Individuum und Individualität im Mittelalter [Reprint 2010 ed.] 9783110824735, 3110148927, 9783110148923


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German Pages 901 [924] Year 1995

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Individuum und Individualität im Mittelalter [Reprint 2010 ed.]
 9783110824735, 3110148927, 9783110148923

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Individuum und Individualität im Mittelalter

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Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln Herausgegeben von Jan A. Aertsen

Band 24 Individuum und Individualität im Mittelalter

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

Individuum und Individualität im Mittelalter

Herausgegeben von Jan A. Aertsen und Andreas Speer Für den Druck besorgt von Andreas Speer

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Individuum und Individualität im Mittelalter / hrsg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Miscellanea mediaevalia ; Bd. 24) ISBN 3-11-014892-7 NE: Aertsen, Jan A. [Hrsg.]; GT

ISSN 0544-4128 © Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

nie moift tir πι qud aa§r «a wa// /Ar Selbstbildnis (1401 - 1402), Paris, Bibliotheque Nationale, Fr. 12420, fol. lOlv.

Vorwort Unter dem Thema „Individuum und Individualität im Mittelalter" fand vom 13. bis 16. September 1994 in der Universität zu Köln die 29. Mediaevistentagung statt, die seit nunmehr über vierzig Jahren vom Thomas-Institut ausgerichtet wird. Mehr als 300 Mittelalterforscher aus über 20 Ländern, aus Übersee und aus ganz Europa, darunter wiederum eine namhafte Zahl Forscher aus ganz Mittel- und Osteuropa, waren der Einladung gefolgt, um aus der Sicht ihrer Disziplinen systematisch wie historisch den durch das Tagungsthema angeregten Fragestellungen nachzugehen. Der vorliegende 24. Band der Miscellanea Mediaevalia steht gleichfalls unter dem Generalthema der 29. Kölner Mediaevistentagung. Er enthält jedoch neben den in den 12 Tagungssektionen gehaltenen Vorträgen1 weitere Beiträge zum Tagungsthema, welche die Diskussion ergänzen und weiterführen. Das Thema „Individuum und Individualität im Mittelalter" steht in Widerspruch zu den noch immer weit verbreiteten Vorurteilen über das Mittelalter. Denn nach wie vor wird die geistesgeschichtliche Forschung weithin durch die Perspektive bestimmt, daß die wachsende Besinnung auf das Individuum die Abkehr vom mittelalterlichen und den Beginn eines neuen Bewußtseins anzeige. Im Vergleich zu dieser als Renaissance bezeichneten Epoche erschien das ihr vorausliegende Mittelalter lange Zeit als weitgehend uniform. Inzwischen hat die historische Erschließung des Mittelalters jedoch die Uniformitätsthese gründlich widerlegt. Das etwa ein Jahrtausend umfassende Mittelalter ist auf allen Feldern der Kultur- und Geistesgeschichte mehr und mehr als eine vielgestaltige Epoche in den Blick getreten, in der auch die Rolle des Individuums und die Eigenart des Individuellen als höchst bedeutsam angesehen werden. Zu den wichtigsten Erträgen der 29. Kölner Mediaevistentagung darf gezählt werden, daß die Einsicht in die Bedeutung des Individuellen nicht nur das Ergebnis historischer Analysen mentalitätsgeschichtlicher Zusammenhänge ist, sondern sich vor allem auch auf der theoretischen Ebene mittelalterlicher Diskussionen widerspiegelt. Es zeigt sich, daß die Frage nach dem Individuellen und den damit verbundenen Problemstellungen — Jörge Gracia zufolge „one of the major philosophical problems of all times"2 — im Mittel1

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Cf. A. Speer, Individuum und Individualität im Mittelalter. Tagungsbericht über die 29. Kölner Mediaevistentagung vom 13. bis 16. September 1994, in: Bulletin de philosophic medievale 36 (1994), 199-205. J. J. E. Gracia (ed.), Individuation in Scholasticism. The Later Middle Ages and the CounterReformation 1150-1650, Albany (State University of New York Press) 1994, IX.

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Vorwort

alter eine ihrer Bedeutung entsprechende breite theoretische Ausarbeitung und Fortgestaltung erfährt. Dieses theoretische Bemühen um das Verständnis von Individuum und Individualität ist jedoch nicht auf das Problem der Individuation und die Frage nach dem Individualitätsprinzip beschränkt. Wenn auch die Entfaltung der unterschiedlichen Individualitätskonzeptionen maßgeblich mit den Auseinandersetzungen um das Individualitätsprinzip einhergeht, so zeigt sich die Bedeutung der Individualitätsthematik darüber hinaus gleichwohl in verschiedenen systematischen Zusammenhängen, beispielsweise in den naturphilosophischen und anthropologischen Problemstellungen, aber auch in der ursprünglich theologisch motivierten Frage nach Individualität und Personalität. Die Frage, welche Bedeutung dem Individualitätsdenken für die Ethik, die politische Philosophie und die Staatslehre zukommt, lenkt den Blick auf jene Aspekte der Individualitätsthematik, die einer interdisziplinären Annäherung bedürfen. Hierzu zählen Themen wie Geschichtsschreibung und Verfasserbewußtsein, Individualitätsbewußtsein und mystische Selbsterfahrung, Autorschaft, Biographie und künsderische Individualität. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, inwiefern hier die Individualitätsthematik auch theoretisch reflektiert wird, ob und wie diese theoretischen Bemühungen wiederum mit den begrifflichen und systematischen Grundlegungen zusammenhängen. Damit ist bereits die Gliederung des vorliegenden Bandes vorgestellt, die nach systematischen Gesichtpunkten erfolgt. Die historische Entwicklung der Gesamtthematik kann somit nur bezogen auf die jeweiligen nach thematischen Gesichtspunkten geordneten Abschnitte zur Darstellung gebracht werden. Auf diese Weise soll der Versuch unternommen werden, insbesondere den systematischen Ertrag der letzten Mediaevistentagung stärker zu akzentuieren und vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung zur Geltung zu bringen. Ein solches Vorhaben kann jedoch nicht Vollständigkeit anstreben. Gleichwohl können gerade die erkennbaren Akzentsetzungen - bei allem Eingeständnis gewisser Kontingenzen, die jedoch nicht allein den Tagungsveranstaltern und Herausgebern zuzurechnen sind, sondern auch das Forschungsinteresse in der jeweiligen Disziplin widerspiegeln — einen Einblick in wichtige Schwerpunkte der mittelalterlichen Diskussion wie auch der gegenwärtigen Mittelalterforschung eröffnen. Der unlängst von Jörge Gracia herausgegebene Sammelband „Individuation in Scholasticism. The Later Middle Ages and the Counter Reformation 1150-1650" zeigt demgegenüber, daß der Versuch einer auf Vollständigkeit angelegten historischen Übersicht an die Zuspitzung auf einen bestimmten Aspekt der philosophischen Diskussion der Individualitätsproblematik, bei Gracia auf die Frage der Individuation, gebunden ist. In dieser Unterschiedlichkeit der Annäherung an ein so umfassendes Thema „of [...] perennial philosophical interest"3 liegt zugleich aber auch der Reiz einer komplementären Lektüre. 3

