250 39 20MB
German Pages 331 [332] Year 2002
Selzer / Ewert (Hg.)
Menschenbilder — Menschenbildner
Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Band 2
Herausgegeben von Andreas Ranft und Monika Neugebauer-Wölk
Menschenbilder — Menschenbildner Individuum und Gruppe im Blick des Historikers
Herausgegeben von Stephan Selzer und Ulf-Christian Ewert
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-05-003753-9
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: BARLO FOTOGRAFIK (Tobias Schneider), Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Gedruckt in Deutschland
Werner Paravicini zum 60. Geburtstag
Vorwort der Reihenherausgeber Für einen Hochschullehrer ist es eine glückliche Erfahrung, wenn im Kolloquium oder Seminar sich am gemeinsamen Gegenstand, den es zu erforschen gilt, die Debatte gleichsam von selbst entzündet, angefacht von lebhafter Neugier, je eigener Faszination und wachsendem wissenschaftlichen Erkenntnisdrang aller Beteiligten, und wenn die engagierte Arbeit eines jeden den Kern gemeinsamen Fragens aufzugreifen versteht, weiterträgt und zum Moment gegenseitiger Mit-Teilung macht. Solche Erfahrungen jedoch gehören nicht zu den Selbstverständlichkeiten des universitären Alltagsbetriebs, der sich vielerlei Regeln und Normen einer zunehmenden Verschulung zu beugen hat. Aber auch nicht in jeder Studentengeneration, geschweige denn in jedem Semester finden sich genügend Studenten, bei denen der Funke überspringt und gegen Ende eines gemeinsamen Arbeitsprozesses produktiv Lehren und Lernen in eins fällt - man muß sie suchen. Graduiertenkollegs und ähnliche Einrichtungen sind teure Antworten darauf und spiegeln administrative Bemühung, Bedingungen zur Rückgewinnung jenes anregenden Milieus und jener dichten Atmosphäre zu schaffen, die begabte und vielseitig interessierte Studenten für ein gemeinsames Projekt ,einzufangen' versteht. Zuweilen wird dabei vergessen, daß es darüber hinaus ganz wesentlich von der Persönlichkeit des akademischen Lehrers abhängt, ob ein solches Unternehmen lebendig in Gang kommt. Wer die Zeit Werner Paravicinis in Kiel miterlebt hat, konnte solche Erfahrung öfter machen. Seine Gegenstände und Fragestellungen haben immer wieder neu Studenten ganz verschiedener Fachrichtungen angezogen und zu intensiver gemeinsamer Arbeit angeregt, und seine Seminare und wissenschaftlichen Exkursionen waren stets ein besonderer Ort produktiver - zuweilen durchaus kontroverser - Auseinandersetzung und gemeinsamer Entdeckerfreude, der unbeeindruckt vom normierten universitären Alltagsbetrieb seine eigene Gestalt fand. Getragen allein vom Engagement seiner Studenten bildete sich alsbald ein ,Graduiertenkolleg' ganz eigener Art heraus, das seine Mitglieder regelmäßig zusammenführte, über viele Jahre zusammenhielt und auch stets neue Mitglieder zu integrieren verstand. Ein Ort wissenschaftlicher Emanzipation und Nährboden für die von Werner Paravicini angeregten Arbeiten, die ihm am Herzen lagen. Was mehr kann sich ein akademischer Lehrer wünschen? Beiden ist zu gratulieren, dem glücklichen Lehrer Werner Paravcini ebenso wie seinen Schülern, die solches ohne administrative und materielle Unterfütterung hervorgebracht haben. Die Herausgeber der Reihe beteiligen sich mit Freude am Geburtstagsgeschenk der Schüler insofern, als sie für seine hoffentlich angemessene Verpackung sorgen und schließen sich zugleich von Herzen den Glückwünschen der Schüler zum 60. Geburtstag von Werner Paravicini an.
Halle, den 24. Mai 2002
Monika Neugebauer- Wölk und Andreas Ranft
Inhaltsverzeichnis Einleitung S t e p h a n SELZER & U l f - C h r i s t i a n EWERT
Menschenbilder - Menschenbildner. Eine begriffliche Klammer für das Projekt .Individuum und Gruppe im Blick des Historikers'
11
Auf der Suche nach dem Zusammenhang zwischen Individuum und Gruppe J ö r g WETTLAUFER
Von der Gruppe zum Individuum Probleme und Perspektiven einer evolutionären Geschichtswissenschaft'
25
K a r i n STUKENBROCK
Individuum oder Gruppe Mediziner auf der Suche nach dem normierten Menschen
53
Der Blick auf das Individuum K l a u s KRÜGER
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle Zur Rezeption von Pilgerreisen nordischer Herrscher im 12. Jahrhundert
69
H a r m VON SEGGERN,
Hermann von Brüninghausen. Wappenkönig der Ruwieren
109
Individuen in selbst gewählten Gruppen Georg ASMUSSEN Die Älterleute der Lübecker Bergenfahrer (1401-1854) Eine Führungsposition in Lübeck im Vergleich über mehrere Jahrhunderte
121
Inhaltsverzeichnis
10 Sonja DÜNNEBEIL Soziale Dynamik in spätmittelalterlichen Gruppen
153
Anke GREVE F r e m d e unter Freunden - Freunde unter Fremden? Hansische Kaufleute im spätmittelalterlichen Brügger Handelsalltag
177
Detlev KRAACK V o n W a p p e n und N a m e n Konstitution, Selbstdarstellung und F r e m d w a h r n e h m u n g von Individuum und Gruppe im Spiegel der monumentalen Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise
189
Gruppe und Gruppenstruktur im Blick der Personenforschung J a n HIRSCHBIEGEL
Zeichen der Gunst Neujahrsgeschenke am burgundischen Hof zur Zeit König Karls VI. von Frankreich (1380-1422)
213
Stephan SELZER R e n a i s s a n c e m e n s c h e n ' g e s u c h t - Italienische Condottieri (1380-1480) im Porträt bei Jacob Burckhardt und im prosopographischen Gruppenbild
241
Gunnar MEYER
...up dat se mynen lesten wyllen truweliken vorvullen Die Werkmeister der Lübecker Pfarrkirchen als Vormünder in Testamenten
277
Ulf Christian EWERT Fahrende Helden der Moderne Grand-Prix-Sieger als prosopographischer Idealfall?
295
Verzeichnis der Autoren
329
Menschenbilder - Menschenbildner Eine begriffliche Klammer für das Projekt ,Individuum und Gruppe im Blick des Historikers' Von Stephan Selzer (Halle) & Ulf Christian Ewert (München)
I. In seinem Buch „Apologie pour l'histoire ou Metier d'historien" inszeniert der große europäische Historiker Marc Bloch den Auftritt des Geschichtsforschers in einer eigentümlichen Rolle. Denn schaurig mutet es an, wenn man liest: „Der gute Historiker gleicht dem Menschenfresser der Legende. Wo er menschliches Fleisch wittert, weiß er seine Beute nicht weit." 1 Nicht die Figuren des Historikers als Untersuchungsrichter oder als Arbeiter im Weinberg, die sich dem Werk von Bloch wohl sogar mit besserem Recht entnehmen lassen 2 , sondern der ,Menschenfresser' ist sicherlich auch wegen dieser drastischen Eindringlichkeit in Deutschland besonders bekannt geworden. 3 Verdeutlichen wollte Bloch allerdings sein zutiefst humanes Verständnis von der Aufgabe der Historikers, von dessen Neugier er meinte, daß sie sich auf die Menschen und nicht auf die ,Geschichte' richten solle. Nicht nur an dieser Stelle für die Geschichte als Wissenschaft von den Menschen plädierend, wäre Bloch vielleicht auch das Bild vom Historiker als ,Menschenretter' nicht unsympathisch gewesen, das Arthur Schopenhauer in „Parerga und Paralipomena" andeutet: „Das Menschenleben ist so kurz und flüchtig und auf so zahlreiche Millionen von Individuen verteilt, welche scharenweise in den stets weitgeöffneten Rachen des sie erwartenden Ungeheuers, der Vergessenheit, stürzen, daß es ein sehr dankenswertes Bestreben ist, das Andenken des Wichtigsten und Interessantesten, die Hauptbegebenheiten und Hauptpersonen aus dem allgemeinen Schiffbruch der Welt zu retten." 4 1
Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe BLOCH 1949/1985, 25.
2
V g l . RAULFF 1 9 9 5 .
J
Die Figur wurde offenbar durch den Aufsatz von LE GOFF 1989 und den Sammelband von RAULFF
4
Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, 2 Bände, N D der Ausgabe letzter Hand von 1851, Zürich 1988, hier zitiert nach KILLY 1994, VII.
1990 popularisiert.
12
Stephan Selzer & Ulf Christian
Ewert
Walther Killy hat mit diesem Schopenhauerschen Bild vom ,Menschenretter' im Jahre 1994 den ersten Band seiner „Deutschen Biographischen Enzyklopädie" eingeleitet und motiviert. 5 Das Erscheinen dieser biographischen Sammlung ist ein bemerkenswerter Ausschlag auf einem imaginären Seismographen, der jeweils anzuzeigen vermag, ob die Historiker im Sinne von Marc Bloch tatsächlich eher bei Menschenleben die Witterung aufnehmen oder ob Speise und Labsal bei ihren Zunftmahlen eher Strukturen und Begriffe sind. Nun sind überhaupt die Rückkehr des Menschen in die Geschichte und die ,Renaissance der Biographie' ein auffälliges Signum der 1990er Jahre. 6 Ein Ereignis, das sich übrigens nicht auf Deutschland beschränkt hat, sondern gerade auch für Frankreich gilt, wo Jacques LeGoff, der Altmeister der französischen Schule der Annales, mit seiner 1996 publizierten Biographie des Heiligen Ludwig 7 seinen Blick auf etwas richtete, was zuvor einem nouveau historien unwürdig zu sein schien. 8 Man braucht kein Prophet zu sein, um zu vermuten, daß zukünftige Betrachter diese sich abzeichnende Verschiebung mit dem Erlebnis des politischen Umbruchs der Jahre 1989/1990 in Verbindung bringen werden. Denn die „Erfahrung der Gegenwart", um einen Aufsatztitel von Arnold Esch anklingen zu lassen9, das Erlebnis der „Beschleunigung der Geschichte", aber auch die unmittelbare Wirkung der Entscheidungen einzelner Menschen auf den Fortgang des Geschehens, kurzum: die Macht ihrer Zeitgenossenschaft wird die Denk- und Deutungsweisen der Historiker nicht unberührt lassen. 10 Vielleicht wird also das Jahr 1989 einmal zwei Historikergenerationen von einander scheiden, je nachdem ob ihre methodische und inhaltliche Festigung größtenteils vor oder nach diesem Termin gelegen hat. Doch wäre eine Einbettung des Phänomens unvollständig, wollte man die Verschiebung der Forschungsinteressen nur als Folge der Zeitgenossenschaft deuten. Gleichermaßen wirksam werden hier zweifellos auch fachinterne Entwicklungen, deren Pendelbewegungen hier kurz markiert seien. Dabei scheint sich die Entwicklung im 20. Jahrhundert in der deutschen Geschichtswissenschaft in mehreren gegenläufigen Ausschlägen vollzogen zu haben. Gespeist aus den Traditionen des 19. Jahrhunderts und zumindest bis in die 1950er Jahre hinein waren dabei die „Historische Größe" ein klassisches Thema und die Biographie ein zentrales Genre der historischen Wissenschaft. In der deutschen Geschichtswissenschaft gehörte beides zusammen mit dem Bewußtsein, 5
Das Werk liegt inzwischen vollständig vor: KILLY 1994-1999.
6
Vgl. HÖMIG 1988. Dies ließe sich auch an Nachbarwissenschaften und an der Populärkultur zeigen. So titelte etwa das Manager-Magazin zu Beginn des Jahres 2002 „Braucht die Wirtschaft Helden?", und bejahte die selbst gestellte Frage nicht nur rundweg, sondern machte sogleich einen Trend aus, durch den große Wirtschaftslenker wieder in ihr Recht gesetzt und exzentrische Individualität gegen die noch vor kurzem gepriesene Schlüsselqualifikation Teamwork ausgespielt wird: Manager Magazin. Wirtschaft aus erster Hand, 32.2 (2002), Nr. 1, 118-121.
7
LE GOFF 1996/2000.
8
Vgl. dazu PARAVicrNi 1994, 8.
9 10
ESCH 1990/1994. Dies hat früh DARNTON 1991 bemerkt.
Menschenbilder
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Menschenbildner
13
daß das Singulare und das Individuelle die eigentlichen Kerne historischen Erkenntnisinteresses seien, zu einer Traditionslinie, die sich von Leopold von Ranke bis Friedrich Meinecke ziehen läßt." Die deutsche Mediävistik hat an dieser Tradition mitgewoben. Zu denken ist etwa an das große Buch von Ernst Kantorowicz über den Staufer Friedrich II.' 2 Und man darf auch daran erinnern, daß zu den Herausgebern der in großer Auflage publizierten Neuausgabe der seit 1956 erscheinenden „Großen Deutschen" mit Hermann Heimpel eine der prägenden Gestalten nicht nur der deutschen Mediävistik, sondern des westdeutschen Wissenschaftsbetriebes nach 1945 überhaupt gehörte. 13 Gegen solche Menschenbilder, gegen die „Großen Männer" mitsamt ihren Taten und Ideen, formte sich spätestens seit den 1950er Jahren in der deutschen Geschichtsforschung eine zunächst kritische, dann ablehnende Sichtweise. Deutlich sind erste Absetzungsbewegungen in einem inzwischen berühmten Aufsatz, den Theodor Schieder 1952 unter dem Titel „Der Typus in der Geschichtswissenschaft" veröffentlicht hat. 14 Mit methodisch geschärftem Blick wies Schieder vor allem darauf hin, daß Individualität nur an einem allgemeinen Maßstab sichtbar gemacht werden könne. In Schieders Worten: „Bewußt oder unbewußt wird unsere Anschauung von Individualitäten durch die Bilder von Typen mitbestimmt: ...die Individualität eines handelnden Politikers durch einen staatsmännischen Typus, an dem wir diesen messen." Die Lehre vom Idealtypus 15 aus der historischen Soziologie Max Webers, die hier deutlich durchscheint 16 , gehörte dann zu einer der Großtheorien, mit deren Hilfe eine Neuausrichtung der historischen Analyse auf überindividuelle Strukturen in Gesellschaft und Wirtschaft eingefordert wurde. Diese Fundierung des Faches Geschichte als Historische Sozialwissenschaft war sicherlich nicht zu Unrecht gegen eine historische Forschung gerichtet, die einseitig und übersteigert nur Ereignisse und Personen in den Blick nahm. 17 Und vor allem zeittypisch war dabei wohl, daß der eigene Weg, der nicht nur die „Großen Männer" abtreten ließ und sie durch anonyme Kräfte ersetzte, sondern auch an die Stelle der Erzählung die Statistik setzte, mit rigoroser Strenge und Ungeduld postuliert wurde. Wer sich diesem Trend bewußt entziehen wollte, mußte sich alsbald, was etwa Joachim C. Fest in seiner Hitlerbiographie von 1973 ausdrücklich tat, gegen die Auffassung von der Un-
"
Vgl. IGGERS 1993.
12
KANTOROWICZ 1 9 2 7 / 1 9 9 1 . V g l . BENSON & FRIED 1 9 9 7 .
13
HEIMPEL/HEUSS/REIFENBERG 1 9 5 6 - 1 9 5 7 . V g l . z u i h m BOOCKMANN 1 9 9 0 .
14
SCHIEDER 1952/1970, 172f.
15
Vgl. dazu WEBER 1988, 190.
16
V g l . KOCKA 1 9 8 6 ; HOPF 1 9 9 1 .
17
Verbunden ist dieser gegen die traditionelle historisch-hermeneutisch und idiographisch vorgehende Geschichtswissenschaft gerichtete Perspektivwechsel hin zur Historischen Sozialwissenschaft mit den N a m e n von Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Jörn Rüsen, Wolfgang Rürup und Winfried Schulze. Ihrer Interpretation nach handelte es sich bei dem methodischen Schwenk zur Erfassung der historischen Wirklichkeit in allen ihren politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen um einen Paradigmenwechsel SÜSSMUTH 1 9 8 0 , 1 3 8 .
im Sinne von Thomas S. Kuhn. Siehe dazu
Stephan Selzer & Ulf Christian Ewert
14
möglichkeit historischer Erkenntnis mittels biographischer Darstellung verteidigen. 1 8 So waren die 1970er und 1980er keine guten Zeiten für biographische Annäherungen an historische Individuen. 1 9 Sogar in den Klappentexten wurde ein Stimmungswandel spürbar, w e n n in diesen Jahren auch die Reihe „Persönlichkeit und Geschichte" ihren Werbetext änderte. „Stets waren es einzelne Persönlichkeiten, die das Schicksal der Völker bestimmten und die großen Zäsuren im Ablauf der Weltgeschichte setzten", hatte es noch 1976 auf einem Bändchen der Reihe geheißen, das dann methodisch bereits ganz anders daherkam 2 0 , ehe man um 1977 zu einer Sicht der Dinge umschwenkte, die sich auf Jacob Burckhardt berief und zudem darauf verwies, daß Biographien dabei helfen können, „das Verstehen eines Zeitalters zu erschließen." 2 1 In der deutschen Mediävistik sind in diesen Jahren die K ä m p f e um den richtigen Weg, die immer auch Auseinandersetzungen um Einfluß und Mittel waren, weniger scharf ausgetragen worden. 2 2 Hier hat man von den alten Methoden und Fragestellungen nicht abgelassen, sondern das N e u e häufig dem traditionellen Gebäude einfach nur angebaut. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, daß der langjährige Präsident der Monumenta Germaniae Historica eine Sammlung von biographischen Skizzen kürzlich augenzwinkernd mit einen Bonmot von Benjamin Disraeli eingeleitet hat: „Lies keine Geschichtswerke, nur Biographie, denn das ist Leben ohne Theorie." 2 3 Biographien waren innerhalb des mediävistischen Teilfachs weniger in Verruf geraten, und eine Promotion und Habilitation mit einem biographischen Ansatz konnte durchaus der Beginn einer bedeutenden Karriere sein. 24 Verlies allerdings die Mediävistik die internen Diskussionen und präsentierte sich im öffentlichen Raum, war das auch hier anders. So meinte sich etwa 1984 der Herausgeber einer qualitätsvollen S a m m l u n g von biographischen Skizzen mittelalterlicher Kaiser mit folgender Feststellung in Schutz nehmen zu müssen: „Der Versuch, den Zugang zum Mittelalter über eine Auswahl von Herrscherpersönlichkeiten anstelle einer Gesamtdarstellung der Reichsgeschichte zu öffnen, proklamiert nicht die Wiedereinsetzung der großen Persönlichkeit als Gestalter der Geschichte schlechthin." 2 5 Nicht so sehr unter den Mediävisten, sondern eher unter den Erforschern neuer Zeiträume wurden spätestens in den 1980er Jahren solche Ansätze unübersehbar, die das Zurücktreten der Menschen hinter Begriffe und anonyme Strukturen als Defizit geißelten. Widerspruch gegen die A u f f a s s u n g einer Geschichte als Historische Sozialwissen-
18
FEST 1973/1987, 17-25: „Vorbetrachtung: Hitler und die historische Größe."
19
Eindrücklich auch die verteidigende Einleitung die 1977 Gerhard Oestreich seiner Biographie Friedrich Wilhelms I. vorausschickte: OESTREICH 1977, 7-9.
20
So z.B. die Biographie des Burgunderherzogs Karl des Kühnen: PARAVICINI 1976.
21
So der K l a p p e n t e x t bei OESTREICH 1977.
22
Eine solide Übersicht bei GOETZ 1999.
23
FUHRMANN 2 0 0 1 , 10.
24
Siehe z.B. die Arbeiten Hartmut Boockmanns, der von Laurentius Blumenau zu Johannes Falkenb e r g fortschritt: BOOCKMANN 1965; DERS. 1975.
25
BEUMANN 1 9 8 4 , 7 f .
Menschenbilder - Menschenbildner
15
schaft wurde formuliert, wobei man sich zum Sturm auf die Bielefelder Z w i n g b u r g aus unterschiedlichen ausländischen Arsenalen munitionierte und sich dabei beispielsweise die italienische Mikrogeschichte, die französische Mentalitätengeschichte oder die Historische Anthropologie anglo-amerikanischer Provenienz aufs Banner schrieb. Und in der Tat wurden wieder Menschen auf Augenhöhe geschildert, womit auch das Ereignis und die Erzählung ihren Platz in der Geschichtswissenschaft zurückgewannen. 2 6 Doch kehrten in diesen Jahren die Individuen in die Geschichtswissenschaft nicht als Staatsmänner, Päpste oder Diplomaten zurück, sondern sie traten als Frauen, Randständige und Bauern auf. 2 7
II. Die sich vor diesem hier nur holzschnittartig skizzierten Forschungsgang abzeichnende Wiederkehr der „Großen Männer", diesmal vielleicht begleitet von „Großen Frauen", war der Hintergrund vor dem im Jahre 1998 die ersten Planungen zu diesem Aufsatzband einsetzten. Die damit verbundene doppelte H o f f n u n g und die sich daraus ergebenen doppelten Anstrengungen soll das Begriffspaar „Menschenbilder - Menschenbildner" einfangen, das als Obertitel das T h e m a „Individuum und G r u p p e im Blick des Historikers" umklammert. Beide Leitbegriffe des Obertitels sind gleichermaßen programmatisch gemeint. Die damit verbundenen Zielsetzungen, die den Autoren als Aufgabe gestellt waren, seien hier kurz erläutert. Der erste Klammerbegriff ,Menschenbilder' soll darauf verweisen, daß in diesem Sammelband menschliche Lebenswege sichtbar gemacht werden sollen. Diesem W u n s c h soll man durchaus eine gewisse Sympathie fur Bemühungen anmerken, die Entpersonalisierung historischer Z u s a m m e n h ä n g e aufzubrechen und dem Leser ein Staunen über die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Charaktere zu gönnen. Menschenbilder zu zeichnen, wird als legitimes Ziel wissenschaftlicher Geschichtsschreibung begriffen, sie zeichnen zu wollen, als A u f g a b e wissenschaftlicher Forschung verstanden, sie zeichnen zu können, als eine große darstellerische Fähigkeit bewundert. Dem Leser werden daher Persönlichkeiten begegnen, beschrieben inmitten ihrer Lebensumstände, um derentwegen sie dem Historiker, und nicht nur ihm, interessant erscheinen mögen. Zu treffen sind etwa ein Herold, Condottieri in den Hügeln Italiens, Beschenkte am burgundischen Hof, mit dem Goldenen Vlies geschmückte Ordensritter, hansische Kaufleute in Lübeck und in Brügge, Lübecker Werkmeister als Testamentsverwalter, ein N o r w e g e r auf Europareise, reisende adlige Graffiti-Ritzer auf dem Sinai, Mediziner bei dem Versuch, den Menschen zu vermessen und zu kategorisieren, sowie GrandPrix-Piloten in ihren Cockpits auf dem Wege zu R u h m und Ehre, der f ü r manchen tödlich endete. 26
Programmatisch war etwa der Aufsatz von STONE 1979.
27
Einen neueren Überblick über diese in Deutschland oft recht akademisch geführte D i s k u s s i o n bei CORNELIBEN 2 0 0 0 . Zur internationalen Situation siehe BURKE 1993.
Stephan Selzer & Ulf Christian
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Ewert
Doch wäre es zu bequem gewesen, mit dem Pendel, das sich weg von den Strukturen und hin zu den Personen in Bewegung gesetzt hatte, einfach mitzuschwingen. Zu groß schien die Gefahr, daß die neue Mode womöglich nur eine alte sein könnte. Zwar nichts dazugelernt zu haben durch die methodischen Postulate einer Historischen Sozialwissenschaft und die Fortschritte der ,nouvelle histoire', aber dafür nichts vergessen zu wollen von den Traditionen und Prinzipen einer älteren Biographik, sollte gerade nicht die Leitlinie dieses Unternehmens sein. 8 Zwar sollten die vergangenen Menschenleben zunächst auf Augenhöhe betrachtet werden, aber diese Fokussierung durfte gerade nicht davon entbinden, aus einer erhöhten Betrachtungsposition Kapital zu schlagen. Wünschenswert schien es vielmehr zu sein, das Spannungsfeld beider Betrachtungshöhen fruchtbar zu machen. Deshalb wurden die bunte Lebenswelt und die anrührenden Lebensschicksale der Menschenbilder durch die zweite Klammer des Titels methodisch gefaßt. Mit dem Begriff .Menschenbildner' soll zum einen der Verlust des Glaubens an ein zeit- und personenunabhängiges Objektivitätsideal in der Geschichtswissenschaft angedeutet sein. Wenn Geschichte überhaupt „zu Wachs in den Händen des Historikers" werden kann 29 , dann modelliert der Historiker zweifellos auch die gelebten Leben seiner Helden, die er nicht selbst erlebt, sondern nur erlesen hat. Und der Historiker ist es auch, der solche Leben, die ihm typisch erscheinen, aus dem großen Reservoir menschlicher Schicksale herausfischt. Man wird den Historiker deshalb nicht,Menschenfischer' nennen dürfen. Aber bei aller Problematik ist das Bild in gewisser Weise treffend, denn wie der Tiefseeforscher in seinem Schleppnetz nur eine Auswahl der Meereslebewesen einsammelt, aus denen er auf das Universum der Unterwasserwelt zu schließen sucht, so verfangt sich auch in den methodischen Netzen der Historiker nur eine Auswahl der gelebten Leben. Was der Forscher dann zu Beifang erklärt und wie und ob er überhaupt darüber Klarheit gewinnt, was ihm durch die Maschen seines Netzes geschlüpft sein könnte, ist eine subjektive Entscheidung. Methodisch gewendet bedeutet dies beispielsweise, daß bei aller Freude am quellendokumentierten Einzelschicksal stets zu beantworten bleibt, wie sich ein solcher, zumeist nur durch eine günstige Überlieferung dokumentierbarer Lebensweg zum Durchschnitt verhält, ob er tatsächlich andere Lebenswege repräsentieren kann und inwiefern er sich von diesen im Zweifel abhebt. Selbst bei Individuen, bei denen man einst historische Größe ausgemacht zu haben meinte, ist dieses Problem nicht obsolet, denn auch in solchen Fällen kommt der Historiker selbst dann, wenn er sich darüber nicht Rechenschaft ablegt, nicht ohne den Begriff des Typischen aus. Man wird sich hier Jan Huizinga anschließen können, der dazu schrieb: „Menschen sind nicht groß. Die ,wirkliche Größe' von Menschen ist nicht, wie Burckhardt meinte, ein Mysterium, sondern ein Wort, ein posthumer Ritterschlag, den die Historie verleiht." 30 Sich der Rolle des Historikers als Menschenbildner bewußt zu sein, war den Autoren als zweite Aufgabe gestellt. Damit war allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gruppe anders gestellt als in älteren und neueren Arbeiten, die sich um 28
Diese Problemlage etwa eindringlich vor Augen geführt bei LE GOFF 1989.
29
So FRIED 1996, 305. Vgl. dazu PARAVicrNi 1998.
30
HUIZINGA 1 9 4 0 / 1 9 4 7 , 7 2 .
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die „Entdeckung des Individuums" bemüht haben und dabei gerade den Umbruch vom Mittelalter zur Renaissance beobachten. 31 Hingegen ist eine Konvergenz mit den Arbeiten von Otto Gerhard Oexle in den Fällen, in denen Individuen in von ihnen selbst eingegangenen Gruppenbindungen und nicht in vom Historiker zu seinen Zwecken zusammengestellten Gruppen beobachtet werden, durchaus gewollt. Oexle hat sein Projekt der „Sozialen Gruppen in der Gesellschaft des Mittelalters" jüngst noch einmal ausführlich erläutert und gefolgert: „Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum, Gruppe und Gesamt-Gesellschaft ist eine zentrale Frage aller Kulturwissenschaften wie der Lebenswelt im Ganzen." 32 Den damit verbundenen wichtigen methodischen Grundfragen der Geschichtswissenschaft, wie etwa das Problem des Verhältnisses von Individuellem und Allgemeinem, die Frage nach persönlichen Handlungsspielräumen und strukturellen Gegebenheiten, haben sich die Autoren dieses Bandes auf unterschiedliche Weise genähert. Ins Grundsätzliche wendet zunächst Jörg Wettlaufer das Problem von Individuum und Gruppe im Blick des Historikers. Ihm geht es um die Frage, was die evolutionsbiologische Erklärung menschlichen Verhaltens fur die Geschichtswissenschaften bedeuten kann und muß - eine Diskussion, die er zu Recht einfordert. Ein kurzer Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinaus zeigt dann sehr eindrücklich, daß die hier diskutierte Frage keine spezifisch geschichtswissenschaftliche ist. Wie es nämlich auch einer anderen Wissenschaft nicht gelingen wollte, für ihre praktischen Zwecke einen Normalmenschen zu konstruieren, schildert Karin Stukenbrock, indem sie die Diskussion der Humanmedizin vor und nach dem 1. Weltkrieg über Körperproportionen und deren Kategorisierung nachzeichnet. Sie liefert damit auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Genese der heutigen Interpretation von ,normal' und ,nicht normal', von individuell' und ,sozial'. Aber gerade für den Mediävisten ist es bei einer rudimentäre Quellenlage oft nicht leicht, ein einzelnes Leben zu schildern, ob dieses nun ein besonderes gewesen ist oder nur in gewöhnlichen' Bahnen verlief. Harm von Seggern gelingt es, die in zahlreichen Archiven verstreuten Zeugnisse, in denen das Leben des Wappenkönigs Hermann von Brüninghausen zerfallen ist, wieder zusammenzufügen. Die als sogenannte visur in die skandinavische Sagaliteratur eingefügte direkte Rede entkleidet Klaus Krüger ihres Charakters als individuelle Äußerung. Nicht mehr als Zeugnis eines persönlichen Reiseerlebnisses, sondern als in einem gruppendynamischen Prozeß entstandene Überlieferung kann er den in die Orkneyinga saga eingefügten Bericht über die zweijährige Reise nach Palästina und an den byzantinischen Kaiserhof des Rögnvald Kali Kolsson ( t 1158) deuten. Vereinbarte Gruppenbindungen des Mittelalters im Sinne von Otto Gerhard Oexle haben als Untersuchungsgegenstand Georg Asmussen, Sonja Dünnebeil und Anke Greve gewählt. Normen und Regeln sowie Totengedenken und Repräsentation werden als konstituierend für die Gruppenbildungen der Lübecker 31
V g l . a u s der r e i c h e n Literatur z u l e t z t AERTSEN & SPEER 1 9 9 6 ; COLEMANN 1 9 9 6 ; DÜLMEN
1997;
DERS. 2 0 0 1 ; BESSMERTNY & OEXLE 2 0 0 1 . Z u d i e s e m A n s a t z kritisch SCHMITT 1 9 8 9 ; OEXLE 2 0 0 1 .
21-26. 32
OEXLE 1 9 9 8 , 13.
18
Stephan Selzer & Vif Christian
Ewert
Bergenfahrer und der Lübecker Zirkelgesellschaft beschrieben, wobei letztere durch die Gegenüberstellung mit den Formen der Außendarstellung des Ordens vom Goldenen Vlies ein deutliches Relief gewinnt. Auch die hansischen Kaufleute in Brügge waren in ihrem geschäftlichen und gesellschaftlichen Umgang den Regeln ihrer Gruppe verpflichtet, doch mit Hildebrand Veckinchusen wird uns ein Kaufmann vorgeführt, der offensichtlich gegen alle guten Gepflogenheiten verstoßen hatte und infolgedessen auch keine Hilfe mehr erwarten konnte. Daß sehr viel später die deutsche Hanseforschung diesen Fall zum Anlaß nahm, falsche nationale Gruppengegensätze zwischen vorgeblich ,ehrlichen' deutschen Kaufleuten und ,treulosen' Flamen zu konstruieren, mahnt den Historiker in besonderer Weise zur Vorsicht gegenüber vereinfachenden Beurteilungen des Individuums in seinen vielfältigen Gruppenbindungen. Eine Überraschung hält der Aufsatz von Detlev Kraack bereit, der für spätmittelalterliche Jerusalemreisende zeigen kann, wie sich nicht ihre ort- und zeitaktuellen Gruppenbildungen, sondern vielmehr ihre aus der Heimat mitgefühlten Zusammenhänge und Bindungen in Wappen und Inschriften materialisiert haben. Nicht von den Zeitgenossen eingegangene, sondern vom Historiker zu seinen Zwecken gebildete Gruppen analysieren die Beiträge von Stephan Selzer und Ulf Christian Ewert. Dabei lag es nahe, die für die Erforschung von Personengruppen bereits etablierte Methode der Prosopograhie 3 3 anzuwenden und sie methodisch auf ihre Eignung zu prüfen. Sozialwissenschaftliche Untersuchungsmethodik auf das Problem Individuum und Gruppe angewandt haben schließlich auch Jan Hirschbiegel und Gunnar Meyer. Beschenkte am burgundischen Hof und Lübecker Werkmeister sind die Personengruppen, denen bewußt nicht eine lebensnahe Schilderung gewidmet wird (was möglich wäre), sondern deren Bindungen systematisch kontrolliert vorgestellt werden.
III. Die hier knapp porträtierten Studien sind das Ergebnis der individuellen Anstrengungen ihrer Autoren. Doch wären sie nicht entstanden ohne die freiwillige Bindung der einzelnen Wissenschaftler an eine Gruppe. Diese Gemeinschaft von Doktorandinnen und Doktoranden der Kieler Christian-Albrechts-Universität hatte sich seit 1997 regelmäßig in einem außeruniversitären Forum zusammengefunden, um über Modisches und Methodisches zu diskutieren. Den Kern der Gruppe bildeten sicherlich die Schülerinnen und Schüler Werner Paravicinis. Doch von Beginn an bereicherten Forscherinnen und Forscher anderer historischer Fächer diesen „Arbeitskreis Kieler Doktoranden im Storchnest". Er bot ein geeignetes Forum, um die eigenen Arbeiten vorzustellen, Thesen erstmals zu erproben und sich in der Diskussion methodisch zu wappnen. Die meisten Aufsätze in diesem Band beruhen auf Vorträgen, Diskussion und Gesprächen, die wir miteinander im Kieler Storchnest geführt haben. Die Heiterkeit und Gemeinschaft dieser Runde sind der Urgrund dieses Buches. Der Wunsch, diese Beiträge zu publizie33
Siehe den klassischen Aufsatz von STONE 1971 sowie jetzt PARAVICINI 2002.
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ren, um der gelebten Gemeinschaft der 1990er Jahre eine materialisierte Erinnerung zu geben, war die Startidee für dieses Projekt. Doch verzögerte sich die Umsetzung dieses Plans vor allem deshalb, weil viele der Teilnehmer der ersten Generation des Arbeitskreises inzwischen flügge geworden sind und Kiel in Richtung Halle, Marburg, München und Wien verlassen haben. Doch ergab sich aus dieser ungewollten Verzögerung eine besondere Chance. Weil viele der Verfasser in ihren Vorträgen zu Inhalten und Problemen zurückgekehrt waren, die sie einst unter der Anleitung ihres Kieler Doktorvaters zu bearbeiten begonnen hatten, bot es sich an, das Grundprojekt zu erweitern und in einen besonderen Zusammenhang zu stellen. Im Kern erhalten blieb die Idee einer Dokumentation der Vorträge des Storchnest-Kreises. Doch erweitert wurde das Tableau der Autoren um diejenigen Schülerinnen und Schüler von Prof. Werner Paravicini (Paris), die noch in seiner Kieler Zeit bei ihm promoviert worden sind. Zwar nicht alle, die um Mitarbeit gebeten wurden, aber doch die meisten haben sich dieser Bitte nicht verschlossen und waren zur Mitarbeit bereit. Doch wäre das Projekt vielleicht dennoch gescheitert, hätte sich ihm Prof. Andreas Ranft, dem Kieler Kreis in Freundschaft und Fürsorge verbunden, in der Endphase nicht fordernd angenommen. Der Sammelband, der die gemeinsamen Anstrengungen aller Genannten dokumentiert, ist aus Dankbarkeit Prof. Werner Paravicini zum 60. Geburtstag zugeeignet.
Literaturverzeichnis AERTSEN, J. A . & SPEER, A . ( H g g . ) , I n d i v i d u u m und Individualität im Mittelalter ( M i s c e l l a n e a aevalia
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Auf der Suche nach dem Zusammenhang zwischen Individuum und Gruppe
Von der Gruppe zum Individuum Probleme und Perspektiven einer ,evolutionären Geschichtswissenschaft' Von Jörg Wettlaufer (Kiel) D i e D i s k u s s i o n über den N u t z e n e v o l u t i o n s b i o l o g i s c h motivierter Erklärung m e n s c h l i c h e n V e r h a l t e n s für d i e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n ist b i s l a n g e i n e R a n d e r s c h e i n u n g der D e b a t t e ü b e r d i e b i o l o g i s c h e n G r u n d l a g e n v o n Kultur. D i e s e D e b a t t e w i r d i n t e n s i v s e i t d e m E n t s t e h e n der a l s S o z i o b i o l o g i e b e k a n n t e n F o r s c h u n g s r i c h t u n g in d e n
siebziger
Jahren geführt, o h n e daß bislang ein interdisziplinärer K o n s e n s g e f u n d e n w o r d e n wäre.1 I m m e r w i e d e r w a r in d i e s e r D e b a t t e a u c h v o n d e r M ö g l i c h k e i t d i e R e d e , E r g e b n i s s e der E v o l u t i o n s b i o l o g i e u n d d e r S o z i o b i o l o g i e für d i e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n n u t z b a r z u m a c h e n b z w . h i s t o r i s c h e D a t e n ü b e r m e n s c h l i c h e s V e r h a l t e n zur Ü b e r p r ü f u n g v o n b i o l o g i s c h e n H y p o t h e s e n z u v e r w e n d e n . 2 D o c h bei g e n a u e r e r B e t r a c h t u n g fällt e i n e , w i e i c h m e i n e , f a t a l e S c h i e f l a g e a u f , d i e a u s d e r H e r k u n f t u n d d e r M o t i v a t i o n der D i s k u s s i o n s t e i l n e h m e r resultiert. E s g i b t n ä m l i c h ( f a s t ) k e i n e H i s t o r i k e r , d i e s i c h d a f ü r i n t e r e s sieren.3
Vgl. für die Debatte im deutschen Sprachraum die Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur (EuS), Bd. 7 (1996), 9 3 - 1 8 0 , sowie Bd. 9 (1998), 2 6 9 - 3 6 0 . Für einen Überblick zur internationalen Debatte siehe den Sammelband „Human by Nature. Between Biology and the Social Sciences", hg. von Peter WEtNGART et al. 1997, sowie in Zukunft FALGER, Vincent S. E. & SEGERSTRALE, Ullica (Hgg.), Sociobiology at the Millennium: Comparative Reception, 1975-2000 (erscheint voraussichtlich 2002). - Ich möchte Ε. Voland (Glessen) und T. Walter (Konstanz) für hilfreiche Kommentare und Hinweise zu einer früheren Fassung dieses Artikels danken. 2
Vgl. NiTECKietal. 1992.
3
Die wenigen Kontaktpunkte sind schnell aufgezählt. Bei den Mediävisten haben sich meines Wissens nur Bernard S. Bacharach und David Herlihy für das Erklärungspotential der Evolutionsbiologie interessiert. Vgl. unten bei Anm. 38 u. 75. Für die Althistoriker ist besonders Walter Burkert zu erwähnen: vgl. BURKERT 1996, DERS. 1998. In den gängigen Publikationsorganen der Historiker hat diese Forschungsrichtung bislang kaum Würdigung gefunden. Eine ähnlich gelagerte Situation konstatiert auch Pierre L. van den Berghe in seinem kurzem Essay: „ W h y most Sociologists don't (and w o n ' t ) think evolutionary" aus dem Jahre 1990 für die Soziologie: VAN DEN BERGHE 1990. Allerdings hat ein kanadischer Soziologe die Soziobiologie schon 1981 in den Annales vorgestellt, nicht ohne ihren Hochmut eines omnipotenten Erklärungsanspruchs zu tadeln: vgl. DAVIS 1981.
