Menschenbilder im Wandel ihrer Aspekte: von Vernunft- zu Mischwesen: Ideengeschichte einer Verfassungsanthropologie [1 ed.] 9783428541843, 9783428141845

Das Grundgesetz und die Menschenrechtskodifikationen gehen vom Menschen als einer Selbstverständlichkeit aus, wenn sie i

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Menschenbilder im Wandel ihrer Aspekte: von Vernunft- zu Mischwesen: Ideengeschichte einer Verfassungsanthropologie [1 ed.]
 9783428541843, 9783428141845

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 75

ROLF GRAWERT

Menschenbilder im Wandel ihrer Aspekte: von Vernunft- zu Mischwesen Ideengeschichte einer Verfassungsanthropologie

Duncker & Humblot · Berlin

ROLF GRAWERT

Menschenbilder im Wandel ihrer Aspekte: von Vernunft- zu Mischwesen

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 75

Menschenbilder im Wandel ihrer Aspekte: von Vernunft- zu Mischwesen Ideengeschichte einer Verfassungsanthropologie

Von

Rolf Grawert

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-14184-5 (Print) ISBN 978-3-428-54184-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84184-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Studie ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich im Herbst 2012 vor einem privaten Kreis von Wissenschaftlern verschiedener Fakultäten der Ruhr-Universität Bochum gehalten habe. Sie ist eine Studie, weil sie ein Thema behandelt, das keinen Abschluss zulässt und im historisch offenen Fortsetzungszusammenhang zu immer neuem Nachdenken anregt. Der Aspekt „Verfassungsanthropologie“ soll andeuten, dass die Ausflüge in die Ideengeschichte der Geistes-, Natur- und Medizinwissenschaften letztlich darauf konzentriert werden, was auf die deutsche Rechtsordnung an Anregungen einwirkt, wenn sie „den“ Menschen in ihren Mittelpunkt stellt. Da die Darstellung Fachgrenzen überschreitet, können die literarischen Belege nur beispielhaft sein. Sie spiegeln europäische Vorstellungen, weil die „Menschenbilder“ hauptsächlich aus europäischen Denktraditionen stammen. Zu chinesischen, arabischen, afrikanischen und anderen Quellen hatte ich leider keinen Zugang. Die Idee der einen Menschheit, die heute weltweit vertreten wird, erforderte, sollte sie nicht nur als Utopie begriffen werden, eigentlich eine globalisierte Sichtweise. Tatsächlich bringt jede Ethnie, jedes Volk, jeder Staat, jeder Kulturkreis das eigene Menschenbild in die Menschheit ein, und der Respekt vor „der“ Menschheit schließt den vor ihren verschiedenen Ausprägungen ein. Bochum, im Juni 2013

Rolf Grawert

Inhaltsverzeichnis I.

Der Mensch als Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Anthropozentrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3. Studienplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Anthropologische Wenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Welterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Physiologische Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4. Maschinenwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 5. Sozialisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6. Vernunft-Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 7. Qualitätsauslesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 8. Rephilosophierte Anthropologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 9. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 III. Entgrenzungen der Spezies Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Dekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Entartungen: Chimbrids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Modifikationen des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Modifikationen der Keimbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5. Fiktionale Metamorphosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6. Semantische Abstraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 7. Technisierungen: Cyborgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 8. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

8

Inhaltsverzeichnis

1. Unternehmen „Ethik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. „Britische“ Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. „Deutsche“ Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4. Relativierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5. Medizinethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6. Christliche Menschenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 7. Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 8. Verantwortungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 9. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 V.

Konzepte der Spezies Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Intuitive Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Judikative Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Biologische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4. Phänotypische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5. Qualifizierende Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6. Entwicklungspotentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 7. Optimierungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 8. Mischwesen „sui generis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 9. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

VI. Rechtsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Das Biomedizin-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Biomedizingesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Verfassungsstatus: Mensch / Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4. Menschenrechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5. Ausdehnungen des „Menschenbildes“ . . . . . . . . . . . . . . . . 207 6. Verfassungsfiktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7. Ähnlichkeiten: Analogien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 8. Ein- und Ausgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 VII. Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

„Hier sitze ich, forme Menschen Nach meinem Bilde“ (Goethe, Prometheus) „Gestaltung, Umgestaltung Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“ (Goethe, Faust II)

I. Der Mensch als Frage Sich selbst zu denken, zu erkennen, zum Bild zu formen – eine Sehnsucht, ein stetes Bemühen des Menschen. Schon Felszeichnungen zeugen davon. Ein Überlebensthema? Behauptet der Mensch sich so in der Welt?

1. Anthropozentrik

Wer heute vom Menschen spricht, wer dessen Leben schützt, ihm eine eigene Würde zuerkennt und ihn zum Faktor einer Gemeinschaft erklärt, weiß, wen er meint: Gestalt und Gesicht weisen den Menschen aus; der Gentest beweist ihn dem Spezialisten; Vernunft, Selbstbewusstsein, Sprache und Geselligkeit prägen den moralischen Status. Dieser Status ist kulturbedingt. Während Europäer ein individualistisches Menschenbild entwickelt haben, sollen in asiatischen und afrikanischen Kulturen kollektivistische Vorstellungen vom Menschen vorherrschen, die von dem Selbstverständnis der Gruppe geprägt werden und das Selbstverständnis des Einzelnen prägen. In diesem Sinne bezeichnen manche Ethnien ihre Angehörigen als „Mensch“ und sich als „Menschen“, um sich zu identifizieren und von Fremden, aber auch von Tieren abzugrenzen. So nennt ein Eskimo sich „Inuk“, das heißt: „Mensch“, und seine Gruppe „Inuktitut“, das heißt: „Men-

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I. Der Mensch als Frage

schen“. Ebenso bedeutet „Roma“ „Menschen“, die Europäer „Zigeuner“ oder ähnlich zu nennen sich angewöhnt haben, und die Selbstbezeichnung „Khoi“ bzw. „Khoikhoi“ der südafrikanischen „Buschmänner“, die zu den stammesgeschichtlich frühesten Erscheinungen der Spezies gehören sollen, besagt nichts anderes als „Mensch“ bzw. „wahre Menschen“. 1 Zu Tieren haben diese „Khoikhoi“ eine integrative Beziehung: Ihrer Überzeugung nach teilt die Eigenschaft eines verspeisten Tieres sich dem gejagten mit; der Jäger kann sein Jagdopfer also an sich binden, indem er sich vor der Jagd ein Stück der Spezies einverleibt. 2 Kannibalen sollen ähnliche Vorstellungen pflegen. wenn sie sich ausgesuchte Teile eines besiegten, aber tapferen Gegners einverleiben. So unterschiedlich diese und andere Beispiele begründet und interpretiert werden können, so zeigen sie doch übereinstimmend, dass „der“ Mensch sich nicht damit begnügt, sein Aktionsfeld von Konkurrenten zweckmäßig abzugrenzen. Er qualifiziert sich vielmehr als ein besonderes Wesen im Mittelpunkt seiner beherrschbaren und beherrschten Umwelt. Seitdem darüber nachgedacht wird, warum Menschen sich gruppieren, sind sie sich zum Gegenstand wechselseitiger Neugierde geworden. Sie haben Erfahrungen von sich gesammelt und Theorien über sich entwickelt, die ihnen ihr Sein zu begreifen halfen. Dabei spielte das Verhältnis zu Tieren seit jeher eine maßgebende Rolle. Wo man bei Tieren Instinkte vermutet – zur Sicherung, Jagd, Fortpflanzung, Brutpflege, Koloniebildung wie bei Bienen, kurz: zum Überleben –, spricht der Mensch sich Vernunft und Verstand und die Fähigkeit zu, sein Schicksal selbst individuell, kooperativ und verantwortlich zu gestalten. Die herausragenden Leitbegriffe „Vernunft“ und „Verstand“ – das eine eine Eigenschaft, das andere eine Fähigkeit –, werden dem Menschen anthropozentrisch zugeschrie1 Barnard, Anthropology, S. 5; die „Buschmänner“ – eigentlich: San – werden als eine der ersten Ausprägungen der Species homo sapiens betrachtet. 2 Frobenius, Kulturgeschichte, S. 280 ff.

1. Anthropozentrik

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ben, selbst wenn sie im Kern dasselbe bezeichnen, was auch Tiere zu leisten imstande sind. Anthropozentrische Theorien über die Bildung von Gemeinschaften haben und entwickeln Vorstellungen von ihren Mitgliedern, die zwar zuweilen mit überlegenen Göttern und Führern rechnen, aber doch den Einzelnen der Gemeinschaft wegen wichtig nehmen. Jene Theorien sind nicht nur deshalb anthropozentrisch, weil sie vom Menschen als Spezies ausgehen, sondern auch deshalb, weil sie eine Gemeinschaft definieren, die ihrerseits die eigene und andere Spezies und deren Interessen definiert. Insoweit kommt es auf Ein- und Ausgrenzungen an: einerseits der Tiere, andererseits fremdartiger Menschenwesen. Moralisch repräsentieren Tiere nämlich oft das Primitive oder Böse, von dem „der“ Mensch sich abzusetzen bemüht, und fremdartige, gar abnorm erscheinende Menschen lassen an der eigenen Eigenart zweifeln. Nach welcher Norm? Die Geschichte der menschlichen Gesellschaften ist auch eine Geschichte der Biologien, Anthropologien und Politologien. Am Ende ist der Mensch ein Wesen eigener Teleologie. Doch seine Selbstgewissheiten schwinden, sobald für wesentlich gehaltene Merkmale der Spezies ausfallen und anerkannte, selbstverständliche Grenzen überschritten werden. „Spezies“ ist allerdings kein eindeutiger Begriff mehr. Bevor Darwin seine „Arten“ beschrieb, aber nachdem Linné sein System perfektioniert hatte, sorgte Kant für eine logische Ordnung der Begriffe: „Der höhere Begriff heißt, in Rücksicht seines niederen, Gattung (genus); der niedere Begriff, in Ansehung seines höheren, Art (species). ... Die höchste Gattung ist die, welche keine Art ist ..., so wie die niedrigste Art die, die keine Gattung ist“. 3 Ein anthropozentrisches Verständnis lässt die Evolution der Lebewesen demgemäß in der Spezies Mensch kulminieren, die zugleich Gattung ist und spricht selbstgewiss vom „Gattungswesen“ Mensch, der in der Gattung der Hominiden eine Spe3 Immanuel Kant (1724 – 1804), Logik. II: Elementarlehre (1800), §§ 10 f., in: Werke, Bd. III, S. 417, 527.

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I. Der Mensch als Frage

zies ist. Nach Darwin gerieten die Arten allerdings in den Sog ihrer Übergänge und Transformationen. Moderne Biologien arrondieren Träger bestimmter Merkmale zu Arten und greifen dazu vornehmlich auf DNA-Sequenzen zu. Doch seitdem man weiß, dass die DNA-Sequenzen der Gorillas sich von denen des Menschen um nur wenige einstellige Prozentzahlen unterscheiden und menschliche Zellen sich manipulieren lassen, wird die Einzigartigkeit des Menschen in gewissen Kernstrukturen vermutet, die allerdings noch bestimmt werden müssen. Andere Biologen erfassen Arten unter dem Gesichtpunkt der Fortpflanzungsisolation, der allerdings nur solange trägt, solange Eingriffe in die Keimbahnen nicht gemischte Nachkommenschaften ermöglichen. Evolutionsbiologische Skeptiker wollen der Artenbestimmung schließlich nur noch einen ordnungspolitischen Zweck zugestehen: Die Kategorie sei „variability“. 4 Je nachdem variiert natürlich auch der Begriff des Menschen. Das theoretische Problem, eine Spezies zu definieren, illustriert in ganz gegenwärtiger Weise, was wohl schon immer problematisch war: dieses Lebewesen als eine einzigartige, eindeutig und ein für allemal abgrenzbare Entität zu identifizieren. Viele neolithische Zeichen, antike Sagen und Schriften bezeugen irritierende Entgrenzungen oder lassen reflexive Selbstprofilierungen erkennen. Mancherlei Philosophien bemühten sich um das Wesen des Menschen, und mancherlei Anthropologien vermittelten ihm einen autonomen Status, bis naturwissenschaftliche Erkenntnisse personale Vorstellungen in Zweifel zogen. Derzeit ist das Selbstverständnis des Menschen wieder einmal in Frage gestellt. Führende Biologien und Technologien forcieren Konstrukte, die den Menschen in eine fragwürdige Existenz treiben. Treiben? Tatsächlich erwachsen jene Kon4

Vgl. zu diesem weitläufigen Thema: Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 237 ff.; The Academy of Medical Science, Animals containing human material, Juli 2011, online: http://www.acmedsci.ac.uk/ download.php?file=/images/project/Animalsc.pdf, S. 17; Hull, On Human Nature, S. 383, 395 (Zitat). DNA = Desoxyribonukleinsäure (desoxyribonuclei acid) = Träger der Gene = Erbinformationen.

2. Perspektiven

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strukte aus menschlicher Fabrikation: Konstrukte des homo faber, der seine Evolution selbst vorantreibt und seine Gesellschaft durch Mischwesen diversifiziert. Einerseits versieht er Menschen mit tierischen Materialien und Tiere mit menschlichen; andererseits technisiert und digitalisiert er Menschen, die mit maschinellen Ersatzorganen, Gehirnsimulatoren und dergleichen refunktionalisiert werden; außerdem produziert er technische Klone 5 als Gefährten, Androide, die als Menschen funktionieren und bereits dessen bessere Alternative zu sein vorgeben, und der – von Rechts wegen noch gehemmte – Wunsch mancher Zeitgenossen, die sich für besonders einmalig halten, geht dahin, von sich einen sie möglicherweise überdauernden, lebendigen Klon erschaffen zu lassen. Welche Veränderungen erträgt die Spezies Mensch, bis sie sich in ihren Entgrenzungen verliert? Welche Ähnlichkeiten lassen sich bewusst oder unmerklich und ohne Substanzverluste integrieren? Angesichts der heute in Bewegung geratenen Speziesgrenzen lautet die Kernfrage: Was ist ein Mensch? Woran kann er sich erkennen?

2. Perspektiven

Die Fragen fokussieren ein Sein, beanspruchen aber die Art und Weise des Denkens: Wie und in welcher Absicht können Antworten erdacht und formuliert werden, die den Autoren und deren Adressaten einleuchten? Die Geschichten von Anthropologien und Sozialtheorien sind zwar im Ergebnis Geschichten von Axiomen, Erfahrungen, Vorstellungen und Absichten, zeugen aber zwischen ihren Zeilen von wechselnden Denktraditionen. Ob der Begriff „Mensch“ eine universale Idee ist, ob er eine ontologische Existenz hat, ob er empirisch er5 Auf der Ars Electronica 2009 in Linz / Österreich präsentierte Prof. Hiroshi Ishiguro, Leiter der „ATR Intelligent Robotics and Communication Laboratories in Osaka / Japan, seinen Doppelgänger, den Androiden „Geminoid“.

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I. Der Mensch als Frage

fasst oder wesenhaft fingiert wird, ob er durch Benennung entsteht oder voluntaristischen Vorstellungen entspringt, darüber kann man streiten; darüber stritten Philosophen seit der Antike, vehementer wieder in der Scholastik, als realistische und nominalistische Theorien miteinander um die rechte Erkenntnis wetteiferten, funktionalistisch bezüglich Gesellschaft und Staat, sprachphilosophisch bis in die Gegenwart und juristisch im Hinblick auf akzeptable Rechtsfolgen. Das Interesse des Menschen an sich selbst ist mit diversen Methoden und unter diversen Aspekten zu befriedigen versucht worden. Mehr als ein Sisyphos war am Werk. Eine Rechtsordnung verspricht weniger Tragik und größere Gewissheiten. Wenn grundlegende Rechtspositionen wie Menschenwürde, Lebensrecht und Gleichheit „dem“ oder „allen“ Menschen rechtnormativ zugeordnet werden, spielen die verzweigten Diskussionen über Sein und Wesen jener Subjekte dem ersten Anschein nach keine tragende Rolle. Denn was sollte man von einem Recht halten, das sich seiner Basisbegriffe nicht sicher ist und seine Rechtsfolgen auf einen zerklüfteten Grund baut? Seit der Epochenwende um 1800 positionierte „der“ europäische Mensch sich als ein Nucleus und Prometheus von Staat und Gesellschaft: Sowohl die Rechteerklärung von Virginia des Jahres 1776 als auch die französische Rechteerklärung von 1789 setzen „den“ und „alle“ Menschen an den Anfang der sozialen und politischen Gemeinschaft; nach dem Zweiten Weltkrieg bekannten die Vereinten Nationen sich erneut und die Gemeinschaft der Menschen erneuernd zu dieser Position. 6 Das deutsche Strafgesetzbuch braucht nur „wer“ zu sagen, und jedermann weiß, welche Art von Lebewesen Täter sein können, und das moderne Verfassungsrecht traut seinen 6

Art. 1 The Virginia Declaration of Rights: 1776 „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity, namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and persuing and obtaining happiness and safety.“

2. Perspektiven

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Abstraktionen verlässliche Interpretationen zu, wenn es Menschen Rechtspositionen garantiert. Doch diese Gewissheiten schwinden. Sobald fraglich wird, ab und bis wann ein Lebewesen Mensch ist, ob und welche Mischwesen Menschenwürde genießen und ob Menschenaffen ähnlich gewürdigt werden sollten, ob diese Würde allein dem Individuum seiner selbst oder der Gemeinschaft wegen oder erst mittels einer konkreten Gemeinschaft oder überhaupt nur der Spezies, der „Menschheit“, im Universalsingular zukommt, dann werden die Varianten Realismus, Nominalismus, Positivismus aktuell: Entweder wird, was Mensch ist, auch so bezeichnet, oder man bezeichnet das als Mensch, was als solcher anerkannt werden soll, oder man bildet Analogien, oder es wird souverän definiert. Als Thomas von Aquin seinen Gott ausführlich bewies, hielt er die Erkenntnis, „dass Gott ist“, für ebenso einleuchtend wie die Aussage: „Der Mensch ist ein Mensch“ („homo est homo“) und diese gleichbedeutend mit der Prädikatisierung: „Der Mensch ist ein Lebewesen“ („homo est animal“); denn „was von Natur aus einleuchtend ist“, werde unmittelbar („per se“) erkannt, ohne dass es einer Forschung bedürfe. 7 Diese Zeiten sind jedoch lange vorbei. Anatomie, Biologie und Gentechnologie haben die Wahrheiten einfacher Eingebungen und Einsichten unterminiert. Zwar waren menschliche Embryos und Monster schon immer Problemfälle, die argumentativ zu bewältigen waren; aber genetische In-vitro-Mixturen, Menschen mit tierischem und Tiere mit menschlichem Material beleben erst seit Kurzem die Welt. Sie sind nicht mehr ohne weiteres erkennbar und vergleichbar und deshalb nicht mehr „per Art. 1 Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen 1789: „Les hommes naissent et demeurent libres et êgaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.“ Art. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ 7 Thomas von Aquin (1225 – 1274), Summa contra gentiles (ca. 1260), l. I c. 10 = Summe gegen die Heiden, I. Bd., S. 33.

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I. Der Mensch als Frage

se“ selbstverständlich. Seitdem der Mensch sich in der Gemengelage seiner Entartungen nicht mehr axiomatisch positionieren kann, kommt es auf Bedeutung, Wertung, Anerkennung und dem angepasste Inklusionen und Exklusionen an. Dabei spielt die Semantik ein wichtige Rolle: Das Wort „Mensch“ trägt verschiedene, nicht selten gegenläufige Bedeutungen, die Anerkennung oder Missachtung ausdrücken können. Es meint im Grunde ein Lebewesen von eigenartigen Qualitäten, die es vor Tieren auszeichnen; es kann aber auch soziale oder sittliche Minderwertigkeiten meinen, die „entmenschte Menschen“ als „viehisch“ disqualifizieren. 8 In dieser Tradition stehen auch rassistische Nominalismen, die Menschen verbal aus der Gemeinschaft ausgrenzen, bevor sie den Wörtern Begriffe, dann Taten folgen lassen. So funktionierten die Wörter Untermensch, Unmensch, Monster: Sie objektivierten die Bezeichneten und ließen sie ins Tierische abgleiten. Als Begriff konnte „Untermensch“ anfangs sozial Niederstehende vom „Übermenschen“ unterscheiden, ohne an deren Menschsein Zweifel aufkommen zu lassen. Aber schon bei Kant gingen „das thierische und untermenschliche“ in der Gestalt des Affen eine Verbindung ein, und die soziale Minderwertigkeit wurde moralisch ausgebaut. 9 Dazu trugen Nietzsches Bewunderung Napoléons als „Unmensch und Übermensch“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wortgewaltig bei 10, über den Fontane sich mokierte, als er die „Übermenschen“ und „Untermenschen“ von den vordem „wirkli-

8 Eine ausführliche Wortgeschichte bieten Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, 1885 / 1999, Sp. 2021 ff. 9 Grimm, Wörterbuch, Bd. 24, 1936 (!) / 1999, Sp. 1686 f. 10 Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Also sprach Zarathustra, 1883, Vorrede: „Ich lehre euch den Übermenschen“, in: Werke Bd. I, S. 291 ff., 305 ff.; ders., Zur Genealogie der Moral, in: Werke Bd. II, S. 819 ff., 838: „Napoleon, diese Synthesis von Unmensch und Übermensch“. – Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 345 ff., erkärt den Übermenschen als Überwindung des Menschen nach dem Tod Gottes.

2. Perspektiven

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chen Menschen“ unterschied. 11 Wahrhaftig suchte Nietzsche im Übermenschen den eigentlichen, nämlich den gottlosen, nach dem „Tod“ Gottes endlich menschlichen Menschen. Nietzsches Visionen trafen auf Darwins Prinzip der natürlichen Auslese und auf Gobineaus Zivilisationstheorie, die der weißen, arischen Rasse ihre welthistorische Überlegenheit bescheinigte und Rassemischungen als Degenerationen verwarf. 12 So konnte die begriffliche Alternative von Übermensch und Untermensch nicht nur die Ethnologie, sondern auch die Politik aktivieren. In der Folge wurde der „Untermensch“ sozialdarwinistisch gedeutet. Nationalsozialistische Rasseideologen eximierten „Untermenschen“ aus der Volksgemeinschaft 13, und der Terror des Regimes sorgte für die Entmenschlichung ganzer Menschengruppen. 14 Seither dient der Begriff weltweit dazu, Gegner kollektiv auszugrenzen und zu disqualifizieren. Nach Kriegsende wurden KZ-Schergen ihrerseits zu „Unmenschen“ und „Bestien“. 15 Umgekehrt fragte Primo Levi, ein Opfer, sich und den Leser seiner Dehumanisierung in Auschwitz: „Ist das ein Mensch?“. 16 11

Theodor Fontane (1819 – 1898), Der Stechlin, 1899, in: ders., Romane und Erzählungen, Bd. 8, S. 301. 12 Arthur de Gobineau (1816 – 1882), Essai sur l’inégalité des races humaines, 1852, Conclusion: „Les deux variétés inferieures de notre espèce, la race noir, la race jaune“. 13 Rohrbach, Der Tag des Untermenschen, 1929; Alfred Rosenberg, Der Mythos des 20. Jahrhunderts, 1930, S. 214: betr. „Bolschewisten“. Der rassistische Begriff geht auf den US-amerikanischen Anthropologen u. Rasseideologen Lothrop Stoddard (1883 – 1950) zurück: Revolt against Civilization. The Menace of the Under Man, 1922 / deutsch: Der Kultursturz. Bedrohung durch den Untermenschen, 1925. 14 Hitler, Mein Kampf, S. 317, verstand (er kannte Gobineaus Werk) unter „Mensch“ nur den „Arier“ als Wesen „höheren Menschentums“ u. disqualifizierte unter dieser Prämisse wortreich „die Juden“, die er schließlich (S. 330) in die Nähe von „Tieren“ rückte. 15 Übertrieben selbstkritisch bedichtet Eugen Roth (1895 –1976) seine Mitläufer-Rolle im Nationalsozialismus: Mensch und Unmensch, 1948. – Der Begriff eroberte die Science-Fiction-Kultur: Pozner, Utopien der Unmenschen, S. 52 ff. 16 Primo Levi (1919 – 1987), Ist das ein Mensch?, 1947.

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I. Der Mensch als Frage

Das Thema absichtsvoller Ausgrenzungen war freilich schon vor Hitlers Ausrottungsindustrie virulent. Als Aristoteles den Status von Sklaven praxistauglich diskutierte, sah „der Philosoph“ – so sein frühneuzeitlicher Titel – in ihnen nur äußerlich Menschen, doch eigentlich von Natur aus lebendige, aber vernunftlose Werkzeuge, dem Herrn nützlich wie Tiere. 17 Seine ökonomisch kostengünstige Unterscheidung inspirierte und legitimierte nachahmende Konzepte der Ein- und Ausgrenzung. Als die Spanier den ungetauften Indianern begegneten, verbreitete sich die – vorteilhafte – These, die seien Tiere („bestias“) und deshalb zur Beraubung und Tötung freigestellt. 18 Aus dem Holland des 17. Jahrhunderts wurde berichtet 19, dass Monstergeburten, insbesondere solche tierischer Façon, getötet werden durften. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, ein Werk der Aufklärung, ließ „Geburten ohne menschliche Form und Bildung“ zwar leben, aber rechtlos. 20 Diese Aristoteles-Rezeptionen lehren: Wer den Menschen ex negativo definiert, riskiert Kollateralschäden. Das Risiko der 17

Aristoteles, Politik, I 1253b, 1254a, b. Nachweise bei Horst, in: Francisco de Vitoria, Vorlesungen I, S. 80. 19 von Groenewegen, Tractatus de legibus abrogatis et inusitatis in Hollandia vicinicque regionibus ad Digesta. Pars II, ed. nova, 1664, tit. V: De statu hominum I, 14: „non sunt: Partus monstri atque prodigiosi hodie magistratum consensu suffocari solent“ = Keine Menschen sind: Monsteroder Ungeheuergeburten werden heute normalerweise mit Zustimmung des Magistrats erstickt. – Weitere zeitgenössische Nachweise bei Zedler, Universal-Lexikon, 21. Bd., 1739 / 2. Nachdruck 1995, Sp. 486 ff. Erheblich humaner erkannte 150 Jahre früher der humanistische Stoiker Michel de Montaigne (1533 – 1592), Essais, 1580 / 1998, S. 352: „Was wir Missgeburten nennen, sind für Gott keine ...“. 20 ALR I 1 §§ 17 f. – Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der östereichischen Monarchie von 1811 war moderner: gem. § 16 hatte jeder Mensch „angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“; Sklaverei u. Leibeigenschaft wurden abgeschafft; § 21 stellte Kinder, Rasende, Wahnsinnige u. Blödsinnige unter den Schutz der Gesetze; gem. § 22 genossen „ungeborne Kinder“ denselben Schutz wie geborene ab dem Zeitpunkt ihrer Empfängnis u. wurden „als Geborne angesehen“; gem. § 23 wurde im Zweifel eine Lebengeburt angenommen. 18

2. Perspektiven

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für anormal Erklärten besteht fast regelmäßig im Ausschluss aus der herrschenden Sozial- und Rechtsgemeinschaft und oft, gravierender, aus der Lebensgemeinschaft: Die zu Anderen Erklärten werden in die Unterwelt der nutzbaren und vernichtbaren Tiere und Sachen abgeschoben. In der kritisch und skeptisch gestimmten Gegenwart kann die Frage: Was ist ein Mensch? vermutlich keine eindeutige oder gar abschließende Antwort erwarten, wenn man bedenkt, dass Religionsgemeinschaften und Wissenschaften unterschiedliche Wahrheiten für sich beanspruchen. Descartes, der laut Hegel „wahrhafte Anfänger der modernen Philosophie, insofern sie das Denken zum Prinzip macht“ 21, hätte wohl nach dem wahren Menschen gefragt, platonisch, jedenfalls logisch davon überzeugt, hinter der subjektiv wahrgenommenen Welt der Erscheinungen existiere die eigentliche, wahre 22, also auch der „wahre Mensch“ – ein christologischer Begriff 23, der aber bereits eine Generation vor Descartes rechtspolitisch eingesetzt wurde. 24 Doch schon dessen Zeitgenosse Hobbes hatte ihm erwidert, dass das „Bild eines Menschen“ den „wirklichen Menschen“ nur fiktiv wiedergebe. 25 Eine Generation später harmonisierte Leibniz zwar zunächst beide Wahrheiten, emanzipierte 21

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831), Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III 1, 1833 – 36 / Werkausgabe, Bd. 20, S. 123. 22 René Descartes (1596 – 1650), Meditiationes de prima philosophica, 1641, II 3 = Ausgabe Lüder-Gäbe, S. 40 f.: „c’est une vérité très certaine que, lorsqu’il n’est pas en notre pouvoir de discerner les plus vrais opinions, nous devons suivre les plus probables“. 23 Martin Luther (1483 – 1546), Bekenntnis, 1528. 24 Vgl. den Brief „Veritas ipsa“ von Papst Paul III. an den Kardinal Jean de Tovera von 1537 = deutsch online: http://www.stereo-denken.de/ sublimis_deus.htm. 25 Thomas Hobbes (1588 – 1679), Lehre von Körper, 1915 / 1949, Anhang: Einwände gegen die Meditiationen des Descartes nebst dessen Erwiderungen, S. 181 f.: 14. Einwand = Thomae Hobbes Malmesburiensis Opera Philosophica quae Latinae scripsit, vol. V., 1845 / 1966, S. 272: „Et videtur esse ut imago hominis in animo ad hominem, ita esse essentiam ad existentiam: vel ut haec propositio, Socrates est homo, ad hanc Socrates est vel existit, ita Socratis essentia ad ejusdem existentiam. Jam Socrates est homo,

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I. Der Mensch als Frage

aber die Ratio: „Ich setze voraus, dass zwei Wahrheiten einander nicht widersprechen können, dass der Gegenstand des Glaubens die Wahrheit ist, welche Gott auf ungewöhnlichem Wege offenbart hat, und dass die Vernunft die Verknüpfung der Wahrheiten ist, besonders aber – im Gegensatz zum Glauben – der Wahrheiten, zu denen der menschliche Geist auf natürlichem Wege, ohne Beihilfe der Erleuchtung durch den Glauben, gelangen kann.“ 26 Schließlich, am Ende der Aufklärung, nachdem die Philosophie den Menschen zum Herrn seiner selbst und der Welt befördert hatte, Kant: Der Mensch vermag das An-sich von Dingen nicht zu erkennen; er konstituiert, was er für wahr hält und wie er sich zur Welt verhält; 27 das Bewusstsein seiner selbst werde, sofern nicht metaphysisch, sondern pragmatisch gedacht, durch Egoismen bestimmt. 28 Kants Pragmatik ist interessant, weil das grundgesetzliche Menschenbild oft mit dem Autonomieaxiom erklärt wird. 29 Da die europäischen Menschenbilder aus vielerlei Axiomen und Methoden hervorgingen, ist es nicht erstaunlich, dass ihre Konturen changieren. Das Wort „Bild“ deutet das schon sprachlich an: Es wird als Ikone inspirativ, als Porträt repräsentativ und als Übermalung schichtweise angefertigt. Der moderne, psychologisch geschulte Skeptiker weiß zudem, dass der Beobachter, der sich selbst als Beobachter beobachtet, in einem logischen Zirkel operiert und über zeitgebundene Relativismen quando Socrates existit, significat connexionem nominum tantum“ (kursiv im Orginal). 26 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), Essais theodicée, 1710, A I = Ausgabe Habs, Die Theodicee, S. 82. 27 Wimmer, Gott – Schöpfung des Menschen? in: Jahrbuch für Religionsphilosophie, Bd. 3 (2004), S., 150, 159 ff. – Der Literaturnobelpreisträger von 1978 Isaac B. Singer (1902 – 1991) bekannte ähnlich – in: Verloren in Amerika, 1985 / 1987, S. 252 –: „Lange bevor ich von Berkeley und Kant gehört hatte, fühlte ich, dass, was wir Wirklichkeit nennen, keine andere Substanz hat als die unserer Vorstellungen.“ 28 Kant, Anthropologie, I. Buch § 2, in: Werke Bd. VI, S. 408 f. 29 Vgl. u. a. Isensee, Würde, in: Merten / Papier Bd. IV, § 87 Rn. 79 ff.; kritisch Hofmann, Methodische Probleme, in: Appel / Hermes, S. 61 ff.

3. Studienplan

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nicht hinaus gelangen kann, und der Neurologe ergänzt, dass in „Wirklichkeit“ das Gehirn sich seine Welt schafft. 30 In dieser Perspektive lässt der Mensch sich als ein Produkt autonomer Vorstellungen begreifen, nicht als Phänomen einer dem menschlichen Denken vorausliegenden, an und für sich seienden Natur, sondern der Kultur. So präsentieren die Bilder und Begriffe vom Menschen sich als reflexive Programme, die, in ein historisches Kontinuum gebracht, ein Rollbild ergeben.

3. Studienplan

Damit die Frage nach dem Menschen sich nicht in einem allzu weiten Feld verausgabt, soll sie in eine verfassungsanthropologische Perspektive geführt werden. Zwar war und ist das Recht nicht das führende Medium der Profilierung des Menschen. Diverse Wissenschaften haben sich mit diesem Wesen sachkundiger beschäftigt und für ihre Erkenntnisinteressen unterschiedliche, oft miteinander kollidierende Begriffe entwickelt. Doch die Rechtsordnung kann sich deshalb ihrer Maßgeblichkeit rühmen, weil sie über Ein- und Ausgrenzungen entscheiden kann: im Personenstands-, Erb-, Straf-, Staatsangehörigkeits-, Verfassungs- und im Völkerrecht. Da „Mensch“ allerdings ein unbestimmter und deshalb auf sinnvolle Interpretationen angewiesener Rechtsbegriff ist, sieht der Interpret sich dem Problem ausgesetzt, an welchen Axiome, Traditionen und Sinngebungen er sich orientieren darf. Immerhin könnte der deutsche Rechtsstaat sich darauf verlassen, dass nach heuristischen Unsicherheiten und Streitigkeiten das Wesen des Menschen letztlich vom Bundesverfassungsgericht erhellt wird. Doch Dezisionen sollten eine materiale Richtigkeit ausdrücken, um dauerhaft überzeugen zu können.

30 Frith, Wie unser Gehirn die Welt erschafft, bes. S. 175 ff.: „Ich nehme nicht die Welt wahr, sondern das Weltmodell meines Gehirns.“

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I. Der Mensch als Frage

Obwohl die neuzeitlichen Verfassungstexte ihre kodifizierten Ordnungen fundamental auf den Menschen und dessen Potentiale gründen, angeregt durch Naturrechtsphilosophien 31, Sozial- und Staatstheorien, deuten sie ihre Menschenbilder nur vage an. Die Virginia Bill of Rights von 1776 und die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 verweisen auf die „Natur“ des Menschen. Nicht viel erhellender ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, wenn sie „allen Menschen“ und jedem „Mitglied der Gemeinschaft der Menschen“ eine Würde und Rechte zuerkennt, die „angeboren“ seien, und ebenso metaphysisch verfährt das Grundgesetz. Immerhin identifiziert es ein weltweit gleich bestimmtes Wesen, ungeachtet ethnisch oder regional radizierter Selbstverständnisse. Dass „der“ Menschen nicht als Abstraktum, sondern als Mitglied erscheint, ist ein Gütezeichen des modernen Verfassungsstaates. Doch welche Entwicklungsphasen eines Menschen und welche Mischwesen der Begriff einoder ausschließt, bleibt unklar. Dass die Frage keine einzig richtige Antwort erwarten lassen kann, ergibt sich nicht nur aufgrund der Differenzen von Glauben und Denken. In Europa, auf das die Darstellung sich im Folgenden konzentriert, trugen mehrere „anthropologische Wenden“ zur Entwicklung kulturgeschichtlich differenzierter Menschenbilder bei (II.), deren Themen und Maßstäbe bis heute einflussreich geblieben sind. Im Laufe dieser Wenden erfuhr der Begriff des Menschen Dekonstruktionen und Rekonstruktionen, die vor allem technologische und technische Veränderungen und Vermischungen der Spezies ergaben (III.). Die kritische Diskussion über den moralischen Status der Mischwesen findet in einem „ethischen Wettbewerb“ statt, der in ein Feld von Verhältnisabwägungen übergeht (IV.). Sie orientiert sich stark an den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht vorgab, als es menschliche Embryos „als Menschen“ an31 Zur diesbezüglichen Relevanz des Begriffs vom Menschen u. a. Welzel, Naturrecht, S. 116 ff.; Bloch, Naturrecht, S. 68 ff.

3. Studienplan

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erkannte und so zu schützen aufgab; Gesetze und Rechtsdogmatik haben diese Vorgaben konkretisiert (V.). Doch welche Entgrenzungen „des“ Menschen zu menschennahen und menschenähnlichen „Lebewesen“ sind der Rechtsgemeinschaft noch zuträglich und wie könnten Entartungen so begrenzt werden, dass diese Gemeinschaft ihre kollektive Identität auf ein konsistentes Menschenbild stützen kann? (VI.). Die Studie soll Denktraditionen und -richtungen erörtern, die zu Antworten führen, die in ihrer Zeit Richtiges formulierten und heutige Menschenbildnern die Relativität ihrer Überzeugungen lehren könnten.

II. Anthropologische Wenden Das Rollbild der Anthropologien zeigt eine Abfolge „anthropologischer Wenden“, die von einem dauerhaften Problembewusstsein des Menschen, aber auch von den erheblichen Begriffsinteressen zeugen. Markante Wenden fanden infolge der frühneuzeitlichen Aristoteles-Rezeption, durch den Empirismus und Republikanismus um 1750, den Darwinismus des 19. Jahrhunderts, die philosophische Anthropologie der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und, vorläufig so aktuell wie umstritten, infolge neurologischer Forschungen statt: Auch die Wendemanöver unterliegen offenbar dem Gesetz der Beschleunigung.

1. Humanismus

Die bis heute durchscheinende Grundierung des europäischen Menschenbildes erfolgte im Humanismus der Renaissance. Damals erfand der Mensch sich als Individuum. Er stellte sich in den Mittelpunkt seiner Welt und schrieb sich eine Würde zu: als Schöpfung anthropozentrischen Selbstbewusstseins, sichtbar in den Werken der Kunst eines Leonardo da Vinci oder Michelangelo. Damals nahm die Wissenschaft Abschied von unvorgreiflichen Glaubensgewissheiten und von der Deutungshoheit der Theologen. Der Anthropozentrismus verdrängte das theozentrische Weltbild, und es bildete sich der „moderne Mensch“, dem Jacob Burckhardt Individualität und Persönlichkeit zuschrieb. 32 Versari, der den Aufbruch der bildenden Kunst in Italien biographisch zeitnah nachvollzog, rühmte wie32

Burckhardt, Die Kultur der Renaissance, 2. Abschn. I, II.

1. Humanismus

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derholt die Lebensechtheit und Naturtreue großer Renaissanceportraits und den Geist Michelangelos, der es wagte, seinem Werk seinen Namen einzumeißeln. 33 Der nackte Körper des Menschen konnte ohne mythologische oder religiöse Bezüge dargestellt werden. Leonardo da Vinci hatte, um die menschliche Konsistenz zu erfassen, zahlreiche Leichen seziert; die wohl erste Zeichnung eines Embryos stammt von ihm, ebenso der „vitruvische Mensch“ 34, der Italiens Ein-Euro-Münze ziert und dem menschlichen Körper ein klassisches Ebenmaß verlieh. Zugleich hatte Machiavelli nicht nur dem „Principe“, sondern auch dem Jedermann Züge personaler Individualität vermittelt und ihm eine mitwirkende Rolle in der politischen Gemeinschaft zuerkannt: Seine Menschen gestalteten ihr Schicksal und passten sich geschickt den wechselnden Umständen an; 35 Gott erschien dabei nur als ein psychisches Phänomen. 36 Machiavellis Menschen richteten sich nach ihrem Augenschein und nach ihrer Stellung und Wirkung in der säkularisierten Welt. 37 Seiner Unvoreingenommenheit wegen gilt der Florentiner noch heute als ein Tabubrecher. 38 Doch dabei bewegte er sich ganz in den seinerzeit fortschrittlich aufklärenden Denkbewegungen. 33

Giorgio Versari (1511 – 1574), Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten, 1550 / 1568. – Um 1545 dichtete Michelangelo (1475 – 1564): „Es kann der beste Künstler nicht erdenken, / Was nicht der Marmor schon in sich enthielt, / Und der allein erreicht, worauf er zielt, / Dem Geist und Sinne seine Hände lenken“, in: Gedichte, Nr. 46. – Schon im Hochmittelalter begannen Künstler ihr Werk als persönliches, nicht nur göttlich inspiriertes auszuzeichnen: vgl. die berühmte Inschrift am Tympanon der burgundischen Kathedrale von Autun: „Gislebertus me fecit“. 34 Leonardo da Vinci (1452 – 1519); der sog. Vitruvische Mensch wird auf 1490 datiert. 35 Nicolo Machiavelli (1469 – 1527), Discorsi, 1513 – 1517 / 1531, II. Buch Kap. 8 f.= Ausgabe Zorn, S. 186 ff. 36 Machiavelli, Geschichte von Florenz, 1520 – 1525 / Ausgabe v. Reumont, 1986, S. 24 mit S. 275: „menschlich“ = pragmatisch. 37 Machiavelli, Il Principe, 1513 / 1532 / Ausgabe Zorn: Der Fürst, S. 63, 74. 38 Reinhardt, Machiavelli, S. 13 ff.

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II. Anthropologische Wenden

Brauchte man überhaupt noch einen Gott, um den Menschen sowie dessen Sozialnatur und Rechtsgemeinschaft zu erklären? Der Calvinist Grotius hatte 1625 eine säkulare Rechtsordnung gemäß der Natur des Menschen entworfen, die selbst dann Geltung beanspruchte, „falls“ es keinen Gott gäbe, was zu denken allerdings Sünde wäre: „etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deus, aut non curari ab eo negotia humana“. 39 Grotius’ gewagte Hypothese machte Schule. Leibniz wiederholte sie zustimmend noch knapp ein Jahrhundert später 40, während Christian Wolff auf Distanz ging. 41 Die zur Praxis drängenden Naturwissenschaftler und Mediziner neigten ohnehin dazu, die metaphysischen Mythen und Dogmen zwar nicht zu leugnen, sie aber pragmatisch zu umgehen. Anderes wäre gefährlich gewesen: Giordanao Bruno endete 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen; Galilei stand im Focus der Jesuiten, die nach dem Tridentinischen Konzil die kirchliche Autorität durchsetzen wollten und die Folgen wissenschaftlichen Denkens auf die „Wahrheit“ der Transsubstantiation fürchteten. Auf das Beweisbare konzentriert, bewirkten die Erfahrungswissenschaften ein Umdenken, das, von Oberitalien in der Frühen Neuzeit ausgehend, das theologisch dominierte Menschenbild veränderte und zu einer anthropologischen Wende führte. 42 Damals streifte die Wissenschaft die theologisch-kirchlichen Fesseln ab, dachte in säkularisierten Kategorien und begann, den seiner selbst gewissen Menschen individuell zu erkennen 39 Hugo Grotius (1583 – 1645), De jure belli ac pacis libri tres, 1625, Prolegomena n. 11. 40 Leibniz, Theodicee I § 183. 41 Christian Wolff (1679 – 1754), Philosophia moralis sive ethica, 1749, in: Werke. II. Abt. Bd. 15, p. IV cap. I §§ 31 f. 42 Dazu gründlich, mit ausgiebigen Belegen de Angelis, Anthropologien. – Zu der spannenden Verfolgung – u. Verbrennung – wissenschaftlicher „Ketzer“ u. dem „Geist“ dieser Zeit: Redondi, Galilei, S. 60 ff., 118 ff. (zu de Dominis), S. 141 ff. (zu Galilei / Heiliges Officium), S. 164 ff. (zum „Saggiatore“).

1. Humanismus

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und experimentell zu erforschen. Zu diesem Umdenken trug wahrscheinlich eine Evolution des Schul- und Universitätswesens bei, die zur Differenzierung des Lehrpersonals und des Unterrichts für Theologen und Mediziner führte, so dass die Spezialisierung der Medizin deren Detheologosierung und differenzierte Sichtweise bewirkte. 43 Dank der Übersetzungen des spanisch-arabischen Philosophen und Arztes Ibn Ruschd, genannt Averroes (1126 – 1198), und angeleitet durch Alexander von Aphrodisias’ (um 200 n. Chr.), des „Kommentators“, antike Aristoteles-Kommentare, las man in des antiken Philosophen „historia animalium“, dass der Mensch zur Gruppe „Landtier“ gehöre und anatomisch dem Affen ähnele, qualitativ aber ein „animal rationale“ sei, ein vernunftbegabtes Tier. In der Schrift „de anima“ hatte Aristoteles angeregt, die Seele im Körper empirisch zu erforschen. 44 Denn im Gegensatz zu seinem Lehrer Platon, der Körper und Seele trennte, so dass diese nach dem Tod sich wieder lösen und unsterblich weiterleben konnte 45, verband Aristoteles Körper und Seele zu einer existentiellen Wirkeinheit. Christlicher Überzeugung nach war die Seele – „anima“: ein Wort, das hauchen, atmen konnotiert, – das dem Menschen innewohnende Göttliche. Nach dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht Genesis I 1 ließ Gott erst die verschiedenen Gattungen der Tiere entstehen: Fische, Vögel und Vieh („bestiae“ 46); erst danach schuf er den Menschen sich zum Bilde, 43 Zu dieser Entwicklung seit dem Mittelalter Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 224 ff. 44 Aristoteles, historia animalium, l. 1 p. 1; ders., Von der Seele, S.257 ff., bes. S. 285 f. (l. II); dazu Alexander Aphrodisiensi praeter comentaria scripta minora: De anima liber cum mantissa, online: http://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k5685529d.r. 45 Platon, Gorgias 524b) – e); Menon 86a), b); Phaidon 77d): vorgeburtliches Sein der Seele. 46 So gemäß der sog. Biblia Sacra vulgata editionis, deren lat. Text auch nachfolgend zitiert wird, weil er den frühneuzeitlichen Begriffshorizont markiert.

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II. Anthropologische Wenden

„zum Bilde Gottes schuf er jn“ 47: „et creavit Deus hominem ad imaginem suam“, und machte ihm die Tiere untertan. Die nachpriesterschriftliche Paradieserzählung Genesis I 2 ergänzte diese Über-Unter-Ordnung dahin, dass Gott dem Menschen die Namensgebung der Tiere überantwortete; doch zudem blies er ihm – in Luthers anschaulicher Sprache – „den lebendigen Odem in seine Nasen / Und also ward der Mensch eine lebendige Seele“. 48 Luther hielt diese Seele wie vor ihm Thomas von Aquin für unsterblich. 49 So verstanden, definierte die Bibel zwischen Mensch und Tier eine unübersteigbare Grenze. Luther widersprach Aristoteles’ Gleichsetzung von Tier und Mensch, indem er dessen Vernunftbegabung zum „Wesensunterschied“ erklärte, „durch den der Mensch als Mensch bestimmt wird in Unterscheidung von den Tieren und den sonstigen Dingen“. 50 Man kann in diesem Unsterblichkeitsglauben einen starken Grund für spätere Überzeugungen von einem der Spezies Mensch eigenen, sie ungeachtet individueller Defizite auszeichnenden Wesenskern, einem, wie klassisch Gebildete dies ausdrücken, „Humanum“ wahrnehmen, auf das sich auch noch die grundgesetzliche Menschheit soll verlassen können. 47 Im zeitgenössischen Deutsch Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. 48 Vulgata: „Formavit igitur Dominus Deus hominem de limo terrae, et inspiravit in faciem eius spiraculum vitae, et factus est homo in animam viventem.“ – Dass ein Schöpfergott den Menschen aus Erde nach dem Bilde der Götter („in effigiem moderantum cuncta deorum“) geformt habe, wusste übrigens schon Ovid (43 v. Chr. – ca. 17 n. Chr.), Metamorphosen I 76 ff. – Zur literarischen Verarbeitung der Schöpfungsmythen vgl. Maurer, Prometheus, S. 11 ff. – Darauf, dass schon der späte Platon eine Gottebenbildlichkeit thematisiert hatte, kann hier nur hingewiesen werden: Platon, Timaios 41e). 49 Thomas von Aquin, Summa, l. II cap. LVI ff., LXXIX = Summe, 2. Bd., S. 370: „Quod anima humana, corrupto corpore, non corrumpitur“; Luther, Disputation über den Menschen, 1536, N. 35: „So ist denn der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer Stoff zu dem Leben seiner zukünftigen Gestalt.“ 50 Luther, Über den Menschen, N. 6.

1. Humanismus

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Mischwesen konnten diese Abgrenzung nicht überleben. Seit tausenden von Jahren hatten sie die Stärken und Schwächen von Mensch und Tier vereinigen können, so wie frühneolithische vogelköpfige Mischwesen, die vor 12000 Jahren in Anatolien Dämonisches trieben, und wie der Große Sphinx von Gizeh, der, ein Löwe mit einem Menschenkopf, vor etwa 4500 Jahren entstand; spätere Sphingen zeigen deutlicher, dass diese Gestalt die metaphysische Macht und Hoheit ägyptischer Könige repräsentiert. Löwen und Stiere mit Menschenköpfen dokumentierten auch in Mesopotamien potenzierte, hybridisierte Macht, und die griechische Antike kannte eine Reihe halbmenschlicher Wesen, die die Welt zwischen Menschen und Göttern teils friedlich, teils bedrohlich bevölkerten 51, wie Erechtheus, Sohn des Hephaistos und der Gaia, halb Mensch und halb Schlange und vierter legendärer König Athens, wie die Kentauren, der Minotaurus, Faune und Satyre, beide Mensch und Ziege, oder die feuerspeiende Chimaira. Was sie damals bedeuteten, kann man im Nachhinein nur in modernen Denkweisen vermuten. Verbanden sie körperliche Vorzüge der Tiere mit geistigen des Menschen, wenn sie dem Tierleib einen aufrechten Menschenkopf aufsetzten, und hybridisierten beider Wesen sich wechselseitig? Etliche dieser Mischwesen verdanken ihre Existenz der Mitwirkung von Göttern. Man könnte also mutmaßen, diese korrigierten die Trennung der Spezies zugunsten effektiverer Lebewesen. Jedenfalls existierten die fabulösen Lebewesen immer in Grenzbereichen zwischen Vertrautem und Fremden, Gut und Böse und dienten als Anreiz oder Warnung, Grenzen zu überschreiten, sei es, um tierische Fähigkeiten zu erlangen, sei es, um vor tierischer Wildheit zu warnen. Der Sieg über solche Mischwesen ließ sich als Sieg der Zivilisation über die Unnatur interpretieren. 52 51 Vgl. zu den Funden in Göbekli Tepe / Türkei: Hauptmann / Schmidt, Anatolien vor 120000 Jahren, S. 67 ff.; zu Sphingen: Görg, Ägyptische Religion, S. 74 f.; Martin (Hg.), Tiergestaltigkeit, pass. 52 So King, Halbmenschliche Wesen, in: John Carry, S. 222; 224: zu Kentauren. – Am Parthenon-Fries (ca. 445 v. Chr.) überwältigt offenbar ein Kentaur einen Griechen.

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II. Anthropologische Wenden

Mögen die antiken Mischwesen den Göttern auch nahe gestanden haben, ja sogar göttlichen Ursprungs gewesen sein: In der Bibel wurden sie eindeutig disqualifiziert. Die Genesis kannte keine Übergänge vom Menschen zum Tier. Der Prophet Hesekiel berichtete von – und warnte damit vor – grauenhaften Tiermenschen; 53 Moses untersagte Sodomie mit Tieren als abscheuliches Verbrechen. 54 Hatte er dafür einen konkreten Grund? Wollte er Unsitten unterbinden? Aufgrund der Bibel erhöhte der jüdische, dann christliche Gott den Menschen zu einer der Tierwelt überlegenen Kreatur. Die christlichen und islamischen Engel erscheinen in Menschengestalt, männlich oder weiblich, häufig geschlechtslos, anfangs flügellos, dann meistens geflügelt, so dass sie biologischerweise ihre Schwingen wie Vögel bewegen müssen, statt ätherisch schweben zu können. Noch im Hochmittelalter verbreiteten Monsterskulpturen und Bestiarien Furcht und Schrecken. 55 Diese Strategie reichte bis weit in die Neuzeit. Sie bestimmt bis heute intuitive Vorstellungen vom Menschen, die ein Gestalt-Gesichts-Modell ergeben. Demnach wurden erhebliche Abweichungen von der phänotypischen Menschengestalt aus der Gattung kategorisch ausgeschlossen. Vom Gott Pan erbte der Teufel im Mittelalter den Pferdefuß. Mischwesen spuken immer noch in Mythen, Märchen, Opern und Filmen mit dem Manko, dass manchen, wie der Undine oder der Rusalka, das wärmende Blut und die 53 Der Prophet Hesekiel berichtete (I 5 ff.) von grauenhaften Tieren, die wie Menschen aussahen; in der neuplatonischen Offenbarung des Johannes trieben Furcht erregende Heuschrecken ihr Unwesen (IX 8 ff.), ähnlich wie dies bereits der Prophet Joel vorausgesagt hatte; um den Exodus aus Ägypten durchzusetzen, drohte Mose (II 10) dem Pharao. eine Heuschreckenplage – hier: normale Heuschrecken – an: Heuschrecken als Metapher für Verderben. 54 Mose II 18: „Wer bei seinem Vieh liegt, der soll des Todes sterben“; ähnlich Mose III 23:; noch das preuß. ALR wiederholte das mosaische Verdikt der Sodomie mit Tieren. 55 Dazu mit typisierten Zeichnungen Wunderlich, Dämonen, Monster, Fabelwesen, S. 14 ff.; zur Entwicklung bestimmter Mischwesen seit der Antike Cherry (Hg.), Fabeltiere, pass., besonders S. 219 ff.

2. Welterfahrungen

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Seele fehlen. Auch ebenbildliche Lebewesen, denen die kirchlich vermittelte Seele zu fehlen schien, unterfielen der sozialen Missachtung. In diesen Phänomenen scheint eine Archetypik zum Ausdruck zu kommen, die das kollektive Unbewusste ex negativo auf einen moralisch einwandfreien Status einstimmen soll. 56 Dass Seele, Körper und Gestalt dabei häufig auseinander treten, könnte als verspäteter Schatten antiker Ideen gedeutet werden. Als aber aufgeklärte Philosophen vernunftlose Menschen als Seelenlose aus der Menschheit ausgliederten 57, bestätigten sie erneut, dass zwar ein Körper getrennt von der Seele – beziehungsweise vom Geist – existieren kann, dann aber nur eine Schein-Existenz fristet.

2. Welterfahrungen

Um die Wende zur Neuzeit entwickelten sich jedoch in Spanien und in Oberitalien pragmatischere Einstellungen, die das kirchliche Seelendogma relativierten. Als die spanischen Konquistadoren im entdeckten „Amerika“ auf die ungetauften „Indi“, das heißt: Indios, stießen, sie beraubten und töteten, rechtfertigten sie ihre Taten mit der These, die „Barbaren“ seien – trotz ihrer menschlichen Gestalt – nur seelenund vernunftlose Tiere („bestias“) und deshalb ohne menschliche Würde und Rechte. Intellektuelle konnten sich zudem auf die vom Aquinaten wiederholte Lehre des Aristoteles berufen, Sklaven seien von Natur aus untergeordnet 58, was ja gemäß Mose I 1, 26 auch die Tiere sind. Doch Rechtsgelehrte der Schule von Salamanca, Francisco de Vitoria und Bartolomé de Las Casas, widersprachen dieser herrschenden Auffassung. In „de Indis“ entfaltete de Vitoria ein undogmatisches, universa56 Die Vermutung orientiert sich an Carl Gustav Jung (1875 –1961), Typologie, S. 71: Archetypus = „symbolische Formel“ für Inhalte, die noch keinen bewussten Begriff haben. 57 Vgl. dazu unten zu III. 6. 58 De Angelis, Anthropologien, S. 123 ff.

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II. Anthropologische Wenden

les Menschenbild, das den „Indi“ ungeachtet des Mangels einer Taufe nicht nur Gottesebenbildlichkeit, sondern auch eine eigene, jeden Menschen vor den Tieren auszeichnende Vernunft zuerkannte. 59 De Las Casas bewies, dass Indios keine „homunculi“, sondern achtungswürdige Mitglieder desselben Menschengeschlechtes seien. 60 Er konnte mit dieser Universalitäts- oder Menschheitsthese sogar Karl V. überzeugen; allerdings sah der keinen Grund, die Ausbeutung zu reduzieren. Die Vorstellungen der spanischen Professoren setzte sich durch und trug zum Dogma von den angeborenen Menschenrechten bei, das den moralischen Status des Menschen physiologisch-metaphysisch kategorial von dem der Tieren wegrückte, ihn sublimierte und so auch vor säkularen Herrschaftsausübungen in Schutz nahm. Mitte 1537 erließ Papst Paul III. die berühmte Bulle „Sublimis Deus“, in der er, wie zuvor in dem Brief „Veritas ipsa“, die Indios als „wahre Menschen“ identifizierte. 61 Das schloss die Anerkennung ihrer Vernunft und Seele ein. Zwar war dadurch ihr irdisches Leben nicht gesichert, wohl aber das ewige, und die Würde währte länger als lebenslang. Denn da die Seele Gott gehörte, war sie – jedenfalls kirchenoffiziell – unsterblich. Man kann sie auf manchen zeitgenössischen Bildern noch in der Gestalt ätherischer Homunculi erkennen, die „ausgehaucht“ werden und aus dem Mund Verschiedener zum Himmel empor-

59 Francisco de Vitoria (1483 – 1546), De Indis I sect I, 1ff, 10, 15 f., in: Vorlesungen II S. 383 ff.; zu Vitorias Menschenbild vgl. näherhin Grawert, in: DER STAAT 39. Bd. (2000), S. 110, 116 ff. 60 Zum Menschenbild de Las Casas’ vgl. Gschwend / Good, in: Zeitschrift der Savigny-Stifung für Rechtsgeschichte, 126. Bd. (2009). Kanonistische Abteilung 95, S. 220 ff. 61 Nachweise bei Horst, in: Francisco de Vitoria, Vorlesungen, S. 80; „veritas ipsa“ war an den Kardinal Jean de Tovera gerichtet; digitalisierte Fassung der Bulle deutsch online in: http://www.stereo-denken.de/sublimis _deus.htm. – Karl V. widersprach anfänglich; der Papst milderte daraufhin seine Strafandrohungen, ohne das Qualitätsurteil aufzuheben: vgl. Huser, Vernunft und Herrschaft, S. 24.