J. J. E. Gracia, op. cit., IX.

Vorwort

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Begleitet wurde die Tagung von einer zusammen mit der Cusanus-Gesellschaft Bernkastel-Kues und der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bildungswerk Köln, ausgerichteten Ausstellung in der Galerie der Universität, die Nikolaus von Kues gewidmet war und Einblick in die Lebens- und Denkwelt einer der großen Persönlichkeiten an der Schwelle des Mittelalters zur Renaissance gab. Für ihre Unterstützung und Mithilfe gilt in diesem Zusammenhang unser ganz besonderer Dank dem Vorsitzenden der Cusanus-Gesellschaft, Herrn Dr. Helmut Gestrich, ferner Herrn Dr. Hans Gerhard Senger von der Cusanus-Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am ThomasInstitut sowie dem Leiter der Galerie in der Universität, Herrn Dipl.-Pol. Frank Krabbe. Das Profil der geschichtlichen Persönlichkeit des Nikolaus von Kues entwarf Prof. Dr. Erich Meuthen in einem Abendvortrag, der in diesen Band aufgenommen wurde. Auch im vergangenen Jahr konnte die kunsthistorische Sektion der Tagung abermals im Schnütgen-Museum für mittelalterliche Kunst stattfinden, dessen Direktorin Frau Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen wiederum unser herzlicher Dank gilt. Ihre Einführung in die Sammlung des Schnütgen-Museums unter der Perspektive der Tagungsthematik findet sich gleichfalls in diesem Band. Zu den Voraussetzungen für ein interdisziplinäres Gespräch und für die Begegnung von Forschern gehört nicht zuletzt die finanzielle Unterstützung, die uns auch anläßlich der vergangenen Mediaevistentagung von verschiedener Seite zuteil geworden ist. Unser Dank gilt namentlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, ferner dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der Rudolf Siedersleben'schen Otto Wolff Stiftung und der Konrad-AdenauerStiftung. Nur dank der Förderung durch staatliche Institutionen, Stiftungen und Mäzene war es möglich, daß die 29. Kölner Mediaevistentagung in dem geplanten Rahmen stattfinden konnte. Hierfür sagen wir im Namen aller Teilnehmer auch an dieser Stelle nochmals unseren anerkennenden Dank! Herzlich gedankt sei ferner dem Rektor der Kölner Universität Prof. Dr. Ulrich Matz, der, einer alten Tradition folgend, die Teilnehmer der Mediaevistentagung zu einem Abendempfang in den Alten Senatssaal der Universität zu Köln bat. Unser Dank gilt ferner allen Mitarbeitern der Universität zu Köln, deren Hilfe wir stets in Anspruch nehmen durften. Besonders gedankt sei abermals den Mitarbeitern des Musikwissenschaftlichen Instituts und seinem damaligen Direktor Prof. Dr. K. W Niemöller für die Bereitstellung des Musiksaales als Tagungsort und für die gewährte technische Unterstützung. Die Vorbereitung und die Organisation der 29. Kölner Mediaevistentagung lagen wie stets in den Händen der bewährten Mitarbeiter des Thomas-Instituts. Ein Gleiches gilt für die redaktionellen Arbeiten an diesem Band, für dessen Register erneut Hermann Hastenteufel M. A. verantwortlich zeichnet. Ausdrücklich genannt sei ferner die großzügige Mithilfe von Martin J. Tracey

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Vorwort

M.A. M.M.S., Medieval Institute der University of Notre Dame und z. Z. Fulbright-Stipendiat am Thomas-Institut, bei der Redaktion der englischsprachigen Beiträge. Allen Mitarbeitern sei für ihren engagierten Einsatz und ihre vielfältige Unterstützung besonders herzlich gedankt. Schließlich gilt unser Dank Frau Grit Müller für die wie stets umsichtige redaktionelle Betreuung sowie dem Verlag Walter de Gruyter und namentlich Herrn Dr. Hans-Robert Gram für die verlegerische Unterstützung und die bewährte Ausstattung, die auch diesem Band zuteil wurde. Köln, im Juni 1995

Jan A. Aertsen Andreas Speer

Einleitung: Die Entdeckung des Individuums JAN A. AERTSEN (Köln) (1) Eine der berühmtesten Handschriften des Mittelalters ist der „Hortus Deliciarum", der am Ende des 12. Jahrhunderts von der Äbtissin Herrad von Hohenburg herausgegeben wurde. Die prachtvoll illustrierte Enzyklopädie enthält auch eine Zeichnung mit namentlich identifizierten Bildern der Nonnen des Klosters, dem Herrad vorstand, insgesamt mehr als sechzig an der Zahl. Diese Illustration stellt jedoch den modernen Betrachter vor ein Problem. Nicht von ungefähr stellt der russische Historiker Aaron J. Gurjewitsch diese Darstellung aus Herrads Zeichenfeder an den Anfang seines neuesten Buches „Das Individuum im europäischen Mittelalter". Er betrachtet sie als ,,ein(en) Extremfall der Typisierung". Verblüffend ist „die beinahe völlige Identität, die diese .Porträts' eint: die Gesichter ähneln einander zum Verwechseln, und auch in ihrem Ausdruck unterscheiden sie sich kaum; wenn sich überhaupt kleine Unterschiede entdecken lassen, dann sind sie zweitrangig und nicht etwa dem Streben des Künsders nach Hervorhebung von Besonderheiten an den Individuen zuzuschreiben". Die Schwestern sind „Bräute Christi", nach Gurjewitsch ohne jede Individualität1. Angesichts dieser Betonung des Allgemeinen auf Kosten des Individuellen erhebt sich die Frage, wie Individualität im Mittelalter gedacht und verstanden worden ist. Gerade dieses Problem bildete das Thema der 29. Kölner MediaevistentaHat das Mittelalter die Individualitätsidee überhaupt gekannt? Vor mehr als hundert Jahren hat Jacob Burckhardt in seiner berühmten Studie „Die Kultur der Renaissance in Italien" diese Frage verneint. Die Entwicklung des Individuums ist eine Leistung der Renaissance, deren Wesen Burkhardt in der klassischen Formel „die Entdeckung der Welt und des Menschen" zusammenfaßte. Im Mittelalter erkannte sich der Mensch „nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen". In den italienischen Staaten des 15. Jahrhunderts aber erhebt sich zuerst mit voller Macht das Subjektive; „der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches". Der Bann auf dessen Individualität ist hier völlig gebrochen2. 1 2

Aaron J. Gurjewitsch, Das Individuum im europäischen Mittelalter, München 1994, 9. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (ed. W Kaegi, Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe Bd. V), Berlin und Leipzig 1930 [Erstausgabe 1860], Zweiter Abschnitt: „Entwicklung des Individuums" (95 — 123).

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Jan A. Aertsen

Burckhardts These hat das geläufige Bild des Mittelalters nachhaltig bestimmt. Das Mittelalter gilt nach wie vor als das Zeitalter der Kollektivität und der Universalität. Das Bewußtsein der Individualität hat sich dieser Auffassung zufolge erst in der neuzeitlichen Abkehr von der mittelalterlichen Mentalität herausgebildet. Die historisch-systematische Erschließung des Mittelalters hat jedoch dieses Bild grundlegend modifiziert und gezeigt, daß Burckhardts Vorstellung einer gründlichen Korrektur bedarf. Wie zu erwarten war, richtete die Forschung sich zunächst auf die zeitliche Fixierung der „Entdeckung". Diese Kategorie erwies sich in der Geistesgeschichte als problematischer und weniger eindeutig als in der Geschichte der Technologie. Mehrere Historiker haben versucht, die Entdeckung des Individuums in einen früheren Zeitraum zu verlegen. Als der wichtigste Vertreter dieser Tendenz kann Colin Morris mit seinem Buch „The Discovery of the Individual" gelten. Er sieht die Entdeckung des Individuums als die Frucht der „Renaissance des 12. Jahrhunderts". Die Erneuerung der Wissenschaften und der kulturelle Aufschwung in den Jahren zwischen 1050 und 1200 führten zur Herausbildung einer neuen Sicht des Individuums, welche für das europäische Menschenbild bis auf den heutigen Tag bestimmend ist. Die Hauptmerkmale dieser Wendung sind die Selbstentdeckung des Menschen und der „Humanismus", d. h. die Betonung der menschlichen Würde. Einer der Kronzeugen des neuen Individualismus ist in Morris' Darlegung Petrus Abaelard. Charakteristisch für „die Suche nach dem Selbst" ist nicht nur seine Autobiographie „Geschichte meiner Mißgeschicke", sondern auch die von ihm verfaßte Ethik mit dem vielsagenden Titel „Scito te ipsum" („Erkenne dich selbst")3. Nach Abaelard ist das Kriterium der Moralität nicht die objektive Handlung an sich, sondern die Intention des Handelnden, sein innerer Akt der Zustimmung zu einer bestimmten Tat. Aufgrund dessen hat M.-D. Chenu Abaelard als „den ersten Menschen der Neuzeit" bezeichnet4. Die Studie von Morris hat kritische Auseinandersetzungen ausgelöst. Zurecht ist bemerkt worden, daß, was er dargelegt hat, nicht die Entdeckung der Individualität sei, sondern vielmehr die Entdeckung des Selbst des Menschen, seine Innerlichkeit5. Methodisch bedenklich ist, daß leitend für die Fragestellung in Morris' Buch die Modernität bleibt: Zu welchem Zeitpunkt schälen sich zum erstenmal die Umrisse des heutigen Menschen heraus? Nicht nur bei Morris, sondern auch in der neueren Darstellung von Gurjewitsch wird deshalb die Suche nach der Individualität mit der Suche nach der 3 4

