußerlichen Rechten hervorgebracht. Denn der offenbar in der Aufklärung geprägte Begriff der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte muß als eine Frucht der Auseinandersetzung mit der Mystik, genauer gesagt, mit jener Richtung derselben angesehen werden, die die totale Entäußerung des menschlichen Willens, ihre „aliénation totale“, für möglich ansieht und sie als die Perfektion des Menschseins begreift. Das haben die schon zitierten politischen Dokumente, die von den unveräußerlichen Rechten sprechen, gezeigt. Bestätigt wird diese These, den Begriff der Unveräußerlichkeit als eine kritische Reaktion auf die extreme Form der Mystik zu verstehen, durch keinen Geringeren als Kant, der in seiner Reflexion n. 7857 sagt: „[P]ersonalitas non est alienabilis“59 und an anderer Stelle wiederum mit Anklang an den mystischen Verzichts- und Veräußerungsbegriff: „Man kann seine freyheit suspendiren, aber ihr nicht renunciiren, den usum virium suarum alteri concediren nicht alieniren“.60 Was Kant damit sagen will, ist: Wir können vieles von uns veräußern, nicht nur Sachen, die uns gehören, sondern auch partikuläre Interessen, bestimmte Neigungen, die Erfüllung einzelner Triebe usw., aber unser Personsein und das, worin es nach Kant und einer großen Tradition besteht, nämlich in der Freiheit, d.h. im Wollen überhaupt, das können wir niemals drangeben, ohne unseren Charakter als sittliches Wesen, als sittliches Subjekt zu verlieren. Bezeichnenderweise heißt es im selben Zusammenhang: „Die gänzliche Beraubung der freyheit hebt die Persohn auf“.61 Die mystische Vorstellung von der Totalentäußerung führt zur Verdinglichung (in der Kantischen Terminologie: zur Versachlichung) der Person. Deswegen müssen zur Rettung des Persongedankens unveräußerliche Rechte des Menschen angenommen werden.
59 I. Kant, Reflexionen zur Rechtsphilosophie, AA XIX, p. 537; vgl. ibid., nr. 7884, p. 545. 60 I. Kant, Reflexionen zur Rechtsphilosophie n.7927, AA XIX, p. 557. 61 I. Kant, Reflexionen zur Rechtsphilosophie n.7881, AA XIX, p. 544.
Personenverzeichnis Alexy, Robert 2 Alkidamas 6, 142, 151f. Antiochos von Askalon 160 Antiphon 6, 142, 146f., 149, 152 Arendt, Hannah 3 Aristoteles 6, 142, 150, 152ff., 195, 207, 224f. Behrends, Okko 6 Bentham, Jeremy 26f., 32, 39 Bielefeldt, Heiner 13, 17 Boethius 58 Burian, R. M. 167 Burckhardt, Jacob 142, 152 Carneades 195, 207 Chang Peng-chun 124 Cicero, Marcus Tullius 6, 55, 158f., 166, 195ff., 205ff., 221 Descartes, René 161, 164, 222f. Dong Zhongshu 117, 121 Dürig, Günter 48 Enders, Christoph 3 Eratosthenes 150 Grotius, Hugo 132, 156, 236 Habermas, Jürgen 2, 19, 45, 76, 92f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 102ff., 122, 142, 164, 226, 239f. Herder, Johann Gottfried 109 Herodot 143f., 149 Hippias 142, 144ff., 152 Hobbes, Thomas 7, 56, 120, 156, 222f., 229 Höffe, Otfried 2 Hörnle, Tatjana 2 Ignatieff, Michael 39 Isokrates 151 Jaspers, Karl 108 Kant, Immanuel 2, 8, 10ff., 15ff., 30, 44, 48, 52, 56, 59, 68, 100, 116, 119, 121, 156, 161, 164, 224ff., 230ff. DOI 10.1515/9783110537130-012
Kersting, Wolfgang 13ff., 18f. Kirste, Stephan 3, 143 Kobusch, Theo 7 Konfuzius 110, 118, 123 La Mettrie, Julien Offray de 130 Las Casas, Batholomé de 5 Liang Qichao 105f. Locke, John 2, 7, 9 Luf, Gerhard 2 Luhmann, Niklas 45, 43f. Lykophron 6, 142, 151f. MacIntyre, Alasdair 26 Mao Zedong 107 Marx, Karl 44, 103 Mastronardi, Philippe 3 Meister, Klaus 5 Mengzi 114ff. Mo Di 113f. Mou Zongsan 119 Nussbaum, Martha 172f., 181 Origenes 228, 233, 236 Petrarca, Francesco 53, 158 Philon von Larissa 195, 197f., 202 –Erkenntnistheorie 198 –Römische Vorlesungen 198 Pico della Mirandola, Giovanni 44, 52f. Pindar 144 Platon 144f., 151, 156ff., 164f., 169f., 181, 189, 195, 207f., 210, 212ff., 216, 218, 220f., 228f., 234 Puchta, Friedrich 60 Pufendorf, Samuel 7, 44, 56, 59, 156, 222ff. Rabossi, Eduardo 32 Rawls, John 2, 39 Raz, Joseph 37, 39 Roetz, Heiner 4 Rorty, Richard 33f. Rousseau, Jean-Jacques 2, 7, 19, 156, 180, 237ff.