2. Welterfahrungen

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steigen, so dass der Körper zurückblieb 62. Der moderne Beobachter kann sich fragen, ob damals die Gestalt die Würde oder die Würde den Menschen indizierte, während die Bilder einen Zusammenhang andeuten. Aristotelisch aufgeklärte Mediziner, denen in Padua die naturalistischen Kommentare des Alexander von Aphrodisias mehr als kirchliche Dogmen einleuchteten, hatten dagegen mit jener Seele ihre existentiellen Probleme. Denn mit des Aquinaten Lehre, die Seele sei im Körper nur vorübergehend verinnerlicht, in Wahrheit aber unsterblich, kollidierten ihre Forschungsinteressen und Praxiserfahrungen. Was Aristoteles gelehrt und Alexander kommentierend bestätigt hatte, dass die Seele mit dem Körper existentiell verbunden und so auch Experimenten zugänglich sei, stand in fundamentalem Widerspruch zur Auffassung der Kirche. Die Bulle Leos X. (de Medicis) „Apostolici regiminis“ von 1513 verbot diese Lehre nachdrücklich. Doch die Neugier, die seit der Renaissance die Forschung angeblich charakterisiert 63, umging diese Grenzen praktisch und argumentativ, um ihre Experimente aus der Schusslinie zu nehmen. Kirchentheologisch riskante Forschungen erfolgten praktisch im Schutz der Geheimhaltung. So verfuhren spätmittelalterliche Alchemisten, die außer mineralischen Transmutationen auch die künstliche Herstellung von Menschen erwogen; das Paracelsus zugeschriebene Werk „De natura rerum“ von 1538 beschrieb dann die Schritte zur Herstellung eines homunculus. Zu den intellektuellen, argumentativen Umgehungsmanövern gehörte die sogenannte Akkomodationstheorie: Nach ihr brauchte der Bibeltext nicht wörtlich verstanden zu werden, da er für das ungebildete Volk bildhaft formuliert worden sei. Lessing interpretierte das Alte Testament als „Elementarbuch“ für das „im Denken ungeübte israelische Volk“ und als Einführung

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Dazu anschaulich u. informativ Ariès, Geschichte des Todes, S. 317 ff. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 201 ff.

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in die Vernunft. 64 So durften auch tradierte Glaubensinhalte wissenschaftlichen Erkenntnismethoden unterzogen werden. 65 Außerdem erfuhr die Seele eine inhaltlich differenzierte Ausdeutung, indem ihr metaphysisches Wesen von dem menschlichen Intellekt unterschieden wurde. Den jeweiligen Fähigkeiten bzw. Funktionen konnten deshalb unterschiedliche Zeitläufte und Schicksale zugeschrieben werden.

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Im 17. Jahrhundert führte die entgegen allen abschreckenden Dogmen und Vorurteilen durchgeführte Praxis zu neuen bahnbrechenden anatomischen und physiologischen Erkenntnissen. 66 Indem der Körper als Hülle und nicht als der „wahre“ Mensch betrachtet wurde, konnte man das kirchliche Dogma respektieren und dennoch Menschen sezieren. Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs im Jahre 1620 war das wohl spektakulärste Ergebnis dieser pragmatischen Haltung. 67 Diese Entdeckung ließ Blut und Herz als die wesentlichen lebensbewegenden, aber biologischen Elemente erscheinen, und sie ließ 64 de Angelis, Anthropologien, S. 303, zitiert eine frühneuzeitliche Akkomodationstheorie; zum 18. Jh. vgl. Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1777 / 1780, §§ 22 ff.; die These spielt eine hier nicht weiter interessierende Rolle in der historisch-kritischen Bibelexegese. 65 Eine politisch kluge Variante lieferte bereits Hobbes, De Homine, 1658, I 1 = Vom Menschen, S. 3 f., indem er zunächst die antiken „philosophischen“ Lehren referierte, dann bekannte, „wir“ glaubten an Genesis I, um gleichwohl die neuesten anatomischen Erkenntnisse auszubreiten; de Angelis, Anthropologien, S. 303. 66 Dazu unter wissenschafts- u. medizintheoretischen Aspekten de Angelis, Anthropologien, S. 213 ff. 67 William Harvey (1558 – 1657), Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus, Frankfurt (!) 1628. Ungeachtet dieser Experimente wurden bekanntlich monarchische u. andere bedeutende Herzen getrennt vom Körper bestattet: vgl. dazu u. a. Ariès, Geschichte des Todes, S. 494 f.

3. Physiologische Einsichten

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zugleich die biblisch passende Erklärung für den aufrechten Gang des Menschen zu, der diesen naturgemäß von den Tieren unterscheide und es ihm ermögliche, in den Himmel zu blicken. Die im Körper lokalisierte Bewegungsstruktur des Lebens und der aufrechte Gang 68 wurden zu bleibenden Markenzeichen des Menschen. Die anatomischen Erkenntnisse regten nicht nur weitere Experimente, sondern auch nachfolgende Lehren über die Spezies Mensch an. Fortschrittliche Philosophien orientierten sich an den Naturwissenschaften und mussten dies tun, um à jour zu bleiben. Selbstverständlich berief Hobbes sich auf seinen Landsmann Harvey, um seine eigene Bewegungstheorie des Lebens zu erläutern, dass nämlich das Blut über das Herz ins Gehirn gepumpt werde und von dort aus die Nerven anrege. Aber er fantasierte noch die Luft als von außen wirkende Bewegungsursache hinzu – und überging dadurch Gott –, obwohl Aristoteles gelehrt hatte, dass die Bewegung bereits in dem Bewegbaren sei. 69. Doch Hobbes ließ den Tod ungeachtet der Luft durch den Stillstand des Blutes eintreten. 70 Das Herz hatte hier bereits seine metaphysische Bedeutung verloren. Nach seiner Entmythologisierung vermutete man den Kern des Menschseins im Gehirn, doch ergab auch dessen Sezierung keine verlässlichen Anhaltspunkte für den Sitz der Seele oder eines Äquivalentes. Immerhin veranlasste die pragmatische Interpretation der Rückenmarks- und Gehirnfunktionen das – umstrittene – Dogma vom Gehirntod. 71 Von die68

Ideengeschichtlich dazu Bayertz, „Der aufrechte Gang“. Aristoteles, Metaphysik 1066a, Ausgabe Cavallo / Grassi, S. 256. 70 Hobbes, Vom Menschen, 1658, S. 2 f. 71 Ansätze bei Marie Francois Xavier Bichat (1771 – 1802), Recherches physiologiques sur la vie et la mort, 1800 / online: BSB Bayerische Staatsbibliothek digital), part II art. 10 §§ 1 f.: Le cerveau n’a aucune influence sur le coeur. ... la mort du coeur est déterminée par celle d’un organe intermédiaire. Le poumon est l’organe intermédiaire qui fait succéder la mort du coeur à celle du cerveau. Expérience diverses qui établissent ce fait.“ Dazu Spittler, Rationalität im Umgang mit dem Gehirntod, in: ru69

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sem Ende des Lebens konnte auf dessen Anfang geschlossen werden, so dass das Menschsein eines Embryos erst auf den organischen oder funktionellen Beginn des Gehirns terminiert werden konnte. Erst damit konnte man auch dessen werthaltige Qualitäten wie Vernunft und Verstand vermuten. Diese Bedeutung des von anderen physiologischen Funktionen des Körpers abstrahierten Gehirns prägt bis heute gewisse Menschenbilder, namentlich die mancher Gehirnforscher 72, mit der dann zu bewältigenden Argumentationslast zu erklären, ob der Ausfall der organischen oder auch der mentalen Gehirnfunktionen das Menschsein beendet oder nicht. Damals, seit dem 17. Jahrhundert, erfuhren die Wissenschaften vom Menschen Ausdifferenzierungen: Theologie, Metaphysik, Medizin und Philosophie gelangten zu je eigenen Ansichten. Indem die sich der irdischen Welt zuwendenden Intellektuellen in komplizierten Prozessen analytischen und teleologischen Argumentierens und Meinens den Erfahrungen und zugleich experimentellen Beweisen mehr als Ideen und Autoritäten vertrauten, gewannen Erkenntnisse und Hypothesen der Medizin und Naturwissenschaften an Überzeugungs- und Führungskraft. Ein moderner Beobachter dieser wissenschaftlichen Dekonstruktionen fasste sie dahin zusammen, dass in der Gegenwart die Emanzipation der Medizin von der Religion zur „kulturellen Voraussetzung der Medizin und des Gesundheitswesens“ geworden, sei; er schloss daraus auf eine „medizinisch eröffnete Ausweitung der Freiheit“. 73 Die – nicht ganz so neue – These ist freilich nicht nur riskant, sondern auch schieflastig, wenn sie „der“ Medizin die Abwägung über das Verhältnis der Forschungs- und Wirtschaftsfreiheit einerseits, bin 1997 I, S. 52 ff., mit weiteren Nachweisen. – Zur Konservierung des „Lebens“ nicht im Sinne einer „materia“, sondern „forma“, nämlich der Mumie, vgl. Ariès, Geschichte des Todes, S. 451 ff. – Kritisch zum Gehirntoddogma Höfling / Rixen, Verfassungsfragen der Transplantationsmedizin, S. 48 ff. 72 Vgl. unten zu IV. 5., V. 6. 73 Kreß, Medizinische Ethik, S. 43.

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der Autonomie andererseits überantwortet. Doch die gemeinte Gegenwart ist vorerst noch konstitutionelle Zukunft. Zunächst eröffneten die seit dem 16. Jahrhundert angestellten Experimente am toten und lebendigen Menschen neue Aspekte auf das „Wesen“ des Menschen, die dessen Rationalisierung und Verdinglichung vorantrieben. Solange die Autorität der Bibel und deren Interpreten noch vorbehaltlos respektiert wurden, war die Unterscheidung eindeutig. Selbst der zum Atheisten gewordene Naturforscher Linné schrieb noch: „Species tot sunt, quot diversas formas ab initione produxit Infinitum Ens“. Er bemühte – vorsichtshalber? – das „Unendliche Wesen“, so dem Leser die Wahl zwischen der Natur und dem Gott anheimstellend. 74 Doch die anatomischen Fortschritte relativierten autoritäre Vorgaben. Als der „Orang-Utan“, eigentlich ein Schimpanse, entdeckt wurde, geriet das Selbstverständnis der Menschen erneut ins Wanken. Der englische Arzt und Zoologe Tyson beschrieb im Jahre 1699 diesen „homo sylvestris“ durch den anatomischen Vergleich „of a pygmie compared with that of a monkey, an ape, and a man“. 75 Die Pygmäen – die Benennung ist ethnisch nichtssagend – waren zwar schon den Ägyptern bekannt, wurden aber von Europa aus erst zu Anfang des 17. Jahrhunderts wiederentdeckt. Bis dahin waren sie Fabelwesen nichtmenschlicher Art. In der Reiseliteratur tauchten sie 1625 auf: als „kleine Menschen“ 76, während Tyson sie den Schimpansen zurechnete. 74 Frei übersetzt: „Es gibt so viele Arten, wie das Unendliche Wesen sie gestaltet hat“: Carl von Linné, Genera plantarum, 1737, Ratio operis, zit. 2. Aufl. 1742, § 5 = online: www.gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k967931; Artenbeschreibungen wurden schon in der Antike vorgenommen; aus dem 16. Jh. Conrad Gessner (1516 – 1565), Historia animalium, 1551 / 1558 / deutsch: Thierbuch, 1565 / Heidelberg 1606. 75 Edward Tyson (1650 – 1708), Orang-Outang, sive, Homo sylvestris: or The anatomy of a pygmie compared with that of a monkey, an ape, and a man, 1699. Aristoteles, historia animalium, l. II p. 9, hatte schon im 4. Jh. v.Chr. darauf hingewiesen, dass die Anatomie des Affen der des Menschen ähnele. 76 Vgl. Heymer, Die Pygmäen, S. 71 ff.

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Diese sich widersprechenden Klassifizierungen widerspiegeln unterschiedliche Aspekte: der äußeren Phänomene einerseits, der strukturellen Analyse andererseits, aber jeweils unter dem Gesichtspunkt der erkennbaren „forma“. Die Anatomie ließ die Seele als Leitbild verblassen. Stattdessen wuchs die biologische Überzeugung, wie sehr der Mensch Tier ist. Missbildungen, das heißt: Gestalten „contra formam humani generis“, waren jedenfalls keine menschlichen Personen im Rechtssinne. Das wussten rechtshistorisch Bewanderte bereits aus der römischen Jurisprudenz des 3. Jahrhunderts n.Chr. und behielten es bis zur Redaktion des Bürgerlichen Gesetzbuches. 77 Ohnehin widersprachen „Monstren“ 78 dem Dogma von der Gottesebenbildlichkeit. Man sprach ihnen die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch, jedenfalls die Mitgliedschaft in der Rechtsgemeinschaft, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ab. So gerieten sie in eine unsichere Zwischenzone. 4. Maschinenwesen

Immerhin ließen die Größe und Komplexität des menschlichen Gehirns höhere Vernunft und Geistigkeit vermuten. Dies 77 Die These geht auf die dem röm. Juristen Paulus zugeschriebene Sentenz (spätes 3. Jh.) D I, 5, 14, zurück: „non sunt liberi, qui contra formam humani generis converso more procreantur; veluti si mulier monstrum aliquid, aut prodigiosum enixa sit. Partus autem, qui membrorum humanorum officia amliavit, aliquarenus videtur effectus, et ideo inter liberos connumerabitur“ – das deutet eine Analogie an. Die These wurde in einige deutsche Gesetzbücher übernommen, z. B. ALR I 1 § 17: „Geburten ohne menschliche Form und Bildung haben auf Familien- und bürgerliche Rechte keinen Anspruch“. Das BGB beendete diese Tradition, da den Verfassern des Entwurfs die Abgrenzung medizinisch überholt u. juristisch zu unsicher erschien: vgl. Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Amtliche Ausgabe, 1888, Bd. 1, S. 371, betr. Personen 1. Titel § 3. 78 Zedler, Universal-Lexikon, 21. Bd., Sp. 486 ff. (mit zahlreichen Hinweisen auf die zeitgenössische Monsterliteratur des 16. u. 17. Jh.): Monstrum = Missgeburt = eine „natürliche“ (!) Geburt, „die auf einige Weise von der Ordnung und Gestalt ihrer Gattung abweicht“.

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waren Qualitäten, die den Menschen nicht nur von Tieren absonderten, sondern auch von Maschinen, deren quasi-automatische Funktionsfähigkeit Parallelen zu den Körperfunktionen des Menschen aufzuweisen schienen. Auf die Vernunft legten bei aller Skepsis gegenüber den Fähigkeiten des Jedermann die meisten französischen Aufklärer Wert. Sie gaben sich mit den physiologischen und mechanistischen Deutungen der Lebensvorgänge nicht zufrieden und variierten daher das Axiom: Die Vernunft unterscheide den Menschen essentiell vom Tier. Rousseau lernte seine Naturkunde bei Leclerc de Buffon, der eine – Linné widersprechende – nicht-hierarchische Systematik der Evolution der Tierwelt entwickelt hatte. 79 Über den Unterschied von Mensch und Tier hatte Rousseau bei Bufffon – und so im damaligen Zeitgeist – gelesen: „l’homme est un être raisonnable, l’animal est un être sans raison & comme il n’y a point de milieu entre le positif & le négatif, comme n’y a point êtres intermédiaires entre l’être raisonnable & l’être sans raison, il est évident que l’homme est un autre nature entièrement différente de celle de l’animal, qu’il ne lui ressemble que par l’extérieur, & que le juger par cette ressemblance matérielle, c’est se laisser tromper par l’apparance & fermer volontièrement les yeux à la lumière qui nous la faire distinguer de la réalite.“ 80 An heute problematische Mischwesen konnte Buffon natürlich noch nicht denken, wohl aber an die zeitgenössischen Theorien, die Affen der Anatomie wegen zu Menschen oder diese zu Affen erklären wollten. Die Abgrenzung wurde auch durchgehalten, als der Mensch systematisch in die Tierwelt in mechanistisch-materialistischer Weise eingegliedert wurde. Der Mensch sei nicht mehr als das Tier mit dem „meisten Gehirn“, befand der atheistische Arzt 79

Dazu ideengeschichtlich Mayr, Die Entwicklung, S. 144 ff. Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707 – 1788), Histoire naturelle de l’homme, 1749, S. 443 f., zit. nach der interessanten, ausgiebig belegten Studie von Nutz, „Varietäten des Menschengeschlechts“, S. 53. 80

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de La Mettrie in seinem Essay „L’Homme Machine“, deswegen er, wie Rousseau auf der Flucht vor der Kirche Frankreichs, Schutz in Friedrich des Großen „Akademie“ suchen musste. 81 Wie eine Uhr 82 – mit ihrer „Unruhe“ kunstvoll konstruiertes Vorbild autonomer Bewegung – funktioniere das Tier „Mensch“ nur mechanisch selbstbewegt. Die These wurde seither häufig wiederholt, um aufgeklärtes Insiderwissen zu zeigen und es dann überlegen zu widerlegen. Rousseau kannte de La Metrries Essay, bewahrte aber den Menschen vor dessen Gleichstellungen: „Je ne vois dans tout animal qu’une machine ingenieuse, à qui la nature a donné des sens pour se remonter elle même. ... J’apperçoit précisement les mêmes choses dans la machine humaine“, doch richte das Verhalten der Tiere sich, fügte er abgrenzend hinzu, ausschließlich nach natürlichen Instinkten, während der Mensch frei handeln können – „que l’homme concourt aux siennes en qualité d’agent libre“. 83 Seitdem die moderne Gehirnforschung den freien Willen des Menschen bezweifelt und durch neuronale Determinismen ersetzt und seitdem algorithmisch funktionierende Roboter als Humanoiden dienen, ist de La Mettrie erneut aktuell geworden. Sein von Kirche und Staat verdammter Essay „L’Homme Machine“ brachte die begriffliche Entgrenzung des Menschen zur Maschine wie zum Tier auf einen bis in die Gegenwart führenden, radikalen Weg. Karl Marx, der als Nachfahre de La Mettries Materialismus gilt, wird dessen Maschinen-Metapher dialektisch in seine „Moral der Nationalökonomie“ einführen, indem er der Industrie vorwirft, den ökonomisch „schwachen Menschen zur Maschine zu machen“. 84 Die Maschine, vor allem die automatisch funktionierende, wechselte so ihre meta81 Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751), L’Homme Machine, 1748 / Ausgabe. Becker, S. 43. 82 de La Mettrie, L’Homme Machine, S. 34 f. 83 Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), Discours, sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1754, in: Œuvres III, S. 140. 84 Karl Marx (1818 – 1883), Nationalökonomie und Philosophie, 1844, in: Ausgabe Landshut, S. 225 ff., 257 (kursiv im Original).

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phorische Bedeutung: Statt den physiologischen Bewegungsapparat des Menschen verständlich zu machen, wurde sie von Marx und dessen Nachfolgern zitiert, um „unmenschliche“ Arbeitsprozesse in der Industrie anzuprangern – Stichwort: der Mensch als Maschinenteil am Fließband, den Charlie Chaplin in dem Film „Moderne Zeiten“ persiflierte; dem Vorwurf einer Maschinisierung des Menschen wurde das Programm einer „Humanisierung“ der Arbeitswelt entgegengestellt. Dabei bediente der etwa einhundert Jahre vor Marx als Materialist verschrieene de La Mettrie sich lediglich einer in der Neuzeit modern gewordenen Metapher. 85 Das Wort „machine“ bzw. „maschine“ war erst seit dem 17. Jahrhundert wieder in Gebrauch gekommen und hatte inzwischen in Frankreich wie in Deutschland eine abwertende Bedeutung erhalten: Maschine hieß ein Mensch, der keine eigene geistige Tätigkeit ausüben könne. 86 Descartes hatte bereits doziert, der menschliche Körper funktioniere mechanisch wie bei vernunftlosen Tieren („les animaux sans raison“), und dies mit den – an und für sich bewunderten – „automates, ou machine mouvantes“ verglichen, die man erfunden hatte. Doch er hatte hinzugefügt, Gott habe dem Körper des Menschen eine vernünftige Seele („une ame raisonnable“) eingestiftet. 87 Kant wird später zum „freien Denken“ ermuntern, damit der Mensch „mehr als Maschine ist“ und „seiner Würde gemäß“ behandelt werde. 88 Dagegen kritisierte de La Mettrie Descartes: Der trenne im Widerspruch zu Aristoteles Seele und Körper irrigerweise in gegenläufige „natures“; dabei sitze die Seele doch – ganz materialisiert – im Gehirn und in den Nerven und steuere von dort aus den Intellekt als „faculté organique du corps humain“, während der Instinkt wie bei den Tieren 85

Zu den Denkansätzen v. Stephanitz, Exakte Wissenschaft, S. 122 ff. Vgl. die Nachweise in: Grimm, Wörterbuch, Bd. 6, 1885 / 1999, Sp. 1696 f. 87 Descartes, Discours de la méthode, 1637, 5ième part. 4 f., 9 / Ausgabe Gäbe, S. 76 f., 90 f.; Descartes versuchte hier, Harvey zu widerlegen. 88 Kant, Was ist Aufklärung? in: Werke, Bd. VI, S. 51 ff., 61. 86

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„purement mécanique“ funktioniere. Tiere besäßen zwar eine empfindsame Seele („l’ame raisonnable“); 89 dennoch hinge auch diese wesentlich vom Mechanismus des Körpers ab: „Les matéralistes on beau prouver que l’homme n’est qu’une machine“. Indem de La Mettrie diese Seele mit der Vernunft identifizierte, konnte er ihr schließlich doch eine die Tiere und deren Instinkte überragende Qualität vorbehalten. 90 Fern metaphysischer Erklärungsversuche cartesianischer Provenienz, dachte der atheistische Arzt das Menschenleben ähnlich mechanistisch wie Hobbes nur in den Kategorien der Eigenbewegung: „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfedern aufzieht – ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung.“ 91 de La Mettrie verringerte auf diese Weise auch den Abstand zwischen Mensch und Tier: Nur noch verhältnismäßig ist, so betrachtet, der Mensch dem Tier überlegen, und leicht lässt sich vorstellen, dass der Abstand sich von Fall zu Fall verringern kann. Hätte de La Mettrie soziale und politische Gemeinschaften, die seinerzeit besonders erklärungsbedürftig erschienen, so erklären können oder die heutzutage – seit Descartes, Leibniz u. a. – streitig diskutierte Willensfreiheit und Schuldfähigkeit?

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Hobbes hatte im Gehirn den für seine utilitarististische Sozialtheorie wichtigen Individualwillen und alle die Fähigkeiten, Empfindungen und Vorstellungen verortet, die Menschen 89 Eine ähnlich Unterscheidung traf Leibniz, Theodicee, II § 250, zur Beziehung: Vernunft – Empfindung. 90 de La Mettrie, Œuvres philosophiques I / II, Bd. I, S. 92 ff., 95 („natures“), S. 115 („instinct“), S. 149 („réflexion“), S. 154 („faculté organique“), S. 185 („conclusion“); Bd. II: „L’Homme Plante, S. 20 („qualité“). 91 de La Mettrie, L’Homme Machine, S. 34 f. – Ähnlich, allerdings der autonomen „Seele“ u. sog. Naturnotwendigkeiten den Vorzug vor der „Materie“ gebend, Leibniz, Theodizee, II § 3 323 f., wobei er die Seele Einflüssen Gottes u. der „Natur der Dinge“ aussetzte: § 345 mit § 404.

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auszeichnen sollten: Sprache, Ethik, vor allem den Willen zur Selbsterhaltung – und die Furcht, die aus der kalkulierenden Vernunft entstehe und zur Gemeinschaft nötige. Zum „Menschengeschlecht“ rechnete er „alle vernünftigen Menschen“, jedoch nicht „Blödsinnige“. 92 Rousseau folgte vielen von Hobbes’ Grundsätzen, allerdings ohne dessen „Furcht“ und die anschließenden Sozialtheorien zu übernehmen; er betonte das „Bewusstsein der Freiheit“ und die Fähigkeit zu wollen. 93 Der angeblich freie Wille wurde zu einem Markenzeichen der Spezies Mensch, selbst dann noch, als die Freiheit in physiologische, psychologische, soziale, ökonomische und – neuerdings – neurologische Befangenheiten geriet. Die sozialpolitisch interessierten Naturphilosophien des 18. Jahrhunderts waren, anders als Descartes und de La Mettrie, jedoch in vermeintlichem Einklang mit Aristoteles’ These vom „animal sociale“, intuitiv davon überzeugt, dass der Mensch im Unterschied zum Tier als sozial gestimmtes Vernunftwesen agiert. Die Vernunft stiftete nun aber nicht mehr Gott. Sie funktionierte auch nicht nur organisch-maschinell, sondern im Einklang mit der an die Stelle Gottes tretenden „Natur“. Im Mittelalter hatte die damalige Natur Gottes Werk vollbracht. Nun wuchs sie über ihre geologischen und biologischen Fähigkeiten hinaus zu einer übersinnlichen Wirkeinheit. Sie galt nicht nur als ein Komplex deterministisch wirkender Naturgesetze und noch nicht als Glied einer romantischen Weltseele, sondern als ein personifiziertes Universum, das wohl auch Linné mit seinem „Infinitum Ens“ im Sinne hatte. 94 92 Hobbes,Vom Bürger, 1642, 2/1, S. 86; ders., Vom Menschen I 2, 10 ff.: a. a. O., S. 2 ff., 24, 30. Dazu – kursorisch – Chwaszcza, Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des Leviathan, S. 83 ff. – Zur kalkulierenden Vernunft: Hobbes, Leviathan, 1651, p. I ch. V. 93 Rousseau, Discours sur l’origine, in: Œuvres III, S. 142: „la conscience de cette liberté“, „puissance de vouloir“ – Gegensatz zu „le mécanisme“. 94 Vgl. zu Fn. 74). – Kann man annehmen, die Philosophen kannten Ovids Weltschöpfungspaar „Gott und die bessere Natur“ „deus et melior ... nature“): Metamorphosen I 21?

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Bereits Ende des 17. Jahrhundert hatten Pufendorf und Cumberland, der eine im Reich deutscher Nation, der andere in England, kongenial gelehrt, im Unterschied zum Tier strebe der vereinzelt schwache Mensch vernünftigerweise nach sozialer Selbsterhaltung in der Gruppe 95 und versuche, seine Instinktarmut durch einen bewusst reziprok funktionierenden Altruismus auszugleichen. Naturphilosophisch folgerte man aus dem Zusammenhang der materiellen und immateriellen Wesenszüge die Konsens- und Moralfähigkeit des animal rationale. 96 Rousseau, Diderot und Herder nahmen Pufendorfs und Cumberlands Thesen von der naturnotwendigen Soziabilität und Perfektabilität des Menschen zur Begründung ihrer Sozialtheorien zielgerichtet auf. Sie vollzogen die anthropologische Wende zum säkularisierten Rationalismus. Für Rousseau war die „Natur“ eine erfahrungsgesättigte Vision, und zwar in der Retrospektive als unergründlicher Grund des Seins, inklusive des Menschen, und in der Prospektive als eine Utopie gelingenden Lebens. Kant antwortete ihm zunächst pragmatisch, indem er die Natur „als Inbegriff aller Dinge“ definierte, „so fern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können“, doch legte er sie anschließend auf axiomatische Begriffe fest und forderte eine „Metaphysik der Natur“. 97 95 Samuel Pufendorf (1632 – 1694), De officio hominis et civis prout ipsi praescribuntur lege naturale libri duo, 1673, II: ders., De jure naturae et gentium libri octo, 1672, II /3 § 15: „... manifestum apparet hominum esse animal sui conservandi studiosissimum per se egenum ... necessarium est ut sit sociabile“; Richard Cumberland (1631 – 1738), De legibus naturae disquisitio philosophica, 1672, online: gallica.bnf.fr / ark:/12148/ bpt6k94113d / f19.image. 96 Dazu de Angelis, Anthropologien, S. 363 ff. Barbeyracs in der ersten Hälfte des 18. Jh. publizierte Übersetzungen von Pufendorfs Werk ins Französische u. Pufendorfs Übersetzung ins Deutsche sorgten für rasche Verbreitung. – Rousseau kannte offenbar Burlamaqui: vgl. Rousseau, Discours, Préface (Ausgabe. Mairet, S. 69); Anfang des 1. Teils konstatierte er, die vergleichende Anatomie habe noch zu wenige Fortschritte gemacht, als dass er sein Menschenbild darauf stützen könnte! 97 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: Werke, Bd. V, S. 11 ff.

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Diese Wende des Vernunftwesens Mensch kulminierte Mitte des 18. Jahrhunderts in Rousseaus Soziallehre. Der calvinistische Denker ließ seinen aus der Philosophie, Literatur und aus Reiseberichten geschöpften „l’homme naturel“ zunächst isoliert in der feindlichen Natur auftreten, doch ausgestattet mit der – qua Gehirn – angeborenen Vernunft, die es ihm ermöglichte, seine Instinktarmut zu kompensieren. Diese Vernunft wurde zunächst als eine funktionale Fähigkeit wahrgenommen. Ein Jahr, bevor de La Mettrie den Menschen mechanisierte, hatte Burlamaqui, Naturrechtsphilosoph in Rousseaus Genf, seine Definition „de la nature de l’homme“ publiziert, einräumend, dass sie der Reflexion über das eigene Wesen entsprang. Sie war nicht originell, fasste aber das verbreitete Selbstverständnis Gebildeter zusammen: „L’Homme est un Animal doué d’Intelligence et de la Raison: Un Etre composé d’un Corps et organisé d’une Ame raisonnable.“ Das heiße: „L’Homme, à l’égard du corps, est un animal à peu près semblables aux Etres de la même Espèce, ayant les mêmes organes, les mêmes proprietez, les mêmes besoins. C’est un corps vivant, organisé, composé de plusieurs parties; un corps qui se meut par luimême, et qui foible dans ses commencemens ... qui se conduit enfin à la mort ... Mais l’homme, outre la disposition merveilleuse de son Corps, a de plus en partage une Ame raisonnable, qui se distingue aventageusement des bêtes. C’est par cette noble partie de lui-même que l’homme pense et peut se faire de justes idées ... L’Ame est donc le principe des actions humaines ...“ und, operativ formuliert, ein „agent“ von „puissance“, also von Fähigkeiten des Verstehens (der „nature des choses“), Wollens („à agir d’une certaine manière“) sowie des Wählens bzw. der Handlungsfreiheit („liberté“). Rousseau führte einen solchen Menschen über dessen Individuation hinaus. Für ihn war die menschliche Vernunft das Vehikel, das das vegetative, instinktive, also tierische, Sein des Menschen, in ein rationalisiertes, alsdann sozialisiertes umbildete. Aber sie erschien ihm auch als ein Bruch mit der ursprünglichen Natur, einer „Natur“, die er sich als anonyme Wirkkraft vor-

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stellte, um über einen nichttheologischen „Anfang“ des Menschen philosophieren zu können. 98 Seiner Ansicht nach entfremde die Reflexion den Menschen der Natur; sie degradiere ihn zu einem „entarteten Tier“, erhebe ihn aber andererseits zum eigentlichen Menschsein. Diese häufig zitierte These war eine Metapher, erfunden in Kenntnis von Tysons Orang-UtanVergleich und Defoes „Freitag“, des Fast-Opfers von Kannibalen, das Robinson Crusoes lernfähiger Genosse wurde. Rousseau verknüpfte den naturhaften Selbsterhaltungstrieb mit einer auf „perfectabilité“ des Menschen angelegten „sociabilité“, die zur wechselseitigen solidarischen Kommunikation und Kooperation mit anderen animierte. Die Sozialisation begann mit naturgemäß triebhafter, dann bewusst kalkulierter Notwendigkeit und mündete in eine moralische Einsicht. Nicht Furcht und Feindschaft, wie Hobbes meinte, sondern Mitgefühl und Vernunft bewegten Rousseaus Menschen zur freiwilligen, allseits nützlichen Gesellschaftsbildung. 99 Als er im Jahre 1762 seinen „Contrat social“ konstruierte, rechnete Rousseau nur mit vernünftigen Teilnehmern. Sozialpolitisch Unvermögende wie Schwachsinnige oder Oppositionelle schloss er aus seiner „société“, jedoch nicht aus der Menschheit aus. Kongenial stellte Diderot fest: „l’homme n’est pas seulement un animal, mais un animal qui raisonne“. Damit setzte er sich von allzu engen Verwandtschaftsbeziehungen ab, die zeitgenössische anatomische, physiologische und psychologische Vergleiche nahezulegen schienen. Beim Wort genommen, kam es Diderot – wie auch Rousseau – nicht darauf an, dass der Mensch eine maschinell funktionierende Vernunft besaß, son98 Dazu Starobinski, Rousseau und Buffon, S. 480 ff.: Rousseau profitierte von Buffons „Histoire naturelle de l’Homme“, um seine Auffassung von der Ungleichheit der Menschen „naturalistisch“ statt theologisch begründen zu können; so ähnlich argumentierte später das BVerfG (wohl ohne Kenntnis dieser Vorläufer): vgl. unten V. 2. 99 Dazu ausführlicher Grawert, in: Der Staat Bd. 51 (2012), S. 491 ff. – Zur Bedeutung der Vernunft bei Rousseau vgl. zudem Derathé, Le rationalisme de J.-J. Rousseau, 1948, pass.

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dern dass er sie auch vernünftig handhabte – denn nur an ihren Äußerungen waren diese Fähigkeit und die Handlungsfreiheit positiv zu erkennen. Konsequenterweise schloss Vernunftlosigkeit aus der Gesellschaft aus. Diderot überzog diese sachlogische Konsequenz ausdrücklich: Wer sich nicht vernünftig verhalte, müsse von den übrigen Gattungsgenossen wie ein wildes Tier behandelt werden – „qui celui qui refuse de la chercher (sc. la vérité) renonce à la qualité d’homme, et doit etre traité par le reste de son espèce comme une bête farouche“ – fiktiv, nicht ontologisch 100, vorausgesetzt, dass die Menschen sich bestimmungsgemäß anstrengen und bilden.

6. Vernunft-Mensch

Allerdings war „Vernunft“ ein ebenso attraktiver wie mehrdeutiger Topos. Er war biblisch vorgegeben und kirchlicherseits vorgeschrieben, aber inzwischen ein Füllhorn argumentativer Absichten geworden. Einerseits wurde er metaphysisch, andererseits organologisch aufgeladen; nicht selten ging er eine Verbindung mit der Seele ein, und die konnte vegetativ oder rational funktionieren. Da man sie nicht beweisen, allenfalls erfahren konnte, funktionierte sie in der Argumentation als anthropopolitischer Faktor. Sofern sie nicht geglaubt oder intuitiv aus der Organisation des Gehirns gefolgert wurde, war ihre Bedeutung von Vorstellungen und Wertungen abhängig. Die Teleologie gab dabei oft die Richtung der Argumentationsverfahren an. Was bedeutete damals „Vernunft“? Begriff, Sinn und Wertschätzungen unterlagen und unterliegen historischen Schwankungen, die meistens von den Ergebnissen des Vernunftgebrauches abhingen. In den Beziehungen des Menschen zum Tier 100 Denis Diderot (1713 – 1765), Droit naturel. Ausgabe „Bouquins“, vol. III, S. 5. – Die Metapher wurde im 20. Jh. verifiziert: vgl. zu „Unmensch“ oben I. 2.

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spielte und spielt der Begriff jedoch eine überwiegend positive Rolle: „Die“ Vernunft sollte ihrer Funktion nach in erster Linie eine Allein- oder Vorrangstellung des Menschen markieren und sowohl dessen Verhältnis zu Gott als auch zur Welt stabilisieren: als ein Mittel, die christliche Botschaft erfahren und „die Herrschaft über die Kreatur“ ausüben zu können. Nicht eine freisinnige, bindungslose, sondern die „rechte“, auf die „Wahrheit des Jenseits“ gerichtete Vernunft zeichnete den gläubigen Menschen aus: In diesem Sinne kritisierte Papst Benedikt XVI. die durch Bacon und die Aufklärer säkularisierte rationale „Herrschaft der Vernunft“. 101 Bacon hatte sich 1620 die „Einmischung der Theologie“ verbeten und die „Wahrheit“ durch die „Verbindung der Erfahrung mit der Vernunft“ gesucht. 102 Locke widerlegte 1694 in ähnlicher Absicht die Lehre von den angeborenen Ideen – einschließlich der Gottesidee –, den Innatismus, den etwa Descartes vertrat, und erklärte Verstehen als einen Vorgang subjektiver Aneignung durch Reflektieren und Begreifen aufgrund von Erfahrungen; er betonte dazu die Bedeutung der Sprache und Erziehung. 103 Seine Gedanken fanden raschen Eingang in den Diskurs der französischen Aufklärer und beeinflussten deren Vorstellungen von Vernunft und Verstand, gaben sie doch Anlass, sich von heteronomen Autoritäten zu emanzipieren. Maßgebend wirkte vor allem die These, nicht eine materiell, substantiell ausgebildete Vernunft, sondern die Vernunftfähigkeit sei dem Menschen von Natur aus angeboren. So konnte der Forscher die Natur erfahren, verstehen und sich aneignen. Diese Umdeutung bildet das eigentliche Zentrum der anthropologischen Wende im 18. Jahrhundert.

101 Papst Benedikt XVI., Enzyklika, in: FAZ Nr. 280 v. 1. 12. 2007, S. 8 (Zitate). 102 Francis Bacon (1561 – 1626), Novum organum scientarum, 1620, 1. Buch, zitiert: Brück (Hg.), Neues Organ, S. 45, 75. 103 John Locke (16 32 – 1704), An Essay Concerning Human Understanding, 1694; zu Lockes Theorie kurzgefasst: Thiel, Locke, S. 66 ff.

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Man kann die Wende als Historisierung deuten. Indem Natur als Vorgang einer eigendynamischen Entwicklung begriffen wurde – Rousseau, Herder, und Kant nahmen die Erfahrungen und Erkenntnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaften in diesem Sinne auf –, erfuhr auch die menschliche Vernunft eine entsprechend Historisierung, bis sie in der Revolution als verewigte Gottheit auf dem Podest erschien. Ihre moderne Beweglichkeit erreichte die Vernunft vor allem dank der These, der Mensch zeichne sich durch seine Vernunftfähigkeit aus, eine These, die individuellen und autonomen Entfaltungen eigene Räume eröffnete. Diese Umdeutung bildet das eigentliche Zentrum der anthropologischen Wende im 18. Jahrhundert. Um zur Vernunft zu kommen, habe der Mensch sich also selbst auszubilden und sei hilfsweise zu erziehen. Daraus ergaben sich die zeitgenössischen Vorstellungen der Perfektionalisierbarkeit und Programme der Perfektionalisierung, die die Aufklärer dem einzelnen Menschen und der Menschheit insgesamt angedeihen ließen. Rousseau thematisierte die „perfectabilité“ „des“ Menschen als Gattungswesen. Sein Erziehungsroman „Émile“ erschien nicht von ungefähr zeitgleich mit dem „Contrat social“. Kurz darauf widmete Lessing sich der „Erziehung des Menschengeschlechts“, und eine Generation später entwarf Condorcet den „progrès de l’esprit humain“ als Entwicklungsprinzip der Menschheit, überzeugt davon, „que la perfectabilité de l’homme est réellement indéfinie“, vorausgesetzt dass die Menschen sich bestimmungsgemäß anstrengten. 104 Während Herder diese Vernunft als schöpferische, lebendige Kraft der Persönlichkeit begriff und sie so mit den – nicht recht beherrschbaren – Unwägbarkeiten der Persönlichkeits104

Diderot, Vernunft, in: ders., Enzyklopädie, Ausgabe Lücke, S. 57. – Jean-Antoine-Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743 –1794), Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, 1795 / Ausgabe Pons, S. 75, 81; zu Condorcets prononcierten Fortschrittserwartungen vgl, a. a. O., S. 277: „... une espérance presque certaine ... du perfectionnement même de l’espèce humaine ...“.

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entfaltung verknüpfte, perfektionierte Kant sie zu einem abstrakten, methodisch funktionierenden, kritischen Faktor des Denkens. Rousseaus Ideen formulierte er um zu einem rationalen Aufstiegskonzept des Menschen und der Menschheit. Indem der Mensch seine tierhaften Instinkte zur Vernunft sublimiere, entwachse er seiner Naturhaftigkeit und sozialisiere sich zum Bürger, dann zum Staatsbürger und endlich zum Weltbürger. So entfernt Kants Mensch sich vom Tier, um „selbst Zweck zu sein“. Aus einem „mit Vernunft begabten Tier (animal rationabile)“ werde ein „vernünftiges“ Tier und aus einer Tiergattung eine „sittliche Gattung“ – was allerdings der Anstrengung bedürfe, und Kant zitierte dazu Rousseaus „Emile“, um die Notwendigkeit einer Erziehung zu betonen. Eine solche Entwicklung bewirke, wie der Königsberger meinte, die moralische Perfektionierung der Menschen, führe vom Bösen zum Guten, vom Egoismus zum Gemeinsinn und von der Geselligkeit zur „bürgerlichen Verfassung“ als höchster Stufe der Humanität. 105 Wie auch immer man „die“ Vernunft begriff: immer galt sie als ein nur den Menschen charakterisierendes Merkmal. Dessen Inhalte und Umfang wurden modifiziert, sobald Ähnliches bei Tieren entdeckt oder anerkannt wurde. Dazu traten Bewusstsein und Willensfreiheit auf den Plan. Diderot meinte noch, als er „Philosophie“ erklärte: „Das „Wesen, das in uns denkt, heißt Seele“, die „zu den Geistern gehört und nicht nur Verstand, sondern auch einen Willen“ habe. 106 Als Kant sich um die Seele und um deren Sitz kümmerte – das war ihm immerhin eine Rezension wert –, ironisierte er das Problem als eine unvernünftige Suche „meines absoluten Selbst“. 107 Später konnte die „Seele“ zwar noch im technischen Zeitalter als Me105

Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1784), in: Werke Bd. VI, S. 86 ff.; ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke Bd. VI, S. 395 ff., 673 ff. 106 Diderot, Enzyklopädie, Ausgabe Lücke, S. 356. 107 Kant, Aus Sömmering über das Organ der Seele (1796), in: Werke, Bd. VI, S. 253, 259.

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tapher für ein Bewusstsein reüssieren. Doch die maßgebende und Erkenntnis stiftende Vernunft war schon längst in Bereichen zwischenmenschlicher Sozialisation unterwegs. Den Gegensatz zur Vernunft bildete der „Instinkt“. Natürlich kam der Begriff aus der zeitgenössischen Biologie. Aber im Zusammenhang sozialtheoretischer Konzeptionen schillerte er ambivalent. Tierische Instinkte bezeichneten Fähigkeiten zum Überleben, die dem Menschen abgingen. Man wusste: Die Sinne des Menschen waren defizitär. Als „instinktloses Tier“ war der Mensch ein Mängelwesen. Noch mehr als zweihundert Jahre nach Rousseau werden philosophische Sozialtheorien diese Erkenntnis rekapitulieren. Andererseits funktionierten Instinkte, wie man ebenfalls wusste, nur mechanisch, schematisch und ohne Bewusstsein, erst recht ohne Wahlfreiheit. Instinkte beherrschten ein Dunkelfeld tierischen Verhaltens. Sie definierten geradezu das Tierische, von dem der Mensch sich distanzieren wollte und musste. Dass Tiere sich, wie man später erfahren wird, neuen Gegebenheiten „intelligent“ anpassen und diese Leistungen sogar vererben können, war noch kein Thema, als der aufgeklärte Mensch sich in der beherrschbaren Welt positionierte. Da kam es darauf an, das Instinkthafte im Menschen zu domestizieren und in ein vernünftiges Verhalten umzugestalten. Da die Sozialtheorien des 18. Jahrhunderts auf Kommunikation angelegt waren, bildeten Vernunft, Sprachfähigkeit und Sprache dabei einen Indizienzusammenhang für das artgemäße Menschsein. Diese Faktoren gewannen in der Folge exklusive Bedeutung. Bei sprachlosen Tieren wurde Rationalität kategorisch vermisst. „Taub- und Stummgeborene“ verwies der Theologe Herder, Bildungs-Schüler Rousseaus und Student Kants 108, in eine Sphäre der „tierischen Wildheit“, weil sie „das göttliche Geschenk der Rede“ nicht erhalten hätten und deshalb vernünftiges Verhalten wie ein Affe nur „mit halber Vernunft“ „nach108 Dazu u. zu Herders Mensch- u. Menschheitsbegriff ausführlicher Grawert, in: Gedächtnisschrift, S. 286 ff.

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äffen“ könnten. Der aufgeklärte Herder ahmte da anscheinend des Reformators Luther Vorurteil nach, der etwa ein Vierteljahrtausend zuvor bekundet hatte: „Es ist ja ein stummer Mensch gegen einem redenden schier als ein halb todter Mensch zu achten. Und kein krefftiger noch edler werck am Menschen ist denn reden. Sintemalen der Mensch durchs reden von andern Thieren am meisten gescheiden wird, mehr denn durch die Gestalt oder ander werck. Weil auch wol ein holtz kan eines Menschen gestalt durch Schnitzer kunst haben. Und ein Thier so wol sehen, hören, riechen, singen, gehen, stehen, essen, tricken, fasten, dürsten, Hunger, frost und hart lager leiden kan als ein Mensch.“ 109 Der vorkritische Kant kannte diese „Vorrede“ vermutlich nicht; jedenfalls urteilte er humaner als Herder: Er sprach Wahnsinnigen das Menschsein keineswegs ab. 110 Der nachkritische Kant überging die physiologischen Anthropologien, um sich dem „Weltbürger“, und zwar „in pragmatischer Hinsicht“, zuzuwenden. 111 In „weltbürgerlicher“ Distanz zur Metaphysik wies er der Anthropologie die Frage „Was ist ein Mensch?“ als zentrales Anliegen einer Philosophie zu, deren Gegenstand der „Gebrauch“ der menschlichen Vernunft sei 112 – die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts wird thematisch daran anknüpfen. 113 Kants Mensch konstituierte sich und seine Welt, ein halbes Jahrhundert nach Rousseau, autonom aus eigenem vernünftigen Für-wahr-halten und freien Willen. Die Freiheit des Willens: Kant stipulierte sie im Prinzip bei jedem Menschen und verband sie mit seinem – formal konstruierten – kategorischen Imperativ: „Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vor109

Luther, Vorrede auf den Psalter, 288b/13 ff., in: Die gantze Heilige Schrifft, S. 965. 110 Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764), in: Werke, S. 885 ff. 111 Kant, Anthropologie, Vorrede, § 1, in: Werke Bd. VI, Vorrede mit § 1. 112 Kant, Logik, A25/26, in: ders., Werke Bd. III, Bd. VI, S. 417, 447 f. 113 Vgl. unten zu II. 8.

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stellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein soches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein.“ 114 Wie zuvor die französischen Aufklärer erkannte der preußische Philosoph den selbstbewussten Menschen an dessen Vorstellung vom „Ich“. Mit Kindern, die von sich in der dritten Person sprechen, konnte er zwar noch nichts anfangen 115, doch sprach er ihnen das Menschsein nicht ab, kannte er doch gewiss die Vorschrift des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, dass die „allgemeinen Rechts der Menschheit“ auch den „noch ungebornen Kindern“ zustehen, und zwar „schon von der Zeit ihrer Empfängnis“ an, obwohl sie dadurch allein noch nicht den Status einer „Person“ in der bürgerlichen Gesellschaft erlangten. Der Mensch wurde Mitglied dieser Gesellschaft vermöge ihm „beigelegter“ Rechte. 116 Kant unterstellte dazu eine Vernunft, die Angehörige der Spezies Mensch von Natur aus zur Autonomie befähige. 117 Zumal wenn es um die Gesellschaft der Staatsbürger ging, sollte der vernünftige Mensch ganz bei sich sein. Das war auch Hegels Auffassung, und sie konstituierte gewissermaßen den eigentlichen Menschen des philosophischen Idealismus. „Die Bestimmung des Menschen“, befand Hegel, „ist die denkende Vernunft. Denken überhaupt ist seine ein-

114 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785/86), in: Werke Bd. IV, S. 51 (kategorischer Imperativ) mit S. 59 (Zitat). – Wimmer, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie, Bd. 3, S. 143 ff., 159 ff. 115 Kant, Anthropologie, Vorrede, § 1, in Werke, S. 399 f., 407 f. Die Gleichgültigkeit gegenüber Kindern könnte mit der hohen Kindersterblichkeit zusammenhängen, die nicht lohnte, Kleinkinder als vollwertige Menschen anzusehen: vgl. Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 98 ff., 215 ff. 116 ALR I 1 §§ 1, 6, 10. Ähnlich, aber moderner, das österreichische ABGBG: vgl. hierzu Fn. 20. 117 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), A6 ff., in: Werke, Bd. IV, S. 21 ff. ders., Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, Mutmaßlicher Anfang der Menschenrasse (1786), A5 ff., in: Werke, Bd. VI S, 87 ff., S. 90 f.: „den Menschen über die Gesellschaft mit Tieren gänzlich erhebende Vernunft ... Gedanken des Gegensatzes ...“.

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fache Bestimmtheit, er ist durch dieselbe von den Tieren unterschieden; ... der Mensch selbst ist Denken.“ 118 Betätige der Mensch sein Denken nicht, und richte sich stattdessen in Gewohnheiten ein, sei dies sein „geistiger oder physischer Tod“. Die Vernunft scheine in das System der Bedürfnisse, in dem das Besondere des einzelnen und das Allgemeine des Menschen überhaupt zusammenwirkten, so dass der Mensch zum Beispiel anders als „das“ Tier Maschinen für sich arbeiten lassen könne. Die Vernunft galt ihm als das Vehikel, das den Einzelnen zum Mitglied der politischen Gemeinschaft – des Staates – befähige und befördere: vom individuellen zum allgemeinen, dann institutionalisierten Selbstbewusstsein. 119 Hegels Menschenbild reflektierte das Ziel eines institutionell bestimmten Organismus. In ihm wurden Unvernünftige und Tiere zwar geduldet, spielten aber keine über ihre Besonderheiten hinausführende Rolle; so blieben sie uninteressant. Hegels schärfster Kritiker Schopenhauer, der Kants Idealismus eigenwillig in eine auf den ominösen „Willen“ subjektivierte Fassung ausbaute – und bis heute viele fasziniert, die auf den freien Willen und subjektive Vorstellungen vertrauen, – behielt nur dem Menschen die Fähigkeit der abstrahierenden Vernunft vor, konzedierte den Tieren aber einen einfachen, auf Anschauungen beruhenden Verstand. 120 Die „Vernunft“ war ihm Medium der komplexen Kommunikation und Gemeinschaftsbildung, des planvollen Zusammenwirkens. Indem er sie von dem „Verstand“ als dem Medium „unmittelbarer“ Erkenntnis unterschied, eröffnete er Übergänge vom Tier zum Menschen, ohne allerdings auf Vorläufer einzugehen. In der erweiterten Fassung seines „Welt“-bewegenden Werkes setzte Schopenhauer sich mit den physiologischen Thesen des fran118

Hegel, Wissenschaft der Logik, 2. Kap. B.b., in: Werke, Bd. 5, S. 132. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 151 Zusatz, §§ 189 ff., 264 mit 274, in: ders., Werke, S. 302, 346 ff., 411 f., 440. 120 Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819 / 1844 / 1859, Werke, 1. Bd. 1. Buch §§ 6, 8, 15 (S. 24, 27, 41 ff., 82 ff.). 119

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zösischen Mediziners Bichat auseinander, um die Bedeutung des Gehirns – Sitz der Vernunft – zu erfassen. Mit Bichat und Älteren meinte er, das Blut sei das Bewegungsmoment, so dass der Wille vom Gesamtorganismus abhänge: „Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf.“ 121 Dieser eindrucksvolle Satz sei hier zitiert, um zu zeigen, dass auch überalterte Theorie geistesgeschichtlich fortwirken können. Zeitgleich mit Kant überlegte der französische Journalist Rivarol, was geschehe, wenn der menschliche Verstand einem Tier und der tierische Instinkt einem Menschen implantiert würden: der Instinkt dann aufrecht, die Vernunft auf allen Vieren? Die Frage schien nicht absurd, war Rivarol doch der Auffassung, dass zwischen den beiden Fähigkeiten nur relative Unterschiede bestünden und der Abstand zwischen einem menschlichen Fötus und einem Tier ähnlich groß wie der zwischen einem „primitiven“ und einem „gesellschaftlichen“ Menschen sei. Aber er hielt fest, was auch noch im 21. Jahrhundert für unterscheidungskräftig gehalten wird: 122 dass allein der Mensch die „Gabe der Abstraktion“ und „Kunstfertigkeit“ besitze, sich auf Wechselfälle selbst einstellen und seine Umwelt objektivieren und umgestalten zu können. Den Austausch von Gestalt und Gehalt verwarf er schließlich als einen unsinnigen Austausch der „Formen“, so wieder der Vernunft zu deren angestammtem Ansehen verhelfend. 123 Rivarols Transplantationsfantasien wirken heute erstaunlich kühn oder weitsichtig. Sie lassen den Schöpfungsgedanken, den Herder als ein abstraktes Prinzip behandelte, ganz vergessen. Aber auch Herder hatte aus den zeitgenössischen Naturwissenschaften ge121

Schopenhauer, Die Welt, in: Werke, 2. Bd.: Ergänzungen zum 2. Buch Kap. 19 Nr. 10) (S. 270: Zitat), Kap. 20 (S. 277 ff.). 122 Vgl. etwa die Beurteilung von Mensch-Tier-Mischwesen im Deutschen Ethikrat unten zu IV. 3. 123 Antoine de Rivarol (1753 – 1801), Vom Menschen, S. 34 ff. Rivarol war übrigens wie vor ihm de La Mettrie u. Rousseau nach Berlin geflüchtet, allerdings nicht vor Frankreichs König u. Kirche, sondern vor der Französischen Revolution.

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lernt. Seine humanitäre Vernunft funktionierte nicht wie ein „angebohrnes automat“, sondern als ein genetisch und kulturell geprägtes und zur Bildung durch Erziehung aufgegebenes Traditionsgut; sie stand bei Herder nur im Soll. 124 Bildung und Erziehung waren wichtige Strategien der aufklärenden Sozialreformer, um den Menschen zu seinem eigentlichen Wesen zu befördern, das mithin als Potential unterstellt wurde und erst im vernünftigen Verhalten erkannt werden konnte. Rivarols Fantasien bargen also Unwägbarkeiten, die heute in „mice with human brains“ aktuell geworden sind und nach wie vor verstörend wirken. 125

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Im 19. Jahrhundert gerieten die „Arten“ in Bewegung. Linnés System der Artenbeschreibung beruhte noch auf der Annahme, dass die verschiedenen Lebewesen Ausprägungen eines morphologisch konstanten Typus sind, der sich durch seine spezifischen Merkmale und Eigenschaften auszeichne. Die Artgrenzen waren fixiert. Abweichungen wurden infolgedessen als Defizite oder Defekte wahrgenommen – das Schicksal von Missgeburten als „Monster“. Darwins „Entstehung der Arten“ brachte diese Konstanz in Bewegung. Sein Konzept der Evolution ergab sich in erster Linie aus den Beobachtungen der Natur. Doch Darwin interpretierte sie jetzt prozesshaft im Maßstab der Zeit, so dass nicht der Typus, sondern die Varietät und deren Anpassungsleistungen den Takt angaben. Seine 124 Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), Ideen zur Philosophie der Geschichte, in: Werke XIV, S. 235 mit S. 245 u. 217, 228, S. 145 ff. (betr. „Vernunft“): hier thematisierte auch Herder den Orang-Utan u. kennzeichnet diesem gegenüber den Menschen durch die Formation des Gehirns u. die Vernunft als „künstlichen Instinkt, der ihm ausgebildet werden soll, u. zwar zu einer „Vernunft, Humanität, Lebensweise, die kein Thier hat und lernet“; dazu Grawert, Herders Einheit, S. 289 ff. 125 Vgl. dazu unten III. 4., 5.

7. Qualitätsauslesen

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Theorie war in der Tiefe die Folge eines Umdenkens. Da diese Theorie die Evolution in einer Abstammungslinie verfolgte und davon ausging, dass die verschiedenen Arten aus „nur wenigen oder nur einer einzigen Form“ hervorgegangen seien 126, stellte sie allerdings die Selbsterkenntnis des Menschen erheblich in Zweifel. Darwin hütete sich, seine Theorie ausdrücklich auf die Abstammung des Menschen auszudehnen. Doch der Streit über die Alternative: Schöpfung oder Evolution war bereits entbrannt, als 1849 die Entdeckung des Gorillas bekannt wurde. Der Gorilla wurde jetzt zu einer Schlüsselfigur. 127 Da er das Selbstverständnis der Gesellschaft in Frage stellte, galt es ihn irgendwie auszugrenzen. Wieder ging es um die Größe und Form des Gehirns, um den Menschen vom Affen unterscheiden und ihm seine eigene Würde zu reservieren. Das Thema bewegte nicht nur die Kirche und Wissenschaft, sondern die – inzwischen im Bürgertum entwickelte – medialöffentliche Meinung Im Erscheinungsjahr von Darwins Werk formte der französische Bildhauer Frémiet einen zähnefletschenden Gorilla, der eine nackte junge Frau fortschleppt – ein die Zeitgenossen faszinierender Skandal 128, der gern filmisch nachgeahmt wurde. 129 Nachdem der Affe medial bewältigt war, löste die mehrfach evaluierte These von der Einzigartigkeit und Überlegenheit menschlicher Vernunft bzw. Vernunftfähigkeit neue Szenarien der Ein- und Ausgrenzung aus. Sie zu eröffnen, war psychologisch und intellektuell möglich, da das Problem des 126 Charles Darwin (1809 – 1882), On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle of Life, 1859 / Entstehung der Arten, S. 583. Darwin nannte hier noch einen „Schöpfer“, doch war das wohl nur eine Vorsichtsformel oder Mentalreservation. Zur Geschichte von Darwins Evelutionstheorie Mayr, Die Entwicklung, S. 314 ff. 127 So Desmond / Moore, Darwin, S. 511 ff. (S. 511: Zitat), S. 566 ff. 128 Emmanuel Frémiet (1824 – 1910). Zur Geschichte dieser Skulptur vgl. Erche, in: FAZ Nr. 74 v. 28. 3. 2007. 129 Vgl. unten zu III. 7.