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Colin Morris, The Discovery of the Individual 1050-1200, London 1972. M.-D. Chenu, L'eveil de la conscience dans la civilisation medievale, Montreal und Paris 1969, 17-32. Caroline Walker Bynum, „Did the Twelfth Century Discover the Individual?", in: The Journal of Ecclesiastical History 31 (1980), 1 —17. Cf. die Rückantwort von Colin Morris, „Individualism in Twelfth-Century Religion. Some Further Reflections", in: ibid. 31 (1980), 195-206.

Einleitung: Die Entdeckung des Individuums

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Persönlichkeit gleichgestellt6. Die Frage, wie Individuum im Mittelalter selbst verstanden und gedacht worden ist, wird überhaupt nicht gestellt. (2) Wissenschaft und Philosophie haben von Anfang an ein gespanntes Verhältnis zu dem Einzelnen gehabt. Es wird im Streben, eine Sache auf den Begriff zu bringen, als störendes Element erfahren. Aristoteles schildert in seiner „Metaphysik" Sokrates als „den Erfinder" des Allgemeinen. „Zweierlei ist es, was man mit Recht dem Sokrates zuschreiben kann: die Induktionsbeweise und die allgemeinen Definitionen; dies beides nämlich geht auf das Prinzip der Wissenschaft"7. Sokrates gilt als „der Erfinder" des Allgemeinen, weil er die Was-Frage stellte: „Was ist Tapferkeit?", „Was ist Tugend?". Diese Art zu fragen, die für die Entwicklung der abendländischen Philosophie wesentlich war, zielt auf eine Definition, die von den Partikularitäten absieht und das Gemeinsame anzeigt. Wissenschaftliche Erkenntnis — und nur wissenschaftliche Erkenntnis ist wahre Erkenntnis — ist auf das Allgemeine, das Immerwährende und das Identische gerichtet. Das Individuelle ist gerade das Gegenteil dieser Bestimmungen. Es entsteht und vergeht, und kann anders sein als es ist. Das Universale hat deshalb den klaren Vorrang im Interesse des griechischen Denkens. Die metaphysische Überordnung des Allgemeinen über das Individuelle bildet, so betont Heinz Heimsoeth in seinem klassischen Werk „Die sechs grossen Themen der abendländischen Metaphysik", einen Grundzug im Weltbild der antiken Philosophie8. Als erste wichtige Tatsache, welche wir nun feststellen können, kann daher gelten, daß das Einzelne als explizites Thema der Reflexion zuerst in der mittelalterlichen Philosophie erscheint. Ein Beispiel dieser Thematisierung finden wir bei dem englischen Franziskaner Roger Bacon (gest. 1292). Gegenüber dem traditionellen Vorrang des Universalen hebt er die „Würde des Individuums" (dignitas individui] hervor. Die Masse der Menschen ist jedoch der entgegengesetzten Meinung: „Die unerfahrenen Leute beten das Allgemeine an". Es ist kein Zufall, daß Bacon hier den Ausdruck „unerfahren" verwendet, denn er legt großen Wert auf die Erfahrung als Grundlage des Wissens. Erfahrung liefert einen sichereren Beweis als irgendeine Theorie. Der Philosoph Aristoteles sagt, das Universale sei immer und überall, das Einzelne sei hier und jetzt - eine Aussage, die zugleich ein Werturteil enthält. Gegenüber dieser Autorität betont Bacon: „ein einziges Individuum übertrifft alle Universalien in der Welt"9. 6

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Das letzte Kapitel in Gurjewitsch' Buch ist überschrieben: „Der Historiker auf der Suche nach der Persönlichkeit" (290-307). Metaphysik XIII, l, 1078b 27sqq. H. Heimsoeth, Die sechs grossen Themen der abendländischen Metaphysik, Stuttgart 1965 (5. Aufl.), 172. Roger Bacon, Liber Primus Communium Nauralium pars 2, d. 2, c. 8 (Hg. R. Steele, Opera hactenus inedita Rogeri Baconi, Fase. II, Oxford o.J., 96): „Totum vulgus est in contrarium propter quasdam auctontates (...) Nam homines impend adorant universalia, propter hoc quod Aristoteles diät

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Jan A. Aertsen

Er bringt zwei Argumente für diese These vor, die zwei verschiedenen Bereichen entnommen sind. Erstens wissen wir das aus Erfahrung. In den täglichen Lebensbedürfnissen suchen wir immer das Einzelne, nicht das Allgemeine. Brot oder Kleidung im allgemeinen nützt uns gar nicht. Auch theologische Argumente machen klar, daß das Einzelne dem Universalen überlegen ist. Gott hat die Welt erschaffen, nicht um eines universalen Menschen, sondern um der Individuen willen. Das Endziel des Menschen, die Anschauung Gottes, gilt ebenfalls dem Einzelmenschen10. Die ausführlichste Darlegung der Individualität gibt ein anderer englischer Franziskaner, Johannes Duns Scotus (gest. 1308). Die Ausführungen in seiner „Ordinatio" füllen in der modernen „Editio Vaticana" 125 Seiten11. Eine ähnliche systematische Darstellung zu diesem Thema läßt sich in der antiken Philosophie nicht finden. In subtilen Analysen untersucht Duns Scotus das Prinzip der Individuation, d. h. dasjenige, was ein Einzelnes zum einzelnen macht. Aristoteles hat die Weichen für die Diskussion gestellt. Er war zu dem Schluß gelangt, daß nur die Materie die Ursache der Einzelheit und der numerischen Einheit eines Dinges sein kann. Dieser Schluß folgt logisch aus seiner Lehre, daß alle Dinge aus Form und Materie zusammengesetzt sind. Die Form ist das Prinzip, wodurch etwas ist, was es ist; sie kann deshalb nicht die numerische Vielheit innerhalb einer allgemeinen Natur erklären. Die Form wird dadurch individuiert, daß sie hier in diesem Stück Materie verwirklicht wird und dort in jenem Stück. Individualität rührt vom Stoff her. Aber diese Lösung ruft verschiedene Probleme hervor. Die Materie, im Vergleich zu der Form ein inferiores Prinzip, ist aus sich unbestimmt, weil ungeformt, und kann deshalb nicht ein unterscheidendes Moment sein. Außerdem stimmen alle körperlichen Dinge darin überein, daß sie Materie besitzen. Wie kann also etwas Gemeinsames das Individuationsprinzip sein? Und sind rein geistige Wesen nicht individuell, da sie unstofflich sind? Mittelalterliche Denker haben sich eingehend mit der quaestio de individuatiom auseinandergesetzt, ein Anzeichen für ihr Interesse an der Thematik12. In diesem Individuationsstreit nimmt Duns Scotus eine hervorragende Stellung ein.