26
Jörg
Wettlaufer
Worin liegt dieses Desinteresse begründet? Ist es etwa eine Reaktion auf die von einigen Exponenten der Soziobiologie behauptete Omnipotenz dieses Erklärungsansatzes, die Vereinnahmung der Sozialwissenschaften in eine „Einheit des Wissens" 4 , dessen Gerüst die Darwinsche Evolutionstheorie bereitstellt? Oder handelt es sich um Vorbehalte gegen eine Theorie, die in ihrer Popularisierung gerne zur Rechtfertigung konservativer bis rechtsradikaler Positionen mißbraucht wird? Liegt es vielleicht an dem speziellen Charakter dieser Forschungsrichtung als einer Mischung aus Ökonomie, Spieltheorie und Biologie, die eine ernsthafte Beschäftigung mit den Paradigmen dieses Ansatzes gerade fur ,Geisteswissenschaftler' unattraktiv macht? Oder ist es gar das Menschenbild, die „naturalistische Perspektive der conditio humana" (Voland) der Evolutionsbiologie, das auf Ablehnung stößt, weil es wertfrei und ohne jede Moral zu sein behauptet (was seine Kritiker wiederum nicht glauben wollen)? Sind es also historische und/oder psychologische Gründe, die zur Vorsicht, ja Ablehnung führen? Alle diese Fragen sind zugleich ernstzunehmende Erklärungsansätze für eine Zurückhaltung, die in Hinblick auf andere Theorieangebote aus Soziologie und Philosophie nicht zu beobachten ist. Als Beispiel seien hier diverse Spielarten des Konstruktivismus erwähnt, der viele jüngere Historiker anzuregen vermag und eine Reihe von Studien in den letzten Jahren inspiriert hat. Ebenso wäre die aus der Soziologie stammende Systemtheorie Niklas Luhmanns zu nennen, der trotz der komplexen, proprietären Terminologie eine nicht geringe Zahl von Historikern zuneigen. Beide Theorien greifen an der Basis an, bieten ein Erklärungsangebot, daß sich auf eine Vielzahl von für Historiker relevante Bereiche erstreckt und sind somit durchaus mit dem umfassenden Erklärungsangebot der Evolutionsbiologie vergleichbar. Was also hindert die Historiker bislang daran, das Angebot einer umfassenden, biologisch fundierten Theorie aufzugreifen, die in anderen Bereichen, z.B. der Verhaltensforschung der Tiere, schon seit geraumer Zeit große Erfolge zu erzielen vermag, und sich zu eigen zu machen? Eine Antwort auf diese komplexe Frage nach dem bisherigen, zumindest teilweise zu konstatierenden ,Mißerfolg' der Evolutionsbiologie im ,Marketingbereich' Sozialwissenschaften birgt möglicherweise auch eine Perspektive fur eine zukünftige Verbesserung ihrer ,Marktposition', um nur einen der mutmaßlichen terminologischen Gründe für die bisherige Erfolglosigkeit spielerisch vorzufuhren. Im folgenden wird es darum gehen, erste konkrete Forschungsergebnisse im Kontext ihrer wissenschaftshistorischen Genese vorzustellen und den ,Mehrwert' eines evolutionsbiologischen Hintergrundes bei der Erklärung einiger, eng umrissener historischer Phänomene, genauer zu bestimmen. Diese Darstellung führt über zum zweiten Komplex: der Suche nach Gründen für die bisherige Skepsis der Geschichtswissenschaft, ein naturwissenschaftliches Paradigma in ihre Theoriensammlung aufzunehmen und anhand von beispielhafter Anwendung
Anders sieht es bei angrenzenden Fächern aus, die sich teilweise stärker dem evolutionären Paradigma zu öffnen beginnen. Siehe für die Ur- und Frühgeschichte/Archäologie: TELTSER 1995, M A S C H N E R 1 9 9 6 , STEELE & S H E N N A N 4
1996.
So der gleichnamige deutschsprachige Titel eines Buches des .Begründers' dieser Forschungsrichtung Edward O. Wilson: WILSON 1998.
Von der Gruppe zum
Individuum
27
zu evaluieren. Auf dieser Grundlage werden schließlich die Perspektiven für eine e v o lutionäre Geschichtswissenschaft', innerhalb und außerhalb der ,Zunft', zu erkunden sein.
I. Beginnen wir mit einer kurzen Skizze des evolutionären Paradigmas in den Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte. Am Anfang der evolutionären Erforschung menschlichen Verhaltens steht sicherlich ein einfacher Analogieschluß. Wenn es uns die Darwinsche Evolutionstheorie ermöglicht, Aussagen über das artspezifische Verhalten und die Anpassung von Tieren an ihre Umwelt zu machen, dann müßten diese Aussagen auch über den Menschen möglich sein, der sich bekanntermaßen nahtlos (und hier werden schon die ersten Proteste aufkeimen) in die Systematik der Primaten einordnen läßt. Schon Charles Darwin kam dieser Gedanke am Ende seiner Arbeit „Über die Entstehung der Arten durch die natürliche Zuchtwahl..." als er schrieb: „In einer fernen Zukunft sehe ich die Felder für noch weit wichtigere Untersuchungen sich öffnen. [...] Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte fallen." 5 Dieser vielzitierte Satz Darwins war sicherlich nicht auf den Abschnitt menschlicher Geschichte bezogen, den Historiker im allgemeinen zu ihrem Arbeitsbereich zählen, aber er sparte ihn, wie Darwins spätere Veröffentlichungen zeigen, auch nicht aus. Die Darwinsche Evolutionstheorie gibt eben nicht nur Auskunft über den Ursprung und die Stammesgeschichte des Menschen, sondern ermöglicht darüber hinaus auch einen Blick auf den Menschen selbst und seine Geschichte, insofern als der Mensch wie alle anderen Lebewesen dem Evolutionsprozeß ausgesetzt und durch die Interaktion mit seiner Umwelt geprägt (adaptiert) worden ist. Es ist eine einfache Theorie, die einen grundlegenden Sachverhalt beschreibt. Sie geht davon aus, daß alle Lebewesen auf der Erde miteinander verwandt sind in dem Sinne, daß sie durch Fortpflanzung ihren Bauplan an eine nächste Generation weitergegeben haben. 6 Diese Lebewesen stehen nun in Interaktion mit der Umwelt und sind g e zwungen', sich dieser anzupassen. Dies führt zu einer Selektion von passenden Merkmalen der Lebewesen und zu einem Verschwinden von nicht passenden Merkmalen, da nur solche Informationen, die an die nächste Generation weitergeben wurden, fortbestehen können. Variation in diesen Informationspool bringt die Mutation, die nach rein zufälligem Prinzip zur Änderung der Informationen führt und sogleich der eben beschriebenen Selektion ausgesetzt ist. Es ist dies das Prinzip der natürlichen Selektion, das
5
DARWIN 2 0 0 0 , 5 6 4 . V g l . VOLAND 1 9 9 6 ,
6
Ein schönes Beispiel für diese Verwandtschaft alles Lebendigen lieferten vor kurzem OMRAN et al. 2002 mit einer Untersuchung über den Ursprung des Kartagener-Syndroms. Die defekten Zilien, die das Syndrom verursachen, funktionieren bei Menschen, Algen und allen anderen Lebewesen nach dem gleichen Bauplan und werden von demselben Gen kodiert.
105.
28
Jörg
Wettlaufer
Darwin in seinem Buch über die Entstehung der Arten erstmals 1859 beschrieb. Darwins Theorie von Mutation und Selektion, die schließlich zu Adaptation an die Umwelt fuhren, ist bis heute Grundlage der Erforschung der Phylogenese des Lebens auf der Erde. Um diesen Kern haben sich seit der ersten Veröffentlichung der Theorie eine Reihe von Erweiterungen gruppiert, die das Paradigma der Evolution weiter ausarbeiten, konkretisieren und an die aktuellen Forschungsergebnisse der Molekulargenetik anpassen. Es ist hier nicht der Ort, diese wissenschaftshistorischen Entwicklungen detailliert nachzuzeichnen 7 , aber zumindest einen Entwicklungsstrang der Evolutionstheorie möchte ich etwas genauer erläutern, ohne den die Erforschung menschlichen Sozialverhaltens in Gegenwart und Vergangenheit sicher anders verlaufen wäre: den Paradigmenwechsel von der ,Gruppenselektion' zum egoistischen Gen'. 8 Es geht dabei um die Frage, an welcher Einheit der Mechanismus der Selektion ansetzt. Was sind die eigentlichen Träger der oben neutral beschriebenen ,Informationen', die von Lebewesen zu Lebewesen weitergegeben werden? Handelt es sich um eine Gruppe von Lebewesen oder ein Individuum bzw. genauer ein Gen? 9 Bis in die sechziger Jahre hinein dominierte eine Sichtweise, die man als eine Art ,primitive Gruppenselektionstheorie' bezeichnen könnte. Man nahm damals an, daß Selektionsvorgänge auch Anpassungen auf höheren Organisationsebenen des Lebendigen, d.h. eben auch auf der Ebene von Gruppen, hervorrufen können. Erklärungen von Anpassungen auf dieser Ebene wurden sogar bevorzugt gegenüber solchen, die von niederen hierarchischen Ebenen, also den Individuen, ausgingen. 10 Ein Meilenstein in diesem Wechsel des Paradigmas der Selektionseinheit von der Gruppe zum Individuum war George Williams Buch über „Adaptation and Natural Selection". 11 Sein Hauptargument, Anpassungen auf Gruppenebene bedürften auch Selektionsmechanismen, die auf der Ebene von Gruppen wirksam sind 12 , fand bald eine große Anhängerschaft und bewirkte den schon beschriebenen Paradigmenwechsel in den Verhaltenswissenschaften. Das Interesse begann sich auf das Verhalten von Individuen zu konzentrieren, und mit Hilfe der Spieltheorie wurden Möglichkeiten erkundet, wie Verhalten auf Gruppenebene aus den Interessen einzelner abzuleiten sei.
7
Vgl. BOWLER 1984 u. ENGELS 1998, 293 ((1)) mit einer guten Übersicht zu den verschiedenen aktuellen Theorieansätzen und ihren Vertretern.
8
Zu diesem Begriff vgl. DAWKINS 1978.
9
Definition eines ,Gens': Abschnitt der DNA-Doppelhelix, der ein spezifisches Polypeptid oder eine spezifische tRNA oder rRNA codiert. Siehe KNUSSMANN 1996, 44.
10
V g l . W I L S O N & SOBER 1 9 9 4 , 5 8 9 .
11
WILLIAMS 1 9 6 6 .
12
Anpassungen auf gleich welcher Ebene der biologischen Hierarchie des Lebendigen bedürfen nach Williams auch Selektionsmechanismen, die auf der entsprechenden Ebene ansetzen. Nun ist dies fur Individuen und Gene ein wesentlich besser zu beschreibender Mechanismus als etwa die Ebene größerer Gruppen von Individuen, da sich hier die Frage stellt, an welcher Stelle Selektion ansetzen sollte.
Von der Gruppe zum Individuum
29
Seit geraumer Zeit erheben allerdings einige Forscher Protest gegen die Verbannung der Gruppenselektion aus den Verhaltenswissenschaften. Über die Verwandtenselektion 1 3 nämlich kommt ein Moment von ,Gruppe' nahezu automatisch wieder in die Betrachtungsperspektive. Aber dem modernen gruppenselektionistischen Ansatz geht es um etwas anderes, nämlich die Möglichkeit, daß Altruismus, also die Bereitschaft Opfer z.B. für die eigene Gruppe zu erbringen, als Verhaltensmerkmal auch genetisch bedingt sein kann und sich eine solche Veranlagung im Laufe der Evolution durch Selektion herausgebildet haben könnte. Die Gruppenselektionstheorie baut somit auf der Annahme auf, daß in strukturierten Populationen Selektion zu einer Stabilisation von Adaptionen auf der Gruppenebene führen kann, und zwar von Anpassungen, die für die Gruppe einen Vorteil ergeben, obwohl sie möglicherweise Nachteile für einzelne Mitglieder der Gruppe im Wettbewerb mit anderen Gruppenmitgliedern nach sich ziehen können. So zieht die Gruppenselektion neuerer Definition in den letzten Jahren vereinzelt wieder in das Repertoire der biologischen Verhaltensforschung ein, ohne daß jedoch heute schon auszumachen wäre, wie eine solche genetische Disposition für Altruismus in der Gruppe (welcher Größe?) nachgewiesen werden könnte. Bis auf weiteres bleiben die Ergebnisse der Forschungen, die sich auf Williams, Hamilton und Trivers 14 gründen und die Verhalten vor allem aus der Individualselektion heraus erklären, aktuell. Zudem sind ,Gruppenselektion' und ,Individualselektion' einander nicht ausschließende, sondern ergänzende Forschungsansätze.' 5 Eine weitere Entwicklung, die seit ca. zehn Jahren die evolutionäre Forschung in zwei methodische Lager spaltet, muß in diesem Zusammenhang kurz erwähnt werden. Es handelt sich dabei um die Frage, ob unterschiedliche ,historische' Umweltbedingungen bei der aktuellen Bestimmung von Verhaltensanpassungen relevant sind. Die Messung der ,Angepaßtheit' von Verhalten wird üblicherweise über die Fitneßkonsequenzen vorgenommen, die dieses Verhalten nach sich zieht. 16 Es fragt sich nun aber, an welcher Umwelt der Grad der Verhaltensadaptationen gemessen werden soll: an der rezenten Umwelt (die in evolutionärem Maßstab auch die gesamte historische Zeit mit einschließt), in der auch direkt Messungen von unterschiedlichen Reproduktionsraten möglich sind, oder nur an der Umwelt, in der die Verhaltensanpassung im evolutionären Zeitraum entstanden ist (üblicherweise wird hier das Pleistozän betrachtet)? Je nach
13
V g l . HAMILTON 1964.
14
V g l . TRIVERS 1971 berühmten Artikel über reziproken A l t r u i s m u s .
15
In d i e s e m K o n t e x t ist e s g e r a d e z u verführerisch, den Titel d i e s e s S a m m e l b a n d e s für d a s im Untertitel
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e v o l u t i o n i e r e n ' . A u s „ I n d i v i d u u m und G r u p p e " wird s o „ V o n der Gruppe z u m I n d i v i d u u m " und m ö g l i c h e r w e i s e in der Zukunft: „ V o n der G r u p p e z u m I n d i v i d u u m und zurück ..."". V g l . auch EuS, 2 8 9 ( ( 3 ) ) u. REYER 1999. 16
A l s Fitneß wird in der e v o l u t i o n ä r e n V e r h a l t e n s f o r s c h u n g das M a ß für die u n t e r s c h i e d l i c h e Fähigkeit v o n I n d i v i d u e n definiert, durch F o r t p f l a n z u n g ihre p e r s ö n l i c h e n g e n e t i s c h e n I n f o r m a t i o n e n an d i e n ä c h s t e G e n e r a t i o n w e i t e r z u g e b e n . S i e h e auch VOLAND 2 0 0 0 a , 8 - 9 .
30
Jörg Wettlaufer
Antwort auf diese Frage spricht man von evolutionären Anthropologen bzw. Psychologen. 17 Es kann in diesem Rahmen nicht eine umfassende Einfuhrung in Methode und Forschungsprogramm der evolutionären Anthropologie, die von der zuerst genannten Annahme ausgeht, oder der evolutionären Psychologie, die Anpassungen im Hinblick auf das enviroment of evolutionary adaptedness (EEA) untersucht, unternommen werden. 18 Der Leser sei hier auf die einschlägigen, vielfach inzwischen auch deutschsprachig vorliegenden Handbücher und Darstellungen verwiesen. 19 Vielmehr sollen erste Ergebnisse von verschiedenen Forschungsrichtungen vorgestellt werden, die sich um eine Interpretation historischen Verhaltens in einer, wie auch immer genauer bestimmten, evolutionären Perspektive bemühen. Diese Ansätze werden auf ihre Tragfähigkeit in Hinblick auf eine evolutionäre Geschichtswissenschaft zu prüfen sein. Themen der evolutionären Geschichtswissenschaften' im engeren Sinne sind bislang die Verwandtenselektion (Nepotismus etc.), vergleichende Untersuchungen zur Geschichte der Sexualität und Fortpflanzung in Hinblick auf den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen politischen Gesellschaftsformen und individuellen Fortpflanzungschancen, der Einfluß ökologischer Faktoren auf die Fortpflanzung historischer Populationen, elterliches Investment in Kinder in historischen Zeiträumen, die biologischen Grundlagen von Kult, Religion und literarischer Topoi sowie der Einfluß psychologischer ,Persönlichkeitsprägungen' von entscheidungstragenden Individuen auf historische Ereignisse und Prozesse und deren Erforschung als geschichtsmächtige Faktoren gewesen. Ich beginne die Forschungsübersicht in chronologischer Reihenfolge mit der sog. Darwinian history, die sich Ende der siebziger Jahre in den USA als eigene Forschungsrichtung innerhalb der evolutionären, ökologischen Anthropologie darwinscher Prägung zu etablieren begann und die sich thematisch vor allem mit Fragen des Zusammenhangs zwischen Fortpflanzungssystem und politischem System sowie der Un-
17
18
V g l . z u r a k t u e l l e n D i s k u s s i o n SMITH e t a l . 2 0 0 0 u. D A L Y & W I L S O N 2 0 0 0 .
S i e h e VOLAND 2 0 0 0 a , 1 7 - 2 1 . B e i d e Ansätze sind richtig - man sollte sie also nicht antagonistisch betrachten, sondern vielmehr komplementär. D i e s enthebt uns aber nicht der Frage, w e l c h e Anpassung sich wie und wann ausgebildet hat. Man wird immer mehr damit rechnen müssen, daß Anpassungsleistungen ihre Herkunft nicht einfach preisgeben werden und vieles, w a s den Evolutionspsychologen
als E E A - A d a p t i o n
erscheint,
in Wirklichkeit einem kulturell
herausgebildeten
und
tradierten A n p a s s u n g s m e c h a n i s m u s unterliegt, der sich seinerseits über eine lange Zeitspanne, deren Dauer wir heute noch nicht genau bestimmen können, als adaptiv erwiesen hat, z u g l e i c h aber auch variabler ist als ein R e f l e x oder ein p s y c h o l o g i s c h e r Mechanismus. Verläßliche Kriterien zur Distinktion beider Fälle gibt es bislang nicht und es wird daher bis auf weiteres eine Frage der Plausibilität bleiben, w e l c h e Adaption welcher A n p a s s u n g s l e i s t u n g ihr Bestehen verdankt. 19
B e s o n d e r s e m p f e h l e n möchte ich Eckart V o l a n d s Grundriß der S o z i o b i o l o g i e , der i n z w i s c h e n in einer zweiten, aktualisierten A u f l a g e vorliegt, und zwar insbesondere das erste Kapitel: VOLAND 2 0 0 0 a . Eine gute Einführung mit Fokus auf die menschliche S t a m m e s g e s c h i c h t e bietet FOLEY 2 0 0 0 . Für die evolutionäre P s y c h o l o g i e siehe BARKOW/COSMIDES/TOOBY 1992.
Von der Gruppe zum
Individuum
31
tersuchung des Anpassungswertes von Macht, Despotismus und der Regulierung von Reproduktion beschäftigt hat. 20 Mildred Dickemanns Arbeiten aus den späten siebziger Jahren über geschlechtsspezifischen Infantizid und Heiratssysteme werden als Geburtsstunde der Darwinian history betrachtet. 21 Den theoretischen Unterbau für diese Studien lieferte jedoch 1979 Richard D. Alexander in seinem Buch über „Darwinism and human affairs", und zwar insbesondere im zweiten Kapitel über natürliche Selektion und Kultur. 22 Die leitende Frage, die sich aus der damals noch jungen Evolutionsbiologie ergab, lautete: Bis zu welchem Grad kann Kultur verstanden und erklärt werden aus dem ,Bestreben' von Individuen, ihre genetische Reproduktion zu maximieren und so ihre genetische Information an die kommende Generation weiterzugeben? Angeregt durch diese Fragestellungen und die Antworten, die eine evolutionsbiologisch orientierte Kulturwissenschaft darauf zu geben vermag, wurde seit Anfang der achtziger Jahre an empirischen Studien zur Überprüfung der aufgestellten Hypothesen mit historischem und ethnologischem Datenmaterial gearbeitet. Besonders einflußreich sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Laura Betzig über Despotismus and differentielle Reproduktion. Ihre vielbeachtete, wenngleich auch nicht von Historikern rezipierte gleichnamige Dissertation 23 , die 1986 veröffentlicht wurde, untersucht mit Hilfe von Kulturvergleich das Verhältnis von politischem System (Gesellschaftsordnung) und Paarungssystem beim Menschen. Betzig geht dabei von der Annahme aus, das beide Systeme voneinander beeinflußt sind und diese Relation am besten durch die Voraussagen der Darwinschen Evolutionstheorie beschrieben werden kann. Methodisch handelt es sich um kulturell vergleichende Studien, die rezente wie historische Populationen bzw. Kulturen gleichermaßen in die Untersuchung mit einbeziehen und damit eine methodische Nähe zu einer historischen Anthropologie' im eigentlichen Sinne des Wortes besitzen. 24 Im Ergebnis konnte Betzig feststellen, daß despotische und stark hierarchische politische Systeme in der Regel polygame Kulturen nach sich ziehen, und zwar eine Polygamie 20
Leider kann hier nicht weiter auf die interessanten frühen Arbeiten eingegangen werden, die durch Humanethologie und physische Anthropologie inspiriert worden sind. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang aber der Kieler Altphilologe Detlev Fehling mit seinem, wie ich meine, zu wenig beachteten Versuch, die Ethologie in die klassische Altertumskunde einzubringen. Vgl.
21
DICKEMANN 1 9 7 9 , DERS. 1 9 8 1 . V g l . BETZIG 1 9 9 2 d .
FEHLING 1 9 7 4 .
22
V g l . ALEXANDER 1 9 7 9 .
23
V g l . d i e R e z e n s i o n e n v o n MARGOLIS 1 9 8 8 ,
1 8 9 - 1 9 1 ; CATON 1 9 8 8 , B d . 2 4 ,
159-61;
WILLHOITE
1 9 8 8 , 4 8 4 — 4 8 6 ; KUMAR 1 9 8 8 , 1 4 2 - 1 4 3 ; F i x 1 9 8 7 , 1 3 4 - 1 3 5 ; HARRINGTON 1 9 8 7 , 3 7 1 ; MAZUR 1 9 8 7 , 7 1 7 - 7 1 8 ; ABERNETHY 1 9 8 7 , B d .
1 7 5 , 2 5 2 - 2 5 3 ; ARNHART 1 9 8 7 , 9 1 - 9 3 ; VINING 1 9 8 9 ,
375-380;
WALTER 1 9 8 8 , 2 2 0 - 2 2 3 ; ARENS 1 9 8 9 , 4 0 1 ^ 0 7 ; MCGREGOR 1 9 8 8 , 4 2 7 ^ 3 2 . 24
Für die Entwicklung von der Sozialgeschichte zur historischen Anthropologie, die sich zuletzt nun doch selber als Mikrogeschichte definiert hat, vgl. MEDICK 2001. Siehe zur Bandbreite der Forschungsansätze, die sich unter dem Begriff,Anthropologie' in den Geisteswissenschaften zusamm e n f a s s e n l a s s e n , FUNK 2 0 0 0 u. MITTERAUER 2 0 0 0 .
32
Jörg Wettlaufer
der Mächtigen. Demokratische Systeme dagegen erlauben auch monogame Paarungssysteme. Betzig erläutert dieses Verhältnis an einem reichhaltigen, teils anekdotischen Material, das sie aus Beschreibungen despotischer Herrscher durch klassische Schriftsteller oder aber auch aus modernen historiographischen Werken sowie aus der ethnographischen Literatur zieht. 25 Infolge eines Durchgangs durch die europäische Geschichte unter dieser Perspektive entstand eine zentrale, bislang ungelöste Frage der Darwinian history, nämlich warum die Korrelation zwischen Macht und Polygynie bzw. genetischer Fitneß in modernen Industriegesellschaften nicht mehr hält. Betzig selber setzt den Wendepunkt erst bei der Industrialisierung im 18. Jahrhundert an, doch ist die beschriebene Korrelation nur für sog. traditionelle' Gesellschaften zu beobachten. Kevin B. MacDonald 2 6 , ein amerikanischer Persönlichkeitspsychologe, hat diese entscheidende Frage nach dem Grund für das Aufbrechen des Fitneßvorteils der mächtigen Männer in modernen Gesellschaften aufgenommen und dahingehend zu beantworten versucht, daß die sog. sozial auferlegte Monogamie {socially imposed monogamy) seit dem 12. Jahrhundert in Europa die Oberhand gewonnen habe. 27 Seine Antwort, die auch stärker in Übereinstimmung mit den ,empirischen Befunden', also der herrschenden historischen Lehrmeinung steht, geht von einer multivariaten, nicht deterministischen Theorie aus, die einen direkten Zusammenhang zwischen Paarungssystem und Gesellschaftssystem verneint und vielmehr institutionalisierte Kontrollen der Reproduktion, wie sie etwa von der Kirche ausgeübt wurden, einen prägenden Einfluß auf das Moti25
Vgl. BETZIG 1982, 1986, 1991, 1992a, 1992b, 1992c, 1995a, 1995b. Bestätigung und ergänzende Modifikationen hat Betzigs Arbeit durch die Untersuchung des Althistorikers W. G. Scheidel über „Ancient Empires and Sexual Exploitation" erhalten. Vgl. SCHEIDEL 2000 sowie L o w 1992. Inzwischen werden ihre Thesen teilweise auch von Ergebnissen der molekulargenetischen Forschung u n t e r s t ü t z t . V g l . ZERJAL e t al. 2 0 0 1 u . FOSTER e t al. 1 9 9 8 .
26
27
Κ. B. MacDonald ist aufgrund seiner Arbeiten zu Gruppenstrategien des Judentums ein unter Evolutionspsychologen äußerst umstrittener Forscher, dessen Veröffentlichungen zu diesem Themenbereich sowie sein Engagement im Gerichtsverfahren gegen David Irving 1999 zu starkem Widerspruch und ,Ausgrenzung' aus dem Kreis der evolutionär tätigen Forscher geführt haben. Seine hauptsächlichen Veröffentlichungen zu der Thematik sind seit 1994 in drei Bänden erschienen: „A People That Shall Dwell Alone: Judaism as a Group Evolutionary Strategy" (1994); „Separation and Its Discontents: Toward an Evolutionary Theory of Anti-Semitism" (1998); „The Culture of Critique: An Evolutionary Analysis of Jewish Involvement in Twentieth-Century Intellectual and Political M o v e m e n t s " (1998). MacDonalds wissenschaftlich durchaus beachtenswerte Überlegungen halte ich für gefährlich, da (Anti)semitismus eben keine akademische Disziplin, sondern leider immer noch eine reale Bedrohung für Mitmenschen jüdischen Glaubens darstellt. Hier tragen Wissenschaftler meiner festen Überzeugung nach eben auch Verantwortung fur den Gegenstand ihrer Forschung. Die Freiheit der Forschung rechtfertig nicht alle Themen und muß in den gesellschaftlichen Kontext gestellt werden, in dem sie stattfindet. Ungeachtet dessen halte ich MacDonalds Überlegungen zur evolutionären Geschichte des westlichen Fortpflanzungssystems in vielen Bereichen f ü r zutreffend. Vgl. MACDONALD 1990, 1995a, 1995b. Vgl. auch BORGERHOFF-MULDER 1995, BRUNDAGE 1995, MUELLER 1 9 9 5 , SALTER 1 9 9 5 , STRATE 1 9 9 5 , WILSON 1 9 9 5 , VOLAND 1 9 9 6 , 1 0 0 - 1 0 2 .
33
Von der Gruppe zum Individuum
vationssystem der Individuen zuspricht. Doch auch nach intensiven Debatten bleibt das Problem für die behavioral ecological anthropology bis heute ungelöst und wird kontrovers diskutiert.28 In stärkerer Weise auf serielles demographisches Material greifen die Studien zurück, die Eckart Voland zusammen mit einigen Schülern und Kollegen über das Fortpflanzungsverhalten und die ökologische Adaptation der ostfriesischen Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert auf der sogenannten Krummhörn unternommen hat.29 In diesem von der DFG geförderten Projekt wurden eine Reihe von Vorhersagen getestet, von denen hier nur die drei wichtigsten genannt werden können: die Fitneßoptimierung bei Fortpflanzungsstrategien von Männern, das Paradigma der weiblichen Partnerwahl {female choice) und das elterliche Investment nach den Vorhersagen der sog. TriversWillard Hypothese. 30 Voland konnte mit Hilfe der demographischen Daten die langfristigen Auswirkungen eines hohen sozioökonomischen Status auf die reproduktive Fitneß zeigen. Bei manchen Familien war die Fitneß nach 100 Jahren in der untersuchten Bevölkerung fast doppelt so hoch wie in durchschnittlichen Familien der gleichen Population.3' Auch im Bereich der weiblichen Partnerwahl konnten Voland und Engel durch ihre Untersuchung einen Trend feststellen, der dem Prinzip der female choice entspricht.32 Weitere Untersuchungen an dem ostfriesischen Datenmaterial konnten unterschiedliche elterliche Fürsorge in Bezug auf das Geschlecht der Nachkommen aufgrund der ökologischen Bedingungen aufzeigen. 33
28
Vgl. BURGERHOFF-MULDER 1998 sowie den theoretischen Beitrag des Wirtschaftswissenschaftlers Theodore C. Bergstrom zu „Primogeniture, Monogamy and Reproductive Success in a Stratified Society", der die Ergebnisse Betzigs unterstützt: BERGSTROM 1994. - Einen viel versprechenden Erklärungsansatz, der Erkenntnisse der Verhaltensökologie, der evolutionären Psychologie und der Sozialwissenschaften berücksichtigt, stellt I. Schröder in ihrer im Jahre 2000 erschienenen Habilitationsschrift „Wege zum Menschen" vor: SCHRÖDER 2000, 139-155.
29
Als weiteres Beispiel für Forschungen an historisch-demographischem Material möchte ich die Arbeiten von Bobby S. Low und Alice L. Clarke erwähnen, die das reproduktive Verhalten einer schwedischen Population des 19. Jahrhunderts erforscht haben und dabei besonders die verhaltensökologischen Aspekte betonten: Low 1990, DERS. 1991, CLARKE & Low 1992, CLARKE 1993.
30
Die Trivers-Willard-Hypothese nimmt an, daß Eltern dazu neigen, in dasjenige Geschlecht ihrer Nachkommen zu investieren, das in einer gegebenen ökologischen Situation wahrscheinlich die meisten Nachfahren hervorbringt.
31
V g l . V O L A N D 1 9 9 0 , DERS. 1 9 9 5 , K I N D W O R T H & V O L A N D 1 9 9 5 . V g l . z u m V e r h ä l t n i s v o n S t a t u s u n d
32
Vgl. VOLAND & ENGEL 1990. Für das dort beschriebene Heiratsverhalten sind aber auch alternative, proximate Erklärungen denkbar. So ist z.B. vorstellbar, daß jüngere Frauen deshalb bevorzugt wohlhabendere Männer heiraten, weil diese die notwendige Ausstattung für eine Eheschließung zur Verfügung stellen können und daher keine Verzögerung der Heirat durch den Aufbau einer Lebensgrundlage für das Paar eintritt. Diese ökonomische ,Heiratsbeschränkung· ist in der Neuzeit häufiger der Grund für Verzögerungen bei der Eheschließung gewesen.
33
V g l . VOLAND/SIEGELKOW/ENGEL
Reproduktion auch CAREY 1993.
1991.
34
Jörg
Wettlaufer
Der Frage des elterlichen Investments in historischer Perspektive, also der ElternKind Beziehung, hat sich insbesondere James L. Boone, ein amerikanischer Anthropologe, angenommen. Er legte seit den frühen achtziger Jahren einige Studien zum Entscheidungsverhalten Adeliger in bestimmten ökologischen Bedingungen im späten Mittelalter vor und hat dabei die Bedeutung individueller Verhaltensstrategien für komplexe soziale Phänomene betont. Die erste Studie, die hier vorzustellen ist, befaßt sich mit der Struktur adeliger Familien und dem Phänomen expansionistischer Kriegsführung. 34 Aufgrund knapper Ressourcen an Land und Herrschaftsfunktionen für alle Nachkommen eines Adeligen vermutet Boone eine Tendenz der meist jüngeren, nicht erbberechtigten Söhne, durch kriegerische Expansion neue Ressourcen zur Gründung einer eigenen Familie zu erlangen. Dabei ist seiner Meinung nach schon die Regel der Primogenitur eine Anpassung an die Situation einer ökologischen Knappheit der Ressourcen Land oder Herrschaft. Eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang ein Zitat von Philippe de Meziere in der Einleitung zu seinen Statuen zum ordre de la passion: „Die zweit- und drittgeborenen Söhne, und andere, die durch das Gewohnheitsrecht nur einen geringen oder gar keinen Anteil am Erbe ihrer Väter haben, sind durch Armut oft gezwungen, in ungerechte und tyrannische Kriege zu ziehen, um ihren Stand zu wahren, da sie nichts anderes als den Waffendienst kennen; und dabei begehen sie so viel übles, daß es erschreckend wäre, von all den Plünderungen und Verbrechen zu berichten, mit denen sie die armen Leute bedrücken." 3 5 Dieser Ausschluß vom Erbe konnte, bei entsprechender Organisation der jungen landlosen Adeligen, zu übergreifenden sozialen Phänomenen wie Kriegszügen (z.B. den Kreuzzügen) führen. Ziel der Studie war es nicht, ein alt bekanntes Phänomen neu zu interpretieren, sondern es in den umfassenderen Rahmen einer Theorie menschlicher Verhaltensstrategien auf der Individualebene zu stellen. Mit der Frage des elterlichen Investments, der sozialen Unterordnung und der Bevölkerungsentwicklung des portugiesischen Adels im 15. und 16. Jahrhundert befaßt sich eine andere Studie. 6 Boone untersuchte darin unterschiedliche Muster der Verteilung elterlicher Ressourcen an ihre Kinder in dieser Personengruppe. Ich möchte exemplarisch nur die Frage der Verteilung von Ressourcen an Söhne und Töchter darstellen, bei der sich nach Boone eine deutliche Veränderung innerhalb des Untersuchungszeitraums (1380-1580) feststellen läßt. Während zu Anfang dieser Periode vor allem Söhne mit Titeln und Landbesitz ausgestattet werden, nimmt zum Ende des Untersuchungszeitraums dieses Muster anscheinend ab, und der Familienbesitz wird in stärkerem Maße auf die Töchter übertragen, die durch eine hohe Mitgift versuchen konnten, in höhere gesellschaftliche Schichten einzuheiraten. Boone beobachtet, daß in den höchsten Kreisen mit dem größten Besitz über den gesamten Zeitraum das Erbe auf den männlichen Nachwuchs konzentriert wird, während im niederen Adel die Wahrscheinlichkeit der
34
V g l . BOONE 1 9 8 3 .
35
Übersetzt nach KEEN 1976, 43. Vgl. BOONE 1983, 86.
36
Vgl. BOONE 1988. Zur evolutionären Analyse von elterlichem Investment siehe auch VOLAND 1988 u . VRNOVSK!S 1 9 9 3 .
Von der Gruppe zum Individuum
35
Investition d e s F a m i l i e n v e r m ö g e n s in die M i t g i f t d e r T ö c h t e r h ö h e r zu sein scheint. A u ß e r d e m b e k o m m e n d i e s e T ö c h t e r mit h ö h e r e r M i t g i f t z u g l e i c h a u c h m e h r K i n d e r als die v e r g l e i c h b a r e G r u p p e d e r T ö c h t e r d e s h o h e n , v e r m ö g e n d e n A d e l s . D i e s e B e o b a c h t u n g e n s t i m m e n mit der sog. T r i v e r s - W i l l a r d - H y p o t h e s e ü b e r e i n 3 7 , die besagt, d a ß Eltern d a z u n e i g e n , in d a s j e n i g e G e s c h l e c h t ihrer N a c h k o m m e n zu investieren, d a s in einer g e g e b e n e n ö k o l o g i s c h e n Situation w a h r s c h e i n l i c h die m e i s t e n N a c h f a h r e n h e r v o r b r i n g t . D i e Eltern e r h ö h e n mit d i e s e m u n b e w u ß t e n V e r h a l t e n , so die A n n a h m e , ihre e i g e n e g e n e t i s c h e Fitneß. Die Frage des Einflusses von Verwandtschaft auf Verhaltensentscheidungen haben e i n e g a n z e R e i h e v o n e v o l u t i o n s b i o l o g i s c h inspirierten A r b e i t e n u n t e r s u c h t . J e r o m e Kroll u n d B e r n a r d S. B a c h e r a c h , letzterer ein Historiker, h a b e n z.B. z u r E r k l ä r u n g von dynastischen Entscheidungen auf evolutionsbiologische Erklärungen zurückgegriffen. A n h a n d v o n z w e i B e i s p i e l e n a u s d e m 10. und 11. J a h r h u n d e r t illustrieren sie die Bed e u t u n g v o n v e r w a n d t s c h a f t l i c h e r N ä h e (kin selection) f ü r E n t s c h e i d u n g e n in Z u s a m m e n h a n g mit d e r e i g e n e n F o r t p f l a n z u n g . 3 8 In e i n e ä h n l i c h e R i c h t u n g g e h e n die A r b e i t e n v o n J o h n M c C u l l o u g h u n d Elaine B a r t o n . Sie u n t e r s u c h t e n z.B. d e n E i n f l u ß von V e r w a n d t s c h a f t a u f die S t e r b l i c h k e i t in d e r P l y m o u t h - K o l o n i e 1 6 2 0 - 1 6 3 3 . 3 9 R o b i n D u n b a r , ein e n g l i s c h e r A n t h r o p o l o g e , hat B e r i c h t e ü b e r B l u t r a c h e u n d K o a l i t i o n s b i l d u n g bei d e n W i k i n g e r n in H i n b l i c k a u f den V e r w a n d t h e i t s g r a d v o n I n d i v i d u e n a u s g e w e r t e t . 4 0 In d e n w e i t e r e n K o n t e x t d e s T h e m a s V e r w a n d t s c h a f t g e h ö r e n auch die S t u d i e n v o n B. H a g e r und E. Hill ü b e r die B e s c h r ä n k u n g der e i g e n e n R e p r o d u k t i o n u n d d a r a u s r e s u l t i e r e n d e Strategien bei religiösen F r a u e n und F r a u e n in Klöstern im M i t t e l a l t e r und B r u d e r - S c h w e s t e r - s o w i e E l t e r n - K i n d - H e i r a t e n a u ß e r h a l b k ö n i g l i c h e r F a m i l i e n in Altä g y p t e n u n d im Iran. 4 1 N a c h d i e s e n a u s f ü h r l i c h e n B e m e r k u n g e n zur e v o l u t i o n ä r e n A n t h r o p o l o g i e , die a u c h der q u a n t i t a t i v e n V e r t e i l u n g der v o r l i e g e n d e n S t u d i e n entspricht, m ö c h t e ich k u r z a u f A n s ä t z e a u s der e v o l u t i o n ä r e n P s y c h o l o g i e zu s p r e c h e n k o m m e n , die in V e r b i n d u n g zur G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t stehen. Z u r Z e i t ist mir a l l e r d i n g s nur e i n e g r ö ß e r e S t u d i e bek a n n t , die a u s d e r e v o l u t i o n s p s y c h o l o g i s c h e n P e r s p e k t i v e h i s t o r i s c h e s V e r h a l t e n analysiert u n d interpretiert. E s h a n d e l t sich u m die i n z w i s c h e n z u m Bestseller a v a n c i e r t e A r beit v o n F r a n k S u l l o w a y ü b e r G e b u r t e n r a n g f o l g e als p e r s ö n l i c h k e i t s p r ä g e n d e s und g e s c h i c h t s m ä c h t i g e s M o m e n t mit d e m Titel „ D e r Rebell der Familie. G e s c h w i s t e r r i v a lität, k r e a t i v e s D e n k e n u n d G e s c h i c h t e " . 4 2 S u l l o w a y erklärt u n t e r s c h i e d l i c h e P e r s ö n -
37
I n z w i s c h e n w i r d d i e T r i v e r s - W i l l a r d - H y p o t h e s e in B e z u g a u f m e n s c h l i c h e s V e r h a l t e n w e s e n t l i c h k r i t i s c h e r b e u r t e i l t , a l s d i e s z u r Z e i t d e r F o r s c h u n g e n B o o n e s d e r Fall w a r . V g l . KELLER et al. 2 0 0 1 .