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Artensystems der wissenschaftspolitischen Theoriebildung ausgeliefert war. Darwins Thesen von der natürlichen Auslese der Arten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu dem in mancherlei Spielarten auftretenden „Sozialdarwinismus“ ausgereizt. Dazu trug Spencers gesellschaftlicher Evolutionismus wesentlich bei. Demnach sollte, vereinfacht gesagt, eine (Rasse-)Gemeinschaft ihren „Kampf ums Überleben“ – Darwins Leitbegriff – durch gezielte Selektionen sichern. In der Folge dieser bio-soziologischen Theorien 130 und, nicht zu vergessen, einer Politik etatistischer Nationalisierung entstanden verschiedene Rassetheorien und eine Bevölkerungspolitik der – positiven und negativen – Eugenik. Aus deren Rechtsverständnis und Ideologie ging im Jahre 1920 das Gemeinschaftswerk „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychologen Hoche mit dem Strafrechtler Binding hervor 131, in dem u. a. die Tötung unheilbar Geisteskranker aus Gründen der sogenannten Sozialhygiene gerechtfertigt wurde. Hoche bezeichnete diese Menschen als „Ballastexistenzen“ und „geistig völlig Tote“. 132 Seine Schrift und deren Thesen wurden vom Nazi-Regime dem Euthanasieprogramm und der Vernichtungs-„Aktion T4“ zugrunde gelegt. 133 Eine passende Semantik 134 sorgte für Verständlichkeit.

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Herbert Spencer (1820 – 1903), A System of Synthetic Philosophy, vol. I, S. 218 ff. 131 Alfred Hoche (1865 – 1943) / Karl Binding (1841 – 1920); die Schrift erschien 1922 in 2., von Hoche nachbearbeiteter u. allein herausgegebener Fassung. – Dazu ideengeschichtlich Proctor, The Destruction, S. 177 ff., sowie der Symposiums-Band von Ortrun Riha (Hg.), Die Freigabe, pass. 132 Hoche, Die Freigabe, 2. Aufl., S. 54 f. 133 Dazu Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, bes. S. 390 ff., 523 ff.: „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“. 134 Vgl. oben zu I. 2.

8. Rephilosophierte Anthropologien

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8. Rephilosophierte Anthropologien

Unter dem Eindruck der politischen Engführung pervertierter Biologismen erfolgte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Rückbesinnung auf transzendentale Aspekte eines ganzheitlichen Menschenbildes. Sie drückte sich in rephilosophierten Anthropologien aus, die bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entwickelten worden waren. Dabei konnte man, wie auch nach 1945, an Kant anknüpfen. In seiner „Anthropologie“ wollte Kant den Menschen“ in „pragmatischer“ und nicht nur in „physiologischer Hinsicht“ erfassen, das heißt: so wie der sich aus Erfahrungen ausbildet. 135 Dass der Mensch ein komplexes organisches Wesen ist, hatte Kant bereits in seiner „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ ausgeführt, als er die Einseitigkeit funktionalistischer Theorien kritisierte. Seine Kritik wehrte – in der Retrospektive – zugleich Menschenbegriffe ab, die monoman jeweils neuesten physiologischen Erkenntnissen nacheiferten: Da der Mensch sich selbst ein Zweck, ein „Naturzweck“, aber auch ein Perfektionszweck, sei, könne er sich nicht teilweise erfassen; die Teile eines Ganzen seien einander wechselseitig Ursache und Wirkung und bestimmten so ihrerseits das Ganze; deshalb sei auch die bekannte Uhrenanalogie fehlsam: „In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der andern, aber nicht das Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des andern; ein Teil ist zwar um des andern Willen, aber nicht durch denselben da. Daher ist auch die hervorbringende Ursache derselben und ihrer Form nicht in der Natur (dieser Materie), sondern außer ihr in einem Wesen, welches nach Ideen eines durch seine Kausalität möglichen Ganzen wirken kann, enthalten. Daher bringt auch so wenig wie ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor ... Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine sol135

Kant, Anthropologie, Vorrede, in: Werke Bd. VI, S. 399.

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che, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanismus) nicht erklärt werden kann.“ 136 Man könnte meinen, Kant habe bereits eine vorahnende Kritik moderner neurologischer und technologischer Menschenbilder formuliert. Immerhin inspirierten seine Transzendentalphilosophie und Ganzheitsmaxime manche Nachkriegsphilosophien. 137 Max Scheler hatte zwar Geist und Körper wieder unterschieden, um dem Menschen den Weg zur Transzendenz zu eröffnen. Aber er führte seine philosophische Anthropologie dadurch in eine komplexe Metaebene, dass er sie als Zusammenschau der diversen, den Menschen reflektierenden Einzelwissenschaften einrichtete. Er suchte unter der – auch von Kant eingenommenen – Prämisse, dass der Mensch sich durch Selbstbetrachtung erkenne, die diesen typisierende geistige Persönlichkeit, die ihn über die biologische, tierhafte und soziale Existenz hinausweise: „Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen und ... sich selbst zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen. So ist der Mensch als Geisteswesen das sich selber als Lebewesen und der Welt überlegene Wesen.“ 138 Scheler gilt bisweilen als Inspirator phänomenologischen Denkens, doch zeigt das Zitat, dass er die Selbstbetrachtung zur Deutung vorantrieb. Bei Helmuth Plessner – auch er gilt als Phänomenologe – kommen die beiden – man kann sagen: klassischen – Kernelemente Geist und Körper, um deren Verhältnis sich die Philosophie seit Platon bemüht hatte, wieder zu einer Einheit zusammen. Plessner hielt den Menschen im Unterschied zum 136 Kant, Kritik der Urteilskraft. Zweiter Teil: Kritik der teleologischen Urteilskraft (1790), in: Werke, Bd. V, S. 235, 467, 486 f. (Zitat). Zu mechanistischen Menschenbildern u. zur Uhrenanalogie vgl. oben zu II. 4. 137 Vgl. die Kurzübersicht von Höffe, Immanuel Kant, S. 295 ff. 138 Max Scheler (1874 – 1928), Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928, in: Werke, Bd. 9, S. 7 ff., 38 (kursiv im Original); bemerkenswert rechtsnah: „Person“.

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Tier – wieder einmal – für befähigt, sich aus den vegetativen Befangenheiten vernunftmäßig zu lösen, um seine Welt sozial sowie kulturell zu konstituieren: „Er lebt nicht nur, sondern erlebt sein Erleben.“ Ohne präjudizierte Identität in die Welt gelangt, sei dem Menschen aufgegeben, sich selbst seine Identität zu bilden: „Als exzentrisch organisiertes Wesen muss er sich zu dem, was er schon ist, erst machen.“ 139 Von rein naturwissenschaftlichen Erklärungen nahmen diese Deutungen des menschlichen Wesens einen weiten Abstand. 140 Noch im Zweiten Weltkrieg und danach variierte Arnold Gehlen diese Philosophien, indem er die Rousseau-Herdersche These vom Menschen als Mängelwesen wiederbelebte und ihn – zu Behebung der Mängel – als „handelndes Wesen“ konzipierte, das sich im Gefüge von Institutionen entfalte. Daraus folgerte er die Notwendigkeit einer „Weltoffenheit“ und das Bedürfnis der Weltaneignung. 141 Den Begriff „Weltoffenheit“ übernahm Gehlen von Scheler, doch wies bereits Kant „in pragmatischer Hinsicht“ auf die „Weltkenntnis“ hin, die zur Selbstbildung des Menschen „als mit Vernunft begabte(m) Erdwesen“ gehöre, und er wies auch schon auf den Unterschied von die „Welt kennen“ und die „Welt haben“ hin, die bei Gehlen zur Weltaneignung wurde. 142 Man könnte darin eine Tendenz zur Emanzipation von Befangenheiten und also zur 139 Helmuth Plessner (1892 – 1985), Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928, in: Schriften IV, bes. S. 163 ff.: zur phänomenologischen „Definition des Lebens“, S. 360 ff.: „Die Sphäre des Menschen“, S. 364, 383: Zitate (kursiv im Original). 140 Zu anderen Vertretern dieser Richtung vgl. Art, Philosophische Anthropologie, pass. 141 Arnold Gehlen (1904 – 1976), Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, in: Gesamtausgabe, Bd. 3.1, bes. S. 400 ff.: „Weltoffenheit der Antriebe“; im Zusammenhang eines Überblicks über die philosophischen Ansätze ähnlich ders., Anthropologische Forschung, S. 46 ff. 142 Kant, Anthropologie, Vorrede, in: Werke Bd. VI, S. 399 ff.; Kant spielte dort auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der „sogenannte(n) große(n) Welt“ u. den „Stand der Vornehmen“ an, Begriffe, die bei ihm schon unständisch, fast sozialökonomisch benutzt werden.

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II. Anthropologische Wenden

Öffnung individueller Freiheitsräume sehen. Doch die bildende Kraft der Institutionen wirkt dem entgegen und fügt das Individuum in überpersönliche Bindungen, die man nicht freiwillig aufsucht, sondern in die man eingelebt wird. Nicht jeder Mensch kann sich in solchen Institutionen erkennen. Mit individuell schwachen, geist- und vernunftlosen Menschen, mit Komatösen, Dementen oder mit Embryonen hatten diese philosophischen Anthropologien wenig im Sinn. Offenbar war das Individuum nicht im Blickfeld, wenn der „ganze“ Mensch thematisiert wurde. Kant hatte auch diese Selbstbeschränkung der vernünftigen Selbstbetrachtung vorbedacht: „Man kann es aber für die Zwecke der Natur als Grundsatz annehmen: sie wolle, dass jedes Geschöpf seine Bestimmung erreiche; dadurch dass alle Anlagen seiner Natur sich zweckmäßig für dasselbe entwickeln, damit, wenn gleich nicht jedes Individuum, doch die Spezies die Absicht derselben erfülle. – Bei vernunftlosen Tieren geschieht dieses wirklich und ist Weisheit der Natur; beim Menschen aber erreicht es nur die Gattung, wovon wir unter vernünftigen Wesen auf Erden nur Eine, nämlich die Menschengattung, kennen, und in dieser auch nur eine Tendenz der Natur zu diesem Zwecke“. Kant appellierte endlich an das moralische Bewusstsein, „sich veredelt zu fühlen, nämlich zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist.“ 143 Unter dem rechtlichen Aspekt der Menschenwürde und des Lebensschutzes könnte man diese Perspektive als praxisferne Theorie vernachlässigen, würde die vom Einzelnen absehende, allgemeine „Gattung“ Mensch nicht heute wieder in abstracto bemüht, wenn es darum geht, noch nicht individualisierbare, gentechnologische In-vitro-Mixturen kategorial einzuordnen und grundrechtlich zu bewerten. 144

143 144

Kant, Anthropologie, in: Werke Bd. VI, S. 685 (= B 328 / A 330). Vgl. dazu unten zu V. 3., 4.

9. Zwischenbilanz

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9. Zwischenbilanz

Der bisherige Rückblick auf die Entwicklung europäischer Anthropologien zeigt im Großen und Ganzen deren Relativitäten und Relationen. Sie agierten und reagierten kulturbedingt je nach den Denktraditionen und der Überzeugungskraft zeitgenössischer Erfahrungen. Des Menschen Bild von sich schwankte in der Geschichte, und so schwankten auch die entsprechenden Spezieszurechnungen. Experimentelle Untersuchungen des biologischen Wesens Mensch ergaben andere Menschenbilder und andere Exklusionen als sozialethisch und sozialtheoretisch aufgebaute Konzepte. Rousseaus „rationaler“ und Kants „staatsbürgerlicher“ Mensch entsprangen gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Vorhaben. Dabei reflektierte die Idee der Perfektabilität sowohl ein Bewusstsein der biologischen Minderwertigkeit als auch die Vision einer moralischen Vollkommenheit. Dass Biologie und Medizin zunehmend mehr das Bildprogramm bestimmten, beruhte auf einem Wandel der Orientierung. Die scheinbar wertungsfreie Empirie errang einen bis heute anhaltenden Überzeugungsvorsprung. Sie verdrängte metaphysische und idealistische Konzepte. Aber der „Streit der Facultäten“ 145 ist mit den modernen Naturwissenschaften offenbar an kein allseits befriedendes Ende gelangt. Aus unterschiedlichen Richtungen melden Geisteswissenschaften erneut ihre Deutungshoheit an, um die biologischen und technischen Entgrenzungen des Menschen sowie die diversifizierten Menschenbilder in einen Rahmen zu fügen. Der Interpret des Grundgesetzes, der angesichts dürftiger verfassungstextlicher und verfassungsimmanenter Anhalts-

145

Zitat: Kant, Der Streit der Facultäten (1798), in: Werke Bd. VI, S. 261 ff.; dort, S. 287 (=A 20), sah Kant den Vorteil der Juristen vor den Theologen darin, dass erstere durch Richter u. Gesetzgeber zu einer Entscheidung kommen, ihren Nachteil aber darin, dass die Gesetze Veränderungen unterworfen bleiben, die Bibel dagegen nicht; das wird unten zu VI. 8., 9., zu berücksichtigen sein.

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II. Anthropologische Wenden

punkte auf vorrechtliche Bezugspunkte zurückgreifen will, um „den“ Menschen begrifflich erfassen zu können, sieht sich mithin vor der Qual der Wahl.

III. Entgrenzungen der Spezies Mensch Denn die Lebewesen, die heute eine Einordnung in die Speziesordnungen herausfordern, sind längst nicht mehr so anschaulich, wie zu Kants Zeiten Menschen, Tiere und Monster wahrgenommen werden konnten. Infolge natur- und ingenieurwissenschaftlicher Fortschritte erfuhren die Bilder vom „ganzen“ Menschen substantielle Eingriffe: Dekonstruktionen und Modifikationen, die immer rascher erfolgen und zu Entartungen führen, denen theologisch, philosophisch und nicht zuletzt rechtlich nicht so ohne weiteres beizukommen ist.

1. Dekonstruktionen

Dekonstruktion bezeichnet in der zeitgenössischen Philosophie ein Verhalten kritischer Analyse, um Begriffe, Texte oder Institutionen aus deren tradierten, gefügten Formationen zu lösen und deren Sinngehalte so unbefangen zu erschließen. Derrida erfand den Begriff aus Heideggers „Destruktion“, mit der dieser den Bestand der antiken Ontologie auf die „ursprüngliche Erfahrungen“ zurückführen wollte, „in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden“ 146, um zu einer neuen Konstruktion der Erscheinungen diesseits metaphysischer Axiome und Fundamentalismen zu gelangen. Derrida unterzog zuerst literarische Texte, dann vorwiegend den Komplex Recht und Gerechtigkeit seinen Dekonstruktionen. Durch sein „dekonstruktives Fragen“ wollte er den „Gegensatz zwischen nomos und physis“ oder „bestimmte

146

Heidegger, Sein und Zeit, S. 22.

66

III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

Werte“ „aus dem Gleichgewicht“ bringen, um sie „komplizierter und paradoxer zu fassen“. 147 Eine solche Zergliederung begründet kein kohärentes, berechenbares System. Sie schafft zwar thematisch begrenzte Gewissheiten, aber keinen Zusammenhang. Immerhin eröffnet sie – oder verspricht zu eröffnen – Möglichkeiten neuer Vorstellungen, Ideen- oder Funktionskomplexe, nachdem die Grenzen der eingeübten Begriffe aufgehoben, ihre kompositorischen Faktoren seziert und und mit bislang noch nicht berücksichtigten in Verbindung gebracht wurden. Die Ausfächerung der chemischen Elemente, die staatspolitische Macht- und Funktionenteilung oder die Arbeitsteilung bilden Beispiele solcher Dekonstruktionen, die zu rekonstruierten chemischen Verbindungen, zu einer gewaltenhemmenden, gegliederten Herrschaft oder zu einer veränderten Persönlichkeit des Industriearbeiters beitragen können. So könnte auch der vertraute Begriff des Menschen dem Analyseverfahren der Dekonstruktion unterzogen und dann mittels einer neuen Komposition relevanter Elemente Veränderungen angepasst werden, sei es durch die Reduktion auf irgendwelche Kernelemente, sei es durch deren Extension. Die erste epochale Dekonstruktion des „ganzen“ Menschen fand im Laufe der früher Neuzeit statt, als Medizin und Naturwissenschaften sich in einem Prozess struktureller Veränderungen der Schulen und Universitäten sowie der damit einhergehenden wissenschaftlichen Säkularisation von der Theologie lösten und auf ihre Forschungsinteressen hin eigene, spezifische Menschenbilder entwarfen. Man könnte die der Medizin auf den Begriff eines homo physiologicus bringen, der aus Knochen, Sehnen, Adern und „Säften“ bestand, dem die geglaubte „Seele“ abhanden gekommen, die „Psyche“ aber noch nicht zugedacht war. Dieser auf seine Physis konzentrierte bzw. reduzierte Mensch avancierte zum Bezugspunkt medizinischer und gesundheitspolitischer Anstrengungen. 147

Derrida, Gesetzeskraft, S. 17.

1. Dekonstruktionen

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Sigmund Freud rekultivierte das verblasste „Seelenleben“ wieder in der naturwissenschaftlich zu vermessenden Psyche des modernen, auf sich gestellten Menschen, allerdings als intraphysische, im Gehirn und im Nervensystem, stattfindende Vorgänge des Bewussten und Unbewussten. Dazu konstruierte er den aus dem Es, dem Ich und dem Über-Ich dekonstruierten „psychischen Apparat“, der den Menschen gewissermaßen als einen homo physiologicus wahrzunehmen ermöglichen sollte. Dieser „Apparat“ – ein Begriff, der Industriemechanismen assoziiert, – ist hier insofern interessant, als er ein Sein des Menschen zergliedert, um aus der Analyse zur Synthese von Außen- und Innenwelt zu gelangen. Freuds „Es“ spielt dabei eine ähnliche Rolle wie die sogenannten Gattungseigenschaften des Menschen, mit den Anthropologien und rechtswissenschaftliche Theorien den typischen Träger der Menschenwürde zu bestimmen versuchen. Freud hielt sein „Es“ für die „älteste“ der sogenannten „psychischen Provinzen“, weil es das Ererbte, das „bei Geburt“ Mitgebrachte, das „konstitutionell“ Festgelegte des „menschlichen Wesens“, vor allem die Triebe, beinhalte. 148 Von der analytisch vermessenen Psyche des Menschen schloss Freud auch auf biologische Phänomene und rundete, wenn man so will, auf diese Weise wieder eine zuvor dekonstruierte Einheit. Im Bereich der Wirtschaft erfuhr „der“ Mensch solche Wandlungen im Wechsel vom komplexen zum kalkulierenden Wirtschaftssubjekt. Adam Smith entwickelte seine Wohlstandsideen mit Hilfe eines „Menschen“, der sich vom Tier durch ein wechselseitigem Nutzen dienendes, kooperatives Verhalten unterschied, das in die Innen- und Umwelt eingebunden blieb; er rechnete auch mit irrationalem Verhalten. 149 Als die Ökono148

Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse, 1938, Kap. 1 u. 9. Adam Smith (1723 – 1790), An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776, l. 1 ch. 2 / Ausgabe Recktenwald, S. 16 f.; l. 1 ch. 10 = S. 92 ff.: zu „Vertrauen“ u. Gewinnerwartungen. Zum Menschenbild der Ökonomie vgl. auch Grawert, in: Der Staat Bd. 50 (2011), S. 227 ff., 230 f. 149

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

mie eine den Naturwissenschaften vergleichbare Berechenbarkeit gewinnen und sich von Philosophismen lösen wollte, kam der homo oeconomicus auf die Welt. Er sollte sich durch eine allein auf Gewinnmaximierung spezialisierte, von psychischen und sonstigen Unwägbarkeiten abstrahierende Rationalität auszeichnen. Heute sublimiert man diese Konzentration durch den Begriff „Kernkompetenz“, den „Kern“ wohl für das Eigentliche haltend, auf das es ankommen soll. Unter dem Blickwinkel einer Theorie des „ganzen“ Menschen war dies ein Vorgang destruktiver Rekonstruktion. Es war daher ideengeschichtlich nicht erstaunlich, dass die Figur des homo oeconomicus Kritik erfuhr, als ihre Eindimensionalität komplexen Vorgängen des Wirtschaftsgeschehens nicht mehr zu entsprechen schien. Seit etwa einem halben Jahrhundert versucht darum die Theorie der sogenannten Behavioral Economics die Psyche und Gehirnfunktionen des Wirtschaftssubjektes Mensch zu ermitteln und ins Kalkül zu bringen. 150 Der Theorienstreit gewinnt wieder an Axiomatik, obwohl es letztlich nur um ökonomische Pragmatik gehen soll. Dekonstruktion ist nicht nur eine Weise wissenschaftlichen Denkens, sondern offenbar auch eine künstlerischen Empfindens. Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert nahm die moderne Kunst jäh Abschied von dem Menschenbild der Renaissance, das Leonardo da Vinci mustergültig vorgegeben hatte, und zergliederte den menschlichen Körper samt den diesen tragenden Raum. Picassos Epochenwerk „Les Desmoiselles d’Avignon“ von 1906/07 und sein Portrait des Kunsthändlers Ambroise Vollard von 1910 leiteten eine zusammen mit Braque inszenierte Wende zum analytischen und danach zum synthetischen Kubismus ein – die Begriffe prägte der Kunsthändler Kahnweiler im Jahre 1920; sie entsprachen einem in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Wandel des Denkens und Vorstellens. Aus Deformationen des menschlichen Körpers wurde eine neue Realität der Formen gebildet, die Leonar150

Vgl. u. a. Shefrin, Beyond Greed and Fear, pass.

2. Entartungen: Chimbrids

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dos bildhafte Nachahmung der Natur hinter sich ließ und den Betrachter an konstruierte Erscheinungen gewöhnte. 151 Auch spätere Kunstrichtungen verwandelten Deformationen in neuartige Menschenbilder, indem sie artifizielle Zusammenhänge dekonstruierter Körper konstruierten, die Befindlichkeiten der Dargestellten und psychische Zustände ausdrücken sollten. Man vergegenwärtige sich Skulpturen Henry Moore’s oder des späteren Werner Stötzer, die dem verordneten sozialistischen Realismus in der DDR widersprachen. Diese künstlerischen Konstrukte waren Expressionen einer Haltung, die Negationen in Positives wendeten. In den Naturwissenschaften entspricht dekonstruktives Denken dem, was Paduaner Anatomen einst faktisch vollzogen und was in den modernen Gentechnologien experimentell mit immer neuen Perspektiven erfolgt: Dekonstruktion zur Konstruktion von Organismen und organischer Verbindungen. Die neurologischen Analysen und Erkenntnisse reduzieren den Menschen auf bestimmte beweisbare Funktionen, die dem Spezialisten in den Grenzen seiner Ausbildung und Profession und mit den verfügbaren Werkzeugen zugänglich sind. Im Gegenzug fordern sie Vorstellungen über den „ganzen“ Menschen heraus, wenn sie dessen Genmaterial sezieren, atomisieren und in bisher unbekannte Verbindungen bringen, die etwa Mischwesen ergeben. Zugegebenermaßen bedarf es dazu nicht einer modischen Philosophie der Dekonstruktion. Doch deren Weise eines kritischen Diskurses verschafft den begrifflich noch unbeherrschten Vorgängen eine angemessene Distanz.

2. Entartungen: Chimbrids

Mischwesen nehmen nämlich mittlerweile einen festen Platz zwischen Mensch und Tier ein, ohne substantiell, strukturell oder semantisch recht begriffen werden zu können. Was sie 151

Dazu Warncke, Picasso, hg. Walther, Teil I, S. 165 ff., 203 ff.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

sind, wird nur dadurch markiert, wie sie geworden sind: durch irgendeine Mischung („blending“). Die britische Academy of Medical Science 152 übernahm deshalb den üblichen wissenschaftlichen Sprachgebrauch und beschrieb die moralischen Probleme von Menschen mit tierischem Material und von Tieren mit menschlichen Material; dieser Alternative sind noch die In-vitro-Mixturen verschiedener Provenienzen hinzuzufügen, so dass ein variantenreiches Mischungsspektrum zu begreifen und zu systematisieren ist. Inzwischen beleben Chimären und hybride Tier-MenschTier-Mischungen nicht nur die Reagenzgläser, sondern auch die Gesellschaft und Umwelt, in Deutschland noch mit legaler Vorsicht, freizügiger in anderen Ländern. Als „Chimbrids“ bilden sie eine eigene Klassifikation von Inter-Spezies-Existenzen. Wer an die Komposition der „Menschheit“ denkt, deren Vision seit dem 18. Jahrhundert entwickelt wurde und die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 vorsieht, kann sich daher dem Problem, welche Lebewesen in dieses Kollektiv einzuordnen sind und welche ausgegrenzt werden sollten, nicht mit dem Hinweis auf nationalstaatliche Vorsorge entziehen. Zwar mahnt bereits der Begriff der Chimäre zur Vorsicht. Nach Homer war sie ein feuerspeiendes Ungeheuer „göttlicher Art, nicht menschlicher“, mit drei Köpfen: „vorn ein Löw und hinten ein Drach und Geiß in der Mitte“. 153 Und „hybrid“ signalisiert eine schuldhafte Verletzung göttlicher Ordnung, eine Zügellosigkeit. In der Biomedizin geht es dagegen um Experimente und Xenotransplantationen, das heißt um die Übertragung von Organen, Organteilen oder Genen eines Spenders auf einen Empfänger, entweder intraspezifisch, also von Mensch zu Mensch, oder interspezifisch, also zwischen Menschen und Tieren, oder um In-vitro-Mischungen, aus denen Mensch-Tier-Embryonen entstehen, deren Genkonstrukte aus unterschiedlichen Vorläufergenerationen stammen. 152 153

Academy of Medical Science, Animals, pass. Homer, Ilias, Vi 180 f.

2. Entartungen: Chimbrids

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Der Begriff biogenetischer Chimären meint Zellen gemischter Zygoten, also Zellverbindungen von Eizelle und Spermie verschiedener Abstammung. Manche dieser Vorgänge verwandeln ihren homerischen Schrecken in Lebenshoffnungen: Denn jede Herz-, Knochenmark-, Leber- oder Nierentransplantation ergibt begrifflich eine Chimäre, rettet aber oder verlängert Leben. Im öffentlichen und seitens der Medizin geförderten Bewusstsein genießen diese Transplantationen deshalb ein hohes moralisches Ansehen. Interspezifische Transplantationen werden gemeinhin ebenso motiviert, stoßen aber nach wie vor auf Bedenken. Seitdem der britische Human Fertilisation and Embryology Act 2008 die Produktion von „human admixed embryos“ – unter dem Vorbehalt von Konzessionen – erlaubte, hat die Diskussion über den sogenannten moralischen Status von Mischwesen an Aktualität gewonnen. Prinzipiell normiert der Reform Act 154: „No person shall – (a) mix human gametes with animal gametes, (b) bring about the creation of a human admixed embryo, or (c) keep or use a human admixed embryo or human gametes with animal gametes“, fügt aber hinzu: „except in pursuance of a licence“. Erlaubt werden können In-vitro-Verfahren. Ausdrücklich ausgeschlossen wird, „a human admixed embryo“ einem Tier zu implantieren, und zur Sicherheit – und im Rückblick auf traditionelle Ineinssetzungen? – hinzugefügt: „For the purposes of this section an „animal“ is an animal other than man“. Der Begriff „human admixed embrysos“ meint eine Kombination menschlichen und tierischen Genmaterials. Er schließt „cybrids“ ein, „which are formed by inserting the nucleus of a human body cell into an animal egg that has had its nucleus removed. Cybrids would produce embryonic stem cells that are 99,9 % human“, doch es dürfen auch Mischun154 v. 9. 11. 2007, online: npl.ly.gov.tw/6561.pgf, zuletzt geändert 26. 7. 2010, zitiert bes. ch. 22 part. 11 sct. 4 A (2). Eine informative Übersicht über „Legal and regulatory considerations“ betr. „Animals containing human material“ bietet The Academy of Medical Science, Animals, S. 83 ff.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

gen erlaubt werden, die bis zur Hälfte tierisch sind. 155 Zuvor sollen angeblich 150 Mischwesen unbekannter Beschaffenheit illegal entstanden sein. Die britische Academy of Medical Science stellte im Jahre 2011 eine Übersicht über „Animals containing human materials“ zusammen, die zu Forschungszwecken produziert worden waren. 156 Die bisherige Forschungspraxis erstreckt sich inzwischen über ein weites Feld. Mancherorts wurden menschliche Zellkerne in tierische, zuvor entkernte Eizellen implantiert, häufig bei Mäusen und Ratten, auch bei Rindern, seltener bei Primaten. 157 Chinesische Wissenschaftler sollen Kerne aus menschlichen Hautzellen entkernten Eizellen eines Kaninchens im155 Referiert: Skene (Professor of Law, University of Melbourne) / Savulescu (Director Uehiro Center for Practical Ethics, University of Oxford), The Ethics of ‚Human Admixed Embryos‘, online: http://blog .practicalethics.ox.ac.uk/2008/05/the-ethics-of-human-admixed-embryos. 156 Vgl. Academy of Medical Science, Animals, S. 18 ff. Eine weitere Übersicht bieten Badura-Lotter / Düwell, Chimären und Hybride, S. 83 ff., 91 ff.; ferner Simitis, Biowissenschaften, S. 97 ff.; Ogbogu / Caulfield / Green, From Human Embryos to Interspecies Creations, S. 227 ff.: Diesem Bericht nach gelang es im Jahre 2008 einem Team um Lyle Armstrong / Newcastle University, eine entkernte Rinder-Eizelle mit menschlichem Genmaterial aufzufüllen u. das Hybridembryo drei Tage am Leben zu erhalten; der Erfolg soll den britischen Gesetzgeber veranlasst haben, die Herstellung von „human admixed embryos“ zu legalisieren. 157 Beylefeld (Rechtsphilosoph / Durham University), Creating Mice with Human Brains. Ferner Mao GH u. a., The reversal of hyperglycaemia in diabetic mice using PLGA scaffolds seeded with islet-like cells derived from human embryonic stem cells, Abstract online: www.ncbi.nlm.nih.gov/ pubmed/19135250; S. Kelly u. a., Transplanted human fetal neural stem cells survive, migrate, and differentiate in ischemic rat cerebral cortex, online: www.pnas.org/content/101/32/11839.full.pdf+htm; Chen Y u. a., Embryonic stem cells generated by nuclear transfer of human somatic nuclei into rabbit oocytes. Abstracht: online: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/ 12974615; Hong J. Lee u.a., Brain Transplantation of Immortalized Human Neural Stem Cells Promotes Functional Recovery in Mouse Intracerebral Hemorrhage Stroke Models, online: www.onlinelibrary.wiley.com/doi/ 10.1634/stemcells.2006-0409/pdf; Bjugstad u. a., Human neural stem cells migrate along the migrostriatal pathway in a primate model of Parkinson’s desease. Abstract online: www.sciencedirect.com/science/article/pii/ 50014488608000290.

2. Entartungen: Chimbrids

73

plantiert und bis zur 16. Teilung entwickelt haben. Kürzlich wurde berichtet, dass britische Wissenschaftler Erbgut aus einer menschlichen Hautzelle der entkernten Zelle einer Kuh injizierten und beabsichtigten, derart hergestellte Embryos sechs Tage lang am Leben zu lassen. 158 Auch Primaten sollen in solche Versuche einbezogen worden sein. Sie genießen in Deutschland, in Großbritannien und anderwärts zwar einen gewissen moralischen Sonderstatus. Daher werden Übertragungen auf sie heute eher beargwöhnt als erwartungsvoll begrüßt. Kreuzungsversuche zwischen Mensch und Schimpansen sollen in Deutschland aber schon vor 1926 erwogen und später im Hinblick auf vermutete sowjetische Versuche unter Stalin um 1936 erneut angeregt worden sein. 159 Solche Vorhaben erwecken den Eindruck, sie sollten gewissen Mängeln des Mängelwesens Mensch abhelfen – im motivierenden Interesse zukünftiger Generationen. Bei der Variante Tier-Mensch werden Bestandteile von Tieren auf Menschen übertragen. Die gesetzestechnisch zergliederte, unübersichtliche Rechtslage in Deutschland sieht solche Übertragungen nicht vor: Das Transplantationsgesetz 160 und das Gewebegesetz 161 beschäftigen sich nur mit „menschlichen“ Organen, Geweben und Zellen; das Transfusionsgesetz reguliert Bluttransfusionen von Mensch zu Mensch. 162 Dagegen gestattet das Schweizer Transplantationsgesetz die Transplanta158 Bericht: Heinemann, in: Die Welt v. 2. 4. 2008 = online: http://www .welt.de/wissenschaft/article1863011/Mischwesen-aus-Mensch-und-Tiererschaffen.html. 159 Joerden / Winter, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 15 (2007), S. 105, 108 Fn. 11. 160 Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben (Transplantationsgesetz – TPG) v. 5. 11. 1997 i. d. F. v. 4. 9. 2007 (BGBl. I S. 2206), zuletzt geändert durch Gesetz v. 19. 10. 2012 (BGBl. I S. 2192). 161 Gesetz über Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben und Zellen (Gewebegesetz – GewebeG) v. 20. 7. 2007 (BGBl. I S. 1574). 162 Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens (Transfusionsgesetz – TFG) v. 1. 7. 1998 i. d. F. v. 28. 8. 2007 (BGBl. I S. 2169), zuletzt geändert durch Gesetz v. 17. 7. 2009 (BGBl. I S. 1990).

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

tion tierischer Organe, Gewebe, Zellen und daraus hergestellter Transplantationsprodukte unter dem Legalvorbehalt der Bewilligung durch das Bundesamt für Gesundheit. Doch bleibt die Regelungsdichte dieser Materie hinter der für Allotransplantationen zurück. Die Bewilligung soll Infektionsrisiken für die Bevölkerung ausschließen und prüfen, ob ein therapeutischer Nutzen zu erwarten ist. 163 Die internationale Praxis ist vielfältiger. 1964 wurde in Mississippi einem Menschen ein Schimpansenherz implantiert; es war allerdings zu klein, um den Blutkreislauf zu bewegen. Erfolgreicher verliefen bisher Implantationen von Schweineherzklappen. Die Methode kann erst seit wenigen Jahren praktiziert werden. In dem „Bericht zur Situation der Transplantationmedizin in Deutschland zehn Jahre nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes“, der im Jahre 2009 dem Bundestag vorgelegt wurde, fanden sie noch keine Erwähnung. 164 Aber die Fortschritte sind beachtlich. Um Abstoßungsreaktionen beim Menschen vorzubeugen, wurde die Züchtung transgener Spendertiere mit integrierten humanen Genstrukturen unternommen. 165 Transplantationen dieser Provenienz haben Zweifel am Menschsein der überlebenden Empfänger bisher noch nicht aufkommen lassen. Gestalt und Verhalten der Patienten gaben offenbar dazu keinen äußeren Anlass. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer verneinte merkbare Auswirkungen von Xenotransplantationen auf die Identität eines Empfängers, weil das Transplantat körperlich integriert werde und Befunde über psychische Auswirkungen fehlten. Daraus 163

Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz) v. 8. 10. 2004 i. d. F. v. 1. 7. 2007 (AS 2007, 1935), Art. 43. 164 BT-Drs. 16/13740 v. 30. 6. 2009. 165 Referiert in: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Stellungnahme zur Xenotransplantation, Ziff. 4.3, in: Deutsches Ärzteblatt 96 (1999), S-1920, A-1922 = online: http://www.bundesaerztekammer.de/ pagr.asp?his=0.7.47.3232; zu ähnlichen Experimenten vgl. den Bericht von Müller-Jung, in: FAZ Nr. 52 v. 2. 3. 2013, S. 3; ders., Gespräch mit dem Münchner Neurologen Thomas Klopstock, in: FAZ Nr. 73 v. 27. 3. 2013.

3. Modifikationen des Gehirns

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schloss er mit Evidenzlogik, dass weder die Selbstauffassung des Patienten noch dessen Fremdwahrnehmung beeinträchtigt würden. 166 Anderwärts wurden dennoch psychische Probleme der Selbstidentifikation vermutet. Eine im Jahre 2000 veröffentlichte Studie über eventuelle Zusammenhänge zwischen Herztransplantationen und Persönlichkeit kam – auf der Basis von nur wenigen Probanden – zu dem Schluss, dass die Empfänger menschlicher Organe einige Verhaltensmuster der Spender zeigten. 167 Das war keine neue Idee. Der deutsche Arzt Garmann, der im 17. Jahrhundert praktizierte, berichtete von merkwürdigen Fällen der Organtransplantation: Die Nase eines Spenders, die einem kriegsverletzten Adligen erfolgreich übertragen worden war, begann später zu faulen, als der Spender starb; sie starb, wie Garmann wohl meinte, mit dem Körper, von dem sie stammte. 168 Nicht, dass dieses „Wunder“ so geschah, ist kulturgeschichtlich interessant, sondern dass es für wahr gehalten wurde. In der heutigen Gegenwart sind entsprechende Auswirkungen von Xenotransplantationen noch nicht evident geworden.

3. Modifikationen des Gehirns

Ein besonders sensibler Bereich menschlicher Selbstidentifikation ist das Gehirn. Das Gehirn galt seit seiner chirurgischen Öffnung in der Frühen Neuzeit und gilt noch heute als Zentrum des Menschseins. de La Mettrie qualifizierte den Menschen mengenmäßig: Er erkannte ihn als das Tier mit dem

166 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Stellungnahme, A-1920 ff. 167 Vgl. Pearsall / Schwartz / Russek, Changes in heart transplant recipients that parallel the personalities of their donors in: Integrative Medicine vol. 2 (2000), S. 65 ff., = online: http://dx.doi.org/10.1016/S1096-2190(00) 00013-5. 168 Ariès, Geschichte des Todes, S. 452 ff., 455.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

„meisten Gehirn“. 169 Auf bis zu 100 Milliarden Hirnzellen (Neuronen) kann ein Mensch es bringen, die über 100 Billionen Kontaktstellen (Synapsen) bilden können, um miteinander zu kommunizieren und Informationen zu speichern. 170 In der modernen Gehirnforschung und dieser nachfolgenden Interpretationen figuriert das Gehirn als Sitz des seelisch-geistigen Lebens, des Gedächtnisses, des Selbstbewusstseins, der Vernunft und der Integration von Organismus und Umwelt, insgesamt: als des Ich. Freilich wird dieser – weitverbreiteten Auffassung – vorgehalten, sie propagiere ein begrenztes „neurologisches Menschenbild“, das den organischen und neuronalen Mechanismus des Gehirns überinterpretiere. Das Gehirn sei keine „isolierte Maschine“ – hier meldet sich wieder das Vokabular des 18. Jahrhundert zu Wort –, sondern ein „Transformationsorgan“, das, an und für sich ohne einen „Kosmos im Kopf“, das Bewusstsein erst durch die Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt realisiere. 171 Ein solcher Hinweis relativiert naturgemäß die Bedeutung des Gehirns. Erheblichere Relativierungen ergeben sich infolge der Möglichkeiten, Gehirnfunktionen zu manipulieren. Angesichts dessen gewinnt das Kriterium an Bedeutung, die Innen-Außen-Wechselwirkung im Gehirn müsse in dessen „eigener Aktivität“ erbracht werden 172 – wie immer man diesen Begriff verstehen soll. Dass das Gehirn gleichwohl ein Organ ist, durch das und durch dessen Funktionen der Mensch sich – reflexiv – von – anderen – Tieren unterscheidet, jedenfalls unterscheiden will, sei es gattungsspezifisch, sei es subjektiv und individuell, steht trotz dieser Divergenzen nicht in Frage, obwohl inzwischen auch etliche Tiergehirne ähnliche Wertschätzungen genießen.

169 170 171 172

de La Mettrie, L’Homme Machine, S. 43. So Manahan-Vaughan, in: Rubin 2011 II, S. 16 ff. Fudes, Kosmos im Kopf?, S. 3 ff., 9 ff. Schrockenhoff, Hirntod, S. 117 ff.

3. Modifikationen des Gehirns

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Seit den – durchaus nicht so eindeutigen – Erwägungen des französischen Anatomen Bichat 173 markiert der Hirntod gemäß den 1968 festgelegten „Harvard criteria“ und nach inzwischen international herrschender, wenn auch umstrittener Meinung 174 auch in Deutschland das offizielle Ende des Lebens: Er tritt mit dem irreversiblen Erlöschen der Gehirnfunktionen des Groß- und Kleinhirns sowie des Hirnstammes ein, auch wenn Herz und Kreislauf weiterhin funktionieren. 175 Der Hirntod löste den klinischen, mit dem Herzstillstand identifizierten Tod ab, als Herz-Lungen-Maschinen an diesem Kriterium zweifeln ließen und die Transplantationsmedizin – seit 1968 – Spenderorgane benötigte. Neuerdings mehren sich allerdings die Stimmen, die auf neuere Möglichkeiten der Neuroprothetik hinweisen und wieder die „somatische integrative Einheit“ des Menschen betonen. 176 Nicht-Hirnforscher müssen also zur Kenntnis nehmen, dass „Leben“ und „Menschsein“ naturwissenschaftlich nicht unstrittig und offenbar Ergebnis von Interpretationen ist. Die neueren Begründungen der Rolle des Gehirns und des Gehirntodes sind allerdings ethisch, anthropologisch und strafrechtlich riskant. Wenn nämlich „der“ Mensch, wie manche meinen, sich nicht nur durch das Haben eines Organismus, 173

Vgl. zu Bichat Fn. 71. Vgl. u. a. Deter, Hirntod. Eine kritische Betrachtung des Konzeptes unter Berücksichtigung medizinischer, juristischer und ethischer Aspekte, in: Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste. Infobrief 2012 (WD 9 – 3010 – 093/12), online: www.bundestag.de/dokumente/analysen/ 2012/Hirntod.pdf; Schrockenhoff, Hirntod, S. 117 ff.; zur antiken u. frühneuzeitlichen Diskussion über das – vorgestellte – „Fortleben“ des Leichnams vgl. nochmals Ariès, Geschichte des Todes, S. 451 ff. 175 § 3 II Nr. 2 TPG; aufgrund der Ermächtigung des § 16 I S. 1 TPG formulierte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer seine „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes, 3. Fortschreibung 1997 mit Ergänzungen gemäß Transplantationsgesetz (TPG) v. 24. 7. 1998 = online: www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.45.3252. 176 Vgl. u. a. Verheijde / Rady / McGregor, Brain death, states of impaired consciousness, and physicians-assisted death for end-of-life organ donation and transplantation, S. 409 ff. 174

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

genannt „Gehirn“, sondern auch durch dessen Funktionsfähigkeit und Funktionen definiert, werden diese aus „eigener Aktivität“ oder elektronisch oder durch Neuroprothesen angeregt und bewirkt, dann fallen die Status von Anencephalen, Komatösen und Dementen aus der Art und aus ihrer Schicksalsgemeinschaft. Als ein Münsteraner Gehirnforscher gehirnlose Feten züchtete, instrumentalisierte und entsorgte, tötete er aus der Sicht des Strafrechts kein menschliches Wesen, doch missbilligte man sein Programm unter ethischen Gesichtspunkten. Im wissenschaftlichen Diskurs wurden Hirnlose zwar als irgendwie menschennahe Lebewesen anerkannt, aber in eine „Zwischenzone“ verlagert. Der bei ihnen vermutete „Lebenstrieb“ sollte aufgrund eines fürsorglich unterstellten Sterbewillens beendet werden können. 177 Bildlich gesprochen, ist diese „Zwischenzone“ ein Dunkelfeld zwischen Mensch und Sache, aber jedenfalls eine Zone, die der rational handelnde Mensch beherrschen zu können meint. Die Zoneneinteilung ist fragwürdiger geworden, seitdem das menschliche Gehirn technisch, genetisch oder pharmazeutisch modifiziert werden kann. Die ersten Ansätze solcher Versuche stammen wie viele andere Einflüsse auf das moderne Menschenbild aus der Zeit der Aufklärung: Im Jahre 1755 stimulierte der französische Mediziner Charles le Roy erstmals die Großhirnrinde eines blinden Patienten, freilich ohne dauerhaften Erfolg. 178 Doch was damals kühn war, wird heute intensiv erforscht und praktiziert – am erfolgreichsten mit Ratten, die über Implantate elektronisch ferngesteuert werden konnten. Bei Menschen konnten Transplantationen fetaler Hirngewebe und Implantationen von Gehirnchips und ähnlicher Neuroprothesen als Gehirnsimulatoren funktionieren und motori177

Becchi,in: Festschrift für Günther Jahr, S. 40 ff. Charles le Roy (1726 – 1779), dazu: Pascual-Leone / Wagner, A Brief Summary of the History of Nonivasive Brain Stimulation, in: Annual Review of Biomedical Engineering vol. 9 (2007), S. 527 = online: www.annualreviews.org/article/suppl/10.1146/annurev.bioeng.9 .061206.133100?file=SupplementalApendix.pdf. 178

3. Modifikationen des Gehirns

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sche Defekte bei an Morbus Parkinson, Epilepsie, Multipler Sklerose oder Alzheimer Erkrankten mindern. 179 Schon wird über eine Übertragung ganzer Gehirnareale auf Menschen spekuliert. 180 Von Außenstationen technisch betreute Ersatzhirne sind anscheinend schon nicht nur Phantasmagorien. Neurobiologen und Neurophysiker bemühen sich gemeinsam darum, Gehirnleistungen digital nachzukonstruieren. 181 Solche Lebenshilfen sind aller Wahrscheinlichkeit nach aber physisch und / oder psychisch nicht risikolos. Man vermutete, dass manche Eingriffe in das Gehirn zu Gedächtnisverlusten führen und Persönlichkeitsveränderungen bewirken können 182, die sich vorab nicht kalkulieren lassen. Die Frage lautet dann nicht: Ist das ein Mensch?, sondern: Ist das noch derselbe und, falls nicht, welcher Mensch? In der Kunst der Doppel- und Mehrfachportraits wurde bereits vor den Evolutionen der Gen- und Neurotechnologien ähnlich gefragt. Frida Kahlos 1939 entstandenes Bild „Die zwei Fridas“ ist ein Paradebeispiel für die doppelsinnige Frage: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ 183, die heute in den Naturwissenschaften beantwortet wird. Experimente mit Neuroprothesen und elektronische Behandlungen werden wie andere Manipulationen an und mit Menschen medizinisch begründet und gerechtfertigt. Doch an der 179 Fink u. a., Porcine xenografts in Parkinson’s disease and Huntington’s disease patients: preliminary results. Abstract online: www.ncbi.nlm .nih.gov/pubmed/10811399; Ohl / Scheich, Neuroprothetik. Hightech im Gehirn, in: Gehirn und Geist 10 (2006), S. 64 ff. 180 Badura-Lotter / Düwell, Chimären, S. 100. 181 Vgl. u. a. Precisely Engeneering 3-D Brain Tissues, online: www .phisicsinventions.com/index.php/precisely-engineering-3-d-brain-tissues; ferner Interview mit Boyden (Leiter der Synthetic Neurobiology Group des MIT Media Lab), online: www.scincedirect.com/science(article/pii/ 501662236120011725; besonders: Elismith u. a., A Large Scale Model of the Functioning Brain, in: Science vol. 338 (2012), S. 1202 ff. Burgard / Stachniss, „Gestatten, Obelix!“, pass. 182 So u. a. Kreß, Medizinethik, S. 51 f. 183 Bianchi in: ders. (Hg.) Kunstforum International Bd. 181 (2006): Die Kunst der Selbstdarstellung, S. 141.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

experimentellen Gehirnforschung ist nicht nur die Medizin therapeutisch interessiert. Deren Anliegen ziehen offenbar etliche weitere motivierende Interessen mit oder nach sich, so dass deren grundsätzlich anerkannte Legitmität Ballastprobleme hat. Für die Rüstungsindustrie wurden „human machine systems“ vorgedacht, die Soldaten nicht nur mit Psychopharmaka wie im Irak-Krieg, sondern mit implantierten, extern gesteuerten Gehirnchips oder ähnlichen Transmittenten für zukünftige Einsätze emotional robust und psychisch effektiv einrichten sollen. 184 Die US-amerikanischen National Academies of Sciences publizierten daraufhin die Überlegungen einer Gruppe von Spezialisten, um der Army die relevanten Kompetenzen der Neurowissenschaften zu empfehlen, dem Mängelwesen Mensch nachzuhelfen. 185 In zukünftigen Cyberkriegen mit hocheffizienten Waffensystem wird „der“ Mensch als Soldat sowieso schon als das schwächste Glied in der Kette betrachtet, so dass vorausschauende Strategen sich über dessen moderne Perfektionierung Gedanken machen müssen. Die Zeit, als Stalin angeblich humanisierte Schimpansen als Kriegsmaschinen einsetzen wollte, ist also längst überholte Geschichte. In der Zone biogenetischer Modifikationen bewegen sich heute auch Tiere, um dem Menschen zu Diensten zu sein. An Ratten wurde ausprobiert, welche Wesensveränderungen gewisse Gehirnveränderungen auslösen. Und die „mice with human brains“ bieten anschaulich-schaurige Beispiele für die Vor-

184 Vgl. Giordano/ Wurzman, Neurotechnologies as weapons in national intelligence and defense – an overview, in: Synesis. A Journal of Science, Technology, Ethics and Policy, vol. 2 (2011), T 14 ff., = online: www .synesisjournal.com/vol2_no2_t1/Giordanowurzman_2011_2_1.pdf; dazu der Bericht von Sanders, Future wars may be fought by synapses, in: Science News, vol. 180 (2011), S. 14 ff., = online: http://www.sciencenews.org/ view/generic/id/3336028/title/Future_wars_may_be_fought_by_synapses. 185 Comittee on Opportunities in Neuroscience for Future Army Applications. National Research Council of the National Academies (Hg.), Washington 2009 = online: www.nap.edu/openbook.php?record_id=125008page =RI.

4. Modifikationen der Keimbahnen

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stellung humanisierter Tiere. 186 Die britische Academy of Medical Science rechnete vorsichtig mit einer „substantial modification of an animal’s brain that may make the brain function potentially more ‚human-like‘, particularly in large animals“. Sie konnte bei Mäusen mit „human-derived cells“ aber noch keine evidenten Verhaltensänderungen feststellen. Immerhin notierte sie als „predominant question“, ob „populating an animal’s brain with human-derived cells could result in the production of an animal with human ‚cognitive capacity‘ (i.e. some aspects of ‚consciousness‘, ‚awareness‘ or ‚sentience‘) or ‚humanlike‘ behavioural capabilities.“ 187 Seitdem an Krähen eine außerordentliche Lernfähigkeit und Intelligenz beobachtet werden konnte, dank der die Vögel sich an Erlerntes längerfristig erinnern, komplexe Verhalten planen und gestufte Kausalverläufe kombinieren können, so dass sie insoweit wie Menschen zu agieren scheinen, überraschte es nicht, käme jemand auf die Idee, die Tiergehirne mit „human material“ zu perfektionieren, zunächst, wie oft, probeweise, bis sinnvolle Zwecke sich einstellen. Mit welchen Folgen für die Selbsteinschätzung des Menschen?

4. Modifikationen der Keimbahnen

Während Modifikationen des Gehirns das Individuum betreffen, betreffen Modifikationen der Keimbahnzellen auch die Nachkommenschaft. Denn Keimzellen – Eizellen und Spermien – sind Träger der Vererbung. 188 Genetische Eingriffe bewegen daher die Spezies und bieten eventuell die Möglichkeit, den homo sapiens dauerhaft mutieren zu lassen. Deshalb ist es besonders bemerkenswert, dass es US-amerikanischen Forschern vor Kurzem gelungen ist, Keimbahnzel186 187 188

Beyleveld, Creating Mice. Academy of Medical Science, Animals, S. 9 (Zitat) 44 ff. Mayr, Die Entwicklung, S. 523 ff.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

len in der Petrischale zu verändern. Die Grundlage der Experimente waren, wie eigens betont wurde, freiwillige Eispenden, in deren Zellstrukturen gewisse kritische Mitochondrien – zellimmanente Organellen – außer Funktion gesetzt werden konnten. Man hofft nun darauf, Keimbahntherapien entwickeln zu können, die die Übertragung von Erbkrankheiten auf Nachkommen ausschließen. 189 Über weitere Möglichkeiten wurde noch nicht nachgedacht, jedenfalls noch nicht berichtet. Doch die anstehenden Forschungsvorhaben erwecken nicht nur das Interesse von Kranken und Medizinern. Weitere mitlaufende Interessen lassen sich an den in Spanien und Osteuropa erlaubten und professionalisierten Reproduktionshilfen für selbst unfruchtbare Frauen erkennen. Im Internet bieten zum Beispiel spanische Institute und Kliniken auf Deutsch ihren Service samt dem gewünschten In-vitro-Design eines Nachkommens an; nach Medienberichten begegnen junge spanische Frauen der Finanzkrise, indem sie sich mehrfach – eine Kartei wird nicht geführt – Eispenden abnehmen lassen. Die Verfahren der Eispenden und Keimbahnverbesserungen werfen naturgemäß familienrechtliche Probleme auf. Außer dem Sperma eines Mannes werden nämlich Eizellen zweier verschiedener Frauen benötigt, von denen die eine, gesunde anonym bleiben soll, während die austragende als gesetzliche Mutter geführt wird. Man spricht von „people with three genetic parents“. 190 Warum 189 Vgl. Mitalipov u. a. (Oregon Health and Science University / USA), Towards germline gene therapy of inherited mitochondrial diseases, in: Nature v. 24. 10. 2012, Abstract online: www.nature.com/nature/journal/ vaop/ncurrent/full/nature11647.html. Das Team um Mitalipov konstruierte kürzlich das erste menschliche Klonwesen u. erweckte dadurch sowohl neue Heilshoffnungen als auch ethische Widersprüche. 190 Vgl. den Bericht in: The Economist, Gene therapy. Hello mothers, hello father, v. 27. 10. 2012, online: www.economist.com/news/science-and -technology/21565139 ...; die deutsche Berichterstattung zog fast wortgleich nach: Müller-Jung, in: FAZ Nr. 68 v. 21. 3. 2013, S. 25. Zu professioneller Reproduktionsmedizin mit Hilfe von Eispenderinnen vgl. u. a. Truscheid, in: FAZ v. 4. 12. 2007, online: www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ familie/eizellenspende-in-europa-spanische-gene-deutsche-mutter-148587 7.html. Zur Werbung im Internet vgl.: Instittuto de Reprodución CEFER.

4. Modifikationen der Keimbahnen

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sollte dabei nicht auch gesundes tierisches Zellmaterial vorbeugend zum Einsatz gelangen, sobald dies möglich ist? § 5 Embryonenschutzgesetz untersagt Keimbahnmanipulationen jeder Art unter Androhung von Strafen 191, und bisher erlaubte sie auch der britische Human Fertilisation and Embryology Act 2008 192 nicht. Doch die Fronten geraten unter Druck. Dass der „Economist“ ausführlich berichtete, lässt auf ökonomische und gesundheitspolitische Interessen schließen, und auch in der deutschen Tagespresse wurde gemahnt, „ein stellenweise heillos veraltetes Recht“ der modernen Biomedizin und den immer energischer vorgetragenen Bedürfnissen der Patienten anzupassen. 193 Denn das Schicksal sei jetzt steuerbar. 194 Die britische Human Fertilisation and Embryology Authority hat jedenfalls schon eine Meinungsumfrage gestartet, um ethische Implikation diskutieren zu lassen. Die Ergebnisse sollten der britischen Regierung im Frühjahr 2013 überreicht werden. Dann wird sich eventuell der Gesetzgeber bewegen. Die Kosten für eine nichttherapeutische Befruchtung durch eine Eispende sollen Medienberichten zufolge ca. 10000 Euro betragen; die Eispenderinnen sollen in Madrid 90 Euro verdienen. Sollten diese Zahlen zutreffen u. würden sie bei Eingriffen zur Erfüllung eines Kinderwunsches erblich vorbelasteter oder nicht vorbelasteter Eltern nicht von Krankenkassen übernommen, würfen die Pladoyers u. Angebote ein ökonomisch irrisierendes Licht auf die ethischen Argumente, den von Natur aus Benachteiligten solle geholfen werden. – Seit dem rechtskräftigen Urt. des OLG Hamm. v. 6. 2. 2013 – I-14U7/12 –, online: openjur.de / u/599587.html –, das einem anonym gezeugten Kind einen Anspruch auf Kenntnis des Namens des biologischen Vaters zusprach, dürfte in Deutschland auch die Anonymität weiblicher Eizellenspenderinnen nicht mehr unbedingt gewährleistet sein; die Durchsetzbarkeit eines solchen Anspruchs hinge allerdings von der Übung oder Pflicht der Reproduktionsinstitute ab, die „Spenden“ u. „Spender“ überlebenslang zu dokumentieren. 191 Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – EschG) v. 13. 12. 1990 (BGBl. I S. 2746). 192 Vgl. Fn. 154. 193 Müller-Jung, in: FAZ Nr. 77 v. 3. 4. 2013, S. 1; das Zitat verbindet semantisch hübsch das deutsche Leiden mit einer gefühlten Heillosigkeit der Gesetze. 194 Müller-Jung, in: FAZ v. 12. 4. 2013.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

Sollte er sich heute noch von dem Philosophen Kant beeinflussen lassen? Der meinte im Jahre 1777, es gelte die „Maxime“, „dass in der ganzen organischen Natur bei allen Veränderungen einzelner Geschöpfe die Spezies derselben sich unverändert erhalten. Allerdings sei klar, „dass wenn der Zauberkraft der Einbildung, oder der Künstelei der Menschen an tierischen Körpern ein Vermögen zugestanden würde, die Zeugungskraft selbst abzuändern, das uranfängliche Modell der Natur umzuformen, oder durch Zusätze zu verunstalten, die gleichwohl nachher beharrlich in den folgenden Zeugungen aufbehalten würden: man gar nicht mehr wissen würde, von welchem Originale die Natur ausgegangen sei, oder wie weit es mit der Abänderung derselben gehen könne, und, da der Menschen Einbildung keine Grenzen erkennt, in welche Fratzengestalten die Gattungen und Arten zuletzt noch verwildern dürften.“ Seien die „Schranken der Vernunft“ einmal durchbrochen, gebe es kein Halten mehr. Deshalb solle man „gar kein Experiment verstatten“. 195 Das liest sich recht altbacken, wenn man heutige Forschungsforderungen liest und aus einer modernen Philosophie der Biologie erfährt, dass Speziesgrenzen in Wirklichkeit so willkürlich seien, dass „rationality is no different from opposable thumbs“. 196

5. Fiktionale Metamorphosen

Literarisch fiktional hatte die Humanisierung der MenschTier-Mensch-Beziehungen bereits früher begonnen und ist hemmungsloser gediehen als die Bio- und Medizinwissenschaften. Hatten antike Theriomorphismen noch symbolische Bedeutungen, und reflektierten die ägyptischen und griechischen tiergestaltigen Götter noch geglaubte Vorstellungen von Zwi195 Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785), in: Werke Bd. VI, S. 63, 71 f. (Zitat). 196 Hull, On Human Nature, in: Hull / Ruse, S. 395: „species“ = „Operational Taxinomic Units“.