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primo Posteriorum quod universale est semper et ubique, singulan est hie et nunc". C. 7 (94): „Unum Individuum excellit omnia universalia de mundo". Ibid. c. 7 (95): „Singulare est nobilius quam suuta universale. Et nos scimus hoc per experienciam rerum. Non enim in nutrimentis et vestimentis et aliis utiliiatibus nostris querimus nisi singularia, quia universalia nichilprosunt nobis nee nature similiter (...) Et quia omnia que tracto suntpropter theologiam, patetper raciones theologicas quod universale non habet comparacionem ad singularia. Non enim Deus fecit hunc mundum propter universalem hominem set propter personas singulares; nee creavit humanum genus, nee redemit propter hominem universalem set propter personas singulares; nee gloria est parata principaliter homini universali, set ekctis personis et certis in numero". Ordinatio II, d. 3: „De principle individuationis" (Opera omnia VIII, ed. Vaticana 1973, 391-516). Cf. Bonaventura, In II Sent., d. 3, a. 2 q. 3 c. (Opera omnia II, 109a): „... quaestio de individuatione (...) de ipsafuit contentio interphilosophicos viros".

Einleitung: Die Entdeckung des Individuums

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Der „Doctor subtilis" sucht ein positives und formales Prinzip der Individuation, wofür er den Ausdruck „Diesheit" (haecceitas} prägt. Scotus' Methode besteht darin, daß er das Bestimmende für die spezifische Natur mit dem Bestimmenden für die Einzelheit vergleicht. Aus diesem Vergleich ergeben sich die folgenden Merkmale der Individualität: sie schließt jede weitere Teilung aus; sie verleiht der spezifischen Natur die letzte Wirklichkeit; sie konstituiert ein Sein anderer Art als das der Wesenheit: die Artbestimmung spezifiziert, das Individuationsprinzip dagegen individuiert; und schließlich ist ein Individuum von jedem anderen ursprünglich verschieden. Die Diesheit ist die letzte Vervollkommnung und Bestimmung eines Seienden13. Scotus' Schluß bezeugt ein neues Bewußtsein vom Wert der Individualität. Seine Lehre klingt vielleicht reichlich abstrakt, man kann sich jedoch fragen, ob Individuation philosophisch noch weiter bestimmbar sei. „Das Individuum ist unsagbar" (ineffabile}, sagt ein der Scholastik zugeschriebener Satz. In dieser Unsagbarkeit zeigt das Individuelle eine Parallele mit dem Göttlichen. Auch das Individuum bleibt für das menschliche Denken letztlich ein Geheimnis. Auf die radikalste Weise wird der Primat des Individuums im Nominalismus Wilhelms von Ockham (ca. 1280 — 1349) vertreten, wiederum ein englischer Franziskaner. Franziskanische Denker, so stellt sich heraus, haben eine grundlegende Rolle in der mittelalterlichen Entdeckung des Individuums gespielt. Für Ockham sind die Begriffe „Wirklichkeit" und „Individualität" vertauschbar. Alles, was existiert, ist individuell; nur was einzeln ist, ist wirklich. Das Individuum kann nicht dem Allgemeinen einer Gattung oder einer Art untergeordnet werden, denn das Allgemeine besitzt keine extramentale Realität. „Es ist ebenso unmöglich, daß ein extramentales Ding ein Universales sei, wie es unmöglich ist, daß ein Mensch dem Denken oder dem Sein nach ein Esel sei"14. Bei Ockham zeigt sich eine grundlegende Wende der Denktradition. Für ihn ist die Frage nach der Individuation müßig; was erklärungsbedürftig ist, ist die Allgemeinheit. (3) Eine wesentliche Aufgabe für die Forschung besteht darin, der Frage nachzugehen, warum das Individuum im Mittelalter zum expliziten Thema der Reflexion wird. Warum erfährt es gerade in diesem Zeitalter eine Neubewertung? Der Begründer der philosophischen Mittelalterforschung, Etienne Gilson, hat die Erklärung dieser Tatsache dem Einfluß des Christentums zugeschrieben, und seine Antwort ist von vielen Autoren übernommen worden. Die Ursprünglichkeit der mittelalterlichen Philosophie ist nicht zu verstehen, ohne den Einfluß der christlichen Offenbarung zu berücksichtigen. Die christliche Offenbarung hat die philosophische Tradition mit neuen Themen erweitert und bereichert. Zu diesen Themen gehört auch die Individuali13 14

Duns Scotus, Ordinatio II, d. 3, n. 176-188 (Opera omnia VIII, 478-483). In I Sent., d. 2, q. 7 (Opera theologica II, 249).

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Jan A. Aertsen

tat. Der Mensch ist, von Gott als gesonderte Individualität erschaffen und erhalten, nunmehr der Hauptdarsteller in einem Drama, in dem es um sein eigenes Geschick geht. Ein solches Individuum ist in der platonischen und aristotelischen Philosophie unbekannt15. Gilsons Auffassung hat einen wahren Kern. Sie wird durch Roger Bacons zweites Argument für die Superiorität des Einzelnen bestätigt, das auf den Grundgegebenheiten des christlichen Glaubens basiert. Das Heil hat einen individuellen Charakter; es ist der Einzelmensch, der in Beziehung zu Gott steht. Der Gott der Christen ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Trotzdem läßt sich nicht verkennen, daß im mittelalterlichen Denken die alten und neuen Motive noch lange unvermittelt nebeneinander liegen und sich die Aufwertung des Einzelnen erst allmählich durchgesetzt hat16. Ein gutes Beispiel dafür ist eben der christliche Philosoph, der in Gilsons Darstellung eine Zentralstellung einnimmt, Thomas von Aquin17. In einem Quodlibet behandelt dieser die Frage, ob das götdiche Schöpfungswerk auf die Geschöpfe unter dem Aspekt ihrer Singularität oder ihrer Artnatur zielt. Im Gegensatz zu einem Künstler, der für die Verwirklichung seiner Idee das Material voraussetzt, bringt der Schöpfer das ganze Ding hervor. Auffallend ist jedoch, daß Thomas betont, die Urbilder Gottes beziehen sich primär auf die Artnatur, denn sie zielen auf das Vollkommenste in jedem Ding. Dies ist die Artnatur („Mensch"), da sie die Unvollkommenheit der Materie, die Prinzip der Individuation ist, ausschließt. Nicht das Einzelne als Einzelnes ist unmittelbar beabsichtigt, sondern die species specialissima. Aus dieser Antwort wird ersichtlich, wie stark bei Thomas die griechische Überordnung des Allgemeinen noch weiterwirkt18.

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E. Güson, Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, Wien 1950, 217-234. Eine ähnliche Erklärung gibt Jörge J. E. Gracia (ed.), Individuation in Scholasticism. The Later Middle Ages and the Counter-Reformation 1150-1650, Albany, NY. 1994, 549. Cf. H. Heimsoeth, op. cit., 175 sqq. Typisch für Gilsons Darlegung des mittelalterlichen Individualitätsverständnisses ist, daß sie in Thomas von Aquin kulminiert, der deshalb erst nach Duns Scotus behandelt wird. Der letzte war so sehr darauf bedacht, die Originalität des Individuums philosophisch zu sichern, daß „bei seiner Anschauung die Einheit der menschlichen Art nur noch sehr schwer hochzuhalten war". „Vielleicht hat die Ahnung dieser latenten Schwierigkeiten Thomas von diesem Wege abgehalten" (Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, 224-225). Thomas von Aquin, Quodlibet VIII.l .2: ,^.dhoc ergo per prius exemplar respicit quod agens primo intendit in opere. Agens autem quilibet pnncipaliter intendit in opere id quod perfectius est. Natura autem speciei est perfectissimum in unoquoque individuo. Per ipsam enim duplex imperfectio petficitur; imperfectio scilicet materiae, quae est singulantatis prinapium, quae, cum sit in potentia adformam speaei, perßcitur quando naturam speciei consequitur; et iterum imperfectio formae generalis, quae se habet ad differentias specißcas in potentia ut materia adformam; unde species specialissima estprimo in intentione naturae. (...) Unde exemplar quod est in mente divina primo naturam speciei respicit in qualibet creatura". Dieses Quodlibet gibt jedoch nicht ein vollständiges Bild der Individualitätsauffassung des Thomas. Siehe meinen Beitrag zu diesem Band „Die Thesen zur Individuation in der Verurteilung von 1277, Heinrich von Gent und Thomas von Aquin".