38
39
V g l . KROLL & BACHRACH
1990.
V g l . MCCULLOUGH & BARTON
1 9 9 1 a , DIES. 1 9 9 1 b . V g l . a u c h d i e U n t e r s u c h u n g e n
v o n J. M .
M c C u l l o u g h und Κ. M. H e a t h z u m E i n f l u ß des V e r w a n d t s c h a f t s g r a d e s a u f die Bereitschaft, Verw a n d t e in d e n e n g l i s c h e n R o s e n k r i e g e n z u t ö t e n : MCCULLOUGH & HEATH 2 0 0 1 . 40
V g l . DUNBAR et al. 1 9 9 5 .
41
V g l . H A G E R 1 9 9 2 ; H I L L 1 9 9 9 ; SCHEIDEL 1 9 9 6 .
42
V g l . a u c h BARRY 1 9 9 7 .
Jörg
36
Wettlaufer
lichkeiten von Geschwistern auch aus dem Streit um Ressourcen, insbesondere der elterlichen Zuwendung und Liebe. Dieser Konkurrenzkampf zwischen Geschwistern führe zu Anpassungen, die dem Individuum Vorteile verschaffen, die schließlich auch über die innerfamiliäre Konkurrenz hinaus Bedeutung erlangen können. Beachtenswert ist nun die große Zahl von historischen Fallbeispielen, die Sulloway auf diese Anpassungen hin untersucht hat und die mit seiner Theorie konform gehen. Erstgeborene identifizieren sich in der Regel stärker mit Macht und Autorität. Sie seien daher in ihrer Persönlichkeit bestimmender, sozial dominanter, ehrgeiziger, eifersüchtiger auf ihren Status bedacht und doch gleichzeitig defensiver als ihre jüngeren Geschwister. Die jüngeren Geschwister dagegen neigen, so Sulloway, aufgrund ihrer nachgeordneten Position im Familiensystem besonders dazu, revolutionäre Persönlichkeiten zu entwickeln. 4 3 Sulloway zieht aufgrund seiner Beobachtungen direkte Schlüsse auf historische Prozesse, wie z.B. die Ausbreitung der Reformation oder den Verlauf der Französischen Revolution. 44 Durch seine Interpretation erweitert Sulloway die klassische historische Faktorenanalyse um eine neu Komponente, nämlich die der Geburtenrangfolge als geschichtsmächtiges Moment. Wenn man die bisherigen Forschungsergebnisse evolutionär inspirierter Geschichtswissenschaft nach Themengebieten ordnet (Verwandtschaft, Reproduktion und Fortpflanzungsstrategien, Elterliches Investment usw.), so ergibt sich, daß in allen diesen Themen die Körperlichkeit des Menschen eine entscheidende Rolle spielt. Weniger erfolgreich hat sich die evolutionäre Geschichtswissenschaft bislang im Bereich der Geistes-, Kunst- und Kulturgeschichte im engeren Sinne gezeigt. Hier könnte zwar versucht werden, den jeweiligen Anpassungswert von Kulturleistungen zu bestimmen, aber dieser wird im konkreten Fall eher gering sein. Zu groß ist die Variabilität, zu gering der Selektionsdruck, der auf vielen Gebieten menschlichen Kulturlebens lastet. Trotzdem sind auch diese Bereiche nicht losgelöst von der biologischen Grundlage ihrer Existenz vorstellbar. Eine Beschreibung mit viel Augenmaß für diese Zusammenhänge hat insbesondere Walter Burkert mit seinen Arbeiten über die biologische Grundlage von Religion geleistet. Er beschreibt die Gründe für die universale Verbreitung von Religion mit der Metapher einer natürlichen' imaginären Landschaft, die Einfluß auf das ausübt, was in ihr gebaut und konstruiert wird. 45 Vor einem ähnlichen, notwendigerweise noch unscharfen biologischen Hintergrund, ordne ich auch meine eigenen Forschungen auf dem Gebiet des Dialogs zwischen evolutionärer ökologischer 43
V g l . SULLOWAY 1 9 9 9 , 1 4 f .
44
Vgl. z.B. SULLOWAY 1999, 2 6 4 - 2 7 5 , über die Ausbreitung der Reformation.
45
Vgl. BURKERT 1998, 3 6 - 3 7 . N o c h eindringlicher ist die Metapher von der Hard- und Software, die der Autor ebenfalls verwendet. Er schreibt: „Kultur, ..., ist gleichsam die ,Software', der Menschheit; sich läßt sich beliebig kopieren und leicht transportieren, trotz ihrer Komplexität; diese beruht ihrerseits auf einer langen E n t w i c k l u n g ' und Ausarbeitung, die kaum ein zweites Mal unternommen wird. Die Frage ist, inwiefern die ,Software' willkürlich gewählt und verändert werden kann oder doch an Festlegung der ersten Programme gebunden bleibt, Wirkungen der ersten Herstellung, die der ursprünglichen Konstruktion der ,Hardware' entsprochen hat."
Von der Gruppe zum
Individuum
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Anthropologie und der Geschichtswissenschaft ein, die sich mit der Suche nach dem Ursprungs der in Eurasien seit mehreren tausend Jahren verbreiteten Vorstellung von einem Herrenrecht der ersten Nacht (jus primae noctis) beschäftigt haben. 46 Im Zusammenhang mit einer Untersuchung über den Bedeutungskern des Topos vom tyrannischen Herrenrecht der ersten Nacht habe ich dabei Ergebnisse der evolutionären Anthropologie und der vergleichenden Verhaltensforschung und Primatologie verwendet, die ein Verständnis des Phänomens in einem größeren theoretischen Zusammenhang ermöglichten. Der literarische Topos des Herrenrechts der ersten Nacht erscheint im Kontext der biologischen Grundlagen von Kultur als Metapher für die Beziehung zwischen Status und ,Kopulationserfolg' (mating success). Die Idee des Herrenrechts nimmt ihren Ursprung in dem intraspezifischen Konkurrenzverhalten von Männern, stellt aber im Gegensatz zum absoluten Anspruch eines Mannes auf alle Frauen seines Herrschaftsgebietes eine auf Symbolgebrauch gestützte Einschränkung eines Prinzips dar, welches sich auch in nichtmenschlichen Primatengruppen beobachten läßt. Aufgrund dieser biologischen Grundlage' konnte der Topos vom Herrenrecht der ersten Nacht eine so lange, bis in die Anfänge der indoeuropäischen Schriftlichkeit zurückreichende Tradition entwickeln und hat bis heute scheinbar nichts von seiner Aussagekraft verloren.
II. Ich möchte im folgenden die skeptischen Fragen und Bedenken, die sich für manche Leser aus den oben beschriebenen Methoden und Interpretationen ergeben mögen, unter besonderer Berücksichtigung mehrerer Artikel diskutieren, von denen zwei in der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften veröffentlicht und in diesem „Streitforum der Erwägungskultur" sehr kontrovers kommentiert wurden. Es handelt sich um Aufsätze von Eckart Voland und Bernhard Verbeek aus den Jahrgängen 1996 bzw. 1998 zu den Themen „Konkurrenz in Evolution und Geschichte" 47 sowie „Organismische Evolution und kulturelle Geschichte: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Verflechtungen". 48 Der dritte Beitrag stammt von Bernhard Kleeberg und Tilmann Walter und beschäftigt sich in kritischer Weise mit dem evolutionären Paradigma und trägt den Titel „Der mehrdimensionale Mensch. Zum Verhältnis von Biologie und kultureller Entwicklung". 49
46
Vgl. WETTLAUFER 1999, DERS. 2000. Siehe zur Frage der evolutionsbiologischen Perspektive als Erklärungshintergrund für den Erfolg des literarischen Topos auch die kritischen Rezensionen von Tilmann WALTER (Zeitschrift für Sexualforschung 13 [2000], 172-174) u. Maren LORENZ (Perform 2 [2001], Nr. 3 [01.05.2001]).
47
VOLAND
48
VERBEEK
49
KLEEBERG & WALTER 2 0 0 1 .
1996. 1998.
38
Jörg
Wettlaufer
Anliegen des Artikels von Voland ist es, den gemeinsamen Hintergrund des Konkurrenzphänomens in der biologischen Evolution und in der menschlichen ( K u l t u r g e schichte aufzuzeigen. Voland geht dabei von einem evolutionsbiologischen Paradigma der Genselektion aus, wie ich es oben zu skizzieren versucht habe und es zur Zeit in der biologischen Verhaltensforschung verbreitet ist. Zur Erklärung menschlicher Kulturgeschichte beschränkt er sich bewußt auf das Instrumentarium, das sich in den biologischen Verhaltenswissenschaften in den letzten Jahrzehnten bewährt hat. Diese Strategie führt ihn letztendlich zu der prägnanten These, daß „menschliche (und tierliche) Kulturgeschichte ... deshalb als Epiphänomen biologisch funktionaler Vorgänge verstanden werden kann." 5 0 Eine solche Aussage hat naturgemäß heftigen Widerspruch erfahren und führt zu dem in diesem Kontext geradezu klassischen Vorwurf des Reduktionismus. 51 Einen anderen, in gewisser Weise moderateren Weg beschreitet Verbeek mit seinem ,ökologischen' Ansatz, der von einem Emergenzcharakter der Kultur ausgeht. Grundlage auch seiner Überlegungen ist ein naturwissenschaftlicher Determinismus und der biologische Fitneßimperativ, doch unterscheidet sich Verbeek von der Volandschen Perspektive in der Betonung von ,Prägung' als wichtigem Mechanismus für das Erlernen von Kultur. Abgesehen von der ,Imitation' als grundlegendem Prinzip der kulturellen Evolution gibt es sensible Phasen im Leben eines jeden Individuums, die das effektive Erlernen und Speichern von kulturellem Wissen ermöglichen. Neben die stärker genetisch bedingten Verhaltensanpassungen, wie sie z.B. in der evolutionären Psychologie angenommen werden, setzt Verbeek die Prägungshypothese, nach der die ökologischen Anpassungen der jeweiligen Kulturen aufgrund einer entsprechenden Prägung der heranwachsenden Individuen entsteht. Einige der Kritikpunkte, die gegen diese beiden Ansätze ins Feld geführt wurden, sollen im folgenden aufgegriffen und diskutiert werden. 52 Insbesondere möchte ich gerne auf die Frage des Reduktionismus, der Emergenz von Kultur 53 , der sprachlichen Verständigungsprobleme zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern sowie auf wissenschaftstheoretische Vorbehalte eingehen. Das Konzept der Fitneßmaximierung selber, der sog. Biogenetische Imperativ (Hubert Markl 1983), bereitet vielen Historikern, aber auch vielen anderen Wissenschaftlern, Probleme. 5 4 Nur die Fortpflanzung, die Weitergabe von Genen soll das Maß 50
VOLAND 1 9 9 6 . 9 3 .
51
Z.B. EuS 1996, 138 ((2)).
52
Aus pragmatischen Gründen beziehen sich die folgenden Verweise auf Kommentare der Hauptartikel nicht auf die Verfasser, sondern nur auf die Zeitschrift (EuS) unter Angabe des Jahres, der Seitenzahl und des betreffenden Absatzes nach den in dieser Zeitschrift üblichen Regeln.
53
In der interdisziplinären Diskussion ist es wichtig, daß ,Kultur' genauer definiert wird (.weiter' versus ,enger' Kulturbegriff). Interessant ist in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die These von der Imitation als Motor der Kultur ( E u S 1998, 341 ((4))). Siehe auch VOLAND 2000a, 24: „ W a s immer Kultur definieren mag, sie gründet sich auf adaptiver Imitation, also auf dem erfolgversprechenden Versuch einer vorteilhaften Teilhabe an den Lebensleistungen anderer."
54
Grundlegende Kritik an einer Fitneß-bezogenen Evolutionstheorie der Kulturgeschichte übt z.B. Bernd Baldus in seinem Beitrag: Kultur und Überleben: Ist Kultur fitneßrelevant? Er schreibt, EuS
Von der Gruppe
zum
Individuum
39
aller Dinge, der Endzweck allen Strebens sein? Aus diesem Prinzip soll sich die Kultur, das gesamte menschliche Leben erklären lassen? Diese Perspektive wird häufig als reduktionistisch e m p f u n d e n . Zunächst m u ß man sich deutlich machen, daß das biologische Evolutionsgeschehen ein ziel- und planloser Vorgang ist, der keinen Fortschritt kennt und daher im eigentlichen Sinne eben nicht teleologisch ist. 55 Es gibt in der Evolution des Lebendigen, und auch im menschlichen Verhalten, keine Ziele, sondern nur einfache Regeln, nach denen sich Lebewesen verhalten. Etwa nach dem Prinzip: Bevorzuge süß, Vermeide bitter beim G e s c h m a c k von Nahrungsmitteln. Diese Regeln sind nach Adaptation und Selektion in evolutionär relevanten Zeiträumen entstanden und damit Teil der Grundausstattung j e d e s Menschen. Sodann muß man ein häufiges Mißverständnis klären, das sich aus der .pseudoteleologischen' Betrachtungsperspektive ergibt. 5 6 Lebewesen sind eben zwar fraglos ,Fitneßoptimierer', aber man kann sie noch treffender als ,Anpassungsa u s f ü h r e r ' ( a d a p t i o n executors) charakterisieren. 5 7 Dies verschiebt die Perspektive hin zu den eigentlichen Mechanismen, die Verhalten bedingen und nimmt dem „egoistischen G e n " (Dawkins) etwas von seiner penetranten sprachlichen Schärfe, durch die es sich allenthalben in vielen Wissenschaften so unbeliebt machte. Eng verbunden mit dieser Problematik ist eine weitere, nämlich die der sprachlichen Mißverständnisse in Bezug auf ultimate und proximate Erklärungen von Verhalten. 5 8 So versteht z.B. August Nitschke die Argumente von Eckart Voland falsch, weil er die intentionale Sprache mißversteht, mit der die ultimate Begründung für Verhalten beschrieben wird. Überhaupt ist diese Unterscheidung von proximaten und Ultimaten Erklärungen, die in den Geisteswissenschaften in dieser Form nicht bekannt ist, ein steter Quell für Mißverständnisse und eine schiefe Perzeption des evolutionären Paradigmas. Nitschke schreibt zum Beispiel in seiner Kritik: „Die Historiker wenden gegen das soziobiologische Modell ein, daß viele in der Geschichte zu beobachtenden Handlungen und Verhaltensweisen nicht auf den Wunsch nach Vermehrung, sondern auf andere Antriebe zurückzuführen sind, etwa auf das Interesse nach größeren ökonomischen
( 1 9 9 8 ) , 2 8 2 ((2)): „Wenn, w i e ich vermute, fitneß-relevante Kulturmerkmale nur einen sehr kleinen Teil d e s g e s a m t e n Kulturbestandes ausmachen, dann fragt sich, ob eine F i t n e ß - b e z o g e n e Evolutionstheorie uns bei der Erklärung des ü b e r w i e g e n d e n Rests der Kultur helfen kann." 55
V g l . V O L A N D 2 0 0 0 a , 4.
56
V g l . auch M A Y R
57
V g l . V O L A N D 2 0 0 0 a , 19 u. 98: „ D i e evolvierten M e c h a n i s m e n der Verhaltenssteuerung sind nach
1991,51-86.
w i e vor verhaltensbestimmend, lediglich ihre Fitnessvorteile, w e g e n derer sie evolviert sind, haben sich m ö g l i c h e r w e i s e verflüchtigt." 58
Historiker stören sich auch an dem v o n ö k o n o m i s c h e r Begrifflichkeit geprägtem Vokabular, das der S o z i o b i o l o g i e zugrunde liegt. V g l . EuS ( 1 9 9 6 ) , 150. D i e Welt durch den Filter v o n KostenN u t z e n - A n a l y s e n zu betrachten, von R e s s o u r c e n zu sprechen anstatt diese detailliert zu benennen, all dies fördert nicht gerade die A k z e p t a n z v o n s o z i o b i o l o g i s c h e r T e r m i n o l o g i e bei G e i s t e s w i s s e n schaftlern. A u f e m o t i o n a l e A b w e h r stößt dort m ö g l i c h e r w e i s e auch der häufige Gebrauch statistischer M e t h o d e n bei vielen evolutionär argumentierenden Untersuchungen.
Jörg
40
Wettlaufer
Chancen." 5 9 Nitschke nennt als scheinbare Alternative zum Fortpflanzungswunsch weitere .Antriebe', und zwar das Interesse nach größeren ökonomischen Chancen, das bei Menschen ebenfalls verbreitet und somit geschichtsmächtig sei. A b e r es handelt sich hier gar nicht um eine Alternative bzw. einen Widerspruch. Beide B e g r ü n d u n g e n ' oder Erklärungen für Verhalten werden von der Evolutionsbiologie nicht gleich bewertet, sondern hierarchisch. Fortpflanzung ist in Nitschkes Beispiel eine ultimate und Ö k o n o m i e eine proximate Begründung für Verhalten. 6 0 Damit ist gemeint, daß beide Erklärungen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen Verhalten erklären, wobei es sich auch um ein und dieselbe Verhaltensäußerung handeln kann. Menschen, die nach größeren ökonomischen Chancen streben und in diesem Sinne handeln, tun dies in der Regel aufgrund einer Reihe von Belohnungen (vgl. die ,Lustmaximierungshypothese') 6 1 , die viele menschliche Kulturen für ökonomischen Erfolg zur V e r f u g u n g stellen. Man kann dieses Verhalten, das Streben nach ökonomischen Erfolg, nun unter dem Gesichtspunkt der Fitneßmaximierung interpretieren. Diese Betrachtungsperspektive wird als ultimat bezeichnet. Ich möchte diesen abstrakten Sachverhalt an einem Beispiel erläutern. Natürlich kann man die Geschäftstüchtigkeit, das Streben nach ökonomischen Chancen etwa eines Jakob Fugger ( 1 4 5 9 - 1 5 2 5 ) , der den bezeichnenden Beinamen ,der Reiche' trug, nicht ,direkt' aus einem Bestreben nach möglichst zahlreicher N a c h k o m m e n s c h a f t , geschweige denn einer weiten Verbreitung seiner Gene erklären. Er hatte sicher naheliegendere, eben proximate Gründe: soziales Prestige, Genuß, Reproduktion durch Arbeit etc. Aber wenn man nach einer letztendlichen, Ultimaten Begründung für sein Streben fragt, so wird sich schwerlich eine andere finden lassen als die von der Evolutionsbiologie vorgeschlagene. Natürlich ist dieses Streben unbewußt und manifestiert sich kulturell vermittelt, aber es handelt sich doch um die eigentliche Meßlatte, an der das Lebendige in Hinblick auf seine A n p a s s u n g an die jeweilige Umwelt gemessen wird. Eckart Voland erklärt dies so: „Grundsätzlich gilt, daß alle Organismen nur g e m ä ß ihrer evolvierten psychologischen Motive handeln. Kein Tier, kein Mensch will seine oder ihre genetische Fitneß maximieren. Als psychologisches Motiv ist ihm oder ihr dies v o l l k o m m e n fremd. Wir gehorchen statt dessen ,nur' unseren psychischen Antrieben, allerdings haben diese ihre Naturgeschichte und wirken deshalb im Mittel so, als ob wir unsere genetische Fitneß maximieren wollten." 6 2 Wäre das Streben nach ökonomischen Erfolg auf die Dauer ein H e m m n i s für die Weitergabe von Genmaterial von einer Generation auf die nächste, so würde eine Kultur und ihre Träger, die dergleichen exzessiv betreiben, nach wenigen Generationen physisch aussterben. Fragt man aber nach dem Nutzen einer Ultimaten Erklärung f ü r den Historiker, präsentiert sich die Situation anders. Tatsächlich wird die ultimate Erklärung für einen Historiker nur dann eine brauchbare Alternative zu proximaten Erklärungen darstellen, 59
EuS (1996), 147 ((3)).
60
V g l . ALCOCK & SHERMAN 1 9 9 4 .
61
EuS (1996), 122 ((14)).
62
EuS (1996), 173 ((18)).
Von der Gruppe zum Individuum
41
w e n n das Erkenntnisinteresse auf eine relativ allgemeine, abstrakte Verhaltensweise gerichtet ist oder sich darauf zurückfuhren läßt, und zwar in der Regel im Z u s a m m e n hang mit einer Frage, die mit ,warum' beginnt. A l l e Fragen, die in die D o m ä n e des , w i e ' zuzuordnen sind, werden sich kaum mit G e w i n n ultimat beantworten lassen. In der D i s k u s s i o n der Artikel von Verbeek und Voland wird mehrfach die E m e r g e n z v o n Kultur als eigenständigem Weitergabesystem von Verhaltensanweisungen angemahnt. 6 3 „Der Prozeß der biologischen Evolution hat ohne Z w e i f e l auch kulturelle Phän o m e n e w i e Ö k o n o m i e und das Politische Leben hervorgebracht. Er determiniert jedoch nicht die Inhalte dieser Prozesse, sondern nur deren Existenz." 6 4 D i e s e Feststellung ist natürlich richtig. V o n einer Determination kultureller Phänomene durch evolutive Prozesse kann nicht die Rede sein. D i e richtige Antwort auf die Frage nach der Tiefe, bis in die sich Anpassungsprozesse erstrecken, scheint die f o l g e n d e zu sein: Tatsächlich ist das, was zur Zeit von vielen Evolutionären Anthropologen und teilweise auch von E v o l u t i o n s p s y c h o l o g e n getestet wird, nicht genetisch kodierte Verhaltensanpassung, sondern das A u s m a ß der A n p a s s u n g von Kultur an die menschliche Natur ( P h y s i o l o g i e ) . D i e genetisch bestimmte Natur des Menschen, mit seinen adaptierten neuronalen Steuermechanismen, paßt nämlich ganz hervorragend zur m e n s c h l i c h e n Kultur, die diese natürlichen A n p a s s u n g e n gleichsam flexibler fortsetzt. 6 5 D i e s trifft in
63
E u S ( 1 9 9 6 ) , 136. V g l . a u c h VOGEL 2 0 0 0 , 7 2 - 7 3 : „ M e n s c h l i c h e G e s c h i c h t e e n t h ä l t d a m i t z w a r a u c h b i o l o g i s c h e G e s c h i c h t e , w i e z u m B e i s p i e l d e n A b l a u f d e r im B i o g r a m m p r o g r a m m i e r t e n dualontologischen Lebensstadien, unterschiedliche Fortpflanzungsraten,
indivi-
bevölkerungsbiologische
P r o z e s s e u n d s o w e i t e r , sie ist j e d o c h c h a r a k t e r i s t i s c h e r w e i s e K u l t u r g e s c h i c h t e " . K u l t u r ist ä u ß e r lich g e k e n n z e i c h n e t d u r c h d i e H e r s t e l l u n g u n d i n t e n s i v e V e r w e n d u n g v o n a r t i f i z i e l l e n W e r k z e u g e n ( m a t e r i e l l e K u l t u r , T e c h n o l o g i e ) , d u r c h s y m b o l i s c h e S p r a c h e n , d u r c h T r a d i t i o n e n , d u r c h s o z i a l e Institutionen, Sitten, N o r m e n , Regeln, Gebote, Verbote, Tabus, durch Moral, Religionen, Kulte und d u r c h d a s u m f a s s e n d e B e d ü r f n i s , W e s e n , H e r k u n f t , Z w e c k u n d Z i e l a l l e r im E r l e b n i s k r e i s
des
M e n s c h e n w e s e n t l i c h e n D i n g e , e i n s c h l i e ß l i c h s e i n e r selbst, zu d e u t e n u n d zu e r k l ä r e n , d a r ü b e r zu reflektieren. O b w o h l menschliche Geschichtlichkeit nur durch die biologische Evolution möglich wurde, sind die Inhalte und der L a u f m e n s c h l i c h e r Geschichte natürlich nicht durch die biologische E v o l u t i o n d e t e r m i n i e r t , e i n e A n m e r k u n g , d i e trivial ist. v o r B i o l o g e n a b e r d o c h m a n c h m a l a n g e b r a c h t s c h e i n t . D e r o f t v e r w e n d e t e A u s d r u c k , K u l t u r - E v o l u t i o n ' t ä u s c h t n u r zu leicht v o r , e s k ö n n ten alle w e s e n t l i c h e n G e s e t z m ä ß i g k e i t e n u n d M e c h a n i s m e n d e r o r g a n i s m i s c h e n E v o l u t i o n e i n f a c h auf die Kulturgeschichte übertragen werden. Das trifft k e i n e s w e g s zu." 64
E u S ( 1 9 9 6 ) , 157 ((6)).
65
V g l . a u c h VOLAND 2 0 0 0 b , 4 6 - 4 7 : „ K u l t u r e l l g e s t e u e r t e s V e r h a l t e n k a n n b i o l o g i s c h a u s g e s p r o c h e n funktional sein, w o d u r c h kulturelle V e r h a l t e n s m u s t e r vor d e m Hintergrund des biologischen A n p a s s u n g s k o n z e p t s i n t e r p r e t i e r b a r w e r d e n . D e s h a l b s o l l t e n B i o l o g e n kein P r o b l e m m i t d e r E i n s i c h t haben, daß die oftmals v o r g e f u n d e n e biologische Optimalität der jeweiligen Lösungen für das Selbsterhaltungs- und Reproduktionsproblem über kulturelle M e c h a n i s m e n , also über Lernprozesse (und nicht etwa durch eine direkte genetische Determination des Verhaltens), erreicht wird. Und u m g e k e h r t : K u l t u r w i s s e n s c h a f t l e r s o l l t e n kein P r o b l e m m i t d e r E i n s i c h t h a b e n , d a ß d i e v o n i h n e n s t u d i e r t e n k u l t u r e l l e n P h ä n o m e n e ( ü b e r w e l c h e g e s e l l s c h a f t l i c h e n M e c h a n i s m e n sie a u c h
immer
e n t s t e h e n m ö g e n u n d a u f r e c h t e r h a l t e n w e r d e n ) im M i t t e l b i o l o g i s c h h o c h g r a d i g f u n k t i o n a l s i n d , ind e m sie d e n I n t e r e s s e n d e s e g o i s t i s c h e n G e n s " d i e n e n . "
Jörg
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Wettlaufer
besonderem Maße für sogenannte traditionelle Kulturen zu, die sich unter ,Selektionsdruck' in Interaktion mit der natürlichen Umwelt herausgebildet haben. Insofern ist Verbeek vermutlich zuzustimmen, daß prägungsartige Prozesse, mit denen spezifische kulturelle Eigenarten aufgenommen werden, eine besondere Rolle spielen. In eine ähnliche Richtung, mit Distanz zum evolutionären Paradigma, argumentieren übrigens auch Kleeberg und Walter im 8. Kapitel (Dimensionen der Zeit: Ontogenese) ihres Artikels zum „mehrdimensionalen Menschen". Diese Sichtweise geht auch prinzipiell mit der Auffassung von Eckart Voland kongruent, wenn dieser von der Auflösung des Gegensatzes „Natur versus Kultur" in „Kultur via Natur" spricht. 66 Doch scheint, wie oben schon ausgeführt, für eine Reihe von kulturell kodierten Normen eine ultimative, also durch die natürliche Selektion vermittelte Perspektive, zumindest für bestimmte Fragestellungen wenig sinnvoll. Bestes Beispiel für Prägungsprozesse ist vielleicht die Sprache, die zwar in jedem Alter neu erlernt werden kann, aber doch nur in einem ganz bestimmten Zeitfenster aufgrund der angeborenen kategoriellen Schallwahrnehmung als Muttersprache erlernt werden kann. 67 Die Erforschung der menschlichen Sprachfähigkeit ist ein wichtiges Beispiel für den Einfluß von Genen auf die menschliche Kulturfähigkeit. Vor kurzem gelang englischen Wissenschaftlern zum ersten Mal der sichere Nachweis eines Gens, das direkten Einfluß auf das komplexe System der menschlichen Sprachfähigkeit hat. 68 Dabei wurde auch erkennbar, in welcher Weise Gene überhaupt dergleichen komplexe Fähigkeiten regeln, nämlich in diesem Fall durch die Codierung eines Eiweißes, das wiederum andere Gene kontrolliert, welche dann während der intrauterinen Entwicklung des Fötus eine Rolle spielen. Diese sind vor allem im sich entwickelnden Gehirn aktiv. Man wird also jetzt schon vermuten dürfen, daß es unter anderem für die Anlage gewisser Strukturen (neuronaler Knoten und Netze) im menschlichen Gehirn verantwortlich ist, die später, in der Phase des Erlernens von Sprache nach der Geburt, notwendig sind, um den Lernprozeß (z.B. der Grammatik) überhaupt zu ermöglichen. Warum sollten nicht auch Momente des menschlichen Sozialverhaltens, die Kinder meist spielerisch erlernen, in dieser Weise vorgeprägt sein? Und wäre das Wissen um diese Anlagen nicht relevant für die Interpretation menschlichen Verhaltens in Geschichte, Gegenwart und Zukunft? Schließlich mag ein weiterer Grund zur Skepsis gegenüber dem evolutionären Ansatz in der ständigen Gefahr begründet liegen, daß soziobiologische Forschungsergebnisse als Rechtfertigung für konservatives, reaktionäres Gedankengut mißbraucht werden. 6 9 In diesem Zusammenhang haben alle biologischen Theorieansätze zur Erklärung menschlichen Verhaltens mit tief sitzenden Vorurteilen zu kämpfen. Aufgrund des sogenannten .naturalistischen Fehlschlusses', der übrigens in seiner Wirkweise auf die formende Kraft der Anpassung zurückzugehen scheint, und vor dem auch mancher 66
V g l . VOLAND 2 0 0 0 b .
67
V g l . EIMAS et. al.
68
V g l . FISHER et. al. 1 9 9 8 , LAI e t al. 2 0 0 1 .
69
S i e h e z.B. für eine solche skeptische Sicht DRESSEL 1995.
1971.
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Wissenschaftler in der Vergangenheit nicht gefeit war, sind Forschungsergebnisse besonders in Gefahr, zur Argumentationsgrundlage für konservative Ideologien umfunktioniert und als moralische Handlungsanweisungen mißverstanden zu werden. Moral aber ist nicht Sache der Evolutionstheorie, denn diese Instanz ist der Natur, im Gegensatz zur menschlichen Kultur, gänzlich unbekannt. Womit auch gleichzeitig die Frage nach der Emergenz menschlicher Kultur über andere ,Kulturen' nochmals beantwortet sei.
III. Es soll nun in einem dritten und abschließenden Schritt die aktuelle Situation evolutionärer, naturwissenschaftlicher Theorieansätze in den Geschichtswissenschaften bilanziert und mögliche Perspektiven dieser Forschungsrichtung diskutiert werden. Für welche Bereiche historischer Forschung also bietet das evolutionäre Paradigma, die ultimate Perspektive des Verhaltens, heute möglicherweise eine interessante Option? Viele Historiker verspüren bislang keine Lust, ihre proximalen Erklärungen mit einer Ultimaten Perspektive in Verbindung zu bringen. Und tatsächlich ist der Erkenntnisgewinn, wie schon ausgeführt, in vielen klassischen Bereichen der Geschichtswissenschaft durch diese erweiterte Perspektive gering, um nicht zu sagen inexistent. Nur in denjenigen historischen Disziplinen, die sich mit der Frage des Funktionierens menschlicher Kultur und dem Einfluß der Körperlichkeit auf kulturelle Normen und Bedeutungsträger beschäftigen, birgt die ultimate Erklärung von Verhalten eine verständnisfördernde, ordnende Perspektive. Daher sind Berührungspunkte vielleicht am deutlichsten mit der sog. Körpergeschichte zu erkennen. Diese recht junge Disziplin, der vor kurzem eine einfuhrende Darstellung gewidmet wurde 7 0 , hat sich allerdings, wenn man dieser Einführung folgt, in weiten Teilen dem Konstruktivismus zugewandt. Vor allem zwei Bereiche interessieren diese moderne Körpergeschichte zur Zeit: Die Frage der (Un-)Wandelbarkeit von Körpererfahrung und die unhintergehbare leibliche Erfahrung der Subjekte. 7 ' Ich denke, daß es in diesem Bereich aber auch durchaus ein Potential für eine naturwissenschaftliche, evolutionäre Perspektive geben sollte. Um es noch einmal deutlich zu betonen - beide Ansätze widersprechen sich ja nicht, sondern können und müssen ergänzend verfolgt werden. Ein zweiter, vielversprechender Bereich für evolutionäre Erklärungsmodelle ist die moderne Kulturwissenschaft, die über die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne 70
Diese Disziplin hat inzwischen eine eigene einführende Darstellung gefunden: LORENZ 2000. Vgl. h i e r z u d i e R e z e n s i o n v o n K . P A T Z E L T - M A T T E R N in H - S O Z - K U L T v o m 2 1 . 0 8 . 2 0 0 1
und die
kriti-
sche Besprechung von Tilmann WALTER (2001, Oktober) in: Forum Qualitative Sozialforschung (FQS) 3 (2002), Nr. 1. verfügbar über http://www.qualitative-research.net/fqs/fqs.htm [Zugriff: 13.01.02], - Für eine Wiederentdeckung des .Realen' in der Körpergeschichtsforschung plädiert Philipp Sarasin: SARASIN 1999a, DERS. 1999b. 71
Vgl. PLANERT 2000, 540-541.
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hinausweist. Das, was viele Historiker heute wie vor hundert Jahren interessiert, nämlich die mehr oder weniger detailreiche Rekonstruktion von vergangenem menschlichen Leben und Handeln, kann durch keine Theorie befriedigt werden, sondern nur durch Quellenstudium. Aber in der Interpretation dieser Quellen könnte die evolutionäre Geschichtswissenschaft ihr Potential entfalten. Eine die biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens berücksichtigende Kulturwissenschaft könnte ihr Erklärungspotential an einer Reihe von Beispielen unter Beweis stellen. So ist zunächst an Vorrechte und Privilegien (Tafelordnungen, Sitzordnungen, Hofordnungen) zu denken, die eine kulturell vermittelte Rangdemonstration zur Grundlage haben können. 72 Weitere Themen wären Heirats- und Erbbeschränkungen, bzw. alle impliziten oder expliziten Einschränkungen des sog. mate choice und der Weitergabe von Ressourcen von den Eltern an ihre Kinder. Auch wenn Kultur tatsächlich ein Epiphänomen basaler biologischer Vorgänge sein sollte, so interessiert dies Historiker und Kulturwissenschaftler zur Zeit nicht, weil diese Perspektive ihren Forschungsgegenstand dem Anschein nach entwertet. Auf Interesse könnte hingegen eine evolutionär fundierte Kulturwissenschaft stoßen, die meines Wissens konsequent bislang noch nicht versucht worden ist.73 Bemerkenswert ist im Kontext einer ,neuen Kulturwissenschaft' die Stellungnahme des Mediävisten David Herlihy, dessen Essay über „Biologie und Geschichte: Vorschläge zum Dialog" in leicht abgewandelter Form im Journal of Interdisciplinary History und in dem posthum veröffentlichten Sammelband „Women, Family and Society in Medieval Europe" abgedruckt wurde. Herlihy schrieb diese „Aufforderung zum Dialog" kurz vor seinem Tod im Februar 1991. Er versucht darin den Nutzen des evolutionsbiologischen Ansatzes für die Geschichtswissenschaft anhand der Darstellung der Entwicklung von der Polygynie zur Monogamie und der damit verbundenen Geschichte der Ehe in Westeuropa zu erläutern, hauptsächlich unter Bezug auf die Arbeiten von Laura Betzig. 74 Als Aufgaben für die Zukunft formulierte er in Anlehnung an
72
V g l . d i e B e i s p i e l e b e i SPIESS 1 9 9 7 , 3 9 - 6 1 .
73
In ihrem Wert für eine evolutionär inspirierte Kulturwissenschaft schwierig einzuschätzen ist die Arbeit von Wolfgang Wurm über „Evolutionäre Kulturwissenschaft. Die Bewältigung gefährlicher Wahrheiten oder über den Zusammenhang von Psyche, Kultur und Erkenntnis", die eine mehr erkenntnistheoretische Fragestellung verfolgt und durch ihre Verquickung Freudscher, Darwinscher und humanethologischer Ideen dem oben skizzierten Ansatz eher fern steht: WURM 1991. Ebenfalls der Ethologie Lorenscher Prägung verpflichtet ist die sogenannte ,Kulturethologie' nach Otto Kö-
74
Vgl. HERLIHY 1994/5, DERS. 1995. Einen interessanten theoretischen Ansatz für die weitere Erforschung des Grundes für den Übergang von polygynen Gesellschaftssystemen zur westlichen Gesellschaft monogamer Prägung eröffnet auch B. Verbeek, wenn er zur „Überprüfung der Theorie von kultureller Prägung" anhand der Hypothese, daß in Epochen bzw. Gesellschaften, die in soziokulturellem Umbruch stehen, die sonst beobachtbare Fitneßförderlichkeit der Konditionalprogramme nicht auszumachen ist, auffordert: EuS 1998, 275 ((47)). Man müßte zunächst mehr über diese ,Konditionalprogramme' wissen und ihre jeweilige Fitneßförderlichkeit im einzelnen nachweisen. Was ist mit Programmen, bei denen kein Fitneßvorteil zu erkennen ist? Hier liegt ein weites Feld von Aufgaben für die Historische Demographie.
n i g . V g l . LIEDTKE 1 9 9 4 .