5. Fiktionale Metamorphosen

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schenwelten – die Herodot beargwöhnte 197 –, so standen in der Neuzeit bereits biologische und anatomische Kenntnisse zur Verfügung, als man theriomorphe Phantasien aufbaute. Seither kann man von der Hypothese ausgehen, dass literarische Fiktionen und wissenschaftliche Erkenntnisse sich wechselseitig befruchten können: Fantasien profitieren von Experimente, die sich durch Fiktionen zu Visionen anregen lassen, deren Realisierung theoretisch, praktisch oder von Rechts wegen – noch – nicht möglich ist. Die literarischen und – heute besonders – filmischen Aspekte ergeben hyperthrophe Denkmöglichkeiten. Je breiter die Ausstrahlung, desto stärker kann sich ein popularisiertes Allgemeinbewusstsein entfalten. Deshalb gehören die literarischen und filmischen Fiktionen in eine Geschichte der anthropologischen Vorstellungen und Menschenbilder ebenso wie die Erinnerungen an vorrationale Mythen. Der französischen und deutschen Märchenwelt sind Metamorphosen zwischen Mensch und Tier ganz geläufig: Deren Gestalten erscheinen austauschbar, doch das „Wesen“ der Betroffenen erhält sich trotzdem. Bereits vor der Entdeckung von Menschenaffen referierte der Privatgelehrte Montaigne wundersame Berichte des Plinius und Herodot über monströse Menschen und „natürliche“ Verwandlungen von Menschen in Wölfe oder Pferde und wieder retour. Nicht, dass er noch an Derartiges glaubte. Vielmehr wollte er seinen Lesern drastisch klarmachen, wie stark die menschliche Vernunft von subjektiven Vorstellungen abhängt und wie relativ menschliches Wissen ist. 198 Etwa anderthalb Jahrhunderte später, in der Hochzeit der Aufklärung, erschien in Paris die erste Fassung des Märchens „La belle et la bête“ – „Die Schöne und das Tier“. Das Märchen variierte ältere Vorbilder: Der zu einem „Untier“ ver197 Herodot von Halikarnassos (ca. 490 – 424 v. Chr.), II 46 /deutsch: Stein / Stammler: voller Abscheu berichtete er: „Und in diesem (sc. ägyptischen) Gau ist zu meiner Zeit das Wunder geschehen, dass sich ein (sc. Ziegen-)Bock (sc. = Pan bzw. dessen Symboltier) mit einem Weibe vor aller Augen begattete. Dies ist allen Menschen bekannt.“ 198 Montaigne, Essais: Apologie für Raymond Sebond, S. 262 f.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

wünschte, edle und reiche Prinz wird durch das Mitleid und die Liebe der armen Schönen erlöst. 199 Bei den Gebrüdern Grimm erhielt das Märchen eine Parallele im „Froschkönig“, doch erfolgte die Erlösung deftiger, indem die Schöne den hässlichen Frosch an die Wand warf. 200 In „Brüderchen und Schwesterchen“ wird der zu einem Reh verwünschte Bruder eigentlich durch die Liebe seiner Schwester, moralisch korrekt und deshalb ausdrücklich aber durch „Gottes Gnade“ erlöst, ebenso wie die „Sieben Raben“ die Rückverwandlung ihrer vom bösen Vater bewirkten Entmenschlichung schwesterlich keuscher Liebe verdanken. Bemerkenswert an allen diesen Ereignissen ist es, dass die Verwandelten ihre menschlichen Gefühle und meistens auch ihre Sprach-, jedenfalls ihre Ausdrucksfähigkeit behalten. Die Tiergestaltigkeit hebt die Humanität nicht auf. Wer will, kann darin das heute promovierte Mitleid mit Tieren und deren betonte Nähe zum Menschen entdecken. Für eine Phänomenologie vom Mensch- oder Tiersein reichen die Märchen freilich nicht. Denn ohne – befristete – Erlösung sänke der märchenhaft Verwandelte endgültig in die unmenschliche Tierwelt. Nicht die Vernunft, sondern das Verhalten romantisch unschuldiger Mädchen führt zur Erlösung. Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ kennt keine Erlösung, denn der Autor schildert in ihr seine traumatisch bedrängende Selbstidentifikation. Als die Erzählung im Jahre 1912 erschien, profitierte sie von dem Charme faszinierender Absurdität, deren Faszination darauf beruhte, dass das Unwahrscheinliche sich grundlos ereignete. Erschienen die märchenhaften Metamorphosen wenigstens als auflösbare Missgeschicke, so ereig199

Erste Publikaktion 1740, dann 1776; in der Ausgabe: Die Märchen der Weltliteratur, hg. von der Leyen / Zaunert 1923, deutsch: Tegethoff, S. 293 ff., wird angemerkt (S. 319 mit weiteren Nachweisen), das Märchen gehöre zum Kreise der „gestörten Martenehen“ u. gehe auf deutsche Quellen zurück. 200 Das Märchen verbindet zwei Themenkreise: Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich, in: Röllecke (Hg.), Kinder- und Hausmärchen, 1837 / 2004, S. 23 ff., S. 863 ff.: Aus den Anmerkungen der Brüder Grimm von 1822/1856, S. 1194: Einzelkommentar von Röllecke.

5. Fiktionale Metamorphosen

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nete sich ein schicksalhaftes Unglück, als Gregor Samsa eines Morgens als käferartiges „Ungeziefer“ aufwachte, noch denken und sprechen konnte – aber, da als Mensch nicht mehr erkennbar, endlich beseitigt wurde. 201 Kafkas „Bericht für eine Akademie“ von 1915 schloss dagegen an traditionsreichere Vorstellungen an: Hier konnte ein dressierter Affe ganz menschlich sein „äffisches Vorleben“ und die Erfolge seiner Nachahmungen schildern. Wie sein Lehrer erkannte er, „dass wir auf der gleichen Seite der Affennatur kämpften“. 202 Auf dieser genealogischen Klaviatur spielte Flaubert bereits im Jahre 1837. In der Figur des Djalioh erfand er einen Affenmenschen, Sohn einer Sklavin, „une esclave noire“, und eines „nègre le plus bel orang-outang“. Zur Welt kam diese Figur auf einem Misthaufen, eigentlich aber aufgrund der Preisfrage einer Akademie der Wissenschaften, die wissen wollte, „s’il pouvait y avoir un métis de singe et d’homme“. Aus Brasilien gelangte Djalioh nach Europa. Er war nicht ungebildet, aber stumm; nur unartikulierte, gutturale Laute kamen aus seiner Kehle: „un animal inerte et sans intelligence“. Eine dunkle Melancholie und Todessehnsucht prägte sein Wesen. In Europa verliebte er sich instinktiv in die junge, weiße Frau seines Herrn. Um der Angebeteten zu gefallen, wünschte er sich, schön wie ein Tier zu sein, fühlte aber „comme un fantôme ou un demon“. Die dämonische Liebe endete in einem fürchterlichen Gemetzel – und Djalioh ausgestopft im Museum. Seine Mischung („métis“) war nicht überlebensfähig. Flaubert hatte zuvor über echte Affen sagen lassen, sie erschienen wie „une immitation parfait de la nature humaine. Quand je vois un des ces animaux (je ne parle pas ici des hommes) il me semble me voir dans les miroirs grossissants, mêmes sentiments, – mêmes appetits brutaux“, und er hatte damit die Tiere dem Menschen ironisch angenähert. Doch Djalioh hielt der Gesellschaft nicht 201

Dazu Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, S. 212 ff. Dazu Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, S. 198 ff.: Die Erzählung schildere „ein inferiores Tiervolk als Sinnbild des Juden“. 202

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

stand, da er zwiespältig war. 203 Die thematisierte Verbindung von schwarzer Sklavin und schwarzem Affen und der Gegensatz zum jungen weißen Schwan – Flaubert wurde nicht müde, „weiß“ von „schwarz“ abzusetzen, – war sozialpolitisch und erotisch provokant: Die in Frankreich für die Karibik 1794 aufgehobene und von Napoléon 1802 erneut eingeführte Sklaverei, wurde erst 1848 beendet. Bis dahin waren Sklaven, erst recht Sklavinnen, keine vollgültigen Menschen im Sinne der 1789 verkündeten Menschenrechte. Die aktuelle Science-Fiction-Literatur kann ungehemmter fantasieren. Die Sexualmoral wurde liberalisiert. Symbiosen von Menschen und Tieren wurden moralisch aufgewertet. So kann man von beiden Seiten forsch aufeinander zugehen. Der dänische Erfolgsschriftsteller Hoeg entflammte vor einigen Jahren die Frau eines Zoologen zu produktiver Liebe mit einem Primaten, und fand dafür viele Käufer. 204 Filmproduzenten und Journaillen gieren nach solchen Events. Noch kürzlich wurde berichtet, ein Affenmensch habe sich in der Tatra einem Bikinimädchen genähert. 205 Wagemutige Schriftsteller könnten heute sogar von kreuzweisen Inter-Spezies-Leihmutterschaften fantasieren. Alle derartigen Fiktionen profitieren nicht nur von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der genetischen Verwandtschaft zwischen den Hominiden. Sie treffen sich auch mit Forschungsvisionen. Zwar dämpfen Immunologen die Fantasien, 203 Gustave Flaubert (1821 – 1880), Quidquid volueris, Études Psychologiques, in: ders., Mémoires d’un fou., S. 153 ff. Djalioh spielte auf einem Ball selbstvergessen u. ohne Vorkenntnisse Violine; zuvor hatte schon Honoré de Balsac (1799 – 1850) die Idee, einen Orang-Utan Violine spielen zu lassen, doch endete dieser Versuch unglücklich – für die Geige und für bestimmte Ehemänner, die Balsac mit dem Orang-Utan verglich, in: Physiologie du mariage, 1829 / deutsch: Conrad, im Kap. „Die Prädestinierten“. In einem anderen Text des jungen Flaubert erschien der Affe metaphorisch, um die Unmenschlichkeit eines Kapitalisten zu kennzeichnen: „ses baisers qui etaient froids et horribles comme ceux d’un singe“: vgl. Flaubert, Passion et vertu. Conte philosophique, 1837, a. a. O., S. 195, 208. 204 Hoeg, Die Frau und der Affe. 205 Bild.de 2011 (Reporter „Attila Albert“).

6. Semantische Abstraktionen

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indem sie auf Unverträglichkeiten hinweisen. Doch setzen, wie die Züchtung humanisierter Schweine zeigt 206, Probleme der Forschung bekanntlich kein Ende.

6. Semantische Abstraktionen

Eine psychologische oder soziologische Kritik der Fiktionalisierungen von Mensch-Tier-Verbindungen würde vielleicht die Faszination thematisieren können, die eine Melange von Abscheu und Attraktion wahrscheinlicher Unwahrscheinlichkeiten bilden kann. Die Sprache der Gesetzgebung und der Naturwissenschaften ist nüchterner, aber nicht weniger fiktional. Während die britische Academy of Medical Science „Mensch“ und „Tier“ als abstrakte Entitäten benennt, verschwinden deren wechselweise genetischen Modifikationen hinter dem Prädikat „admixed“, die ein Verfahren, aber kein Mischungsverhältnis und keinen Status andeuten. Der Deutsche Ethikrat wählte für Mensch-Tier-Mixturen den scheinbar unverfänglichen Ausdruck „Mischwesen“, der den benachbarten Ausdruck „Mischling“ vermeidet, der Rassemischungen tierischer und menschlicher Provenienz auf einen obskuren Begriff bringt. Flaubert bezeichnete, wie gesagt, so seinen Affenmenschen: „métis“ ist ein Äquivalent für „hybride“. „Mischlinge“ assoziieren Unechtheit; sie lassen keinen rechten Ursprung erkennen und können sich nur weiter „mischen“. So disqualifizierte das Nazi-Recht „Mischehen“. „Mischwesen“ halten immerhin die Nähe zu „Lebewesen“ ein, die einen funktionalisierten Oberbegriff ausmachen. Naturwissenschaftliche Texte kennen dagegen nur noch Zellstrukturen und erwähnen „admixed“ nur prädikativ. Hybride Embryos erscheinen dort nicht selten als „nt-units“, und die Spezies erscheint im Plural der „Operational Taxinomic Units“, um ihre Variabilität zu

206

Vgl. Fn. 165.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

kennzeichnen. 207 Nicht ohne Grund hat man vermutet, dass diese abstrahierende Sprache nicht nur der fachwissenschaftlichen Verständigung, sondern auch der Neutralisierung moralischer Probleme im öffentlichen Diskurs dient. 208 Je mehr die Rechtssprache sich auf die Fachsprachen einlassen muss, um Sachverhalte korrekt zu erfassen und um sich den Fachvertretern und Medizinunternehmen verständlich zu machen, umso mehr entfernt sie sich von einer allgemeinen Verständlichkeit und vom allgemeinen demokratischen und parlamentarischen Diskurs. Wenn das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin bezüglich der Transplantation von menschlichen Organen und Geweben auch auf „hämatopoietische Stammzellen“ angewendet werden soll 209, wird nicht jedermann wissen, dass damit blutbildende Stammzellen gemeint sind. Das deutsche Stammzellengesetz definiert dann menschliche Stammzellen als Zellen, die „die Fähigkeit besitzen, in entsprechender Umgebung sich selbst durch Zellteilung zu vermehren, und die sich selbst oder deren Tochterzellen sich unter geeigneten Bedingungen zu Zellen unterschiedlicher Spezialisierung, jedoch nicht zu einem Individuum zu entwickeln vermögen (pluripotente Stammzellen)“. 210 Angesichts der Vielfalt möglicher Zellverbindungen und -entwicklungen sprechen manche Texte schlicht von „Organismen“, ein allgemeiner Mantelbegriff, der um 1800 in die Sozial- und Staatslehre wechselte, im vorliegenden Zusammenhang allerdings nur kleinteilige, in der Regel zelluläre Lebewesen einschließen soll.

207

Hull, On Human Nature, in: Hull / Ruse, S. 389, 395. Badura-Lotter / Düwell, Chimären, S. 96 Fn. 9. 209 Zusatzprotokoll v. 24. 1. 2002, online: http://conventions.coe.int/ Treaty/ger/Treaties/Html/186.htm. 210 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellengesetz – StZG) v. 28. 6. 2002 (BGBl. I S. 2277), zuletzt geändert durch Gesetz v. 14. 8. 2008 (BGBl. I S. 1708). 208

6. Semantische Abstraktionen

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Ganz abstrakt von „menschlichen Lebewesen“ spricht das Biomedizin-Übereinkommen, um sich dann auf dessen nicht näher spezifizierte Gene und Genome zu konzentrieren. 211 Das Bundesverfassungsgericht übernahm die Redeweise vom „Lebewesen“, und zwar ausdrücklich, um den Begriff des Menschen auf dessen Vorstufen auszudehnen. 212 Der abstrakte Begriff ebnete Unterschiede zwischen Mensch und Tier sowie zwischen vorgeburtlichen und geborenen Entitäten verbal ein. Immerhin kann er aber für seinen ganzen, unspezifischen Sinnbereich den ethischen Wert des Lebens in Anspruch nehmen, welcher Art und Provenienz dieses auch sei. Insofern bezeichnet er lediglich einen Gegensatz zu toten Dingen, normalerweise zu Sachen, aber auch zu gestorbenen Lebewesen, deren Subsumtion unter den Begriff „Sache“ ein moralisches Problem sein kann: Durch die Unterscheidung von „Leichnam“ und „Kadaver“ hält die Sprache die zwischen Mensch und Tier über den Tod hinaus aufrecht. „Mischwesen“ lassen sich allerdings in keine dieser Rubriken einordnen. Der Vorteil dieses Wortes liegt in seiner Unbestimmtheit, da er weder über die Elemente noch über deren Mischungsverhältnis Substantielles aussagt. „Mischwesen“ ist ein Verlegenheitsbegriff, der Mischungen von Mensch oder Tier und technischem Material, von Menschen mit tierischem Material, von Tieren mit menschlichem Material oder von entsprechenden In-vitro-Mischungen jederart Mischungsverhältnis bezeichnen kann. Als Mischwesen könnte auch ein technisierter Mensch, ein im Wortsinn „l’homme machine“, genannt werden, doch ist das bisher nicht üblich. Spezifiziert werden Mischwesen erst durch zusätzliche kommunikative Konventionen. So meint das Wort heute meistens irgendwie humanisierte Tiere. Andere Mixturen bedürfen anderer Zuschreibungen. Die Un211 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin v. 4. 4. 1997, online: http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/164.htm. 212 Vgl. unten zu V. 3.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

bestimmtheit hat den Nachteil, dass der Ausdruck „Mischwesen“ keine evidenten Konsequenzen indiziert. Wer ihn heute verwendet, denkt weder an den seit dem 17. Jahrhundert bekannten „Mischmasch“ für „confusio“ noch an Immermanns Frage an einen jungen Mann, was er sei: „wo fängt bei dir die vernunft an, und wo hört die thorheit auf – mischwesen?“ 213

7. Technisierungen: Cyborgs

Die einst herausfordernde Metapher „l’homme machine“, die an dem 17. Jahrhundert bekannte Automaten erinnerte und das im 18. Jahrhundert diskutierte tierhaft mechanische Instinktwesen des Menschen persiflierte, erfuhr im 20. Jahrhundert eine sprunghafte Entwicklung. Jetzt wurde der Mensch mechanisch und elektronisch aufgerüstet: anfangs altmodisch, um seine Gebrechen aufzufangen, später mit dem Ziel, sein Mängelwesen den veränderten Umweltbedingungen und Forschungsintentionen anzupassen. Die Neuerungen konnten an Jahrhunderte lang gewachsene symbiotische Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen anknüpfen: Maschinen als Werkzeuge, als Lebenshilfen und als Optimierungsmittel. Zwar mieden Kommentatoren dieser Vorgänge Begriffe wie „Maschinenmensch“, weil er den natürlichen Menschen zu entmenschlichen und zu einem Teil der sie bewegenden Maschinen zu degradieren schien. Wem fielen nicht Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ von 1936 ein, in dem der Fließbandarbeiter den Tücken des Objektes erliegt? Werden dagegen behinderte Menschen maschinell in den Stand der Bewegungs- und Lebensfähigkeit gesetzt, gilt das keineswegs als Metamorphose zu einem „Maschinenwesen“. Die moralische Wahrnehmung erfasst hier offenbar wesentliche Unterschiede. Natur-, unfall- oder kriegsbedingt Behinderten wurde schon immer auf mechanisch-technische Weise, etwa durch Geh-, Seh213

Zitate aus Grimm, Deutsches Wörterbuch.

7. Technisierungen: Cyborgs

93

oder Hörprothesen, geholfen. Im Jahre 1967 gelang dem Kapstadter Herzchirurgen Christian Barnard die erste erfolgreiche kurative Herztransplantation von Mensch zu Mensch, ein damals spektakulär inszeniertes Ereignis, das umgehend technikindustrielle Assoziationen zum Ersatzteillager Mensch erweckte. 214 Moderne Medizintechnologien haben das Heilungsprogramm um Transplantationen von Schweineherzklappen und um Implantationen von Herzschrittmacher diversifiziert. Wer sich an Hobbes’ Theorie von den Interaktionen zwischen Herz und Gehirn erinnert, kann die physischen Vorgänge metaphysisch überhöhen. Bei den Londoner Paralympics 2012 war zu beobachten, dass eine höhere Technisierung Behinderter höhere Leistungen ermöglichen und einer Leistungsgesellschaft daher ohne weiteres einleuchten. Maschinen können sogar Hirntode oder Komatöse am Leben erhalten. Gehirnforschern dient die Metapher vom Maschinenmenschen häufig zur Erklärung ihrer neurologischen Zweifel an der Willensfreiheit. „Gehirne sind Maschinen“, lautet die Gegenthese, und überhaupt sei der Mensch „eine Maschine, die ihre Lebenswelt kollektiv erfindet“, sei es durch kulturelle 215, sei es einfach durch neuronale 216 Prozesse. Doch das Neuartige an diesen Methoden besteht weniger darin, einen Funktionsersatz zur (Über-)Lebenshilfe zu leisten, als vielmehr in dem Umstand, dass die Physis des Menschen – des Patienten bzw. des seinen Aufgaben selbst nicht mehr gewachsenen Mängelwesens – Objekt außengeleiteter mechanischer und elektronischer Einwirkungen geworden ist.

214

Der Spiegel 22. Jg. Nr. 3 v. 15. 1. 1968 titelte: „Verpflanztes Herz – Ersatzteile für den Menschen“. 215 So der Psychologe Prinz im Gespräch mit Schnabel / Assheuer, in: Die Zeit Nr. 24 v. 10. 6. 2010, online: http://www.zeit.de/2010/24/Prinz -Interview/komplettansicht. 216 Roth / Prinz (Hg.), Kopfarbeit, pass. (verschiedene Beiträge); Wolf Singer, Keiner kann anders, als er ist (2004), in: www.faz.net/aktuell/ Feuilleton/hirnforschung-keiner-kann-anders-als-er-ist-1147780.html.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

Fortschrittsorientiert ist heute statt von „l’homme machine“ von „Cyborg“ die Rede. Als künstlich geschaffene „Mischwesen“ sind „Cyborgs“ Geschwister der „Chimbrids“. Das in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Kontext der Weltraumforschung aufgekommene Akronym „Cyborg“ bezeichnet Mischwesen aus biologischen Organismen und Maschinen: „cybernetic organism“. Durch die Verbindung des Menschen mit mechanischen, elektronischen und biochemischen Funktionselementen wird ein Mensch-Maschine-System erzeugt, das symbiotisch selbstregulativ funktionieren soll, sei es, um ausgefallene Lebensfunktionen zu ersetzen, sei es, um den Menschen an gesteigerte Umweltanforderungen – etwa im Weltraum oder im Cyber-Krieg – anzupassen. Der Begriff „Cyborg“ spielt die damit verbundenen ethischen Probleme in bewährter Weise semantisch auf eine technisch-naturwissenschaftliche Ebene herunter. Andererseits beflügelt er Visionen einer „posthumanen“ Gesellschaft ebenso wie Entwürfe einer „Cyborg-Anthropologie“ 217, die über die in der Aufklärung entstandenen Konzepte zur Entwicklung des Mängelwesens Mensch weit hinausreichen. Obwohl die gentechnologischen und elektrobiologischen Experimente und Unternehmungen von den beteiligten Forschern und von Dritten durchaus kritisch verfolgt werden, erwecken Cyborgs, Design- und andere Kunst- und Maschinenmenschen bisher noch nicht den existentiellen Argwohn, den Chimbrids hervorrufen. Während menschliche Cyborgs die Gesellschaft umstandslos beleben, provozieren die als technische Klone konstruierten menschenähnlichen Androiden Abwehrraktionen. Sie sollen, wie berichtet wird 218, ihrer technischen Fähigkeiten 217

Irrgang, Posthumanes Menschsein?: Künstliche Intelligenz, Cyberspace Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert, 2005; Heiliger / Müller, Der Cyborg und die Frage nach dem Menschen. Kritische Überlegungen zum „homo arte emendatus correctus“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik Bd. 12 (2007), S. 21 ff. 218 Lenzen, in: FAZ Nr. 278 v. 28. 11. 2012, S. 25.

7. Technisierungen: Cyborgs

95

und Ähnlichkeiten mit dem Menschen wegen nicht nur Erstaunen und Bewunderung hervorrufen, sondern Abscheu und Angstreaktionen, wenn sie zu menschlich aussehen und auftreten. Man spricht von dem Paradox eines „uncanny valley“, eines unheimlichen Tales, das freilich, wenn durchschritten, wieder zu größerer Akzeptanz durch die Beobachter führe. Bis dahin verwirrten, wie man vermutete, ungewisse Steigerungen des Anthromorphismus das Selbstverständnis des beobachtenden Menschen. 219 Während Chimbrids ethische Bedenken auch bei denen erfahren, die ihnen als Dienstleistern pragmatisch gewogen sind, beleben Cyborgs die Gesellschaft offenbar kritik- und umstandslos Noch braucht nicht ernsthaft befürchtet zu werden, dass diese „Maschinenmenschen“ zu aktiven Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft aufrücken oder aus eigenem Antrieb die soziale Position ihrer Erzeuger einnehmen, obwohl auch dererlei Fiktionen zukunfstorientierte Leser und Filminteressierte bereits in ihren Bann schlagen. Fiktiv und strategisch beflügeln Cyborgs bereits Spekulationen über tüchtigere, nützlichere Menschenwesen und die davon profitierende Forschung.

219 Begriff u. Beschreibung des Phänomens zuerst durch den japanischen Roboterforscher Masahiro Mori in: Energy 1970, 7(4), S. 33 ff., online: www.androidscience.com/theuncannyvalley/proceedings2005/uncan nyvalley.html; zur psychischen Integration transplantierter Organe als eingebildete Integration des Spenders vgl. Lewin / Neukom / Boothe / Boehler / Goetzmann, Der Andere in mir, in: Psyche Jg. 67 (2013), S. 120 ff. – Das Thema „einverleibtes fremdes Leben“ fiktionalisierte der Schriftsteller David Wagner in der Erzählung „Leben“, die die bei ihm erfolgte Lebertransplantation zum Gegenstand hat.

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III. Entgrenzungen der Spezies Mensch

8. Zwischenbilanz

Morphologisch haben die Typen „Mischwesen“, „Maschinenmenschen“ und „Menschmaschinen“ nicht so viele Gemeinsamkeiten, dass sie eine Gruppe ausmachen könnten. Was sie eint, ist ihre Entstehung: Sie sind Werke von Menschen, Werke menschlicher Technologien und Techniken, die auf die biologische Evolution von Naturgegebenheiten einwirken. Es bedarf schon einer gehörigen Abstraktion, um diese Modifikationen des Menschen und menschlicher Lebewesen mit Darwins Theorie der Anpassung der Arten in Einklang zu bringen. Darwin dachte in Kategorien einer externen Umwelt und des Überlebens in ihr durch „natürliche“ Auslese. Davon sind die natur- und ingenieurwissenschaftlichen Konstrukte weit entfernt. Der moderne homo faber evolutioniert sich selbst. Dadurch tragen die verschiedenen Modifikationen dazu bei, das Bild vom natürlich entstandenen und naturgemäß funktionierenden Menschen zu dekonstruieren, es in wesentliche und unwesentliche Bestandteile aufzulösen und Entgrenzungen der Spezies Mensch – allmählich – plausibel erscheinen zu lassen. Im 19. Jahrhundert hätte man manche dieser Konstruktionen als Entfremdungen gegeißelt. Doch in der Gegenwart beanspruchen und erwecken die dekonstruktiv-konstruktiven Prozesse den Anschein der Normalität, weil sie vom homo faber beherrscht zu werden scheinen und den Phänotyp Mensch im wesentlichen unberührt lassen. Doch was macht diesen Phänotyp aus? Und warum erwecken manche künstlichen Mischwesen Abscheu, Angst und Sorge vor Bildverfälschungen?

IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb Angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte und der mit ihnen verbundenen medizinischen Fortschrittshoffnungen einerseits und andererseits der forschungstypischen Ungewissheiten über genetische, physiologische und psychologische Folgen gentechnologischer Experimente ist es schwierig, Entgrenzungen der Spezies Mensch zu klassifizieren. Das Wesen der Mischwesen ist ein Prozess. Die Suche nach deren „moralischem Status“ tastet sich daher durch Bewertungen ihrer Herstellung und Behandlung, deren Produkte noch kein Profil haben.

1. Unternehmen „Ethik“

Wer vom „moralischen Status“ spricht, hat einen Statusinhaber im Visier und eine Moral zur Hand. Mischwesen entziehen sich jedoch dieser Sicht. Begriffsgemäß diversifizieren sie sich in die Varietäten ihrer Mischungen. Es bedarf also einer flexiblen, anpassungsfähigen Moral, um die Varietäten in das starre Schema Mensch – Tier einzuordnen: statt einer Moral also eine Skala moralischer Kriterien: Aus der „moralischen Bedeutung“ und aus „moralisch relevanten Eigenschaften“ wie Handlungsfähigkeit und Selbstbewusstsein wird dann auf den „moralischen Status“ geschlossen. 220 Welche Kriterien welcher Moral? Der Begriff dient zu Beschreibungen und / oder Bewertungen. Folgt man seiner Herleitung von „mores“ im Sinne von Sitte, beschreibt er die in ei220

Vgl. etwa Badura-Lotter / Düwell, Chimären, S. 87 ff.

98

IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

ner Gemeinschaft entwickelten und gewohnheitsmäßig für gut befundenen Verhalten, eventuell samt deren Folgen. Doch den Zustand neu entstehender Entitäten, wie Mischwesen es sind, kann er so nicht erfassen. Ähnlich ergeht es einer Moral, die wie eine Ethik Imperative für richtiges Verhalten formuliert und zu dessen Rechtfertigung dient. Dabei wird häufig von einer Verantwortungsethik gesprochen, um Werte- und Güterabwägungen auf den Begriff zu bringen. 221 Vornehmlich betrifft aber auch sie die Tätigkeiten, aus denen Mischwesen hervorgehen, nicht aber deren Status und Sein und ebenso wenig deren soziale Funktionen. Ob man der formalen Ethik von Kants kategorischem Imperativ oder der Wertethik eines Scheler folgt: Erst aufgrund der Akzeptanz oder Inakzeptanz der gentechnologischen und technischen Produktionsverfahren, -ziele und -ergebnisse kann man mittelbar darauf schließen, ob und gegebenenfalls wie ein Mischwesen in die Gemeinschaft passt, in der es entsteht und lebt, oder deren Konsistenz stört. In einer pluralistischen Gesellschaft sind allseits anerkannte Maßstäbe für dieses Unternehmen selten zu erwarten und tatsächlich nicht vorhanden. In ihr konkurrieren plurale und wechselnde Wertvorstellungen und Zweckbestimmungen um Akzeptanz und Leitungskompetenz. Philosophen, die der Vernunft einer kommunizierenden Öffentlichkeit vertrauen, sprechen sich daher für eine Diskursethik aus. Ein offener Diskurs kennt sein Ergebnis prinzipiell nicht. Er sollte, streng genommen, jedes Ergebnis akzeptieren, nicht unbedingt als ein richtiges, aber jedenfalls als eines, dem derzeit nicht mehr ernsthaft widersprochen wird. Ein solcher Diskurs erinnert an das afrikanische Palaver – der Begriff soll hier nicht diskriminieren –, dessen Qualität im horizontalen, nichthierarchischen Vollzug gesehen wird. Der Vorteil des europäischen Diskurses wird

221 So etwa Engels, Xenotransplantation, in: Weber / HoyningenHuene, S. 45 ff.; die Autorin hegt starke Zweifel an der Vertretbarkeit von Xenotransplantationen wegen des Infektrisikos u. einer eventuellen Zweiklassenmedizin. Vgl. näherhin unten zu IV. 8.

1. Unternehmen „Ethik“

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ähnlich beschrieben: Im Vergleich mit einer formalen, axiomatischen Ethik oder einer autonomen Wertethik sei der Diskurs demokratietheoretisch vorzuziehen. 222 Dennoch ist es erstaunlich, wie vielstimmig die vorparlamentarische Diskussion geführt wird. Man könnte meinen, dass die Vielstimmigkeit eher Ungewissheiten als Gewissheiten und stärker eine Lücke als Diskussionsergebnisse zu zeitigen imstande ist. Wer die Demokratie als verfassungsrechtlich geordnetes System im Sinne des zweiten Wortteils als ein Entscheidungssystem begreift, steht vor dem Problem, ob deren Verfahren zur Festigung einer Moral eingerichtet sind oder ob die Organisation der Willens- und Entscheidungsbildung über hinreichende Selbstverständlichkeiten verfügen, die den Diskurs vor Beliebigkeiten bewahren. Die politische Praxis hat diesen Ansatz institutionalisiert und dadurch limitiert. Sie behilft sich mit sogenannten Ethik-Kommissionen, die, angeregt durch den „Nuremberg Code“ von 1947 und die Helsinki- Toronto-Deklaration der Generalversammlung des Weltärztebundes von 1964/1975 223, aufblühten Die Verlautbarungen solcher Kommissionen signalisieren je nach deren Zusammensetzung und Verfahren einen gewissen fachlich repräsentativen common sense. So richten sie sich an die – hauptsächlich mediale und institutionalisierte – Öffentlichkeit zur Meinungsbildung und an die Repräsentanten des Volkes zu deren Gewissensbildung in der Erwartung, dass sich dort ethische Standards einprägen – angesichts der abstrakten und komplizierten Probleme ein schwieriges, jedenfalls unaufhörliches Unternehmen. Unter den zahlreichen Stellungnahmen zum Thema „Mischwesen“ ragen die fast zeitgleich entstandenen der britischen Academy of Medical Science vom Juli 2011 und des Deut-

222

Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 11, 56 ff. Dazu Deutsch, in: NJW 1981, S. 614 ff. – Die erste nationale Ethikkommission soll durch Mitterand 1983 in Frankreich eingerichtet worden sein: Maio,, Die französische nationale Ethikkommission, S. 292. 223

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

schen Ethikrates vom September 2011 hervor. 224 Die beiden Stellungnahmen ergingen zwar unter verschiedenen Rechtsregimen und setzten unterschiedliche Themenschwerpunkte, hoben aber übereinstimmend erwartete und erhoffte medizinische Fortschritte hervor. Ihre besondere Fürsorge galt dem Schutz der beanspruchten Tiere. Ihre Vorzugserwägungen hatten aber die Gesundheit der Menschen im Sinn. Im Ergebnis warnten beide Institutionen zwar vor unabsehbaren, gravierenden Überschreitungen der Artgrenzen und ermahnten zur Rücksicht auf Primaten, hielten der Forschung aber die Zukunft pragmatisch frei, indem sie die riskantesten Manöver der Gentechnologien genehmigungspflichtig zu machen vorschlugen. Die Folge: Das vor judikativen Urteilen vorläufig letzte Wort haben Fachbürokratien. Unbewältigte ethische Probleme wurden weiteren Diskussionen; Skeptiker könnten auch sagen: dem Zeitgeist und Lobbyaktivitäten, überantwortet.

2. „Britische“ Ethik

In Großbritannien wurden und werden ethische Maßstäbe im Wechselspiel von Praxis und Legislation flexibel entfaltet. Die Gesetzgebung reagierte auf Forschungsfortschritte; sie statuierte Verbote, verband diese aber mit Erlaubnisvorbehalten, so dass Nutzen versprechende Vorhaben auch durchgeführt werden können. Nicht Verbote, sondern Regulative sollten die Genforschung ethisch im Zaum halten. Das Science and Tech224

The Academy of Medical Science, Animals, pass., Deutscher Ethikrat, Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung. Stellungnahme v. 27. 9. 2011, online: www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-mensch-tier-mischw esen-in-der-Forschung.pdf. Eine Problemübersicht über den „moralischen Status“ u. „ethische Aspekte“ von Chimären und Hybriden publizierten Badura-Lotter / Düwell, Chimären, pass., in Zusammenhang mit der an dem Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht der Universitäten Mannheim u. Heidelberg im Rahmen des 6. Forschungsprogramms der Europäischen Union 2002 – 2006 durchgeführten Projekts „Chimbrids“.

2. „Britische“ Ethik

101

nology Committee des britischen House of Commons konstatierte in seinem „Governmental proposals for the regulation of hybrid and chimera embryos“ von 2007: „The creation of human-animal chimera or hybrid embryos, and specifically cytoplasmic hybrid embryos, is necessary for research“; die Wesen dürften aber nicht länger als 14 Tage leben; zur ethischen Einstimmung der Öffentlichkeit sollten „education and discussion“ stattfinden; die Regierung sollte ihrerseits für eine Mischung von Regulierung, Konzession und Kontrolle sorgen. 225 Wissenschaftler schlugen eine Optimierung der Gesetzgebung derart vor, dass das Gesetzgebungsverfahren durch eine direkte Mitwirkung von Forschern optimiert oder quasi-legislative Institutionen eingerichtet würden, die ethische Regeln gesetzesvertretend erstellen. 226 Das Gutachten der britischen Academy of Medical Science vom Juli 2011 war speziell dem Thema „Animals containing human material“ gewidmet. Es lieferte eine informative Übersicht über Begriffskonventionen, laufende Experimente und deren ethische Implikationen. Bemerkenswerterweise referierte es auch immer wieder erhobene oder vermutete kritische Reaktionen eines befragten, freilich ausgesuchten Publikums. Derartige Befragungen sind ein interessantes Phänomen moderner, kurzfristiger Legitimation. Kürzlich wurde berichtet, dass eine Online-Umfrage der „Human Fertilisation and Embryology Authority“ die Zustimmung von beinahe zweitausend Teilnehmern zu Keimbahntherapien ergeben habe und dass die Behörde diesem Votum entsprechen werde, weil der Nutzen die Risiken überwiege. 227 In ihrem Gutachten verhielt die Academy sich nicht lange zuvor noch vorsichtiger. Das Fazit vermerkte 225 House of Commons. Science and Technology Committee, Governments proposals for the Regulation of hybrid and chimera embryos. Fifth Report of Session 2006 – 07, 2007. 226 Ogbogu / Caulfield / Green, From Human Embryos to Interspecies Creations, S. 235: die Verfasser plädieren ausdrücklich für die Förderung der Keimzellenforschung in Kanada. 227 Müller-Jung, in: FAZ Nr. 68 v. 21. 3. 2013, S. 25.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

zunächst verwundert, dass Tiere schon jahrelang mit menschlichen Materialien ausgestattet wurden, ohne dass die Öffentlichkeit ethische Bedenken geäußert habe. Die stellte nun die Academy zur Diskussion: „However extensive sections of DNA can be manipulated, and methods using human stem cells to replace parts of tissue, or even whole organs, are becoming increasingly refined. By enabling progressively more extensive, and precise, substitution of human material in animals, these approaches may soon enable us to modify animals to an extend that might challenge social, ethical, or regulatory boundaries.“ Als besonders kritisch wurden Manipulationen von Tiergehirnen durch Zellen von Menschen und Implantationen funktionierender, reproduktiver Zellen von Menschen in Tiere angesehen. Dass derartige Experimente kritisch sind und deshalb nicht nur besonders hoher Rechtfertigungsgründe bedürften, sondern auch strenger Kontrollen, darauf hatten bereits die US-amerikanischen National Academies in ihren seit 2005 fortgeschriebenen „Reports“ über die Verwendung menschlicher Stammzellen in Tieren hingewiesen. 228 Wie diese Akademien räumte auch die britische ein, man wisse noch zu wenig über eventuelle Modifikationen der beanspruchten Tierorgane. Doch weder hier noch dort sah man einen Anlass, die Forschung anzuhalten. Immerhin erwog das britische Gutachten Folgen: „The predominant question is whether populating an animal’s brain with human-derived cells could result in the production of an animal with human ‚cognitive capacity‘ (i.e. some aspects of ‚consciousness‘, ‚awareness‘ or ‚sentience‘) or ‚human-like‘ behavioural capabilities.“ Noch sei das kein praktisches, sondern ein ethisches Problem. In der Öffentlichkeit würden jedenfalls, wie die britische Academy, sich aus der Schusslinie zurückziehend, referierte, drei Bereiche als 228 The National Academies ‚Human Embryonic Stem Cell Research‘ Advisory Committee; Final Report and 2010 Amendments to The National Academies’‚Guidelines for Human Embryonic Stem Cell Research‘, 2010 (im Anschluss an die Reports 2005, 2007, 2008), online: www.nap .edu/openbook.php?record_id=129238pages=1.

3. „Deutsche“ Ethik

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besonders sensibel identifiziert: Gehirn- und Reproduktionsexperimente sowie Aspekte der Menschenähnlichkeit, sei es dem Aussehen, sei es dem Verhalten nach. Der Leser kann hinter diesen Fragen eine Sorge um Dekonstruktionen des gewohnten Menschenbildes vermuten; ein Thema war das nicht.

3. „Deutsche“ Ethik

Nachdem eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages im Jahre 1987 „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ allgemein auszuloten versucht hatte, thematisierte das Gutachten des Deutschen Ethikrates über „Mischwesen“ das spezielle Problemfeld der Xenotransplantationen inter species. 229 Es griff weiter aus als das der britischen Academy, meinte aber bei aller Liberalität der Diskussion, sich an den Grenzmarken orientieren zu sollen, die das Bundesverfassungsgericht und eine Reihe von Gesetzen gezogen hatten. Dennoch simulieren die Nähe des Deutschen Ethikrates zum Deutschen Bundestag und seine nationale Ausflaggung eine repräsentativ institutionalisierte Einheit relevanter Ethiken. Gemessen an den hier interessierenden Stellungnahmen, funktioniert der Ethikrat jedoch als eine fach- und parteipolitisch interdisziplinäre Institution der Interessenangleichung. Der Deutsche Ethikrat soll nämlich „die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft“ verfolgen, „die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben“, und ist entsprechend bunt besetzt: Er besteht aus 26 Mitgliedern, „die naturwissenschaft229 Deutscher Ethikrat (Hg.), Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung. Stellungnahme v. 27. 9. 2011, online: www.ethikrat.org/dateien/ pdf/stellungnahme-mensch-tier-mischwesen-in-der-forschung.pdf.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

liche, medizinische, theologische, philosophische, ethische, soziale, ökonomische und rechtliche Belange in besonderer Weise repräsentieren“. Vom Bundestag eingerichtet, ist der Ethikrat parlamentarisch mittelbar vom Volk legitimiert und idealiter dessen Vorstellungen verbunden. Insofern seine Mitglieder mit „Belangen“ private und öffentliche Interessen – die Bereiche sind nicht abgegrenzt – „repräsentieren“ sollen, bezieht ihre Mitwirkung sich dagegen maßgeblich auf eine inhaltlich durch Interessen und Interessenträger geprägte Legitimation und Orientierung. Von den Mitgliedern wird also eine Rochade ihrer repräsentativen Rollen erwartet. Dabei zeugen Auftrag und Zusammensetzung des Ethikrates von einer gewissen Skepsis gegenüber der Forschung, die das einstige Vertrauen in den wissenschaftlichen Fortschritt ablöst und der abwägenden Reflexion überantwortet. Dass die Forschung sich selbst hinreichend legitimiert und das Streben nach Erkenntnis seinen Sinn in sich trägt 230, davon distanziert jene Skepsis sich. Sie erfasst auch die entsprechenden Technologien und Techniken. 231 Folgenbewertungen ergeben sich deshalb aus einer Mischung von Analysen und Abwägungen. Die Expertise über „Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung“ griff eine bereits seit einigen Jahren streitige Diskussion auf, die zunächst hauptsächlich den Tierschutz betraf. 232 Der Ethikrat ging davon aus, dass das „Selbstverständnis des Menschen“ durch die klare Trennung zwischen Mensch und Tier, also auch durch einen festen Begriff vom Menschen, geprägt sei; dies erschien ihm offenbar als Selbstverständlichkeit, die nicht näher begründet wurde. Sie geriet aber im Laufe der Darstellung in Untiefen, so dass der „moralische Status“ von 230

Blumenberg, Legitimität, S. 395. Dazu Grawert, Technischer Fortschritt in staatlicher Verantwortung, in: Listl / Schambeck, S. 457 ff. 232 Vgl. die Meinungsübersicht von Broßler, Ethische Probleme der Mensch-Tier-Beziehungen, S. 202 ff.: zur „Würde“ der Tiere; dazu auch Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 224; prononciert Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, S. 442. 231

3. „Deutsche“ Ethik

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Mischwesen nicht eindeutig bestimmt werden konnte. Der Sache nach konzentrierte die Stellungnahme sich auf die Übertragung menschlichen „Materials“ auf Tiere, und zwar in vitro und in vivo, so dass auch das „Tier“, ähnlich wie der Mensch, in seine pränatalen Entwicklungsstadien vordefiniert wurde. Dabei orientierte der Ethikrat sich stark an den Thesen des Bundesverfassungsgerichts 233 sowie an seinen eigenen Thesen zur Präimplantationsdiagnostik. 234 Die ihn interessierenden Varianten der Mischwesenbildung beschrieb er umsichtig und systematisierte sie in einer tabellarische Übersicht 235, um so den „moralischen“ – hauptsächlich legalen – Status der Phänomene zu erfassen. Dabei ging es zunächst um den Rechtsstatus des Menschen, danach um den des Tieres. Die bekannte, allerdings andere Traditionen übersehende Auffassung, der Mensch definiere sich als „Nicht-Tier“, wurde zitiert, aber nicht übernommen, so dass die Kategorien unvermittelt nebeneinander stehen. Ein besonderer Status wurde den Primaten wegen gewisser emotionaler, kognitiver und sozialer Ähnlichkeiten mit dem Menschen zuerkannt; auch das kann als tradierter und aktueller common sense verbucht werden. 236 Doch schließlich überstand der Mensch auch dieses appeasement als „einzig moralfähiges Wesen“, anthropozentrisch „in dem Sinne“ beurteilt, „dass er allein Subjekt seines Handelns“ ist. Menschenaffen galten dagegen – ohne Rücksicht darauf, wie sie oder Elefanten oder Ameisen oder Krähen sich füreinander einsetzen, – „nicht als verantwortungsfähige Subjekte (moral agents), sondern als Adressaten morali-

233

Vgl. unten zu V. 3. Deutscher Ethikrat (Hg.) Präimplantationsdiagnostik. Stellungnahme v. 8. 3. 2011, S. 41 f., 44 f., online: www.ethikrat.org/dateien/pdf/ stellungnahme-praeimplantationsdiagnostik.pdf. 235 Ethikrat, Mischwesen, S. 17; ähnlich schon Badura-Lotter / Düwell, Chimären, S. 91 ff. 236 Vgl. The Academy of Medical Science, Animals, S. 47 ff., sowie den Final Report der US-amerikanischen National Academies. 234

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

scher Schutzpflichten des Menschen („moral patients“)“. 237 Da Mischwesen sich dieser Kategorisierung entzogen, wurde einerseits erwogen, sie „argumentativ“ einer „dichotome(n) Zuordnung“ zu unterwerfen, und andererseits wurde ein Arrangement von „Kriterien“ zur „ethischen“ Charakterisierung entworfen. 238 Etliche dieser Kriterien waren seit Jahrhunderten diskutiert worden und traten jetzt als Vorstellungen interessierter Wissenschaften und Institutionen auf den Plan einer offenen Konkurrenz. Sie vermitteln den Eindruck, dass „der“ Mensch ein komplexes und komplex begriffenes Wesen, aber nicht in einen Rahmen zu zwingen ist. Obwohl die Ethik, die der Deutsche Ethikrat den Mischwesen angedeihen ließ, Anpassungen an veränderte Lagen und Einstellungen sowie an neue wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse keineswegs kategorisch ausschließt, obwohl sie Festlegungen moralischer Status vermeidet und zu Interessenund Güterabwägungen neigt, verhält sie sich doch im wesentlichen konservativ und vorsichtig gegenüber unabsehbaren Risiken der angewandten Forschung. Sie hält sich im Wesentlichen in dem Rahmen, den die restriktive deutsche Biogesetzgebung und die bisherige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts vorgezeichnet haben. Im Vergleich mit der apostrophierten „britischen Ethik“ verhält sie sich zwar nicht fundamentalistisch, aber weniger pragmatisch; man kann auch sagen: weniger risikofreudig; man könnte auch sagen: weniger gesundheits- und medizinökonomisch.

4. Relativierungen

Einer bewährten Tradition folgend, hob der Deutsche Ethikrat schließlich die „besondere Rolle“ des Menschen in der Evolution hervor. Das entspricht ganz der Deutungshoheit die237 238

Ethikrat, Mischwesen, S. 65 ff. Ethikrat, Mischwesen, S. 69 ff.

4. Relativierungen

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ser Spezies. Denn wie man weiß, prägen im Regietheater die Regisseure die Rollen. So wies der Ethikrat dem Menschen eine Würde zu, die auch dessen „Artzugehörigkeit“ als „Bestandteil“ einschloss, und fügte dem eine Warnung hinzu: Die Erzeugung von „Mensch-Tier-Mischwesen, die in erheblicherem Umfang als existierende Tiere eine Annäherung an typisch menschliche Befähigungen zeigten, würde diese kulturell verankerte gattungsbezogene Basis unseres Verständnisses von Menschenwürde infrage stellen. 239 Diese These erscheint wie ein finales Bekenntnis, das seine Legitimation dadurch bewirkt, dass es eine objektive Typik mit einer kollektiven Kulturtradition und einem aktuellen Wir-Gefühl zwanglos verbindet. Die Warnung ist bemerkenswert, da sie sich um das Verständnis der Würde, also einer Qualität, nicht um deren Subjekt sorgte. Verbunden, bilden Menschheit und Menschenwürde eine kognitive Einheit. In der Menschenwürde des einzelnen und jedermanns versammeln sich demnach eine wahrscheinlich toxinomische „Artzugehörigkeit“ der abstrakten Spezies, die systemrelevant ist und dem Menschen schlechthin seinen Platz in der kategorisierten Natur reserviert, und andererseits ein historisch ambivalentes Kulturverständnis als „Basis“, die sich auf die „Gattung“ bezieht. Dieser Begriff taucht auch in manchen Grundgesetz-Kommentaren auf, um Menschen schlechthin zu bezeichnen; die Gattung „homo“ reicht dann vom homo habilis über den homo erectus bis zum homo sapiens sapiens, dem die Menschheit, wie Archäologen versichern, erst ihre Kulturentwicklung verdankte, während dessen Vorfahren engere Verbindungen zu Menschenaffen unterhielten. Dass die im 19. Jahrhundert noch strengen Artgrenzen mittlerweile durch DNA-Übergänge relativiert wurden, wurde vom Ethikrat noch nicht berücksichtigt. Die argumentative Verbindung der Menschen mit „dem“ Gattungswesen Mensch und der Menschheit schlechthin ist freilich nicht unproblematisch. Je stärker das Gattungswesen und die Menschheit betont werden, umso mehr 239

Ethikrat, Mischwesen, S. 90.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

verlieren die Individuen an Bedeutung. Die drei Begriffe laden gewissermaßen zu einem Dreibandenspiel mit Identitätskriterien ein; man kann das an den Menschenbildern der verschiedenen Wissenschaften, die sich mit „dem“ Menschen beschäftigen, und an den marktgängigen Anthropologien gut beobachten. Doch was beeinträchtigt eigentlich den „moralischen Status“ des Menschen, wenn er sich Tiere gentechnologisch ähnlicher macht? Dass er Menschenaffen am Personal Computer trainiert oder Papageien menschliche Sprache beibringt, hat bisher wohl ebenso wenig gestört wie die Sage, dass Wotan mit seinen Raben Hugin („Gedanke““) und Munin („Erinnerung“) sprach. Dennoch wollte der Ethikrat verhindern, dass Tiere den „typisch menschlichen Befähigungen“ angenähert würden. Ähnlich sorgte sich auch die britische Academy of Medical Science. 240 Ungeachtet dessen, ob die sich „uns“ so nähernden Tiere dadurch Menschen werden, indizieren die ethischen Bedenken faustische Zweifel an der Beherrschung der eigenen Forschungskräfte. Dass die mit menschlichen Hirnfunktionen begabten Tiere Menschen überwältigen könnten, ist, soweit bekannt, erst in Science-fiction-Filmen zu erleben. Vermutlich löst die befürchtete „Annäherung“ die konventionellen Menschenbilder stärker emotional als rational auf. Aufgrund seiner Analyse relevanter „Befähigungen“ 241 gelangte der Ethikrat am Ende zu einer Art Relativitätstheorie: Die bei Tieren und Menschen vorkommenden Befähigungen seien bei letzteren „ungleich komplexer ausgeprägt und beruhen auf bewusster Reflexion“. Seine Überlegungen, Mischwesen nach Mischungsgraden in ein Einerseits–Andererseits einzuordnen 242, ergab manche Annäherungen, aber keine Klassi240

Vgl. oben zu IV. 2. Diese „Befähigungen“ haben mit den „Fähigkeiten“, auf die Nussbaum, Gerechtigkeit, ihre Menschen u. Tiere überwölbende Gerechtigkeitstheorie stützt, wenig gemeinsam; Nussbaum übersetzt Fähigkeiten in Bedürfnisse und Fürsorgepflichten. 242 Ethikrat, Mischwesen, S. 79 ff.: Stichwort „Eingriffstiefe“. 241

4. Relativierungen

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fizierungen, so dass Mischwesen nach wie vor ohne das „kategorische Urteil“ Hegels auskommen müssen, die „Art“ existiere „einerseits in Einzelnen“ und sei andererseits in der Gattung „eine höhere Allgemeinheit“. 243 Statt das Subjekt der Menschenwürde zu definieren, vertrat der Ethikrat eine Verantwortungsethik, die er der Forschung empfahl, ohne die Produktion von Mischwesen definitiv zu missbilligen. Ähnlich wie die britische Academy of Medical Science lautet die Empfehlung: „Einbettung in einen interdisziplinären wissenschaftlichen und einen gesellschaftlichen Diskurs, mit dem Ziel, Grundlagen für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Forschung an Mischwesen zu schaffen“; ferner: Forschungsvorhaben vorläufig zu unterlassen, „bis ausreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein bestimmtes Niveau an gesellschaftlicher Sicherheit, Verträglichkeit, Schutz von Menschen und Umwelt gewährleistet werden kann“. 244 Die Feststellung des „moralischen Status“ von Mischwesen und deren systematische Einordnung wurden vertagt. An Hand einiger Beispielsfälle entwarf der Deutsche Ethikrat aber Muster ethischer Analysen, die den gentechnologischen Fortschritten topisch-pragmatisch folgen. Sie zeugten von dem Bemühen, vielversprechende Forschungen nicht aufzuhalten, aber Unerträgliches zu domestizieren. Ähnlich der britischen Academy of Medical Science sah der Ethikrat Gefahrenpotentiale vor allem in Repruktionsverfahren, die Speziesgrenzen überschreiten. Er empfahl daher ein gesetzliches Verbot der Übertragung von Mischwesen in eine fremdartige Gebärmutter. Die ethische Zulässigkeit der Herstellung und Nutzung von Cybriden blieb dagegen streitig. Zurückhaltend, aber nicht vollends negativ wurde die Produktion von Mensch-Tier-Hirnchimären bewertet. Die Einfügung menschlichen Erbmaterials in den Erbgang von Primaten sollte nur erfolgen, wenn sie „hochrangig“ nütz243 Hegel, Wissenschaft der Logik II, 2. Teil Abschnitt 2 Ca, in: Werkausgabe, Bd. 6, S. 335. 244 Ethikrat, Mischwesen, S. 94.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

ten und „alternativlos“ seien; 245 derart qualifizierte Forschungsziele sollten prävalent gelten. Doch wer, wenn nicht die involvierte Forschung, könnte darüber entscheiden? Und welche Hochrangigkeit reichte an die Rechtsgüter Leben und Würde heran, wenn das Leben als verfassungsrechtlicher „Höchstwert“ und als „vitale Basis“ der „Menschenwürde“ gilt 246, die ihrerseits ein konkurrenzlos „höchster Rechtswert“ und „Fundament aller Grundrechte“ ist? 247 Alternativlosigkeit ist in der modischen Sprache der Politik bekanntlich ein Argument, das weitere Diskussionen ausschließen soll. Im ethischen Diskurs wirkt es nicht überzeugend.

5. Medizinethiken

Ein Vergleich der vom Deutschen Ethikrat angestellten Erwägungen mit den Reports der britischen Academy of Medical Science und der US-amerikanischen Akademien ergibt einen losen Zusammenhang weitläufig grundständiger Übereinstimmungen, die eine kulturgeschichtliche und wertethische Transnationalität für sich in Anspruch nehmen können. Man lernt aus dem Vergleich einen Menschen kennen, der sich selbst in gewohnten Bildern reflektiert und sich zugleich ungewissen wissenschaftlichen Experimenten öffnet. Dieser Zwiespalt schlägt sich in den Diskursen über ethische Selbstbestätigungen, Rechtfertigungen und Orientierungen nieder. Sie spiegeln eine Pluralität von Legitimationsinteressen. Wie im Bereich der Finanz- und Wirtschaftsökonomie kann man hinsichtlich der Bio- und Gentechnologie beobachten, dass die Beschleunigung des Wandels die Suche nach Orientierung intensiviert, aber nicht befriedigt. So haben denn wie in der 245

Ethikrat, Mischwesen, S. 119 ff. BVerfGE 1, S. 39, 42; 49, S. 24, 53; später abgemildert: BVerfGE 110, S. 141, 163: „hohe(s) Gewicht“. 247 BVerfGE 12, S. 45, 53; 107, S. 275, 284. 246

5. Medizinethiken

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Wirtschaft auch in der Biologie und Medizin laufende Ethikkonzepte Konjunktur, und eine Reihe in- und ausländischer Ethikzeitschriften publizieren ethische Erwägungen und Lösungen am laufenden Band. Dispersen Axiomen, Werten und Vorhaben verpflichtet, stehen sie im Wettbewerb um Grenzziehungen und Wegweisungen. Nicht jede angebotene Ethik kommt sine ira et studio daher. Da eine kostenträchtige Forschung auf finanzielle Unterstützung und die Gesundheitsindustrie auf Gewinne angewiesen sind und da die Krankenkassen finanzielle Abgründe vermeiden wollen, sind Ethiken und Lobbyarbeit sich nicht fremd. Wenn es zutrifft, was von Betroffenen häufig beklagt wird, dass sogenannte seltene Krankheiten die Forschung nicht wirklich interessieren, weil der intellektuelle und finanzielle Forschungsaufwand sich nicht lohnt, dann wäre das ein Beispiel für eine hippokratisch-ökonomisch differenziert selektionierende Medizinethik: Die wenigen Menschen könnten dann nur auf eine Ethik der Palliativmedizin hoffen. In Deutschland nahm der Deutsche Bundestag die Medizinund Bioethik wiederholt in seine eigene Regie, um die Übersicht zu behalten und zum demokratischen „Dialog“ 248 mit der Öffentlichkeit gerüstet zu sein. Ähnlich gingen die Parlamente in Frankreich und Großbritannien vor. Neben den vom Bundestag organisierten fachübergreifenden Kommissionen agieren fachspezifische, berufsständische Gremien, die sich durch ihre Sachkunde und -nähe legitimieren. In den vergangenen Jahren haben besonders die Fächer Medizin- und Bioethik an Attraktivität gewonnen. Sie bilden den Überbau einschlägiger Forschungen, die sich selbst ihrer Maßstäbe und Grenzen vergewissern will. Bemerkenswert war die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zu Xenotransplantationen von Tieren auf den Menschen, die lange vor der des Deut248 So der Schlussbericht der vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ v. 14. 5. 2002, BT-Drs- 14/9020, S. 7.