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Personenverzeichnis
Savigny, Friedrich Carl von 60, 187, 219 Schiller, Friedrich von 44, 103 Schmitt, Arbogast 6 Seelmann, Kurt 142 Sempronius Sophus 193 Servius Sulpicius Rufus 196 Simon, Thomas 9f. Sommer, Andreas Urs 4 Stourzh, Gerald 19 Suárez, Francisco 7 Sun Yatsen 106 Sumner, William 27
Tacitus, Cornelius Publius 139 Tiberius Coruncanius 193 Vázquez de Menchaca, Fernando 7 Vlastos, Gregory 3 Vitoria, Francisco de 156 Waldron, Jeremy 3 Wittgenstein, Ludwig 128 Wolff, Christian 7, 10, 44, 56, 59, 161, 226, 228 Xunzi 117 Zhang Zhidong 105
Sachverzeichnis Achsenzeit 108, 114, 122 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 135 Anerkennung des Anderen 86f, 99, 101 Angeborene Rechte s. natürliche Rechte Anthropologie 1f., 27, 36, 54, 115, 117, 119f, 123, 129ff., 192, 202 Asian Values 29, 33 Aufklärung 6, 10, 28, 31, 34, 56, 75, 82, 84, 89, 100f., 104, 112, 124, 142, 153, 157f., 161, 163, 165, 186, 230, 232, 241 Autonomie 15f., 19f., 52, 62, 68f., 71f., 75, 82, 84ff., 89, 91, 94, 99, 103, 119, 121, 211 Bild und Gleichnis Gottes s. Gottebenbildlichkeit Cambridger Platoniker 228f. Charta der Grundrechte der Europäischen Union 126, 135 Demokratie 53, 69, 86f., 90f., 94f., 102f., 105, 108, 120, 125f. derechos humanos 5 deliberative Demokratie 94f. Diskurstheorie, diskusrstheoretisch 2f., 76, 87, 92f. Empirismus 167 Enérgeia 178, 182 entia moralia 223f., 226 ergon 178, 185 Ethik 3, 17, 68f., 83, 85, 87, 98,100, 105, 110, 114, 117, 120ff., 131f., 143f., 147, 153, 158, 181, 222, 224 – universale 222, 224f. Ethnozentrismus 27 Europäische Menschenrechtskonvention 24, 100 facultas 7 Fehlschluss, normativistischer 132 Foundationalism 32 Freiheitsrechte 4, 8, 10, 14, 17, 109, 139 DOI 10.1515/9783110537130-013
Geltungsanspruch 72, 80, 82, 93, 97ff. Genesis und Geltung 95f. Gerechtigkeit 2, 25, 69, 71ff., 79f., 82ff., 87ff., 90, 93, 99, 101, 113, 116, 122, 147, 184, 206f., 229 Geschichtlichkeit der Freiheitsrechte 17 Gesellschaftsvertrag 7, 9f., 87, 91 Gleichheit, Gleichheit der Menschen 6, 9, 14ff., 21, 61, 65, 82, 88f., 91, 126ff., 133, 135, 139, 145f., 148ff., 175, 190, 201 Gott(es)ebenbildlichkeit 45, 51, 233f. –s. auch imago trinitatis Grundrechte 9, 12, 14ff., 18, 20, 43, 50, 99, 128f., 183, 228 –als liberale Abwehrrechte 18ff., 84ff. –als Verfassungsprinzipien 18ff., 86ff., 90ff. Gruppenrechte 4 Hegemonie westlicher Länder 28f. Historisierung, Historismus 108, 133 imago trinitatis 217f. Interrationalität 82 Intersubjektivität 73f., 76, 87f., 94, 122f. Intuitionen 1, 33, 161, 175 Konfuzianismus 105, 110f., 113ff., 197, 119f., 123f. Kontraktualismus 2f., 87, 121 kulturelle Differenz 27 Lust 181 Machtkritik 112, 114 maiores qui crediderunt 194 Mandat des Himmels 115 Meinung, Meinen 137, 143f., 153, 163, 168, 172, 177ff., 183f., 185, 215 Mensch –als beseelter Körper 191 –als Mensch 226f. –homo moralis 226 Menschenbild 6, 69, 74ff., 77, 84, 91, 111, 129f., 189, 210, 213, 218