Einleitung: Die Entdeckung des Individuums

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Es ist deshalb auch nicht auszuschließen, daß weitere Faktoren, wirtschaftliche und soziale, zur Herausbildung der Individualitätsidee beigetragen haben. Das Entstehen der Städte, Gemeinschaften von freien Bürgern, und der Aufschwung des Handels haben die agrarisch-feudalen Verhältnisse des Frühmittelalters und die gesellschaftliche Stellung des Individuums tiefgreifend geändert19. (4) Individuum bedeutet wörtlich „ungeteilt". Bei vielen mittelalterlichen Denkern im 13. und 14. Jahrhundert findet sich diese Umschreibung des Individuellen: „dasjenige, was in sich ungeteilt (indivisum in se} und von allem anderen getrennt (divisum ab alio} ist". Das Einzelne besitzt eine innere Einheit und ist dadurch von allem anderen verschieden. Eigentümlich für das mittelalterliche Verständnis der Individualität ist, daß dieser Begriff nicht, wie in der Neuzeit, ausschließlich für Menschen reserviert wird. „Individuum" erstreckt sich auf alles, was ist. Jedwedes Ding besitzt Individualität. Das Musterbeispiel, das in mittelalterlichen Texten zur Erläuterung des Einzelnen angeführt wird, ist „dieser Stein". Wodurch unterscheidet er sich von jenem? Individualität und Personalität sind mithin im Mittelalter nicht äquivalent. Jedes Ding ist ein Individuum, aber es gibt Grade von Individualität. Die Individualität eines Menschen ist nicht wie die eines Steins oder einer Pflanze. Die Individualität eines Menschen ist seine Personalität. Jede Person ist ein Individuum, aber das Umgekehrte gilt nicht: Nicht jedes Individuum ist eine Person. Die Begriffsgeschichte des Wortes „persona" ist sehr aufschlußreich für die Entwicklung des Personkonzeptes. Die Grundbedeutung von „persona" in der antiken Welt ist die „Maske" des Schauspielers. Die Maske zeigt, welche Rolle er darstellt (beispielsweise die Person eines Königs, einer Frau oder eines Schurken). Person-sein besagt ursprünglich also das Gegenteil des Selbst-seins. Von der Grundbedeutung „Maske" erhielt „persona" die erweiterte Bedeutung von „Rolle, die der Mensch in der Gesellschaft spielt". Diese Bedeutung ist insbesondere im Gerichtswesen belegt, wo die Personen des Anklägers, des Verteidigers, des Zeugen und des Richters unterschieden werden. Der heutige Sinn von „Persönlichkeit" und „Individualität" war in der Antike unbekannt. Dieser Bedeutungsinhalt ist in der christlichen Theologie herausgebildet worden, und zwar in ihren Reflexionen zur Christologie und zur Lehre der Trinität20. Christus war wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch. Aber wie können zwei verschiedene Naturen in einem Subjekt vereinigt sein? Wie ist das einzigartige Verhältnis von Einheit und Vielheit in der göttlichen Dreieinheit 19

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In diesem Zusammenhang sind die Studien von Walter Ullmann wichtig. Siehe insbesondere The Individual and the Society in the Middle Ages, London 1967. Cf. Antony Black, „The Individual and Society", in: J. H. Burns (ed.), The Cambridge History of Medieval Political Thought c. 350-c. 1450, Cambridge 1988, 588-606. Cf. Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbüd, Freiburg-Basel-Wien 1993, insbes. Teil I (ibid., 23-54).

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Jan A. Aertsen

verständlich zu machen? Zur Lösung dieser Fragen führten die lateinischen Theologen den antiken Personbegriff ein, der jetzt eine neue Bedeutung erhielt, die für die weitere Entwicklung bestimmend war. Sie wurde von Boethius in seiner Schrift „De duabus naturis" (c. 3) definiert als „Einzelsubstanz der vernunftbegabten Natur" (rationabilis naturae individua substantial). Seine Definition bildete die Grundlage für die mittelalterlichen Überlegungen zur Personalität. Person ist ein Individuum bestimmter Art; sein unterscheidendes Merkmal ist die Vernünftigkeit. Als vernunftbegabtes Wesen hat der Mensch die Möglichkeit der Wahl; er wird nicht einfach durch die Gegenstände zu seiner Handlung bestimmt, sondern ist Herr seiner Handlungen. Die Würde der Personalität ist die Freiheit. Daraus geht auch hervor, daß die Person ein moralisches Wesen ist, denn die Grundlage der Moral ist die Freiheit. „Person" bezeichnet nach Thomas von Aquin „das, was das Vollkommenste in der ganzen Natur ist"21. Individualität und Personalität: Der mittelalterliche Beitrag zur Entwicklung dieser Grundbegriffe läßt die Bedeutung der Mittelalterforschung für das Verständnis der europäischen Geistesgeschichte bis hin zur Gegenwart erkennen. Das Thema der Individualität besitzt eine ungebrochene Aktualität, zumal vor kurzem „das Ende des Individuums" proklamiert worden ist22. Wenn die anonymen Mächte des Staates und der Gesellschaft das Individuum zu nivellieren oder instrumentalisieren versuchen, ist es die Aufgabe des Denkens, die Tradition des Individualitätsverständnisses wach zu halten und zu vitalisieren. Zum Abschluß kehren wir noch einmal zur Zeichnung aus dem „Hortus Deliciarum" mit den Abbildungen von sechzig Nonnen zurück. Ist sie wirklich ein Extremfall der Typisierung, in der das Individuelle ganz verschwunden ist? Oder beruht dieses Urteil auf der stillschweigenden Annahme, daß das Individualitätsbewußtsein nur an der Porträtähnlichkeit zu prüfen sei? In der neueren kunsthistorischen Forschung wird die Fixierung der Diskussion auf das Kriterium der „Porträttreue" als ein modernes Mißverständnis kritisiert. Im vorliegenden Band legt der Hamburger Kunsthistoriker Bruno Reudenbach gerade am Beispiel des Konventbildes im „Hortus Deliciarum" dar, daß es im Mittelalter andere Ausdrucksformen von Individualität als die veristische Wiedergabe von Physiognomie und Gestalt gibt. Die Darstellung der Nonnen ist als ein Memorialbild zu deuten. Demzufolge ist die Abbildung der Individuen durch den Gedanken der memona geprägt, für die an erster Stelle die Namensnennung konsumtiv ist. Wie in der liturgischen memona die Gegenwart durch die Nennung des Namens bewirkt wird, so beim 21 22

Summa theologiae I, 29. 3: „Persona signißcat id, quod est perfectissimum in tota natura". Cf. M. Landmann, Das Ende des Individuums, Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971, insbes. 115-126.

Einleitung: Die Entdeckung des Individuums

XVII

Memorialbild durch das namentlich identifizierte Bild. Jenseits der Porträtähnlichkeit gelangt somit menschliche Individualität durch die Memorialfunktion und durch die Benennung zum Ausdruck. Die Zeichnung im „Hortus Deliciarium" widerspricht daher nicht der Individualitätsidee, sondern illustriert vielmehr eindrucksvoll ihre Entfaltung.