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schen Ethikrates publiziert worden war. Sie schilderte hauptsächlich die medizinischen und infektiologischen Probleme und sodann „ethische Aspekte“. Dabei bezog sie sich auf das in Deutschland legalisierte „integrative Konzept“ von Menschenwürde und Tierschutz und folgerte, dass gentechnologische Versuche an und mit Tieren sowie deren „Opfer“ zur Erhaltung, Rettung, Förderung und zum Schutz menschlichen Lebens, falls „unabweisbar“ und aufgrund einer Kosten-NutzenAnalyse und -Abwägung verhältnismäßig, ethisch gerechtfertigt seien. Obwohl Xenotransplantationen derzeit noch riskant seien, wurden entsprechende Forschungsaktivitäten befürwortet. 249 Die Transplantationsmedizin und die Gentechnologien beziehen – wie übrigens auch die Medizintechnik, die Menschen „technisiert“, – ihre Legitimation vornehmlich aus der verfassungsrechtlich gewährleisteten Forschungsfreiheit und inhaltlich aus den Zwecken, die sie erreichen wollen. Rousseau hätte diese Zwecke wohl in seine Idee von einer der Selbsterhaltung der Spezies nützlichen Solidarität eingepasst. Doch ist die Verflechtung von Forschungsehrgeiz und Medizinindustrie heute etwas komplizierter. Im Kern legitimiert dieser Funktionsverbund sich aber gemeinsam durch die Zwecke: Heilung von Kranken, Eindämmung von Krankheiten, Reproduktionshilfen und – ethisch weniger, ökonomisch aber stärker gewichtig – Reduzierung der finanziellen Krankheits- und Haushaltslasten sowie zunehmend auch – kritisch beäugt, weil dies vom hippokratischen Eid abführe, – zwecks Erfüllung von Wünschen zur Optimierung von Reproduktionen, „enhancement“ und Körperstyling. 250 Die Argumente bilden einen Komplex von Individual- und Gemeinwohlbelangen, die sich wechselseitig stüt249 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Stellungnahme, Ziff. 7 A. 250 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Stellungnahme, Ziff. 43; Ziff. 43; The Academy of Medical Science, S. 59 ff. – Zur Kritik einer wunschgerechten Medizin z. B. Eibach, Biochemische und chirurgische Eingriff, S. 225 ff.

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zen und gleichwohl erhebliche Zielkonflikte hervorrufen. 251 Zu ihrer Abwägung steht ein ebenfalls komplexer Verbund von Interessen einerseits, Menschen- und Grundrechten andererseits bereit, der zu Abwägungen zwingt: Da das Bundesverfassungsgericht den Kern der Art. 1 GG „nachfolgenden Grundrechte“, also auch des Rechts auf Leben und der Freiheit der Forschung, der uneinschränkbaren und unabwägbaren Menschenwürde implantiert hat 252, ist eine Forschung, die dem Leben des Menschen, speziell der Verbesserung von Lebenschancen zu dienen geltend macht, mit dem Schutz schon existierenden Lebens abzuwägen, wenn ihr Gegenstand schützenswertes menschliches oder tierisches Leben ist. Gehört dazu das menschliche Genom? Gehören dazu auch menschliche reproduktionsfähige Gehirnzellen im Kopf einer Maus? Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass Forschung überhaupt und besonders die experimentelle Forschung zwar typischerweise Ziele und Theorien formulieren kann, effektive Erfolge aber sucht und zuweilen verfehlt. Die britische Academy of Medical Science sprach dieses Problem mehrfach deutlich an, allerdings um zu weiteren Experimenten anzuregen, während der Deutsche Ethikrat sich eher ethische Fortschritte erhoffte. Ein spezielles Feld biologisch-philosophischer Fachethik belegt neuestens die sogenannte Neuroethik. Vor kurzem noch auf der Suche nach ihrem Erkenntnisgegenstand 253, wissen neuroethische Spezialisten bereits, dass der rasante Fortschritt der Hirnforschung größere Veränderungen der Menschenbilder bewirken wird „als je zuvor“ und dass sie auf jeden Fall das christliche Menschenbild „unwiderruflich“ auflösen wird. Der Sache nach beschäftigt das Fach sich außer mit Erkenntnissen über Hirnfunktionen mit Einwirkungen auf das Gehirn durch Psychopharmaka und sonstigen Steuerungen des Bewusstseins,

251 252 253

Dazu umsichtig Kreß, Medizinische Ethik, S. 56 ff. BVerfGE 107, S. 275, 284. Marcus, Neuroethics: mapping the field.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

einschließlich eventueller Möglichkeiten in Kriegen 254, und den Folgen für das Selbstverständnis und das Bild vom Menschen. Eine neue „Neuroanthropologie“ ist geplant. Der Umwertung aller bisherigen Bilder gewiss, fragt sich ein Vertreter dieser Disziplin, wie der Mensch „in Wirklichkeit ist“ und wie der „Mensch der Zukunft“ sein „sollte“. 255 Das Vorhaben ist so vollmundig wie vage und hat deshalb manche Kritik erfahren. 256 Man könnte es als Produkt wissenschaftlicher Profilierung und eines Zeitgeistes der Spezialisierung verbuchen, zeigte es nicht auch, dass die modernen Naturwissenschaften dem Fassungsvermögen der Polis entgleiten und ihre Welt anscheinend nur noch dekonstruiert begriffen werden kann. Zwar können spezialisierte Fachethiken wie die der Neuroethik ihre Objekte kenntnisreich erfassen und beurteilen und so zur wissenschaftlichen Selbstdisziplinierung beitragen; doch dienen sie, auf sich gestellt, zugleich selbstreferentiellen Legitimationen und stimmen skeptisch, sofern sie fachliche Engführungen kaschieren. Bedenklich wird eine solche Ethik jedoch, wenn sie sich anheischig macht, den zukünftigen Menschen zu profilieren und zu managen: nicht schon deshalb, weil sie sich von alten Menschenbildern verabschiedet – ein solches Vorhaben hat Tradition und ließe sich unter die Meinungs- und Forschungsfreiheit subsumieren –, sondern weil sie über Lebende autonom zu verfügen beansprucht.

6. Christliche Menschenbilder

Die Menschenbilder der christlichen Kirchen gehen traditionsgemäß vom „ganzen Menschen“ und von der Gottesebenbildlichkeit aus. Das ist ein Mensch, bei dem Körper und 254 Dazu Committee on Opportunities in Neuroscience for Future Army Application. 255 Metzinger, Unterwegs zu einem neuen Menschenbild, in: Gehirn & Geist 11 (2005), S. 50 ff. (dort die Zitate). 256 Julia Wolf, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 115 (2007), S. 223 ff.

6. Christliche Menschenbilder

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Geist eine Schöpfungs- und Erlebniseinheit bilden und der so aussieht, wie gläubige Menschen ihren Gott nach ihrem Bilde geformt haben. Montaigne spottete nicht, als er seine Überlegungen zu diesem Thema zusammenfasste: „Kurz, baut der Mensch sich die Gottheit samt ihren Wesenszügen zusammen“. 257 Man kann dieses Spiegelbild auf vielen Gemälden in Kirchen und Museen erkennen. Dieser Mensch stammt aus der Genesis und hat heute Mühe, sich gegen die Vorstellungen der Naturwissenschaften und gegen den gesellschaftlichen Zeitgeist zu behaupten. Aber er hat Anwälte in den beiden christlichen Kirchen, die in Deutschland eingerichtet sind. So widersetzten einige Mitglieder des Ethikrates, die diesen Kirchen verbunden sind, sich dessen liberaler Einstellung zu eventuell riskanten Forschungen und widersprachen der Herstellung von Cybriden sowie „echten Mischwesen“. Sie relativierten dadurch Vorschläge des Ethikrates und dessen Repräsentationsanspruch. 258 Ihr Widerspruch entsprach im Grunde der retardierenden Haltung ihrer Kirchen, also einer Haltung, die nicht auf ein voraussetzungslos offenes Zukunftsdenken angelegt, sondern den Maßgaben von Autoritäten verbunden ist: der Autorität der Bibel und je nach der Hierarchisierung der Kirchen, authentischen oder argumentativen Interpretationen. Ähnlich begegnete Ernst-Wolfgang Böckenförde Argumenten, die zur Säkularisierung und Relativierung der Menschenwürde neigten. Er betonte, dass transzendentale Begründungen des Menschseins, wie sie sich „etwa aus der Gottesebenbildlich257

Montaigne, Essais, S. 265 ff.: Apologie für Raymond Sebond. So der frühere brandenburgische Landesbischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, in: Ethikrat, Mischwesen, S. 122; der frühere thüringische Landesbischof Christoph Kähler, a. a. O., sowie in: epd = online. http://www.epd.de/print/40181; Schrockenhoff, a. a. O., S. 94 der Stellungnahme sowie im Interview mit „domradio“, online: http://www .domradio.de/website/elementPrint.asp?id=76731. Als in Großbritannien ein Mensch-Kuh-Mischwesen entstand, hatte der – frühere – Erzbischof von St. Andrews u. Edinburgh, Kardinal Keith O’Brien, Bedenken geäußert: vgl. http://www.welt.de/wissenschaft/article1863011/Mischwesen -aus-Mensch-und-Tier-erschaffen. 258

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

keit“ ergäben, eine „größere Tragkraft“ vermittelten, weil sie auf „tiefere Wurzeln“ zurückgriffen, nämlich auf solche axiomatischer Valenz. 259 Axiomatik ist ein Überzeugungsverfahren der beweislosen, eventuell auf unbestrittene Autoritäten zurückgreifenden Positivierung. Kant schöpfte dazu aus der reinen Vernunft. Einer Glaubensgemeinschaft bietet das Verfahren der Axiomatisierung ebenso wie mathematischen Theorien einen allen Zweifeln entrückten Halt. Andersdenkende, Atheisten, Vertreter eines gesellschaftlichen Pluralismus vermag er aber nicht zu fesseln. Sie werden fragen, wie der Gläubige sich als Ebenbild Gottes erfährt: durch Intuition, die in die Seele metaphysisch eindringt? durch die Vorstellung des historischen Christus, der als Mittler erscheint, einerseits Gottes Sohn heißt 260 andererseits, als Marias Sohn verkündigt, „Sohn des Höchsten genannt“ wird 261 und sich selbst Gottes, aber auch „des Menschen Sohn“ nennt 262 ? der den unsichtbaren Gott verkörpert oder dessen Körper eine menschliche Seele verewigt? Man könnte aber auch, diesseits theologischer Spekulationen, annehmen, dass „Gottesebenbildlichkeit“ die Metapher für ein ideales reflexives Bild des Menschen angesichts seiner selbst ist, das diesem seine vergangenen Ursprünge vergegenwärtigt und die Gattung stabilisiert. Dann reflektierte es zugleich das Denkmodell einer „ewigen“ Natur, deren Evolution das Menschenbild nicht angetastet – und das als Abstraktum von historisch Lebenden nicht angetastet werden darf. Man kann sich das alles gewiss vorstellen, doch benötigt jedes metaphysische Ideal eine vorrationale Überzeugungskraft. Die Metapher kann aber auch einfach funktional dazu beitragen, das Menschenbild durch Ideen von gutem Wesen und Verhalten anzureichern. In-vitro-Mischwesen schließt sie jedoch denknotwendig aus,

259

Böckenförde, Was zum Menschsein gehören soll, in: FAZ Nr 234 v. 8. 10. 2011, S. L38. 260 Matthäus 10, 33; 16, 16 f.; 17, 5; Lukas 9, 35; 22, 70. 261 Lukas 1, 31 f. 262 Lukas 22, 22; 23, 34.

6. Christliche Menschenbilder

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sollten Intuition und Ideal auf einem menschlich-historischen Körper bestehen. Streng genommen, lässt der biblische Schöpfungsbericht es erst gar nicht zu, dass Mischwesen entstehen. Dennoch sind sie inzwischen von dieser Welt, und die in Westeuropa eingerichteten christlichen Kirchen reagieren darauf mit unterschiedlicher Offenheit. Zwar stimmen sie in ihren institutionalisierten Grundüberzeugungen überein, gehen aber bei den Ausdeutungen auseinander, wenn gentechnologische und medizinische Fortschritte zugunsten der jeweils Lebenden in Frage stehen. Katholiken können sich heute an der „Instruktion Dignitas Personae“ orientieren, die die Kongregation für die Glaubenslehre anhand der „Prinzipien der christlichen Anthropologie“ verfasst und publiziert hat: Die Instruktion schreibt jedem Menschen, und zwar „von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod“, die Würde einer „Person“ zu und brandmarkt deshalb die Produktion von Hybriden als „Beleidigung der Menschenwürde“, weil „genetische Elemente von Mensch und Tier vermischt werden und so die spezifische Identität des Menschen beeinträchtigt wird“. Das Verdikt repetiert bekannte Vorbehalte gegen Mischungen überhaupt. Aber was heißt spezifisch? Identifizierte die Kongregation eine Gruppe von Individuen in der biblisch vorgegebenen Abstammungsfolge? oder einen bestimmten Typus biologisch konstanter Konsistenz? Die britische Academy of Medical Science konnte eine solche spezifische Identität nicht feststellen, und moderne Biophilosophen halten wie gesagt, starre Artgrenzen überhaupt für fragwürdig. Doch ging es der Kongregation wohl nicht um DNA-Strukturen, sondern um die „ganzheitliche“ Identität des Gattungswesens „Mensch“ 263, die sie im „Licht der Vernunft und des Glaubens“ bewahrt wissen wollte. 264 Hat der Mensch es demnach 263

Die betont in ähnlichem Sinne auch Isensee, Würde, § 87 Rn. 196. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion Dignitas Personae. Über einige Fragen der Bioethik v. 8. 12. 2008, online: http://www .vatikan.va/roman_curia/congregation/cfaith/documents ..., S. 1, 2, 13. 264

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

mit einer dreipoligen Identität zu tun, die ihm eventuell Übergänge in differenzierte Existenzsysteme zugänglich macht und unterschiedliche Nähebeziehungen ermöglicht? Papst Benedikt XVI. hatte bereits in seiner Regensburger Rede darauf bestanden, dass zwischen dem „ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft“ eine „Analogie“ bestehe. Er forderte eine „Ausweitung des Vernunftbegriffs“ zu einer Vernunft, die sich nicht auf Experimente beschränkt, sondern biblisch vermittelten Glaubenseinsichten öffnet. 265 Dass die Kongregation zuerst die Vernunft und danach den Glauben zur Wahrheitsfindung aufbot, ist wohl nicht als Hierarchie zu verstehen. Man könnte sonst glauben, nicht das scholastische „credo ut intelligam“, sondern der zum Schweigen verurteilte Petrus Abaelard hätte die Feder geführt. Der Papst hatte sich dagegen von Kant distanziert, dessen Aufklärung er Grundlosigkeit vorwarf. Dem widersprach der damalige EKD-Vorsitzende Bischof Huber aus Brandenburg. Er würdigte den Philosophen Kant aus Königsberg als „protestantischen Denker“ und entfaltete unter Berufung auf Luther und Schleiermacher die evangelische „Vernunft im Kontext des Glaubens“, die eine „aufgeklärte“ und „endliche“ Vernunft“ sei, die ihre Grenzen im Glauben habe. 266 Dennoch erfolgte dieses Denken selbstverständlich nicht voraussetzungslos neugierig. Es widersprach einer Philosophie und Medizin, die den SchöpZu dem Verbund von Vernunft u. Glaube vgl. die unterschiedlichen Interpretation einerseits von Papst Benedikt XVI., in: Enzyklika Spe salvi v. 30. 11. 2007, online: www.vatikan.va/holy-father/benedict_XVI/ encyclicals/documents/hf_ben-XVI_enc_20071130_spe_salvi_ge.html; dagegen Landesbischof Wolfgang Huber, Glaube und Vernunft, FAZ v. 31. 10. 2006, online: www.faz.net/themenarchiv/2.1198/religion-im-21 -jahrhundert-glaube-und-vernunft-1382161.html. 265 Papst Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Ansprache in Regensburg 12. 9. 2006, online: epub.uniregensburg.de/406/1/Papstre deneu.pdf; auch Luther hatte den Menschen durch dessen Vernunft charakterisiert (vgl. zu Fn. 47). 266 Bischof Wolfgang Huber, Glaube und Vernunft, in: FAZ v. 31. 10. 2006.

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fungsglauben nicht mehr ernst genug nähme. Mehrere Verlautbarungen der Evangelischen Kirchen in Deutschland dehnten diese Kritik auf Gentechnologien aus, weil sie menschliches Leben manipulierten. Als „Ebenbild Gottes und Kreatur“ nehme der Mensch eine „Sonderstellung unter den Kreaturen“ ein; seine „Einzigkeit“ mache seine unteilbare Menschenwürde aus, die auch das „ungeborene menschliche Leben“ seit seinem „frühesten Entwicklungsstadium“ besitze, denn schon in der Vereinigung von Eizelle und Samenzelle sei eine „künftige Person“ angelegt, „Person“ verstanden als von Gott mit Menschenwürde ausgestattetes Wesen. Die EKD sah daher schon in einem in vitro entstandenen Embryo ein „menschliches Wesen mit eigener Identität und eigenem Wert“. Gen-Transfers und andere Eingriffe in Keimbahnzellen verwarf sie ebenso wie gezielte Eingriffe in menschliche Embryonen und deren eventuelle Vernichtung. 267 Eine spätere Denkschrift vermisste „anthropologisch begründete ethische Maßstäbe“ für ein Bildungsprogramm, betonte aber die „christliche Anthropologie“, die den „ganzen“ Menschen erfasse. Diesen zeichne als „Grundwert“ die Menschenwürde und die Fähigkeit aus, nach sich selbst zu fragen und sein Denken und Tun bewusst zu steuern. 268 Diese vergemeinschaftete Stellungnahme der EKD steckte allerdings nicht das gesamte Spektrum evangelischer Theologien ab. Der Ethiker Kreß, Lehrstuhlinhaber an einer EvangelischTheologischen Fakultät, zweifelte mit philosophie- und medizinhistorischen Gründen daran, dass die Potentialitätstheorie, die die EKD vertrat, in einer pluralistischen Gesellschaft allgemein konsensfähig sei, und stritt – mit ausgiebigen Gesund267 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Zur Achtung vor dem Leben – Maßstäbe für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin, 1987, mit Anhang: Von der Würde des Lebens, 1985, online: www.ekd.de/EKD -Texte/achtungvordemleben_1987.html. 268 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Denkschrift: Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, online: www.ekd.de/EKD-Texte/denkschrift_154 _vorwort.html.

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heitsargumenten – für die Entlassung des frühen extrakorporalen und pränidativen Embryos aus der Kategorie „Mensch“. In diesem Zustand fehle dem Embryo die „leiblich-seelischgeistige Einheit oder Individualität“ des – „wahren“? – Menschen, so dass er der Reproduktionsmedizin und Stammzellenforschung zur Verfügung gestellt werden könne und, durch Lockerung der einschränkenden Gesetze, auch solle. 269 Mit demselben Telos plädierte der evangelische Theologe Honnefelder in Form einer rhetorischen Frage, warum man die neuen biotechnologischen Möglichkeiten des „enhancement“ zur Steigerung des Menschseins nicht ausnutzen solle, jedenfalls bis zu einer Nichtschadensgrenze, die nicht genauer bestimmt wird, aber an die Verfassungsvorbehalte des Art. 2 Abs. 1 GG erinnert. Ansonsten ermunterte der Theologe zur Selbstbegrenzung im moralischen Diskurs. Auch andere evangelisch-theologisch inspirierte Überlegungen ergeben ähnlich bewegliche Konzepte und Wenn-Dann-Konditionierungen. 270 Zwar spricht die evangelisch-theologische Wissenschaft, die mit der zitierten Vernunft argumentiert, nicht mit einer Stimme. Aber man kann eine gewisse Übereinstimmung darin erkennen, dass sie sich cum grano salis gegenüber den Forschungszielen der Biowissenschaften aufgeschlossen, man könnte auch sagen: liberaler, soziologisch-säkularisierter verhält; sie reicht die Probleme wohl auch deshalb freimütiger an den allgemeinen Diskurs der – nationalen – Gesellschaft weiter, so Erwägungen gebend und nehmend. Dennoch: Beide Kirchen behandeln den Menschen als ein privilegiertes Geschöpf, das eine als solche geschaffene Spezies repräsentiert, und zugleich als ein historisch einmaliges Individuum, in dem sich die Specieseigenschaften und -fähigkeiten ausprägen, das aber – vor allem aus evangelischer Sicht – zur 269

Kreß, Medizinethik, S. 167 f. Honnefelder, Perfektionierung des Menschen? in: Fürst / Mieth; ähnlich Dietmar Mieth, Der (gehirnlose) steuerbare Mensch. Ethische Aspekte, ebd., S. 85 ff. 270

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Entfaltung seiner „Person“ zu einem einmaligen „Subjekt“ persönlich aufgerufen ist. Was der Mensch ist und welche Stellung er im Rahmen der Schöpfung einnimmt, wissen beide Kirchen trotz ihrer unterschiedlichen Dogmatik. Macharten wie Mischwesen haben in diesem System offenbar keinen Platz. So jedenfalls könnte das Votum der Synode der EKD verstanden werden, die heutigen Möglichkeiten des Menschen bedürften einer Begrenzung; schon gegen die extrakorporale Befruchtung sprächen „gewichtige Gründe“. 271

7. Tierethik

Zur Erklärung von Menschenbildern können Tiere naturgemäß nichts Wesentliches beitragen. Seit jeher stehen sie auf der anderen Seite, von der „der“ Mensch seinen definitorischen Abstand zu nehmen trachtet. Wenn das deutsche Tierschutzgesetz sie „Mitgeschöpfe“ nennt, richtet es den Blick auf einen über Mensch und Tier stehenden Schöpfer, heiße der Gott oder Natur, stellt die moralischen Status der beiden Lebewesen aber nicht auf eine Ebene. Diese traditionelle Distanz schwindet jedoch in dem Maße, indem „der“ Mensch sich nicht mehr nur sozial und ökonomisch, sondern auch biologisch als ein besonderes Tier versteht und andererseits mit Tieren verbindet, so die Mitschöpfung selbst aktiv und integrativ betreibend. Heute sind Tiere dem Menschen nicht mehr nur als Haustiere oder Schlachtvieh vertraut oder als Bestandteile seiner Umwelt interessant. Mit humanem Material versehen, nehmen sie auch vom Menschen abgeleitete und diesem dienende Funktionen wahr, während andererseits tierisches Material Menschen zur Aufrechterhaltung ihrer physiologischen, mittelbar auch psychologischen Lebensfunktionen dient. Im Rahmen medizinischer Forschungen werden Tiere insbesondere dann beansprucht, wenn Experimente am Menschen 271

Synode der EKD, Zur Achtung.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

nicht zulässig sind und als unmoralisch gelten. So werden etwa Mäusen menschliche Krebszellen implantiert, um deren Wachstum beobachten und Gegenmaßnahmen erproben zu können; Schweine werden als Organreserven für Menschen gezüchtet; zahlreiche weitere Beispiele können belegen: Die Tiere dienen den Menschen nicht nur zur Ernährung, Freude oder durch ihre körperlichen Fähigkeiten, sondern auch gentechnologisch. Sie brauchen dazu, anders als menschliche Versuchspersonen, nicht um Erlaubnis gefragt zu werden. Die Erlaubnis zu kritischen Tierversuchen erteilen heute Gesetzgeber und Behörden, die so in die Rolle von Betreuern schlüpfen. Im Zuge einschlägiger Forschungen werden Tiere auch zu Mischwesen gezüchtet und entwickelt, in vitro und in vivo. In der Regel werden solche Wesen nach Gebrauch vernichtet; sie gelten als Fremdzweckexistenzen. Lässt diese Behandlung von Tieren Rückschlüsse auf den Menschen zu? Gewiss diese: Wer über andere bestimmt und verfügt, tritt als deren Herr auf. Dass Tiere dem Menschen untertan sind, lässt sich alttestamentarisch mit Genesis 1 und 2 begründen, und in Jägerkulturen war die Rollenverteilung unabdingbar gegeben. Doch die gentechnologischen Experimente treffen auf ein gewandeltes Umweltverständnis. Der moderne Tierschutz wird nicht mehr nur um der gegenwärtigen Menschen willen zu deren Nutzen betrieben, sondern auch der Umwelt und Tiere wegen. Im Grundgesetz kommt dieser Wandel in Art. 20a zum Ausdruck. Danach schützt der Staat die Tiere „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“. Das „auch“ indiziert, dass die anthropozentrisch aktuelle Perspektive nicht die allein maßgebende sein soll. Von der „Mitgeschöpf“-Rhetorik des Tierschutzgesetzes könnte man auf eine Gleichstellungsabsicht schließen, wären dem Gesetzgeber nicht doch noch Widerlager eingefallen. § 90a BGB versichert zwar: „Tiere sind keine Sachen“, fügt diesem Bekenntnis aber hinzu, dass auf sie die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, sofern das spezielle Tierschutzgesetz nichts anderes bestimmt. In Kommentaren wird

7. Tierethik

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diese Ordnung als eine „geläuterte“, zwar anthropozentrische und dennoch nicht rein utilitaristische gewürdigt. 272 Die Gesetzesanalogie zeigt an, dass gewisse substantielle Eigenheiten berücksichtigt werden sollen, weil der Gesetzgeber die Rechtsähnlichkeit vorschreibt. Welche könnten das sein? Während es bei Sachen vornehmlich um den Schutz des Eigentums, also um Wirtschaftswerte, geht, normiert das Tierschutzgesetz eine „Verantwortung für das Tier als Mitgeschöpf“ dahin, dass dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen sind und dass einem Tier „ohne vernünftigen Grund“ keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden dürfen. 273 Die Vorschrift ist Ausdruck einer auch altruistischen Verantwortungsethik. Sie spiegelt sich ebenso in dem Report der britischen Academy of Medical Science wie in der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates. Beide Institutionen mahnen an, die – inzwischen anerkannte – Leidensfähigkeit von Tieren zu respektieren. Nicht als Subjekte, sondern als Betreute werden Tiere demnach behandelt. Doch der britische Report wies über diese Differenzierung hinaus, indem er Jeremy Bentham’s programmatische Fragen nach der Annäherung des Rechtsstatus der Tiere an den der Menschen beifällig zitierte: „What else is it that should trace the insuperable line? Is it the faculty of reason. or, perhaps, the faculty of discourse? But a full-grown horse or dog is beyond comparison a more rational, as well as a more conversable animal, than an infant of a day, or a week, or even a month, old. But suppose the case were otherwise, what would it avail? the question is not, Can they respond? nor, Can they talk? but, Can they suffer?“ Die Akademiker hätten auch Montaigne oder Rivarol oder Schopenhauer als Vorläufer zitieren können, um die Traditionslinien ihres Urteils zu dokumentieren. Der freisinnige Montaigne räsonnierte: „Wenn ich nun ... auf Argumente stoße, die nachzuweisen suchen, wie eng die Ähnlichkeit zwischen 272 273

Vgl. u. a. Epiney, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 20a Rn. 24 ff. § 1 Tierschutzgesetz i. d. F. v. 18. 5. 2006 (BGBl.I S. 1206).

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

uns und den Tieren sei, in welchem Ausmaß sie unsere größten Vorzüge teilen und wie berechtigt der Vergleich daher scheine, gebe ich wahrhaftig nicht mehr viel auf unsere Einbildung und entsage bereitwillig der Königsherrschaft, die man uns fälschlicherweise über die anderen Geschöpfe zuschreibt. Aber auch wenn die Tiere keinen einzigen dieser Vorzüge besäßen, sind wir zu einer gewissen Achtung und allgemein menschlichen Haltung ihnen gegenüber verpflichtet.“ Und er erwiderte der traditionsreichen Selbststilisierung des Menschen durch den „aufrechten Gang“: „Haben nicht viele Tiere wie wir das Gesicht oben ..., so dass sie in ihrer normalen Haltung einen ebenso großen Teil von Himmel und Erde wahrnehmen wie der Mensch?“ 274 Schopenhauer verband – ganz modern – „die“ Tiere mit „dem“ Mensch durch das Band des anschauenden Verstandes und der im Wesentlichen gleichartigen, wenn auch nicht gleich intensiven Leidensfähigkeit. 275 Gleichwohl bestand die britische Academy unter Berufung auf Kant darauf, dass nur dem Menschen die Würde als besonderer Wert zustehe. 276 Diesen Einschätzungen nach, deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen hier nicht der Ort ist, ähneln Tiere – jedenfalls die, die der jeweils interessierte Philosoph ins Auge fasste – Menschen in manchen Qualitäten, die „der“ Mensch bis dato für sich allein reklamiert hatte: sinnliche Empfindungen, Leidensfähigkeit, sogar ein Verstand, der höher geschätzt wird als der bloß „automatisch“ funktionierende Instinkt und extemporierte, in274 Montaigne, Essais, Zitate: S. 216: Über die Grausamkeit, S. 240: Apologie für Raymond Sebond. Vgl. zum „aufrechten Gang“ die Studie von Bayertz. 275 Rivarol, Vom Menschen, S. 47 ff.; Schopenhauer, Die Welt, in: Werke, 1. Bd. 4. Buch § 56 (S. 366: Zitat): „Jeder wird leicht im Leben des Tieres das nämlich, nur schwächer, in verschiedenen Graden ausgedrückt wiederfinden und zur Genüge auch an der leidenden Tierheit sich überzeugen können, wie wesentlich alles Leben Leiden ist“ (kursiv im Original). 276 The Academy of Medical Science, S. 70; Jeremy Bentham (1748 – 1832), An introduction to the principles of morals and legislation, 1823, ch. 17 § 1 n. 4 (S. 283).

7. Tierethik

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novative Kombinationsfähigkeiten einschließt. Dass manche Tiere überdies eine dem „aufrechten Gang“ des Menschen ähnliche Haltung einnehmen, war phänomenologisch zwar schon seit der Entdeckung des „homo sylvestris“ bekannt, brachte ihnen nun aber auch eine dem Menschen nahe, wenn nicht gar ähnliche Wertschätzung ein. Pointiert gesagt: Aufgrund des Vergleichs sogenannter innerer Werte oder Qualitäten erkannte der Mensch sich wechselweise im Tier und entwickelte Vorstellungen reziproker Identitäten. Im deutschen Tierschutzgesetz haben Tiere allerdings keinen Verstand. Aber sie haben, wenn sie „höher entwickelt“, besonders wenn sie warmblütig und Wirbeltiere sind, ein „sinnesphysiologisches“ Sensorium, so dass sie Schmerzen und Leiden empfinden können. Wer in die Geschichte der Tierethik zurückblickt, weiß, dass diese Einsicht verhältnismäßig neu ist. Sie unterstellt Mensch und „höhere“ Tiere demselben Vergleichsmaßstab der Leidensfähigkeit – den übrigens der Materialist de La Mettrie auch für Pflanzen beanspruchte. Das ist ideengeschichtlich und ideologisch bemerkenswert, weil jene Einsicht metaphysische Assoziationen auslösen kann. Der leidende Mensch ist nicht nur eine christologische Metapher. Er gleicht sich vielmehr auch seinerseits dem Tier – teilweise – an: nicht infolge überlegenen Herrschaftswissens, sondern schicksalhaft. Physiologen interpretieren das selbstverständlich anders. Umso mehr relativieren Rückschlüsse auf das Menschenbild tradierte Vorstellungen vom Vernunftwesen Mensch, so dass konstruierte Mischwesen sich auf einer Mensch und Tier verbindenden Vergleichsebene bewegen könnten. Die US-amerikanische Rechtsphilosophin Nussbaum unternahm es, eine solche Vergleichsebene durch ihre sogenannte Fähigkeitstheorie herzustellen. Sie teilte Benthams Zuneigung zu Tieren, kritisierte aber dessen Utilitarismus. Sie thematisierte Fähigkeiten Behinderter, Fremder und eben auch von Tieren, um daraus Subjektstellungen zu schaffen, so dass die Betreffenden nicht nur als „Objekte des Mitgefühls“ in rechtlicher Abhängigkeit bleiben müssten. Intuitiv reklamierte sie für

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

Tiere eine der Würde des Menschen angenäherte Tierwürde. 277 Die Schweizerische Bundesverfassung hat dafür normativ gesorgt. Sie anerkennt die „Würde der Kreatur“ ausdrücklich und gebietet überdies, die „genetische Vielfalt der Tiere“ zu schützen 278, so dass sich daraus sogar eine Gattungsidentität entwickeln ließe, wie sie Kommentatoren des Art. 1 Abs. 1 GG für den Menschen behaupten. In der Schweiz erwuchs der beziehungsreiche Begriff Verantwortung bereits zu einem allgemeinen Verfassungsprinzip einer „Verantwortungspolitik“. 279 So weit wagte der Deutsche Ethikrat sich nicht vor. Auch er erwähnte Bentham, hielt sich dann aber an den vom geltenden Tierschutzgesetz vorgegebenen Rahmen, der dem Menschen eine „Treuhänderrolle“ zumute. Aufschlussreicher ist das Sondervotum des Ethikrates zugunsten der Primaten: Der Mensch „würde gegen seine Würde als Vernunftwesen und gegen die daraus resultierende Selbstachtung verstoßen, wenn er die besondere Verletzbarkeit von Menschenaffen und anderen Primaten missachten würde.“ Eine bemerkenswerte Dialektik! Ein Sprachpurist könnte die Vielfalt der „Würden“ und deren Träger bewundern. Bemerkenswert bleibt die Verbindung von Würde, Vernunft und Selbstachtung, weil sie das „Selbst“ extrovertiert spiegelt. Dennoch gab der Ethikrat neurowissenschaftlichen und psychiatrischen Experimenten mit Menschenaffen zugunsten hochrangiger Forschungsvorhaben ein ethisch grünes Licht. 280 Forschungsrelevante Tierversuche wurden inzwischen europaweit reglementiert. 281

277

Nussbaum, Gerechtigkeit, S. 442 ff., 459 ff. (zu Bentham; S. 477: Zitat). Schon zuvor hatte Regan in den USA sein voluminöses Plädoyer für Tierrechte u. Rechtsangleichungen publiziert: The Case for Animal Rights, 1983; zur Ideengeschichte aus kath.-theolog. Sicht: Baranzke, Würde der Kreatur? S. 53 ff.: zur Bonitas- und Dignitastradition; S. 122 ff.: zu Kant. 278 Art. 120 II Bundesverfassung; dazu Richter, Würde der Kreatur, in: ZaöRVR Bd. 67 (2007), S. 319 ff. 279 Haldemann, Verantwortung, S. 21 f. 280 Ethikrat, Mischwesen, S. 62 ff.

7. Tierethik

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Alle ethischen und gesetzgeberischen Aktivitäten veränderten freilich nicht die traditionell grundständigen Hierarchien. Menschen und Tiere wurden keineswegs zu einer bioethischen Einheit der „Geschöpfe“ gruppiert. Auch wenn von „Lebewesen“ die Rede ist, ist jedem Redner selbst ohne Kenntnis des hochmittelalterlichen Universalienstreites klar, dass diese façon de parler die Überordnung des Menschen einschließlich menschlicher Embryonen nicht aufhebt, gar nicht aufheben soll. Die Kommentatoren des Art. 20a GG weisen die Anmutung entschieden zurück, Tiere seien – im Sinne Kants – Zwecke an und für sich. Vielmehr betonen sie, dass der Mensch sie sich zum Zweck machen dürfe – moderat, wie es dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gemäß heißt. Die Verfügungsbefugnis des Menschen über Tiere wird prinzipiell nicht bezweifelt, weder als Macht-, noch als Moralposition. Die kategoriale Unterscheidung wird durch das sogenannte „integrative Konzept“ für Mensch-Tier-Beziehungen moralisch nicht in Frage gestellt. Der ethische Fortschritt der Jetztzeit besteht darin, dass die Empfindungs- und Leidensfähigkeit von Tieren berücksichtigt werden und eine gewisse, doch letztlich minderwertige Ähnlichkeit mit menschlichen Sensibilitäten anerkannt wird Die Rücksichtnahme fällt je nach der Bewertung der genetischen oder sozialen Nähe von Tieren zum Menschen unterschiedlich aus. Primaten, ausdrucksstärker: „non-human primates“, wird ein starker Schutzstatus zugebilligt, der aber an den der Menschen nicht heranreicht. Andererseits: Ungeziefer bleibt Ungeziefer. „Animals with human materials“ lassen sich in diese Kategorien dennoch schwer einordnen. Sind sie qualifizierte oder defekte Tiere oder dem Menschen ähnlich, wenn sie sich nur deutlich zu dessen Qualitäten hin entwickeln, oder wie der Maulesel eine Art sui generis? Wenn es zutrifft, dass Art. 20a 281 Directive 2010/63/EU of the Parliament and of the Council v. 22. 9. 2010 on the protection of animals used for scientific purposes (Official Journal of the EU L 276/3 v. 20. 10. 2012).

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

GG keinen Artenschutz kennt 282 und ihn dem Gesetzgeber überlässt, stünde neu aufgemischten Species verfassungsrechtlich nichts entgegen. Von den verschiedenen Tierethiken kann man keine passenden Antworten erwarten. Sie leisten Richtlinien für menschliches Verhalten in Bezug auf Tiere, bestimmen aber nicht deren moralischen Status. Indem Forschungsexperimente an und mit Tieren, sogar mit Primaten, legitimiert werden, geben die Ethikautoren immerhin zu erkennen, dass ihrer Ansicht nach eventuelle Mischwesen in abgestufter Weise zur menschlichen Umwelt gehören können. Wohlwollend könnte man daraus auf eine Zwitterstellung dieser Wesen zwischen Mensch und Tier schließen. Doch ob die konkurrierenden Ethiken jedem vom Ethikrat privilegierten „Vernunftwesen“ einleuchten, bleibt fraglich.

8. Verantwortungen

Von Äsop kennt jeder Fabelfreund die weise Maxime: „Quidquid agis prudenter agas et respice finem“: Die Folgen des Tuns bedenken, das haben heute die meisten Ethiken im Sinn, wenn sie von der Verantwortung der Forschung sprechen und vor allzu kühnen Experimenten warnen oder dazu ermuntern. Als ethische Maxime hat „Verantwortung“ heute wie viele ähnliche Begriffe eine komplexe Ideengeschichte hinter sich. Doch die Fragen, wer sich wofür und vor wem verantworten kann oder sollte, treffen auf diverse Antworten. Sie richten sich im Grunde danach, wodurch und wozu Verantwortung und Verantwortungsbeziehungen begründet werden. Verantwortung kann heteronom entstehen, etwa aufgrund eines Gesetzes, das Forscher dazu verpflichtet, „die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse mitzubedenken“. 283 Sie 282 So entschieden Kloepfer, in: Bonner Kommentar, Art. 20a Rn. 67 ff. (Stand: Februar 2012). 283 Zu dieser Norm des hessischen Universitätsgesetzes von 1970 BVerfGE 47, S. 327, 366 ff.

8. Verantwortungen

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kann auch kraft autonomer Selbstverpflichtung oder in sozialen Beziehungsgefügen zustande kommen, wie in einer um Wahrheit bemühten Wissenschaft 284, deren Freiheit nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „letztlich dem Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft“ dienen soll, oder in der relevanten politischen Gemeinschaft. 285 Sie wird dann vor dem eigenen Gewissen oder vor informellen Foren und letztlich vor der medialen Öffentlichkeit vollzogen. Das Bundesverfassungsgericht behandelte die Verantwortung der Forscher als persönliche Verantwortung, die dem Grundrecht der Forschungsfreiheit immanent sei, und bezog sie auf die demokatische Öffentlichkeit. Bei Lichte besehen, mutet dieser Bezug denkwürdig an, da jene Öffentlichkeit von den Methoden und Erkenntnissen der weltweit operierenden Naturwissenschaften wenig versteht und erst aufgeklärt werden soll – so wie sich ja auch der Bundestag durch den Deutschen Ethikrat oder das House of Commons von seinem sachkundigen Committee aufklären lassen. Für den Forscher bedeutet die Pflicht, Folgen mitzubedenken, seine Interessen mit anderen Sozial- und Rechtsgüter abzuwägen. Konsequenterweise sollte der verantwortungsbewusste Wissenschaftler seine Forschungen also unter Umständen zurückstellen. Selbstethisierungen und -disziplinierungen sind wissenschaftsimmanente Sanktionen, die durch andere Sanktionssysteme arrondiert werden. Daneben kennt das Grundgesetz institutionalisierte Verantwortungen. Art. 20a GG, dessen Normbereich Menschen mit tierischem Material und Tiere mit humanem Material zumindest streifen könnten, gibt dem Staat den Tierschutz „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“ auf; gemäß der Präambel des Grundgesetzes ist das Verfassungsprogramm insgesamt im „Bewusstsein“ der „Verantwortung vor Gott“ beschlossen worden. Zwar zielen die beiden Verantwortungen auf sehr Verschiedenes: hier auf den biblischen Schöpfer, der 284

BVerfGE 47, S. 327, 367. Zu dem staatsbürgerlichen „Menschenbild“ des BVerfG vgl. unten zu V. 2. 285

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

alles schon weiß, dort auf eine Nachkommenschaft, die noch nichts wissen kann. Doch stimmen sie darin überein, dass sie eine Instanz nennen, vor der die gegenwärtig Handelnden sich mental und transzendental zu verantworten haben und von der sie so ihrer Vorstellung nach zur Verantwortung gezogen werden können: So wie „Gott“ sind die „künftigen Generationen“ ferne, übersinnliche Autoritäten. Erwartete Rechtfertigungen können nur transpersonal via Gewissen erfolgen, sofern sie von irdischen Gesetzgebern nicht konkretisiert und positiviert werden. Falls das Wörtchen „auch“ in Art. 20a GG nicht nur, seiner syntaktischen Stellung gemäß, zu verantwortendes von verantwortungslosem Tun abgrenzen sollte, könnte man es auf andere Instanzen beziehen, die freilich im Dunkel der Norm verborgen bleiben. Vor wem sollte der „Staat“ sich verantworten, wenn er doch in Deutschland seit 1837 als vom Wechsel der Personen unabhängige Institution gilt und als demokratischer Staat in der Kontinuität seiner meinungsbildenden Mitglieder funktioniert 286? Wäre der zu Konkretisierungen ermächtigte, aktuelle Gesetzgeber mitgemeint, könnte man immerhin dessen Mitglieder an die Verantwortung erinnern, die sie gemäß Art. 38 Abs. 1 GG ihrem „Gewissen“ schulden, einem Gewissen, das allerdings nicht als „im sozialen Leben vorgegebene Wirklichkeit“ 287 wirkt, sondern in den Wirkzusammmenhang des parteienstaatlichen Parlamentarismus eingebunden, also amtsbezogen ist. In diesem Kontext kommt Max Webers „Verantwortungsethik“ zum Zuge. Er definierte sie als Gegensatz zur „Gesinnungsethik“, als er über „Politik als Beruf“ sprach. 288 Die

286 287

66 f.

Albrecht, Rezension, S. 4. So zu Art. 4 I GG Böckenförde, in: VVDStRL 28 (1970), S. 33 ff.,

288 Max Weber (1864 – 1920), Politik als Beruf, 1919, in: Gesamtausgabe, Bd. 17, S. 113 ff., 157 ff, 237.

8. Verantwortungen

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Alternative hatte bereits Scheler vorformuliert 289, doch Webers Definitionen werden Politikern noch heute vorgehalten: Wer verantwortlich handeln soll, setze nicht nur seine – vermeintlich – guten Absichten durch, sondern erwäge die Vertretbarkeit der Folgen anhand von Maßstäben, die ihm vorgegeben oder wichtig seien. Weber nannte solche Erwägungen zweckrational. Aktuelle Philosophien bevorzugen andere Begriffe wie deontologisch und utilitaristisch, ohne damit treffsicherer zu werden. 290 Doch eine Hierarchie der Werte oder Zwecke ergibt weder der ethische Appell, verantwortlich zu handeln, noch die Mahnung, Zwecke Motiven vorzuziehen. Ethiken sind keine Basis zur Bestimmung von Zwecken oder Werten. Sie folgen aus anerkennenswerten Intuitionen oder aus theonom oder sozialen oder rechtlichen Vorgaben, je nachdem aus welchen Systemen das Gewissen sich bildet, Ziele setzt oder Zwecke legitimiert, und in welchen Systemen Rechtfertigungen nachgefragt werden sowie Sanktionen zu gewärtigen sind. Als Hans Jonas eine „Ethik für die technologische Zivilisation“ zu ermitteln versuchte, nachdem Friedrich Georg Jünger die Technisierung kritisiert und Arnold Gehlen die „Seele im technischen Zeitalter“ gesucht hatte 291, vertrat er zwar eindrucksvoll eine in die Zukunft weisende Verantwortungsethik, begegnete aber gentechnologischen Manipulationen am Menschen eher hilflos mit einer bekenntnishaften „Ehrfurcht für das, was einst war“ und der klassischen Mahnung, „dass wir

289 Max Scheler (1874 – 1928), Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1913 / 1966, S. 32 ff. 290 Kritisch Spaemann, Wer hat wofür Verantwortung? In: Grenzen, S. 218 ff. 291 Technikkritik u. begleitende Wahrnehmungen „des“ technisierten Menschen nahmen in den dreißiger Jahren des 20. Jh. zu, dann wieder nach Ende des 2. Weltkrieges: vgl. u. a. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1922, 2. Bd. Kap. 5 II (S. 1190 ff.). Ernst Jünger, Der Arbeiter, 1932; Otto Veit, Die Tragik des technischen Zeitalters. Mensch und Maschine im 19. Jahrhundert, 1935; Friedrich Georg Jünger, Perfektion der Technik, 1946; Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, 1957.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

uns vor Irrwegen unserer Macht schützen (zum Beispiel vor Experimenten mit der menschlichen Konstitution)“. 292 Der Pointilismus dieser Äußerungen ist symptomatisch: Wie sollte man Vorgänge beurteilen können, die man nicht übersieht? Einer Forschungsethik, die auf das unbekannte Neue und auf gewählte visionären Zwecke setzt, kann eine solche konservative Vorsicht nicht imponieren, es sei denn, Rücksichtslosigkeiten würden nachträglich sanktioniert werden. Wenn Verantwortung bedeutet, Handlungsprozesse in eine Wechselbeziehung zwischen einem Initiator und einem Urteiler zu setzen: Auf welche materiellen Ziele oder Werte ließe eine technologische Zivilisation sich so einschwören, die unkalkulierbaren Zielen zueilt? Als Kant seinen formalen kategorischer Imperativ materiell auf den Menschen als Zweck an sich lenkte, konnte er sich dessen Figur, Status, Bestimmung und Eudämonie noch positiv vorstellen. Als dagegen Jonas warnte, der Mensch dürfe das „Wesen des Menschen in der Zukunft“ nicht ganz aufs Spiel setzen 293, kannte er da noch das Ganze dieses „Wesens“? Heutige Ethiken hüten sich vor endgültigen Festlegungen. Sie sind kritisch und raten pragmatisch. Sofern sie nicht einem unverrückbar vorgegebenen Menschenbild verbunden sind, wie es etwa die katholische Amtskirche ist, begnügen sie sich in der Regel damit, Prozesse der Technisierung und Gentechnologisierung von Menschen und Tieren unter ethischen Gesichtspunkten des Nutzens und der Akzeptanz abzuwägen. Das Bild und das „Wesen des Menschen“ wirken dabei als Hintergrundfolien, die Umrisse zeigen, deren Struktur man ahnt, aber nicht definitiv benennt. Der moralische Status von Mischwesen bleibt dabei ein Suchbild. Nun lässt Jonas’ Verantwortungsethik sich durchaus gliedern. Das „respice finem“ braucht ja nicht unbedingt die ganze Menschheit, die niemand kennt, das Ende der Welt, die nur Atrophysiker kennen, oder ähnliche Fernziele 292 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 392 f.; ähnlich die Mahnung a. a. O., S. 72, „das Erbe einer vorangegangenen Evolution zu wahren“. 293 Jonas, Verantwortung, S. 169 mit S. 80 f.

8. Verantwortungen

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ins Kalkül zu nehmen. Ein Forscher hat seine experimentellen Nahziele zu verantworten, zum Beispiel durch deren therapeutischen Höchstwert; er hat die verwendeten Forschungsmittel zu rechtfertigen, etwa durch die Alternativlosigkeit von Experimenten an Menschenaffen statt an Mäusen; er hat sein Forschungsverhalten zu verantworten, um etwa Experimente in vivo statt in vitro vorzunehmen, und er hat die Folgen seiner Experimente für den einzelnen Patienten und für dessen Nachkommenschaft zu bedenken und gegen denkbare, vorhersehbare Nachteile abzuwägen, wenn er in das Gehirn oder in die Keimbahn eingreift. Ist ihm zuzumuten, auch das Ganze und die Zukunft seiner Gesellschaft oder der Menschheit überhaupt zu bedenken? Welches Menschenbild, welches menschliche „Wesen“ und welches „Humanum“ zu kennen, mutet man ihm dann zu, wenn es diese Positionen als sakrosankte Essenz der Spezies zu beachten gilt? Kants Mensch, der sich Selbstzweck war, könnte, beim Wort genommen, wohl experimentelle Selbstversuche vor sich verantworten, müsste aber jeden Übergriff auf andere Lebewesen anders rechtfertigen, etwa durch deren Einwilligungen, die heutige Gesetze vorsehen; doch wechselte er dann die Bezugssysteme. Einwilligung bekundet persönliche Autonomie. Sie erfolgt im Bereich der Freiheit. Künftige Generationen können sie ebenso wenig leisten wie In-vitro-Wesen oder humanisierte Tiere. Statt auf Zwecke setzte Scheler auf Werte und entwickelte dazu ein ausgeklügeltes Wertesystem. Es enthielt mancherlei nützliche Gesichtspunkte, entzog sich allerdings kritischen Diskussionen durch den einleitenden Hinweis auf eine „intuitive Vorzugsevidenz“. 294 Evidenz, Intuition, Dezision: Sind es diese Medien, die der Verantwortungsethik Maßstäbe und Ziele vorgeben? Eine Verantwortung, die der materialen Verfassungsethik verpflichtet ist, hat sich in erster Linie an der Menschenwürde zu orientieren. Art. 1 Abs. 1 GG definiert „den“ Menschen, dessen 294

Scheler, Der Formalismus, S. 104 ff.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

Qualitäten und Eudämonien zwar nicht ausdrücklich. Aber die „Würde“ soll Individuen und deren Spezies wesenhaft qualifizieren. Sie bezeichnet ein objektivrechtliches, materiales Verfassungsprinzip, das neben dem Recht des Einzelnen gilt. Definiert die Menschenwürde ein Verhaltensziel? Der Norm entspricht es vielmehr, der Unantastbarkeit durch Unterlassungen Rechnung zu tragen. So gesehen, setzt die Menschenwürde nicht nur dem hoheitlichen Staat, sondern auch dem Forscher und dessen Wissenschaft eiserne 295 Grenzen, die zwar nicht das „Ganze“, aber doch Wesentliches der Spezies und ihrer Angehörigen umschließen – wenn es denn bekannt und anerkannt ist. Doch die Kenntnis des Menschen leidet unter dessen Entgrenzungen und Entartungen, und die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG ist umstritten. Seitdem Grundrechtsgüter wie Leben und Wissenschaft als Ausprägungen der Menschenwürde gehandhabt werden 296, entstehen überdies argumentative Kreiselbewegung, wie das Bundesverfassungsgericht sie mit seiner Wechselwirkungstheorie empfiehlt. 297 Trotz aller theoretischen Mühen treffen Rechtsdogmatik und Rechtsprechung sich im konkreten Fall eher in pragmatischen Nahzielen als in abstrakten Würdekonzepten oder Menschenbildern. Nicht viel anders verhalten sich die meisten Ethiken, die ihre Bewertungen philosophischen Erwägungen anvertrauen. In der Regel halten sie die Verantwortung ergebnisoffen und überantworten sie zeitnah akzeptierten, zuweilen Meinungsumfragen abgelauschten Einstellungen, zuweilen progressiv vorgebrachten Nahzielen. Zwar wird Nachhaltigkeit heute auch philosophisch thematisiert, doch sind die eventuell langfristigen Folgen gentechnologischer Manipulationen für den Menschen an sich oder die Menschheit trotz der Modernität jenes Begriffs schwer abzuschätzen. Es ist daher nicht erstaun295 „Eisern“, weil Eisen rostet, so wie neuerdings die Menschenwürde an den Ränder porös wird: vgl. dazu unten zu VI. 4., 5. 296 Vgl. dazu unten zu VI. 4., 5. 297 Dazu u. a. Merten, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: Merten / Papier, § 68 Rn. 80.

8. Verantwortungen

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lich, dass die meisten Blicke in die Zukunft bei der Einsicht anhalten, dass diese abzuwarten und bis zu ihrer Wirklichkeit Vorsicht zu üben ist. Wenn die Garantie der Würde unter dem Eindruck aktueller Zwecksetzungen Wechselwirkungen mit der Forschungsfreiheit ausgesetzt wird, gerät auch das Menschenbild in Bewegung. Es erfährt Geschichte. Dann ist auch immer erneut abzuwägen, wessen Leben vorrangig behandelt werden sollte: das Leben des Embryos, der in vitro gezüchtet und optimiert wurde, oder das desjenigen, der zur Implantation nicht mehr benötigt wird; oder: das Leben eines anencephalen Fötus im Verhältnis zu einem Tier mit humanem Gehirn, dessen Menschenqualität streitig werden könnte; oder: das Leben eines Patienten oder das Wesen des Menschen schlechthin: Sollte der auf Heilung wartende Patient zurücktreten, wenn die Entwicklung von Heilmitteln auf das Argument stößt, sie widerspreche dem Wesen des Menschen? Oder sollten Erbkrankheiten beim Nachwuchs riskiert werden, weil Keimbahneingriffe die „menschliche Konstitution“ veränderten? Was gilt als höchster Wert: der Mensch oder die Menschheit? Dem Geschichtsverlauf überlassen, werden diese Fragen mit veränderlichen Antworten zu rechnen haben. Als Jonas dem homo faber zur Selbstbeschränkung riet, stiftete er zwar ein oft repetiertes Stichwort, schickte sich aber wohl in die Offenheit der Zukunft. Aktuelle Verantwortungsethiken mahnen zu gewissenhaften Abwägungen der Mittel und Ziele, der Vorteile und Risiken, wobei in der Regel aktuelle Probleme vor zukünftigen rangieren. Von Verfassungs wegen haben Werte- und Güterabwägungen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu folgen, das in erster Linie Eingriffe des Staates in Grundrechtsbereiche im Zaum halten soll. Während die Breitenwirkung ethisch-philosophischer Konzepte auf anerkennenswerte Intuitionen und auf Überzeugungen angewiesen ist, kann das verfassungsrechtliche Prinzip sich auf ein professionalisiertes Argumentationsschema stützen. Es lenkt Abwägungen schrittweise in geordnete, nachvollziehbare Bahnen. Doch es bietet weder eine materiale Wert-

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

ethik noch Zielhierarchien. Die Ziele und Zwecke, auf die hin Grundrechtseingriffe auf ihre Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit zu prüfen sind, ergeben sich aus der Verfassung – wie: Lebensschutz – oder aus legislativen Intuitionen und Dezisionen. Zielkonflikte treffen also nicht auf fertige Konfliktlösungen. Sie müssen fallweise zum Austrag gebracht werden. Dabei bleibt es problematisch, ob dem Grundgesetz ein herrschendes, das heißt: rechtsdogmatisch und judikativ anerkanntes, Menschenbild zugrundeliegt oder ob Art. 1 Abs. 1 GG hilfsweise durch gesellschaftliche, wenn nicht gar weltweite, Grundüberzeugungen angereichert werden kann. Wer sich auf das Wesen des Menschen, wer sich auf dessen Gattungswürde beruft, appelliert an solche Grundüberzeugungen. Das Problem der verschiedenen Mischwesen besteht nun darin, dass sie alle geläufigen Grundüberzeugungen überholt haben. So laufen die meisten Abwägungen auf ein subjektives Meinen und Dafürhalten hinaus.