Von der Gruppe zum
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E. O. Wilson: „The great need is to investigate possible linkages between genetic programming on the subconscious level and cultural programming on the conscious level." 75 Damit ist deutlich das Aufgabenspektrum umrissen, in dem sich eine evolutionäre Kulturwissenschaft in der Zukunft bewegen müßte. Der praktische Nutzen des evolutionären Ansatzes ist dabei auf die Quellen interpretation beschränkt, und zwar auf die Antwort auf die Frage ,warum'. Der ganze Schwärm historischer Hilfswissenschaften bleibt somit zunächst unberührt und auch gänzlich unentbehrlich für die historische Forschung. Die Aufgabe der evolutionären Geschichtswissenschaft wäre dabei, aus der Perspektive der Historiker, die einer historischen Hilfswissenschaft, die sich einordnen würde in die Reihe der übrigen, für die moderne Forschung gänzlich unentbehrlichen Hilfswissenschaften. 76 Otto Gerhard Oexle hat vor kurzem zu Recht noch einmal darauf hingewiesen, daß der Grundlagenstreit um die Wahrheit und die rechte Methode in der Geschichte so neu nicht sei. 77 Zur Zeit ist dieser Streit wieder aktuell und vermag die Geschichtswissenschaft und ihre Protagonisten in nahezu feindliche' Lager zu spalten. ,Naturalisten' und die als ,Konstruktivisten' oder ,Dekonstruktivisten' bezeichneten Historiker (aber dies gilt natürlich auch für andere Fachgebiete) finden heute, nach dem sog. linguistic turn, kaum mehr zur Diskussion zusammen, sondern ergehen sich in der Regel in den immer gleichen Argumenten, den immer gleichen (Vor-)Urteilen. Doch sind inzwischen auch vereinzelt vermittelnde Positionen zu vernehmen, die versuchen, die Errungenschaften der Erkenntnisse eines Foucault und/oder eines Derrida mit dem pragmatischen Festhalten der ,Naturalisten' an einer wie auch immer faßbaren Realität zu verknüpfen. 78 Wenn man schließlich über die Vorurteile hinweg den Argumenten des Anderen zuhört, ergeben sich oft eine Reihe von gemeinsamen Positionen und die Einsicht, daß der erweiterte, interdisziplinäre Blick meist auch eine erweiterte Erkenntnis des eigenen, begrenzten Forschungsgegenstandes mit sich bringt. Wäre es also konkret nicht wünschenswert, wenn wir einerseits die (biologische) Realität von Körpern akzeptieren und andererseits die Diskurse, die über diese Realität geführt wurden, untersuchen könnten? Tatsächlich reicht es nicht, wenn man eine Ge75
HERLIHY 1995, 260, zitiert E. O. WILSON, On human nature, Cambridge 1978. Vgl. auch THORNHILL 1992. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Bedeutung evolutionärer Hypothesen für die Geschichtswissenschaften anhand von kulturübergreifenden Beispielen, darunter auch historischen Gesellschaften. Als Beispiele werden Heiratsregeln, z.B. Inzest und Cousinenheirat, in Relation zum Stratifikationsgrad der Gesellschaft verwendet.
76
V g l . a u c h KLEEBERG & WALTER 2 0 0 1 , 7 2 .
77
Vgl.
78
HEJL
2000. 92-96. 2001, 35-50 (Wahrnehmung als artgeschichtlich konditionierte Konstruktion);
OEXLE
KLEEBERG &
WALTER 2001, 25. In diesem Aufsatz vertreten die Autoren im erkenntnistheoretischen Grundlagenstreit zwischen Postmoderne und naturwissenschaftlichem Empirismus (von den Autoren als Naturalismus bezeichnet) eine vermittelnde Position eines sogenannten theoretischen Konstruktivismus. In diesen Kontext der Bemühung um eine Vermittlung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften gehören auch die folgenden Sammelbände: OEXLE 1998, KUBLI & REICHARDT 1 9 9 9 , WEIGEL 2 0 0 1 , HEJL 2 0 0 1 .
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Wettlaufer
s c h i c h t e auch v e r s u c h e n zu beschreiben, w i e und aus w e l c h e n Gründen Körper in einer b e s t i m m t e n historischen E p o c h e w a h r g e n o m m e n wurden. D o c h aufgrund der zeitlichen B e d i n g t h e i t m e n s c h l i c h e r Erfahrung zu schließen, Erkenntnis v o n Realität sei überhaupt nicht m ö g l i c h , ist in m e i n e n A u g e n auch nur e i n e s der v i e l e n G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e und damit vielleicht e i n e p h i l o s o p h i s c h e Position, aber keine Arbeitsgrundlage für historis c h e Forschung.
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Individuum oder Gruppe Mediziner auf der Suche nach dem normierten Menschen Von Karin Stukenbrock (Halle) „Mit der Erreichung der Artnorm, der harmonischen Entwicklung äusserer und innerer Organisation erreicht unsere Jugend auch die nach Erbanlage und Umwelt bestmögliche Konstitution." 1 Diese Äußerung des Klinikers Ignaz Kaup (1870-1944) aus dem Jahre 1922 ist kennzeichnend für eine Tendenz, die bereits in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Seit dieser Zeit arbeitete man an der Entwicklung eines medizinischen Normalwertkonzeptes. 2 Mit Hilfe eines immer feineren Recheninstrumentariums bildete man statistische Normgrößen, um quantitative Messungen von qualitativen Wertungen frei zu halten. Die Definition des Krankhaften und des Gesunden sollte auf objektiven Werten beruhen. Diese Sicht auf physiologische und pathologische Zustände und Prozesse war zu diesem Zeitpunkt neu. Zuvor hatte man Krankheit als ein Merkmal interpretiert, das dem Gesunden fehlte, und damit prinzipiell zwischen Gesunden und Kranken unterschieden. Mit dem Normalwertkonzept war der Unterschied dagegen kein prinzipieller mehr, sondern lediglich ein quantitativer. Gesundheit und Krankheit waren nun identischen Gesetzen unterworfen und somit auf einer einzigen Skala meßbar, die normale und anormale Lebensprozesse gleichermaßen widerspiegelte. Entscheidend für die Frage ,gesund oder krank' war nur, an welchem Punkt der Skala sich die Meßwerte befanden. Der Übergang vom gesunden zum kranken Zustand erfolgte nach diesem Konzept in einer kontinuierlichen Veränderung der physiologischen Werte, die gelegentlich den Bereich des ,Normalen' verließen und damit pathologisch' wurden. 3 Die folgenden Überlegungen behandeln die Frage, wie der Mensch innerhalb des Normalwertkonzeptes wahrgenommen wurde und welche Auswirkungen dies auf die medizinisch-praktische Behandlungstätigkeit hatte: Galt das Hauptaugenmerk dem einzelnen Individuum oder richtete sich der Blick auf den Menschen als Gesamtheit? In welchem Verhältnis sah man das Individuum zur Gruppe und umgekehrt? Zunächst muß allerdings geklärt werden, was das ,Normale' bzw. was der statistische Normalmensch' eigentlich war oder sein sollte. 1
KAUP 1922, 192.
2
Zur historischen Genese des medizinischen Normalwertkonzeptes vgl. HESS 2000, 2 6 6 - 2 7 7 ; DERS. 1 9 9 7 . 7 - 1 2 ; BÜTTNER 1 9 9 7 ; SEYDEL 1 9 7 6 .
3
V g l . BÜTTNER 1 9 9 7 , 1 9 f .
Karin Stukenbrock
54
Der statistische Normalmensch Mit der Frage nach dem typischen Normalmenschen 4 setzte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Diskussion ein, die die theoretischen Grundlagen der Medizin berührte. Im Kern ging es um die Frage, ob man sich an einer idealistischen W e r t n o r m ' oder an einer statistischen Häufigkeitsnorm' orientieren sollte. Also: War der .typische N o r m a l m e n s c h ' das Vorbild, das in der Z u k u n f t zu erreichen war, oder entsprach der ,typische N o r m a l m e n s c h ' lediglich dem Durchschnitt der bei den jetzt lebenden Menschen zu beobachtenden und zu messenden Eigenschaften? Beide Konzepte spielten in der Folgezeit eine Rolle. Während die Wertnorm im Hinblick auf die Rassenlehre und den Begriff der , Entartung' relevant werden sollte, rückte die statistische N o r m bei den quantitativen Messungen in den Mittelpunkt der Diskussion. Für das Konzept der Wertnorm steht insbesondere der Psychiater Kurt Hildebrandt ( 1 8 8 1 - 1 9 6 6 ) . Den Orientierungspunkt für die Vielzahl der Erscheinungen suchte er nicht im Errechenbaren, sondern in der Idee von der Art. Nicht der Durchschnitt, sondern „der höchste Wert der Art" sollte die N o r m sein. Die N o r m ist somit der Gipfel des Erreichbaren; sie ist ein fiktives Ziel, wobei alle davon abweichenden Variabilitäten als unvollkommen angesehen wurden. Wesentlich war jedoch nicht das Optimum eines einzelnen Organs, entscheidend war vielmehr das Optimum auf das G a n z e bezogen. Hildebrandt nahm eine absolute N o r m an, die über der Artnorm stand. Eine s c h ö p ferische Kraft' suchte durch Mutationen aus niederen Arten höhere zu bilden. Dieser N o r m b e g r i f f ging über das gegenwärtige Einzelwesen hinaus. Der Maßstab orientierte sich nicht an den gegebenen Bedingungen, sondern an einer zukünftigen Gestaltung der Dinge. Abweichungen von der Norm, die auf diesem W e g zur absoluten N o r m in die negative Richtung gingen und somit Beeinträchtigungen bedeuteten, bezeichnete man als ,Entartungen'. Diese sollten, wie bereits angedeutet, in der Folgezeit mit dieser negativen Konnotation in der Rassehygiene bedeutsam werden. 5 Das Konzept des statistischen Normbegriffs setzte dagegen beim Durchschnitt an. Der Gedanke war einfach und in sich schlüssig: Man verstand unter der N o r m den Durchschnittswert, der bei der Untersuchung einer bestimmten möglichst großen Anzahl von Individuen als Mittelwert gefunden wurde. Die ermittelten Werte ließen sich in Kurven anordnen, die dem Verlauf der Normalverteilungskurve entsprachen. Die Werte im Scheitelpunkt der Kurve wiesen die häufigste und somit normale Erscheinungsform der untersuchten Eigenschaft auf. Als normal galt demnach das, was dem Mittelwert entsprach oder ihm nahestand. Die Werte, die mehr oder weniger weit vom Scheitelpunkt entfernt lagen, wiesen die Variationen und Abweichungen von der gesetzten N o r m aus. 6 * 5
Friedrich Martius hatte diese Frage bereits 1914 formuliert und damit einer ausgedehnten Diskussion um den Normbegriff vorgegriffen, die nach dem 1. Weltkrieg einsetzte. Vgl. BÜTTNER 1997, 26. V g l . BÜTTNER 1 9 9 7 , 2 7 ; SEYDEL 1 9 7 6 , 3 4 f . , u n d in d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n G e d a n k e n H i l d e b r a n d t s GROTE 1 9 2 2 , 3 7 1 ; BORCHARDT 1 9 2 3 , 1 0 9 .
6
V g l . GROTE 1 9 2 2 , 3 6 8 ; BORCHARDT 1 9 2 3 , 109.
Individuum oder Gruppe
55
Nach Auffassung der zeitgenössischen Autoren ließe sich auf diese Weise auf der Basis der empirisch ermittelten Werte tatsächlich ein ,Normalmensch' konstruieren, dem eine dem Normalmeterstab in Paris vergleichbare Funktion zukommen könnte. 7 Immer wieder wird in der Literatur auf den von Theodor Brugsch (1878-1963) aufgrund seiner Messungen ausgewiesenen Normaltypus verwiesen: das normalbrüstige Individuum mit einer Größe von 1,70 m und einem Gewicht von 65 kg. 8 Brugsch hatte 1.560 norddeutsche Männer im Alter von 20 bis 25 Jahren vermessen und gewogen. Aus den Ergebnissen hatte er jeweils drei Kategorien (klein, mittel und groß) gebildet und war so zu seiner Klassifizierung des Normaltypus gelangt. Größe, Gewicht und Brustumfang zählten zu den äußeren Merkmalen, die die Grundlage für die Kategorisierungen bildete. Daneben rückte auch der Kopf als Objekt der Vermessung in das Blickfeld. Man interessierte sich für das Verhältnis von Länge und Breite des Kopfes und bestimmte einen Längen-Breiten-Index, der sich aus der größten Kopflänge und der größten Kopfbreite ergab. Auch den Längen-Höhen-Index, der auf der größten Kopflänge und der Ohrhöhe basierte, hielt man für ein wichtiges Charakteristikum der Schädelform. Um allerdings ein Individuum nach diesen Kriterien in eine Normskala einzuordnen, sollte zudem die Zugehörigkeit zu seinem jeweiligen , Volksstamm' berücksichtigt werden. Man hielt zwar den Längen-Höhen-Index für weniger anfällig für exogene Faktoren als den Längen-Breiten-Index, aber eben nicht für völlig unabhängig. 9 Ausgehend von der Prämisse, daß das äußere Erscheinungsbild des Menschen Rückschlüsse auf die innere Organisation des Körpers zuließ, bezog man auch diese Funktionen in die Überlegungen ein. Dazu wurden der Bau und die Funktion der inneren Organe vermessen: So maß man beispielsweise die Herzgröße, die Pulszahl, den Blutdruck. In einem weiteren Schritt versuchte man dann, die einzelnen Ergebnisse sowohl die der äußeren als auch der inneren Messungen - zu korrelieren. Herzmasse und Blutdruck setzte man in Relation zu Körpergröße und Gewicht und versuchte, Zusammenhänge zwischen diesen Phänomenen herzustellen. 10 Der Mathematiker M. Hauptmann bediente sich des Zahlenmaterials Hermann Rautmanns (1885-1956) und demonstrierte die Ergebnisse in Schaubildern. Es entstanden anschauliche Kurven, die die Beziehung zwischen Körpergröße und Herzgröße, Körpergröße und Pulszahl oder Körpergröße und Blutdruck demonstrieren sollten." Zusammenfassend läßt sich bis hierhin feststellen, daß man in dieser Zeit den menschlichen Körper in fast allen seinen Dimensionen vermaß. Man versuchte, Zusammenhänge zwischen der äußeren und inneren Organisation des Körpers zu entdekken und Korrelationen zwischen den einzelnen Meßwerten herzustellen. Gleichzeitig entwickelte man mathematische Verfahren, mit Hilfe derer man die Messungen zu
7
V g l . GROTE 1 9 2 2 , 3 6 8 . Z u m N o r m a l m e t e r s t a b a l s V e r g l e i c h s o b j e k t v g l . BÜTTNER 1 9 9 7 , 2 6 .
8
V g l . BORCHARDT 1923, 109; KAUP 1 9 2 2 ,
9
V g l . G Ü N T H E R 1 9 2 6 , 7 2 1 f.
10
Vgl. KAUP 1922.
"
V g l . HAUPTMANN 1 9 2 5 , 2 4 5 8 - 2 4 6 0 .
190f.
190.
Karin
56
Stukenbrock
scheinbar brauchbaren Normwerten verarbeitete. In den medizinischen Lehrbüchern und Veröffentlichungen hantierte man mit Begriffen wie Mittelwert, Streuungswert, Varianz, Variabilität, Signifikanz, wahrscheinlichem Fehlerquotienten, Standardabweichung oder Korrelationskoeffizienten - also Größen, mit denen auch heute in der Statistik gearbeitet wird. Heraus kamen Tabellen, Grafiken oder Indizes, die die Richtschnur für die Einteilung in ,normal = gesund' und ,nicht normal = krank' und ,behandlungsbedürftig' bilden sollten. Abgesehen davon, daß es nicht immer gelang, aus den Rohdaten tatsächlich Korrelationen zu erzeugen - so ließ sich beispielsweise kein signifikanter Zusammenhang zwischen Brustumfang und Herzgröße ausmachen 1 2 - ging man auch sonst nicht ganz kritiklos mit diesem Vorgehen um. Es wurden eigentlich alle Schritte der Forschung, angefangen mit der Datenerhebung, über die statistischen Verfahren bis hin zu der Frage, ob die Daten tatsächlich das maßen, was sie vorgaben zu messen, diskutiert. Auch die Frage, ob ,nicht normal' in jedem Falle ,krank' bedeutete und unweigerlich ,behandlungsbedürftig' meinte, wurde angesprochen. Den einzelnen Forschungsschritten folgend ergaben sich die ersten Probleme bei der Auswahl der Probanden. Hier wurde der Vorwurf laut, daß sich die Militärärzte, die „in geradezu erschreckend großen Mengen" Messungen vornahmen, ihren „Meßobjekten gegenüber naiv" verhielten. Ohne zu berücksichtigen, daß es sich um „biologisch heterogenes Material" 1 3 handele, und ohne im Vorfeld genau zu überlegen, was festgestellt werden solle, würden die Messungen durchgeführt. Dies führe dazu, daß „nur ausnahmsweise" das erfaßt würde, was man eigentlich erfahren wolle. 14 Auch die Meßverfahren selbst standen in der Kritik. Nur eine einheitliche und exakte Meßtechnik könne zu vergleichbaren Werten führen. Der Brustumfang wurde beispielsweise auf verschiedenen Höhen gemessen; das Maßband unterschiedlich stark angezogen; einige maßen beim Einatmen, andere beim Ausatmen; die Arme hingen herab oder lagen auf dem Kopf. Diese Unterschiede führten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Sie ließen keinen Vergleich zu, und die Daten waren insofern unbrauchbar. Deshalb forderte man die Einführung einer internationalen anthropologischen Meßtechnik, damit „die Messungen vollständig gleichartig, möglichst exakt und mit genügend genauen Instrumenten ausgeführt" 1 5 würden. Auch der Umgang mit den erhobenen Daten barg Fehlerquellen in sich. Rautmann gegenüber erhob man den Vorwurf, er habe die Zahlen bei seinen Messungen zum Brustspielraum grundsätzlich aufgerundet. Auch die Einteilung der Reduktionsstufen, die er bei der Auswertung der Daten für Körpergröße und Gewicht vorgenommen habe, hielt man für zu groß. Beides führe zu Verfälschungen, so daß es wenig sinnvoll erschien, über die feinsten mathematischen Methoden nachzudenken, wenn 12
V g l . KAUP 1 9 2 2 , 1 9 2 ; HAUPTMANN 1 9 2 5 ,
13
Michelsson unterscheidet zwischen dem Genotypus und dem Phänotypus. Der Begriff,heterogen' bezieht sich hier auf den Genotypus, der sich nicht durch Messen und Wägen eines Phänotypus feststellen läßt. Auch wenn in einer Gruppe phänotypisch weitgehend homogene Merkmale erkennbar sind, kann die Gruppe trotzdem genotypisch heterogen sein. Vgl. MICHELSSON 1924, 421.
14
V g l . MICHELSSON
15
MICHELSSON
1924,421.
1924,424.
2458-2460.
Individuum
oder
Gruppe
57
nicht der Umgang mit diesen Voraussetzungen prinzipiell geklärt und vereinheitlicht werde. 1 6 Ein wesentlicher Aspekt, der in diesen Jahren intensiv diskutiert wurde und das Konzept des typischen Normalmenschen' im Kern berührte, war die Frage nach der Festsetzung der Grenzwerte. 1 7 Die Grenzwerte begrenzten die Norm. Sie legten fest, was innerhalb oder außerhalb der Norm lag. Die Individuen wurden mit dieser Norm als Orientierungspunkt verglichen: Alles, was die Norm nicht erreichte oder überschritt, galt als abnorm. Die Grenzwerte des Normalen selbst ließen sich nicht logisch ableiten, „sondern nur unter Anwendung bewährter statistischer, rechnerischer oder konstruktiver Operationen nach gegebenen Vereinbarungen gewinnen." Der Wert mußte im Rahmen in sich schlüssiger Regionen festgesetzt werden, da es nicht sein konnte, daß beispielsweise 50 % der Bevölkerung als anormal eingestuft werden konnten. Hauptmann siedelte diesen Wert bei 70 % an und belegte dies mit einem Beispiel aus den Messungen zur Körpergröße. Bei einer bestimmten Körpergrößengruppe liege das Gewicht von 67 % der Menschen zwischen 54 und 61 kg. Ähnlich seien die Verhältnisse überall. 19 Immer wieder finden sich in der zeitgenössischen Literatur Hinweise, daß die Autoren diesem Vorgehen eine gewisse Willkür nicht absprachen. 20 Die Frage, die sich hieraus ergab, war die nach der Gleichsetzung von anormal und krank. Rautmann löste dieses Problem, indem er zwischen dem Abnormen und dem Krankhaften unterschied: „Sicherlich erfahrt das Gebiet des Abnormen durch unseren Normbegriff eine erhebliche Veränderung. Denn, wenn wir nicht mehr alles das normal nennen, was wir ζ. B. bei gesunden, wohlentwickelten Menschen beobachten, sondern nur noch dasjenige, das bei Gesunden in der Regel vorkommt, so ergibt sich daraus, daß wir dann auch nicht mehr alles von der Norm Abweichende, alles Abnorme oder Anomale gleich krankhaft setzen dürfen. Wir werden vielmehr fernerhin unterscheiden müssen: 1. Das Abnorme, 2. Das Krankhafte." 2 1 Die gesetzten Grenzwerte beschrieb er lediglich als Anhaltspunkte für die Größe der Wahrscheinlichkeit, ob eine Erscheinung in der Regel als gesund oder krankhaft galt. 22
16
V g l . K A U P 1 9 2 2 , 1 9 1 ; MICHELSSON 1 9 2 4 , 4 2 3 .
17
V g l . BUTTNER 1 9 9 7 , 2 9 f .
18
GÜNTHER 1 9 2 6 , 7 1 6 ; v g l . a u c h GÜNTHER 1 9 2 7 .
19
Vgl. HAUPTMANN 1925, 2458.
20
V g l . ζ . B . H A U P T M A N N 1 9 2 5 , 2 4 6 1 ; GROTE 1 9 2 2 , 3 6 9 .
21
RAUTMANN 1 9 2 1 , 7 0 .
22
V g l . RAUTMANN 1 9 2 1 , 7 7 .
Karin
58
Stukenbrock
Individuum oder Gruppe Der Blick auf das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Gruppe führte zu der Frage, ob der ,typische Normalmensch' in den festgesetzten Grenzen tatsächlich existierte oder eine statistische Fiktion war. War der ,typische Normalmensch' also eine rein wissenschaftliche Kategorie, die mit der Lebenswirklichkeit der Menschen wenig gemein hatte, oder war der ,typische Norjnalmensch' der am häufigsten in der Gruppe vorkommende Mensch, an dem sich das einzelne Individuum messen ließ? Überließ man die Grenzen des Normalen der Beliebigkeit - so die einhellige Meinung - fehlte dem Normalen der Wirklichkeitswert. Dann wäre der normale Mensch eine abstrakte Konstruktion. 2 3 Eine vollständige Übereinstimmung der biologischen Bedingungen mit den errechneten Kurven sei allerdings wahrscheinlich nie vorhanden, man erhoffte sich jedoch eine annähernde. 2 4 Ein Problem, das das gesamte Konzept grundsätzlich betraf, sah man darin, daß „die Natur sich nicht nach einem errechneten Mittelwert richtet." 25 Die natürlichen Erscheinungen, die die konstitutionellen Bedingungen der einzelnen Individuen bestimmten, hielt man für so vielfältig, daß sich kaum eine für alle Individuen zutreffende Formel konstruieren ließe. Man unterschied in diesem Zusammenhang zwischen den Erbfaktoren und den Außenfaktoren, die zusammen das Erscheinungsbild prägten. Die Erbfaktoren blieben zwar konstant, ihre Ausprägungen jedoch könnten durch äußere Faktoren beeinflußt oder verändert werden. Zu den äußeren Faktoren zählten beispielsweise Krankheiten sowie soziale und hygienische Bedingungen. Das, was an einem Individuum untersucht werden könne, sei immer das Resultat beider Faktoren, so daß das , Material', aus dem die Formeln resultierten, an sich schon heterogen sei. An den Maßen, die an den einzelnen Individuen erhoben wurden, ließe sich nicht erkennen, von welchen Faktoren die Ergebnisse abhingen und in welchem Umfang sie möglicherweise beeinflußt wurden. 2 6 Im Gegensatz zu physikalischen oder chemischen Erscheinungen sei der menschliche Organismus ein „historisch gewordenes kompliziertes Lebewesen", eine „zur Einheit geschlossene Ganzheit", die nur ungenügend durch Zahlen erfaßt werden könne. 2 7 Dies hatte zur Folge, daß die Ergebnisse der Untersuchungen je nach Zusammensetzung der ,Individuengruppen' 2 8 variierten. War das ,Menschenmaterial' in der Entwicklung „ziemlich gleichmäßig", so kam man zu anderen Ergebnissen und zu
23
V g l . RAUTMANN 1 9 2 3 , 119.
24
V g l . KAUP 1922,
25
HAUPTMANN 1925, 2 4 5 7 .
26
V g l . MICHELSSON 1 9 2 4 , 4 1 8 f .
191.
27
V g l . MICHELSSON 1 9 2 4 , 4 2 7 .
28
Dieser Begriff taucht in der zeitgenössischen Literatur für die untersuchten Probanden häufig auf; vgl. ζ. B. KAUP 1922, 192.
Individuum
oder
Gruppe
59
anderen Korrelationen, als dies bei heterogenen Probanden der Fall war. 29 Die einzigen Populationen, die in dieser Zeit relativ problemlos untersucht und vermessen werden konnten, waren die Rekruten bei den Musterungsuntersuchungen. Deshalb verwundert es nicht, daß sich die Zahlen üblicherweise auf den „Normaltypus eines jungen Deutschen im Alter von 24 Jahren" 3 0 bezogen. Auf die von Brugsch untersuchten norddeutschen jungen Männer wurde bereits hingewiesen. Auch Rautmann hatte die ,Gunst der Stunde' genutzt: In der Zeit von Frühherbst 1917 bis Herbst 1918 hatte er im Rahmen von Untersuchungen zur Flugdiensttauglichkeit 1.864 Freiwillige aus allen Truppenteilen auf verschiedene Merkmale hin untersucht. Von diesen „wohlgewachsenen jungen Männern" sonderte er noch einmal 648 „besonders wohlgewachsene", Vollreife Männer mit einem „regelrechten Knochenbau und mittlerem Fettpolster" aus, um sie einer besonders sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen. Individuen mit leichten Skoliosen oder wenig kräftig entwickelter Muskulatur waren hier von vornherein ausgeschlossen. 3 ' Die Verweise auf vergleichbare Untersuchungen, die zu ähnlichen Ergebnissen geführt hatten, bestätigen diese Vorgehensweisen als allgemein übliche Verfahren. 3 2 Man arbeitete auf diese Weise zwar mit einem relativ ,homogenen Material' und berechnete die Norm auf dieser Basis, aber die Bandbreite der Bevölkerung, also die h i storisch gewordenen komplizierten Lebewesen' in ihrer Gesamtheit, konnte man damit nicht repräsentieren. Dieses Faktum ist als Unzulänglichkeit durchaus bemerkt worden. Hauptmann hielt es deshalb für notwendig, für andere Gruppen, wie ζ. B. andere Altersgruppen oder das ,andere Geschlecht', ähnlich gute, gleichartige und umfangreiche Beobachtungsreihen anzustellen. Auch bei Kranken sollten sorgfältige Untersuchungen vorgenommen werden. Dies könne ebenfalls zur Klärung der Verhältnisse beitragen. Von einer einfachen Abänderung des vorhandenen Zahlenmaterials, also die einfache Anpassung an hypothetisch angenommene andere Faktoren bzw. Bedingungen, riet er ab. 3 Aber auch wenn für jede ,Individuengruppe' ein Normotypus ermittelt worden war, bedeutete dies nicht, daß damit Allgemeingültigkeit beansprucht werden konnte. Der Normotypus war keine konstante, sondern eine variable Größe. Die Norm - insbesondere die auf Durchschnittswerten beruhende - änderte sich auch mit der Zeit: Michelsson 29
Vgl. KAUP 1922, 192. ,Heterogen' bezieht sich hier nicht auf die Unterscheidung zwischen Genotypus und Phänotypus, sondern auf die Kriterien ,männlich', Jung' und ,wohlgewachsen'.
30
KAUP 1922.
31
V g l . KAUP 1922,
32
In diesen Zusammenhängen wird auch immer wieder auf die 110.000 Rekruten aus allen deutschen Gebieten verwiesen, die Schwiening untersucht hatte; vgl. RAUTMANN 1923, 123-127.
33
Vgl. HAUPTMANN 1925, 2462. In der Praxis wurde dann aber doch verglichen. Günther hat in seiner Untersuchung Zahlen, die an Engländerinnen erhoben worden waren, berücksichtigt. Er hat sie in Beziehung zu den Ergebnissen der,normalen' Männer gesetzt. So brachte die Vermessung „weiblicher Individuen im Alter von 3 - 2 3 Jahren" die Erkenntnis, daß „beim weiblichen Geschlecht die Variationsbreite größer ist, daß die mittlere Abweichung und der Variationskoeffizient höher sind":
190. 190.
GÜNTHER 1 9 2 6 . 721.
60
Karin
Stukenbrock
wies darauf hin, daß in den letzten Jahren in allen Ländern eine Zunahme der Körpergröße bei den Musterungsuntersuchungen festgestellt worden war. Er führte dies auf die veränderten hygienischen Verhältnisse zurück und hielt es deshalb für notwendig, die Tabellen in regelmäßigen Abständen zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. 34 Dem widersprach Berliner, indem er diesen Aufwand als „nicht zu bewältigende Sisyphusarbeit" 3 5 bezeichnete. Er bezog sich auf die Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg, als er feststellte, daß durch die täglich wechselnde Lebensmittellage das durchschnittliche Gewicht ständigen Schwankungen unterliege. Deshalb sei es schwierig, den Ernährungszustand einzelner Individuen auf der Grundlage der durchschnittlichen Größenund Gewichtswerte zu beurteilen. Viel präziser sei der sich jetzt langsam durchsetzende Index der Körperfülle: Das ist ein Index, „der fur jedes Alter und jede Grösse bei jedem Gewicht den Zustand der Körperfülle, also den Ernährungszustand eindeutig wiedergibt, indem die Formel die Körperlänge und das Körpergewicht in ein bestimmtes Verhältnis setzt." 36 Dadurch sei diese Formel unabhängig von äußeren Schwankungen und gebe die Situation der einzelnen Individuen bezüglich der Körperfülle exakt wider. Unabhängig davon, ob mit Tabellen, Formeln oder Indizes gearbeitet wurde, man betrachtete das Individuum jeweils in Abhängigkeit zur Gruppe. Das Individuum stand nicht für sich allein da, sondern in Relation zur Gesamtheit. Die verschiedenen Untersuchungen und Messungen der einzelnen Individuen dienten dazu, die Gesamtheit zu erfassen. Im Zentrum des Forschungsinteresses stand dabei der .typische Normalmensch', der als Maßgabe für die einzelnen Individuen stehen sollte. Dabei kam es nicht darauf an, ob der normale Durchschnittsmensch wirklich existierte oder lediglich eine Fiktion war, deren Relevanz auf der Wissenschaftsebene verblieb. Es ging bei jedem zu untersuchenden Faktor darum, festzustellen, „wie sich der gleiche Faktor beim Durchschnitt der Menschen verhält." 37 Trotz der genannten Probleme bei den unterschiedlichen Verfahrensweisen arbeitete man mit den Ergebnissen. Die errechneten Werte und Zahlen sollten den praktisch tätigen Medizinern ein Leitfaden für die Beurteilung ihrer Patienten sein, und gleichzeitig sollten die Praktiker anhand ihres Erfahrunjpwissens die Ergebnisse überprüfen und ihre Brauchbarkeit in der Praxis beurteilen. 8
34
V g l . MICHELSSON 1 9 2 4 , 4 3 3 .
35
BERLINER 1 9 2 1 , 5 9 .
36
BERLINER 1921, 59. Zum Index für Körperfülle als Maß des Ernährungszustandes vgl. auch ROHRER
1921.
37
B O R C H A R D T 1 9 2 3 , 11 Of.
38
Vgl. HAUPTMANN 1925, 2462.
61
Individuum oder Gruppe
Der medizinisch-praktische Blick: Individuum oder Gruppe Zum Schluß stellt sich die Frage, was die Ärzte als praktisch tätige Mediziner mit den Vorgaben der Ergebnisse der Messungen in den verschiedenen Tabellen und Indizes in ihrer täglichen Praxis mit den Patienten anfangen konnten bzw. wie sie damit umgingen. Louis Radcliffe Grote (1886-1960), ein Kliniker aus Halle, lehnte das Konzept des typischen Normalmenschen' für die praktische Medizin ab. 39 Er unterschied deutlich zwischen der Medizin als Wissenschaft und der praktischen Medizin am Menschen. Nach seiner Auffassung gab es kardinale Unterschiede zwischen beiden Bereichen. Während die Wissenschaft versuche, Strukturen zu erkennen und festzulegen, beschäftige sich der Arzt mit dem Menschen als Einzelwesen. Statistische Normen seien zwar wichtig, um Phänomene zu erkennen und einzuordnen, darüber hinaus hätten sie allerdings keine Relevanz. Die reine Wissenschaft sei Selbstzweck und habe kein anderes Ziel als das Erkennen. Die praktische Medizin dagegen müsse andere Ziele verfolgen. Ihre Aufgabe sei es nicht zu wissen, sondern zu handeln. Daraus folgte für ihn, daß „reine ärztliche Tätigkeit nicht Wissenschaft sein kann. Man mißversteht den Arzt, wenn man ihn für einen Wissenschaftler hält, und man begreift nicht den Sinn und die Möglichkeiten der Wissenschaft, wenn man ihr die Lösung der ärztlichen Handlungsprobleme zutraut." 4 0 Die unterschiedlichen Bezugspunkte - das Individuum für den Arzt und die Gruppe für den Wissenschaftler - waren nach Grote wesentliche Aspekte, die beide Bereiche trennten. Für ihn hatte der Arzt mit „Objekten zu arbeiten, die Individualgeltung" 41 besaßen. Jedes Individuum sei einzigartig und nicht reproduzierbar, insofern habe die ärztliche Tätigkeit einen völlig singulären Charakter. 42 Es komme für den Arzt darauf an, das menschliche Einzelwesen vollkommen zu erfassen und zu begreifen. Das sei der Wissenschaft nicht möglich, da sie sich auf die rationale Erscheinungsseite der Menschen beschränke. Jedes Individuum habe jedoch irrationale Anteile, die allein mit der Ratio nicht zu begreifen seien. 43
39
V g l . G R O T E 1 9 2 2 ; DERS. 1 9 2 3 . V g l . a u c h B Ü T T N E R 1 9 9 7 , 2 8 .
40
G R O T E 1 9 2 2 , 3 6 3 ; v g l . a u c h DERS. 1 9 2 3 ,
41
GROTE 1 9 2 2 , 3 6 2 .
199.
42
V g l . GROTE 1 9 2 2 , 3 6 4 f .
43
Vgl. GROTE 1922, 362f. D i e s e individualistische Sichtweise führte Grote zu der Feststellung, daß ein Arzt im Prinzip kein Rassenhygieniker sein kann. Der Arzt sollte sich lediglich um den M e n schen kümmern, der gerade vor ihm steht, und versuchen, ihm zu helfen. D i e s e p r i m i t i v e A u f g a b e ' lasse es für den Arzt nicht zu, sich um das zukünftige M e n s c h e n g e s c h l e c h t zu bemühen, noch bestimmten M e n s c h e n von vornherein die Hilfe zu verweigern; vgl. GROTE 1922, 371.
62
Karin
Stukenbrock
Aus diesen Gedanken heraus entwickelte Grote sein Konzept der Responsivität. Nicht eine außerhalb der Person liegende Normalität, sondern die persönliche Normalität eines Individuums sei die Referenz für ihren Zustand: „Nicht ein errechenbarer Durchschnitt der Erscheinungsformen, nicht ein fiktionales Vorstellungsgebilde, das nur eine mittelbare Beziehung zu der in Frage stehenden Person hat, sondern ihr Normalzustand, ihr Gesundheitszustand ist das Vergleichsmoment." 4 4 Jeder Mensch wird dadurch der Maßstab für seine eigene Normalität. Gesundheit ist demnach nichts in sich Starres und „eine bei allen Menschen in der gleichen Form wiederkehrende Erscheinung, sondern ihre Inhalte wechseln, die physiologischen Äußerungen sind individual verschieden." 4 5 Für das ärztliche Handeln folgt daraus, daß es nicht darauf ankommt, den Abstand der jeweiligen Erscheinung von der statistischen Norm festzustellen, der Maßstab der Therapie ist vielmehr der Grad der persönlichen Beeinträchtigung. Das Konzept Grotes und seine Forderung nach der Beobachtung des Einzelfalls in seiner Gesamtheit führt unmittelbar zu der den praktischen Ärzten von den Wissenschaftlern zugewiesenen Aufgabe, die erhobenen statistischen Normen in der Praxis zu überprüfen. Neben den bereits erwähnten Rekruten kamen Anfang des 20. Jahrhunderts die Schulkinder als mögliche Probanden für Reihenuntersuchungen dazu. In dieser Zeit richtete man die ersten kommunalen Schularztstellen ein. Für großes Aufsehen hatte 1896 eine Reihenuntersuchung von 7.000 Schülern in Wiesbaden gesorgt. Die Untersuchung stellte insofern ein Novum dar, als hier erstmalig der allgemeine Gesundheitszustand überprüft wurde. Als Ergebnis kam heraus, daß 25 % der Kinder einer ärztlichen Behandlung bedurften. In Wiesbaden stellte man daraufhin vier Schulärzte ein, um die Schüler und Schülerinnen für die Dauer ihres Schulbesuches zu überwachen. Das Wiesbadener System wurde zum Modell: 1910 verfügten bereits mehr als 6 0 % der Gemeinden im Deutschen Reich über entsprechende Stellen. 46 Die Einrichtung der kommunalen Schularztstellen brachte hinsichtlich der Normierungstendenzen zweierlei: Zum einen waren die Schulkinder im Gegensatz zu den Rekruten eine relativ heterogene Gruppe. Man hatte hier erstmalig die Möglichkeit, Gesamtpopulationen zu vermessen. Die Auswahl beschränkte sich nicht auf besonders großgewachsene männliche Probanden mit gut ausgebildetem Knochenbau, sondern alle Kinder konnten jahrgangsweise vermessen werden. So war es möglich, eine Norm aufzustellen, die sich an den Individuen orientierte, die ohne Einflußnahme durch äußere Kriterien vorhanden waren. Vorherrschend war demnach nicht das Merkmal einer getroffenen Vorauswahl. Die Gruppe der Schulkinder repräsentierte vielmehr die in der Gesellschaft vorhandene Vielfalt. Genau daraus ergaben sich zum anderen Konsequenzen für die Überprüfung der Norm. Die bisher aufgestellten statistischen Normen konnten jetzt auf der Basis der heterogenen Populationen überprüft werden. Das Beispiel des Index der Körperfülle zeigt, daß man eine solche Überprüfung für notwendig hielt. Obwohl man den Index - wie oben gezeigt - für besonders aussagekräftig und exakt hielt, bereitete die Anwendung in der Praxis erhebliche Schwierig44
GROTE 1922.
372.
45
GROTE 1922,
374.
46
Vgl.
LILIENTHAL
1999, 127;
PIECHOCKI
1979, 6 2 - 6 5 .