Inhaltsverzeichnis JAN A. AERTSEN (Köln) - ANDREAS SPEER (Köln) Vorwort JAN A. AERTSEN (Köln) Einleitung: Die Entdeckung des Individuums

V IX

I. Begriffliche Grundlegungen KLAUS JACOBI (Freiburg i. Br.) Einzelnes - Individuum - Person. Gilbert von Poitiers' Philosophie des Individuellen

3

JOHANNES KÖHLER (Hildesheim) „ Ut Plato est Individuum". Die theologischen Regeln des Alain de Lilie über das Problem der Individualität

22

CHRISTIAN STRUB (Hildesheim) Singularität des Individuums? Eine begriffsgeschichtliche Problemskizze

37

ENZO PORTALUPI (Vercelli) Das Lexikon der Individualität bei Thomas von Aquin

57

JAKOB HANS JOSEF SCHNEIDER (Tübingen) Das Einzelne und Allgemeine. Sprachphilosophische Betrachtungen über die Genese des Begriffs im Anschluß an Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus

74

II. Entfaltung des Individualitätskonzepts IVAN CHRISTOV (Sofia) The Creative Logos, the Nature of Things and their Uniqueness in the ,Hexaemeron' of Joannes Exarchus

99

TZOTCHO BOIADJIEV (Sofia) Die Marginalisierung als prindpium individuations des mittelalterlichen Menschen — am Beispiel Abaelards

Ill

HENRYK ANZULEWICZ (Bonn) Grundlagen von Individuum und Individualität in der Anthropologie des Albertus Magnus

124

XX

Inhaltsverzeichnis

THEODOR WOLFRAM KÖHLER (Salzburg) Wissenschaftliche Annäherung an das Individuelle im 13. Jahrhundert. Der Einfluß von „De animalibus" des Aristoteles 161 EILEEN C. SWEENEY (Boston) Individuation and the Body in Aquinas

178

JUDE P. DOUGHERTY (Washington) Maritain äs an Interpreter of Aquinas on the Problem of Individuation . 197

III. Auseinandersetzungen über das Individualitätsprinzip REGA WOOD (St. Bonaventure) Angelic Individuation according to Richard Rufus, St. Bonaventure and St. Thomas Aquinas

209

CARLOS STEEL (Leuven) The Individuation of the Human Intellect. Henry Bate's PlatonicNominalistic Position 230 JAN A. AERTSEN (Köln) Die Thesen zur Individuation in der Verurteilung von 1277, Heinrich von Gent und Thomas von Aquin 249 ANDREAS SPEER (Köln) „Yliathin quodestpnnäpium individuandi". Zur Diskussion um das Individuationsprinzip im Anschluß an prop. 8[9] des „Liber de causis" bei Johannes de Nova Domo, Albertus Magnus und Thomas von Aquin 266 GÜNTHER MENSCHING (Hannover) Zur Neuentdeckung des Individuationsprinzips im 13. Jahrhundert und seinen Antinomien bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus

287

IV. Individualitätskonzeptionen im Spätmittelalter MAREK GENSLER (Lodz) The Concept of Individual in the Sentences Commentary of Antonius Andreae

305

HANS-ULRICH WÖHLER (Dresden) Das „realistische" Individualitätskonzept Walter Burleys im geschichtlichen Kontext

313

Inhaltsverzeichnis

XXI

MIECZYSLAW MARKOWSKI (Krakau) Die Eigenart des Individuellen im mitteleuropäischen Buridanismus des späten Mittelalters

327

MAARTEN J. F. M. HOENEN (Nijmegen) „Aliter autem dicunt Thomistae". Das Prinzip der Individuation in der Auseinandersetzung zwischen den Albertisten, Thomisten und Scotisten des ausgehenden Mittelalters

338

V. Individualität und Personalität GEORGI KAPRIEV (Sofia) Menschliche Individualität und Personalität bei Anselm von Canterbury

355

BERTHOLD WALD (Münster) „Rationalis naturae individua substantial'. Aristoteles, Boethius und der Begriff der Person im Mittelalter

371

HANS-JOACHIM WERNER (Karlsruhe) Unmitteilbarkeit und Unabhängigkeit. Zur anthropologischen Bedeutung zweier personaler Bestimmungen nach Duns Scotus . . . 389 MARIA BURGER (Berlin) Zwischen Trinitätslehre und Christologie. Der Personbegriff bei Johannes Duns Scotus 406

VI. Ethik und Politik WILLIAM J. HOYE (Münster) Die Wahrheit des Irrtums. Das Gewissen als Individualitätsprinzip in der Ethik des Thomas von Aquin 419 ANTONIE Vos (Utrecht) Individuality and Virtue according to Duns Scotus

436

RISTO SAARINEN (Straßburg) Die heroische Tugend als Grundlage der individualistischen Ethik im 14. Jahrhundert

450

ROBERTO LAMBERTINI (Macerata) Individuelle und politische Klugheit in den mittelalterlichen Ethikkommentaren (von Albert bis Buridan)

464

FRANCISCO BERTELLONI (Buenos Aires) Regimen ipsius — regimen alterius. Individuum und Gesellschaft in den Quellen des Prologs zu „Super Ethica" des Albertus Magnus . . . 479

XXII

Inhaltsverzeichnis

MATTHEW S. KEMPSHALL (Oxford) The Individual Good in Late Medieval Scholastic Political Thought - Nicomachean Ethics 1.2 and IX. 8 493

VII. Geschichtsschreibung und Verfasserbewußtsein ELISABETH MEGIER (Besozzo) Cives Dei und cives mundi als individuelle Personen in der Chronik Ottos von Freising

513

SVERRE BAGGE (Bergen) Decline and Fall. Deterioration of Character as Described by Adam of Bremen and Sturla l>oroarson

530

MICHAEL SCHWARZE (Köln) Das Auftreten des erzählenden Ichs in spätmittelalterlicher Geschichtsschreibung: die „Chroniques" Jean Froissarts

549

MARIE BLAHOVA (Prag) Verfasserbewußtsein in der böhmischen Geschichtsschreibung des Mittelalters

563

IVAN HLAVÄCEK (Prag) Zwei bibliotheksgeschichtliche Miszellen zur intellektuellen Individualität im Mittelalter. Bürgerliche Bücherverzeichnisse und Ausleihkataloge im böhmisch-österreichisch-bayerischen Raum . . . . 577 ALEXANDER DOBROCHOTOW (Moskau) Das Individuum als Träger der Macht: Destruktion der Ideale. Byzanz in der Ideologie des russischen Absolutismus

588

VIII. Mystik und Individualität SUSANNE MÖBUSS (Hannover) Der Individualitäts-Begriff der Mechthild von Magdeburg . . . . 605 UDO KERN (Rostock) Ich „ist die Bezeugung eines Seienden". Meister Eckharts theoontologische Wertung des Ichs

612

MARIE-ANNE VANNIER (Straßburg) Deconstruction de l'individualite ou assumption de la personne chez Eclchart?

622

MARKUS ENDERS (München) Selbsterfahrung als Gotteserfahrung. Zum Individualitätsbewußtsein bei Johannes Tauler

642

Inhaltsverzeichnis

XXIII

IX. Biographie und Autorschaft WILHELM KÖLMEL (Freiburg i. Br.) Autobiographien der Frühzeit

667

ROLF KÖHN (Konstanz) Autobiographie und Selbststilisierung in Briefsammlungen des lateinischen Mittelalters: Peter von Blois und Francesco Petrarca . . . 683 BRIGITTE STARK (Bonn) Elisabeth von Thüringen: Die Entdeckung individueller Züge in der Biographie einer Heiligen

704

PETER DINZELBACH (Salzburg) „Ego non legt...". Bernhard von Clairvaux zwischen modernem Individualismus und traditioneller Autoritätsgebundenheit

722

ANNETTE GEROK-REITER (Tübingen) Auf der Suche nach der Individualität in der Literatur des Mittelalters

748

DETLEF THIEL (Wiesbaden) "Iterum signavi coniecturas". Individualitätsbegriff und Autorschaft bei Nikolaus von Kues

766

ERICH MEUTHEN (Köln) Nikolaus von Kues. Profil einer geschichtlichen Persönlichkeit

. .