9. Zwischenbilanz

Auf der Suche nach ihren „moralischen“ Standorten sind Menschen und Mischwesen gleichwohl dem Pluralismus konkurrierender Ethiken ausgeliefert. Zwischen einer Fundamentalethik, die einer autoritativen Quelle folgt, und einer Diskursethik, die voraussetzungslos offen zu sein behauptet und sich im Austausch von Argumenten erfindet, dehnen sich Bandbreiten von Maßstäben aus. Wer sie Revue passieren lässt, wird zum Nachdenken angeregt, aber in keine verlässliche Ordnung geführt. Als Foucault „Die Ordnung der Dinge“ in Worte fasste, zitierte er einleitend Borges, der seinerseits eine Taxinomie einer chinesischen Enzyklopädie zitierte, die eine Gruppierung von Tieren mitteilte, in der etwa Fabeltiere neben herrenlosen Hunden und solchen Hunden, die von weitem wie Fliegen aussahen, standen. Foucault vermutete, dass die Platzierung derart disparater Phänomene den Platz destruiert, auf dem sie zusam-

9. Zwischenbilanz

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mentreffen, und dazu die Sprache, die sie zu Gleichen macht, und letztlich das Denken selbst, das Monstrositäten Vertrautem benachbart. 298 Menschen und Mischwesen in eine Ordnung zu fügen, bedarf daher mehr als spielerischer Willkür, sofern eine Ordnung erstrebt wird, die Handlungsprogramme und verbindliche Rechtsfolgen einschließt. Da Mischwesen noch keinen anerkannten moralischen Status besitzen, liegt es nahe, die Ordnung vom Menschen aus zu organisieren – wenn und soweit man ihn denn kennt und zu einem Bild fügen kann. Diese Metapher impliziert, dass es auf die Position des Bildners, den eingenommenen Sichtwinkel, auf das Licht und auf die Farbpalette ankommt. Vorstellungen vom Menschen können sich von festen Positionen aus, unter verschiedenen Aspekten und in verschiedenen Denkweisen ergeben. Wer einer heteronomen Autorität folgt, kann zwar ebenso kausallogisch argumentieren wie der, der Analysen zu einer Synthese bringt, wird aber abweichende Ergebnisse in Kauf nehmen, wenn nicht sogar beabsichtigen. Ein ewiger Schöpfergott leitet eben in anderer Weise und mit anderer Sicherheit, als falsifizierbare Forschungsexperimente dies vermögen. Wer seine Vernunft aufgrund seines Glaubens an eine autonome Schöpfung anstrengt, zweifelt anders als ein nach beweisbaren Erkenntnissen suchender Forscher. Zu einer gewissen Überzeugungskraft können es beide Ansätze schaffen. Wie die europäische Geistesgeschichte zeigt, lassen sich theologische und philosophische Axiome überdies teleologisch und pragmatisch handhaben, während naturwissenschaftliche Experimente ihre Beweiskraft mit Hilfe spekulativer Theorie festigen und, wie Erklärungen von Gehirnforschern erkennen lassen, zu überschießenden Deutungen animieren. Wenn keine Autorität zur Verfügung steht, scheinen nur Güterabwägungen zu helfen. Verbindlicheres als Meinungen ergeben sie allerdings nur, wenn sie sich auf allseits anerkannte Grundüberzeugungen zurückführen lassen oder wenn sie zu298

Michel Foucault, Die Ordnung, S. 17 ff.

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IV. Mischwesen im ethischen Wettbewerb

mindest in einem Abwägungsprozess vorgenommen werden, der nachvollziehbar ist und punktuelle sowie revidierbare statt fundamentale Korrekturen zulässt.

V. Konzepte der Spezies Mensch Als Spezies begriffen, erscheint der Mensch der Anthropologien als ein Wesen gewissen Typus’, so dass der Weg von „dem“ Menschen zu „der“ Menschheit ein Weg der Generalisierung einer Abstraktion ist. Das von Ethiken angesprochene und von Rechts wegen mit Rechten und Pflichten ausgestattete Subjekt ist dagegen ein Einzelwesen mit Eigenheiten, die von dem Abstraktum durchaus abweichen können, sofern es im Kern – auch das eine Metapher – ein Mensch bleibt. Doch was macht diesen Kern aus?

1. Intuitive Konzepte

Welche Merkmale als wesentliche gelten, wird meistens intuitiv bestimmt. Intuition ist ein weitläufigerer Begriff. Manchmal meint er metaphysische Eingebungen, manchmal phänomenologische Einsichten, manchmal wirkt er von der Rückseite des Spiegels. Aus biblischer Sicht ist es Gott, der sich dem Menschen offenbart und diesem sich oder die Zukunft enthüllt. Die deutsche Übersetzung „Anschauung“ meint, weltlich verstanden, meistens etwas sinnlich Erkennbares und Begreifbares, doch verbirgt der Begriff dann meistens unreflektierte Erfahrungsmodelle. Schopenhauer korrigierte „Kants Methode“, von „der mittelbaren, der reflektierten Erkenntnis“ aus Kategorien zu denken, und stellte dem seine dem „Verstand“ – nicht der „Vernunft“ – obliegende „intuitive“, „unmittelbare“ Erkenntnis gegenüber, die dank reiner Anschaung „Evidenz“ und statt des „abstrakten Begriffs“ den Eindruck der Dinge ergebe, statt des „Schattens“ der „Gegenstände“ diese selbst. 299

140

V. Konzepte der Spezies Mensch

Der Psychiater C. G. Jung verstand Intuition dagegen als eine „Funktion unbewusster Wahrnehmung“. Durch Anschauen werde ein „aktiver, schöpferischer Vorgang ausgelöst, „der ebensoviel in das Objekt hineinbildet, als er davon herausnimmt“. 300 Erinnert das nicht an Camus’ „Sisyphos“, der Absurdes vollbringt, aber ein glücklicher Mensch zu sein scheint? Denn: „Sein Schicksal gehört ihm.“ 301 So kann Intuition als zweckmäßige „Methode“ der Erkenntnis verwendet werden: Einfälle, Vorurteile und Anschauungen werden zu Überzeugungen verdichtet. Die intuitive Philosophie, insbesondere die phänomenologischer Ausprägung, lädt zu dieser Argumentationstechnik ein, weil sie Pragmatik statt Metaphysik verspricht. Voraussetzungslos sollen demnach Gegebenheiten deskriptivanalytisch erkannt werden, um eindeutig erscheinende Evidenzen zu erfassen. Die britische Academy of Medical Science ging so vor. Der Deutsche Ethikrat stellte „intuitive Überlegungen“ sogar als ontologische an, so die kritische Biologie an die Hand der Philosophie nehmend. 302 Die US-amerikanische Rechtsphilosophin Nussbaum variierte diese Philosophie der Intuition: Ihre „ergebnisorientierte Konzeption der Gerechtigkeit“ entwickelte sie nicht deduktiv aus einer Ethik, sondern im Kontrast zu utilitaristischen Konzepten – insbesondere dem Benthams – aufgrund „einer bestimmten substantiellen intuitiven Vorstellung, die wesentlich auf ein der Menschenwürde gemäßes Leben bezogen ist“. Das ist, recht besehen, kein Gegensatz, da Zwecke sich nicht aus einer Ethik ergeben, die Verhalten betrifft. Die Vorstellung entwarf sie selbst, indem sie Menschenrechtskonzepte dezisionistisch optimierte, so dass auch „nicht-

299 Schopenhauer, Die Welt, in: Werke, 1. Bd.: Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie (S. 489 ff., 537 f.: Zitat). 300 Jung, Typologie, S. 59. 301 Camus, Der Mythos des Sisyphos, 1965 / 1999, S. 153, 159 (Zitat). 302 Ethikrat, Mischwesen, S. 72 ff.

1. Intuitive Konzepte

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menschliche Tiere“ analog gewürdigt und berechtigt wurden. 303 Solche Intuitionen führen meistens zu topisch bestimmten Zielen. Die Substanz ergibt sich dann aus einer Verbindung einleuchtender Anschauungen mit Konzepten für interessierende Problemlagen. 304 Kamen die Menschenbilder nicht schon lange ähnlich intuitiv zustande, wenn Mensch und Tier verglichen und voneinander abgegrenzt wurden? Renaissancemenschen leuchtete ihre Gottesebenbildlichkeit anscheinend als humanisiertes, wenn auch weltentrückt optimiertes Selbstbildnis ein – ähnlich Michelangelos Moses –, obwohl anderen Ethnien ihr Gott auch ganz anders, etwa übernatürlich tiergestaltig, erscheinen konnte und viele „Primitive“ sich mit dem metaphysisch Unsichtbaren begnügen. Als das Axiom der Beseelung nicht mehr einleuchtete und die Anatomie zu wenig Metaphysisches ergab, kultivierte man zielorientiert Fähigkeiten wie Vernunft, Sprache, Mitleid als Momente der Unterscheidung und löste diese durch biologische, genetische oder / und psychologische Merkmale ab, als die entsprechenden Wissenschaften Deutungshoheit erlangten. Die verschiedenen Maßstabswechsel und -ergänzungen fanden zuweilen vor dem Hintergrund der Grundüberzeugungen statt, der Mensch sei kein Tier; später: der Mensch sei ein Tier, aber ein besonderes; endlich: das Tier sei dem Menschen ähnlich – aber wie? Einem Kreationisten müssten Thesen, die technologische Mixturen tolerieren, abwegig erscheinen, während Evolutionisten mit ihnen flexibel umgehen könnten, begriffen sie die Evolution auch als Werk des homo faber. Doch wer den Menschen aus der „Natur“ befreien und zur „Vernunft“ bringen wollte, vernachlässigte „tierische“ Gemeinsamkeiten und betonte die für artspezifisch gehaltenen Eigenschaften und /

303

Nussbaum, Gerechtigkeit, S. 119 f. mit S. 15. Zu dieser Methode Viehweg, Topik und Jurisprudenz, S. 15 ff.; Viehweg nannte die Topik nicht Philosophie, sondern „Techne des Problemdenkens“. Kritisch Spaemann, Über die Unmöglichkeit, in: Grenzen, S. 193 ff. 304

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V. Konzepte der Spezies Mensch

oder Befähigungen „des“ Menschen als Mehrwert. Und als die Aussonderung von „Monstern“ oder Taubstummen oder Geisteskranken aus verschiedenen Gründen der Humanisierung nicht mehr akzeptabel erschien, überging man Fähigkeitsdefekte, erhob andere Merkmale zur Höhe der Kognition und vertraute auf artspezifische Möglichkeiten der Entwicklung. In einer Gemeinschaft, die sich nicht mehr nur durch ihre Überlebensstrategien, sondern prominent durch ihre Kommunikation definiert, kam außer dem Spracherwerb die Erziehung in den Blick. Sie galt spätestens seit dem 17. Jahrhunderts als ein probates Mittel, Individuen zur „Menschheit“, mithin: zur Gattung, zu befördern. Rousseau, Condorcet und Herder propagierten eine solche Entwicklung. 305 Als auch Affen sich darin gelehrig erwiesen und zur Sprachfähigkeit angeblich nur der chirurgischen oder genetischen Korrektur des Gaumens bedurften, begnügte man sich mit relativen Überlegenheiten des Menschen wie: höhere Vernunft, verständigere Kommunikation, planvolleres Verhalten, komplexere Gemeinschaft. So mit Komparativen ausgestattet, bewahren menschliche Selbstverständnisse ihre Vorzüge vor Bienenvölkern, Elefantenfamilien und Gorilla-Clans bis in die Gegenwart. 306 Beherrscht etwa Willkür die Wahl der Merkmale? Wer die Begründungen in ihren Sinnzusammenhängen liest, wird das energisch verneinen. Wenn nicht Glaubensgewissheiten den Ausschlag gaben, wurden und werden immer intellektuell anspruchsvolle Beweisführungen dieser oder jener Beweisart unternommen, um pragmatisch ausgerichtete Überzeugungen zu erzeugen. Doch von außen betrachtet, führt die Suche nach dem „moralischen Status“ von Menschen, Tieren und Mischwesen in eine Kulturgeschichte der Relationen und Variationen und zu der Erkenntnis, dass die meisten relevanten Gesichtspunkte 305 Dazu Grawert, Rousseau, S. 491 ff.; Starobinski. Rousseau, S. 450 ff.; Grawert, Herders Einheit, S. 286 ff.; Condorcet, Esquisse, S. 80 ff., 265 ff. 306 Vgl. z. B. das Evolutions- und Fortschrittskonzept von Leclercq, Droit Constitutionnel, S. 33 ff.: „Du monde animal au monde des hommes“.

1. Intuitive Konzepte

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zur Spezifizierung des Menschen im Laufe einer wenigstens zweitausendjährigen Tradition in der einen oder anderen Fassung erwogen worden sind. Dieser Diskurs offenbart eine konzeptionell orientierte Observanz mit dem Ziel, den Menschen immer erneut von den näher kommenden Tieren abzugrenzen. Der Zweck ist bisher eindeutig geblieben: die argumentative Erhaltung der Eigenart. Am Ende der verschiedenen anthropologischen Wenden entstand immer ein gefertigtes Menschenbild. In der Gegenwart haben die Wahrnehmungsmöglichkeiten sich allerdings erheblich verändert, weil die Erkennbarkeit genetischer Prozesse von technisch aufwendigen bildgebenden Verfahren abhängig ist. Die meisten Mischwesen „erblicken“, metaphorisch gesagt, heute in vitro, fast im Verborgenen, das Licht der Welt, und lassen sich nur analytisch identifizieren. Auch Inter-Spezies-Transplantationen auf adulte Menschen oder Tiere sind nicht mehr ohne weiteres erkennbar oder spürbar. Gen- und Gehirnmanipulationen bleiben unanschaulich und nach Bekundungen von Fachleuten nicht durchweg absehbar. Morphologische und ethologische Artkonzepte herkömmlicher Art versagen vor diesen Prozessen und Produkten. Die demokratische Öffentlichkeit, in deren Namen über die Zulässigkeit und Akzeptanz der Gentechnologie entschieden wird, ist davon mangels Erfahrungen praktisch ausgeschlossen. Wenn Mischwesen sich nicht durch Anschauung intuitiv erkennen lassen, sind intellektuell konstruierte Konzepte gefragt. Bedenkt man allerdings die Vielfalt und Widersprüchlichkeiten der bisher erwogenen Kennzeichen eines „wahren“, „fertigen“ und artgemäßen Menschen, kommt man nicht umhin, erneut Intuitionen oder Dezisionen zu vertrauen, um Kennzeichen „des“ Menschen zu erfassen, die von der Mehrheit der Zeitgenossen einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiert werden. Interessant sind nur solche Fassungen, die die Spezies eingrenzen, anders gesagt: Gattungsmerkmale. Zwar gelten die Menschenwürde und das Lebensrecht dem einzelnen Menschen, auf den es im liberalen Rechtsstaat vornehmlich

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ankommt. Doch ein menschliches Individuum lässt sich nach allgemeiner Überzeugung nur in bestimmter Hinsicht mit anderen Individuen, mit Tieren und Mischwesen dagegen nur nach generell-abstrakten Merkmalen vergleichen, die die Gattung bzw. Spezies auszeichnen. Wenn das Bundesverfassungsgericht vom Menschen schlechthin und ohne dessen Individuation spricht, nennt es ihn ein Gattungswesen und begreift den Einzelnen als Teil einer Gattung. 307 Als Linné im Jahre 1758 die Gattung Mensch einführte, begriff er darunter u. a. den homo sylvestris, den damals kürzlich entdeckten javanischen Orang-Utan, und den homo sapiens, also eine komplex zusammengesetzte Gruppe. 308 Das Gericht meinte diesen Gattungsbegriff wahrscheinlich nicht. In der heutigen Biologie, an der sich das Gericht in seinen einschlägigen Entscheidungen orientierte, um Ideologien zu vermeiden, ist Gattung einer Klassifikation, die Arten einschließt, die ihrerseits Gruppen von Organismen nach deren Ähnlichkeiten umfassen. Arten sind im Unterschied zu der Auffassung Linnés heute nicht mehr fixiert und konstant, sondern Änderungen der Evolution und, je nach Maßgabe der für sinnvoll erachteten Merkmale, Systemkonzepten unterworfen. Sie werden essentialistisch, morphologisch oder ethologisch bestimmt, je nachdem Typen, Formen, Verhalten oder Reproduktionsfähigkeiten für maßgebend erachtet werden. Sachlogische Rationalität spielt dabei eine geringere Rolle als fachlogische Pragmatik. 309 Art und Gattung können dabei auch identifiziert werden, wenn sich ihre Angehörigen durch spezifisch abgrenzbare Ähnlichkeiten vor anderen auszeichnen. So kommt die Spezies Mensch trotz zahlreicher Varietäten zu ihrer Gattungsidentität. Die alten Ägypter mussten ähnlich empfunden haben, als sie Pygmäen als Ihresgleichen anerkannten, und de Vitoria und de Las Casas ging es wohl ebenso, als sie für die „Indi“ stritten. 307

BVerfGE 39, S, 1, 41. Linné, Systema naturae, Bd. 1, 10. Aufl. 1758, S. 20. 309 Vgl. dazu nochmals Mayr, Entwicklung, S. 140 ff., 237 ff., 621 ff., sowie Hull, On Human Nature, in: Hull / Ruse, S. 390 ff. 308

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Sie brauchten dazu nicht den biologischen Artbegriff zu bemühen, der miteinander fortpflanzungsfähige und von anderen insoweit isolierte Individuen zusammenfasst. Arten sind nicht naturgegeben, sondern konzipiert. So war der Begriff, den Menschen sich von ihrer Art machten, schon immer davon abhängig, welche Merkmale sie einbezogen und welchen Plan der Begriffsbildung sie hatten. Der Begriff konstruiert und konstituiert. Aber die Merkmale, die das Maß abgeben sollen, richten sich in der Regel nach Vorverständnissen und intuitiv erfassten Vorstellungen, die rationalisiert werden. Wer dem Ideal des „ganzen“ Menschen nachsinnt, hängt einem irgendwie transzendenten Leib-Seele-Konzept an, und es obliegt dem Interpreten dieses Konzeptes, Irregularitäten danach zu beurteilen, ob sie Wesentliches oder Abdingbares betreffen. Wer ein morphologisches Konzept verfolgt, definiert bestimmte formale Merkmale, so dass evolutionäre oder technologische Irregularitäten und Mischungen, wie Chimbrids es sind, ausgegrenzt werden. Seitdem der Begriff des Organismus üblich geworden ist, wird der Mensch wie andere Entitäten als ein Organismus begriffen, der seine Einheit hat und entwickelt. So verstanden, bildet er einen Funktionszusammenhang von Genen, Zellen, Organen und deren Wirkeinheit, und auch der leibgebundene Geist ist organisch eingegliedert. Aufgrund dieser Wirkeinheit werden die Organe, Zellen und Gene nicht als Bestandteile einer summierten Gesamtheit und als ein bloßer Inbegriff, sondern als ein Ganzes aufgefasst. Unteilbar nannte man einst eine Sache, wenn „die Natur“ der „Absonderung“ ihrer Teile entgegenstand. 310 Dank der modernen Medizin ist der heutige Mensch jedoch nicht mehr unteilbar. Was macht ihn dennoch zu einem „ganzen“ Individuum und welche Einoder Ausgrenzungen ergeben sich daraus für die verschiedenen Mischwesen?

310

ALR I 2 § 41.

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2. Judikative Konzepte

In Anbetracht der Deutungshoheit des Bundesverfassungsgerichtes ist es, wenn nicht zwingend, dann doch klug, dessen Maßgaben in Betracht zu ziehen. Das Gericht hatte bisher noch keinen Anlass, sich mit Mischwesen zu beschäftigen. Es definierte aber Fassungen des Begriffs „Mensch“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG, die, selbst Ergebnisse von Interpretationen, zu neuen Auslegungen und Konzepten anregten und anregen können. In diesen vom Gericht so bezeichneten Menschenbildern erscheint der Mensch einerseits als Individuum – individualistischer Begriff –, andererseits als Ausprägung seiner „Gattung“ – repräsentativer Begriff –, jeweils bezogen auf seine demokratische Gemeinschaft – politischer Begriff – oder auf seine eigene und seiner Gattung Existenz – biologischer Begriff –. Der Mensch ist auch dem Bundesverfassungsgericht ein komplexes Wesen, so dass Mischwesen es schwer haben, ihm in dieser oder jener Hinsicht zu ähneln. Indem das Grundgesetz die Grundrechte als subjektive Rechte normiert und auch die Garantie der Menschenwürde in diesem Sinne verstanden wird 311, steht der Mensch in erster Linie als Subjekt, als ein Individuum, in der Rechtswelt. Insoweit übernahm es Ideen des 18. Jahrhunderts. 312 Kant insbesondere begriff den Menschen „als Zweck an sich selbst“, ergänzte aber im Sinne seiner Pflichtenlehre, dass auch, sogar vornehmlich, das „Prinzip der Menschheit“ ein „Zweck an sich selbst“ sei, ein „objektiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll“. 313 Nicht 311 Das BVerfG verbirgt diese Funktion unter dem Stichwort „Achtungsanspruch“: vgl. die Nachweise in: Leibholz / Rinck, Art. 1 Rn. 2 ff. (Stand: März 2009). 312 Böckenförde, Das Bild vom Menschen, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 58. 313 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 1. Abschnitt, in: Werke Bd. IV, S. 63.

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als Grundrechtsgrenze, aber als Statusmerkmal übernahm das Bundesverfassungsgericht diesen Rahmen, indem es den Menschen auch als Gattungswesen garantiert wissen wollte, allerdings nicht einschränkend, sondern verallgemeinernd. In der Rechtsdogmatik ist daraus die These entstanden, das Grundgesetz schütze über den Einzelnen hinaus die Gattung Mensch um ihrer selbst willen, und zwar vor genetischen Hybriden und Chimären, deren individuelle Menschenqualität in vitro nicht ersichtlich ist. 314 Das Bundesverfassungsgericht charakterisierte den Einzelmenschen moralisch-staatspolitisch als Verantwortungssubjekt gegenüber sich, anderen und der Gemeinschaft: der Mensch als gemeinschaftsbezogene und -verbundene „Person“ mit Eigenwert 315, so, wie er „sich selbst begreift und seiner selbst bewusst wird“ 316, nämlich als ein „geistig-sittliches Wesen“. 317 Diese Formel hatte ihre geistigen Väter ursprünglich in der Aufklärung bis zum kategorischen Imperativ Kants. 318 Nach dem Zweiten Weltkrieg auferstand sie wieder, nun allerdings unter dem Eindruck katholischer Soziallehren: Josef Wintrich, der zweite Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, brachte sie in die Rechtsprechung ein. 319 Ihre zwischen Individualismus und Sozialisation eingespannte Dialektik lässt darüber rätseln, ob von einer Seins-„Natur“ des Menschen oder von dessen Soll-Idealität die Rede ist. Doch grenzt sie, streng genommen, das Baby, den Wahnsinnigen, den Dementen und den Komatö314 Höfling, in: Sachs, Art. 1 Rn. 21; Hillgruber, in: Epping / Hillgruber, Art. 1 Rn. 23. 315 Diese Fassung entstand anfangs der Restituierung deutscher Staatlichkeit, hauptsächlich zur Inpflichtnahme des Bürgers u. Staatsbürgers: BVerfGE 4, S. 7, 15 f.; 7, S. 320, 323; 8, S. 274, 329, u.ö., zuletzt wiederholt in BVerfGE 109, S. 133, 151 (betr. Sicherungsverwahrung). 316 BVerfGE 49, S. 286, 298 (betr. Transsexualität). 317 BVerfGE 123, S. 267, 413 (Lissabon-Urt., hier: Schuldstrafrecht). 318 Kant, Grundlegung, in: Werke Bd. IV, S. 51; ders., Über den Gemeinspruch (1793), in: Werke Bd. VI, S. 125 ff., 143 ff. 319 Vgl. Stern, Das Staatsrecht, Bd. III/1, S. 32 Fn. 131; Becker, Das Menschenbild, S. 47 ff., 72 f.

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sen, erst recht In-vitro-Mixturen und Tiere mit menschlichem Material aus dem Würde- und Lebensrecht der Menschen aus. Die Wiedereingliederung menschlicher Embryonen ergab sich erst infolge ihrer Anerkennung als „menschliches Leben“. Ähnlich weit waren schon die christlichen Kirchen und das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 gelangt: „Die allgemeinen Rechte der Menschheit“ sollten demnach „auch den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis“ an „gebühren“; „Missgeburten“, die „ohne menschliche Form und Bildung“ waren, hatten zwar keine Rechte, sollten aber „ernährt und so viel als möglich erhalten werden“. 320 Schon das Landrecht operierte mithin mit Ähnlichkeiten und Analogien. Nun dehnte das Bundesverfassungsgericht den Lebensschutz aus, verfassungsrechtlich und semantisch. Indem es sich auf eine scheinbar neutrale, objektive medizintheoretische Position konzentrierte, ließ es metaphysische und idealistische Konzepte des Menschseins beiseite, die zum abendländischen Traditionsgut gehörten und unter dem Eindruck des Nazi-Terrors sowie angesichts der aktuellen Problematik wieder ins Gedächtnis gerufen wurden 321: des Menschen „keimendes Leben“ der katholischen Soziallehre, Axiome vom Wesen des Menschen und das aristotelisch-aquinatische Dogma der Potentialität 322, das sich auf ein Prinzip der Individuation bezieht. Dürig, ein nach-denklicher Weltkriegsteilnehmer, zitierte dieses Bekenntnis zustimmend, erweiterte es aber zu einem Gattungskonzept: Der „allgemein menschliche Eigenwert der Würde“ könne „von vornherein nicht in der jederzeitigen gleichen Verwirklichung beim konkreten Menschen bestehen, sondern in der gleichen abstrakten Möglichkeit (potentiellen Fähigkeit) zur Verwirklichung“ und komme deshalb auch Geis320

ALR I 1 §§ 10, 17 f. Vgl. u. a. Ernst Wolf, Die Freiheit und Würde des Menschen, in: Wandersleb, Bd. 4, 1953, S. 27 ff. 322 Dazu unten zu V. 6. 321

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teskranken und Verbrechern zu; sogenannte „monstra“ und „prodigia“ (Nachgeburten u.ä.) bewertete er als unzutreffende Begriffe für schwere körperliche Missbildungen, die „die Eigenschaft Mensch“ nicht aufhöben. 323 Aufgrund Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hat „jeder“ das Recht auf Leben. Was heißt „Leben“? Betrifft es nur physisches Sein? Die Bedeutung dieses geläufigen Begriffs ergibt sich erst aus seinen Prädikatisierungen, sobald Qualitäten bedacht werden sollen. Vermutlich unbeabsichtigt, schlug das Bundesverfassungsgericht einen solchen Weg ein, als es das Lebensrecht mit der Würdegarantie verband: Ein „würdiges Leben“ bzw. ein Leben in Würde lädt zwanglos zu weiteren metaphysischen oder soziologischen Konnotationen ein. Sie treffen sich mit theologischen Intentionen. So erhielt der Begriff sogar eine multifunktionale Bedeutung, nämlich in biologischer, philosophischer und theologischer Hinsicht und fand Anschluss an Vorstellungen eines „gelingenden“ oder „gelungenen“ Lebens. 324 In der Rechtswissenschaft herrschen dagegen schlichtere, fassbare, praktizierbare Vorstellungen vom Leben. Die Interpretationen konzentrieren sich überwiegend auf „die biologisch-physische Existenz“ des Menschen. 325 Dass mit „jeder“ nur jeder Mensch gemeint ist, ist ebenso unstreitig. Art. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta nennt ihn als Rechtssubjekt ausdrücklich beim Namen. Im Parlamentarischen Rat wurde mit dem Begriff „Mensch“ anscheinend der geborene Mensch assoziiert, denn der Embryo wurde „keimendes Leben“ genannt, und es gab auch die Mindermeinung, 323

Dürig, in: Maunz / Dürig (Hg.), Art. 1 Abs. 1 Rn. 18 f., 24 f. (Stand: Januar 1976; Hervorhebungen im Original). 324 Neugebauer, Konzepte des „Bios“, pass. 325 Z. B. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 2 Abs. 2 Rn. 176; ähnlich Huber, Natürliche Personen als Grundrechtsträger, in: Merten / Papier, Bd. II, 2006, § 49 Rn. 9 ff.: Huber unterscheidet den objektivrechtlichen Lebensschutz ab Bildung einer totipotenten Zelle von der subjektivrechtlichen Grundrechtsträgerschaft, die erst mit der Nidation einsetze.

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dass dieses „Leben“ am Lebensschutz nicht teilhat. 326 In der späteren Rechtssprache setzte der Zug zu offenen Oberbegriffen sich fort, man kann sagen: je stärker die Species Mensch entgrenzt wurde: vom „Leben“ des „Menschen“ zum „menschlichen Leben“, „menschlichen Lebewesen“ 327, bis zu „Organen und Geweben menschlichen Ursprungs“ 328 und zu einem schlicht-ontologischen „menschlichem Sein“. 329 Die Verlautbarungen des Bundestages zum Embryonenschutz handeln von „menschlichen Embryonen“. 330 Das Bundesverfassungsgericht übernahm diese Begriffsöffnungen, die die christlichen Kirchen vorgeprägt hatten 331, und mit ihnen eine Gutteil der Leitbegriffe, die so zu Verfassungsbegriffen und -prinzipien wurden. Es legte das Wort „jeder“ dahin aus, dass es nicht nur „eine ‚fertige‘ menschliche Person“ erfasst, sondern auch das „ungeborene“ bzw. „das sich entwickelnde Leben“ einbezieht. Ausdrücklich sah es darin eine „Ausdehnung“ des Tatbestandes, Ergebnis einer extensiven Auslegung. Auch die Rechtsfolgen 326

Vgl. v. Doemming / Füsslein / Matz, JöR NF Bd. 1 (1951), S. 60. So Art. 1 u. 2 des Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über die Menschenrechte und Biomedizin v. 4. 4. 1997 sowie das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen v. 12. 1. 1998. 328 Art. 2 (1) des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin bezüglich der Transplantation von menschlichen Organen und Geweben v. 24. 1. 2002. 329 BVerfGE 39, S. 1, 37. 330 Vgl. u. a. BT-Drs. 14/9020: Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“. 331 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, zit. u. ausgeführt in: Kongregation für die Glaubenslehre (Präfekt Joseph Card. Ratzinger), Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung, v. 22. 2. 1987, online: www.vatikan.va/roman_curia/ congregations / cfaith / documents / rc_co_cfaith_doc_19870222_respect-for -human-life_oe.html; Kundgebung der Synode der EKD: Zur Achtung vor dem Leben, 1987: „ungeborenes menschliches Leben“, „menschliche Embryonen“, „menschliche Wesen“. 327

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wurden erweitert: Der „im Mutterleib“ mit der Mutter existentiell verbundene Embryo erwuchs von einem „selbständigen Rechtsgut“ zum Rechtssubjekt seines Lebens und zu einem „menschlichen Individuum“ mit eigener Würde, das als solches zu respektieren sei. Dazu bemühte das Gericht, vom Individuum zur Gattung wechselnd, allgemeine Qualitäten der Spezies: „Wo menschliches Leben ist, kommt ihm Menschenwürde zu; die im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ 332 So ähnlich formulierte auch die Instruktion „Donum vitae“: Sie würdigte „den“ Menschen „in seiner unwiederholbaren Einmaligkeit“ und dessen „Identität“, die es allerdings, sie im Sinne des II. Vatikanischen Konzils typisierend, zu einer aus „Leib und Seele“ („corpore et anima unus“) „Person“ definierte; das schützenswerte „physische Leben“ des Menschen beginne ab Bildung einer Zygote, die „die biologische Identität eines menschlichen Individuums“ konstituiere, das die „menschliche Person“ bilde. 333 Das Bundesverfassungsgericht konzentrierte sich dagegen auf die „gesicherte biologisch-physiologische Erkenntnis“ des Bochumer Anatomen Hinrichsen, dass „jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation)“ Leben „im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums“ bestehe, denn der „damit begonnene Entwicklungsprozess“ sei „ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens zulässt.“ 334 Das achtzehn Jahre später ergangene Urteil zum Schwangerschaftsabbruch stellte die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Embryonenschutze um: Statt auf Art. 2 Abs. 2, ergänzt durch Art. 1 Abs. 1 GG, wurde er nun auf die Menschenwürde 332

BVerfGE 39, S. 1, 36 ff. (Urt. des Ersten Senats v. 25. 2. 1975). Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion v. 22. 2. 1987. 334 BVerfGE 39, S. 1, 36 ff.; die Instruktion „Donum vitae“ stellte auf die Vereinigung der Samen- und Eizelle = „Befruchtung“ als Zeitpunkt der „Empfängnis“ u. Individuation ab. 333

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gegründet, deren Gegenstand das Lebensrecht sei, das heißt: statt auf ein unter Gesetzesvorbehalt stehendes Recht auf ein uneinschränkbares. Die Schranken für Eingriffe durch den parlamentarischen Gesetzgeber wurden damit erheblich höher gelegt. Auch die Kirchen bevorzugen die dem Menschen verliehene Würde; das „physische Leben“ habe seinen Wert als „das höchste Gut des Menschen“. 335 Während man in der Medizin eine Schwangerschaft vom ersten Tag der letzten Regelblutung an rechnet und menschliches Leben bereits post conceptionem oder post ovulationem angenommen wird, entschied das Gericht sich für den Zeitpunkt der Nidation; der schließt In-vitro-Zygoten und solche vor der Nidation 336 aus. Ab der Nidation vermutete das Gericht „individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern „als Mensch“ entwickelt.“ Die neuerliche Betonung der genetischen Identität und der „elementaren“ Bedeutung der „Existenz“ scheint Biologismen Rechnung zu tragen, doch wurde dieser Eindruck durch die an Kants „Zweck“These erinnernde Formel sublimiert, die Würde des „Menschseins“ liege auch für das ungeborene Leben „im Dasein um seiner selbst willen“: Die Formel verband eine abstrakte Eigenschaft der Spezies „Mensch“ mit dem Telos eines individualisierten Analogons („als“) des Menschen. Sie reichte nicht nur in die Aufklärung, sondern verband diese mit der demokratischen Gesellschaft, wenn es anschließend heißt, ungeborenes Leben zu schützen, sei „eine Grundbedingung geordneten Zusammenlebens“. 337 Ob „menschliches Leben“ bereits bei der Syngamie und eventuell in vitro beginnt, ließ das Gericht dahingestellt. Mit seiner „jedenfalls“-Klausel hielt es sich urteilstypisch bedeckt, 335

Zitat: Instruktion „Donum vitae“. Zygote: Ergebnis der Syngamie (Verschmelzung) zweier Gameten (Geschlechtszellen): Eizelle + Spermium. 337 BVerfGE 88, S. 203, 253 ff. (Urt.des Zweiten Senats v. 28. 5. 1993). 336

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so dass Spekulationen über weitere „Ausdehnungen“ prozesstaktisch und selbstverständlich anthropologisch möglich sind.

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Im Kontext der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist die Nidation einer Zygote ein Naturereignis, das auch technologisch durch eine In-vitro-Fertilisation vorbereitet werden kann. Das Ereignis der Nidation scheint, so gesehen, der Menschwerdung eine untere biologische Grenze zu setzen. Doch in vitro beginnt der biologische Prozess schon vor der Nidation, wenn Spermie und Eizelle ihre Reduktionsteilung (Meiose) erfahren und zur diploiden autoproduktiven Zygote verschmelzen. 338 In diesem Moment gelangt die Zellverbindung zur Totipotenz und gewinnt so die Fähigkeit, sich aus sich selbst heraus zu einem Organismus zu entwickeln. Diese Fähigkeit endet nach 2 bis 8 Zellstadien. Danach tritt die sogenannte Pluripotenz ein. Mit ihr geht die Fähigkeit, eine Ganzheit zu bilden, verloren. Doch bleibt die Fähigkeit erhalten, die verschiedenen einzelnen Zelltypen weiterhin zu produzieren, mit denen technologisch weitergearbeitet werden kann. Neuere Überlegungen gehen nun dahin, die verlorene Totipotenz zu reprogrammieren und eine „induzierte Totipotenz“ wiederherzustellen. Deshalb wird vorgeschlagen, die Schutzwürdigkeit eines Embryos nicht nur von dem Kriterium der Totipotenz, sondern noch von weiteren – wertenden – Kriterien abhängen zu lassen. 339 In erster Linie wird dazu das Kriterium der „Natürlichkeit“ der Entstehung genannt, wie dies wohl auch den Richtern des 338

Schrockenhoff, Ethik, S. 309 ff. Die Vorgänge referieren Advena-Regnery / Laimböck / Rottländer / Sgodda, Totipotenz im Spannungsfeld,, S. 217 ff. Auf eine gewisse Natürlich des Geburtsvorgang hebt auch Reich, Empirische Totipotenz und metaphysische Gattungszugehörigkeit, S. 120 ff., ab. 339

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Bundesverfassungsgerichts intuitiv vorgeschwebt haben mag. Doch welche Natur ist hier gemeint? Naturwissenschaften nehmen für ihre Technologien selbstverständlich in Anspruch, die Naturgesetze anzuwenden und – natürlich – zu beherrschen. Doch dank moderner Methoden braucht der Entstehungsort einer Zygote nicht „natürlich“ zu sein; er kann problemlos in vitro vonstatten gehen, und die moderne Reproduktionsmedizin ist darauf angewiesen, will sie ihre Programme zur Verbesserung des menschlichen Zellmaterials ins Werk setzen. „Natürlichkeit“ hat dann einen eigenartigen Sinn, wenn man sie nicht durch Naturgesetze, sondern sozialbiologisch oder -ethisch als Verbindung von Mann und Frau versteht. Für den, der bis hierher die Geschichte der Anthropologien verfolgt hat, ist es keine Überraschung, dass ein medizinethisches Plädoyer „gegen den normativen Gebrauch“ des „entwicklungsbiologischen Begriffs“ der Totipotenz von Embryos wieder auf das Mittel der sozialen Übereinkunft verweist und den Rechtsschutz nicht dem in vitro isolierten Embryo, sondern der „werdende(n) Person“ zugestehen will, „die für die Möglichkeit ihres Werdens notwendig auf die Mutter angewiesen ist“. 340 Axiomatisiert man den Zeitpunkt der Nidation, sind die in der Petrischale, in Tieren oder woimmer sich vermehrenden Zellen von Rechts wegen noch Sachen: „lebende“ Sachen, wenn man „Leben“ durch den Vorgang der Zellteilung definiert, jedenfalls Sachen, die sich von atomar strukturierten „toten“ durch ihre Vermehrungspotenz unterscheiden. Manchem dünkt die manipulierte Verbindung von Keim- und Körperzellen als bloßes „factum non genitum“ und ein technologisch konstruierter Klon als „Monster“ 341, womit der Anschluss an das 1739 von Zedler überlieferte Vokabular wieder gelungen ist. Dass die gentechnologischen Produkte menschlichen Ur340 Huber / Huber, Ist die Totipotenz menschlicher Zellen ein geeignetes Kriterium für ihre Schutzwürdigkeit?, S. 321 ff.; Reich, Empirische Totipotenz und metaphysische Gattungszugehörigkeit, S. 118 ff. 341 Reich, Empirische Totipotenz und metaphysische Gattungszugehörigkeit, S. 127 ff.

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sprungs sind, beweist zwar die DNA-Analyse. Doch das Ursprungszertifikat ergibt, unterzieht man den Produktionsvorgang und dessen Ertrag einer wertenden Beurteilung, noch kein Menschenleben. Wenn die Zygote mit der Nidation im Leib einer Frau zu ihrer moralischen und judikativen Anerkennungsreife gelangt, kann man daraus zwar nicht kausallogisch, aber doch den üblichen Sozialerfahrungen nach schließen, dass ein Mensch entsteht. § 1591 BGB in der Fassung von 1991 hält für die natürliche Mutter diejenige, die das Kind geboren hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Nidation im Leib der Frau erfolgt, von der die Eizelle stammt, oder im Leib einer sogenannten Leihmutter. Sollte, was, mit Grotius zu denken, nicht nur „Sünde“, sondern sogar illegal wäre, die Nidation einer Zygote ausschließlich menschlichen Ursprungs im Leib eines Tieres erfolgen oder sollte es innovativen Biotechologen gelingen, eine human-animalisch gemixte Zygote in einem menschlichen oder tierischen Leib zur Vermehrung zu bringen – um etwa immunologischen Problemen ab ovo vorzubeugen –, dann könnte nur der DNA-Analyst die Anfangsmischung wissen und deren Entfaltung durch weitere Analysen verifizieren. Kann die Zygote, die ausschließlich menschlichen Ursprungs ist, noch beanspruchen, einen art- und individualspezifischen Genotyp des Menschen zu bilden, so müsste die gemixte Zygote in ihrer erdachten Zukunft sich anders ausweisen, wollte sie zwischen Mensch, Tier und Sache korrekt platziert werden. Die bislang bewährten Intuitionen und Traditionen der Menschwerdung erreichen diese Zukunft – noch – nicht. Wer sich erfahrungsgemäß Frauen als werdende Mütter vorstellt, kann die fast einhundertfünfzig Jahre alte und heute gewiss noch übliche Erkenntnis vertreten: „Was vom Menschen gezeugt und geboren ist, das ist auch schon an und für sich menschlich.“ 342 Sie sollte einst „missgebildete Neugeborene“ 342 Die Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Amtliche Ausgabe, 188, Bd., S. 371 f. zitieren diesen

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wieder in die Menschheit eingliedern. Heute ließe sie sich auch so verstehen, dass Erzeugung und Geburt auf verschiedene Menschen verteilt werden können. Artfremd keimende Mischwesen lassen sich so gradlinig nicht mehr subsumieren. Absehbare Irritationen soll der Begriff der genetischen Identität beheben. Er leuchtet ein, sofern ein fragliches Objekt durch seine artspezifischen DNA-Strukturen identifiziert werden soll. Doch „Identität“ kann ein Feld von Identifikationsfaktoren erfassen, die in Genen enthalten sein und durch sie transportiert werden können. Falls das Prädikat „genetisch“ nicht eindeutig und ausdrücklich auf unverfälschtes menschliches Genmaterial beschränkt wird, lässt jener Begriff sich auch auf adulte menschliche Mischwesen mit tierischem Material erstrecken. Wenn man den humanen Anteil nicht besonders qualifiziert oder quantifiziert, lassen sich auch Tiere mit reproduktivem menschlichem Material begrifflich als Spezies einfangen. Folgt man der Annahme, die menschliche Identität sei bereits dem ausschließlich menschlichen Genom inhärent 343, und unterstellt weiterhin, dass bereits im Genom ein menschliches Lebewesen auch individuell vorgeprägt ist – etwa hinsichtlich eventueller Erbkrankheiten, aber vorbehaltlich noch ausstehender Sozial- und Umweltprägungen, – dann kann bereits die Stammzelle prädestinierend wirken, wo immer diese sich entwickelt. 344 Aus dieser Sicht rangierte ein Lebewesen in der Spezies seines Genoms, ohne Rücksicht auf seinen Entwicklungs-

Satz aus: Bierbaum, Das Rechtsverhältnis des mißgebildeten Neugeborenen, in: Adophs Henke’s Zeitschrift für Staatsarzneikunde, Bd. 67 (1877 / Nachdruck 2012), 34/1, S. 160 ff., mit der der Autor die bis dahin gängige Monsterthese beenden wollte. 343 Genom = Gesamtheit der Chromosome / Gene, bestehend aus DNA-Sequenzen unterschiedlicher Struktur, Konsistenz u. Funktionen = der vererbbaren Informationen einer Zelle zur Entwicklung und Ausprägung der spezifischen Merkmale eines Lebewesens. 344 Zur Variante „in vitro“: Di Fabio, in: Maunz / Dürig, Art. 2 Abs. 2 Rn. 25 (Stand: Februar 2004); zur „potentiellen“ Fähigkeit ab Zeugung vgl. Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 24 f.

3. Biologische Konzepte

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zustand oder auf Eigenheit seiner „Leihmutter“ oder auf seine spätere Gestalt. Fast ähnlich kausal dachten besorgte Ärzte und Juristen schon im 17. Jahrhundert, ohne etwas von Genen zu wissen. Als einem französischen Kranken Tierblut injiziert worden war, befürchteten sie, er könnte zum wilden Tier mutieren. Muss noch daran erinnert werden, dass dem Blut spätestens seit Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs eine markante Bedeutung zukam? Jedenfalls wollten die aufgeklärten Zeitgenossen sicher gehen. Man rief die Entscheidung des Pariser Parlaments zur Klärung an. 345 Sind die heutigen Sorgen realer, wenn die Academy of Medical Science darüber nachzudenken empfiehlt, was aus menschlichem Hirn in Köpfen von Tieren wird? 346 Kommt es auf das Genom an, müsste ein Schimpanse mit einem menschlichen Genom als Mensch und vice versa ein genetisch entsprechend modifizierter Mensch als Schimpanse bezeichnet werden. Herz-, Lungen-, Leber- oder Nierentranslantationen werden heute, wie es scheint, nur deshalb nicht mehr kritisch betrachtet, weil diese Organe zwar lebenswichtig sind, aber nach allgemeiner Auffassung nicht – mehr – das „Wesen“ des Menschen ausmachen und deshalb ersetzbar sind. Wer die Geschichte der Anthropologien zurückverfolgt, erkennt: Das Wesentliche ist zeitgemäße Ansichtssache. Ein Wechsel der Autoritäten führt zu anderen Anfängen des Menschseins als dem der Nidation. Die Römisch-Katholische Kirche stellt auf die Empfängnis ab. Manche katholischen Theologen halten dagegen an der antiken Theorie von der Suzessivbeseelung fest, die in einem anderen Gewand auch diejenigen fortführen, die die antike oder christliche Seele durch die moderne Vernunft ersetzen. Im Judentum werden verschiedene Zeitpunkte nach Wahl eines biologischen oder metaphysischen Faktors vertreten. Im Islam rechnen manche Interpreten des Koran mit 42, andere mit 120 Tagen, während der der Embryo 345 346

Vgl. zu diesem Ereignis Duchêne, Madame de Sévigné, S. 280. The Academy of Medical Science, Animals, S. 45.

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V. Konzepte der Spezies Mensch

nur als „Blutklumpen“ und als „Klumpen Fleisch“ sein Dasein fristet, bis er beseelt wird. 347 Diese und andere Varianten reflektieren nicht nur die Auffassungsunterschiede in einer pluralistischen Gesellschaft. Sie relativieren Überzeugungen der Judikatur: Deren vermeintlich ideologisch immuner Zeitpunkt der Nidation beruht auf einer medizinpragmatisch inspirierten Intuition. Die „jedenfalls“-Klausel, die das Gericht seiner Urteilsbegründung beifügte, liefert den existentiellen Beginn menschlichen Lebens überdies einer diskursiven Disposition aus, denn der Topos: Entwicklung menschlichen Lebens kann, für sich betrachtet, biogenetisch ebenso in die Vergangenheit der ersten Zellstrukturen wie in deren Zukunft verfolgt werden. Am Ende des biologisch definierten Lebens stünde die biologisierende Verfassungsinterpretation freilich vor dem Problem, das in der Medizin herrschende Dogma vom Gehirntod mit dem Umstand vereinbaren zu müssen, dass Körperzellen eines Gehirntoten sich eine Zeit lang weiter entwickeln und dass gehirnlose Feten existieren können, also in einem analogen Zustand wie dem zum Zeitpunkt der Bildung der Zygote bzw. deren Nidation. Die Bildung oder Nidation einer zweipolig menschlichen Zygote ergibt ein „menschliches Lebewesen“, das Menschenrechte passiv genießt, zur Konsistenz und Bildung der Gesellschaft und Rechtsgemeinschaft aber noch nichts beiträgt. Die Zygote wird durch die Verfassung und Judikatur ein Lebewesen in, aber nicht der Gesellschaft, in der sie „lebt“. Zu einem Mitglied wird sie erst aufgrund rechtsbegründeter Anerkennung. § 1 BGB spricht Geborenen – vorausgesetzt: Menschen – die Rechtsfähigkeit mit „Vollendung der Geburt“ zu.

347 Vgl. die knappe, aber informative Problemübersicht von Ilkilic, Stammzellforschung: Die innerislamische Diskussionslage, in: Körtner / Kopetzki, S. 221 ff. (betr. Österreich); ferner die Informationen online: www.islam-pedia.de / index.php5 ? title=Mensch # Wann_die_Seele_in_das_ Embryo_eingehaucht_wird.

4. Phänotypische Konzepte

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Durch die Geburt eines „Kindes“ entsteht eine „Familie“ 348, die als „Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft“ gilt. 349 Familien- und sippenorientiert, knüpft das deutsche Erbrecht an die Abstammung an. Ähnlich verbindet das Staatsangehörigkeitsgesetz 350 sein Erwerbssprinzip des ius sanguinis mit der Geburt und Abstammung von einem deutschen Elternteil in „natürlicher“ Weise, weil es auf die Ehelichkeit oder Nichtehelichkeit nicht ankommt. Zum verantwortlichen Staatsbürger wird ein solcher Mensch erst in Form altersbedingt zuwachsender Rechtsstatus. Als das Bundesverfassungsgericht vom „fertigen“ Menschen sprach, verlangte es wohl nur dessen vollendete Geburt, nicht auch noch ein sozial ausgeprägtes Selbstbewusstsein oder gar eine aufgeklärte Vernunft.

4. Phänotypische Konzepte

Eine verbreitete Intuition zur Klassifizierung des Menschen erfolgt phänotypisch. Im Unterschied zum Genotyp, der die DNA-Konsistenz einer aus zwei Gameten entstandenen Zygote bezeichnet, meint Phänotyp die sichtbare Erscheinung eines Lebewesens, das aus, Proteinen und sonstigen organischen Molekülen zusammengesetzt, eine Form, eine vertraute Form, ist. Phänotypisch wirken Gestalt, Gesicht und übliches Verhalten. Den Menschen so seinem Äußeren und seinen Äußerungen nach zu bestimmen, hatte zwar noch Luther eingeleuchtet, denn schließlich könne, wie der Reformator meinte, die Gestalt des Menschen auch durch die Kunst eines Schnitzers entstehen,

348 BVerfGE 80, S. 81, 90: daneben „grundsätzlich auch jede andere von der staatlichen Rechtsordnung anerkannte Gemeinschaft von Eltern und Kindern“. 349 Ebenso bereits – wie einst Rousseau und andere – Art. 16 Nr. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 350 § 3I Nr. 1, § 4 Abs. 1 StAG v. 22. 7. 1913 i. d. F. v. 1. 1. 2000 (BGBl. I S. 1618).

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V. Konzepte der Spezies Mensch

und Tiere verhielten sich genauso wie Menschen. 351 Doch die Geistesgeschichte war über diese Auffassung längst hinweggegangen. Denn spätestens seit Linné war das System der biologischen Gattungen und Arten morphologisch und anatomisch ausgerichtet worden. Viele intuitiv erfassten Menschenbilder deuten darauf hin, dass ihre Hersteller sich einen aus Erfahrung körperlich, also formal, erkennbaren Menschen oder ein so bekanntes bzw. bestimmtes Tier vorstellen, wenn sie über Strukturen und Qualitäten philosophieren. „Forma“ war ein aus der Antike in die Neuzeit transportiertes, meistens untrügliches Merkmal. Ethnologen, Anthropologen oder Psychologen wissen wahrscheinlich, warum morphologische Merkmale so unmittelbar einleuchten: Vielleicht, weil sie spontan die Sinne beeindrucken, ohne kommunikative und intellektuelle Prozeduren? Und weil sie den augenblicklichen Vergleich der Erscheinung mit dem eigenen Selbstbild herbeiführen, der das Fremde ohne lange Überlegung zu identifizieren und auszusondern erlaubt? Wie ein Mensch im Unterschied zum Tier aussieht, wussten offenbar alle, die Kentauren, Meerjungfrauen oder Monster selbstbewusst aussonderten. Die frühneuzeitliche Diskussion über Monster bestätigt im Umkehrschluss einen Prozess sozialer Gruppenidentifikation, der unter jeweils Gegenwärtigen geführt wurde, die dabei wahrscheinlich tradierte mores berücksichtigten. Aufgrund solcher sozialer Erfahrung weiß „man“, weiß also schon der Alltagsmensch aufgrund seiner Alltagserfahrung, welche Gestalt, welche Extremitäten, welches Gesicht und welches Körperverhalten den Menschen indizieren, so dass menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten vermutet werden können, und was abnorm ist. Die Entdeckung des Orang-Utan brachte diese Gewissheiten kurzfristig ins Wanken, veranlassten dann aber erneute Konzentrationen auf das unterscheidbar Wesentliche des Menschen.

351

Vgl. den Text II. 6. zu Fn. 109.

4. Phänotypische Konzepte

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Obwohl die Produktion gentechnologischer Mischwesen das Vertrauen auf morphologische Anschaulichkeit zutiefst erschüttern musste, behielten und behalten die bekannten Muster offenbar ihre Überzeugungskraft und Akzeptanz. Der Deutsche Ethikrat hielt es jedenfalls in der Breite seiner wissenschaftlichen Repräsentanz für einleuchtend, „dass vor allem als identitätsrelevant geltende Aspekte der sichtbaren Form eines Lebewesens großen Einfluss auf deren intuitive ontologische Einordnung haben können“. 352 Ein diesem Gremium angehörender Kritiker des Kriteriums der Totipotenz gestand dem nidierten Embryo Menschlichkeit erst zu, wenn die phänologische Anschauung einen menschlichen Körper und somit ein Wesen erkennen lässt, dass ersichtlich „auf dem Wege“ zu einem „geborenen Menschen“ ist; auch er zielte letztlich auf die Fähigkeit des Embryos, „Person“ zu werden. 353 Was dabei der philosophischen Intuition zugeschrieben wird, entspricht einem andernorts diagnostizierten, neumodischen Trend zur Betonung der Körperlichkeit, die mit allen verfügbaren technischen und kosmetischen Mitteln des Make-up ästhetisch inszeniert und optimiert wird; in dem annexen Begriff der Leiblichkeit gewinnt sie eine – scheinbar altmodische – Wendung zum Metaphysischen. 354 Welche Aspekte dem Ethikrat wichtig erschienen, geht aus dessen Gutachten nicht klar hervor. Das ist auch schwer zu sagen, da Intuitionen Begründungen eigentlich erübrigen. Vielleicht haben die Erkennungsmerkmale Gesicht und Gestalt etwas mit dem sexuellen, sozialen und kulturellen Gedächtnis von Menschen und mit einschlägigen Erfahrungen, vor allem mit deren Gewöhnung an „Ihresgleichen“, zu tun. Wer die Spezies nach deren – natürlichen – Reproduktionsfähigkeiten bemisst, wird wohl ersteres, wer dage352

Ethikrat, Mischwesen, S.75. Reich, Empirische Totipotenz und metaphysische Gattungszugehörigkeit, S. 116 ff. Der Mediziner u. Genforscher Reich war seit 2001 Mitglied des Nationalen, später des Deutschen Ethikrates. 354 Alloa / Bedorf / Grüny / Klass, Einleitung, in: dies. (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, 2012, S. 2 f. 353

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V. Konzepte der Spezies Mensch

gen Kulturfähigkeiten in den Vordergrund stellt, wird letzteres annehmen, ist dann aber schon bei der Interpretation. Die Akzeptanz sichtbarer technischer Ersatzorgane und von Cyborgs lässt vielleicht darauf schließen, dass die Spezieszuordnung irgendwie unbewusst von gewissen Kernelementen der äußeren Erscheinung und des Auftretens abhängig gemacht wird. Wenn, wie erinnerlich, Berry’s romanhafter „Machine Man“ sein Menschsein fiktional in Frage stellt, problematisiert er ein Übermaß seiner morphologischen Abweichungen. Mit der technischen Verbesserung seiner Körperfunktionen ist er anscheinend ganz zufrieden, während seine Umwelt ihn als Anderen wahrnimmt. Im Fall von Xenotransplantationen können allerdings nur „geborene“ Lebewesen einer bekannten Gattung oder Art ungeachtet ihrer inneren materiellen Veränderungen zugeordnet werden. Ein in menschlicher Gestalt auftretendes Mischwesen könnte demnach prima vista als Mensch gelten, während Tiere mit menschlichem Genom oder Gehirn ihrer Tierwelt verhaftet blieben. Ob sich an dieser Einschätzung etwas Grundstürzendes ändert, wenn die Verhalten der modifizierten Lebewesen ihrer Gestalt eklatant widersprechen, kann nur spekuliert werden. Die britische Academy of Medical Science schien anzunehmen, dass die Humanisierung von Tieren keine eigentlichen Menschen hervorbringt. Die in Petrischalen gepflegten Mischwesen sind der morphologischen Identifizierungsmethode von vornherein entzogen.

5. Qualifizierende Konzepte

Sobald das „Wesen“ des Menschen diskutiert und gegen das von Tieren abzuschirmen versucht wurde, verlagerten und verlagern die Argumente sich natürlich vom Äußeren in Innenbereiche, die nur induktiv erschlossen werden können. Diese Erschließung ging und geht regelmäßig einher mit einer Qualifi-

5. Qualifizierende Konzepte

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zierung des Menschen, die diesen von Tieren abhebt und häufig einem Optimierungskonzept folgt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass neuzeitliche Vergleiche zwischen „dem“ Menschen und den ihm näher kommenden Tieren in Komparative zugunsten der Urteiler mündeten. 355 Intellektuelle Selbstidentifikationen des homo sapiens achten eher auf mentale Vorzüge des Menschen vor Tieren als auf dessen physiologische Besonderheiten des Körperbaues und der Organfunktionen. Ungeachtet der erstaunlichen anatomischen Erkenntnisse seit der Frühen Neuzeit hatte Machiavell den Menschen wesentlich als einen Pragmatiker aufgefasst 356, und Hobbes hatte die Zukunftsfähigkeit hervorgehoben. 357 Um einen weiten Bogen zu schlagen: Gehlen modernisierte einige dieser Faktoren und wies, im Anschluss an Scheler, auf die Intellektualität, die Technisierung und Welterfahrung als Spezifika des Menschen hin. 358 Und der Deutsche Ethikrat bestimmte, durchaus in Kontinuität mit der Aufklärung, die „Sonderstellung des Menschen im Tierreich“ gemäß dessen „statusrelevanten Befähigungen“ wie: Selbstbewusstsein, Vernunftfähigkeit Sprachfähigkeit, Kulturfähigkeit, Moralfähigkeit. Unter der Prämisse, die Artgrenzen seien objektiv von Natur aus vorgegeben, hielt er Menschen überdies für kulturell befähigt, die Unterschiede von Mensch und Tier selbstbewusst wahrzunehmen. So ähnlich sah das schon der französische Moralist Rivarol. 359 Diese Fähigkeit ist bemerkenswert, weil sie eine Kreisbewegung von der Arten- zur Selbstbestimmung und von einer anthropozentrisch bestimmten Objektivität zur arteigenen Subjektivität vollzieht: Der Mensch bestimmt das Tier so, dass er sich von ihm als Mensch generell abgrenzen kann.

355 356 357 358 359

Vgl. oben zu V. 1. Vgl. den Text zu II. 1. So Chwaszcza, Anthropologie und Moralphilosophie, S. 99. Gehlen, Die Seele, S. 8, 114. Ethikrat, Mischwesen, S. 81 ff. – Rivarol, Vom Menschen, S. 45 ff.