Individuum
oder
Gruppe
63
keiten, deshalb forderte der schulärztliche Dienst „dringendst eine Prüfung und Klarstellung." 47 Hier wird die Doppelbedeutung der schulärztlichen Reihenuntersuchungen ganz offensichtlich: Die bisher angenommenen Normen konnten in der Praxis angewendet werden und gleichzeitig bot sich die Möglichkeit, neue Normwerte zu ermitteln. Der Index für die Körperfülle spielte insbesondere im Zusammenhang mit der sogenannten Quäker- oder Amerika-Speisung in den Jahren kurz nach dem 1. Weltkrieg eine Rolle. Sie war eine aus den USA finanziell unterstützte Speisung derjenigen Schulkinder, die als unterernährt eingestuft worden waren. Die Auswahl dieser Kinder orientierte sich an eben jenem Index für die Körperfülle. Allerdings brachte die Speisung nicht den Erfolg, den man sich von ihr erhofft hatte. Viele Kinder nahmen nur unwesentlich oder gar nicht zu. Meinhard von Pfaundler (1872-1947), ein an der Auswahl der Kinder für die Speisungen maßgeblich beteiligter Pädiater, kritisierte daraufhin die Gültigkeit des Index und stellte die Frage, was dieser Index tatsächlich leisten könne. Nicht die Proportionen, sondern die Funktionen seien ausschlaggebend. Nach seiner Meinung sollten die „satten untervollen" Kinder, d. h. diejenigen, die zwar nach dem Index unterernährt wirkten, aber nicht hungerten und nicht in der Funktion litten, nicht mehr zur Speisung zugelassen werden - dann würde man auch bessere Ergebnisse erzielen. 48 In der Quintessenz forderte Pfaundler die Berücksichtigung der Gesamtsituation des Kindes und die Beobachtung des Einzelfalles. Außerdem gab er zu bedenken, daß die Norm keine feststehende Größe war, sondern auch von äußeren Bedingungen abhing. So war beispielsweise die Ernährungssituation vor dem Krieg besser als nach dem Krieg, so daß die Kinder in den 1920er Jahren im Durchschnitt weit unter der vor dem Krieg aufgestellten Norm hinsichtlich Größe und Gewicht blieben. Das ist ein Problem, das grundsätzlicher Natur war und im Zusammenhang mit der Normierung immer wieder auftauchte. Der Erfolg der Speisungs- und Erholungsmaßnahmen ließ sich nur schwer kausal nachweisen. Die Kinder waren durchweg in einem Alter, in dem sich der Körper beispielsweise durch Wachstumsschübe ständig veränderte. Ob eine Veränderung des Index durch einen Wachstumsschub bedingt war oder aufgrund einer Gewichtszunahme durch die Speisung erfolgte, ließ sich kaum entscheiden. Trotz dieser Probleme stellte Pfaundler im Gegensatz zu Grote die Anwendung des Index nicht grundsätzlich in Frage. Beide forderten zwar die Beachtung der individuellen Bedingungen, doch während Grote den Durchschnittsnormwert als wissenschaftliches Denkmodell und damit für die Praxis als irrelevant einstufte, war Pfaundler auf der Suche nach einem Durchschnittsnormwert, der die individuelle Situation mitberücksichtigte. Pfaundler sah das Individuum im Verhältnis zur Gesamtpopulation, Grote dagegen als losgelöst davon. Trotz der aufgezeigten Probleme mit dem Konzept des .typischen Normalmenschen' orientierte sich sowohl die wissenschaftliche als auch die praktische Medizin an diesen Vorstellungen und arbeitete damit. Die Methoden und das Recheninstrumentarium wurden verfeinert und damit die Suche nach dem f o r m i e r t e n Menschen' intensiviert. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war allerdings das Individuum noch nicht aus 47
KAUP
48
Zur Kritik Pfaundlers am Konzept des Körperfülle-Index vgl. PFAUNDLER 1921.
1921,977.
64
Karin
Stukenbrock
dem Blickfeld der Mediziner geraten. Ein Zitat v o n H. Rautmann, e i n e m der herausrag e n d e n Vertreter der Einführung der statistischen Methoden in die Medizin, m a g dies belegen: „Wir halten jetzt die Fähigkeit, die Besonderheiten des einzelnen Krankheitsfalles richtig zu erfassen, mit Recht für eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein guter Arzt besitzen muß. D e n n nur durch möglichst richtige Erfassung der e i n e m Kranken eigentümlichen körperlichen und geistigen Beschaffenheit g e w i n n e n wir ein möglichst v o l l k o m m e n e s Verständnis für seine Persönlichkeit, die letzten Endes immer die Grundlage sein muß, v o n der wir bei unseren Heilmaßnahmen ausgehen." 4 9
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PlECHOCKl,
Medizini-
Beiträge der Martin-
RAUTMANN, H., Untersuchungen über die Norm: Ihre Bedeutung und Bestimmung ( V e r ö f f e n t lichungen aus der Kriegs- und Konstitutionspathologie 6), Jena 1921. —, Konstitutionsforschung und Kollektivmaßlehre, in: Zeitschrift für Konstitutionslehre (1923), 115-135.
IX, Heft 2
ROHRER, F., Der Index der Körperfülle als Maß des Ernährungszustandes, in: Münchener Wochenschrift 68 (1921), 580-582.
Medizinische
SEYDEL, H., Statistik in der Medizin. Ein Entwurf zu ihrer Geschichte (Kieler Beiträge zur der Medizin und der Pharmazie 15), Neumünster 1976.
Geschichte
Der Blick auf das Individuum
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle Zur Rezeption von Pilgerreisen nordischer Herrscher im 12. Jahrhundert Von Klaus Krüger (Halle) Die Männer, die am seekundigsten waren, sagten, daß man bei südlichem Kurs stets zur Linken Land finden werde, wie man auch segle, ausgenommen im Njörvasund, der die Einfahrt nach Rom sei, und Rom liege in der Mitte der Welt. Frans G. Bengtsson, Röde Orm
1. Reisen als kulturelle Leistung der Nordeuropäer Lange und weite Reisen gelten als ein Charakteristikum der nordeuropäischen Völker im hohen Mittelalter. Fest verankert im allgemeinen Bewußtsein sind die Wikingfahrten, die Krieger aus den skandinavischen Ländern seit dem achten Jahrhundert periodisch unternahmen, um die Küsten der Ost- und Nordsee sowie des nördlichen Atlantik heimzusuchen. Sie plünderten, brannten und nahmen Gefangene zu Sklaven, trieben aber auch friedlich Handel, mit ihren heimischen Produkten wie mit Raubgut. Fernreisen brachten sie über den atlantischen Ozean bis Grönland und Neufundland, ins
Eine kürzere Version dieses Textes wurde unter dem Titel „Skalden auf der Fahrt nach Jerusalem Z u m Bericht über die Pilgerreise des Rögnvald Jarl ins heilige Land (1148/53)" als Vortrag auf dem Habilitationskolloquium vor der Philosophischen Fakultät der Universität Jena am 19. Dezember 2000 und in einer leicht erweiterten Fassung vor dem Oberseminar der dortigen Lehrstühle für Mittelalterliche Geschichte und Thüringische Landesgeschichte am 7. Februar 2001 gehalten. Ich danke den Teilnehmern an den jeweiligen Diskussionen, insbesondere Birte Schubert, Stefan Tebruck, Helmut G. Walther und Matthias Werner (alle Jena), Enno Bünz (Leipzig), Dietrich Kurze (Berlin) und Jörn Staecker (Lund).
Klaus
70
Krüger
Mittelmeer bis Sizilien, über die russischen Ströme und das Schwarze Meer bis Byzanz.' Diese Art des Kulturtransfers ist erkannt und wiederholt gewürdigt worden, wie überhaupt die kulturelle Leistung des Reisens in Mittelalter und früher Neuzeit innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte vermehrt ins Blickfeld der historischen Forschung gerückt ist. 2 Dabei richtet sich das Interesse vor allem auf das Phänomen des ,Unterwegsseins', das dem Zeitgenossen die Möglichkeit zu einer freien, unbefangenen Wahrnehmung des Fremden und Unbekannten geboten habe. Schließlich wird das Reisen neuerdings - ebenso wie andere Formen eines großzügigen Umganges mit Raum und Zeit - auch als Beitrag zur Hebung des sozialen Ansehens begriffen. 3 Ein besonderer Stellenwert kommt dabei der Wallfahrt zu, deren prominenteste Ziele im Mittelalter Rom, Santiago de Compostela und natürlich das Heilige Land waren. 4 Über diese Reisen, ausgehend von Mittel- und Westeuropa 5 , sind wir durch die große Zahl an spätmittelalterlichen Reiseführern und Pilgerberichten vergleichsweise gut informiert. Wie Dietrich Huschenbett jüngst formulierte, „entwickelt sich seit dem 14. Jahrhundert [...] die Literatur von den hl. Stätten in Palästina und von dem Weg dahin." 6 Tatsächlich aber liegen volkssprachige Berichte dieser Art bereits aus der Mitte des 12. Jahrhunderts in nennenswerter Zahl vor, und zwar auch aus dem nordeuropäischen Kulturkreis. Eine Beschreibung Jerusalems aus der Zeit um 1150 etwa gibt in altnordischer Sprache genaue Maßangaben der Grabeskirche 7 , wie das später für geplante Nachbauten üblich wurde. 8 Ein Reisebericht im eigentlichen Sinne ist das allerdings nicht, da der Text keine Angaben zum Verfasser macht, möglicherweise auch Nachrichten verschiedener Reisender zusammenfaßt, um künftige zu informieren. Dennoch 1
Die Wikinger erfreuen sich seit einiger Zeit wieder großer Beliebtheit, wie Ausstellungen und übergreifende Publikationen zeigen; vgl. zuletzt: ROESDAHL 1992; BATEY/JESCH/MORRIS 1995;
2
Vgl. MORAW 1992; PARAVICINI 1993; REICHERT 2001. Als ,kulturelle Praxis' betrachtete Karin HLAVIN-SCHULZE (1998) das Reisen: ein anregendes Buch, das aber - zumindest in den Abschnitten zum Mittelalter - oft klischeeverbunden bleibt. So war nach Ansicht der Verfasserin „bis ins 16. Jahrhundert hinein das Reisen von der reinen Notwendigkeit geprägt und erst ab der Renaissance sollte dies sich ändern" (S. 87), eine Auffassung, die wohl als überholt gelten kann.
3
Zum verschwenderischen Umgang mit Raum und Zeit als Ausdruck privilegierter Lebensweise: VEBLEN 1899/1997. - Reisen zur Hebung des sozialen Ansehens: VAN HERWAARDEN 1992.
SAWYER 2 0 0 0 .
4
Vgl.
KRISS-RETTENBECK
&
MÖHLER
1984;
HONEMANN
1991;
SIMON
1991;
BRÜCKNER
1992;
KRÖTZL 1 9 9 2 ; SCHMUGGE 1 9 9 9 ; HUSCHENBETT 2 0 0 0 ; OHLER 2 0 0 0 . 5
Die von Werner Paravicini herausgegebene Bibliographie der Europäischen Reiseberichte des späten Mittelalters verzeichnet in ihren drei Bänden die deutschen, französischen und niederländischen Texte dieser Gattung: PARAVICINI 1994, 1999, 2000.
6
HUSCHENBETT 2 0 0 0 ,
7
AM (= Arnamagnäische Sammlung Kopenhagen) 194 mit Ergänzungen aus AM 736,1. Auszugsweise Edition mit engl. Übersetzung des Abschnitts zur Grabeskirche bei KEDAR & WESTERGARDNIELSEN 1978/79, 206-209; zur Einordnung des Textes ebd., 195ff.
8
Zu diesem Themenkomplex neuerdings: EHBRECHT 2001.
121.
Gesehenes
wird Bericht wird Dichtung
wird
Quelle
71
gibt es Ausnahmen, (wenige) echte Reiseberichte, so daß die pauschale Einschätzung Heiko Ueckers, derzufolge in Skandinavien „der Reisebericht als eigene literarische Quelle nicht existiert, sondern nur in fiktive oder historiographische Texte eingebettet ist" 9 , relativiert werden muß. Um eine Art Mittelding, einen ,echten' Reisebericht, der dennoch für einen späteren Gebrauch als Reiseführer verfaßt wurde, handelt es sich etwa bei dem berühmten Leidarvisir (,Wegweiser') von Island über Dänemark und das Reich bis Rom und weiter nach Jerusalem, der Nikuläs Bergsson, dem späteren Abt (1155-59/60) von Munkajwerä im Norden Islands, zugeschrieben wird. 10 Dieser Text, der in eine Weltbeschreibung eingefügt ist, muß zwischen 1149 und 1153 entstanden sein, und er ist in zwei Handschriften aus dem späten 14. Jahrhundert überliefert." Zwar wird deutlich, daß sein Leidarvisir auf einer Reise beruht, die der Verfasser selbst unternommen hat, doch gibt der Text keine näheren Nachrichten über diese Fahrt, etwa zur genauen Zeit oder zur Dauer seines Aufenthalts. Dagegen gibt es Informationen zu Routenvarianten und ähnliche Hilfen für künftige Pilger. Doch auch die oben angeführten historiographischen Texte in den verschiedenen altnordischen Sprachen enthalten eine Fülle an Nachrichten über Reisen. Diese Informationen sind allerdings stets literarisch gebrochen, und so blieb auch deren Rezeption hauptsächlich auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis von Philologen und Literaturwissenschaftlern beschränkt; unter Historikern dagegen haben diese Texte, in die auch frühe Pilgerberichte aus dem nordischen Kulturkreis eingeflossen sind, wenig Beachtung gefunden. 1 " Dabei wissen wir teils aus schriftlichen, teils aus gegenständlichen Quellen 13 , daß bereits vor der Jahrtausendwende Skandinavier im heiligen Land gewesen 9
UECKER 1 9 8 9 , 6 9 .
10
V g l . a u c h LANGE 1 9 5 8 ,
11
A M 194, fol. 1 1 - 1 6 (westisld. Hs„ 1387); A M 7 3 6 II, fol. 1 (ca. 1400). - Dazu: KALUND 1913 (mit
76-81.
dän. Übers.); MEISSNER 1925, 172f.; PAASCHE 1934, 119ff.; MAGOUN 1940, bes. 277ff.; DERS. 1944 (jeweils mit engl. Übers, des Abschnitts zum Romaufenthalt bzw. zur Reise von Island nach Rom); SPRINGER 1 9 4 9 ,
1 0 3 f f ; DAXELMÜLLER & THOMSEN
1978,
1 6 1 ; KEDAR &
WESTERGARD-NIELSEN
1978/79 (mit engl. Übers, des Abschnitts über den Aufenthalt im hl. Land); HILL 1983 (mit engl. Übers, des Abschnitts der Reise von R o m nach Jerusalem); SLMEK 1990, 264ff. (mit Textedition und dt. Übers, auf S. 4 7 8 ^ 9 0 ) ; KJRÖTZL 1993, 166; DERS. 1994, 105f.; VESTEINSSON 2 0 0 0 , 135. 12
Immer noch einschlägig: RIANT 1865; - weiter: JONSSON & JORGENSEN 1923; ANDERSSON 1989; UECKER 1989; LIEBGOTT 1992; KRÖTZL 1994, 99ff., insbesondere 1 0 2 - 1 1 0 .
13
Zu Pilgerzeichen unten, Anm. 82. -
Bereits aus dem 10. Jahrhundert stammen Runeninschriften in
Schweden, die von skandinavischen Jerusalempilgern zeugen. Katalog bei BLÖNDAL 1978, 2 2 3 233. - In Dänemark sind mehrere Grabplatten bekannt, die offensichtlich Pilgern gesetzt wurden. Eine inschriftlose Platte aus der Kirche von Vejerslev auf der Limfjord-Insel Mors, die auf die Zeit um 1200 datiert wird, zeigt einen gerüsteten und behelmten Mann, der ein Kreuz in der erhobenen Rechten hält (heute im Nationalmuseum zu Kopenhagen; Abb. bei LIEBGOTT 1992, 111). V o m Ende des 12. Jhs. sind auch die N a m e n einzelner Pilger durch Grabinschriften überliefert; die kostbarste, die nicht erhalten ist, zierte eine Platte in Sora auf Seeland. Darstellung und Schrift, bekannt durch eine Zeichnung bei PONTOPPIDAN (II, 1741, 155), lassen eine Datierung ins erste Viertel des 14. Jhs. zu. Im Mittelfeld ist ein Mönch in Pilgertracht zu sehen; die Umschrift erklärt, dieser
72
Klaus Krüger
sind 1 4 und seit d e m B e g i n n d e s 11. Jahrhunderts auch nordische Herrscher R e i s e n nach Palästina u n t e r n o m m e n haben. 1 5 A m bekanntesten ist sicher der n o r w e g i s c h e K ö n i g Sigurd M a g n u s s o n ( 1 1 0 3 - 3 0 ) , d e s s e n B e i n a m e Iorsalafäri (,Jerusalemfahrer') v o n seiner mit der K r e u z z u g s b e w e g u n g in Z u s a m m e n h a n g stehenden R e i s e herrührt, die er zu B e g i n n d e s 12. Jahrhunderts unternahm, a n g e b l i c h mit 6 0 S c h i f f e n und 1 2 . 0 0 0 Mann. 1 6 Folgt man Snorris Heimskringla, s e g e l t e Sigurd im Herbst 1107 nach England und überwinterte dort bei K ö n i g Heinrich I. D i e Weiterreise im f o l g e n d e n Jahr führte über Valland nach N o r d s p a n i e n , w o die z w e i t e Ü b e r w i n t e r u n g stattfand. N a c h der E i n n a h m e einer B u r g in G a l i c i e n soll sich Sigurd 1 1 0 9 an einer S e e s c h l a c h t mit einer sarazenischen Flotte vor der s p a n i s c h e n Küste beteiligt haben, w o b e i acht Galeeren erobert w o r d e n seien. D i e F e s t u n g Cintra im heutigen Portugal wurde e i n g e n o m m e n und ihre g e s a m t e B e s a t z u n g hingerichtet, weil sie sich nicht taufen lassen wollte. N a c h der Eroberung v o n Lissabon und A l c a z a r siegten die N o r w e g e r in der Straße v o n Gibraltar über eine weitere Flotte, bevor sie längs der afrikanischen Küste weitersegelten. Eroberungen in Formentera,
Mönch Jonas sei zweimal nach Jerusalem, dreimal nach Rom und einmal nach Santiago gepilgert: Abbati gratus famulus jacet hic tumulatus / Jonas ablatus nobis, sanctis sociatus / Jerusalem repetit bis, ter Romamque revisit / Et semel ad sanctum transiit hic lacobum: R I A N T 1865, 300f.; Abbildung im Katalog zur Ausstellung „Santiago de Compostela. 1000 ans de Pelerinage Europeen": B O N E T C O R R E A et al. 1985. Eine weitere Platte im Windfang der Kirche von Tyrsted (Vejle Amt) zeigt einen Laienbruder am Kloster Esrom, dessen Name Petrus Kaellaere in der Inschrift genannt ist; auch diese stammt vom Beginn des 14. Jahrhunderts: A N D E R S S O N 1989, 154-156. 14
1088 starb Svend Nordbagge, Bischof von Roskilde, während einer Palästinareise auf Rhodos. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts reisten Sven, Bischof von Viborg, und sein Bruder Eskil nach Palästina, wo sie bis zu ihrem Tode blieben. Sven starb 1 1 5 0 März 3 0 ( G A M S 1 8 7 3 , 3 3 2 : inJordaneßuvio), und beide wurden in einer Kapelle, die sie dort hatten errichten lassen, beigesetzt. - Daz u DAXELMULLER & THOMSEN 1 9 7 8 , 1 5 9 ; KRÖTZL 1 9 9 4 , 1 0 3 .
15
Der norwegische Kg. Olaf Tryggvason (995-1000) zog im Jahre 1000 nach Palästina und trat dort in ein Kloster ein. - Harald Sigurdason hardrädi (,der Harte'), Halbbruder des Hl. Olaf und späterer König von Norwegen (1046-66), war von 1034 bis 1043 Führer der Söldner in byzantinischem Dienst; er besuchte Palästina 1034. - 1098 reiste der dänische Kg. Erik Ejegod (1095-1103) auf der Ostroute nach Konstantinopel und über Bari nach Rom zu Urban II., um mit ihm über eine selbständige nordische Kirchenprovinz zu verhandeln. Unterwegs ließ er Hospize für nordische Pilger einrichten. Auf seiner zweiten Pilgerreise ins hl. Land besuchte Erik die skandinavischen Söldner in Konstantinopel; er starb 1103 in der warägischen Garnison zu Paphos auf Zypern und wurde dort beigesetzt. Seine Witwe Botild erreichte Jerusalem, starb später dort und wurde im Tal Josaphat bestattet. - Skandinavische Schiffe unterstützten 1107 den Kreuzzug aus England, Dänemark und Flandern zur Unterstützung Balduins I. von Jerusalem. - Die Orkneyinga saga (ed. NORDAL, Kap. 52) berichtet auch von der Reise Häkon Pälsson Jarls, der 1110/11 über Rom nach Jerusalem reiste. - Dazu B R I N G & W A H L G R E N 1827, 74, 92ff„ 105ff„ 123; M E I S S N E R 1925, 161; P A A S C H E 1934, 119; D E V R I E S 1938, 703f.; B L Ö N D A L 1978, 54-102, 130-133; DAXELMÜLLER & T H O M S E N 1978, 159; K E D A R & W E S T E R G A R D - N I E L S E N 1978/79, 197ff; N A U M A N N 1986, I75f.; LIEBGOTT 1992,
16
Sigurd Jorsalfar Saga (Übers. LAING), 51 ff.
1 1 0 ; HEHL 1 9 9 4 , 3 1 9 f . ; KRÖTZL 1 9 9 4 , 104f.
Gesehenes
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wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
Yvica und Menorca nehmen einen Großteil der Reisebeschreibung ein. 1110 folgte ein langer Aufenthalt beim normannischen Herzog Roger II. (1101-54) in Sizilien, bevor man Askalon, Akko und Jaffa erreichte. 17 Gemeinsam mit König Balduin I. zog Sigurd in Jerusalem ein. Hier erhielt er viele Reliquien zum Geschenk und gelobte die Einrichtung eines Erzbistums in Norwegen. Nachdem er im Dezember 1110 Hilfe bei der Eroberung Sidons geleistet hatte, reiste er über Zypern weiter nach Konstantinopel zu Kaiser Alexios I., wo viele seiner Begleiter als Waräger, Mitglieder der normannischen Palastwache, am byzantinischen Hof blieben. Sigurd ließ seine Schiffe zurück und kehrte auf dem Landwege durch Bulgarien, Ungarn, Pannonien, Schwaben (wo er mit dem späteren Kaiser Lothar III. zusammentraf), Bayern und Jutland zurück nach Norwegen. 1 8 Allerdings ist es dem gleichnamigen Bühnenstück Bjornstjerne Bjornsons (1872) und dessen Vertonung durch Edvard Grieg zu verdanken, daß der Name Sigurd Jorsalfar unsterblich wurde; einen zeitgenössischen Reisebericht als primäre Quelle zu seiner Fahrt gibt es nicht. Von dieser Reise wird in der Saga König Sigurds berichtet, die in der Heimskringla („Weltkreis") des isländischen Dichters, Gelehrten und Staatsmannes Snorri Sturluson (1179-1241) überliefert ist. 19 Diese Chronik der Könige von Norwegen wird nach ca. 1230 datiert, entstand also erst vier Generationen nach dem Ereignis.
2. Sagas und Verse Untersucht man nun das erzählende Quellenmaterial der nordischen Reiche auf zeitnähere Informationen über frühe Pilgerreisen, so wird der Blick schnell auf die Sagaliteratur gelenkt, jene Textgattung, in der mündlich tradierte Geschichtsüberlieferung, hagiographisch geprägte Legenden und märchenhafte Erzählungen zusammengefaßt werden. Im engeren Sinne ist darunter die west-nordische Prosaliteratur von der Mitte des 12. bis in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts zu verstehen, in der historische Ereignisse mitgeteilt werden, die von sagenhafter Vorzeit bis in die jeweilige Gegenwart hinein reichen. 20
17
Nikuläs von Munkafjverä (ed. SIMEK 1990, 483/489) schreibt noch 40 Jahre später: t>a er iaffa hana kristnadi
balduini
lorsala
konungr & sigurdr
konungr magnus son noregs konungr
(„Dann
kommt Jaffa, welches von Balduin, dem König von Jerusalem, und König Sigurd Magnusson, König von Norwegen, bekehrt wurde."). 18
B R I N G & W A H L G R E N 1 8 2 7 , 9 5 f f . ; SPRINGER 1 9 4 9 , 1 2 1 ; N A U M A N N 1 9 8 6 ,
19
Zitiert wird nach der Übers, von LAING. - Zu Snorri zuletzt: KLRNGENBERG 1999.
20
SCHIER 1970, 17: ,.Im Verlauf des 12. Jhs ist [...] die erzählende Prosadarstellung in der Volkssprache eine Domäne der Isländer geworden. In dieser Zeit bildete sich in Island eine künstlerisch hochstehende Schriftsprache heraus, der in Norwegen nichts Gleichartiges an die Seite gestellt werden kann. Zieht man dazu noch in Betracht, in welchem Ausmaß in Island auch Stoffe der Geschichte Dänemarks und der nordatlantischen Inseln (Orkneys und Färöer) adaptiert und in Saga-
182-186.
Klaus
74
Krüger
Zu diesem Kreis, genauer: zur Gruppe der Konungasögur, der ,Königssagas' 2 1 , wird auch die Orkneyinga saga gerechnet. Sie wurde in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in west-altnordischer Sprache wahrscheinlich auf Island verfaßt und ist in einer 22
23
revidierten Version von ca. 1230 überliefert. Ihr namentlich nicht bekannter Autor behandelt die Geschichte der Orkney-Inseln, die im Nordatlantik zwischen der schottischen Küste und den Shetland-Inseln liegen. Zwischen dem 10. und der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts unterstand der Archipel der norwegischen Krone, und die Saga erzählt die Geschichte ihrer Jarle, der vom König eingesetzten Statthalter; diese waren in ihrer Funktion vergleichbar mit den fränkischen Grafen, von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung eher mit tributpflichtigen Kleinkönigen. Als einer der bedeutendsten Jarle der Orkaden - und seine Geschichte nimmt in der Orkneyinga saga den breitesten Raum ein - gilt der Norweger Kali Kolsson ( t 1158), der zunächst 1129 von Sigurd dem Jerusalemfahrer mit einem Teil der Inseln belehnt und als Stellvertreter eingesetzt wurde. 24 Bei dieser Gelegenheit erhielt er nicht nur den Jarls-Titel, sondern auch den Beinamen seines erfolgreichsten Vorgängers, Rögnvald Brusason (f 1046), eines Gefährten des Heiligen Olaf, was als gutes Omen betrachtet wurde. Nach dem Tode König Sigurds gelang es Rögnvald Kali Kolsson 1136, die vollständige Herrschaft über die Orkney-Inseln zu erringen. In der Saga wird der Jarl aber nicht nur als großer Krieger, sondern auch als Verbreiter des Christenglaubens dargestellt, und tatsächlich wurde er 1192, 34 Jahre nach seinem Tode, durch Coelestin III.
form gebracht wurden, erscheint diese literarisch-historiographische Vorherrschaft der Isländer im 12. und 13. Jahrhundert noch erstaunlicher." 21
SCHIER 1970, 10, 20f„ 31 f.
22
Eigentlich: Orkneyinga jarla saga. Die ältesten Handschriften sind in drei Fragmenten überliefert, von denen die größte (18 Blatt) von ca. 1300 stammt ( A M 325 I, 4°). Die älteste Fassung endet mit dem Fall Svein Asleifarsons ca. 1171, die jüngere mit dem Tod des Jarls Jon Haraldsson 1231. Der Teil, der Rögnvalds Jerusalemfahrt und seinen Fall beschreibt, wurde ca. 1165 unter dem Einfluß von Eirikr Oddsons Hyrggjarstykki begonnen. Beendet wurde das Werk in Norwegen vor 1190. Die Schilderung von Rögnvalds Translation (1192) ist selbständig und wohl später hinzugefügt. Textausgaben: JONAEUS 1780: VIGFLISSON 1887; NORDAL 1913-16 (nach dieser Ausg. wird im folgenden zitiert); BAETKE 1924 (dt. Übersetzung); PÄLSSON & EDWARDS 1978 (engl. Übers.). - Daz u : N O R D A L 1 9 1 3 ; G U D M U N D S S O N 1 9 6 7 ; SCHIER 1 9 7 0 , 3 1 ; G U D M U N D S S O N
1995.
23
NORDAL 1913 (und in der Einleitung zur Edition 1913-16) sowie, ihm folgend, MEISSNER 1925, 141 f., bringen die Entstehung der Saga mit dem Umfeld des isländischen Häuptlings Svein Asleifarson ( t 1171) in Verbindung, dessen Stiefsohn Sigmund Angel an der Jerusalemfahrt teilgenommen hatte. Dagegen hält jetzt GUDMUNDSSON 1995 den isländischen Priester Ingimund (T 1189), Präbend in Nidaros und Christchurch, für den Verfasser. Seine Bücher seien gefunden und von Snorri Sturluson ausgearbeitet worden. - Vgl. zum Verfasser unten, Abschnitt 8.
24
Sohn des Kol Kalason, Herr auf Ögthum im westlichen Norwegen. Begegnet erstmals als Begleiter Kg. Harald Gillis ( 1 1 3 0 - 3 6 ) auf dessen Reise nach England. - Erringung der Jarlschaft 1136: Annales regii, 113; Gottskalks Annaler, 321; - dazu RJANT 1865, 244f.; BRING & WAHLGREN 1827, 1 2 3 f f . ; GERING 1 9 1 1 , 4 2 8 ; NEDKVITNE 1 9 8 3 , 2 3 2 ; UECKER 1 9 8 9 , 7 5 f f . ; BRUHN
1995.
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
75 25
wegen seiner Verdienste um die Kirche heiliggesprochen. Für den Heiligen Magnus hatte Rögnvald Kali als Schwestersohn des Inselpatrons eine Domkirche in Kirkwall errichten lassen. 26 Vor allem aber unterrichtet uns der Text der Orkneyinga saga ausfuhrlich über seine zweijährige Reise nach Palästina und an den byzantinischen Kaiserhof, die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen wird. Diese Schilderung soll, gleichsam als Paradigma der in den Sagas überlieferten hochmittelalterlichen Reiseberichte, auf ihren historischen Quellenwert hin untersucht werden. Im Zentrum der Überlegungen werden dabei die sogenannten visur stehen, in direkter Rede wiedergegebene Verse skaldischer Dichtung, die der Verfasser der Saga ausführlich zitiert. Besonderen Raum nehmen dabei die Verse Rögnvalds ein, der selbst als großer Skalde galt.27 Der Text der Saga bildet denn auch über lange Strecken hinweg einen Prosa-Rahmen für die visur des Jarls und weiterer Skalden, die er an seinen Hof gezogen hat. Das Verhältnis zwischen Prosa und Lyrik28 kann dabei als Ansatzpunkt benutzt werden, der Intention und der Entstehung des Textes auf die Spur zu kommen. Auf diese Weise soll die Eignung des Sagatextes als historischer Reisebericht quellenkritisch beleuchtet werden. In der nordistischen Literaturwissenschaft gelten die Strophen zumeist als sogenannte lausavisur (,lose Weisen'), die unterwegs durch die Beteiligten selbst, oftmals aus dem Stegreif, gedichtet worden seien. Sie seien also noch auf der Reise improvisiert und dann mündlich überliefert nach Hause mitgebracht worden. 29 Einige Jahre später
25
Die Kanonisation wurde von Bjarni Kolbeinsson betrieben, einem Verwandten des Jarls und seit 1188 Bischof der Orkaden. Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 104; Annales regii, 120; Gottkalks Annaler, 324; - d a z u DEVRIES 1938, 710; ALMAZAN 1986, 133.
26
Magnus Erlendsson war um 1100 Jarl und Herrscher über einen Teil der Inseln; nach seiner Ermordung durch seinen Rivalen Hakon Paulsson wurde bald von Wundern an seinem Grab berichtet. Etwa 20 Jahre nach seinem Tod wurden seine Reliquien erhoben (Dez. 13) und später nach Kirkwall in die Olafskirche überführt; im selben Jahr 1135 erfolgte die Kanonisation Magnus'. Rögnvald Kali, der Sohn seiner Schwester Gunnhild Erlendsdöttir, errichtete ab 1137 die Domkirche in Kirkwall, die nach ihrer Fertigstellung 1152 dem Magnus geweiht wurde. Hier wurde auch Rögnvald nach seinem Tode beigesetzt.
27
Im 81. Kapitel der Orkneyinga saga (ed. NORDAL) wird berichtet, Rögnvald Kali habe, zusammen mit einem isländischen Skalden namens Hall t>0rarinsson, den Hättalykill verfaßt. Dieser ,alte Schlüssel des Versmaßes', ein nicht erhaltenes theoretisches Werk über die Dichtkunst, habe zur Illustration jedes Metrums fünf Verse enthalten. - Dazu J0NSSON 1912, 53; DE VRIES 1938. 71 Iff.: VON SEE 1 9 7 8 / 7 9 . 9 0 .
28
Das Verhältnis zwischen Prosatext und Strophen ist seit langem ein zentraler Streitpunkt der Skandinavistik: HRUBY 1932; WOLF 1965. - Vgl. v.a. den Streit zwischen den Vertretern der sogenannten Freiprosalehre oder oral-poetry-Theorie (HOFMANN 1971; DERS. 1978/79) und der Buchprosal e h r e (NORDAL 1 9 5 3 ; D E VRIES 1 9 6 3 ; VON SEE 1 9 7 7 ; DERS. 1 9 7 8 / 7 9 ) . -
Allg. zum
Verhältnis
zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: CLANCHY 1993, 260-266, zum Verhältnis zwischen Faktizität und Fiktionalität: HAUG 1994. 29
BUCHHOLZ 1980, 29: „Nach der Vorstellung altnordischer [...] Quellen formte der oft dichterisch begabte Held seine eigenen Taten sogleich oder später zu Versen. Ich glaube, daß hier in der Tat Lebenswirklichkeit vorliegt."' - Ebd., 74: „Die Vorstellung, daß die Protagonisten zu den ihnen
Klaus Krüger
76
habe dann ein Dichter damit begonnen, diese Strophen mit e i n e m Prosatext z u verbinden, der die A u f g a b e hatte, ihre Entstehung zu erklären und sie so zu e i n e m großen Kunstwerk - eben der Saga - zu verknüpfen. 3 0 D i e wortgetreue Rezitation der Strophen innerhalb des mündlichen Vortrags habe dabei zum einem die Höhepunkte der Handlung markiert, zum anderen „als W a h r h e i t s b e w e i s ' " gedient, da die formale Gebundenheit des Verses eine Stabilität der Überlieferung bezeugt habe und somit für die historische Echtheit des Erzählten eingestanden sei. A l s gern genanntes Z e u g n i s dafür wird die A u s s a g e Snorri Sturlusons angeführt, der in seiner literaturtheoretischen A b handlung, der sogenannten ,Jüngeren Edda' (nach 1220), die A u f g a b e der Strophen darlegte, als historische B e l e g e zu dienen. 3 2 D i e hier zusammengefaßten Überlegungen sollen im f o l g e n d e n auf ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt hin untersucht werden, w o z u exemplarisch die Schilderung der genannten Palästinafahrt des Rögnvald Kali herangez o g e n wird.
passend erscheinenden Gelegenheiten Verse improvisierten, ist in der a[lt]n[ordischen] Literatur so verbreitet, daß sich Lebenswirklichkeit dahinter verbergen muß." - Dagegen postuliert Klaus VON SEE 1977, 78, „daß viele der sog. lausavisur eigentlich Bestandteile von - vielleicht nicht immer kunstvoll gegliederten, aber doch in sich geschlossenen - Gedichten waren." 30
Damit gehört die Orkneyinga saga zu den frühesten schriftlich fixierten Sagatexten. Klaus VON SEE 1977, 58, hält dafür, daß die altnordische Literatur „zwar bis in die Anfänge der Wikingerzeit zurückzureichen scheint, aber erst seit der Mitte des 12. Jahrhunderts, meist erst im 13./14. Jahrhundert, aufs Pergament gekommen ist". Und „den relativ großen Anteil der Prosa im Altnordischen" fuhrt er auf den Umstand zurück (VON SEE 1978/79, 83f.), „daß der Norden erst ziemlich spät mit der Schriftkultur des Südens und Westens in Berührung kommt und daher nicht mehr den Anschluß an die dortige Tradition der großen Versepik findet. [...] Und so entwickelt sich, als mit der Schriftlichkeit seit dem 12. Jahrhundert vorwiegend Prosatexte zum Norden kommen, eine epische Literatur in Prosa, die schon deshalb von vornherein der Volkssprache zuneigt, weil auch im ,nichtfiktionalen', im juristischen Bereich das Latein keinerlei Tradition hat." - Vgl. demgegenüber das Referat der allg. Einschätzung bei ANDERSSON 1969, 9: „stanzas, which are normally assumed to be the work of tenth and eleventh century skalds transmitted orally until they were recorded by the thirteenth century saga author."- Zum Prosatext HOFMANN 1971, 159: „viele [Sagas] sind in der Tat deutlich für das Pergament verfaßt."
31
BUCHHOLZ 1980, 29 (Zitat), 68ff. - So seien die Strophen das Gerüst der Königsgeschichte gewesen; „für die übrigen hervorragenden Isländer der Vergangenheit ergab sich ein Darstellungsmodell, auch wenn dann das Biographisch-Historische in den Hintergrund treten konnte", so WOLF 1965, 461f ; vgl. auch NORDAL 1953,211 passim.
32
V g l . WOLF 1 9 6 5 , 4 6 1 .
Gesehenes
wird Bericht wird Dichtung
wird
Quelle
77
3. Utferp - Die Ausfahrt Diese Reise fallt in die Jahre 1151 bis 1 15 3 33 , die Zeit kurz nach dem Scheitern des zweiten Kreuzzugs unter der Führung des Staufers Konrad III. und Ludwigs VII. von Frankreich. An einigen Aktionen, die im Zusammenhang mit dieser Unternehmung standen, waren auch Skandinavier beteiligt; so waren Schiffe aus den nordischen Reichen in jener Flotte von 200 Fahrzeugen vertreten, die 1147 nach Portugal gekommen war, um König Alfons I. bei der Rückeroberung Lissabons zu unterstützen. Und auch in Nordeuropa gab es Veränderungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kreuzzugsbewegung standen: Im Juni 1152 traf in Norwegen der päpstliche Legat Nicolas Breakspeare, Kardinal von Albano (der spätere Papst Hadrian IV.) ein, der im Auftrag Eugens III. den nächsten Kreuzzug predigen sollte und das Erzbistum Nidaros (Trondheim) errichtete. 34 Im Text der Saga werden diese Ereignisse nicht ein einziges Mal erwähnt. Viel Raum dagegen widmet der Verfasser dem Besuch des Orkaden-Jarls in Bergen, der den Anstoß zu der Reise geben sollte. 35 Rögnvald Kali verbringt den Sommer 1148 am Hofe des norwegischen Teilkönigs Ingi Haraldsson ( 1 1 3 6 - 6 1 ) , und er gilt offensichtlich als der bedeutendste unter den anwesenden Gästen. Diese Idylle, die der Jarl sehr zu genießen scheint, wird gestört, als der Wikinger Eindriöi ungi (,der Junge') aus Miklagärd eintrifft; hier, also in Konstantinopel, hatte er lange Zeit als Führer der normannischen Waräger gedient. Dieser Glücksritter 36 erzählt in Bergen von seinem 33
Die absolute Datierung kann sich nicht auf den Text selbst stützen, der lediglich vereinzelte Tagesdaten gibt. Da eine zweijährige Dauer der Reise aus der relativen Datierung innerhalb der Saga als ziemlich sicher anzunehmen ist, bleiben als Varianten nur der Zeitraum vom Sommer 1151 bis Spätherbst 1153 oder der entsprechende Zeitraum in den Jahren 1152 bis 1154. Der Text nennt als Datum des Tages, an dem die Pilger im Jordan baden, St. Laurentii (August 10). Da an diesem Tag des Jahres 1153 nach langer Belagerung die Einnahme von Askalon gelang, von der die Saga nichts berichtet, plädieren wir mit dem Großteil der Forscher für eine Frühdatierung. Die Pilger hätten dann am 10. August 1152 den Jordan erreicht und wären ein Jahr darauf, zur Zeit des Falls von Askalon, bereits wieder in Norwegen gewesen. Dagegen stützen etwa BRING & WAHLGREN 1827, 126, ihre Spätdatierung gerade auf diese Episode, indem sie das Bad im Jordan in eine direkte Beziehung zur Einnahme von Askalon setzen wollen und so versuchen, eine Beteiligung der Norweger daran nachzuweisen. - Auffällig ist jedenfalls die verhältnismäßige Dichte an Quellenmaterial, die diese Zeit unmittelbar nach dem zweiten Kreuzzug in Bezug auf skandinavische Reisen hervorgebracht hat; vgl. zum Leidarvisir des Nikuläs Bergsson oben, Anm. 7, zur Beschreibung Jerusalems durch einen unbekannten Verfasser Anm. 8; vgl. auch Anm. 14 zur Reise des Viborger Bfs. Sven und seines Bruders Eskil nach Palästina.