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Sachverzeichnis
Menschenrechte – Unveräusserlichkeit 7, 9f, 222, 232, 235f., 241 – Unverlierbarkeit 7, 170, 180, 228, 232 – dritte Generation 4 Menschenrechtspolitik 22, 100f., 139 Menschenwürde 3f., 6, 30, 41ff., 52ff., 57f., 63ff., 67, 81, 84, 88ff., 127ff., 135 Menschenwürde und Willkürverbot 89f. menschliche Bedürfnisse 1, 14, 35, 37f., 40 Metaphysik der Sitten 59, 225, 230f. Methode 10, 46ff., 51, 69f., 74, 92f., 113, 138 minimalistisches Konzept 36 Missbrauch der Menschenrechte 133, 138 moralische Rechte 2, 23f., 37 Mystik, mystische Tradition 236ff., 241 natürliche Rechte 1f., 26 Naturbegriff (oder Physis) 142ff., 169 Naturrecht, naturrechtlich 2, 9, 67, 116, 142f., 192, 211, 223ff. Nomos und Physis (positives Recht und Naturrecht) 142ff. Panhellenismus 145 Person als Maske –als „sprechendes“ menschliches Gesicht 58, 189ff. –als imago trinitatis 217f. –als soziale Rolle 58, 189 philosophia practica universalis 224ff. politische Konzepte 34 potestas 7, 132 Qing-Dynastie 104 Rationalität 52, 79, 82f., 99, 103, 175 Relationsbegriff 37, 81 religiöse Begründung 31, 54 Politische Philosophie 2, 4, 23, 34, 112, 239 Recht, subjektives 41, 45, 47, 51f., 55, 63, 68 Rechtsfähigkeit 48, 60f., 63, 66, 68, 207
Rechtsperson 41, 57, 59ff., 62ff., 67f. Rechtssubjekt 14, 58, 60, 63ff., 67f. Republikanismus 91 Sakralisierung des Menschen 130 Selbstbestimmung 11, 86, 102, 180, 231 skeptische Trias memoria, intellegentia, providentia 206 –die augustinische Wendung memoria, intellegentia, voluntas (amor) 211 Sklaverei 6, 65, 152 Solidarität 75, 999, 123, 126ff., 135 Sophistik, Sophisten 142ff., 151f., 154, 156 Stoa 154ff., 158ff., 164f., 191, 195, 200, 205, 210, 215, 220, 228 Souveränität von Staaten 14, 38f., 108 Subjektivität 14, 74, 94, 102f., 105, 107 110, 122, 240 Traditionskritik 4, 112 Universalisierung 3ff, 7, 34, 39, 74, 78ff., 88, 92, 95ff., 101 Universalität 22, 24f., 29, 31, 34, 74, 77f., 80f., 83, 95ff., 98ff., 127ff., 222, 229 Univozität des Moralischen 222, 228ff Veräusserung 236, 241 –Selbstentäusserung 236 Verhältnis Freie-Sklaven 129, 151f. Vernunft(begriff) 154, 156f., 161ff., 181, 183, 185f. Vertragstheorien 2, 7, 9f., 87, 91 Vierpersonenlehre 208f., 218 Werte –universale 27, 29, 77, 81, 101, 104, 190 –westliche 29, 75, 101, 104, 108, 121 Wille 15, 19ff., 60, 85, 209, 211, 213, 215, 218, 228f., 230ff., 237ff. Zweinaturenlehre 218