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V. Konzepte der Spezies Mensch

Welcher Grundgesetzinterpret wollte daran zweifeln, dass jene Fähigkeiten den idealen und die überwiegende Menge auch der heutigen Menschen auszeichnen? Wer wollte sich schon mit instinkthaften, nur zum Nachäffen befähigten Affen auf eine Stufe stellen, die bereits die Aufklärer für nicht satisfaktionsfähig hielten? Viele Grundgesetzkommentare repetieren und variieren die seither einleuchtenden Merkmale als solche der Spezies. Dennoch ist klar, dass jene Fähigkeiten kein Leistungsprofil definieren, sondern überwiegend aus moralischen Rückschlüssen stammen und einen konstruierten Jedermann kennzeichnen. Sie sind nicht vorab, sondern nur im Nachhinein beweisbar, und allenfalls, mit dem Risiko des Irrtums, als eine entwicklungsabhängige Regelerfahrung prognostizierbar. Deshalb lassen sie sich leicht in den Erwartungshorizont einer Zygote einstellen, die noch ihre Umwelterfahrungen und Bewährungsproben vor sich hat. Abweichende Verhalten können als Ausnahmen registriert und behandelt werden, ohne dass der individuell Unbefähigte bzw. Unfähige aus der Spezies herausfiele. Dennoch ist es riskant, das Menschsein auf immaterielle Merkmale zu stützen, die von Fähigkeiten und deren ethischen oder moralischen Bewertungen abhängen. Vorsichtshalber ist deshalb davor gewarnt worden, das Selbstbewusstsein den Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft anzupassen. 360 Leicht könnten nämlich, wie nicht erst die jüngste deutsche Geschichte lehrt, abstrakt gemeinte Merkmale zu individuellen Ausschlussgründen, würden sie zu Erfordernissen jeder Person und einer Gesellschaft erklärt, und das Leben der Ausgegrenzten geriete in die Nähe des Tierschutzes. Andererseits werden Abgrenzungen zu solchen Tieren und Mischwesen unsicher, die „menschliche“ Fähigkeiten erkennen lassen und praktizieren. Zwar sind anthropozentrisch selbstbewusste Interpreten dann immer noch in der Lage, die ähnlichen Fähigkeiten des Menschen vergleichsweise zu verbessern und anzureichern 361, doch sublimierte ein solches Vergleichsverfahren 360 361

So Körtner, Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft, S.3 ff. Vgl. dazu oben II. 4. u. unten V. 7.

5. Qualifizierende Konzepte

165

nur die Spezies generell, nicht das einzelnen Lebewesen, so dass dessen moralischer und rechtlicher Status fraglich bliebe. Kann, wenn Eigenschaften und Fähigkeiten nicht klar und eindeutig erkennbar sind, hilfsweise eine Quantifizierung von Merkmalen helfen, die ein Menschsein wenigstens überwiegend veranschaulichen oder indizieren? Da die Diskussion über die Menschwerdung von Zygoten bereits die Denkfiguren des Noch-nicht-Menschlichen und des Schon-Menschlichen sowie, am Ende, des Nicht-mehr-Menschlichen hervorgebracht hat, ist es nicht abwegig, in den Kategorien von Mehr und Minder zu argumentieren, um Mischwesen in bekannte und akzeptierte Klassifikationen einzufügen. Man kann sich denken, dass ein gewisses Quantum an transplantiertem menschlichem bzw. tierischem Material eine Metamorphose bewirkt, die, abhängig von der Qualität, den Funktionen und der Prägekraft des übertragenen Materials, zu so erheblichen Veränderungen der Eigenschaften und / oder Fähigkeiten führt, dass nicht nur das Mischwesen selbst sich umgekehrt „als“ Mensch oder „als“ Tier empfindet, sondern auch so wahrgenommen wird. Der Deutsche Ethikrat brachte dieses Kriterium in Ansatz, vermerkte aber beruhigt, dass bislang das Tierische im Menschen noch nicht überwiege. 362 Noch nicht: der Vorbehalt lässt für Legitimationen weiterer Entwicklungen Raum. Die Schätzung dürfte auch auf technische Hilfsmittel, also auf Cyborgs, zutreffen. Bei Tieren war die britische Academy of Medical Science sich nicht mehr ganz so sicher. Sie rechnete bereits mit anstehenden Forschungen, die ein gentechnologisch humanisiertes Tiergehirn in ein menschenähnliches oder gar menschliches verwandeln könnten, und warnte vor derartigen Experimenten zum Schutz der Spezies Mensch. 363 Im Fall der Fusion der Eizellen von Hasen mit menschlichen Körperzellen wurde das Produkt nicht mehr entschieden, sondern nur „eher“ als menschlich angesehen, weil nur etwa 1 % des Genoms vom 362 363

Ethikrat, Mischwesen, S. 79 ff. The Academy of Medical Science, Animals, S. 45, 110.

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V. Konzepte der Spezies Mensch

Hasen stammte und 99 % der Erbinformationen menschlicher Provenienz waren. 364 Man könnte rechnerisch auch enger quotieren; dennoch bleibt problematisch, wohin weitere Zellteilungen einer entwicklungsfähigen Mischung sich langfristig entwickeln. Auch im Fall der Transfusion von Gehirnzellen aus Schweinefeten auf Parkinsonkranke wurde erwogen, ob die „eher niedrige Quantität der transferierten Zellen“ den Status des Empfängers in Frage stellen könnte. Jede solcher Quantifizierungen muss aber erwägen, ob und wann Quantität in Qualität umschlägt. Kommt eine kritische Grenze in Sicht, wenn ganze Gehirnareale übertragen würden? 365 Darf man einen solchen Vorgang mit der Implantation von Gehirnchips vergleichen, die wesentliche Gehirnfunktionen technisch steuern und notfalls von einer externen Technikstation nachjustiert werden? Soll es dann auf die Zellquantitäten oder auf Organfunktionen ankommen? Der Deutsche Ethikrat erwog die „Eingriffstiefe“ von Transplantationen und veranschlagte damit den Wirkungsgrad eventueller Metamorphosen. Der Begriff erinnert an das rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprinzip, demgemäß die Schwere eines Grundrechtseingriffs dessen Rechtfertigung dimensioniert. Inter-Spezies-Transplantationen unwesentlicher Materialien hielt der Ethikrat für weniger erheblich und weniger artverändernd als die wesentlicher Teile. Dazu zählte er in Übereinstimmung mit der Academy of Medical Science und Genforschern in erster Linie das Gehirn als das führende Organ. Diese Einschätzung entspricht der herrschenden Meinung. Sie verbindet Quantifizierungen eines zentralen Organs mit essentiellen Funktionen, die, wie gesagt, den Menschen in mentaler Hinsicht kennzeichnen und dem Tier überlegen erscheinen lassen. Hobbes Bemerkung, dass ohne Blut und Herz mit dem Gehirn nicht viel anzufangen sei 366, war schon erledigt. Doch auch be364 Badura-Lotter / Düwell, Chimären, S. 95 ff.; eine ähnliche Quote bei Skene / Savulescu, Human Admixed Embryos. 365 So die Frage von Badura-Lotter / Düwell, Chimären, S. 100. 366 Vgl. oben zu II. 3.

6. Entwicklungspotentiale

167

züglich des Gehirns weiß man, soweit ersichtlich, noch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wie transplantierte Gehirnzellen sich langfristig entwickeln und wann sie einen Qualitätssprung der Eigenschaften, Fähigkeiten und psychischen sowie sozialen Folgen bewirken. Bei alledem ist zu bedenken, dass Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein oder Vernunft, durch die die Spezies Mensch sich generell-abstrakt auszeichnen soll, beim Individuum nur induktiv aufgrund terminierter technischer Experimente erschlossen werden können und zu „Wesens“-Eigenschaften ausgedeutet werden müssen. Besondere Probleme der Klassifizierung ergeben sich aus eventuellen Diskrepanzen zwischen phänomenologischer Anschauung und mentaler Potenz sowie zwischen forma und materia. Der Anscheinseindruck kann trügen.

6. Entwicklungspotentiale

Nicht nur vorgeburtliche Genome und Zygoten versprechen, mehr zu werden, als sie erkennbar darstellen. Auch geborene Menschen haben ihre morphologischen und mentalen Metamorphosen noch vor sich, so dass es einer gewissen Abstraktion des Begriffes bedarf, um ihre Identität feststellen und im Neugeborenen den späteren Intellektuellen oder Greis vermuten zu können. Wem das zu abstrakt ist, der wartet mit seiner moralischen Anerkennung eines Menschenwesens, bis die Zygote erkennbar menschliche Züge gewinnt. 367 Natürlich beherrschen dennoch Naturgesetze die Evolution, und wer sie kennt, kann der aus menschlichen Genen entstandenen Zygote ihr artgemäßes Schicksal biologisch begründbar prognostizieren. Die christlichen Kirchen des Abendlandes verließen sich seit ihrer

367 Vgl. nochmals u. beispielhaft für ähnliche Stellungnahmen Reich, Empirische Totipotenz und metaphysische Gattungszugehörigkeit, S. 116 ff.

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V. Konzepte der Spezies Mensch

Aufklärung auf die Kausalität jener Naturgesetze 368, und das Bundesverfassungsgericht wurde ebenso überzeugt, als es die „genetische Identität“ des „werdenden Lebens“ zum Anlass nahm, dessen Keim unter den Begriff „Mensch“ zu subsumieren. Bei Mischwesen scheint die Forschung sich nicht ganz so sicher zu sein, was aus Gehirn- oder Keimzellen in artfremden Zellverbindungen wird, doch man kann ungeschützt davon ausgehen, dass jede faktische materielle Veränderung eines Bios zu Veränderungen der Möglichkeiten führt und Voraussagen deshalb sowohl mutig wie zweifelhaft sind. Die britische Academy of Medical Science gab das offen zu, und wer von immer neuen Einsichten der Genforschung und Neurologie liest, muss, wenn davon Lebens- und Rechtsschicksale abhängen, Prognosen mit Vorsicht begegnen. Vorsicht ist umso mehr angebracht, je weiter jene genetische Identität in eine psychologische und soziale ausgezogen wird, wie dies der judikativen Vorstellung vom Menschen als „geistig-sittlichem Wesen“ entspricht, das sich in seinem sozialen Umfeld als „Person“ entfaltet. Argumentativ lässt jener Spannungsbogen sich stabilisieren, wenn das biologische Leben als faktische Voraussetzung einer moralischen Würde verstanden wird, sei es, dass diese jedem Einzelnen aufgrund der Anerkennung seiner persönlichen Leistungen durch die Gemeinschaft sukzessive zuwächst, sei es, dass jeder sie als artspezifisch „angeborenen“ Wert in die Gemeinschaft einbringt – die Rechtswissenschaft schwankt zwischen diesen Varianten und möglichen Modifikationen –, so dass nicht nur das Individuum, sondern auch die Gemeinschaft sich würdevoll entwickeln kann. Der Entwicklungsthese des Bundesverfassungsgerichts nach findet von der einen zur anderen Position ein kausales Kontinuum statt: Der judikative „Mensch“ erlebt und vollbringt im Rahmen der Verfassungsinterpretation seine und seiner Art Entwicklung vom Genom

368 Vgl. oben zu IV. 6. An der Konsensfähigkeit dieser Idee zweifelte allerdings der evangelische Ethiker Kreß, Medizinethik, S. 167.

6. Entwicklungspotentiale

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zu einer biologischen, zu einer psychologischen Individualität und dann zur Sozialität. In der nidierten Zygote liegt das alles als Möglichkeit beschlossen, wenn die Idee der Potentialität die Feder führt. Prognosen, die einer Zygote und dem Informationsfundus eines Genoms die Möglichkeit eines menschlichen Selbstbewusstseins zutrauen, rechnen typischerweise mit dem Phänomen einer Psyche. So ähnlich argumentierte schon die antike und biblische Seelenlehre. Das typische Merkmal ist, so gesehen, die Grundlage der individuellen Entwicklung. Dass es Menschen ohne Seele bzw. Psyche gibt, wird ebenso wenig vertreten wie die Annahme absolut gehirnloser Menschen. „Psyche“ ist also ein der Spezies besonders zuerkanntes Merkmal und Grundlage für Prognosen eines artspezifischen Selbstbewusstsein. Jedenfalls unterschieden die britische Academy of Medical Science und der Deutsche Ethikrat das Tier vom Menschen durch dessen Selbstbewusstsein. In der Psychologie gilt die Psyche eines „fertigen“ Menschen aber als Trägerinstanz des personalen Selbstbewusstseins. Gehirnforscher verlassen sich dagegen auf neuronale Prozesse und gehen dabei von einem typischen menschlichen Gehirn aus, das individuell ausgeprägt werde. In der Diskussion über „Das Ich und das Gehirn“, die Popper und Eccles 1982 führten, erwiderte der Philosoph dem Gehirnforscher – und zugleich jeder materialistischen Theorie seit de La Mettrie –, er sei „überzeugt“, dass es ein „Ich“ gebe, doch müsse man lernen, ein Ich zu sein; es gebe kein „reines Ich“, das vor jeder Erfahrung liege; die Gehirnprozesse seien der zwar notwendige, aber nur biologische Hintergrund des im Bewusstsein sich entfaltenden Individualismus. 369 Ähnlich der Lernfähigkeit von Genen soll auch das Selbstbewusstsein sich nicht nur autonom bilden, sondern von Anfang an, also

369 Popper / Eccles, Das Ich und das Gehirn, Teil I, S. 23 ff., 133, 136, 144 ff., 167. Zu einem speziellen Aspekt Müller, in: Philosophia naturalis, Bd. 35 (1998), S. 333 ff.

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V. Konzepte der Spezies Mensch

auch schon im Mutterleib eines Menschen, Umwelteinflüssen unterliegen. 370 Wird das Menschsein so definitiv mit einem arteigenen Selbstbewusstsein identifiziert, sind Zygoten und deren Entwicklungstadien bis zu etwa dreijährigen Kindern auf prognostische Spekulationen angewiesen. Wenn man annimmt, dass bei Komatösen und anderen dauerhaft Bewusstlosen das „Ich“ auf ein durch Gehirnströme nur indiziertes Unterbewusstsein reduziert ist, von dem keine autonome Selbst- und Umweltgestaltung erwartet werden kann, konfligiert die Identitätsthese mit der moralischen Regel, auch sie als Menschen zu achten. Tieren wird nämlich gerade diese Autonomie abgesprochen. Man könnte eine solche Herabstufung argumentativ vermeiden, indem man den als Menschen Geborenen ihre Spezieszugehörigkeit im Fortsetzungszusammenhang der ursprünglichen Potentialitätsthese zuerkennt – Deduktionen und Prognosen, die tierische Mischwesen nicht erfassen. Medizinethische Argumente verlassen sich statt dessen auf die Kunst der Differenzierung: Wenn „Bewusstsein“ eine Palette von Zuständen umschreibt, die wenigstens Wachheit und dann stufenweise kognitive, intentionale, phänomenale Fähigkeiten und erst als Höhepunkt das Selbstbewusstsein umfassen 371, dann fallen jedenfalls zahlreiche Demente und sonstige „wache“ Gehirngeschädigte nicht aus der Gattung Mensch, Zygoten und andere Genprodukte müssten dagegen andere Potentialitätskriterien vermuten lassen oder aufweisen. Konstruierte Mischwesen braucht allerdings nicht zu interessieren, was ein menschliches Individuum bewusst oder unbewusst erlebt, insofern dessen Eigenheiten für einmalig gehalten werden. Das Gericht hatte diese beiden Aspekte miteinander verbunden: Individualität als Einmaligkeit und Poten370 Vgl. u. a. Rammsayer, Humanistische Persönlichkeitstheorie, in: Weber / Rammsayer, S. 61 ff.; Thomae, Das Individuum und seine Welt, S. 6 f. 371 Vorschlag von Körtner, Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft, S. 7.

6. Entwicklungspotentiale

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tialität als neue Wirklichkeit. Menschliche Individualität und Identität sind freilich nicht durch Momentaufnahmen zu erfassen. Sie sind entwicklungsbedingt und hängen außer von der genetischen Mitgift von Umwelteinflüssen ab. Auch Gene können physisch und psychisch lernen und das Erlernte weitergeben. Gentechnologische Modifikationen der Keimzellen und Gehirnstrukturen, die etwa das Gedächtnis beeinflussen, verändern ohnehin die Einmaligkeit der Identität. So könnten auch Mischwesen ihre materielle Substanz ändern und sich dadurch den üblichen Klassifikationen entziehen. Geht es hingegen darum, sie klassifikatorisch analog „als“ Menschen oder wie Tiere zu behandeln, dann interessieren nicht individuelle, sondern allgemeine artgemäße Merkmale – Formen, Verhalten, Eigenschaften und Fähigkeiten –, die der Spezies eigen sein sollen und analogiefähig erscheinen. Die artspezifisch zugeschriebenen Qualitäten skizzieren eine Regelbegabung von Menschen, die individuell nicht durchweg zutreffen muss. Von einer Kontinuität der Identität kann prognostisch also nur im Allgemeinen gesprochen werden. Letztlich lässt das Niveau der Menschenbilder sich an der Einschätzung der Abweichungen erkennen. Die Kulturgeschichte könnte Monster, Taubstumme und Geisteskranke in die Diskussion einbringen. Heute beeinträchtigen Mischwesen die Stimmigkeit definitiver Konzepte. Im Zeitpunkt der Nidation bedarf die Entwicklung einer prospektiven Aufwertung, die sich eventuell später falsifizieren lässt, doch kennen die herrschenden Moralen und. Ethiken keine Regel, die den Verlust des einmal anerkannten Menschseins zur Folge hätte. Mit dieser These kann man festhalten: Ein geborenes Lebewesen profitiert von einer möglichst frühzeitigen Einschätzung seiner artspezifischen Potentialitäten, oder es leidet unter seiner Zuordnung zu einer nichtmenschlichen Spezies. Die nidierte menschliche Zygote und das „werdende“ bzw. „keimende Leben“ wurden im Vertrauen auf ihre kontinuierliche Entwicklung im Wege der Analogie „als“ Menschen gewürdigt, weil dies im Rahmen ihrer abstrakt inhärenten Möglichkeiten zu liegen schien. In ähnlicher Weise könnten auch andere Genverbindungen nach ihren Potentiali-

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V. Konzepte der Spezies Mensch

täten geschätzt und klassifiziert werden, sei es „als“ Menschen oder „als“ Tiere, je nachdem entsprechende Anlagen feststellbar und Kausalverläufe naturwissenschaftlich oder metaphysisch voraussagbar sind. Auf Möglichkeiten zu setzen, darin besteht die argumentativ maßgebende Weichenstellung, mit der von Keimen auf die Zugehörigkeit zu einer Spezies geschlossen werden kann. Das Embryonenschutzgesetz verfährt so, wenn es den Embryo als „befruchtete entwicklungsfähige menschliche Eizelle“ und Keimbahnzellen definiert. 372 Doch weitere Entwicklungen als die vorauszusagen, die erfahrungsgemäß naturgesetzlich eintreten, und darüber hinaus mögliche menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten zu prognostizieren, durch die ein Embryo zum typischen Gattungswesen oder zu einem – in Deutschland verbotenen – Chimbrid erwächst, erforderte die Kunst der Wahrsage. Wenn man aber der These zustimmt, dass Menschen sich Wahres subjektiv vorstellen können, dann gewinnt das Denken in Möglichkeiten eine eigene Dynamik Richtung Wirklichkeit. Aristoteles begründete es philosophisch, Thomas von Aquin theologisch; Kant und Heidegger säkularisierten es. Aristoteles entwarf die Philosophie der Möglichkeit nicht als biologische, sondern als metaphysische Lehre: als ein Theorem des Übergangs von dem einen Sein in ein analoges anderes. Er argumentierte gattungsbezogen und ging davon aus, dass „in jeder Gattung des Seienden das Mögliche von dem Wirklichen geschieden ist“. Von dem Seienden aus verwirkliche das Mögliche sich durch die – von einem ersten Beweger in Gang gesetzte – „Bewegung“. Die Wirklichkeit (energeia) des Möglichen (dynamei) sei, „insofern es bewegbar ist“, Bewegung (kinésis), die ein wirkliches – existierendes – mit einem möglichen – entstehenden – Substrat verbinde. Jede Wirklichkeit entstehe so aus einer wesengleichen durch Kunst (techne) oder Natur (physis) oder durch Zufall. 373 Auf determinierte 372 373

Vgl. dazu unten VI. 3. Aristoteles, Metaphysik, 1065b – 1070a: Bonitz, S. 254 f., 267 ff.

6. Entwicklungspotentiale

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Ergebnisse legte der Philosoph den Vorgang der Veränderung nicht fest. Jede verwirklichte Möglichkeit verändere ihrerseits die weiteren Möglichkeiten. Nur der Ursprung stehe fest. Thomas von Aquin kannte den unbeweglichen Beweger: Das war der christliche Gott, der Ursprung gewissermaßen der irdischen Evolutionen. Von diesem Gott unterschied er die werdende „potentia“, die ein Vorgang der Veränderung von Materie sei. Was erst möglich ist, ist noch nicht: „quod est potentia, nondum est“. 374 Aristoteles hatte so aus der „Materie“ die „Gestalt“ hervorgehen sehen: aus dem Marmor die Skulptur. Aus der Zygote den Menschen? Er meinte, dass die Möglichkeit eine zur ursprünglichen Wirklichkeit mindere Qualität besäße, sich aber zu einer neuen Wirklichkeit entwickle, die ihre Ursprungsmaterie teilweise in sich aufnehme und perfektioniere. Der Aquinate konnte dazu auf die Beseelung verweisen, die seinerzeit noch nicht in der Zygote erfolgte. Aus aristotelischer Sicht war die Zygote ein Noch-Nicht-Mensch auf dem Wege nicht zu einem besseren Selbst, sondern zum Menschen 375, der aus Sicht des Aquinaten erst in der eigenen Verwirklichung beseelt werden konnte. Kant nahm diese Variante der Gottesebenbildlichkeit nicht auf. Er trennte Physik und Metaphysik: „Ich meinerseits leite alle Organisation von organischen Wesen (durch Zeugung) ab, und spätere Formen (dieser Art Naturdinge) nach Gesetzen der allmählichen Entwicklung von ursprünglichen Anlagen ..., die in der Organisation ihres Stammes anzutreffen waren. Wie dieser Stamm selbst entstanden sei, diese Aufgabe liegt gänzlich über die Grenzen aller dem Menschen möglichen Physik hinaus. ... Wahre Metaphysik kennt die Grenzen der menschlichen Vernunft ...: dass sie schlechterdings keine Grundkräfte a priori erdenken kann.“ Die Grenzen der Naturwissenschaften seien durch „Erfahrungen“ gesteckt. „Wo diese aufhören, und man mit selbst erdachten Kräften die 374

Thomas von Aquin, Summe I, 16. cap., S. 64 ff. Zu diesem philosophischen Zweckzusammenhang vgl. Vorländer, Philosophie des Altertums. Geschichte der Philosophie I, S. 124 ff. 375

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V. Konzepte der Spezies Mensch

Materie ... es anfangen muss, da ist man schon über die Naturwissenschaften hinaus, ob man gleich noch immer Naturdinge als Ursachen nennt.“ 376 Das Bundesverfassungsgericht hätte sich also auf Kant berufen können, als es die genetische Identität einer Zygote zum Menschen hin potenzierte. Indem es dem Embryo aber eine angeborene Würde zuerkannte, bemühte es jedoch Werturteile metaphysischer Provenienz, naheliegenderweise aristotelischthomistischer Prägung, die eine Sozialnatur erahnen ließ, in der die Speziesmerkmale Psyche, Selbstbewusstsein und Vernunftfähigkeit zum Ausdruck kommen könnten, die Tieren bekanntlich fehlen. Wer das menschliche „Wesen“ und die menschliche „Würde“ dagegen auf säkulare Anerkennungen gründet, etwa auf den Respekt, den eine Gemeinschaft sich in jedem ihrer Mitglieder zu schulden meint, oder auf konstitutionelle Positivierungen abhebt, der braucht den metaphysischen Aufwand nicht; der kann zweckrational und teleologisch argumentieren, etwa im Sinne sozialer Reziprozität. So legitimiert, kann er auch Mischwesen bewerten. Nur der Vollständigkeit halber sei bemerkt, dass das Motiv sozialer Gegenseitigkeit auch in der Ikonographie des Bundesverfassungsgerichts Gravuren hinterlassen hat. In manchen Extremfällen wurde das Rechtsgut Leben von dem der Würde so abgekoppelt, dass der in Art. 2 Abs. 2 GG positivierte Gesetzesvorbehalt parlamentarisch und administrativ aktiviert werden durfte. Wenn ein „menschliches Wesen“ andere erheblich gefährdet, darf es im Extremfall getötet werden: so ein Embryo bei Lebensgefahr für seine Mutter und ein gemeingefährlicher Luftpirat, wenn er sich als „Straftäter“ aus der Gemeinschaft ausschließt. 377 Solche Extremfälle markieren den Normalfall eines Menschseins, das durch genetische Abstammung grundgelegt und typischerweise auf eine Gemeinschaftsfähigkeit ange376 Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788), in: Werke, Bd. V, S. 162 ff. 377 So im Ergebnis BVerfGE 115, S. 118, 160 f.

7. Optimierungskonzepte

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legt ist. Es ist ein Menschsein, das seine arttypische Identität der gedanklichen Kombination des Abstammungs- mit dem Potentialitäts- und Kontinuitätsprinzip verdankt. Diese generell-abstrakte Identität „bewegt“ sich „aristotelisch“ zu personalisierten Individuationen, die aufgrund der Annahme eines artspezifischen Selbstbewusstseins sowie einer artspezifischen Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit wieder an die Gruppenidentität rückgebunden werden. In ähnlicher Weise wird auch das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention konstruiert 378, und für die Europäische Charta der Grundrechte gilt Ähnliches.

7. Optimierungskonzepte

Wer die Idee der Entwicklungspotentiale technologisch und technisch ausreizen möchte, könnte sich in die futuristische und ironische Prognose flüchten, dass es zukünftig keine üblichen Menschen mehr zu geben brauche, wenn die Spezies durch „bessere Wesen“ ersetzt werde. Der Mensch habe sich, so die These, im Laufe der Evolution ständig verändert, dabei aber viele Gemeinsamkeiten mit anderen Arten beibehalten. 379 Zeugte diese Vorhersage eines britischen Bioethikers von dem sprichwörtlichen britischen Humor, von Resignation oder von Weitsicht? Oder drückte sie aus, was in utopischen Philosophien des Trans- und Posthumanismus erwogen wird, für die Nietzsche den Ahnherrn abgeben soll? Die Aussicht auf „bessere“ Wesen hielte sich jedenfalls noch in jener Logik, mit der Menschen sich bisher schon als den Tieren überlegene, höher qualifizierte Wesen erkannten. Tatsächlich zeigen paläoanthropologische Funde eine evolutionäre Hybridisierung der Urmenschen und indizieren angeblich Kreuzungen zwischen Vor378

Bergmann, Das Menschenbild, bes. S. 246 ff. John Harris (Universität Manchester / Großbritannien), in: Deutscher Ethikrat. Infobrief: Mischwesen zwischen Mensch und Tier 01/10 März 2010, S. 3. 379

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V. Konzepte der Spezies Mensch

fahren des homo sapiens mit Schimpansen vor etlichen Jahrmillionen. 380 Jetzt, könnte man hinzufügen, nimmt der Mensch seine Evolution selbst aktiv in die Hand: von der einst angestrebten restitutio ad integrum zu einer auf „enhancement“ ausgerichteten transformatio ad optimum. 381 Die Erwartung „besserer Wesen“ beflügelt Gentechnologen, Bioniker und Autoren von Zukunftsromanen. 382 Lassen sie sich von ihrem Forschergeist oder von gesellschaftlichen Bedürfnissen leiten? Vielleicht folgen sie nur Zarathustras, Nietzsches Immoralisten, Rede zum Volk: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. ... Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt ... lieber noch zum Tier zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein ... Ihr habt den Weg vom Wurm zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe als irgendein Affe. ... Der Übermensch ist der Sinn der Erde.“ Der Mensch dagegen, fügte Zarathustra hinzu, sei nur „ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch, – ein Seil über dem Abgrund.“ 383 Obwohl Nietzsche 380 Vgl. Patterson / Richter / Gnerre / Lander / Reich, Genetic evidence for complex speciation of humans and chimpanzes, in: Nature Bd. 441 (2006), S. 1103 ff.; zu den neuesten Funden von „Affenmenschen“ in Kenia vgl. v. Lucius, „Millenium-Mann“, in: FAZ Nr. 285 v. 7. 12. 2000, S. 15; zu Funden, die einen Entwicklungszusammenhang von Gorilla, Schimpanse u. Mensch indizieren vgl. Galus, Un ancêtre du gorille: découvert en Éthopie, in: Le Monde v. 24. 8. 2007; zur Entschlüsselung des Gorilla-Genoms u. zu auffälligen Parallelen zwischen Mensch u. Gorilla vgl. Scally et al., Insights into hominid evolution from the gorilla genome sequence, in: Nature Bd. 483 (2012), S. 169 ff., davon Abstract online: www.nature.com/ nature/journal/v483/n7388/full/nature10842.html. 381 So – kritisch – Wiesing, Zur Geschichte der Verbesserung des Menschen, pass. (dort Kursivdruck). 382 Z. B. Berry, Machine Man, S. 108, 298 ff. 383 Nietzsche, Zarathustra, in: Werke, 305 ff. (Zitat), 552 f.; dazu ders., Genealogie der Moral, 838; ders., Ecce Homo, 1888, in: Werke, Bd. II,

7. Optimierungskonzepte

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von Zarathustras Darwinismus nichts wissen wollte und eigentlich das bessere Selbst in jedem Menschen ansprach 384, ist seine Nähe zur Eugenik und zu Ideen der Bestenauslese unübersehbar. Er naturalisierte den Geist im Leib des Menschen, um ihn auch von dort aus zu Höherem zu bringen. Im Begriff der „Selektion“ kündigte sich eine Steuerung des Fortschritts programmatisch an. 385 Nietzsches Aufruf zur Heilung des „kranken Menschen“ galt zwar in erster Linie der geistigen Stärkung, lässt sich aber ebenso gentechnologisch und medizintechnisch verstehen, wenn philosophische Wegweisungen oder Legitimationen nachgefragt werden. Selbstverständlich haben das Präimplantationsdiagnostikgesetz 386 und die britische „Human Fertilisation and Embryology Authority“ Besseres im Sinn: Ermöglichung eines neu formulierten „Grundrechts auf Fortpflanzungsfreiheit“ 387, ein Grundrecht, das dazu und nicht etwa zur Abwendung einer chinesischen Ein-Kind-Politik aktiviert wurde. Die seit 1980 medizinisch mögliche Präimplantationsdiagnostik soll dazu dienen, genetischen Schädigungen von in vitro befruchteten Eizellen durch Untersuchungen des Erbgutes zu erkennen; die Keimbahntherapie soll Erbkrankheiten vorbeugen; erbgeschädigte Embryonen dürfen bereits in vitro, also vor der vom Bundesverfassungsgericht für maßgebend erklärten Nidation, unter strengen Kautelen vernichtet werden. Dadurch soll „Paaren“ geholfen werden, deren Kinderwunsch eventuell durch absehbare Erbkrankheiten gefährdet würde. Auf die Art und S. 173 ff., 198: „Das Wort ‚Übermensch‘ zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu ‚modernen‘ Menschen, zu ‚guten‘ Menschen, zu Christen und anderen Nihilisten“. 384 Safranski, Nietzsche, S. 268. 385 Nietzsche, Ecce Homo, S. 208: „... das Gesetz der Selektion“; zur Einbettung Nietzsches in das darwinistische Umfeld vgl. Safranski, Nietzsche, S. 270 ff. 386 Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) v. 21. 11. 2011 (BGBl. I 2228): Ergänzung des Embryonenschutzgesetzes v. 13. 12. 1990 (BGBl. I 2746) durch den § 3a. 387 Gesetzesbegründung: BT-Drs. 17/5451 v. 17. 4. 2011.

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V. Konzepte der Spezies Mensch

Dauer der Paarbeziehungen wird kein Wert gelegt. Das deutsche Gesetz schließt die Mitwirkung anonymer Samenspender nicht aus, so dass die grundrechtlich bemühte Freiheit auch dem Kinderwunsch alleinstehender Frauen dienen kann. Die britische Keimbahntherapie benötigt außer einer Samen- und einer Eizelle eines Paares noch eine weitere Eispenderin, so dass von von einer dreifachen Elternschaft gesprochen werden kann. Man berechnet deshalb hier bereits die genetische Abstammung in Prozentzahlen. 388 Sollte demnächst daran gedacht werden, die in vitro hergestellten Embryos durch die Beimischung von potenterem tierischen Zellmaterial zu verbessern, müsste das deutsche Gesetz modernisiert werden, sofern das Grundgesetz derartigen Manipulationen nicht entgegensteht.

8. Mischwesen „sui generis“

Angesichts der Schwierigkeiten, Mischwesen klar und überzeugend ein- oder auszugrenzen, ist erwogen worden, sie als Wesen sui generis zu erfassen. 389 Die Figur „sui generis“ entspricht einer rechtspragmatisch bewährten Methode, Auswege einzuschlagen, wenn ein neuer Sachverhalt sich von einem geregelten so erheblich unterscheidet, dass die für diesen vorgesehenen Rechtsfolgen nicht passen und eine neue Lösung gesucht werden muss. Wer dazu jederart Mischwesen in eine Klasse „sui generis“ einordnet, unterstellt allerdings, dass alle diese Wesen etwas wesentlich Gemeinsames haben. Das fehlt aber einigen Varianten der Mischwesen. Sie verdanken ihre Konsistenz zwar „Mischungen“, doch unterscheiden diese sich schon verfahrenstechnisch erheblich und ergeben eine Vielfalt qualitativ und quantitativ unterschiedlicher Mixturen in vivo und in vitro. „Sui generis“ könnte daher jede Mixtur nur je besonders 388

Vgl. Müller-Jung, in: FAZ Nr. 68 v. 21. 3. 2013, S. 25. Nussbaum, Gerechtigkeit, S. 494 (mit der Forderung, geistig Schwerstbehinderte sollten nicht verdrängt werden); Badura-Lotter / Düwell, Chimären, S. 96 f. 389

9. Zwischenbilanz

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beurteilt werden. Ob und welche Mischwesen zu Objekten wissenschaftlicher Forschung taugen und dafür instrumentalisiert werden dürfen und welche dem konstitutionellen Begriff des Menschen so nahe stehen, dass sie dessen Rechtsstatus haben sollten, lässt sich deshalb „sui generis“ nicht generell entscheiden. Das Prädikat „sui generis“ könnte strategisch aber auch dazu verwendet werden, Mischwesen aus der grundgesetzlichen Alternative Mensch – Tier prinzipiell auszuscheiden, um sie dem Sachbegriff zuzuschlagen und so, jenseits des Menschen- und Tierschutzes, leichter verfügbar zu machen. Dann gewönne der farblose Hilfsbegriff eine eigene verfassungspolitische Gestaltungsfunktion und die Forschungs- und Marktfreiheit könnten sich ungehemmter entfalten. Ob eine solche Auffassung vor den anerkannten Interpretationsregeln bestehen könnte, kann jedoch so lange dahinstehen, wie noch ungewiss ist, ob Mischwesen sich nicht aufgrund gewisser markanter Ähnlichkeiten mit dem Menschen oder mit Tieren dieser oder jener Kategorie zuordnen lassen.

9. Zwischenbilanz

So faszinierend und anregend Vorstellungen von Fortsetzungen der Evolution sein mögen, bei der „der“ Mensch nicht nur der Natur ausgeliefert ist, sondern sein Dasein und Werden selbst modellieren kann, so sehr verunsichern sie gewohnte Menschenbilder. Solche Bilder ergaben und ergeben sich im Wesentlichen durch Intuitionen und werden teleologisch so ausgemalt, dass sie Zeitgenossen einleuchten. Ein zeitlos gültiges Menschenbild ist so nicht zu erwarten, aber auch nicht nötig, wenn es nur darum geht, Menschen in ihrer Gemeinschaft und in der Welt einzurichten. Metaphysische Rückbindungen stabilisieren zweifellos den moralischen Status der Menschen, entziehen ihn aber dem Diskurs; sie erwidern moralische und ethische Abwägungen axiomatisch und vertiefen so den „Streit

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V. Konzepte der Spezies Mensch

der Facultäten“ um die Deutungshoheit über das Wesen und die Grenzen der Spezies; Grenzerweiterungen zur Integration von Mischwesen sind dann indiskutabel, es sei denn, raffinierte Methoden der Interpretation könnten clandestine Spielräume eröffnen. Unter den derzeit diskutierten Konzepten der Spezies Mensch ragt das judikative Konzept des Bundesverfassungsgerichts deshalb hervor, weil es rechtsverbindlich ist. Das Gericht entwarf eine Ikonographie, die von der genetischen Identifikation einer nidierten Zygote bis zum autonomen Erwachsenen reicht und in diesem Spannungsbogen die Rechtsgüter Leben und Würde von der Anerkennung eines Embryos „als Mensch“ bis zur Berechtigung von Rechtssubjekten verbindet. Der biologische Ansatz war gegriffen; er ermöglicht aber, sofern nicht axiomatisch gemeint, weitere Ausdehnungen und Terminierungen für einen biologischen, psychologischen, sozialen oder rechtsrelevanten Lebensbeginn. Qualifizierende Konzepte, die Wert auf gewisse – im Laufe von Jahrhunderten entwickelte und modifizierte – materielle Wesensmerkmale wie Vernunft, Autonomie usw. des Menschen legen, erweitern den Interpretationsrahmen, verengen aber zugleich den Kreis der Lebewesen, die in die Kategorie „Mensch“ einbezogen werden könnten, käme es nur auf basale DNAStrukturen und morphologische Faktoren an. Werden morphologische und qualifizierende Faktoren – wie Gestalt und Vernunft – auf eine feste Verbindung festgelegt, fallen abnorme – irgendwie andersartige oder defekte – Lebewesen aus der geschlossenen Kategorie „Mensch“ heraus; eine flexible Abwägung der Charakteristika ermöglichte dagegen eine liberalere Integration, zwar nicht aller jetzt oder in Zukunft herstellbaren, aber doch solcher Mischwesen, die den herrschenden Vorstellungen vom Menschen bzw. von Tieren überwiegend entsprechen. Die Vorstellung von Entwicklungspotentialen, die naturwissenschaftliche Theorien von der Evolution mit philosophischen

9. Zwischenbilanz

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Theorien über die Verwirklichung von Möglichkeiten und damit dem Beweis Zugängliches mit Spekulativem verbindet, erweitert das Begriffsfeld Mensch bzw. Tier. Sie lässt es zu, den Beginn menschlichen Lebens vor das Ereignis der Nidation zu verlegen und das Ende über den Hirntod auszudehnen. Wenn Potentialität so etwas wie die aristotelische „Bewegung“ bzw. ein Prozess ist, kann die Instanz, die Lebewesen ein Lebensrecht und eine Würde zuerkennt, die intuitiv einleuchtenden und teleologisch akzeptablen Faktoren der Inklusion bzw. Exklusion abwägen und in eine gleitende Ordnung bringen. Vereinzelt zum Maßstab der Ein- oder Ausgrenzung genommen, erfassen die verschiedenen Charakteristika des Menschen punktuell dieses oder jenes, aber nicht jederart Mischwesen. Man muss damit rechnen, dass die Mixturen sich nicht einheitlich klassifizieren lassen. Die Kategorie „Mischwesen“, die von der Antike bis zum christlichen Mittelalter und erneut seit den Errungenschaften der modernen Gentechnologie Zuordnungsprobleme bereitete, die auch vom Deutschen Ethikrat als Phänomene sui generis thematisiert wurde, steht dann vor ihrer Auflösung in Nähebeziehungen entweder zum Menschen oder zu Tieren, und die gentechnologisch gemischten „Lebewesen“ teilen dann Charakter und Schicksal ihrer jeweils ähnlichsten Spezies. Intuitiv könnte man zunächst auf formale Merkmale wie Gestalt und Gesicht abstellen und sie durch anatomische und / oder genetische Strukturen oder durch Merkmale verifizieren oder falsifizieren, die strukturell oder aus typischen Verhalten auf moralisch überzeugende Ähnlichkeiten schließen lassen. Auf diese Weise lassen sich vorstellen: eine menschliche Gestalt ohne ein normal funktionierendes menschliches oder mit einem tierischen Gehirn als Mensch, eine Tiergestalt mit einem menschlichen Gehirn als ein Tier, vorbehaltlich solcher Korrekturen, die der Gehirnstruktur und / oder dem Verhalten eine höhere Bedeutung als dem äußeren Anschein zumessen. In-vitro-Gebilden kann auch so nur mit Prädestinationen Rechnung getragen werden. Doch: Quis iudicabit?

VI. Rechtsstatus Finden „künstlich“ modifizierte menschliche Lebewesen und Mensch-Tier-Mischwesen im Recht einen eindeutigen Status, der sie biologischen Systemkontroversen, moralischen Traditionswechseln und der Konkurrenz der Ethiken entrückt und auf dem Boden der Rechtssicherheit positioniert? Man sollte das erwarten dürfen. Eine Rechtsordnung ist darauf angewiesen, dass das zu Ordnende bekannt oder wenigstens absehbar ist. Doch das Ungewisse lässt sich nicht in Normen fassen. Es erstaunt daher nicht, dass die bisher positivierten Regeln über Vorstadien und Abarten des Menschseins vornehmlich Prozesse normieren: Produktions- und Entwicklungsprozesse, die fragliche Modifikationen bewirken, und dass die besonders fragwürdigen Chimbrids noch keinen rechten Platz in der Rechtsordnung gefunden haben. Das Grundgesetz stellt bisher nur die Alternative Mensch / Tier (Sache) bereit; aber es ist auslegungsbedürftig und – in Grenzen – auslegungsfähig. Unterverfassungsrechtliche Regelwerke operieren variantenreicher und näher an der technologischen und technischen Gegenwart. Bevor im Anschluss an das judikative Konzept des Bundesverfassungsgerichts nochmals überlegt wird, welche Ein- und Ausgrenzungen von Mischwesen die Art. 1, 2 und 3 GG zulassen oder festlegen, sollen zunächst die spezielleren Rechtsgrundlagen in den Blick genommen werden. Sagen sie unmittelbar oder mittelbar etwas über die fraglichen Rechtsstatus aus?

1. Das Biomedizin-Übereinkommen

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1. Das Biomedizin-Übereinkommen

Die teils hochfliegenden, teils furchterregenden Aussichten, die die moderne Bio- und Elektromedizin eröffnen, haben schon in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts Vorsichtsmaßnahmen bewirkt. Im Rahmen des Europarates empfahlen zuerst die Justizminister dessen Ministerrat, dann dieser der Parlamentarischen Versammlung und diese alsdann den Mitgliedstaaten, eine für deren Gesetzgebung maßgebende Rahmenkonvention abzuschließen Diese Empfehlung 1160 vom Juni 1991 reflektierte bereits eine gewisse Sorge vor der Zukunft der Menschheit: „The combined applications of biology, biochemistry and medicine, create universal problems which require solutions and have given rise to a new discipline called bioethics. The hopes raised by progress in the domain are sometimes tempered by anxiety over the most basic rights of the human person.“ 390 Das daraufhin zwischen den Staaten des Europarates und der Europäischen Union abgeschlossene Biomedizin-Übereinkommen von 1997 wiederholt diese Sorge in seiner Präambel temperiert: „im Bewusstsein, dass der Missbrauch von Biologie und Medizin zu Handlungen führen kann, welche die Menschenwürde gefährden“, andererseits „bekräftigend, dass die Fortschritte in Biologie und Medizin zum Wohl der heutigen und künftigen Generationen zu nutzen sind“. Das Übereinkommen will „die Würde und die Identität aller Lebewesen“ sowie deren „Integrität“ schützen; es normiert, dass „das Interesse und das Wohl des menschlichen Lebewesens“ gegenüber „dem bloßen Interesse der Gesellschaft oder der Wissenschaft“ Vorrang genießen soll; die Veränderung des menschlichen Genoms dürfe nur – aber immerhin – zu präventiven, diagnostischen oder therapeutischen Zwecken und nur dann vorgenommen werden, 390 Zitat: assembly.coe.int//ASP/Tcc/XrefViewHTML.asp?FilelD=1519 48Language=EN; zur Entstehungsgeschichte des Übereinkommens Winter, in: Winter / Fenger / Schreiber, S. 137 ff.

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VI. Rechtsstatus

wenn sie nicht darauf abzielt, eine Veränderung des Genoms von Nachkommen herbeizuführen; die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken soll verboten werden. 391 Das Zusatzprotokoll von 1998 verbietet das Klonen „menschlicher Lebewesen“, worunter verstanden wird: ein menschliches Lebewesen, das mit einem anderen menschlichen Lebewesen dasselbe Kerngenom gemeinsam hat“. 392 Ein weiteres Zusatzprotokoll von 2002 reglementiert die „Transplantation von Organen und Geweben menschlichen Ursprungs“, nimmt aber embryonale und fetale Organe und Gewebe aus seinem Anwendungsbereich aus. Ob Xenotransplantationen auf Tiere strikt ausgeschlossen sind, ist den Texten ohne teleologische Bemühungen nicht zu entnehmen. 393 Hauptsächlich sollen diese Vereinbarungen Verhalten unterbinden, die der Menschenwürde und Menschenrechten widersprechen. Sie verstehen sich als Konkretisierungen einer europaweiten Bioethik, die sich nicht mehr allein auf das Gewissen der Forscher und Mediziner verlassen, sondern diese von Rechts wegen binden will. Dabei bestimmen sie die Konsistenz des Menschen biogenetisch und dessen Wert rechtsethisch durch die Menschenwürde. Man kann sie als einen Versuch auffassen, den Homo faber zu hindern, seine Fähigkeiten auszureizen und Gott oder Natur zu spielen. So verstanden, reflektierten sie eine selbstkritische Vernunft, die vor der Rea391 Http://conventions.coe.int / Treaty / ger / Treaties / Html/164.htm Präambel, Art. 1, 2, 12, 18. 392 Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen v. 12. 1. 1998, Art. 1: http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/ Html/168.htm. 393 Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin bezüglich der Transplantation von menschlichen Organen und Geweben v. 24. 1. 2002: http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/ Html/186.htm.

2. Biomedizingesetze

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lisierung ihrer Potentiale zurückschreckt. Man kann sie auch dahin verstehen, die Spezies Mensch vor selbst produzierten Entartungen zu bewahren, also als einen Artenschutz, der der Qualitätssicherung dient und besonders die menschliche Identität bewahren soll. 394 Das setzt eigentlich das Selbstbewusstsein eines Menschenbildes voraus. Doch Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls von 1998 konzentriert seinen Schutz auf die „genetische“ Identität eines „menschlichen Lebewesens“, die sich daraus ergebe, dass ein solches Lebewesen „mit einem anderen menschlichen Lebewesen dasselbe Kerngenom gemeinsam hat“. Was ein Lebewesen als menschliches auszeichnet, wird allerdings nicht gesagt. Man kann vermuten: Lebewesen rein menschlich-genetischer Abstammung. Da in diesen Wesen die Rechte und Würde der Menschen geschützt werden sollen, darf man annehmen, dass schon das im menschlichen Kerngenom werdende Lebewesen als Träger jener Würde und damit „als Mensch“ anerkannt wird; So verstanden, dehnen die Vereinbarungen diese Rechtspositionen über den Rahmen hinaus aus, den das Bundesverfassungsgericht „jedenfalls“ für angemessen hielt. Die Reichweite des Begriffs ist jedoch forschungspolitisch umstritten. 395 Ob Modifikationen des Kerngenoms die menschliche Identität beeinträchtigen, bleibt fraglich. Bei enger Auslegung stellen das Biomedizin-Abkommen und die Zusatzprotokolle Mischwesen nichts entgegen.

2. Biomedizingesetze

Die Maßgaben des Biomedizin-Übereinkommens sind in Deutschland nur von mittelbarem Wert, da die Vereinbarungen hier noch nicht unterzeichnet und ratifiziert wurden. Der Bundesgesetzgeber hat eigene, zum Teil weiter reichende Vor394 Salinger, Das Verbot des reproduktiven Klonens, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), S. 541 ff., 545. 395 Vgl. Salinger, Zum Menschenrechtsübereinkommen, S. 546 ff.

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VI. Rechtsstatus

sichtsmaßnahmen gegen riskante gentechnologische und medizinische Versuche und Anwendungen getroffen. Das Embryonenschutzgesetz stellt menschliche Embryonen bereits vor der Nidation unter Schutz, und es betont diese Ausdehnung über das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht „jedenfalls“ für menschenwürdig hielt. Es erweitert das Schutzgut: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.“ (§ 8 Abs. 1). Das Gesetz übernahm allerdings nicht die judikative „AlsMensch“-Formel. Sein Klonverbot unterscheidet vielmehr Embryos, Foeten, Menschen und Verstorbene (§ 6 Abs. 1). Hauptsächlich kriminalisiert es Missbräuche mit Embryonen. Seine Verbote lassen Ausnahmen nur unter engen Voraussetzungen zu. Sie betreffen die „missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken“ und bestimmte Formen der Leihmutterschaft (§ 1), die „missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen“ (§ 2), die „Geschlechtswahl“, es sei denn die Samenzelle soll „geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten“ vorbeugen (§ 3), die „künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen, das sind „alle Zellen, die in einer Zell-Linie von der befruchteten Eizelle bis zu den Ei- und Samenzellen des aus ihr hervorgegangenen Menschen führen, ferner die Eizelle vom Einbringen oder Eindringen der Samenzelle an bis zu der mit der Kernverschmelzung abgeschlossenen Befruchtung“ (§ 8 Abs. 2), es sei denn, die künstliche Veränderung erfolge extrakorporal und ohne Reproduktion (§ 5), das Klonen (§ 6) und schließlich die „Chimären- und Hybridbildung“ (§ 7). Dieser Mensch-Tier-Mischwesen betreffende § 7 normiert: „(1) wer es unternimmt, 1. Embryonen mit unterschiedlichen Erbinformationen unter Verwendung mindestens eines menschlichen Embryos zu einem Zellverband zu vereinigen, 2. mit einem menschlichen Embryo eine Zelle zu verbinden,

2. Biomedizingesetze

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die eine andere Erbinformation als die Zellen des Embryos enthält und sich mit diesem weiter zu differenzieren vermag, oder 3. durch Befruchtung einer menschlichen Eizelle mit dem Samen eines Tieres oder durch Befruchtung einer tierischen Eizelle mit dem Samen eines Menschen einen differenzierungsfähigen Embryo zu erzeugen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer es unternimmt, 1. einen durch eine Handlung nach Absatz 1 entstandenen Embryo auf a) eine Frau oder b) ein Tier zu übertragen oder 2. einen menschlichen Embryo auf ein Tier zu übertragen.“ 396 Das Stammzellengesetz 397 perfektioniert das Embryonenschutzgesetz. Es soll den Import solcher vermehrungsfähigen Stammzellen begrenzen. Zugunsten „hochrangiger Forschungsziele“ – der Begriff wurde offenbar vom Deutschen Ethikrat übernommen 398 – dürfen Importe genehmigt und Forschung an embryonalen Stammzellen betrieben werden. Überdies reguliert das Gentechnikgesetz gentechnische Verfahren und deren Kontrolle. Es erfasst jederart „Organismus“, das heißt: „jede biologische Einheit, die fähig ist sich zu vermehren oder genetisches Material zu übertragen, einschließlich der Mikroorganismen“. Den Menschen nimmt es aus, nicht aber Tiere. Demnach darf in Tiere „direkt Erbgut eingebracht werden, welches außerhalb des Organismus hergestellt wurde und natürlicherweise nicht darin vorkommt“; auch dürfen Zellfusionen oder Hybridisierungen“ bei tierischen Organismen stattfinden, „bei denen lebende Zellen mit neuen Kombinationen von genetischem Material, das unter natürlichen Bedingungen nicht darin 396 Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG) v. 13. 12. 1990 (BGBl. I S. 2746). Dazu die mit umfassenden Literaturangaben ausgestattete Kommentierung von Günther, in: Günther / Taupitz / Kaiser, zu § 7 (S. 260 ff.). 397 Gesetz zur Sicherung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellengesetz – StZG) v. 28. 6. 2002 (BGBl. I S. 2277), zuletzt geändert durch Gesetz v. 14. 8. 2008 (BGBl. I S. 1708). 398 Vgl. oben zu IV. 3.

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VI. Rechtsstatus

vorkommt, durch die Verschmelzung zweier oder mehrerer Zellen mit Hilfe von Methoden gebildet werden, die unter natürlichen Bedingungen nicht vorkommen“. 399 Die In-vitro-Befruchtung gilt nicht als Verfahren der Veränderung genetischen Materials. Man braucht die Normen dieser Gesetze nicht detailliert und komplex auszuloten, um zu erkennen, dass Mischwesen in Deutschland in der Regel nicht geduldet werden. Dennoch ist mit ihnen zu rechnen, denn die Gesetze verbieten nicht alle Mischungen und Xenotransplantationen zwischen Mensch und Tier. § 5 Abs. 4 des Embryonenschutzgesetzes lässt gewisse Humanisierungen von Tieren zu. In-vitro-Mixturen dürfen einer „hochrangig“ eingestuften Forschung“ für deren administrativ anerkannte Zwecke zur Verfügung stehen. Allerdings werden reproduktionsfähige Zellverbindungen und deren Weiterentwicklung sowie Kreuzungen diskriminiert. Daran kann man erkennen, dass der deutsche Gesetzgeber die Grenzen zwischen Mensch und Tier prinzipiell nicht auflösen lassen will. Doch die Produktionsgrenzen sind ebensowenig dicht wie die Staatsgrenzen. Zudem können Gesetze trotz ethischer Bedenken geändert werden, wie die Legalisierung der streitigen Präimplantationsdiagnostik oder die pragmatischen Gesetzesänderungen in Großbritannien zeigten. Einer der rechtfertigenden Gründe für die Zulassung jener Diagnostik verband den hochrangig eingestuften Kinderwunsch zwanglos mit dem ökonomischen Wettbewerbsargument, interessierte Eltern suchten sonst ausländische Institute auf. Ein veränderter Zeitgeist, ein Wandel der Moral, vielversprechende Forschungsansätze oder veränderte Kosten-Nutzen-Abwägungen wirken immer auf den Gesetzgeber ein. Seitdem der Human Fertilisation and Embryology Act Großbritanniens im Jahre 2008 Barrieren, die der Act 1990 errichtet hatte, aufhob 399 Gesetz zur Regelung der Gentechnik (Gentechnikgesetz – GenTG) v. 20. 6. 1990 i. d. F. v. 16. 12. 1993 (BGBl. I S. 2066), zuletzt geändert durch Gesetz v. 9. 12. 2010 (BGBl. I S. 1934), § 3.

3. Verfassungsstatus: Mensch / Tier

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und neuerdings Keimbahneingriffe erwogen werden, könnte auch der deutsche Gesetzgeber sich veranlasst sehen, in den Wettbewerb aus forschungs-, gesundheits- oder wirtschaftspolitischen Gründen einzusteigen, es sei denn, das Grundgesetz stünde dem entgegen. Ob das Grundgesetz die gesetzlichen Begrenzungen der Gentechnologie verlangt, ob diese nicht vielmehr überobligationsmäßig erfolgten und deshalb gelockert werden dürfen oder sogar sollten, ist rechtsdogmatisch ungewiss und noch umstritten. 400 Ungewiss sind daher auch die grundgesetzlichen Status der verschiedenen Mischwesen.

3. Verfassungsstatus: Mensch / Tier

Das Grundgesetz begründet für Menschen und Tiere differenzierte Rechtsregime: einerseits in Art. 1 Abs. 1 und andererseits in Art. 20a – in Verbindung mit der Bundesgesetzgebungskompetenz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 –; dazwischen erstreckt sich das Feld der Menschen- und Grundrechte. Einige deutsche Landesverfassungen übertreffen das Grundgesetz, indem sie Tiere „als Lebewesen und Mitgeschöpfe“ zu achten und zu schützen aufgeben 401, ohne dass daraus viel anderes folgt. Welche Substanzen sich hinter dieser Dichotomie verbergen, wird, wie bereits gesagt, nicht besonders ausgedrückt, aber für selbstverständlich gehalten. Kein Kommentar hält es für erforderlich, die Tatbestandsbegriffe voneinander substantiell abzugrenzen. Frühere Streitfälle wurden im Zuge eines extensiv humanisierten und so herrschend gewordenen Kultur- und Selbstbewusstseins begrifflich integriert: Missbildungen – der Begriff „Mons400

Vgl. dazu allgemein Wahl, Humnangenetik, pass. Bayern: Art. 141 II 2: „Tiere ... als Lebewesen und Mitgeschöpfe“ (in Satz 4, 4. Variante, werden speziell die „heimischen Tierarten“ geachtet); Berlin Art. 31: „Lebewesen“; Niedersachsen: Art. 6b: „Lebewesen“; Saarland: Art. 59a Satz 2, 5. Spiegelstrich: „Tier- und Pflanzenarten“; Thüringen: Art. 32: „Tiere als Lebewesen und Mitgeschöpfe“. 401

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VI. Rechtsstatus

ter“ hat überwiegend ausgedient –, Taubstummen, Geisteskranken, Komatösen, Dementen, Gehirnlosen, Embryos usw. wird ihrer Gebrechen oder Unterentwicklung wegen das Menschsein nicht – mehr – abgesprochen. Erkenntnisse der Biologie, Genetik und Verhaltensforschung, wie „human“ manche Tiere erscheinen und sich verhalten, ändern nichts an dem Wissen, auf welcher Seite der Schöpfung und Rechtswelt sie leben. Mitleid ist die ethische Brücke zwischen Menschen und Tieren und hebt einige von diesen über den Rechtszustand toter Dinge hinaus, aber nicht auf ein menschliches Niveau. Mischwesen müssen sich, streng genommen, in diese Dichotomie fügen. Da eine besondere Kategorie nicht zur Verfügung steht und die Vielfalt der Erscheinungsformen von Mischwesen ein verfassungsrechtliches „sui generis“ ausschließt, kommt es auf Ähnlichkeiten an. Was nicht „als“ Mensch anerkannt werden kann, darf „wie“ eine Sache behandelt werden. 402 Nur scheinbar hätten Mischwesen in der Schweiz eine bessere Position: Die dortige Bundesverfassung anerkennt zwar die „Würde der Kreatur“, also: jeder Kreatur, als eigene Verfassungsposition 403, bewehrt sie aber nicht durch eigenständige Aktiv- oder Abwehrrechte. Der Mensch ist auch dort mehr als eine tierische „Kreatur“ und diese nur Objekt einer Staatsaufgabe. Sie umfasst auch den Schutz der „genetische(n) Vielfalt der Tiere“, eine Aufgabe, die Zweifel an der Anerkennung von Mischwesen hervorruft. Ein solcher Artenschutz wird im Rahmen des Art. 20a GG zwar abgelehnt 404, doch ändert das nichts daran, dass diese Norm nur „Tiere“ betrifft und diese nicht zu eigenem Nutzen, sondern zugunsten der „künftigen Generationen“ der Menschen zu schützen aufgibt. Die Tier402 Epiney, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 20a Rn. 24 ff., interpretiert die Schutzaufgabe i.S. v. Art. 20a GG als „geläuterte“, gleichwohl anthropozentrische, wenn auch nicht vornehmlich utilitaristische. 403 Art. 120 II Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft v. 18. 4. 1999; dazu u. a. Richter, Würde der Kreatur, S. 319 ff.; Haldemann, Verantwortung, S. 21 f., mit weiteren Hinweisen. 404 Kloepfer, in: Bonner Kommentar, Art. 20a Rn. 67 ff.