784

BRUNO REUDENBACH (Hamburg) Individuum ohne Bildnis? Zum Problem künstlerischer Ausdrucksformen von Individualität im Mittelalter

807

HILTRUD WESTERMANN-ANGERHAUSEN (Köln) Werkstattkunst und künstlerische Individualität im späten Mittelalter. Gedanken zur Sektion im Schnütgen-Museum während der neunundzwanzigsten Kölner Mediaevistentagung

819

KATARZYNA ZALWESKA (Warschau) „Selon l'aviz dudit maitre". Über die Grenzen der Freiheit des Künsders im Spätmittelalter

829

BERND ROGGENKAMP (Köln) Vom „Artifex" zum „Artista". Benedetto Varchis Auseinandersetzung mit dem aristotelisch-scholastischen Kunstverständnis 1547

844

Namenregister

861

X. Individualität in der mittelalterlichen Kunst

I. Begriffliche Grundlegungen

Einzelnes - Individuum — Person Gilbert von Poitiers' Philosophie des Individuellen KLAUS JACOBI (Freiburg i. Br.) Kulturhistoriker wie Jakob Burckhardt1 hatten die allgemein geteilte Ansicht ausgesprochen und für die Folgezeit festgeschrieben: Die Entdeckung des Individuums und seine Entwicklung sei Merkmal der Epoche der Renaissance; es sei gerade dies ein Merkmal, durch das sich diese Epoche signifikant vom Mittelalter unterscheide. Aber wenn Epochengrenzen einmal fixiert sind, folgen früher oder später die, die beim genauen Hinsehen Vorwegnahmen oder vorbereitende Momente aufspüren. Diesmal waren es die Philosophiehistoriker, die zurückdatierten. Bereits Wilhelm Windelband schloß in seinem „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie", ehe er zur „Philosophie der Renaissance" kam, den Teil über „Die mittelalterliche Philosophie" mit einem Paragraphen über „Das Problem der Individualität"2. In ihm lenkte er die Aufmerksamkeit auf Duns Scotus' Theorie der individuierenden Form — einer Form, die sich freilich von uns nicht mehr begreifen, sondern nur bezeichnen läßt (haecceitas] — und besonders auf die nominalistische These, „daß das Wirkliche nur das Einzelwesen und das Allgemeine nur ein Produkt des vergleichenden Denkens sei"3. Man muß jedoch fragen, ob Burckhardt und Windelband, wenn sie über „das Individuum" schrieben, wirklich vergleichbare Sachverhalte im Sinn hatten. Bezeichnend sind die unterschiedlichen Ersetzungen, die vorgenommen werden: Burckhardt geht von „Individuum" über zu „Persönlichkeit"4; Win1

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J. Burckhardt, Die Cultur (Kultur) der Renaissance in Italien. Ein Versuch, 1860. Ed. W. Kaegi, Jacob Burckhardt — Gesamtausgabe, Fünfter Band, Berlin und Leipzig 1930. Der Zweite Abschnitt, „Entwicklung des Individuums", beginnt gegenüberstellend mit einem kurzen Rückblick „Der Mensch des Mittelalters", I.e., 1930, 95. W Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 1889, § 27, Vierte, durchgesehene Auflage, Tübingen 1907, 281—290, Fünfzehnte, durchgesehene und ergänzte Auflage, hrsg. von H. Heimsoeth, Tübingen 1957, 288 — 297. Heimsoeth hat sich Windelbands Auffassung zu eigen gemacht und sie vertiefend ausgebaut; in seinem Buch „Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters", 1922, 3. durchgesehene Auflage Darmstadt 1953, lautet der V. Abschnitt „Das Individuum". W Windelband, I.e. (1957), 292. J. Burckhardt, I.e. (1930), „Das Erwachen der Persönlichkeit", 95, „Die Vollendung der Persönlichkeit", 99.

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Klaus Jacobi

delband geht in seiner Darstellung des Nominalismus von „Individualität" über zu „Einzelwesen". Mein Beitrag gilt einem Autor, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Chartres und Paris gelehrt hat, Gilbert von Poitiers5. Er ist gewiß kein Nominalist; die Zeitgenossen zählten die Porretaner zu den „reales"6. Gilbert verwendet die Begriffe ,Einzelnes (singulare}', .Individuum' und person' terminologisch; er führt sie wohlbedacht ein und unterscheidet zwischen den gemeinten Sinngehalten. Wer Gilberts Philosophie erforschen will, steht vor einer doppelten Schwierigkeit7. Diese Philosophie liegt nur in von Gilbert verfaßten Kommentaren vor, nicht in eigenständigen Traktaten; und sie zeigt sich, da die theologischen Traktate des Boethius kommentiert werden8, nur im theologischen Gebrauch. Da jedoch Gilbert die theologische Rede stets im Rückgriff auf natürliche oder philosophische Rede klärt, kann man Gilberts Philosophie rekonstruieren9. Daß dies der Mühe wert ist, hoffe ich — wenn auch natürlich nur in einem Ausschnitt — zeigen zu können. I.

Ich gehe von einem Textstück aus, das sich in Gilberts zweitem Prolog zu Boethius' erster Schrift über die Trinität findet. Gilbert mahnt dort, Thesen, 5

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Über Gilberts Leben und seine Werke informiert knapp F. Consten in: Lexikon des Mittelalters, IV, 1449-1450. Eine ausführliche Darstellung gibt H. C. van Elswijk O. R: Gübert Porreta. Sa vie, son oeuvre, sa pensee, Leuven 1966. Cf. auch die sorgfältige Darstellung, mit der L. O. Nielsen seine Monographie beginnt: Theology and Philosophy in the Twelfth Century. A Study of Gilbert Porreta's Thinking and the Theological Expositions of the Doctrine of the Incarnation during the Period 1130—1180, Leiden 1982 [im folgenden zitiert: Nielsen], 25-39. Zur Frage der Schuldbildungen im 12. Jahrhundert und besonders zur Gegenüberstellung von „nominales" und „reales" hat W. J. Courtenay im Oktober 1991 eine Konferenz vorbereitet und durchgeführt; Y. Iwakuma und St. Ebbesen haben für diese Konferenz eine sehr hilfreiche Quellensammlung erarbeitet. Die Konferenzakten sind publiziert in: Vivarium XXX, l (1992). L. M. de Rijk schreibt über „Semantics and Metaphysics in Gilbert of Poitiers" als über „A Chapter of Twelfth-Century Platonism". In: Vivarium XXVI, 2 (1988), 73-112 und XXVII, l (1989), l -35 [im folgenden zitiert: de Rijk 1988 bzw. de Rijk 1989]. Cf. Nielsen, 15; J.J.E. Gracia, Introduction to the Problem of Individuation in the Early Middle Ages, München —Wien 1984, 155 sq. [im folgenden zitiert: Gracia]. Ed. N. M. Häring, The Commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers (Pont. Inst, of Med. Stud., Studies and Texts 13), Toronto 1966. Anders urteilt J. Marenbon, Gilbert of Poitiers, in: P. Dronke (ed.), A History of TwelfthCentury Western Philosophy, Cambridge 1988, 328 — 352 [im folgenden zitiert: Marenbon 1988], besonders 330; 351-352. Kritisch dazu: de Rijk 1989, 34-35. Marenbon selbst urteilt differenzierter in seinem Buch „Early Medieval Philosophy (480 — 1150). An Introduction", London — Boston — Melbourne — Henley 1983 [im folgenden zitiert: Marenbon 1983], 148 — 149. Cf. die folgenden Darstellungen: M. A. Schmidt, Gottheit und Trinitaet nach dem Kommentar des Gilbert Porreta zu Boethius, De Trinitate (Studia Philosophica, Jb. der Schweiz. Philos. Gesellsch., Suppl. 7), Basel 1956 [im folgenden zitiert: Schmidt]; Br. Maioli,