34
Vgl.
BRING &
WAHLGREN
1827,
123;
RIANT
1865,
249;
PAASCHE
1934,
122;
SKOVGAARD-
PETERSEN 1 9 9 7 . 35
Orkneyinga
36
Dieser Begriff (soldat de fortune) bereits bei RIANT 1865, 245. Zu Eindriöi vgl. DE VRIES 1938, 701 f.; BLÖNDAL 1978, 150ff. Demnach hat dieser möglicherweise bereits 1121 in Diensten des Kaisers gestanden; er wäre dann zum Zeitpunkt der hier geschilderten Ereignisse ein altgedienter Offizier in leitender Position gewesen. - Zu den Warägern auch FUGLESANG 1997.
saga (ed. NORDAL), Kap. 85.
Klaus Krüger
78
Aufenthalt im Orient, seinen Taten im Sold des byzantinischen Kaisers Johannes II. (1118—43) und d e s s e n S o h n e s und N a c h f o l g e r s Manuel I. ( 1 1 4 3 - 8 0 ) , insbesondere aber v o n s e i n e m B e s u c h in Jerusalem. Damit fesselt er die Aufmerksamkeit am H o f e , nicht zuletzt die des Königs, und Rögnvald Kali fühlt sich zurückgesetzt, w i e die Saga deutlich erkennen läßt. Schließlich provoziert ihn Eindriöi rundheraus; seine Sticheleien sind in wörtlicher Rede wiedergegeben: Es wundert mich, Jarl, daß du nicht nach Jerusalem hinausfahren willst, sondern dir bloß von den Begebenheiten erzählen läßt, die von dort zu berichten sind. Das ist der rechte Platz für Männer von deinen Fähigkeiten. Du wirst hoch geehrt werden, wenn du dort mit den würdigsten Männern zusammentriffst37 D i e U m s t e h e n d e n pflichten ihm sofort bei und erklären, selbst mitreisen zu w o l l e n , w e n n Rögnvald die Führung übernehmen würde. 3 8 D e m Jarl bleibt nichts anderes übrig, als seine Bereitschaft zu der Fahrt zu erklären - eine Verpflichtung, die in der norwegisch-isländischen Gesellschaft einem Gelübde gleichkommt. Im folgenden werden die skipstionarmenn (,Steuermänner') benannt, die das K o m m a n d o über j e w e i l s ein oder mehrere S c h i f f e erhalten. 3 9 Eindriöi der Junge soll als Wegekundiger ein e i g e n e s B o o t fuhren, und auch Wilhelm, B i s c h o f v o n Kirkwall auf Orkney, erhält das K o m m a n d o über ein e i g e n e s Schiff. Er wird als Parisklerkr bezeichnet, hat demnach in dieser Stadt studiert. D i e s befähigt ihn zum Dolmetscher, denn man spricht Französisch im Kreuzfahrerkönigreich. 4 0 Konfliktfrei verlaufen diese Vereinbarungen über die Vorbereitung
37
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 85, 215: „t>at picki mer undarligt, iarl, er pu vill eigifara ut i lorsalaheim, ok hafa eigi sagnir einar til peirra tidenda, er padan eru at segia. Er slikum monnum bezst hent par, sakir ydvara lista; muntu par bezst virdr, sem pu kemr med tignum monnum. "
38
Eine ganz andere Lesart bieten die Morkinskinna (Übers. ANDERSSON & GADE), Kap. 95, 389, und die Heimskringla Snorris (Übers. LAING), Kap. 17, 357f.: beide Texte berichten übereinstimmend, Erling skakki und Eindriöi ungi seien zunächst aus eigenem Antrieb nach Jerusalem aufgebrochen. Erst unterwegs, bei einem Aufenthalt auf den Orkneys, hätten sich ihnen Rögnvald Kali und Bischof Wilhelm angeschlossen, um gemeinsam nach Süden zu reisen.
j9
Außer Rögnvald Kali, Eindriöi ungi und Wilhelm von Kirkwall sind dies: Erling Ormsson skakki (,der Schiefe', vgl. Anm. 47), Aslak Erlendsson von Herney, GuJj^orm Mjölukollr von Haderland, Magnus Havardsson, Svein Hroaldsson von Wik und fünf nicht namentlich Genannte. - Weitere prominente Begleiter sind Thorbjörn svarti (,der Schwarze'), der unterwegs in Akko stirbt, der Lotse Audun raudi (,der Rote'), der Schiffsbauer und Schwager Rögnvalds Jon Petrsson föt (,Fuß'), der in Konstantinopel ermordet wird, sowie Sigmund Andresson Aungüll (,Angel').
40
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 85, 224: Iarl hafpi ok Vilialm byskup i bopi sinu of iolin ok marga gepinga sina. Pa gerpi hann ok bert of rapagerpir sinar, at hann cetlapi or landi ok ut til lorsalaheims. Bap hann byskup til ferpar mep ser; byskup var Parisklerkr, ok villdi iarl einkum, at hann vceri tulkr peira. Byskup het ferpinni. („Der Jarl bewirtete auch Bischof Wilhelm über das Weihnachtsfest, und viele seiner Hauptleute. Da verkündete er auch seinen Plan, auszuziehen und Jerusalem zu besuchen. Er bat den Bischof, ihn zu begleiten; der Bischof war ein Paris-Geistlicher, und der Jarl wollte gern, daß er ihm dolmetschte. Der Bischof versprach, mitzukommen."). - Bischof Wilhelm starb 1168 nach angeblich 66, wahrscheinlicher 31, Amtsjahren: RIANT 1865, 247, A n m . 1; GAMS 1 8 7 3 , 2 4 1 ; ANDERSSON 1 9 6 9 , 14.
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
79
der R e i s e nicht, vielmehr deuten sich bereits jetzt die bevorstehenden Spannungen z w i schen Rögnvald und Eindriöi an. U m diese zu entschärfen, werden als potentielle Streitpunkte Fragen des Sozialprestiges geregelt: es wurde verabredet, daß niemand von ihnen ein Schiff mit mehr als 30 Ruderräumen haben sollte, außer dem Jarl, und keiner sollte ein verziertes Schiff haben außer ihm. Das sollte deswegen so sein, damit keiner den anderen darum beneidete, daß der eine ein besser bemanntes oder geschmücktes Schiff hätte als der andere4' D i e S c h i f f e als sichtbares Symbol für Reichtum, Macht und Prestige genießen nicht nur die besondere Aufmerksamkeit der Beteiligten, sondern auch die des Saga-Dichters. Liebevoll beschreibt er das Drachenboot des Jarls: Es hatte 35 Ruderräume, und es war besonders sorgfältig errichtet worden, und es war überall verziert und vergoldet an Schmuckbrettern und Wetterfahnen, und viele andere Stellen auch verziert; es gab kein Schiff, das es an Wert mit diesem aufgenommen hätte.42 D i e S c h i f f e als Statussymbole sind es auch, die den bis dahin unterschwelligen Konflikt z w i s c h e n Rögnvald und Eindriöi schließlich sichtbar machen, denn entgegen der zuvor getroffenen Absprache tritt der Waräger die Reise ebenfalls mit einem a u f w e n d i g verzierten Langboot an: Das Schiff war ein kunstvoll gebauter Drache; der Kopf und die Schnecken achtern waren reich vergoldet; es war ganz glänzend und bunt bemalt am Bug und oberhalb der Wasserlinie, wo es besser auszusehen schien. Die Männer des Jarls meinten, daß es Eindriöi sein müsse, der da fuhr, „ und er hat das wenig gehalten, was vereinbart war, daß niemand außer dir ein geschmücktes Schiff haben sollte, Herr. " Der Jarl sagte; „Groß ist der Hochmut Eindriöis. Jetzt sehe ich, daß er nicht mit uns verglichen werden will, die wir so weit hinter ihm zurückstehen. Aber es ist schwer zu sagen, ob sein Glück schneller oder langsamer reist als er selbst. Wir werden uns seinetwegen nicht von unserem Kurs abbringen lassen. "43 D a s reich verzierte Drachenboot des Warägers wird von allen Beteiligten als abermalige Provokation Rögnvalds gewertet. V o n nun an steigert sich der latente Zwist z w i s c h e n 41
Orkneyinga saga (ed. N o r d a l ) , Kap. 85, 216: Sva var mcellt, at eingi peirra skylldi meira skip hafa en pritugt at rumatali, nema iarl, ok eingi skylldi hafa buit skip, nema hann. t>vi skyllde sva gera, at eingi skylldi annann aufunda fyris pat, at siit lid edr skip hefdi betr buit annar helldr enn annar.
42
Orkneyinga saga (ed. N O R D A L ) , Kap. 85, 225 f. : Var pat halffertaugtt at rumatali ok vanndat forkunnar mioc at smip ok buit allt ok gulli lagt, allir ennispcenir ok veprvitar, ok vipa annarrsstapar buit; var skipit in mesta gersimi pesskonar. - Die Schiffsdarstellungen auf dem Teppich von Bayeux dürften, obwohl etwa 80 Jahre früher entstanden, einen Eindruck vom Aussehen dieser spätwikingerzeitlichen Fahrzeuge nordischen Typs geben.
43
Ebd.: Dat skip var annat vandat mioc, dat var dreki; var bepi haufupinn ok krokar aptr mioc gullbuit; pat var hlyrbiart ok steint allt fyrir ofan sia, par er beta potti. larlsmenn mceltu, at dar mundi Eindriöi fara, - „ ok heßr hann öat litt halldit, er mcelt var, at engi skylldi buit skip hafa, nema öer, herra ". Iarl segir; „ mikill er ofsi Eindriöa. Nu er dat varkunn, at hann vili ecki viö oss iafnaz, sva mioc sem ver erum vanfarnir hia honum. Enn vant er dat at sia, hvärt gcefan ferr fyrir honum ceda eptir; skulu ver ecki skapa ferö vara eptir akeföum hans. "
80
Klaus Krüger
den b e i d e n Hauptleuten während der g a n z e n R e i s e . S i e führt im f o l g e n d e n z u e i n e m Verrat Eindriöis 4 4 , als dieser w ä h r e n d der B e l a g e r u n g einer g a l i c i s c h e n Burg deren Herrn, e i n e m A u s l ä n d e r n a m e n s Gottfried, g e g e n reiche G e l d z a h l u n g e n zur Flucht verhilft. 4 5 B a l d darauf trennt sich der Waräger im Streit mit s e c h s S c h i f f e n v o m Rest der Flotte, u m a u f e i g e n e Faust nach Konstantinopel z u s e g e l n , w o er g e g e n den später eint r e f f e n d e n Jarl intrigiert. 4 6 D i e g a n z e A u s e i n a n d e r s e t z u n g endet erst Jahre danach mit d e m T o d e der Kontrahenten. 4 7 Z u n ä c h s t aber fuhrt der Konflikt zu V e r z ö g e r u n g e n bei der A b r e i s e v o n den OrkneyInseln; e s dauert drei Jahre, bis im S p ä t s o m m e r des Jahres 1151 eine Flotte v o n 15 großen und mehreren kleinen S c h i f f e n in S e e sticht. 4 8 D i e R e i s e fuhrt zunächst durch d i e N o r d s e e , den Ärmelkanal und d e n G o l f v o n B i s k a y a , schließlich um die Iberische Halbinsel herum und durch die Straße v o n Gibraltar ins Mittelmeer. B i s zur A n k u n f t im h e i l i g e n Land vergeht ein g a n z e s Jahr 49 , in d e m die Gruppe der S a g a z u f o l g e e i n e R e i h e v o n E r l e b n i s s e n zu bestehen hat: D i e Eroberung v o n Gottfrieds Kastell im christlichen Teil S p a n i e n s und die siegreiche S e e s c h l a c h t g e g e n eine D r o m o n e ( e i n e sarazenische
44
Die Bewertung der Ereignisse folgt hier der Darstellung der Saga, die Rögnvald Jarl als positive Zentralfigur behandelt.
45
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 86-87. - Eine ganz ähnliche Episode begegnet auch in der durch die Heimskringla überlieferten Saga von Sigurd Jorsalfar (Übers. LAING, 52); da diese aber jünger ist, scheint sie ihrerseits durch die Orkneyinga saga beeinflußt zu sein.
46
Wenig quellengestützt ist die Auffassung BLÖNDALS 1978, 156f., Eindriöi ungi habe versucht, Rögnvald viele Gefolgsleute auszuspannen, die in die Leibwache des Kaisers eintreten sollten; zum Zerwürfnis sei es gekommen, als der Jarl und andere Große erkannt hätten, daß sie in diesem Fall dem Eindriöi unterstellt worden wären.
47
Rögnvald Kali fällt 1158, sein Gegner Eindriöi wird Jahre später durch Erling Ormsson von Stödla ( t 1179) erschlagen. Dieser war einer der Schiffskommandanten auf der Palästinareise, und er erlitt während der Seeschlacht gegen die sarazenische Dromone die Verwundung am Hals, die ihm seinen späteren Beinamen skakki (,der Schiefe') einbrachte. In der Orkneyinga saga begegnet er in erster Linie als Freund und Parteigänger des Jarls. Tatsächlich aber war er einer der bedeutendsten norwegischen Adligen des 12. Jhs. Verheiratet mit Christina, einer Tochter Sigurds des Jerusalemfahrers, wurde er nach dem Tode Kg. Ingis zeitweise Regent des Reiches für seinen Sohn, den späteren Kg. Magnus Erlingsson (1162-84). Zu seiner Person zuletzt KLINGENBERG 1999, 398400.
48
Die Regentschaft auf den Orkaden führte inzwischen der neunzehnjährige Harald Maddhadsson ( t 1206), ein entfernter Vetter Rögnvalds, der nach dessen Tod 1158 seine Nachfolge antrat. - Daz u RIANT 1 8 6 5 , 2 4 8 f .
49
Diese ,westliche' Route von Ribe bis Akko wird bei Adam von Bremen beschrieben (ed. SCHMEIDLER, 228f.) und auch an anderen Stellen wiedergegeben: in der Chronik des Albert von Stade (ed. LAPPENBERG), 340, und als Navigatio ex Dania per mare occidentale orientem (ed. SUHM). - Zur Reisedauer: dieser Routenbeschreibung zufolge war eine Seefahrt von Ribe bis Kap Väres bei Santiago in acht Tagen zu bewältigen, von Ribe zum Njörvasund in 13 Tagen, von Ribe nach Marseille in 19 Tagen, insgesamt werden von Ribe bis Akko 37 Tage veranschlagt. Dazu BRING & WAHLGREN 1 8 2 7 , 3 3 f „ A n m . x - z ; MEISSNER 1 9 2 5 , 1 5 7 ; SPRINGER 1 9 4 9 , 102; KRÖTZL
1993, 166.
Gesehenes
wird Bericht wird Dichtung
Großgaleere)
50
wird
81
Quelle
v o r der K ü s t e T u n e s i e n s w e r d e n in a l l e n E i n z e l h e i t e n b e s c h r i e b e n . M a n
k ä m p f t j e d o c h n i c h t nur g e g e n d i e E i n h e i m i s c h e n , C h r i s t e n w i e H e i d e n , s o n d e r n treibt auch friedlich Handel mit ihnen, m a n n i m m t G e f a n g e n e , um sie a n s c h l i e ß e n d
gegen
Lösegeld wieder freizulassen.
4. Wein, Weib und Gesang D i e e i n d r u c k s v o l l s t e E p i s o d e der R e i s e b e s c h r e i b u n g h a n d e l t v o m B e s u c h der N o r w e g e r a m H o f e d e r V i z e g r ä f i n v o n N a r b o n n e ( D e p . A u d e ) im L a n g u e d o c . 5 1 F o l g t m a n der S a ga, w u r d e die Stadt nach d e m T o d e d e s dortigen Fürsten G e r m a n u s 5 2 v o n d e s s e n T o c h ter E r m i n g e r ö regiert. D i e s e s e i e i n e j u n g e u n d s e h r s c h ö n e Frau g e w e s e n u n d h a b e R ö g n v a l d m i t s e i n e m G e f o l g e e i n g e l a d e n , für l ä n g e r e Z e i t a n i h r e m H o f z u b l e i b e n . W i e in d e r S a g a - L i t e r a t u r ü b l i c h , w i r d d a s G a s t m a h l , d a s s i e d e n G ä s t e n b e r e i t e t , a u s führlich beschrieben: Und als sie zu dem Fest kamen, gab es die beste Unterhaltung, enthalten,
was ihm zur Ehre gereichte.
gin in die Halle kam, begleitet Kelch in Händen, bei Jungfrauen
und dem Jarl wurde nichts
Eines Tages saß der Jarl beim Festmahl,
von einer Gruppe
sie hatte ihre feinsten
Gewänder
ihrer Mädchen. angelegt,
spielten [= musizierten]
Sie trug einen
ander viel. Dann machte der Jarl einen Vers: „Das ist gewiß, kenfeldes gierigen
hervorragt
vor den meisten
wohlgeschmückten
läßt das Haar, gelb wie Seide, auf die Schultern
goldenen
Band gelegt.
Sie
schenkte
für sie. Der Jarl nahm ihre Hand
gleich mit dem Kelch und zog sie auf sein Knie, und für den Rest des Tages erzählten des Frodi-Mehls,
vorKöni-
ihr Haar fiel lose herab, wie es
üblich ist, und um die Stirn hatte sie ein goldenes
dem Jarl ein, und ihre Mädchen
als die
daß dein Wuchs, kluge Frauen.
herabfallen,
Die Stütze des
- ich habe dem
zu-
sie einGöttin Falfutter-
Adler die Füße gerötet. "SJ
50
Eine Beschreibung dieses Schiffstyps (inklusive Skizze) findet sich bei EICKHOFF 1966.
51
V g l . d a z u i n s b e s o n d e r e M E I S S N E R 1 9 2 5 ; D E V R I E S 1 9 3 8 ; DERS. 1 9 6 0 ; A N D E R S S O N 1 9 6 9 , b e s . 1 6 ; VON S E E 1 9 8 0 , 9 - 1 4 ; N A U M A N N 1 9 8 6 ,
52
In der Flateyjarbök,
11-
186-189.
einer Sammlung norwegischer Königssagas, in die Annalen und andere histo-
riographische Texte eingeschoben sind, findet sich die Lesart . G e i r b i o m ' : Orkneyinga
saga
(ed.
NORDAL), 2 3 1 . 53
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 86, 232f.: Ok er peir komu til veizlunnar, var par inn bezti fagnapr ok engi hlutr sparapr til, sa er iarli var pa meiri somi enn apr. Pat var einn dag, er iarl sat at veizlunni, at drotning gecc inn i haullina ok margar konur mep henni. Hon hafpi borpker i hendi af gulli, hon var kledd inum beztum klepum, hafpi laust harit sem meyium er titt at hafa ok hafpi lagt gullhlap um enni ser. Hon skencti iarli, enn meyiarnar leku fyrir peim. larl toc haund hennar mep kerinu, ok setti hana i hne ser, ok taulupu mart um daginn. t>a qvap iarl visu: „ Vist er at fra berr flestu / Fropa meldrs at gopu / vel skufapra vifa / vauxtr pinn konan svinna. / Skorp letr har a herpar / haucvallar ser falla, / atgiaurnum raup ec erni / ilka, gult sem silki. " Die Übersetzung dieses Verses ist schwer und nicht zweifelsfrei; wir folgen deshalb hier VON SEE 1980, 10, der folgende Erklärungen zu den bildlichen Umschreibungen, den sog. Kenningen, anbietet: Frodis Mehl be-
82
Klaus Krüger
R ö g n v a l d reagiert damit zwar nicht g a n z der h ö f i s c h e n Etikette g e m ä ß , aber e i n e s W i kingers und S k a l d e n durchaus a n g e m e s s e n : Er besingt die D a m e in einer Strophe. Später tritt er in einen Sängerwettstreit mit z w e i e n seiner Begleiter 5 4 ; als T h e m a wird die j u n g e Fürstin v o r g e g e b e n , und die wörtlich w i e d e r g e g e b e n e n visur s p i e g e l n deutlich die h ö f i s c h e kontinentale M i n n e d i c h t u n g der Zeit. 5 5 D e m S a g a - D i c h t e r z u f o l g e treten die Verwandten Ermingerös an den Jarl heran und fordern ihn auf, zu bleiben und die Erbin N a r b o n n e s zu heiraten. R ö g n v a l d legt sich nicht fest; immerhin verspricht er, im d a r a u f f o l g e n d e n Herbst z u r ü c k z u k o m m e n , um dann über den Antrag zu entscheiden. B i s dahin w o l l e er die geplante Pilgerreise zu E n d e bringen, nun aber g l e i c h s a m im A u f t r a g der Herrin, als e i n e Art ritterlicher Aventiure: Den Worten Ermingerös folge ich immer; wie sie mir riet, will ich Rans Weg reisen zum Jordan.56 A u c h d i e s e Attitüde der D e m u t und des Frauendienstes, die im T e x t vorher nicht festzustellen ist, scheint v o n kontinental-europäischem G e d a n k e n g u t geprägt zu sein. 5 7 Tatsächlich bildet der T e x t der R e i s e b e s c h r e i b u n g im f o l g e n d e n e i n e deutet Gold (der sagenhafte König Frodi ließ in einer Mühle Gold mahlen, vgl. zu dieser Kenning auch VON SEE 1964, !Of.), die Göttin des Goldes ist also eine Paraphrase für die geschmückte Frau. Das Falkenfeld ist der Arm, dessen Stütze also wiederum eine Metapher für die Frau. Das letzte Bild verweist auf die Kriegstaten des Jarls, der auf dem Schlachtfeld den (leichenfressenden) Adler gefüttert, also viele Gegner erschlagen habe. - Vgl. aber die alternativen Übersetzungen bei GERING 1 9 1 5 , 3; BAETKE 1 9 2 4 , 152; PÄLSSON & EDWARDS 1 9 7 8 , 166. 54
Die beiden isländischen Skalden Oddi Glumsson litli (,der Kleine') und Armod; vgl. dazu GERING
55
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 86, 234f. - Zur Diskussion um einen Einfluß kontinentaler Dichtkunst auf das Skaldentum vgl. den Forschungsüberblick bei ANDERSSON 1969. So argumentierte zuletzt Bjarni EINARSSON 1961, die Verse seien erst im 13. Jahrhundert unter dem Einfluß der Troubadour-Dichtung entstanden. Dagegen wandte sich Theodore M. Andersson, der die Verse als älter denn die Sagas betrachtet. Obwohl „the stanzas bear a clear troubadour imprint", müsse festgestellt werden (ANDERSSON 1969, 13): „this episode was quite isolated." Seine Ausführungen werden wiederum angegriffen von EINARSSON 1971. Nach HOFMANN 1971, 160, werden seit dem 13. Jahrhundert französische Ritterromane und kürzere Verserzählungen in Prosa rezipiert, zuerst wohl die Tristrams saga (1226). Dagegen sei geistliche Erzählliteratur nach lateinischen Vorlagen in Island wie Norwegen bis ins 12. Jahrhundert zurückzuverfolgen. - Zusammenfassend zum Thema: VON SEE 1980, 9-14.
56
Orp skal Ermingerpar / itr drengr muna lengi; / brupr vill rauck, at ripim / ranheim til lordanar. Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 86, 234. - Zur Kenning: Ran ist die Göttin des Meeres, ihr Weg also die See. Vgl. auch unten, Anm. 107.
57
So bereits ANDERSSON 1969, 15: „The stanzas from Narbonne are unique in the Norse poetry which has come down to us. The tone of humility in Oddi's stanza and the idea of service enunciated by Rognvaldr are never repeated in the North." Und (ebd., 19): „the idea of an enterprise undertaken in the service of a lady is unparalleled in Norse poetry." Im Gegensatz zur (stets situationsgebundenen) lausavisa seien die hier entstandenen Verse ohne solche Bezüge und deshalb ,clearly foreign': ebd., 24. Andersson fährt fort, die Mode der Demut und des Frauendienstes scheine später keine Anerkennung unter den Standesgenossen der Skalden gefunden zu haben, da sie im Norden offensichtlich nicht aufgenommen wurde, VON SEE 1978/79, 89, sieht nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in formaler Beziehung Ähnlichkeiten: so sei dieser Bericht „eines der ältesten Zeugnisse für
1 9 1 1 , 4 2 8 , A n m . 2; D E VRIES 1 9 6 0 .
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
83
Aneinanderreihung v o n Lobgedichten auf die wartende Fürstin. Jeder Kampf, jeder Seesturm wird darin als Bewährungsprobe des dichtenden Helden aufgefaßt: „ Die Spanier ßohen. Zeit, die Frau zu treffen. Kriegsmüde, erwiesen wir uns würdig Ermingerds. Schlachtgesänge sangen wir prahlend, aber auf der Walstatt nur ein Haufen von Leichen. " „ Wenn die Schiffstaue nicht reißen, erschreckt mich der Sturm nicht, Dame, solange das lederne Ankerseil des Schnecken hält. Meiner leinentragenden Dame gab ich dies Versprechen, von Norden her segelnd. Jetzt treibt uns der Sturm auf den Sund zu. " „ Von dem Gemetzel, dem Hagel der Speere, im Norden wird sie, in Narbonne,
Nachrichten
hören.,J* Allerdings endet diese Serie etwa mit der Ankunft im heiligen Land, w i e überhaupt der g e s a m t e Reisebericht v o n hier ab stark komprimiert wird. Über den R ü c k w e g erfährt der Hörer nicht mehr viel, in dürren Worten ohne dichterische Einschübe 5 9 werden der B e s u c h beim Kaiser in Konstantinopel und besonders die Heimreise über R o m abgehandelt: Rögnvald Jarl brach im Winter aus Miklagärd auf und fuhr zunächst westwärts nach Dürres im Slavenland; von dort segelte er westwärts über das Meer nach Apulien.60 Dort verließen Rögnvald Jarl, Bischof Wilhelm, Erling und alle Vornehmeren des Gefolges die Schiffe61 und
die künstlerisch gelungene Vereinigung von Sagaprosa und Skaldenstrophen", ebenso wie es die Troubadournovellen praktizierten. Beide seien, ebd., 91, die jeweils ,,älteste[n] Formen volkssprachiger Kunstlyrik im mittelalterlichen Europa; [...] vielleicht unabhängig voneinander, aber immerhin zur gleichen Zeit." Und NAUMANN 1986, 187, sieht Rögnvalds lausavisur „im Wirkungsbereich der Trobadordichtung." 58
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 87, 243: „ Von äk ut a Spdni, / var skiott rekinn flotti, /flydi margr af mcedi / menlundr, konu fundar. / Pvi erum veer, at väru / väpnhljöd kvedin fiiodum, / valr tok voll at hylia, / verdir Ermingerdar. " - „Skal ek ei hryggr i hreggi, / hvinn, medan streingr ok lina, / svördr, fyrir snekkju bardi / svalteigar, brestr eigi. / Pvi nam ek hvitri heita / haurskord, er ek for nordan, / vindr berr snart at sundi / sudmar, konu prudri. " - Ebd., Kap. 88, 250: „ Pat mun nordr ok nordan/ naddregn konan fregna, / piod beid liott, aflydum, / liftion, til Nerbonar. "
59
Die 27 Verse, deren Entstehung der Palästinareise zugeschrieben wird, verteilen sich wie folgt: engl. Ostküste: 1, Narbonne: 4, Belagerung des galicischen Kastells: 4, span. Küste: 2, Gibraltar: 3, Kampf gegen die Dromone: 3, Kreta: 1, Akko: 3, Jordan: 4, Reise nach Konstantinopel: 2.
60
In der Saga nicht erwähnt wird Bari in Apulien, das seit dem 11. Jahrhundert unter nordischen Pilgern besonders beliebt war. Dazu KÖSTER 1983, 152, bes. Anm. 233.
61
Der Morkinskinna (Übers. ANDERSSON & GADE, Kap. 95, 390) und Snorris Heimskringla (Übers. LAING, Kap. 17, 358) zufolge ließen die Nordmänner ihre Schiffe bereits in Konstantinopel zurück, um auf dem Landwege heimzureisen. Folglich wird hier der Rom-Aufenthalt nicht erwähnt. Es scheint sich dabei um eine Verquickung mit der Reise Sigurds des Jerusalemfahrers zu handeln.
84
Klaus Krüger besorgten sich Pferde und ritten von dort zuerst nach Rom62 und dann den üblichen bis sie nach Dänemark kamen63, und fuhren von dort nordwärts nach
Romweg,
Norwegen6'1
K e i n e D i c h t u n g mehr, und auch kein Wort über die im L a n g u e d o c s i t z e n g e l a s s e n e Ermingerö. D e n n o c h hat die N a r b o n n e - E p i s o d e v o r allem in der nordischen P h i l o l o g i e ein starkes E c h o g e f u n d e n , nicht nur ihres a u ß e r g e w ö h n l i c h e n Inhalts w e g e n , sondern auch w e g e n e i n e s irritierenden U m s t a n d e s , der bis heute nicht a b s c h l i e ß e n d erklärt ist: D e r S a g a - D i c h t e r lokalisiert den H o f Ermingerös an der französischen Atlantikküste. D i e s fällt u m s o mehr auf, als alle anderen genannten Orte, die am W e g der N o r w e g e r liegen, an den richtigen Stellen piaziert sind. Über N a r b o n n e heißt es: Von da [i.e. Northumbriaj segelten sie südwärts um England herum und nach Valland. Nichts wird berichtet von ihrer Fahrt, bis sie zu dem Seehafen kamen, der Narbonne heißt65 U n d nach ihrer A b r e i s e v o n dort wird erzählt, sie seien westwärts nach G a l i c i e n g e s e g e l t , w o sie die Burg d e s Tyrannen Gottfried erobert hätten, und v o n dort aus noch weiter westwärts, w o sie v i e l e Dörfer plünderten. Schließlich seien sie an der iberischen Küste entlangg e s e g e l t , bis sie den Njörvasund erreichten, w o das Land im N o r d e n z u r ü c k w e i c h e : die stürmische Straße v o n Gibraltar. A l l e d i e s e Erlebnisse - die K ä m p f e in Spanien s o w i e die Einfahrt ins Mittelmeer bei starkem G e g e n w i n d - w e r d e n v o n R ö g n v a l d mit visur kommentiert, die sich ausdrücklich a u f Ermingerö beziehen: der Held m ü s s e sich in der f e i n d l i c h e n Welt bewähren, 62
Romfahrten skandinavischer Herrscher sind seit dem 11. Jahrhundert überliefert. Knut der Große (1014/18-35), König von England. Dänemark und Norwegen, reiste an Ostern 1027 zur Kaiserkrönung Konrads II.; unterwegs und in Rom richtete er Spitäler für alle ,Dänischsprechenden' ein. Der norwegische Häuptling Skopte Ogmundsson, der sich mit seinem König Magnus Olafsson Barfuß (1093-1103) überworfen hatte, verließ das Land 1102, um nach Rom zu gehen, wo er starb. Sigurd Jorsalfar Saga (Übers. LAING), 50; Heimskringla (Übers. N I E D N E R ) , 199f.; - dazu PAASCHE 1934, 115ff.; SPRINGER 1949, 102; HOFFMANN 1975, 63 passim; DAXELMÜLLER & T H O M S E N 1978, 159.
63
Dieser ,übliche Romweg' wird als ,östliche Route' in dem gleichzeitigen Pilgerführer des Nikuläs Bergsson, Abt von Munkatwerä auf Island, beschrieben (dazu oben, Anm. 11). Er führte über Luni und Mailand auf den Großen St. Bernhard, von dort an den Genfer See und am Rhein entlang bis Mainz. Hier teilte sich der Weg in drei Routen (über Paderborn und Minden, über Hildesheim und Hannover, über Köln und Utrecht), die in Stade wieder zusammenliefen. Von hier aus zog man über Schleswig nach Nordjütland, von wo aus man nach Norwegen übersetzte. Für diese Reise veranschlagte der Leidarvisir etwa zweieinhalb Monate. Vgl. dazu BRING & W A H L G R E N 1 8 2 7 , 33f., Anm. z; MEISSNER 1925, 157; PAASCHE 1934, 118ff.; SPRINGER 1949,103ff.
64
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 89, 259: Raugnvalldr iarl byriapiferp sina of vetrinn or Miclagarpi, ok for fyrst vestr til Bolgaralandz til Dyraccsborgar; papan sigldi hann vestr yfir hafit a Pul. t>ar gecc Raugnvalldr iarl af skipum ok Vilialmr byskup ok Erlingr ok allt it gaufgara lip peira, ok außupu ser hesta, ok ripu papan fyrst til Romaborgar ok sva uttan Rumaveg, par til er peir coma i Danmaurk, ok foro papan norpr i Noreg. - Die Gruppe um Rögnvald Jarl erreichte die Orkaden kurz vor Weihnachten 1153: ebd., Kap. 90, Kap. 93. Die Schiffe kehrten erst im darauffolgenden Sommer über Norwegen in die Heimat zurück: ebd., Kap. 94.
65
Orkneyinga saga (ed. N O R D A L ) , Kap. 86, 231: Peir sigldu papan supr fyrir England ok til Vallandz. Ecki er sagt fra ferpum peira, fyrr enn peir koma til sceborgar peirar, er Narbön heitir.
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
85
um der d a h e i m g e b l i e b e n e n Frau würdig z u sein. Der geographische B e z u g steht außer Frage, denn der Saga-Dichter bringt die Entstehung z w e i e r Strophen in einen unmittelbaren Z u s a m m e n h a n g mit der Durchquerung der Straße v o n Gibraltar: Danach setzten sie die Segel und kreuzten quer gegen den Wind hinaus zum Njörvasund. sprach Oddi:
Da
„Sechs Tage habe ich mit dem Goldverschwender verbracht. Zufrieden mit meinem Becher, der Freund von Königen. Aber Rögnvald mit seinen Gefährten ritt hinaus auf bemaltem SeeHengst, trug die Schilde zum Njörvasund. " Und als sie auf den Sund zu kreuzten, sprach der Jarl den Vers: „ Aus den Armen der valländischen Frau treibt uns segelnd ein östlicher Winterwind. Laßt uns die Segel festmachen, sie lockern und anschlagen an den Mast, festgebunden. Entlang der spanischen Küste treibt uns der Sturm. " Sie segelten durch den Njörvasund, und das Wetter legte sich.1'6 Es wird also zweifelsfrei deutlich, daß der Saga-Dichter die Ermingerö-Episode zeitlich vor den Ereignissen in Spanien stattfinden läßt, denn nur dann ist es den Skalden m ö g lich, diese Abenteuer der narbonensischen Fürstin zu w i d m e n oder ihrer auch nur zu gedenken.
5. Wo liegt Narbonne? D e r merkwürdige Umstand, daß der Dichter den narbonensischen H o f v o m L ö w e n g o l f an die Atlantikküste verlegt, hat in der Forschung zu weitreichenden Spekulationen geführt, die diesen Lapsus erklären sollten. Paul Riant, der die skandinavischen Pilgerfahrten 1865 eingehend untersuchte, übersetzte den in der Quelle mit Narbön w i e d e r g e g e b e n e n Ortsnamen als A m i e n s , Sitz einer Grafschaft in der Picardie. Allein dessen Herrscher Raoul le Vaillant, Graf v o n Vermandois, hatte eine Tochter namens Elisabeth hinterlassen, mit der Riant Ermingerö identifizieren zu können glaubte. 6 7 A b g e s e h e n v o n der ziemlich kühnen Onomastik, kann diese D e u t u n g angesichts dessen,
66
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 87, 243F.: Eftir pat wndu peir segl sin ok beittu wt at Niorfasundum allpveran byr. t>a kvat Oddi: „Hafdi hollvinr lofda, / hinn er miod dreckr inni, / sunda logs med sveigi / stau dcegr muni hcegri. / Enn riklundadr rendi / Raugnvalldr med lid skialldat / hesti, halli glcestum, / hlunz at Niorfasundum. " Ok er peir beittu at sundinu, kvat iarl visu: „ Vindr hefir volsku sprundi / vetrar stund fra mundum, / wt berum aas at beita, / austrcenn skotid ßaustum. / Verdum ver at gyrda, / Vaanar hjört fyris Spaani / vindr rekr snart at sundi, / 'svidris' vid raa midia. " Peir sigldi i gegnum Niorfasund, ok tok pa at hcegiaz vedrit.
67
V g l . RIANT 1 8 6 5 , 2 5 1 .
Klaus Krüger
86
daß A m i e n s 60 Kilometer von der Küste entfernt im Binnenland liegt und seiner Bezeichnung als ,Seehafen' (sceborg) wohl bezweifelt werden. 6 8 Der Nordist und Religionshistoriker Walter Baetke, der 1924 eine deutsche Übersetzung des Textes vorlegte, erwog zwar die Gleichsetzung des genannten Ortsnamens mit der Stadt im Languedoc, kam aber zu dem Schluß: „an Narbonne ist kaum zu denken". 6 9 D a in einer der drei überlieferten Handschriften die Lesart Nerton auftritt, las er den N a m e n als ,Nervion'. 7 0 Dies ist der baskische Fluß, an dessen Ufern die Stadt Bilbao am Golf von Biskaya liegt. Baetke verstand also den Hof der Ermingerö als Bilbao, wobei er übersah, daß diese Stadt überhaupt erst im Jahre 1300 gegründet wurde. Es ist deutlich erkennbar, daß er die Glaubwürdigkeit des Textes in bezug auf die Lage der Stadt nicht anzweifelte, vielmehr bereit war, den N a m e n des Flusses auf die Stadt zu übertragen; die in der Saga gemachten Angaben zu der Fürstin, die dann zu einer kastilischen Herrscherin würde, überprüfte Baetke nicht. Anders der Kieler Philologe Hugo Gering, der bereits 1911 eine Gleichsetzung der literarischen Ermingerö mit der historischen Fürstin Ermengarde erwog, einer der eindrucksvollsten Frauengestalten in der provenfalischen Geschichte des 12. Jahrhunderts. 71 Ihr Vater, der Vizegraf von Narbonne, hieß allerdings nicht, wie vom SagaDichter angegeben, Germanus, sondern Aimeric; er war als Verbündeter König Alfons 1 I. von Aragon im Juli 1134 in der Schlacht von Fraga gegen die Mauren gefallen. 7 2 Daraufhin hatte sich seine Tochter, gestützt von den mit ihr verwandten Grafen von Barcelona und Königen von Aragon, gegen die Ansprüche der Grafen von Toulouse durchgesetzt und 1143 selbst die Herrschaft im Vicomtat ü b e r n o m m e n . Anders als der Verfasser der Saga suggeriert, war sie zum Zeitpunkt des Besuches unserer Wikinger kein ganz j u n g e s Mädchen mehr, sondern etwa Mitte 20 und bereits zweimal verheiratet. 73 Insgesamt sollte ihre Herrschaft fast ein halbes Jahrhundert dauern; erst 1192/94, also über 40 Jahre nach den hier geschilderten Ereignissen (Rögnvald war zu dieser Zeit bereits seit einem Menschenalter tot), trat Ermengarde, die kinderlos geblieben war, zu-
68
So bereits von GERING 1911, 431. - Vgl. auch das Zitat oben bei Anm. 65.
69
B A E T K E 1 9 2 4 , 1 5 1 A n m . 3.
70
Die Lesart . N e r b o n ' geht auf den Editor VIGFIJSSON 1887 und George W. Dasent zurück, der den Text 1894 ins Englische übersetzte. - BRING & WAHLGREN 1827, 125, lasen nach der ältesten Edition von 1780 „Verbon", ohne den Versuch zu machen, den Ort zu lokalisieren oder den N a m e n zu problematisieren. - Zur Forschungsgeschichte: G E R I N G 1911, 429^132.
71
Das folgende nach CAILLE 1995, dort auch Hinweise auf die ältere Literatur; vgl. auch weitere Beiträge des Tagungsbandes „La f e m m e " 1995. - Zu Ermengarde und Rögnvald zuvor bereits: GERING
72
Aimeric II. (1105/06-34). - Vgl. zur Genealogie CAILLE 1995, 36f.
73
Entgegen den Auffassungen in der älteren Literatur, derzufolge Ermengarde um 1120 geboren wurde, nimmt man heute ein Geburtsdatum zwischen 1127 und 1129 an: CAILLE 1995, 10. - Die Vizegräfin hatte 1142 einen Grafen Alfons und sehr bald darauf in zweiter Ehe den Herrn Bernard d'Anduze geheiratet. Vgl. dazu ebd., 13ff., den Abdruck des Heiratskontraktes mit Alfons (Jordan, Gf. von Toulouse?): ebd., 38f., u. die Angaben zur Familie Anduze ebd., 40f.
1 9 1 1 , 4 3 3 , d e m B E R G E R T 1 9 1 3 U. MEISSNER 1 9 2 5 f o l g t e n .
Gesehenes
wird Bericht
wird Dichtung
wird
Quelle
87
gunsten ihres Neffen Peire de Lara von der Regierung zurück; sie starb um 1196/97 in Perpignan. Der geschilderte Aufenthalt von Dichtern an ihrem Hof war kein Einzelfall, vielmehr war Narbonne in der Zeit ihrer Herrschaft zu einem Zentrum der höfischen proven9alischen Lyrik geworden; seit der Mitte des 12. Jahrhunderts hatten zahlreiche Troubadours hier gelebt und die Herrin in ihren Liedern besungen. 74 Unter ihnen ist an erster Stelle Peire Rogier aus Mirepoix (Dep. Ariege) zu erwähnen, der zunächst Geistlicher, dann fahrender Sänger war; er nannte Ermengarde in nahezu allen seinen Liedern, wenn auch stets unter ihrem senhal (Geheimnamen) Tort n'avetz (,Unrecht habt Ihr daran'). 7 5 Als weitere Troubadours am Hof zu Narbonne sind Salh d'Escola, Peire d'Alvernhe, Guiraut de Bornelh, Bernart de Ventadorn sowie die trobairitz Azalais de Porcairagues überliefert. 76 Eine unmittelbare Begegnung zwischen einem dieser namhaften Künstler und den Skalden um Rögnvald Jarl hat allerdings wohl nicht stattgefunden, denn jene traten allesamt erst nach 1160 am narbonensischen Hofe auf. 77 Doch bereits im Herbst des Jahres 1151, zum Zeitpunkt des Besuchs unserer Jerusalemfahrer, werden sich joglars dort aufgehalten haben, wenn wir auch ihre Namen nicht wissen. Hugo Gering kannte also die historische Fürstin Ermengarde, hielt allerdings die falsche Lokalisierung Narbonnes in der Orkneyinga saga für so schwerwiegend, daß er nicht an eine Identität mit der literarischen Ermingerö glaubte. Vielmehr kam er zu dem Schluß, dem Dichter habe es gefallen, „diese dame, von der man weiss, dass sie der kunst des gesanges hold war und an ihrem hofe eine schar von troubadours um sich versammelte, auch zu einem nordischen skalden in beziehungen zu setzen." 78 Dieser These setzte der isländische Philologe Finnur Jonsson seine Auffassung entgegen, die Ermingerö-Episode und die darauf bezogenen Verse seien authentisch. 9 Die falsche Lokalisierung Narbonnes erklärte er mit einer späteren Verwechslung einzelner Strophen. Zu einem Problem wird bei dieser Deutung eine visa Rögnvalds, die den Na-
74
Ermengarde von Narbonne ist wiederholt mit Eleonore von Aquitanien ( 1 1 2 2 - 1 2 0 4 ) verglichen worden; statt diesen Vergleich hier zu beurteilen oder zu umfangreichen B e l e g e n auszuholen, sei a u f D U B Y 1995/97, 1 5 - 3 8 (Kap. ,Eleonore') verwiesen.
75
Z u m V e r g l e i c h der senhals
76
V g l . APPEL 1 8 8 2 , b e s . 5 - 1 2 ; BERGERT 1 9 1 3 , 6 - 1 0 ; JEANROY 1 9 3 4 , 1 , 1 6 5 f . p a s s i m ; D E VRIES
mit den skaldischen Kenningen: VON SEE 1978/79, 90. 1938,
706; VON SEE 1978/79, 90; DERS. 1980, 9 - 1 4 . 77
D i e romantische Vorstellung von einem unmittelbaren Kontakt und Austausch z w i s c h e n Troubadours und Skalden, gar einem Sängerkrieg am H o f zu Narbonne, schwingt teilweise in der Betitelung der einschlägigen Literatur mit: „Een skald onder de troubadours" (DE VRIES 1938); „Skalds and Troubadours" (ANDERSSON 1969); „The Lovesick Skald" (EINARSSON 1971); „Ein Skald unter Trobadors" (VON SEE 1980, 1. Kap.).
78
GERING 1911, 4 3 4 ; vgl. GERING 1915, 15f.: „ D e m interpolator [...] muss eine künde von Ermengarde von Narbonne, der berühmten [...] fiirstin, zu ohren g e k o m m e n sein, und es hat ihn gekitzelt, sie zu der heldin seines liebesidylls zu machen."
79
V g l . J O N S S O N 1 9 1 2 u . DERS.
1912/13.
88
Klaus
Krüger
men Ermingerös in ausdrücklichem Zusammenhang mit der Einnahme von Gottfrieds Burg nennt: „Die meistbewunderte
Jungfrau,
goldbedeckt,
als wir uns trafen, Ermingerö
mir einst den Wein. Jetzt legen wir Feuer an die Burg, greifen Schwertern.
die Schöne,
die starke an, mit
bot
blanken
"so
Da der Sturm auf das galicische Kastell also zeitlich nach der Narbonne-Episode angesiedelt ist, bleibt hier ein Widerspruch, den Jonsson, der die Verse ausnahmslos für echt ansah, nicht zu erklären vermochte. Auch Rudolf Meissner, der den Bericht 1925 einer eingehenden Analyse unterzog, kam zu dem Schluß, den Besuch am Hofe der Ermingerö als historisch betrachten, diese also mit der Vizegräfin Ermengarde gleichsetzen zu können. Sein Vorschlag zur Lösung des Problems der falschen Lokalisierung Narbonnes besticht nun dadurch, daß er eine zweite Frage, nämlich die nach der offensichtlich mangelnden religiösen Andacht unserer Pilger 81 , gleich mit erklärte - und beides, ohne einen einzigen Quellenbeleg beizubringen. So postulierte er, die Norweger hätten doch zweifellos auch das Jakobs-Grab in Santiago de Compostela besucht. 82 „dass Rögnvald und sein Bischof diese Pilgerpflicht versäumt haben sollten, ist nicht anzunehmen, wenn auch die Saga nichts davon erzählt." 83 Mit diesem Argumentationsmuster versehen, fiel es dem Verfasser nicht schwer, auch die scheinbare Lage Narbonnes an der französischen Westküste zu erklären: Die Pilger, die j a auch Santiago aufsuchen wollten, hätten, so Meissner, doch sicherlich das Ziel gehabt, unterwegs - wie allgemein üblich - das
80
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 87, 239f.: „ Vin bar hvit in hreina / hladnipt alindriptar, / syndiz fegrd, er fundumz, ferdum Ermingerdar. / Nu tegaz aulld med elldi / eljunfrcekn at scekia, rida snorp or slidrum / sverd, kastala ferdir. "
81
Dazu unten, Abschnitt 8.
82
Tatsächlich haben wir frühe Nachrichten über Aufenthalte von Skandinaviern in Galicien und Santiago. Einer der frühesten Besuche war wohl jener Wikingereinfall, der 844 zur Verlegung des Bischofssitzes von Iria Flavia nach Santiago führte. Weitere Überfälle folgten in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, und auch der Aufenthalt Olafs II. Haraldsson (des späteren Königs und Heiligen) in Frankreich und Galicien 1012/13, bei dem dieser möglicherweise Santiago aufsuchte, ist wohl als Plünderfahrt zu werten. Noch im 11. Jahrhundert brachte sein spanischer Beutezug dem Dänenhäuptling Ulf den Beinamen „Galizu U l f (Galizien-Wolf) bzw. nach Saxo „Ulvo Gallician u s " e i n . D a z u STEFÄNSSON 1 9 0 8 - 0 9 ; DAXELMÜLLER & THOMSEN 1 9 7 8 , 1 5 9 ; ALMAZÄN 1 9 8 6 , 8 2 -
84, 9 1 - 9 6 ; LIEBGOTT 1992, 110; KROTZL 1994, 108. - Urkundliche Informationen über Santiagopilger aus den nordischen Ländern liegen seit 1181 vor. Dazu: KRÖTZL 1987; DERS. 1993, bes. 160. - BÜNZ 2000, 45, unter Verweis auf KÖSTER 1983, bes. 119ff.: „Funde von Jakobsmuscheln machen aber deutlich, daß man im südskandinavischen Bereich bereits im späten 11. Jahrhundert mit Pilgern zu rechnen hat. Bei den umfangreichen Ausgrabungen in Schleswig sind mehrere dieser Pilgerzeichen geborgen worden. Aufgrund der Fundzusammenhänge gehören sieben Jakobsmuscheln dem Zeitraum vom ausgehenden 11. bis späten 12. Jahrhundert an."; Katalog von skandinavischen Gräbern mit Pilgerzeichen bei ANDERSSON 1989, 141-154; zur Jakobs-Verehrung in Dän e m a r k : ALMAZÄN o.J. 83
MEISSNER 1 9 2 5 , 1 7 2 .
Gesehenes
wird Bericht wird Dichtung wird
Quelle
89
Heiligtum des Aegidius im provencalisehen St.-Gilles du Gard zu besuchen - obwohl auch darüber nichts im Text stehe. 4 Zu diesem Zweck seien sie nahe Bordeaux in die Garonne eingelaufen und zu Schiff etwa bis Toulouse vorgedrungen. Dort seien sie dann zu Fuß einer der großen Pilgerstraßen gefolgt, „die sie über Carcassonne, Narbonne, Montpellier nach St. Gilles führte." 85 Der Rückweg habe sich auf demselben Wege vollzogen, und so seien die Pilger schließlich wieder von der Garonne-Mündung aus weitergesegelt. Auf diese Weise erklärte Meissner den Umstand, daß der SagaBericht zuerst den Aufenthalt in Narbonne und dann erst die spanischen Erlebnisse erwähnt - um den Preis einer vollkommen neu konstruierten Landreise zu einem Ziel und zu einem Zweck, von denen in unserer Quelle mit keinem Wort die Rede ist.86
6. Echt, falsch oder falsch verstanden? Verzichtet man auf derartige Konjekturen und befragt ausschließlich den Text, ist zunächst die Frage nach der .Echtheit' der Njörvasund-Verse zu erörtern: Wäre es möglich, daß die visur, in denen Ermingerö ausdrücklich vor dem Hintergrund der Durchquerung der Straße von Gibraltar besungen wird, authentisch sind und vom Dichter lediglich an eine falsche Stelle gerückt wurden? Die Fahrt durch den Njörvasund muß doch zeitlich vor dem Besuch in Narbonne stattgefunden haben. Eine zweite Durchfahrt in westlicher Richtung, beim Verlassen des Mittelmeers, wäre zwar denkbar, kommt aber aus mehreren Gründen nicht in Betracht: Zum einen reisen die Hauptleute auf dem Landwege in die Heimat, so daß Spanien auf der Rückreise gar nicht mehr berührt wird. Zum zweiten sprechen die Richtungsangaben in den Versen dagegen. Zwar ist ausdrücklich von einem östlichen (austreenn) Wind die Rede, zugleich wird aber mehrfach das Kreuzen gegen diesen Wind erwähnt, was bedeutet, daß die geschilderten Schiffe an dieser Stelle zweifellos in östlicher Richtung unterwegs waren. Schließlich hätte eine abermalige Durchquerung des Njörvasunds auch bedeutet, daß Rögnvald zu diesem
84
85
MEISSNER 1925, 172: „Wenn also durch die Strophen der Aufenthalt Rögnvalds in Narbonne bewiesen ist, muss als wahrscheinlichster Grund für diesen Abstecher der Besuch eines Heiligtumes gelten. Das kann nur St. Gilles gewesen sein." - St.-Gilles (nordisch: Iiiansborg) war tatsächlich bereits seit dem frühen 12. Jahrhundert Ziel skandinavischer Pilger; einige stifteten in diesem Benediktinerkonvent ihre Memorie, namentlich die Erzbischöfe Aderus von Lund ( 1 0 8 9 - 1 1 3 7 ) und Heinrich von Magdeburg (1102-07). Dazu KÖSTER 1983, 89ff„ WINZER 1988, 3 0 3 - 3 0 5 u. neuerdings BÜNZ 2000. MEISSNER 1925, 172. - Tatsächlich entspricht der skizzierte Weg durchaus nicht einer der großen Pilgerstraßen in Südfrankreich; vgl. dazu die Karte bei KÖSTER 1985, 90f.; zu mittelalterlichen Santiagostraßen auch KÖSTER 1983.
86
Die Forschung der Vorkriegszeit stimmte der Meinung MEISSNERS 1925 oder auch der BAETKES 1924 teilweise ausdrücklich zu und sah das Problem durch seine Erklärung als gelöst an; vgl. etwa DE VRIES 1938, 705. Heute wird seine Auffassung nicht mehr ernsthaft erwogen; vgl. VON SEE 1980,
14.
Klaus Krüger
90
Zeitpunkt sein Versprechen, nach Narbonne zurückzukehren, bereits gebrochen hätte, und dazu passen weder der sehnsüchtige Grundton dieser visur noch der darin angeführte unmittelbare zeitliche Bezuj|.' „Aus den Armen der valländischen Frau treibt uns
segelnd ein östlicher Winterwind. " Auch die Authentizität der ausführlich geschilderten Narbonne-Episode muß diskutiert werden. Bei der Lektüre der Saga wird schnell deutlich, daß dem Verfasser zwar die topographische Lage der Stadt in bezug auf Gibraltar nicht klar war, daß er von deren Hof jedoch ein ziemlich genaues Bild vor Augen gehabt haben muß. Versucht man, den historischen Kern der Episode herauszupräparieren, indem man sich etwa fragt, wie denn der Besuch der Nordmänner von narbonensischer Seite aus 88
dargestellt worden wäre , muß man wohl konstatieren, daß der Bericht, wie er uns vom Saga-Dichter überliefert vorliegt, durch einige Mißverständnisse getrübt wird. So scheint es kaum glaubhaft, daß die Verwandten der Vizegräfin deren Hand einem hergelaufenen Seefahrer angeboten haben sollen, zumal sich Ermengarde gerade erfolgreich gegen Alfons Jordan, den Grafen von Toulouse, hatte durchsetzen können, der Narbonne von 1134 bis 1143 in seiner Hand gehabt hatte. Wie unwahrscheinlich gerade die uns bezaubernde amouröse Seite dieses Besuchs ist, zeigt bereits ein Detail, das den Sprachkontakt betrifft: Die Schilderung der Szene, in der Rögnvald beim Festmahl von Ermingerö mit Wein bewirtet wird, schließt: „Der Jarl nahm ihre Hand
zugleich mit dem Kelch und zog sie auf sein Knie, und für den Rest des Tages erzählten sie einander viel. " 89 Wie soll man sich denn dieses intime Gespräch vorstellen? Rögnvald sprach nicht Französisch (geschweige denn Okzitanisch), weshalb man j a Wilhelm von Kirkwall mitgenommen hatte, der in Paris studiert hatte. 90 Die Vorstellung aber, die beiden hätten einen Bischof als Dolmetscher gehabt, nimmt der geschilderten Szene einiges von ihrer Romantik. Andererseits ist dieses Motiv der höfischen Minne sonst in keiner der Königssagas zu finden; zweifellos ist es von außen in diesen Text hineingetragen worden, und der 87
Zitat oben bei Anm. 66.
88
Überraschenderweise findet sich eine solche Überlegung (und auch nur ansatzweise) bisher anscheinend lediglich bei VON SEE 1980, 9f.: „Leute aus dem Norden wird man hier als connaisseurs der Dichtkunst nicht sonderlich hoch geschätzt haben. [...] Es ist daran zu zweifeln, ob die Gräfin Ermengarde, selbst wenn sie des Altnordischen mächtig gewesen wäre, diese typisch skaldische Strophe hätte verstehen und würdigen können." Gemeint ist die oben bei Anm. 53 zitierte visa. Jacqueline CAILLE 1995, 20, erwähnt die Begegnung kurz, ohne sie quellenkritisch zu hinterfragen. Allerdings ist ihr das kulturelle Engagement der Vizegräfin insgesamt auch nur wenige Zeilen wert.
89
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 86, 233: larl toe haund hennar mefr kerinu, ok setti hana i hne ser, ok taulupu mart um daginn- Zum Kontext vgl. das Zitat oben bei Anm. 53.
90
Alle Überlegungen, Rögnvald Kali habe als einer „der Skandinaafsche intellectueelen" doch zweifellos Französisch verstanden (so bei DE VRIES 1938, 708), beruhen auf reiner Spekulation. Und auch die in diesem Zusammenhang oft zitierte Stelle der Orkneyinga saga, an der der Burghauptmann Gottfried sich als Bettler verkleidet ins Lager der norwegischen Belagerer schleicht, um diese - valländisch sprechend - auszuhorchen (Kap. 86), läßt nicht im geringsten auf die sprachliche Kompetenz des Jarls schließen.
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
91
Aufenthalt der Wikinger am , L i e b e s h o f , den Ermengarde in Narbonne unterhalten haben soll 9 1 , wird dadurch nur wahrscheinlicher. Dabei hat der Saga-Dichter den am H o f e der M ä z e n i n g e p f l e g t e n spielerischen U m g a n g mit der Minne, von dem die Reisenden ihm berichtet haben müssen, offensichtlich falsch verstanden: Seiner A u f f a s s u n g nach mußte ein derart provozierendes Auftreten w i e das der Vizegräfin dem Jarl gegenüber in eine (zumindest geplante) Heirat münden. Dabei war Ermengarde z u m Zeitpunkt von Rögnvalds B e s u c h wahrscheinlich mit Herrn Bernard d ' A n d u z e verheiratet. 9 2 D i e Vorstellung, daß ein Ehemann nicht nur kein Hinderungsgrund, sondern geradezu eine Voraussetzung für eine ritterliche Verehrung im Sinne der hohen Minne war, war dem Saga-Dichter fremd. 9 3 D o c h sind es gerade solche Mißverständnisse, die eine Echtheit der geschilderten Episode glaubhaft und wahrscheinlich machen. 9 4 Insofern dient diese Saga als unmittelbares Zeugnis für den Kulturkontakt der nordischen mit der mediterranen Welt, der seit B e g i n n der Kreuzzüge außerordentlich z u g e n o m m e n hatte. Ermingerö-Ermengarde ist also eine historische Gestalt, und sie residierte nicht in A m i e n s oder Bilbao, sondern in Narbonne im Languedoc. S o bleibt nur ein Schluß: der B e s u c h der N o r w e g e r an ihrem H o f e hat sich tatsächlich zugetragen, und der Dichter der S a g a hat ihn literarisch verarbeitet. Tatsächlich hat die Frage nach der historischen Authentizität dieser romantischen Episode Sprachwissenschaftler und Historiker seit drei Generationen bewegt. H u g o Gering vertrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zwei
91
V g l . JONSSON 1 9 1 2 / 1 3 , 1 6 4 ; BERGERT 1 9 1 3 , 7; GERING 1 9 1 5 , 15f.; D E VRIES 1 9 3 8 , 7 0 6 ; - v g l . z u r
cour d'amour der,Königin der Troubadours', Eleonore von Aquitanien:
PERNOUD
1965/92, 163ff.
92
Sie hatte Bernard 1145 in zweiter Ehe geheiratet, und es gibt keinen Anlaß anzunehmen, daß er 1151 nicht mehr am Leben gewesen sein soll: vgl. C A I L L E 1995, 14f. u. oben bei Anm. 7 3 . Rögnvald Jarl dagegen war vermutlich zeitlebens nicht verheiratet, hatte aber mindestens eine natürliche Tochter.
93
Doch nicht nur der Saga-Dichter hatte diesbezüglich Skrupel, sondern auch durch die ältere Literatur zieht sich die Vorstellung, Ermingerö müsse unverheiratet gewesen sein bzw. die Tatsache, daß sie verheiratet gewesen sei, deute auf die Fiktivität der Episode hin; so G E R I N G 1911, 433: Ermingerö sei „über die erste jugendblüte längst hinaus und nicht mehr zu haben" gewesen. Dagegen vermutete J 0 N S S O N 1912/13, 163, die Vizegräfin könne durchaus zum Zeitpunkt des Besuchs der Wikinger bereits zum zweiten Mal verwitwet gewesen sein; so auch M E I S S N E R 1925, 163, Anm. 1. - Auf eine ausgiebige Diskussion um die in der Saga beschriebene Haartracht der Fürstin (ihr offenes Haar, vgl. den Text oben bei Anm. 53) als Indiz fur ihren Familienstand (jungfräulich bzw. ledig oder nicht) sei hier nur am Rande verwiesen: G E R I N G 1915, 2ff.; M E I S S N E R 1925, 162ff. - Oft scheinen auch die moralischen Maßstäbe der jeweiligen Forscher bzw. ihrer Zeit eine Rolle gespielt zu haben, etwa wenn G E R I N G 1915, 5, den frivolen Ton einzelner Strophen als „bedenklich" oder „unverschämt" einschätzt und daraus ableitend ihre Authentizität bezweifelt.
94
Die Auffassung bei VON SEE 1980, 11, es habe sich nicht um Mißverständnisse gehandelt, sondern „der Sagaverfasser [habe] sein Publikum nicht mit dem komplizierten Ritual des höfischen Minnedienstes behelligen [wollen] und die Geschichte deshalb - auf eine dem Helden durchaus schmeichelhafte Weise - den heimischen Gewohnheiten an[ge]paßt", scheint unnötig aufwendig, vor allem, wenn man annimmt, daß der Dichter den Hof zu Narbonne nicht selbst erlebt, sondern ihn nur aus den Beschreibungen der Heimgekehrten gekannt hat.
Klaus
92
Krüger
Aufsätzen die Meinung, bei der Ermingerö-Episode habe man es „mit einem in die saga interpolierten romanmotive zu tun". 95 Dagegen wandte sich Finnur Jonsson mit zwei Aufsätzen, in denen er vehement für die Echtheit der Narbonne-Episode eintrat. 96 Und noch kürzlich vertrat Lucien Musset die Meinung: „die berühmte Episode des Herrn der Orkney-Inseln, Jarls Rögnvald Kali, welcher der Vicomtesse von Narbonne, Ermengarde, 1152 den Hof gemacht haben soll, gehört eher in den Bereich pikanter literarischer Phantasie der Interpreten der Orkneyinga saga als in den der Realität." 97 Dabei hat bereits Finnur Jonsson überzeugend dargelegt, wie es zu der falschen Lokalisierung von Narbonne kommen konnte, auch wenn der Text eine authentische Episode beschreibt. 98 Demnach siedelten die Teilnehmer an der Reise in ihren Berichten nach der Heimkehr die Narbonne-Episode mit großer Selbstverständlichkeit in ,Valland' an, ein Begriff, der auch in der Orkneyinga saga, auf Frankreich bezogen, mehrfach verwendet wird. Im Sprachgebrauch der meisten Zuhörer wird dieser Name jedoch vorwiegend mit der Normandie verbunden gewesen sein, zu der traditionell gute Kontakte bestanden. So wird sich in deren Vorstellung das Narbonne der ErmingeröEpisode an der nordfranzösischen Küste befunden haben. Da die Erzählung der Ereignisse naturgemäß im Laufe der Zeit an Nicht-Beteiligte überging, wurde schließlich auch die Reihenfolge der Episoden verändert, und als die Saga schriftlich festgehalten wurde, lag Narbonne in der Vorstellung des Verfassers bereits an der Atlantikküste. Dies hat allerdings Konsequenzen für die oben gestellte Frage nach der Authentizität der visur, denn folgt man den bisherigen Darlegungen, können die auf die galicischen und mediterranen Abenteuer bezogenen Strophen, die Ermingerö besingen, nicht unterwegs durch die Beteiligten selbst gedichtet worden sein; andernfalls hätten diese ja die Fahrt durch die Straße von Gibraltar und die Heldentaten in Spanien nicht der Fürstin widmen können. Dies läßt gravierende Rückschlüsse auf die Entstehung der visur und deren Verhältnis zum Prosatext zu. Entgegen der mehrheitlich vertretenen Auffassung, die den Protagonisten vom Dichter in den Mund gelegten Strophen seien unterwegs improvisiert, dann nach Hause mitgebracht und erst später durch einen Prosatext verbunden worden, müssen diese Verse vielmehr als fiktionale Dichtung verstanden werden. Demnach kann beides, nicht nur der Prosa-Rahmen, sondern auch zumindest ein Teil der Visa-Lyrik, erst später entstanden sein, ob gleichzeitig, ob durch einen oder mehrere Verfasser, bleibe zunächst dahingestellt. Jedenfalls war dieser Dichter nicht ortskundig genug, um Narbonne richtig zu lokalisieren und die dortigen Ereignisse richtig zu verstehen. Das aber läßt die Verse (und die Saga insgesamt!) als primäre und authentische Quelle für die geschilderten Ereignisse untauglich erscheinen. Diesem Befund widerspricht nun allerdings eine andere vielzitierte Episode der Saga, die die Verse geradezu als Kronzeugen für den Quellenwert der lausavisur in den Kö-
95
G E R I N G 1 9 1 1 , 4 3 1 ; DERS. 1 9 1 5 , 1 5 .
96
V g l . J O N S S O N 1 9 1 2 , b e s . 5 3 - 5 7 ; DERS. 1 9 1 2 / 1 3 . D a z u a u c h M E I S S N E R 1 9 2 5 , 1 4 0 f f .
97
MUSSET 1992, 95. - Zur Spätdatierung vgl. oben, Anm. 33.
98
V g l . JONSSON 1 9 1 2 / 1 3 , 155.
Gesehenes
wird Bericht wird Dichtung
wird
Quelle
93
nigssagas anfuhrt. Im 88. Kapitel der Orkneyinga saga entwickelt sich nach dem Aufbringen der sarazenischen Dromone unter den Nordmännern ein Streitgespräch um das im Kampf Wahrgenommene und um die jeweils eigenen Heldentaten: Die Männer gesehen
sprachen
darüber,
zu haben glaubte.
und sie konnten
sich nicht darüber
später nicht alle dasselbe daß Rögnvald
was sich dort abgespielt
Die Männer sprachen einigen.
hatte; jeder
auch darüber,
Einige sagten,
beschrieb
es, wie er es
wer als erster aufgeentert
es wäre doch lächerlich,
sagten über dieses große Ereignis.
Und schließlich
wenn
vereinbarten
Jarl das letzte Wort haben sollte und daß sie dies dann alle unterstützen
ten. Da sprach
der Jarl: „Auf die düstere
Audun der Rote, zuerst [...] '
Dromone
sprangst
du kühn, um Beute zu
sei, sie sie, woll-
machen,
m
Rögnvald erklärt sein Urteil also in einem Vers, und so scheint das Ereignis dann auch überliefert worden zu sein. Der Umstand, daß es Audun der Rote, der Lotse der Flotte war, der als erster das feindliche Kriegsschiff enterte, wird noch in der Morkinskinna, der frühesten Chronik der norwegischen Könige, mitgeteilt. 100 Diese Episode, die das Verhältnis von subjektiv erlebter Wirklichkeit und erzählter Überlieferung beleuchtet, nennt zum einen den Vers, der vergleichsweise leicht zu memorieren war, als Vehikel der Überlieferung. Zum anderen aber macht die zitierte Passage evident, welchen Stellenwert die mündliche Tradition überhaupt besaß, wird hier doch deutlich, daß man sich offenbar bereits unmittelbar nach den Geschehnissen um deren Redaktion bemühte, um so eine historische (weil allgemein verbürgte) Wahrheit festzulegen. 101
7. Der Blick des Dichters Die Frage nach der Authentizität der Verse ist also nicht so einfach zu beantworten; offensichtlich haben wir es mit einer mehrschichtigen Überlieferung zu tun. Um diese zu durchleuchten, scheint es angebracht, die eingangs gestellte Frage nach der Saga als Reisebericht erneut aufzugreifen und die Quelle zunächst daraufhin zu untersuchen, worüber uns der Text denn am detailliertesten informiert.
99
100
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 88, 250f.: Menn rceddu um tidendin pessi, er par hofdu gerdzst; sagdi pa hverr pat, er set pottiz hafa. Rceddu menn ok um, hverr fystr hafdi upp gengit, ok urdu eigi a pat scetir. Pa mcelltu sumir, at pat vceri umerkiligt, at peir hefdi eigi allir eina sogn fra peim stortidendum. Ok par kom, at peir wrdu a pat scettir, at Rognvalldr iarl skylldi ur skera; skylldu peir pat sidan allir flytia. Pa kvat iarl: „ Geek aa dromund dockvan / dreingr reed snart til feingiar, / upp med cernu kappi / Audun fystr hinn raudi... " Morkinskinna
(Übers. ANDERSSON & GADE), Kap. 95, 390. Vgl. auch Snorris Heimskringla
(Übers.
LAING), K a p . 17, 3 5 8 . 101
Dazu MEISSNER 1925, 155, u. BUCHHOLZ 1980, 125 Anm. 33, die die Passage wörtlich nehmen. Klaus VON SEE 1964, 1 lf.; DERS. 1978/79, 89, steht dieser Stelle als Vertreter der Buchprosalehre verständlicherweise skeptisch gegenüber. Zweifel an dieser Lesart des betreffenden Abschnittes meldet neuerdings auch BRUHN 1995, 241.
Klaus Krüger
94
Ausfuhrlich wird etwa die Motivation Rögnvalds, seine Reise ins heilige Land anzutreten, dargelegt.102 Die Rede ist dabei, wie oben gesehen, nicht von religiöser Begeisterung - weder vom Versuch, die Heiden aus Palästina zu vertreiben noch von dem Wunsch, durch den Besuch der heiligen Stätten Ablaß zu erlangen.103 Ohne dem Jarl und seinen Begleitern mangelnde christliche Inbrunst unterstellen zu wollen: folgt man dem Text der Saga, hält sich deren Ausdruck in engen Grenzen. So finden sich in den Versen des Jarls und seiner beiden Skalden nur wenige Stellen mit christlichem Bezug. Während einer Kampfpause beim Sturm auf das galicische Kastell setzt Rögnvald das Tagesdatum, den zehnten Weihnachtstag, in Beziehung zu einem zurückliegenden Julfest104, und nach dem Kampf gegen die heidnische Dromone wird Gott als Schlachtenhelfer genannt.105 Eine einzige visa läßt die andächtige Haltung eines Pilgers erkennen; auf dem Rückweg vom Jordan nach Jerusalem macht der Jarl den Vers: „Ein Kreuz hängt vor der Brust des Dichters, auf seinem Rücken ein Palmzweig; friedlich durchschreiten wir die Hügel. "106 Dagegen finden sich unter den visur, deren Entstehung der
102
Im Ansatz überlegenswert ist die Auffassung von BLONDAL 1978, 155, daß Eindriöi der Junge in kaiserlichem Auftrag nach Norwegen zurückgekehrt sei, um hier weitere Warägertruppen anzuwerben. Im Falle Rögnvalds hätte er sein Ziel also erreicht. Allerdings gründet diese These eben auf der oben Anm. 37 zitierten Passage der Orkneyinga saga; sie kann deshalb nicht in Betracht gezogen werden, will man nicht einem Zirkelschluß aufsitzen. Genau dies geschieht Blöndal, etwa wenn er die Reise nicht als Pilgerfahrt, sondern als bloßen Truppentransport an den byzantinischen Hof betrachtet und dem Jarl gleichsam vorhält, er habe unterwegs das Leben der künftigen kaiserlichen Soldaten durch willkürliche Eskapaden aufs Spiel gesetzt: „As the saga was written from a standpoint sympathetic to the swashbuckling Earl Rögnvaldr it is not surprising that the cautious action of Eindriöi, whose job was to bring reinforcements safely to his master the Emperor and not to go gallivanting with them all over the Mediterranean Sea and risk their lives against Arab, Norman or Moorish pirates before they could be of service to the Empire, would be seen with a jaundiced eye." Aus dieser Fehleinschätzung ist es fur Blöndal (ebd., 217) nur konsequent, die gesamte zweijährige Wallfahrt auf „a harebrained run down to Palestine" zu reduzieren.
103
Vermutlich handelt es sich um jene bereits in der hohen Wikingerzeit so häufig zu beobachtende Mischung von Motiven, deren Komplexität von den Quellen in der Regel nicht gewürdigt wird, so DE VRIES 1938, 702: „Het is van belang op te merken, dat niet alleen lust naar avontuur den jarl tot den tocht naar het Heilige Land deed besluiten, maar zeker niet minder de aandrift van een vroom gemoed. Meer nog dan zulke verhalen van Eindriöi zullen de berichten van den tweeden Kruistocht Rögnvald tot zijn besluit gebracht hebben."
104
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 87, 241. Der zehnte Weihnachtstag 4st der 3. Januar, hier wahrscheinlich des Jahres 1152. Dies ist eine von nur zwei Angaben eines Tagesdatums im gesamten Abschnitt zur Palästinareise; vgl. oben, Anm. 33.
105
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 88, 251. - Vgl zum Vortrag heroischer Lieder auf dem Schlachtfeld: VON SEE 1981.
106
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 88, 255f.: „Kross hangir pul jjessum, /ßiost briosti, /flyckiz fram aa breckur /ferd, enn paalmr medal herda. "
skili leegl, fyrir
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
95
Pilgerreise zugeschrieben werden, mehrere, in denen eine der germanischen Gottheiten angeführt ist.1 7 Auch der oben zitierte langwierige Rekurs auf die Motivation Rögnvalds, seine Reise ins heilige Land anzutreten, läßt kaum christliche Bezüge erkennen. 8 Der Saga zufolge sieht sich der Protagonist bei seiner Entscheidung vor allem unter massiven sozialen Druck gesetzt: Er tritt die Reise an, um den Erwartungen seines Gefolges (und seines Gegners) zu entsprechen. 109 Tatsächlich versäumt keiner der erzählenden Texte, auf den Ruhm hinzuweisen, den die Orientfahrer nach ihrer Rückkehr erworben hatten. „Diese Reise wurde sehr berühmt, und jeder, der daran teilgenommen hatte, wurde seitdem für noch bedeutender gehalten. "no Dies erscheint durchaus glaubhaft, denn nähme man die Orkneyinga saga (deren Kern ja aus den Berichten der Zurückgekehrten bestand) beim Wort, müßten die Reisenden unterwegs mit Ehrungen überschüttet worden sein. Demnach habe bereits die Einladung an den narbonensischen Hof auf dem Kalkül der dortigen Honoratioren beruht, Ermingerös Ansehen durch den Besuch der vornehmen Norweger zu steigern: Sie gaben der Königin [sie] den Rat, sie solle den Jarl zu einem prächtigen Festmahl einladen: sie sagten, sie werde berühmt werden, wenn sie so edle Männer empfange, die so weit hergekommen seien und ihren [i.e. Ermingerös] Ruhm noch weit verbreiten würden.'"
Auch König Balduin III. von Jerusalem wurde beschämt: „ Und sie kamen nach Akko früh an einem Freitagmorgen und gingen da an Land mit solchem Aufwand und solcher Pracht, wie man ihn dort selten gesehen hatte. " Und vor der Einfahrt nach Konstantinopel „ segelten sie mit großer Pracht, wie sie gehört hatten, daß Sigurd der Jerusalem107
Ran: Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 86, 234 (zum Text vgl. oben, bei ANM. 56); - Bil: ebd., 235; - Uli: ebd., Kap. 87, 241 - es handelt sich hier um denselben Vers, in dem zweimal das Weihnachtsfest erwähnt ist! - Weitere dieser .mythologischen Kenningen', die in anderen Episoden der Saga vorkommen, nennt D E V R I E S 1960, 134, darunter eine lausavisa mit allein drei Götternamen, die bei einem Sängerstreit zwischen Rögnvald und dem Skalden Oddi entstanden sein soll.
108
Vgl. oben bei Anm. 37-38.
109
Hier ergibt sich eine Parallele zu Kg. Sigurd: auch der Jerusalemfahrer wurde, folgt man der Heimskringla, von seinen Männern gedrängt, die Reise als Anführer anzutreten: Sigurd Jorsalfar Saga (Übers. LAING), 50f.
110
Orkneyinga Saga (ed. NORDAL), Kap. 89, 259: Ok vard öessi ferd in fregsta; ok öottu deir allir myklu meira hattar menn siöann, er farit hauföu - Vgl. Sigurd Jorsalfar Saga (Übers. L A I N G ) , 5 0 : „The men who had followed Skopte Ogmundsson returned home. Some had been to Jerusalem, some to Constantinople; and there they had made themselves renowned, and they had many kinds of novelties to talk about." - Ebd., 62: „It was the common talk among the people, that none had ever made so honourable a journey from Norway as this king Sigurd."- Heimskringla (Übers. LAING), 3 5 8 : arrived in safety in Norway, where their journey was highly praised. Erling appeared now a much greater man than before." - Morkinskinna (Übers. ANDERSSON & G A D E ) , Kap. 9 5 , 390: „Their luck held all the way to Norway, and their journey was much praised."
111
Orkneyinga Saga (ed. NORDAL), Kap. 86, 232: Peir gerpu pat rap mep drotningu, at hon skylldi biopa iarli til veizlu virpiligrar; saugpu, at vip pat mundi hon freg verpa, ef hon fagnapi vel sva gaufgum maunnum, peim er sva langt varo til komnir ok enn mundu vipa bera fregp hennar.
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Klaus
Krüger
fahrer es gemacht hatte. "112 Hier wird deutlich, daß den Reisenden der Ablauf der Fahrt ihres berühmten Vorgängers offensichtlich genau bekannt war. Tatsächlich berichtet die Heimskringla ausfuhrlich, wie sorgfältig Sigurd seinerzeit die erwähnte Einfahrt der königlichen Flotte ins Goldene Horn inszeniert hatte: Zwei Wochen habe er auf Seitenwind gewartet, damit sich seine Segel, in die Bahnen aus Seide eingewebt waren, über die ganze Länge der Schiffe ausbreiten sollten; nur dann konnte das Gewebe in ganzer Pracht vom Ufer aus gesehen werden. In märchenhaftem Stil wird dieses Ringen um Ansehen ausgemalt: Kaiser Alexios I. habe Sigurd mit großem Aufwand empfangen, doch der König habe seinen Männern zuvor befohlen, nicht darauf zu achten. 113 Sein Pferd habe er mit goldenen Hufeisen beschlagen lassen, von denen er eines beim Einritt absichtlich verlor. Die unermeßlich kostbaren Geschenke des Kaisers, Silber, Gold und Purpur, habe er unter seinen Männern verteilt - um den Gastgeber dann mit einer gelehrten Dankesrede in griechischer Sprache zu verblüffen." 4 Auch sonst mußte Sigurd im Mittelmeerraum einen legendären Eindruck hinterlassen haben, nähme man seine Saga beim Wort. Demnach sei er es gewesen, der Roger II. von Sizilien zum König gemacht habe. 115 Der Einzug des norwegischen Herrschers im Kreuzfahrerkönigreich wird implizit gar mit dem Einritt Christi in Jerusalem verglichen. 116 Im Vergleich dazu nehmen sich die Besuche des Jarls an den verschiedenen mediterranen Höfen geradezu bescheiden aus. Doch gilt dies eben nur im Verhältnis zur 112
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 88, 253: Ok komu til Akrsborgar föstumorgin snemma, ok gengu pa upp medpris miklum ok fararbloma peim, er par var sialldseenn. - Ebd., 258: ...sigldu pa mep pris miclum, sem peir vissu, at gert hafpi Sigurpr Iorsalafari.