Einzelnes — Individuum — Person

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die für den Naturbereich und die ihm entsprechende natürliche Rede10 gelten, nicht unkritisch auf die Theologie zu übertragen. Die folgenden Sätze sind für die Rede über Natürliches charakteristisch; sie gelten nicht für die Theologie: I. „Sicut numero dimrsorum propnetates diuerse sunt, ita quoque subsisientie numero sunt diuerse. — Wie die Eigenheiten von numerisch Verschiedenem verschieden sind, so sind auch < deren) Subsistenzen verschieden". II. „ Una singulans subsistencia non nisi unum numero faäat subsistentem. — Eine einzelne Subsistenz kann nur ein numerisch einziges Subsistierendes machen"11. Gilbert erläutert die Regeln durch ein Beispiel12. Plato und Cicero stehen für einzelne subsistierende Wesen, die spezifisch gleich, aber numerisch verschieden sind. Sie haben verschiedene akzidentelle Eigenheiten. Aber auch die substantialen Eigenheiten, durch die sie beide z. B. Körper oder Menschen sind, sind verschieden, weil sie verschiedene Körper und verschiedene Menschen sind. In den zitierten Regeln finden sich einige Termini, die für Gilbert und seine Schule charakteristisch sind. ,Proprietas' steht für jede Art von Bestimmung einer Sache. Der Terminus ist neutral gegenüber dem Unterschied zwischen substantialen und akzidentellen Bestimmungen. Er ist neutral auch gegenüber dem Unterschied zwischen kategorisierender und logisch analysierender Rede: Vernünftig zu sein ist eine Eigenheit von Plato, aber auch individuell zu sein. .Subsistens' und ,subsistentia' sind Begriffe, die für Gilberts Denken systembildend sind. Das Subsistierende ist — mit einem anderen typisch gilbert'schen Ausdruck — „das, was ist (id quod est)"13. Mit ^ubsistentia' bezeichnet Gilbert die Wesenheit des Subsistierenden, durch die es ist (quo

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Gilberto Porretano. Delia grammatica speculative alia metafisica del concrete (Biblioteca di cultura 173), Roma 1979 [im folgenden zitiert: Maioli]; Nielsen, Part One; Gracia; de Rijk 1988 und 1989. Cf. Schmidt, 30; 59; 74; Maioli, 113sqq.; 126sqq.; 134-143; 221-223; Nielsen, 90-92; 96 — 98; Marenbon 1988, 335; 339. Ich bereite gegenwärtig einen Aufsatz „Natürliches Sprechen — Theoriesprache — Theologische Rede. Die Wissenschaftslehre des Gilbert von Poitiers (ca. 1085 — 1154)" vor. Er soll in der Zs. f. Philos. Forschung erscheinen. DTrin I, prol. 2, n. 6, 11. 40-47, p. 59. Cf. I.e., n. 14, 11. 89-96, p. 60; n. 16, U. 102-106, p. 61. Cf. Schmidt, 30 — 35; Gracia, 168 (die dort gegebene Übersetzung muß korrigiert werden; richtig ist: „a singular subsistence cannot but produce numerically one subsistent"); Maioli, 316; Nielsen, 92. DTrin I, prol. 2, n. 6,11. 45-47. Zur Unterscheidung ,(id) quodest - quo est' cf. Schmidt, 189-199; 220-223; Maioli, 22sq.; 61; 63; 64-68; 113 sqq.; Gracia, 158; 168; Nielsen 47-49; Marenbon 1983,150 sqq.; Marenbon 1988, 328; 339; 341-343; de Rijk 1988, 74-76 (mit einer Richtigstellung gegenüber Nielsen, 75).

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Klaus Jacobi

£f/)14. Genauer ist bei Subsistierenden aus dem Naturbereich stets im Plural von den Subsistenzen eines Subsistierenden (d. i. von den Wesensbestimmungen eines Seienden) zu sprechen. Denn das Subsistierende ist auf unterschiedlicher Allgemeinheitsstufe durch mehrere Subsistenzen bestimmt. Z. B. ist Plato seinem Wesen nach Mensch, aber auch Lebewesen oder Körperwesen. Gilbert denkt diesen Sachverhalt so, daß Plato durch all diese Wesensformen bestimmt ist. Er wählt zur Kennzeichnung der Subsistenzen die abstrakten Bezeichnungen und sagt: Menschhaftigkeit, Lebewesenhaftigkeit und Körperhaftigkeit sind Subsistenzen, durch die Plato subsistiert. Die zitierten Thesen über numerische Verschiedenheit und Einzelheit gehören zusammen. Grundlegend ist die These II. Einzeln zu sein ist eine Bestimmung, die einem für sich zukommt; verschieden zu sein ist eine Bestimmung, die einem im Vergleich mit einem y zukommt15. Sobald man voraussetzt, daß mehrere Entitäten zur Diskussion stehen, ist jede einzelne auch von jeder anderen verschieden. Verschiedenheit ist nicht dasselbe wie Unterschiedenheit. Plato und Cicero mögen in vielen Eigenheiten unterschiedlich sein, so daß dem einen nicht zukommt, was dem anderen zukommt. Verschieden aber sind sie auch in den Eigenheiten, die ihnen beiden gleichermaßen zukommen, in ihrem Menschsein z. B. oder in ihrem Körpersein. Jeder von ihnen ist Mensch durch seine eigene Menschhaftigkeit16. Gilbert analysiert das, was ist, das konkret Gegebene. Er versteht die Analyse als Konstitutionsanalyse. Die analytisch gefundenen Formen werden als das verstanden, was ein gegebenes Subsistierendes zu dem macht, was es ist. Ontologisch ist die Subsistenz vor dem Subsistierenden. Die Einzelheit der Subsistenz ist Grund für die Einzelheit des Subsistierenden17. Die numerische Verschiedenheit einer Subsistenz von anderen Subsistenzen ist Grund für die numerische Verschiedenheit eines Subsistierenden von anderen Subsistierenden. Gilbert hat die Sätze, über die wir gehandelt haben, als Thesen eingeführt, die für den ganzen Bereich des Natürlichen und die ihm entsprechende Theoriebildung gelten. Er hat betont, daß sie nicht für die Theologie gelten. 14

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Das Subsistierende ist nicht nur durch seine substantialen Formen (subsistentiae), sondern auch durch die akzidentellen Formen, die den Kategorien der Qualität und Quantität zugehören, bestimmt; auch diese Formen gehören zu seinem quo est. Cf. Schmidt, 31; 233 sq.; Maioli, 235-240; 269-278; 289-291; 293-294; Gracia, 168; Nielsen, 49; Marenbon 1983, 151; Marenbon 1988, 339; de Rijk 1988, 74-76; 86-87. Cf. Gracia, 173: „Singularity ... is ... the principle of numerical diversity for Gilbert". Cf. I.e., 175. Cf. DTrin I, prol. 2, n. 7, U. 48-54, pp. 58-59; cf. Gracia, 168sq.; Schmidt, 31: „Was das „natürliche Sein" ist, ist es durch seine Subsisting ... Der erste (und ... wohl wichtigste) Aspekt, unter dem uns dieses „natürliche" Sein begegnet ..., ist die Möglichkeit, in numerischer Einzahl oder Vielzahl aufzutreten. Ein solch wichtiges Merkmal aber kann diesem Sein nicht bloß äußerlich anhaften, sondern muß substantiell, nicht bloß akzidentell begründet sein." Cf. Maioli, 318; Marenbon 1983, 150. Cf. Nielsen, 59.

Einzelnes — Individuum — Person

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Was mit dieser Einschränkung gemeint ist, wird an späterer Stelle des Kommentars deutlich. Als Glaubenssatz der Theologie wird das Trinitätsdogma zitiert: „Der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott, der Heilige Geist ist Gott. Also sind der Vater und der Sohn und der Heilige Geist ein einziger Gott durch Einzelnheit des Seins, nicht drei Götter"18. Um die Besonderheit dieses Satzes der Gläubigen deutlich zu machen, stellt Gilbert einen Satz natürlicher Rede gegenüber: „Plato ist Mensch, Cicero ist Mensch, Aristoteles ist Mensch. Also sind Plato und Cicero und Aristoteles drei Menschen, nicht ein durch Einzelnheit der Subsistenz einziger Mensch"19. Nicht dem theologischen Satz, sondern dem Satz der natürlichen Rede widmet sich Gilbert im ersten Teil des ersten Traktats über die Trinität überwiegend. Was zur Kontrastierung eingeführt schien, wird zunächst zur Hauptsache. Wir wollen Gilberts Darlegungen eine Weile folgen. Die Subjektterme der drei Sätze ,Plato ist Mensch', ,Cicero ist Mensch', ,Aristoteles ist Mensch' sind verschieden. „In der zweiten Bejahung wird ... über einen anderen ... gesprochen als in der ersten und in der dritten