113
Konstantinopel als Stadt höchster irdischer Prachtentfaltung ist also auch an den Rändern des Nordmeers ein Begriff gewesen. Vgl. zur Sicht des Westens auf Byzanz (und umgekehrt) im 12. Jahrhundert: SCHREINER 1 9 9 2 , mit umfangreicher Literatur.
114
Sigurd Jorsalfar Saga (Übers. LAING), 58-60. Ähnlich verhält es sich mit der Episode vom Padreimr, einem von Sigurd zu Ehren des kaiserlichen Paares ausgerichteten Spiel: die Kaiserin hatte, um Sigurd zu prüfen, zuvor das benötigte Brennholz entfernen lassen, woraufhin der norwegische König zur Beleuchtung der Festveranstaltung hatte Walnüsse verbrennen lassen: ebd., 60f.
15
Sigurd Jorsalfar Saga (Übers. LAING), 55f.: „There was then a duke Roger in Sicily, who received the king kindly, and invited him to a feast. King Sigurd came to it with a great retinue, and was splendidly entertained. Every day duke Roger stood at the company's table, doing service to the king; but the seventh day of the feast, when the people had come to table, and had wiped their hands, king Sigurd took the duke by the hand, led him up to the high seat, and saluted him with the title of king; and gave the right that there should be always a king over the dominion of Sicily, although before there had only been earls or dukes over that country."- Tatsächlich wurde Roger erst Weihnachten 1130 durch den Papst gekrönt. Diese Passage ist ein sicherer Hinweis auf die späte Datierung der Saga. Vgl. zum Königtum Rogers GOEZ 1988, 9Iff.
116
Sigurd Jorsalfar Saga (Übers. LAING), 56f.: „Now when Baldwin, king of Palestine, heard that king Sigurd would visit the city, he let valuable clothes be brought and spread upon the road, and the nearer to the city the more valuable; and said, ,Now ye must know that a celebrated king from the northern part of the earth is come to visit us; and many are the gallant deeds and celebrated actions told of him, therefore we shall receive him well; and in doing so we shall also know his magnificence and power.'"
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Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
späteren Schilderung von Sigurds Reise, und von peregriner Demut und Andacht ist auch bei Rögnvald nichts zu spüren. Folgte man der Saga, handelte es sich bei der Reise des Orkaden-Jarls weder um eine Pilgerreise noch um einen Kreuzzug, sondern um eine Wikingfahrt zu Raub, Handel und ehrenvollen Besuchen. Diese Reise erfährt erst im mittleren Teil durch die Ermingerö-Episode eine gewisse literarisch-erotische Überhöhung, die allerdings nicht bis zum Ende des Berichtes durchgehalten wird. Im Gegenzug ist in diesem Zusammenhang auch zu fragen, was denn in der Saga gerade nicht erwähnt wird, wobei die bereits genannten Pilgerberichte des hohen und späten Mittelalters zum Vergleich herangezogen werden können. Das Ergebnis ist eindeutig: Es wird all das nicht angesprochen, um dessentwillen die Fahrt unternommen worden sein soll. Die Aktivitäten unserer Wallfahrer in Palästina sind äußerst knapp beschrieben, und auch Rom ist nur am Rande erwähnt. Die Pilgerstätten im heiligen Land werden pauschal abgehandelt: Rögnvald [und seine Männer] zogen von Akko aus und besuchten alle die heiligsten Stätten im Land von Jerusalem. Sie zogen alle zum Jordan und badeten dort. Da schwammen Rögnvald Jarl und Sigmund Angel über den Fluß und gingen da an Land und gingen dahin, wo ein dikkes Gebüsch war, und dort banden sie große Knoten.117
Diese Knoten erweisen sich als Bestandteil eines nid, eines halb scherzhaften Zaubers, mit dem ein namentlich nicht genannter Abwesender belegt wurde; wir dürfen annehmen, daß er auf den Verräter Eindriöi ungi zielte." 8 Anscheinend wurde ein Fluch in verflochtene Zweige gesprochen, der nur dadurch gebrochen werden konnte, daß der so Verzauberte die Knoten wieder löste." 9 Nun befand sich Eindriöi zu dieser Zeit bereits in Konstantinopel, und Rögnvald und Sigmund machten eine Lösung aus dem Zauber offensichtlich bewußt dadurch unmöglich, daß sie die Knoten für jenen unerreichbar, buchstäblich jenseits des Jordan, knüpften. Als Wallfahrtsbericht disqualifiziert sich der Text an dieser Stelle sowohl qualitativ als auch quantitativ: Zum einen stellt er das rituelle Bad im Jordan, Pflicht für den Pilger' 20 , in den Dienst eines heidnischen Rituals, zum anderen nehmen die drei Strophen, die bei diesem Anlaß gedichtet worden sein sollen und ausführlich wiedergegeben werden, etwa fünfmal soviel Raum ein wie der eben zitierte Bericht zum Palästina-Aufenthalt. Entsprechendes läßt sich anläßlich des Besuchs bei Manuel I. Komnenos feststellen: Miklagärd, das ja ein wichtiges Ziel der Reise war, fungiert in der Saga in erster Linie als der Ort, an dem ein neuer Höhepunkt im Zwist Rögnvalds mit dem Waräger Eindriöi erreicht wird. Demnach nimmt der byzantinische Basileus Manula den Jarl zu117
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 88, 254f.: Peir Rognvalldr iarl foru pa or Akrsborg, ok sottu alia hina helguzstu stadi a lorsalalandi. Peir foru allir til Iordanar ok lauguduz par. Peir Rognvalldr iarl ok Sigmundr aungull logduz yfir aana ok gengu par a land, ok pangat til, sem var hriiskiorr nockur, ok ridu par aa knuta stora.
118
Als Attribute des Verwünschten werden Trägheit und Hochmut genannt; letztere Eigenschaft war ja bereits früher auf Eindriöi gemünzt worden: ebd., Kap. 85, 226; vgl. auch oben, bei Anm. 43.
1,9
Dazu ausführlich
120
Zum Bad im Jordan als rituelle Handlung der Pilger:
MEISSNER
1925, 148ff. BRING & W A H L G R E N 1 8 2 7 , 4 1 .
Klaus Krüger
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nächst freundlich auf, beschenkt ihn und bietet ihm den Solddienst an. Durch die Intrigen Eindriöis kommt es jedoch zu einem Zerwürfnis zwischen dem Kaiser und dem Jarl; dieser schlägt das Angebot aus, und der Bericht fährt mit der Abreise Rögnvalds aus Konstantinopel fort. Dreimal soviel Raum allerdings nimmt die Beschreibung einer in Griechenland angesiedelten Episode ein, in der das Mißgeschick Erlings beschrieben wird, der, auf der Straße angerempelt, betrunken in den Morast stürzt; eine achtzeilige Strophe wird anläßlich dieses Ereignisses gedichtet. 121 Es ist offensichtlich, daß es hier nicht um Fremdwahrnehmung geht, nicht um die „Bewältigung fremder Wirklichkeit", wie es Arnold Esch in bezug auf das Spätmittelalter einmal ausgedrückt hat, und auch nicht darum, „das Fremde, das Andere [...] durch das Bekannte, das Eigene [zu] erfassen", wie Heiko Uecker formulierte. 122 Der Blick des Dichters ist nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet: Er beschreibt anläßlich dieser Fahrt nicht die bereisten Länder oder Küstenstriche, sondern die Reisenden selbst, vordringlich in kunstvoller Steigerung die Auseinandersetzung des Jarls mit seinem Rivalen. Das unterwegs Gesehene dient dabei allenfalls als Folie, auf das Verhaltensweisen projiziert werden, die dem von der gebildeten Hörerschaft erwarteten Muster entsprachen. Ort und Zeit der Handlungen spielten dabei keine große Rolle, denn dieses Muster war universell wirksam. Figurenkonstellation und Handlungsschema folgen denen in der seit Jahrhunderten mündlich tradierten Sagadichtung 123 ; sie sind hier lediglich vor einen anderen Hintergrund gestellt, der je nach Kontext religiös oder auch amourös ausfallen konnte. So haben wir den seltsamen Fall vor uns, daß der Dichter über eine Pilgerreise berichtet, von deren religiösen Motivationen er sich völlig unberührt zeigt, und von einer romantischen Liebesgeschichte, die irgendwann einfach nicht mehr fortgeführt wird.
8. Gesehenes wird Bericht wird Dichtung Ausgehend von der oben begründeten Annahme, der Besuch in Narbonne habe tatsächlich stattgefunden, ist also ein dreistufiges Modell der Überlieferung zu konstatieren. Wie gesehen, wurden bereits während der Reise vereinzelt herausragende Ereignisse wie die Eroberung der sarazenischen Dromone mittels lausavisur memoriert und so dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt; diese Verse dürften zusammen mit einer Vielzahl an unsystematischen Eindrücken und Berichten der Beteiligten nach Norwegen, Orkney und Island mitgebracht worden sein. 124 121
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 88.
122
ESCH 1 9 9 1 ; U E C K E R 1 9 8 9 , 6 9 ; v g l . z u r „ E r f a h r u n g d e r F r e m d e " a u c h : BRENNER 1 9 8 9 .
123
V g l . d a z u HOFMANN 1 9 7 1 , 173.
U4
Dies gilt wohl in erster Linie für solche Verse, die unmittelbaren inhaltlichen Bezug zu eher nebensächlichen Ereignissen der Reise aufweisen und weiterhin für diejenigen, die momentane Gefühlsstimmungen oder (in unseren Augen) alberne Scherze, Nichtigkeiten oder unverständliche Ereignisse kommentieren. Als Beispiele seien etwa die Verse angeführt, die nach einem Schiffbruch
Gesehenes wird Bericht wird Dichtung wird Quelle
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In den folgenden Jahrzehnten wurde das Geschehene - genauer: das jeweils Gesehene - mündlich überliefert, wobei diese Tradition im Laufe der Zeit von den Reisenden selbst auf Nicht-Beteiligte überging. Dabei fanden parallel ein Schwund- und ein Verdichtungsprozeß statt: das mitgebrachte Material büßte die weniger dramatischen Momente dieser subjektiven Wirklichkeiten ein. So entstanden die scheinbar ereignislosen Lücken innerhalb des Berichts: „Nichts wird berichtet von ihrer Fahrt, bis sie zu dem Seehafen kamen, der Narbonne heißt. " - „Nichts wird berichtet von der Fahrt des Jarls, bevor sie im Süden das Land der Sarazenen erreichten. " — ,, Und es wird nichts gesagt von ihrer Fahrt, bis sie im Norden nach Engelsnes kamen. " I25 Zugleich wurde das übrigbleibende Beachtenswerte in diejenige Reihenfolge gebracht, die am ehesten geeignet schien, es in seiner Dynamik zu steigern. So erhielt der nun entstehende Gesamtbericht, der sich bereits nur noch aus den herausragenden Episoden zusammensetzte, eine Struktur, die durch eine gewisse Regelmäßigkeit der HandlungsHöhepunkte gekennzeichnet ist. Sie hatte offenbar die Aufgabe, beim mündlichen Vortrag die Aufmerksamkeit der Zuhörer aufrechtzuerhalten. Der Bericht erhielt dadurch ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit und damit Authentizität. Demselben Zweck dienten die eingestreuten visur. Zum Teil als Stegreif-Dichtung unmittelbar nach den Ereignissen, zumeist aber wohl von den Beteiligten noch unterwegs oder aber nach ihrer Rückkehr und schließlich vielleicht auch von Unbeteiligten gedichtet, dienten sie dazu, die Erzählungen zu pointieren und weiter zu tradieren. So wurde aus der Summe hunderter Einzelberichte ein gleichsam offizieller' Reisebericht.126 Dieser wurde schließlich in einem letzten Schritt vom Saga-Dichter aufgegriffen, feinmodelliert und schriftlich fixiert, wobei womöglich weitere visur entstanden. 27 DaRögnvalds auf den Shetland-Inseln entstanden: der durchnäßte Jarl spottet in einer visa über sein eigenes Aussehen; er macht sich über eine vor Kälte stotternde Sklavin lustig; die Skalden bedanken sich mit Versen fur ihre Weihnachtsgeschenke: Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 85. Hans-Peter NAUMANN 1986. 188, prägte für die entsprechenden Strophen, die während der Palästinareise entstanden, den etwas despektierlichen Begriff ,Touristenskaldik'; vgl. auch DE VRIES 1 9 3 8 , 7 0 4 ; DERS. 1 9 6 0 , p a s s i m . 125
Orkneyinga saga (ed. NORDAL), Kap. 86, 231: Ecki er sagt fra ferpum peira, fyrr enn peir koma til sceborgar peirar, er Narbön heitir. - Ebd., Kap. 87, 245: Ecki er gelid um ferdpeirra iarls, fyrr enn peir koma sudrfyrir Serkland. - Ebd., Kap. 88, 257: Ok er ecki getit of ferp peira, fyrr en peir koma norpr til Engilsness. - Die Ortsbezeichnung Engelsnes begegnet auch im Bericht über Kg. Sigurds Reise (Sigurd Jorsalfar Saga, Übers. LAING, 58) sowie in der Reisebeschreibung des Nikuläs von Munkajwerä (Übers. HILL 1983, 179, 185). Es wird gemeinhin mit St. Angelo (Kap Maleas an der Südspitze des Peloponnes) gleichgesetzt; nicht überzeugend dagegen BLÖNDAL 1978, 156, der es für das Vorgebirge des Flusses Aegos an den Dardanellen hält.
126
Abschließend ist hier noch einmal zu betonen, daß die vorliegende Untersuchung die Berichte der Sagas über Pilgerreisen aus historischer Sicht betrachtet. Die Argumente der sprach- und literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die .Echtheit' der visur können und sollen hier nicht benutzt werden; vgl. etwa den Zwist zwischen GERING 1911; DEMS. 1915 u. JONSSON 1912; DEMS. 1912/13, zwischen ANDERSSON 1969 u. EINARSSON 1971.
127
Mit DE VRIES 1960 halten wir diejenigen Verse, deren ,mythologische Kenninge' die Namen paganer Götter aufweisen, für besonders verdächtig, nicht vom pilgernden Jarl selbst, sondern später
100
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bei schildert der Prosa-Text die jeweils äußere Situation, in der einzelne Verse entstan12g den sind oder sein sollen. An dieser Stelle soll noch einmal die Frage nach der Person 129 des Verfassers berührt werden. Wir stimmen zunächst Jan De Vries zu, der bezüglich der Strophen konstatiert, sie „atmen gar keinen Kreuzfahrergeist, sondern erzählen nur von einer anmutigen Liebesgeschichte und derben Kampfszenen. Das kann zu einem weltlichen Zuhörerkreis stimmen." Dagegen können wir seinem Schluß nicht folgen, diese Erzählung „konnte nur von einem, der dabei gewesen war, zusammengestellt werden." Er hält es für wahrscheinlich, daß Armod oder Oddi, einer der beiden Skalden, die den Jarl seit Ende 1148 begleiteten, die Saga verfaßt habe. Anlaß sei die Heiligsprechung Rögnvalds im Jahre 1192 gewesen, für die eine Vita erstellt werden mußte. Nun sei zwar „nicht alles für die Kanonisation geeignet" gewesen, „aber die Bevölkerung der Orkaden interessierte sich natürlich lebhaft, so viel wie möglich von dem geliebten Jarl zu hören." 130 Wie oben ausfuhrlich dargelegt, kann der Verfasser unserer Auffassung nach gerade nicht selbst an der Reise beteiligt gewesen sein. Die Niederschrift der Saga hatte auch keineswegs den Zweck, eine lebhaft interessierte Bevölkerung oder gar eine Kanonisationskommission mit Informationen zu versorgen, sondern vielmehr den, die überall kursierenden Erzählungen und Verse in einen dichterisch aufbereiteten Text, ein literarisches Kunstwerk also, einzufügen. In diesem Stadium der Textgestaltung dürfte die kunstvolle Steigerung in der Auseinandersetzung des Jarls mit seinem Rivalen sowie deren Niederschlag in sichtbaren Symbolen wie den verzierten Schiffen entstanden sein. Als Material dienten dem Dichter also die Berichte der Zurückgekehrten, aber er verwendete sie nicht in strenger inhaltlicher und chronologischer Stringenz, sondern als Versatzstücke, die beinahe beliebig kombinierbar waren. So konnte denn Narbonne an den Atlantik verlegt werden, ohne beim weitgereisten Publikum Anstoß zu erregen: Selbst für die einstmals Beteiligten war es nicht mehr historischer Ort, sondern Kulisse für die Heldentaten ihres Jarls und seiner Männer.
von einem Dichter, der ein weltliches Publikum zu bedienen hatte, verfaßt worden zu sein. Vgl. oben Anm. 107. 128
Der zeitliche Abstand zu den Ereignissen bewirkte mitunter, daß auch dem Verfasser der Saga die Bedeutung einzelner tradierter Verse nicht geläufig war, so daß sein Versuch, ihren Hintergrund zu schildern, fehlschlug. Als Beispiele kann eine Strophe im 72. Kapitel der Orkneyinga saga gelten, die der Jarl vor der Kirche stehend macht, als 16 kahlköpfige Männer vorüber gehen. In mehreren komplizierten Kenningen werden diese mit Frauen (oder mit Meereswellen?) verglichen, ohne daß der Sinn des Ganzen deutlich würde. D E V R I E S 1960, 139: „Es ist jedenfalls klar, daß der Verfasser des einleitenden Prosaberichts auch keine Ahnung von der Bedeutung der Strophe gehabt hat."
129
Dazu bereits oben bei Anm. 23.
130
D E VRIES 1960,
140f.
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108
Klaus
Krüger
Anhang
Abb. 1: Orkneyinga
saga. Pergament (21 χ 16,5 cm), Island, ca. 1300. Arnamagnäische Sammlung
Kopenhagen: AM 325 1, 4°. Das Blatt beschreibt den Besuch der Norweger in Narbonne. Ab Ende der 2. Zeile liest man: (Ok) / e(r) p(ei)r kofmju 1(H) veizlu(nnar),
v(ar) pfar•) inn bezti fagnapr
(ok) engi hlutr
spa-
rapr / t(ü), sa e(r) i(arli) v(ar) pa meiri somi enn apr. - „Und als sie zu dem Fest kamen, gab es die beste Unterhaltung, und dem Jarl wurde nichts vorenthalten, was ihm zur Ehre gereichte." Der Text fahrt mit der Romanze zwischen Ermingerö und Rögnvald fort (vgl. bei Anm. 54). Die verzierten Hervorhebungen kennzeichnen den Beginn der Verse, die der Jarl anschließend sprach. Ende der 9. Zeile: Vist e(r) at - „Das ist gewiß" (vgl. ebd.); 18. Zeile: Orp sk(al) Ermingerpar
- „Den Worten Ermingerös (vgl. bei Anm. 57). Weitere visur seiner
Skalden Armod und Oddi folgen ab der 21. und der 24. Zeile.
Hermann von Brüninghausen Wappenkönig der Ruwieren Von Harm von Seggern (Kiel) Über das höchste Heroldsamt des Spätmittelalters, den Wappenkönig der Ruwieren, weiß man zuwenig, als daß man achtlos an den wenigen Quellen vorbeigehen könnte, in denen es erwähnt wird. Die folgenden Rechnungsauszüge gewinnen fur die moderne Historiographie des Heroldswesens an besonderer Bedeutung, weil sie die Existenz dieses Amtes auch noch für das endende 15. Jahrhundert zeigen und darüber hinaus die Identifizierung eines der Forschung bereits bekannten Heroldes ermöglichen. Es gibt nur wenige gelehrte Beiträge, die sich mit der Geschichte des Wappenkönigs der Ruwieren beschäftigen. 1 In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand zuerst am englischen, dann gegen Ende des Jahrhunderts am französischen Königshof das Amt des Wappenkönigs, dessen Inhaber die Aufsicht über die Heraldik des ganzen Königreiches besaß und somit den anderen Wappenkönigen übergeordnet war, deren Zuständigkeit sich nur über eine einzelne Provinz erstreckte. In England trug er den Amtsnamen „Garter" (nach dem Hosenbandorden), in Frankreich „Montjoie" (nach dem Kriegsruf der französischen Könige). Im Reich gab es dergleichen nicht. Aber zumindest im Westen des Reichs begannen sich gleichzeitig Veränderungen abzuzeichnen. In den Jahren 1362/63 erschien in der Grafschaft Holland mit einem Jan van Steensel der erste coninc van den Ruyeren, der aller Wahrscheinlichkeit nach im Dienst des Herrn Zweder van Abcoude stand und später von Graf Albrecht von Holland eine jährliche Pension erhielt." Es bleibt das Verdienst Johan Huizingas, nachgewiesen zu haben, daß man mit dieser Benennung an eine der großen Turnierparteien des Hochmittelalters anschloß, die noch in der ritterlichen und heraldischen Literatur, die im 15. Jahrhundert am burgundischen Hof gepflegt wurde, eine gewisse Rolle spielte.3 Gemeint waren die Turnierteilnehmer aus dem Gebiet westlich des Rheins bis zur Maas reichend, im Süden bis etwa an die Mosel stoßend. Das Wort leitete sich, so Huizinga, von der alten Landschaftsbezeich1
Hier in c h r o n o l o g i s c h e r R e i h e n f o l g e : SEYLER 1890, 2 8 ; BEELAERTS VAN BLOKLAND 1 9 3 3 : HUIZINGA 1 9 3 8 ( N D
1 9 6 6 ) , 5 3 5 - 5 4 6 ; L O N D O N 1 9 7 0 : VAN A N R O O I J
1990, 6 7 - 7 7 ;
VERBIJ-SCHILLINGS
1 9 9 5 , 2 1 f. u. 2 3 3 f . 2
V g l . VAN A N R O O I J 1 9 9 0 , 7 2 m i t A n m . 8 6 .
3
Vgl. HUIZINGA 1938 ( N D 1966), 5 3 6 - 5 3 8 (langes Zitat von Antoine de la Salle: Des anciens tournois et faictz d'armes, u. Olivier de La Marche: Estat de la maison du due Charles).
110
Harm von Seggern
nung dieses Raumes her: Ripuarien. 4 Ihnen an die Seite zu stellen sind die Poyers, die Turnierritter aus den sich westlich anschließenden Landen. Die Etymologie dieses Worts ist nicht ganz so klar; wahrscheinlich leitete sich diese Bezeichnung von der nordfranzösischen Burg oder Stadt Poix ab.5 Am burgundischen Hof kannte man im 15. Jahrhundert noch den Roy de Poyers, der für die niederländisch-französischen Wappenprovinzen zuständig war. Dieses Wappenkönigtum war jedoch mehr als nur eine literarisch-gelehrte Reminiszenz. Der Forschung sind einzelne Amtsinhaber und ihre bisweilen diplomatischen Tätigkeiten bekannt. Neben dem wegen seiner literarischen und historiographischen Werke kürzlich gut erforschten Claas Heinenz., auch bekannt als Herold Gelre 6 , ist bisher als weiterer Wappenkönig der Ruwieren der Herold Heinrich von Heessei bekannt, der vor seiner Erhöhung durch Kaiser Siegmund und Herzog Philipp den Guten von Burgund unter der Amtsbezeichnung „Österreich" in habsburgischen Diensten stand. 7 König Friedrich III. bestätigte nach seiner Wahl zum Römischen König am 28. Mai 1440 diese Würde. 8 Heinrich von Heessei war es, der 1447 vom burgundischen Herzog Philipp an den Kanzler Friedrichs III., Kaspar Schlick, ausgeschickt wurde, um im höchst geheimen über eine mögliche Königskrönung des burgundischen Herzogs zu verhandeln 9 ; ein Sohn Heinrichs mit Namen Wilhelm berichtete dem Herzog von Burgund darüber. 10 Noch 1462 wird Heinrich von Heessei als Mitglied in einer Liste der Bruderschaft zum Hl. Kreuz auf dem Koudenberg bei Brüssel verzeichnet, wo er ausdrücklich als Wappenkönig der Ruwieren bezeichnet wird; zugleich erfährt man den Namen seiner Ehefrau, Lijsbet va[n] Outhoesde[n], und auch ihr gemeinsamer Sohn Willem war Mitglied der Bruderschaft." Danach verlieren sich allerdings die Spuren. Aus der Zeit Maximilians I. ist bisher nur das Formular fur Ernennungsurkunden überliefert, bei dem allerdings keine Namen eingetragen sind. 12 Die folgenden Auszüge aus den burgundischen Rechnungen ermöglichen es nun, einen der Nachfolger etwas genauer zu erfassen. Zunächst ist festzuhalten, daß auch nach Heinrich von Heessei noch ein Wappenkönig der Ruwieren in den Niederlanden erscheint: Am 6. Juli 1467 schenkte Frank van Borselen, Graf van Oostervant, dem
4
V g l . HUIZINGA 1938 ( N D 1966), 5 3 9 - 5 4 3 .
5
V g l . HUIZINGA 1 9 3 8 ( N D 1966), 5 4 3 - 5 4 6 .
6
Vgl. zu den Ehrenreden VAN ANROOIJ 1990, zu den chronikalischen Werken VERBIJ-SCHILLINGS
7
V g l . VAN ANROOIJ 1990, 71 mit Anm. 7 9 - 8 0 .
8
V g l . C H M E L 1 8 3 8 ( N D 1 9 6 2 ) , 9 , N r . 6 3 ; SEYLER 1 8 9 0 , 2 8 .
1995.
9 10 11
V g l . HUIZINGA 1938 ( N D 1966), 539; siehe BONENFANT & BONENFANT 1935, 1 0 - 2 3 , hier 12. V g l . CHMEL 1838 ( N D 1962), 2 3 5 , Nr. 2 3 0 5 . V g l . VAN ANROOIJ
1 9 9 0 , A n m . 81 a u f S. 2 4 2 z u S. 7 1 m i t V e r w e i s a u f PINCHART 1 8 6 3 ,
156
[non
vidi], - Druck des Bruderschaftsbuch bei BÖHME 1996, 29, Nr. 261. Älterer, stark gekürzter Druck: R[UELENS] 1860, 2 2 0 - 2 2 4 , hier 224. 12
V g l . VAN ANROOIJ 1 9 9 0 , 7 2 m i t A n m . 8 5 ; SEYLER 1 8 9 0 , 2 8 .
Hermann von
Brüninghausen
111 13
coninck van den herauden of van den royeren die S u m m e v o n 8 Postulatsgulden. Im V e r g l e i c h mit den Beträgen, die anderen Herolden zuerkannt wurden, tritt der höhere R a n g d e s W a p p e n k ö n i g s deutlich hervor. 1 4 E b e n s o u n b e s t i m m t bleibt ein H i n w e i s aus e i n e m V e r z e i c h n i s der ordentlichen H o f g a g e n d e s burgundischen H o f e s aus d e m Jahr 1476. Im Juni d i e s e n Jahres erhielt der W a p p e n k ö n i g der Ruwieren für s e i n e A n w e s e n h e i t am H o f 18 Ib., e b e n s o auch der W a p p e n k ö n i g T h o i s o n d'or, der W a p p e n k ö n i g Brabant und der W a p p e n k ö n i g Artois. 1 5 In d e m V e r z e i c h n i s ist der Roy de Royer n o c h vor d e m W a p p e n k ö n i g des Ordens v o m G o l d e n e n V l i e s angeführt, w a s einmal mehr den besonderen R a n g dieser Person herausstreicht. G e n a u e r e H i n w e i s e erhalten wir j e d o c h erst aus der R e g i e r u n g s z e i t M a x i m i l i a n s I. als H e r z o g in den Niederlanden. N a c h seiner Heirat mit Maria v o n Burgund, der T o c h ter und Erbin Karls d e s Kühnen, am 19. A u g u s t 1477 übernahm er die R e g i e r u n g s g e schäfte. A u s der ersten R e c h n u n g des Generalrentmeisters aller Finanzen N i c o l a s le Prevost, die die A u s g a b e n des Zeitraums v o m 1. September bis 31. D e z e m b e r 1477 v e r z e i c h n e t 1 6 , erfährt man, daß M a x i m i l i a n am 5. S e p t e m b e r 1 4 7 7 den Herman van Brunecouche dit Juilliers, roy des royers, v o n B r ü g g e nach L ö w e n entsandte, um eine G e s a n d t s c h a f t d e s H e r z o g s v o n Jülich-Berg zu e m p f a n g e n . 1 7 B e a c h t e n s w e r t ist, daß als
13
Den Haag, Algemeen Rijksarchief (im folgenden ARA), Rekenkamer, Rek.nr. 5591 (Rechnung Jan Brants, Generalrentmeister, 1467/68, der Domänen von Frank van Borsselen) Pergament, fol. 51 r: Item opten vf" dach van julio [6. Juli 1467] bij bevele van mijnen heere, dair Aerst van der Α die boidscip af dede, den coninck van den herauden of van den royeren die bij mijnen heere was ten Briele, viij postulatsgulden, facit, 18 s.
14
Den Haag, ARA, Rekenkamer, Rek.nr. 5591 (Rechnung Jan Brants, Generalrentmeister, 1467/68, der Domänen von Frank van Borsselen) Pergament, fol. 50v: Am 19. März 1467 wurden dem Beyeren, den herault, also men him plecht te gevene, ij beyers gulden, 4 s. 8 d. gezahlt; fol. 51 r— 52v: Am 21. Okt. 1467 eenen herault geheten Marchmonde, herault van Scotland, die ten Brielle was bij mijnen heere, 2 neue Gulden 4 s. gro. Im Rechnungsjahr 1468/69 (Den Haag, ARA, Rek., Rek.nr. 5592, fol. 49r) wurden am 6. Sept. 1468 des hertogen porstevant van Brunswijck ij arnoldusgulden gegeben, facit 3 s. 8 gro. - Braunschweiger Herolde sind übrigens nicht so selten, wie man denken sollte, siehe D E M A N D T 1956, 1741-1743, Nr. 6080 (Rechnung des Zollschreibers zu St. Goar 1431/32), Absatz 8 zum 28. März 1432 u. 1818-1827, Nr. 6095 (Rechnung des Landschreibers zu Darmstadt 1451/52), Absatz 35 auf S. 1824 zum 25. Sept. 1451. Eine kursorische Durchsicht der Hildesheimer Stadtrechnungen erbrachte hingegen keine Hinweise auf Braunschweiger, jedoch auf kaiserliche und einen dänischen Herold: DOEBNER 1899 (ND 1980), 632f., 684, 686 u. 690 (nicht im Index).
15
Lille, Archives departementales du Nord (im folgenden ADN), Β 3377, Nr. 1 13.555, fol. 9v: le roy de royer 18 Ib., Thoison d'or 18 Ib., le roy d'armes de Brabant 18 Ib., le roy d'armes d'Artois 18 lb.
16
Lille, ADN, Β 2115.
17
Lille, ADN. de neuflivres Bruges estre l'ambassade et retournant
Β 2115, fol. 63v: A Herman van Brunecouche dit Juilliers, roy des royers, la somme dudit pris pour le v" jour dudit mois de septembre [5. Sept. 1477] et de ladite ville de ale par l'ordonnance de mondit seigneur en la ville de Louvain pour faire assembler de monseigneur le due de Juilliers et de Möns. En quoy il a vacque allant, besongnant par dix jours entiers finis tous ensuivans qui au pris de dix huit solz dicte monnoie
112
Harm von Seggern
Spitzname des W a p p e n k ö n i g s „Jülich" a n g e g e b e n ist, w a s daraufhin w e i s e n kann, daß er vorher in Jülicher Diensten gestanden hatte oder noch stand. D i e s e Vermutung wird durch die Sachangelegenheit, den E m p f a n g einer Jülicher Gesandtschaft, weiter gestützt. In dieselbe Richtung weist die Abrechnung einer weiteren Reise im Auftrag Maximilians. A m 15. Oktober 1477 wurde der Wappenkönig wieder von Brügge aus entsandt, wieder an die Gesandten des Herzogs von Jülich 1 8 , die er in Maastricht erwartete und v o n dort nach Brügge begleitete, w o sie Herberge nahmen, während der Wappenkönig weiter zum Erzherzog nach M ö n s reiste, um zu erfahren, w i e mit der Gesandtschaft verfahren werden sollte. Daraufhin reiste er wieder nach Brügge und geleitete die Jülicher Gesandten zum Erzherzog, der sich inzwischen nach Brüssel b e g e b e n hatte, w o sie am 4. N o v e m b e r eintrafen. 1 9 W e n n auch die N a m e n s f o r m problematisch ist, da die Französisch (und Niederländisch?) sprechenden Schreiber des burgundischen H o f e s bzw. der R e c h e n k a m m e r den niederdeutschen N a m e n nach dem Hören geschrieben haben dürften, so ist dennoch eine Identifizierung möglich. D i e Spuren verweisen auf den aus Jülicher Diensten stammenden Hermann von Brunecousse, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit d e m der heraldischen Forschung seit längerem bekannten Herold und Wappen-
que mondit seigneur lui a tauxe et ordonne prenre et avoir de lui par jour font ladicte somme de ix Ib., pour ce par sa quictance contenant affirmacion en sa conscience d'avoir vaquie par les jours et pour la cause cy dessus declairee, cy rendue ladite somme de 9 lb. 18
Lille, ADN, Β 2115, fol. 69r: A Herman de Brunencousse, roy de royers, la somme de sept livres quatre solz dudit pris en prest a lui fait pour le xv"jour dudit mois d'octobre [15. Okt. 1477] et dudit lieu de Bruges porter par l'ordonnance et commandement de mondit seigneur ses lettres closes adressans a monseigneur le due de Juilliers et a ses gens y estans [in Maastricht] pour les conduire par devers mondit seigneur pour aueunes matieres secretes dont il ne veult autre declaracion icy estre faicte, pour ce icy par sa quictance cy rendue ladicte somme de 1 Ib. 4 s. Links am Rand ein Korrekturvermerk, der auf den Rechnungseintrag auf fol. 77 verweist; siehe die folgende Anm.
19
Lille, ADN, Β 2115, fol. 77r: A Herman de Brunecousse, roy des royers, la somme de dix livres seize solz dudit pris qui deue lui estoit pour par l'ordonnance de mondit seigneur et de sa ville de Bruges le xv jour d'octobre dernier passe [15. Okt. 1477] estre ale devers les gens de monseigneur le due de Juillers estans lors α Treckt [Maastricht] pour iceulx mener et conduire devers mondit seigneur ou qu'il fust pour certaines matieres dont il ne veult autre declaracion icy estre faicte. Enquoy il a vacquie allant, attendant apres iceulx gens audit Treckt et d'illec estre venu avec eulx en la ville de Bruges ou il les laissa, et s'en ala d'illec devers mondit seigneur en sa ville de Möns pour savoir on son bon plaisir estoit que lesdits gens venissent par devers lui. Et retourna audit Bruges devers lesdits gens et les amena devers mondit seigneur en sa ville de Brouxeles jusques au iiif jour dudit mois de novembre [4. Nov. 1477], on sont comprins lesdits jours includz vingt jours entieres qui au pris de dixhuit solz dicte monnoie que mondit seigneur lui α tauxe et ordonm prenre et avoir de lui par jours font la somme de xviij livres dudit pris, surquoy il a recu en prest au commenchement d'icellui voiaige par les mains dudit receveur general la somme de vij livres iiij solz, ainsi lui estoit demeure deu de reste ladite somme de χ livres xvj solz, pour ce icy par sa quictance contenant affirmacion en sa conscience d'avoir vaquie par les jours et pour les causes que dessus, cy rendue ladicte somme 10 1. 16 s.
Hermann von
Brüninghausen
113
könig Hermann von Brüninghausen (oder in anderen verlesenen Schreibweisen Brunshof^f]en, Brunchoyfen) des Jülicher St. Hubertusordens identisch sein dürfte. 20 Leider sind die Angaben zu Leben und Werdegang zu spärlich, als daß man eine biographische Skizze wagen könnte. Sicher ist nur, daß er unter dem heraldisch sehr interessierten Herzog Wilhelm (IV.) von Jülich-Berg (reg. 1475-151 1)21 Herold und Wappenkönig war; conynck der vapperey nennt er sich selbst im 1475 angelegten Wappenbuch des Ordens. 2 In anderen Jülicher Quellen wird er allein mit dem Vornamen genannt. Beispielsweise erscheint er als /^er]wia[n] p[zr]sevant in einem Schreiben des Herzogs und der Herzogin vom 19. Februar 1470. Doch gab es zu dieser Zeit am Jülicher Hof keinen anderen Herold mit dem Vornamen Hermann 24 , so daß die Identifizierung als gesichert anzunehmen ist. Hermann von Brüninghausen versah dieses Amt schon unter Herzog Gerhard VII., dem Gründer und ersten Souverän des Ordens. Als Amtszeit wird für ihn der Zeitraum 1461-1501/02 angegeben. 25 Ein Verzeichnis der in Köln eingekauften Sommerkleidung des Jahres 1461 weist ihn als Persevant aus 26 , ein leider undatiertes Verzeichnis der Winterkleidung nennt ihn H[er]man /z[er]a/f.27 Im Jahre 1470, also noch zu Lebzeiten Gerhards, hielt er sich mit dem Jungherzog Wilhelm am burgundischen Hof auf und erhielt von Herzog Karl dem Kühnen als Geschenk 12 Ib. In einer sehr entstellten
20
Z u r P e r s o n : SCHMIDTCHEN 1 9 8 1 , S p . 1 0 5 2 - 1 0 5 4 ; VON BERCHEM 1 9 7 2 , 4 I f . u. 6 2 . Z u m O r d e n s i e h e LAHRKAMP 1 9 5 9 , 3 - 4 9 ; PETERS 1 9 8 4 ,
1 3 6 - 1 3 9 ; PIETZSCH
1 2 5 - 1 3 2 ; KRUSE &
1971,
OSSOBA
1 9 9 1 , 3 5 2 - 3 7 6 , Nr. 71. 21
Zu Wilhelm, einem der engsten Parteigänger Maximilians am Niederrhein und in den Niederlanden, siehe REDLICH 1898, 100-106. Zu seinem heraldischen Interesse siehe LAHRKAMP 1959, 28 mit Anm.
22
78.
SCHMIDTCHEN 1 9 8 1 , S p . 1 0 5 4 ; VON BERCHEM 1 9 7 2 ,
1 3 6 ; PIETZSCH 1 9 7 1 , 4 1 f. ( m i t K o r r e k t u r d e s
Datums der Handschrift). 23
Düsseldorf, Hauptstaatsarchiv (im folgenden HStA), Jülich-Berg I, Nr. 104, fol. 14r.
24
V g l . PIETZSCH 1 9 7 1 , 6 2 f .
25
Vgl. PIETZSCH 1971, 62; LAHRKAMP 1959, 28; Lahrkamp folgen die neueren Autoren: PETERS 1984 128; BAUMEISTER 1984, 2 3 4 - 2 4 4 , hier 242. - Keine Hinweise auf den Herold bei PAULS 1907, 157-178. - Herzog Gerhard war jedoch seit 1453, spätestens seit 1455 geisteskrank, weswegen seine Frau Sophia, eine Tochter des Herzogs Bernhard von Sachsen-Lauenburg, die Regierungsgeschäfte zusammen mit dem Hofmarschall Johann vom Haus führte, welch letzterer die Gelegenheit zur Bereicherung ausnutzte und deswegen von der Herzogin mit einem Verfahren vor den bergischen Landständen überzogen wurde, das ohne Urteil endete, siehe ESCHBACH 1900, 1-23. hier 5 mit Anm. 1, ihm folgend PIETZSCH 1971, 37. - Ferner HARLEB 1878, 471^473 (nennt Geisteskrankheit erst ab 1460).
26
Düsseldorf. HStA. Jülich-Berg 1. Nr. 100, fol. 6v. 7r u. 9r.
27
Düsseldorf. HStA, Jülich-Berg I, Nr. 79, fol. 33r. Brüninghausen steht in der Liste vor
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