3. Verfassungsstatus: Mensch / Tier

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ethik, die philosophisch propagiert und verfassungsrechtlich aufgenommen wurde, geht europaweit von der grundständigen Verfügungsbefugnis des Menschen über alle Tiere aus, respektiert aber – das gilt als ethischer Fortschritt – die Empfindungsund Leidensfähigkeit der Tiere, die eine gewisse, aber natürlich minderwertige Ähnlichkeit mit der des Menschen aufweisen. Non-human primates wird zwar ein außerordentlicher Schutzstatus zugebilligt. Ob sie leidensfähiger als jagd- oder schächtbare Tiere 405 wurde, soweit ersichtlich, zur Begründung dieser Hervorhebung nicht vorgetragen. Man könnte also vermuten, dass moderne Ethiken und die deutsche Rechtsordnung gewisse qualifizierte Nähebeziehungen zwischen dem Menschen und bestimmten Tieren anerkennen, und daraus das Erfordernis einer materiell differenzierten Rücksichtnahme und einer Angleichung der Würdekonzepte 406, wenn auch nicht der Arten, folgern. Das Grundgesetz kennt jedoch ebenso wenig wie die Verfassungen der deutschen Länder und die Schweizer Bundesverfassung den Begriff einer Primatenwürde. Die grundgesetzliche Dichotomie von Mensch und Tier schließt weitere Klassifikationen und deren abgestufte Tolerierung allerdings nicht kategorisch aus. Im Verfassungstext werden die Kategorien „Mensch“ und „Tier“ nicht individualisierbar artenscharf im Sinne eines „tertium non datur“ definiert. Die relevanten Verfassungsbegriffe, die einst sichere Gegebenheiten meinten, verhalten sich zu den veränderten Umständen offen. Zwar kann die Rechtsgeschichte die tradierte Dichtomie tendenziell bestätigen. Doch die durch Gentechnologien und Medizintechniken ausgelösten Entgrenzungen erfolgten erst nach der Entstehung des Grundgesetzes. Kulturgeschichtlich waren verschiedene, meistens engere Menschenbilder im Umlauf, so dass die Begriffsgeschichte zu „Mensch“ zwar von Vorstellungen substantieller Kerngehalte, doch ebenso von wechselnden Exklusionen und Inklusionen zeugt. Mit aller ge405 406

Dazu BVerfGE 104, S. 337, 351 f. Vgl. oben IV. 7.

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VI. Rechtsstatus

botenen Vorsicht, die Bezüge einer geltenden Norm auf das weite Feld der Kulturgeschichte erfordern, lässt sich immerhin festhalten, dass der formale, von der Gestalt ausgehende Begriff des Menschen im Laufe von Jahrhunderten erweitert und materiell angereichert wurde. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und das Grundgesetz den Menschen in den Mittelpunkt der Rechtsordnung stellten, waren politisch willkürliche Ausgrenzungen, aber nicht Entgrenzungen und Entartungen der Spezies ein aktuelles Problem. Der Parlamentarische Rat war zwar mehrheitlich der Auffassung, dass das Recht auf Leben bei extensiver Auslegung das „keimende Leben“ einschließen soll; doch zu weiteren „Ausdehnungen“ reichten die damaligen Erfahrungen und Vorstellungen nicht. Im Gegenteil: Manche Parlamentarier beharrten auf dem Bild vom „fertigen“ Menschen 407, das in § 1 BGB zum Ausdruck kommt: Erst „mit der Vollendung der Geburt“ beginne die „Rechtsfähigkeit des Menschen“; denn die „Rechtspersönlichkeit setze ein selbständiges, vom Mutterleib getrenntes Dasein voraus“; auf dessen Form sollte es allerdings, wie die „Motive“ im Unterschied zum römischen Recht und Allgemeinen Landrecht lehrten, nicht ankommen: „Was vom Menschen gezeugt und geboren ist, ist auch schon an und für sich menschlich.“ 408 Zeugung und Abstammung sind einleuchtende, traditionell und moralisch anerkannte Kriterien der Spezies, die aber gewöhnlich nicht experimentell nachgewiesen, sondern bürokratisch dokumentiert werden. Sofern die Keimzellen und Keimbahnen nicht künstlich verfremdet werden, lassen sie sich ohne Begriffs- und Systembrüche auf von Menschen Gezeugte anwenden, deren menschliche Ausprägungen mangelhaft sind: denen Gliedmaßen fehlen, deren Gehirn nur rudimentär ausge407 Vgl. die Hinweise in: v. Doemming / Füsslein / Matz, in: JöR NF Bd. I (1951), S. 48 ff. 408 Motive zum Allgemeinen Teil (vgl. oben Fn. 77), S. 371 f.

3. Verfassungsstatus: Mensch / Tier

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bildet ist, die bewusstlos sind, die dem Ideal des Vernunftmenschen dauerhaft nicht entsprechen können, die technisch optimiert worden sind. Nachdem das Bundesverfassungsgericht sich zu einer „Ausdehnung“ des Lebens- und Würdeschutzes entschloss 409 und traditionelle „natürliche“ Zeugungen ihr Monopol eingebüßt haben, lassen sich auch „künstliche“, also technologische und technische, Vorgänge wie In-vitro-Fertilisationen und Fremdaustragungen durch – menschliche – Leihmütter in den überlieferten Zusammenhang der Spezies Mensch integrieren. Ob aber Leihmutterschaften durch Primaten und deren Optimierung durch menschliche Materialien, sofern möglich, und Tiere mit humanisierten Keimbahnzellen als „menschliche“ Zeugungen gelten können, das ist ein Problem, dessen Lösung auf Entscheidungen nach treffsicheren Kriterien angewiesen ist, wenn solche Wesen – eventuell legal oder illegal – zur Entscheidung drängen. Bietet das Grundgesetz Gründe dafür, die Dichotomie von Mensch und Tier, die der Verfassungstext indiziert, in Eckpunkte einer Abfolge von Annäherungen, Nähebeziehungen und Übergängen der diversen Spezies auszudeuten? Wer in Kategorien der Evolution denkt, könnte sich eine innovative Argumentation vielleicht etwa so vorstellen: Von Art. 1, 2 und 3 GG ebnete die Interpretation einen stufenlosen Weg von der Zygote oder vom Embryo zum Menschen, von diesem zur Person und schließlich zu Art. 20a GG und dadurch vom Schutzwesen und Subjekt zu dessen Objekt, so dass die verwandten und gemischten Spezies nicht mehr trennscharf abgegrenzt zu werden brauchten. Vielmehr könnten ihre Rechtsstatus entsprechend der Intensität ihrer Ähnlichkeiten mit der einen oder anderen Kategorie von „Lebewesen“ adäquat angeglichen werden. Das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit – traditionell: der Proportionalität – ist dazu ein probates und bewährtes Mittel, um Übergänge zu bewerkstelligen und Anpassungen durch Zweck-Mittel-Relationen vorzunehmen. Es dient zwar 409

Vgl. oben zu V. 2.

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VI. Rechtsstatus

vor allem dazu, komplexe Grundrechtslagen zu optimieren und Rechtskollisionen abzuflachen, ist aber auch ansonsten in Gebrauch und kann dabei moralische Aspekte integrieren. 410 Der Gedanke einer solchen Angleichung ist geistesgeschichtlich nicht so verwegen, als dass er nicht schon empfunden oder gedacht worden wäre. Zwar vergingen Jahrhunderte sozialer und kultureller Evolution, bis die Integration menschlicher Missgeburten und Behinderter sukzessive und in abgestufter Weise erfolgte, indem individuelle Defizite gattungsspezifisch aufgewertet und in den Kommunikationsbereich menschlicher Sozialität und Würde einbezogen wurden. Doch die Prinzipien der Menschenwürde und des Sozialstaats legitimieren und erfordern die Intensivierung der Integration heute von Verfassungs wegen, sofern es sich um „Menschen“ handelt. Andererseits dürfte niemand legitimerweise auf die Idee kommen, Minderungen menschlicher Defizite durch tierische Materialien in eine Minderung des Menschseins umzudeuten, obwohl die biologischen Grenzen dadurch überschritten werden. Zur Positionierung der Tiere bietet Art. 20a GG nur einen unbeschriebenen Gesetzesauftrag an. Tierschutz ist nicht mehr als ein „Gemeinwohlbelang“. 411 Das Tierschutzgesetz differenziert den Objektschutz zwar auch unter Aspekten der Lebensnähe bestimmter Tiere zum Menschen, doch deutet es keine sozialen oder evolutionären Speziesübergänge an. Dagegen würdigten, wie ausgeführt 412, die britische Academy of Medical Science und der Deutsche Ethikrat den Abstammungsverbund des Menschen mit Primaten, folgerten daraus aber nur die Mahnung, dass die Speziesgrenzen besonders streng einzuhalten seien. Man kann diese rechtsnormativen und rechtsethischen Quellen also nicht für Verfassungsauslegungen beanspruchen, 410 Dazu anregend Klatt / Meister, in Der Staat Bd. 51 (2012), S. 159, 169 ff. Aus philosophischer Perspektive plädiert der Wiener Philosoph Kampits für eine „Ethik der Güterabwägung“, online: http://www .dieuniversitaet-online.at/dossiers/beitrag/news/uber-ethik-philosophiert. 411 BVerfGE 104, S. 337, 351. 412 Vgl. oben zu IV. 2.

4. Menschenrechtspositionen

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die die kategoriale Dichotomie außer Kraft setzten. Moderate Angleichungen sind jedoch nicht undenkbar, wenn die Interpretation sich von den kulturhistorisch bekannten Relativierungen menschlicher Selbstverständnisse beeindrucken lässt.

4. Menschenrechtspositionen

Laden die Menschenrechte zu Angleichungen der Rechtsstatus von Mensch und Tier ein? Tradierten Auffassungen von Menschenrechten muss diese Frage absurd erscheinen. Hatte es nicht Jahrhunderte gedauert, bis alle, die – poetisch gesprochen – Menschenantlitz trugen, aufrecht gingen und irgendwie sprachen, in die repräsentativen Menschenbilder eingruppiert worden waren? Und sind denn die Bildränder heute richtig ausgeleuchtet? Haben denn nicht auch heute noch sogenannte „Primitive“ und „Unberührbare“ mit ihrem Menschsein Definitionsprobleme? Sind exkludierende Begründungen und Definitionen nicht in manchen Ethnien und Völkern auch heute noch wohlfeil bei der Hand, um Missliebigen Lebensrecht und Gemeinschaftsstatus vorzuenthalten? Gewiss: Der humanistische Begriff der Menschheit, den die Aufklärung ihrem Banner imprägnierte, kennt keine Unterschiede. Er umfasst verbal und idealiter alle Menschen. Er ist ein ambitiöses Pluraletantum, aber höchst abstrakt. Trotz seiner Verwendung in Menschenrechtstexten bezeichnet er kein Völkerrechtssubjekt, sondern nur einen Horizont für Gemeinschaftsziele, die den Rahmen der einzelnen Staatsnationen ins Unbestimmte übersteigen sollen. Auf Mensch-Tier-Mischungen ist er überhaupt nicht vorbereitet. Die Textfassungen und die Entwicklungen der einzelnen Menschenrechte, die in verschiedenen Problemlagen entstanden 413, haben mit Mischwesen ersichtlich nichts im Sinn, und die kategoriale Differenz zwischen Art. 1 Abs. 1 und Art. 20a 413

Vgl. dazu Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 51 ff.

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VI. Rechtsstatus

GG spricht gegen typologische Anpassungen. Aber die heutige Situation ist nicht so klar, wie die Rechtstexte sich geben. Wie einst das Menschsein des homo sylvestris oder der Pygmäen erstaunt, aber bereitwillig angenommen und das Fremder oder Schwerstbehinderter bezweifelt wurde, obwohl sie wie Menschen aussahen und von Menschen abstammten, können Beobachter der neuesten technischen und genetischen Modifikationen des Menschen und der Humanisierung von Tieren fragen, ob Menschenrechte möglicherweise extreme Entgrenzungen der Spezies Mensch nicht mehr erfassen können. Setzen sie, umgekehrt gefragt, einen bestimmten Typus „Mensch“ unabänderlich voraus, um zweckgemäß zu funktionieren? Schließen sie etwa entstehungsgeschichtlich unvorstellbare Modifikationen aus ihrem Anwendungsbereich aus, wenn diese erheblich von ihrem Telos abweichen? Die Fragen provozieren eine Theorie der Menschenrechte, die diesen Funktionen und Zwecke zuweist. Nur scheinbar ist die Menschenwürde, die das Grundgesetz den Grundrechten voranstellt, über diese Provokation erhaben. Zwar wird sie als eine dem Menschen „angeborene“ Qualität rechtsnormativ „anerkannt“. 414 Doch indem sie dazu dient, den Menschen vor Verobjektivierungen und Instrumentalisierungen zu bewahren, die andere Lebewesen legitimerweise zum Nutzen der Menschen zu ertragen haben, beeinflusst sie zumindest indirekt Bewertungen dessen, was Würde zu tragen wert ist und was nicht und deshalb vernütztlich werden darf. Die heute laufenden intra- und interspezifischen Manipulationen menschlicher Keimbahnzellen provozieren allerdings auch „künstlich“ funktionalisierte Interpretationen des Angeborenseins. Da das Axiom von der einst „angeborenen“ Würde deren Begründung in den Tiefen der göttlichen oder natürlichen Schöpfung verankert, 414 So Art. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948; der Text des Art. 1 I GG sagt nichts vom Angeborensein, doch interpretierte das BVerfG ihn in diesem Sinne: „Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen“: BVerfGE 39, S. 1, 41.

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lockern nicht nur die Sozialsysteme, wie Luhmann meinte 415, sondern erheblicher noch Genmanipulationen diese quasigenetische Verankerung und machen sie Zwecken verfügbar, die Kants Vorstellung von dem Menschen als Eigenzweck nicht mehr ganz entsprechen. Wenn Menschen und Mischwesen machbar sind, sind auch deren Anteile an der verfassungsrechtlichen Würde machbar. Die Legitimation der Menschenwürde verschiebt sich dann von dem Angeborensein auf die Anerkennung und somit auf die politische und pragmatische Ebene der Sozial- und Rechtsnormen. Erst recht gerät die Würde in den Sog ihrer Sozialfunktionen, wenn sie als Produkt sozialer, kommunikativer Leistung dynamisiert und „problembezogen“ interpretiert wird. Als Luhmann diese flexible Interpretation der herrschenden der Verfassungsjuristen entgegnete 416, gab es noch keine gentechnologischen Transmutationen und Chimbrids. Eine dynamisch funktionalisierte Menschenwürde ergäbe heute ganz neuartige Bruchlinien zwischen Würdeberechtigten und -unberechtigten. Cyborgs könnten sie moralisch wohl überwinden, während Chimbrids keinen Respekt erwarten könnten. Im liberalen Sinne gewährleisten Freiheitsrechte jedem Menschen einen Freiraum zu autonomer Entfaltung. Sie funktionieren als Abwehrrechte: zur Abwehr von ungerechtfertigten Eingriffen des Staates. 417 Die politische Gemeinschaft, die die Gewährleistung konstituiert, zollt dem Einzelnen vornehmlich um seiner selbst willen Respekt: als „Zweck an sich selbst“. Doch die Freiheit, die sie sichern, ist keine der Isolation. Sie ist nicht unmittelbar in dem Sinne, dass der Einzelne sich ungeachtet seiner Umwelt nur im Bewusstsein seiner eigenen Unabhängigkeit verhält. Sie ist vielmehr eine Freiheit im sozialen Raum der Mitmenschlichkeit und sozialer und politischer Mitgliedschaft. Sie funktioniert in sozialen Bezügen. Die Gemeinschaft 415 416 417

Luhmann, Grundrechte, S. 53 ff. Luhmann, Grundrechte, S. 68. Dazu Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 153 ff.

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könnte das Risiko von Divergenzen und ihrer Pluralisierung nicht eingehen, wäre sie aus Erfahrung oder Vertrauen nicht davon überzeugt, dass sie letztlich ihre Balance und Konsistenz im „freien Spiel der Kräfte“ hinreichend erfährt. Im Allgemeinen verlässt der liberale Staat sich auf dieses „Spiel“. Es setzt Mitwirkende voraus, die sich erkennen und miteinander kommunizieren. Dass jedes im Sozialverband existierende „Lebewesen“ mitwirken kann und positiv mitwirkt, ist nicht erforderlich. Aber die Züchtung von Wesen, die kommunikationsunfähig sind, wie dies bei humanisierten Tieren anzunehmen ist, widerspräche den Gründungs- und Funktionsbedingungen einer liberalen Gemeinschaft. Dieser Widerspruch bildet vielleicht den tieferen Kern rechtsdogmatischer Vorbehalte gegen die Produktion solcher Mischwesen, die mit Menschen nicht auf deren Weise kommunizieren können und über deren Entwicklung man so wenig weiß. In diesem anthropozentrischen Sinne wollen manche medizinethischen Stellungnahmen den Begriff des Menschen auf solche Lebewesen beschränken, die ihren genetischen und / oder phänomenologischen Anlagen nach versprechen, zu einer „Person“ zu erwachsen, bzw. die eine „Person“ darstellen. 418 Sie können sich dabei am Bundesverfassungsgericht orientieren, das die „Würde des Menschen als Person“ anerkannte 419, oder am Bundesverwaltungsgericht, demgemäß Art. 1 Abs. 1 GG „den personalen Eigenwert des Menschen“ schützt. 420 Aber was heißt „Person“ und warum tritt sie in diesen Zusammenhängen wie eine Maske, die das Wort einst meinte, vor den Menschen? Dem Begriff der Person kamen seit der römischen Republik substantielle Bedeutungen zu, bis er sich auf einen 418 Vgl. zu dieser Beziehung von „Mensch“ zu „Person“ u. a. Huber / Huber, Ist die Totipotenz menschlicher Zellen ein geeignetes Kriterium für ihre Schutzwürdigkeit?, S. 331; Reich, Empirische Totipotenz, S. 127; ähnlich Bredenoord / Dondorp / Pennings / De Wert, Ethics, S. 97 ff.: Recht des Kindes auf eine offene Zukunft. 419 BVerfGE 45, S. 187, 228 („lebenslange Freiheitsstrafe“). 420 BVerwGE 64, S. 274, 278 („Peep-Show“).

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Status konzentrierte, der Zuschreibungen von Rechten an geborene Menschen umfasste. 421 Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten definierte so die Person und wurde vom Bundesverfassungsgericht beifällig zitiert. Doch es ist offensichtlich, dass dieser Personenbegriff rechtspolitisch wirkt und den Kreis der begünstigten Lebewesen verengt. Ethiker, die die „Person“ dem „Menschen“ vorordnen, meinen aber, soweit ersichtlich, genau dies: natürliche und würdevolle statt künstliche und nützliche Wesen; sie klassifizieren die verschiedenen Phänomene nach Wert- und Sozialvorstellungen, die ein vornormatives Bild von einer rechten Ordnung der Welt reflektieren. Eine utilitaristische Interpretation der Menschenrechte, die auf den demokratiefähigen Menschen abzielte, erforderte hingegen Rechtsträger, die produktiv, reproduktiv, kommunikativ oder sonstwie sozial nützlich wirken. Die Konsequenzen könnten erheblich sein, denn für unnütz Erklärte verdienten dann die Menschenrechte nicht. Ein Utilitarismus dieser Intention ist jedoch dem Grundgesetz und dessen Verfassungsethik axiomatisch fremd. Das Axiom könnte dadurch begründet werden, dass jeder einzelne Mensch als Teil der einen Menschheit gilt und dadurch der Definitionskompetenz singulärer Gemeinschaften entzogen ist. Ein Mensch ist für Art. 2 Abs. 2 GG ein „Jeder“, auch wenn ihm anderwärts das Menschsein abgesprochen wird. Das Grundgesetz gebietet, dieses Leben lebenslang zu respektieren und zu schützen, ungeachtet angeborener oder später eintretender Defekte. So gesehen, verbietet es Herabstufungen oder Aussonderungen aus der Spezies. Behinderte Menschen, deren Überleben technisch oder genetisch stabilisiert wird, werden dadurch nicht zu Bestandteilen implantierter Materialien. Doch die Zugehörigkeit des „Jeder“ zur fraglichen Spezies Mensch ist Tatbestandsvoraussetzung des Art. 2 Abs. 2 GG. Ohne Überanstrengung der Kompetenzen, die der 421 Vgl. Kube, Persönlichkeitsrecht, in: Isensee / Kirchhof (Hg), § 148 Rn. 2 ff., mit weiteren Nachweisen.

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Auslegung legitimerweise zur Verfügung stehen, könnte dem subjektivierten „Jeder“ ein anonymisiertes und versachlichtes Schutzobjekt „jedes Leben“ nicht gleichgestellt werden. Auf der Ebene der Verfassungen der Länder sieht die Rechtslage etwas anders aus. Wenn dort Tiere als „Lebewesen“ gelten, liegt es nahe, deren Lebensschutz zwar nicht zu dem Grundrecht auf Leben aufzustufen, ihn aber doch besonders zu qualifizieren und zu optimieren, will man den Lebensbegriff nicht doppelzüngig auslegen. Als das Bundesverfassungsgericht den Schutz menschlicher Embryonen begründete, achtete es deshalb sorgfältig darauf, dass es sich dabei um subjektives „menschliches Leben“ handelt. Dazu betonte es die Würde der menschlichen „Gattung“, da von deren Individuation beim Embryo noch nichts zu erkennen, sondern nur mit Hilfe geeigneter philosophischer Theorien und biologischer Gesetzmäßigkeiten zu vermuten war. Die Intuition, dass jeder Mensch die Qualitäten der Menschheit in sich beherberge, könnte DNA-Analysen rhetorisch untermauern, von denen das Gericht beeindruckt war. Durch die „Ausdehnung“ des Lebensschutzes gemäß Art. 1 Abs. 1 „in Verbindung mit“ Art. 2 Abs. 2 GG 422 erstreckte es den Begriff „Mensch“ auf unausgebildete, noch „werdende“ Entitäten und eröffnete zugleich, beabsichtigt oder nicht, einen rechtsdogmatischen Wettstreit um die Befestigung früherer oder späterer Stützpunkte des schützenswerten „Jeder“. Dabei streiten Argumente und Wertungen in denkwürdigen Verkehrungen miteinander. Konservierende Auffassungen, die das „jedem“ – Menschen – garantierte Recht auf Leben in Verbindung mit dem Würdeschutz verstärken, dehnen es auf Vorstufen des Menschen aus und bedrängen so die Dynamik der Freiheit von Forschungen und Wirtschaftsinteressen, denen an der Versachlichung ihrer Genprodukte gelegen ist und die deshalb Begrenzungen des Leitbegriffs „menschliches Leben“ einfordern. Von beiden Seiten aus werden einschlägige Ethiken 422

Vgl. nochmals oben zu V. 2. u. 6.

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und Zielwerte ins Feld geführt, die sich zuweilen überschneiden, wenn etwa die judikative „Verbindung“ von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angeführt wird, um einerseits Entgrenzungen des Menschenbildes entgegenzutreten, oder andererseits Menschen und künftige Generationen vor Leiden und Tod zu bewahren. Medizinisch und gesundheitsindustriell inspirierte Auffassungen legen den ungeschrieben unbestimmten Verfassungsbegriff „menschliches Leben“ möglichst eng aus, um sonstiges Leben als Forschungsmaterial verfügbar zu haben. 423 In derselben Richtung wirken aber auch wertkonservative Meinungen, die das biogenetisch inspirierte Menschenbild des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Vorstellung einer Physis und Psyche, Körper und Geist umfassenden Persönlichkeit kritisieren, die den „ganzen“ Menschen in Person begreifen und deshalb dessen frühere, unfertige Vorstadien aussondern wollen. 424 Damit geraten natur- und geisteswissenschaftliche Vorstellungen in Form von Begriffsauslegungen erneut aneinander, nachdem die Einheit von Körper und Seele zugunsten anatomischer Dekonstruktionen und diese wieder zugunsten des Tieren weit überlegenen Vernunftwesens Mensch aufgehoben worden waren. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird das Problem, wann und wodurch ein genetisch manipuliertes und / oder modifiziertes Lebewesen in die Spezies Mensch wächst, selten bis gar nicht thematisiert. Das Rechtssubjekt „Mensch“ ist demnach auch eine rechtswissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Den meisten Kommentatoren des Grundgesetz geht es darum, die „Gattung“ Mensch vor gentechnologischen Experimenten am menschlichen Embryo oder am Menschen oder im Mensch-Tier-Verband zu bewahren. Ihre Kritik gilt der 423 So prominent Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 26; Hoerster, Ethik, pass. 424 Murswiek, in: Sachs, Art. 2 Rn. 145A; vgl. ferner die Übersicht über kritische Stimmen bei Müller-Terpitz, in: Isensee / Kirchhof, Bd. VII, § 147 Rn. 17 ff., sowie die ausführlichen Literatursammlung von Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, 2006, § 97 II 4.

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Produktion, nicht dem gegebenenfalls erreichten Status. Sie lässt aber auf relevante Positionen schließen – vorsichtig, denn die Rechtswissenschaft kann den naturwissenschaftlichen Forschungsfortschritten nur gemessenen Schrittes folgen. Die meisten Kommentare enthalten sich daher definitiver Urteile und bedenken jene Fortschritte und Forschungsvisionen mit dem Vorwort „problematisch“, das auf weitere Erkenntnisse und auf die diskursive Bildung einer irgendwie herrschenden Meinung eingerichtet ist. Die diversen Problemerwägungen führen verfassungssystematische und teleologische Argumente ins Feld, die meistens der biologischen Logik des Bundesverfassungsgerichts entsprechen, nicht selten aber metaphysisch bewehrt werden. Verfassungssystematisch kommt dem Verhältnis des Art. 2 Abs. 2 zu Art. 1 Abs. 1 GG die entscheidende Bedeutung zu, denn das Recht auf Leben ist, wie bereits gesagt, durch und aufgrund von einfachen Gesetzen einschränkbar, während die Menschenwürde“ es prinzipiell nicht ist; aufgrund Art. 79 Abs. 3 GG ist ihr „Grundsatz“ sogar dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen, und manche meinen, auch ein neue, aufgrund Art. 146 GG tätiger Verfassungsgeber dürfe an das Prinzip nicht rühren. Der scheinbar theoretisch-abstrakten Beziehung und Gewichtung der beiden Normen kommt also eine immense Bedeutung zu, ist das politisch agierende Parlament doch entweder gehindert, menschenwürdiges Leben einer Instrumentalisierung zu überlassen, und vielmehr verpflichtet, es zu schützen, oder es ist ermächtigt, in das Recht auf Leben zugunsten verhältnismäßig höherwertiger Ziele und Zwecke der Medizin- und Arzneimittelforschung, der Krankenheilung, der Gesundheitsvorsorge, eines Kinderwunsches oder eines „enhancements“ körperästhetisch Renovierungsbedürftiger einzugreifen. Je mehr „Lebewesen“ den Bereichen „Mensch“ und „Menschenwürde“ zugeordnet werden, umso stärker wirkt Art. 1 Abs. 1 GG als Gesetzgebungsgrenze; je mehr das „Leben“ von „Lebewesen“ unter Art. 2 Abs. 2 oder Art. 20a GG subsumiert wird, umso offener ist das Feld für

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gesetzgeberische Gestaltungen und damit für parteipolitische Programme. Wer – aus verschiedenen Gründen – die Würdegarantie in deren Randbereichen für nachgiebig hält 425 oder die judikative „Verbindung“ mit den „folgenden Grundrechten“, also auch mit dem Lebensrecht, lockert 426 und den judikativen Potentialitäts- und Individuationstheorien skeptisch begegnet 427, vermag humanisierte Tiere und tierische Menschenwesen eventuell schon mit Rücksicht auf die Forschungsfreiheit und auf die Nahziele experimenteller Forschung eher Gattungen der Tiere zuzuordnen. Dort stehen sie Experimenten problemloser zur Verfügung als in der Nähe menschlicher Würde. Aus einer bestimmten „philosophischen Sicht“ heißt es dann, Mensch-TierGenmischungen „gelten als nicht besonders anstößig, solange eine etwaige Weiterentwicklung der erzeugten Mischembryonen unterbunden wird“. 428 Man sollte nicht unterstellen, dass rechtsdogmatische Interpretationen des Art. 1 Abs. 1 „in Verbindung mit“ Art. 2 Abs. 2 GG von vornherein und gewissermaßen „pragmatisch“ auf Erweiterungen des genetischen Verfügungsmaterials aus sind. Aber man sollte auch nicht übersehen, dass dahingehende Absichten schon ausdrücklich geäußert wurden und dass jedenfalls der Einstieg in Abwägungsprozesse leicht Parteibildungen von Überzeugten und Nutznießern ergeben kann, je direkter sie in Interessen- und Wertabwägungen führen. Manchem erscheinen dann die Sanktionen des Embryonenschutzgesetzes 425 So prominent Dreier, in: Dreier, Art. 1 I Rn. 40 ff., 81 ff.; sehr kritisch auch Enders, in: Stern / Becker, Art. 1 Rn. 85 ff. 426 Hofmann, in: AöR, Bd. 118 (1993), S. 353 ff., 364 ff; ders., Menschenwürdeinterpretation, S. 66 ff. 427 So Dreier, in: Dreier, Art. 1 I Rn. 85; ferner Heun, Menschenwürde und Lebensrecht, in: Gethmann-Siefert / Huster, S. 69 ff., krit. gegenüber der Kontinuitäts- u. der Potentiualitätstheorie des BVerfGs. 428 Bernbacher, Menschenwürde und Lebensrecht, in: Gethmann-Siefert / Huster, S. 10 ff., 27; die philosophische Sprache neutralisiert mit der Vokabel „unterbunden“ den Vorgang recht geschickt.

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zwar zweckmäßig, aber nicht von der Verfassung geboten, und der Gesetzgeber hätte mehr als nötig getan und mehr, als einer expandierenden Forschungsfreiheit zuträglich ist. Teleologisch intendiert, befreite die Entbindung die Forschungsfreiheit von den Fesseln einer – so die These – übermäßigen Ausweitung der menschlichen Gattungswürde. In diesem Sinne plädierte der evangelisch-theologische Medizinethiker Kreß für die Aufhebung von § 8 EschG und § 3 Nr 4 StZG, die die Begriffe „Embryo“ und „Keimzelle“ extensiv und die Verfügungsobjekte einschränkend definierten, so dass das Embryonenschutzgesetz Genverbindungen schon vor einer Nidation erfasste. 429 Wer dagegen dem Grundgesetz ein tief reichendes und werthaltiges Menschenbild entnimmt, das von der Würdegarantie dominiert wird, den Lebensschutz möglichst weitgehend einschließt und die Spezies vor irritierenden Mischwesen bewahren soll, wer so den homo faber hindern will, das Machbare zu verwirklichen, der legitimiert stärkere Restriktionen riskanter Experimente, je unabsehbarer sie außenstehenden Beobachtern erscheinen. Deswegen aktivieren besorgte Kommentatoren des Grundgesetzes den einzigartigen Wert der Spezies Mensch und deren objektivrechtliche Gattungswürde – die davon absehen kann, ob ein irgendwie zustande gekommenes Lebewesen bereits Subjekt individueller Grundrechte sein soll, –, um die Spezies vor gentechnologischen Entwertungen zu schützen. Dazu wird das Individuum seiner zufälligen Besonderheiten entkleidet und auf sein allgemeines, abstrakt institutionalisiertes Wesen konzentriert. Schon Montaigne befand: „Jeder Mensch ist Träger der gesamten Form des Menschseins“. 430 Und Schopenhauer bestand darauf, dass das „innerste Wesen jedes Tieres und auch des Menschen ... in der Spezies“ liege, die „durch Eingehen in die Zeit“ zur „auseinandergezogene(n) Idee“ der Spezies werde, 429 Kreß, Medizinethik, 168. – § 8 EschG u. § 3 Nr. 4 StZG definieren „Embryo“ und „Keimbahnzelle“; ihre Aufhebung erledigte den gesetzlichen Embryonenschutz, der vor der Nidation einsetzt. 430 Montaigne, zit. nach Starobinski, Rousseau, S. 34.

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verstanden als „die durch das Band der Zeugung verbundenen sukzessiven und gleichartigen Individuen“. 431 Wenn heute Interspezies-Hybride als Entartungen des „Humanum“ gebrandmarkt werden 432, stößt der biologische Fortschritt auf diese Tradition von humanistischem Ethos, das zugleich mit dem neuzeitlichen Forschergeist entstand, der den Menschen als biologisches Forschungsobjekt unters Messer des Anatomen nahm, und auf Schopenhauers nachkantische Intuition. Konserviert Art. 1 Abs. 1 GG so ein klassisches „Humanum“ oder einen Artenschutz, der für Tiere entschieden abgelehnt wird? 433 So dezidiert wird das selten gesagt. Was ein „Humanum“ ist, dürfte ohnehin schwierig zu sagen sein, müsste ein Interpret doch zumindest die ganze Fülle der abendländischen Kultur in den Begriff einschleusen – und stünde am Ende doch vor dem Dilemma, das „Humanum“ in Humanmaterialien, die Tieren implantiert wurden, herauszufiltern oder entschieden zu negieren, oder, umgekehrt, lebenerhaltende Neuroprothesen auf die Waage der Humanität zu legen. In der Regel gelten die verfassungsrechtlichen Missbilligungen den Produktionsverfahren, aus denen Chimären und Hybride – Chimbrids – in vitro hervorgehen. 434 Der Gattungswürde, die die Barriere bildet, wird so eine Abwehrfunktion zuerkannt. Doch das Problem lässt sich nicht einfach durch Verhaltensverbote oder -gebote bewältigen. Produkte müssen nicht dasselbe Rechtsschicksal erfahren wie ihre Produktionsverfahren. Eine illegitime „Zeugung“ beförderte ihr „Erzeugnis“ nicht ohne weiteres in die Illegitimität, und Illegitimität zieht nicht ohne weiteres Rechtlosigkeit nach sich. Tiere, die zwingenden Tierschutznormen zuwider gentechnologisch verändert und gezüchtet werden, bleiben gleichwohl Tiere, denen ein Tierschutz zu ge431 Schopenhauer, Die Welt, in: Werke, Ergänzungen zum vierten Buch, Kap. 41 f. (S. 552, 582 ff.). 432 Höfling, in Sachs, Art. 1 Rn. 27. 433 Kloepfer, in: Bonner Kommentar, Art. 20a Rn. 67 ff. 434 So entschieden Hillgruber, in: Epping / Hillgruber, Art. 1 Rn. 23.

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währen ist. Gälte das auch oder erst recht für Tiere mit einem menschlichen Gehirn oder mit menschlichen Keimzellen? Dem konservativen Dogma von der Gattungswürde zufolge, dem ein essentialistisches Artkonzept zugrunde liegt, dürfte die Menschheit nicht durch solche Zwitter angereichert werden. So gesehen, wirken die Gattungswürde und der lebensrechtliche Gattungsschutz allerdings nur objektivrechtlich, so dass die humane Individualität relevanter Lebewesen keine Rolle mehr spielt. Sie und ihre In-vitro-Vorstadien müssten sich infolgedessen in die Kategorie „Tier“ schicken. Doch diese Logik geht von einem Menschenbild aus, das prästabilisierte Merkmale konserviert. Bewusst oder unbewusst prägen dabei meistens morphologische und physiologische Merkmale den Bildzusammenhang, so dass es auf die Wiedererkennung von Gestalt und Verhalten ankommt, während das Gehirn, die Keimzellen und deren Potentiale in den Hintergrund treten. Aufschlussreiche DNA-Strukturen könnten geborenen Lebewesen ohnehin nicht angesehen werden, und kaum jemand kam bisher auf die Idee, kritische Erscheinungen einer DNA-Analyse zu unterziehen, bevor er sie als Menschen oder Tiere behandelt. Kämen DNA-Mischungen in vitro auf die Welt, hülfen sogar DNA-Analysen nur dann, wenn sie sich eindeutig und auf die Dauer ihrer Existenz interpretieren ließen und qualitativ oder quantitativ sortiert würden. Als die britische Academy of Medical Science vor der Herstellung fortpflanzungsfähiger Mischwesen warnte, argumentierte sie im Grunde mit einem biologischen Artkonzept, das wechselseitig fortpflanzungsfähige Individuen zu einer Gruppe zusammenfügt. Das nützt dem Systemdenken experimentierender Biologen, taugt aber nicht für die Kommunikation im Sozialverband. Ein evolutionistisches Artkonzept könnte dagegen flexibel gehandhabt werden, fände sich eine Entscheidungsinstanz, die charakterisierende Merkmale auswählen, abgleichen und ordnen könnte. Reichen dazu die judikativen Interpretationskompetenzen oder müsste der Gesetzgeber, eventuell sogar der verfassungsändernde, tätig werden?

5. Ausdehnungen des „Menschenbildes“

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5. Ausdehnungen des „Menschenbildes“

Verfassungen sind zwar textlich fixiert, aber abstrakt und dadurch entwicklungsoffen formuliert. Sie sollen eine politische Gemeinschaft auf Dauer ordnen, aber nicht einmotten. Um gesellschaftlichen und anderen Entwicklungen ihrer Sachund Sinnbezüge zeit- und umständegemäß, in demokratischen Gesellschaften: common sense-gemäß, entsprechen zu können, sind sie auf Anpassungen angewiesen, die unterhalb der streng formalisierten Verfassungsänderungen durch einen Verfassungswandel vonstatten gehen können, der das Verständnis und den Sinngehalt normierter Begriffe und Texte modifiziert. Der Vorgang eines Wandels des Grundgesetzes gewann an Anerkennung, seitdem das textlich positivierte Verfassungsrecht sich – aus verschiedenen Gründen – als zu starr erwiesen hatte und Vorstellungen der „Verwirklichung“, „Konkretisierung“ und „Harmonisierung“ der Verfassung anerkannt worden waren, kurz: als das Grundgesetz als sogenanntes Sinngebilde aus seiner textlichen Positivität zu einem „Verfassungsleben“ erweckt wurde. Diese Entwicklung ging nach dem Ersten Weltkrieg von der geisteswissenschaftlichen Wende der Staatsund Verfassungsrechtswissenschaft aus 435 und wurde nach 1949 interpretativ ausgeführt. 436 Ein solcher Wandel erfolgt rechtsdogmatisch nicht unbewusst. Er wird typischerweise argumentativ betrieben, entwickelt sich aber allmählich im Rahmen des anerkannten, allerdings ebenfalls Wandlungen unterworfenen Wortsinnes durch Erfahrungen und Überzeugungen meinungsbildender Wortführer und – besonders in Deutschland – durch die höchstrichterliche Judikatur. Die Grenze zur aktiven Verfassungspolitik soll er nicht überschreiten, doch ist diese Grenze fließend, vorsichtiger formuliert: schwer zu bestimmen.

435

171 ff. 436

Dazu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, S. 152 ff., Vor allem von Hesse, Grundzüge, S. 17 ff., 25 ff.

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VI. Rechtsstatus

Als Sinngebilde bewegt eine Verfassung sich nämlich durch Strömungen von Vorurteilen, Ideen und Vorstellungen. In einer pluralistischen Kommunikationsgesellschaft kann man nicht mehr von unbestreitbaren Grundüberzeugungen und von deren Bestandskraft ausgehen, wenn man dies überhaupt jemals konnte. Deshalb konzedierte auch das Bundesverfassungsgericht: „Die Würde ist etwas Unverfügbares. Die Erkenntnis dessen, was das Gebot, sie zu achten, erfordert, ist jedoch nicht von der historischen Entwicklung zu trennen. ... Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben.“ 437 Derartige Wandel hat das Grundgesetz durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach erfahren. 438 Im Zuge derartiger interpretativen Operationen wurden auch Menschenbilder und deren menschenrechtlicher Zusammenhang modifiziert. Die „Ausdehnung“ des Menschenbegriff auf Embryonen und die Anerkennung nidierter Zygoten „als“ Menschen 439 zeigen, wie nahtlos „Wandel“ und „Politik“ ineinander übergehen können, wenn sie von akzeptablen Legitimitätsüberzeugungen getragen werden. Lassen sich Mischwesen der verschiedenen Konsistenz so elegant in den Kontext des Grundgesetzes eingliedern? im Wege der Fiktion? oder durch Analogien? Innovativen Lösungen stehen nicht nur die Unterschiede der Mischwesen, sondern zunächst die Beharrungstendenzen einer Verfassung entgegen. Sie soll einer Rechtsordnung Stabilität vermitteln. Deshalb wirkt sie einem Systemwandel und allzu kühnen Interpretationen entgegen. Beim Begriff „Mensch“ ist zudem besondere Vorsicht geboten. Denn diesem Begriff kommt beim Spagat zwischen Beharrung und Entwicklung eine besondere Bedeutung für eine politische Gemeinschaft zu, die 437 Zitat: BVerfGE 45, S. 187, 229; Häberle, Die Menschenwürde, in: Isensee / Kirchhof, § 22 Rn. 70 f.: „Menschenwürde im kulturellen Wandel“. 438 Grawert, in: Der Staat Bd. 49 (2010), S. 507 ff. 439 Vgl. oben zu V. 2.

5. Ausdehnungen des „Menschenbildes“

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von Menschen für Menschen organisiert ist. Er konstituiert die Person, die Gesellschaft, den Staatsbürger und den Staat. Dafür ist die biologische Existenz eine faktisch notwendige Voraussetzung, die Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unterstreicht. Doch dieses Faktum macht noch keine Republik. Gemeinschaftskonzepten, die sich auf Kollektive, Clans oder Institutionen stützen, muss es auf einzelne Menschen nicht ankommen. In einer Gemeinschaft, die sich ihrem Gründungsmythos nach aus Einzelnen bildet, sei es als Familien-, sei es als Vertragsverband, ist dieser Schutz jedoch wechselseitig notwendig: für den einzelnen Menschen, der in sich jeweils dem Gründungsmythos wiederholt, und für die Gemeinschaft, deren Selbstverständnis und Organisationssystem darauf angewiesen sind. In dieser Perspektive erscheint der Mensch nicht nur als isoliertes biologisches, seiner Selbstverwirklichung überlassenes, sondern zudem als soziales und politisches Wesen, das sich in und mit der Gesellschaft entfaltet. Man kann diesen Zusammenhang auch in der judikativ entwickelten „Verbindung“ des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG erkennen. Die grundgesetzliche Menschenwürde wird zwar bisweilen als Ergebnis göttlicher Begabung oder individueller Leistungen betrachtet. 440 Doch derartige Auffassungen verkennen, dass es den Grundrechtsnormen nicht um das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott oder um eine adressatlose Selbstachtung geht, die individuell verfehlt und aufgegeben werden kann, sondern darum, Menschen in ihrer sozialen und politischen Gemeinschaft anzuerkennen 441 und dadurch zu stabilisieren. Zwar ist jedes Leben, das Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützen soll, etwas existentiell Individuelles. „In Verbindung“ mit der Menschenwürde erhält es jedoch zudem eine prinzipielle und transpersonale Bedeutung für die Gesellschaft und politische Gemeinschaft. Im Hinblick darauf tritt 440 Dreier, in: Dreier, Art. 1 I, Rn. 40 ff.; Hofmann, Menschenwürdeinterpretation, S. 58 ff.; zuerst wohl Luhmann, Grundrechte, S. 68. 441 Ähnlich Hofmann, Menschenwürde, in: AöR Bd. 118 (1993), S. 353 ff., 364 ff.; ders., Menschenwürdeinterpretation, S. 66 ff.

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VI. Rechtsstatus

„der“ Mensch als ein Gattungswesen auf, dessen allgemeine Qualitäten in jedes menschliche Lebewesen hineingelesen werden. Montaigne hatte das, wie gesagt, intuitiv erfasst, und Karl Marx eiferte ihm nach. Er hatte dabei zwar keine Menschenrechte, sondern die Nationalökonomie im Sinn, traf aber jene Bedeutung, als er philosophierte: „Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch – und dies notwendig – die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder allgemeines individuelles ist.“ 442 In der aktuellen Verfassungsrechtsdogmatik werden die Gattungsqualitäten der Menschen als maßgebender Statussockel durchweg anerkannt, und argumentativ umso mehr hervorgehoben, je mehr die zu beurteilenden Lebewesen sich von dem traditionellen Bild des von einer Mutter geborenen, personhaften und vernunftbegabten Menschen entfernen. Wird der Begriff „Mensch“ in dieser „Ausdehnung“ verstanden, kann er eine Bandbreite verschiedener Erscheinungsformen erfassen. Um dazu gerechnet werden zu können, müssten Mischwesen jedoch mehr als nur biogenetische Übereinstimmungen und Entwicklungspotentiale vorweisen können Welche? Darüber müssten die Gemeinschaft und deren Repräsentanten sich zuvor klar werden.

6. Verfassungsfiktionen

„Als“-Formeln, die Angleichungen ausdrücken, bezeichnen sprachlich eine Fiktion. Beim Wort genommen, muss das Bundesverfassungsgericht, das die Formel einführte und entscheidend praktizierte, sich dann für „Ausdehnungen“ zitieren lassen, die Möglichkeiten zu Wirklichkeiten erklären und diese fingieren. Fiktionen bezeichnen eigentlich eine semantische 442 Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Landshut, S. 225 ff., 238 f. (kursiv im Zitat).

6. Verfassungsfiktionen

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Leerstelle und gestalten sprachlich und für die Vorstellung, was tatsächlich so nicht ist bzw. so nicht wahrgenommen wird. Was „als Mensch“ anerkannt wird, ist, wie die Fiktion zugleich mitteilt, eigentlich kein Mensch – im Falle des Embryos: noch kein Mensch –, soll aber – schon – so angesehen und behandelt werden. Wie weit kann man diese Fiktion verfassungsrechtlich treiben? Legislative und judikative Fiktionen haben es einfacher. Sie bringen präzise, ausführliche, aber unpraktische Prädikationen einer Sache definitiv auf einen handhabbaren Begriff, der die Sache vereinfacht und so konstruiert: „Im Sinne des Gesetzes“, könnte der Gesetzgeber normieren, ist „Mensch“ das, was die Norm begrifflich konstruiert. Bei seiner Fiktion ging das Bundesverfassungsgericht tatsächlich davon aus, dass ausschließlich menschliche reproduktive Gene miteinander verbunden werden. Es unterstellte dadurch eine intraspezifische Abstammungslinie, die es durch den Faktor Nidation betonte. War das nicht dezisionistisch gemeint, könnte die Fiktion der eingeschlagenen Sachlogik nach auch auf weitere Vorstadien der Menschwerdung ausgedehnt werden, ohne dass es auf spezifische Individuationen ankäme: auf die Zygote, auf das Genom, sofern darin die Möglichkeit eines – nicht unbedingt: bestimmten – Menschen vermutet werden kann. Auf eine in nuce angelegte Individualität kann es nicht ankommen, wenn die Würde generell gattungsspezifisch verstanden wird und wenn es zutrifft, dass die genetische Individualität späteren Veränderungen unterworfen ist, sei es im Mutterleib einer leiblichen oder geliehenen Mutter, sei es durch Umwelteinflüsse anderer Provenienz. Die Reproduktionsfähigkeit dieser Gebilde, auf die zum Beispiel das Embryonenschutzgesetz wesentlich abhebt, ist für den Lebensschutz einer individualisierten Entität ebenso unerheblich wie bei geborenen Menschen. Wenn es zutrifft, dass Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG im Individuum die Möglichkeit wesentlicher Ausprägungen der Spezies schützt, dann gehören auch jene Vorstadien in den menschenrechtlichen Schutzbereich, und entsprechende Überzeugungen könnten einen weiteren Begriffs-

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VI. Rechtsstatus

wandel stützen. Das Embryonenschutz- und das Stammzellengesetz haben ihm bereits vorgearbeitet und könnten ihn legitimerweise ausdehnen. Interspezifische (Bei-)Mischungen verändern die der Fiktion zugrunde liegende Sachlage unerheblich, wenn das absehbare oder erkennbare Menschenbild im Wesentlichen erhalten bleibt; sie verändern die Spezieszugehörigkeit erheblich, wenn für wesentlich gehaltene Modifikationen erfolgen. Die Möglichkeit von Keimbahnmodifikationen wird dieser Alternative einen neuen, bisher noch nicht absehbaren Schwung geben. Was wesentlich ist, hängt dann von der Moral ab, die sich in der politischen Gemeinschaft diskursiv durchsetzt oder durchgesetzt wird. Der Diskurs, so die Annahme, ermöglicht in einer pluralistischen, sprachfähigen Gesellschaft Klugheitsmoralen. Man stelle sich dazu vor: denkende Mäuse, sprechende Schimpansen, entsprechend vorbereitete In-vitro-Entitäten, erforderlichenfalls vertreten durch Betreuer, wie sie bereits Personen zur Seite gestellt werden, die ihrer bedürfen. Die engagierte US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Martha C. Nussbaum will Tiere rechtsethisch so als „Subjekte der Gerechtigkeit“ begreifen und ihre „Interessen“ durch „Menschen“ vertreten lassen. 443 In der Logik ihrer Argumentation liegt es, humanisierten Tieren diesen Status im Erst-RechtSchluss zuzubilligen. Dabei hat Nussbaum nicht die Absicht, die „natürlichen“ Grenzen der Spezies und Kommunikationen zu überspringen. Aber sie gleicht die Sozial- und Rechtsstatus einander an. Sie modelliert gewissermaßen Übergänge der Spezies, statt deren Abgrenzung zu festigen. Das ist ein denkbarer Weg, sogar tierischen Mischwesen einen Schutzstatus zu gewährleisten. Ein solcher Status müsste zwischen dem Höchstwert der Menschenwürde und dem Tierschutz und jedenfalls über diesem liegen. Damit er eingeführt werden kann, muss er nach allgemeiner Überzeugung erstrebenswert erscheinen. Wenn relevante Meinungsführer nicht an eingeübten Status443

Nussbaum, Gerechtigkeit, S. 455.

7. Ähnlichkeiten: Analogien

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und Wertüberzeugungen festhalten oder nicht mehr festhalten können und statt mit Axiomen mit Anerkennungen argumentieren, ist es durchaus denkbar, dass die verfassungsrechtlich vorgegebenen Kategorien Mensch und Tier durch einen interpretativen Wandel der Verfassung allmählich eingeebnet werden. Zwar ist die judikative Meinungsbildung nicht so frei wie die persönliche und politisch-demokratische; doch eröffnen unbestimmte Verfassungsbegriffe auch Richtern im Schwung der Forschungsfortschritte möglicherweise Freiräume, von denen Leser der Verfassungstexte nichts ahnen. Der philosophische Konstruktivismus verfährt zielorientierter. Er lässt den Beobachter kraft seiner Überzeugungen eigene Realitäten schaffen, seien sie im Vergleich mit einer metapersonal objektiven Wirklichkeit fiktiv oder nicht. Die Konstruktion solcher Fiktionen bildet subjektive oder relative Wirklichkeiten, die der Sinngebung des Beobachters entstammen. Konstruktives Denken dieser Art versteht sich nicht als Willkür, sondern zieht die Konsequenz aus der Einsicht, dass es für den Menschen keine objektive Wirklichkeit gibt und, gäbe es eine solche, sie von ihm jedenfalls nicht objektiv wahrgenommen werden kann. Man kann mit diesem Ansatz die Dekonstruktion der Menschenbilder und -begriffe umkehren, so dass aus deren Elementen auf Ähnlichkeiten der Misch- und Maschinenwesen geschlossen werden kann. Die rechtsstaatliche Verfassung lässt sich jedoch auf so freizügige Denkprozesse nicht ein. Aber sie kennt Argumentationsfiguren, die konstruktiv wirken.

7. Ähnlichkeiten: Analogien

Haben Mischwesen eine Chance, sich durch Analogien in die Unterscheidung von Mensch und Tier einfügen zu können? Die „Als“-Formel könnte auch dazu dienen. Denn das Bundesverfassungsgericht sah den Embryo „nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch“ werden, um ihn so in die für den anerkannten Tatbestand „Mensch“ vorgesehenen Rechtsfolgen ein-

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VI. Rechtsstatus

zubeziehen. 444 Dieser Rechtssituation korrespondiert methodisch § 90a BGB, der Tiere von Sachen unterscheidet, aber das Sachenrecht „entsprechend“ anzuwenden vorschreibt. Er unterstellt damit Ähnlichkeiten der Sachverhalte, untersagt aber Gleichbehandlungen, die den Unterschieden nicht hinreichend Rechnung tragen. Im Zusammenhang gelesen, besteht demnach ein Spannungsbogen von der Zygote, die aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts noch eine Sache, aber natürlich eine lebendige ist, über das menschliche Lebewesen zum Menschen und von diesem zum humanisierten und sonstigen Tier sowie zur leblosen Sache, zu der der tote Mensch wird. So rechtspolitisch gelesen, veranlasste die Rechtsordnung dazu, Mischwesen nach dem Maß ihrer Ähnlichkeiten in die Rechtsregime für Menschen, Tiere oder Sachen einzuordnen. Analogie bedeutete in der Rechtswissenschaft, eine Rechtsfolge, die für einen bestimmten Tatbestand vorgesehen ist, auf einen anderen, aber rechtsähnlichen Sachverhalt anzuwenden. Damit der Interpret sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzt, ist diese Analogie allgemeiner Auffassung nach nur zulässig, wenn die Interessenlage gleich ist und eine planwidrige Regelungslücke vorliegt, die der Verfassungs- oder Gesetzgeber, hätte er sie erkannt, selbst geschlossen hätte, um andernfalls auftretende Wertungswidersprüche zu vermeiden. Eine Planwidrigkeit kann angenommen werden, wenn das Grundgesetz als Verfassung einer Lebenswelt angesehen wird. Analogien, die dazu dienen, Rechtsähnliches auf das Niveau derselben Rechtsfolge zu bringen, profitieren vom allgemeinen Gleichheitssatz. In direkter Fassung normiert Art. 3 Abs. 1 GG die Gleichberechtigung „aller Menschen“ und erfasst damit Menschen als natürliche Lebewesen und als die zu Rechtssubjekten erklärten natürlichen Personen. 445 Das Grundrecht benutzt den Tatbestandsbegriff „Mensch“ mit der gleichen tra444

BVerfGE 39, S. 1, 37; 88, S. 203, 252. Rüfner in: Bonner Kommentar, Art. 3 Abs. 1 Rn. 131 ff. (Stand: Okt. 1992); Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 3 Abs. 1 Rn. 210 f.; Heun, 445

7. Ähnlichkeiten: Analogien

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ditionellen Selbstverständlichkeit wie Art. 1 Abs. 1 GG, der die Menschenwürde aller Menschen unterschiedslos anerkennt. Zwar eröffnet Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber einen breiten Kompetenzraum zur Konkretisierung seiner Rechtsfolgen. Doch sein Tatbestand ist inhaltlich bestimmt und bezeichnet. Wenn allerdings die Wirklichkeit, die ein Tatbestandsbegriff erfasst, sich verändert, wenn der bekannte Sachverhalt Modifikationen oder Varianten erfährt, dann stellt sich die Frage, ob er noch passt oder den neuen Gegebenheiten angepasst werden kann, ohne seine Kernsubstanz zu verlieren. Etliche Grundrechte sind so evaluiert worden: Man denke an die Ausweitung traditioneller „Berufsbilder“ infolge neuer gewinnorientierter Erwerbstätigkeiten oder an die lange vor Einführung des Art. 20a GG erwogenen Tierschutz als Gemeinwohlbelang 446 oder an die Ausdehnung des Eigentumsbegriffs auf den „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“. 447 Wenn Art. 1 Abs. 1 und Art. 20a GG den „Plan“ erkennen lassen, die Lebenswelt in Deutschland zu ordnen, und Kategorien zwischen „Mensch“ und „Tier“ nicht strikt ausschließen, wenn der im Landesverfassungsrecht beheimatete Begriff „Tiere als Lebewesen“ eine Brückenfunktion erhielte, dann hätten Mischwesen Chancen auf Analogien. Dann liegt es nahe, den Begriff „Mensch“ auf diesem verwandte Lebewesen auszudehnen, wenn sie teilidentische Gene oder Qualitäten in einem Umfang besitzen, dass sie im Wesentlichen – also: gattungsbezogen – vergleichbar sind. Art. 3 Abs. 1 GG veranlasst dann, die ähnlichen Sachverhalte den annexen Tatbeständen anzugleichen, indem der Gleichheitssatz als allgemeines, objektives Rechtsprinzip angewendet wird. Wenn ein Cyborg trotz seiner Technisierungen als Mensch anerkannt bleibt: Warum sollte er nicht ebenso anerkannt werden, wenn er durch tierische Materialien modifiziert wird? Dieselbe Frage richtet sich auf den in: Dreier, Art. 3 Rn. 103, 121; Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee / Kirchhof, Bd. VIII, § 181 Rn. 13 f., 51. 446 BVerfGE 36, S. 47, 60 ff. 447 Vgl. BVerfGE 13, S. 225, 229; 45, S. 142, 173.

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VI. Rechtsstatus

Tatbestandsbegriff „Tier“ und dessen Verhältnis zu Humanisierungen. Doch das Grundproblem, welche Konzepte der Spezies nach welchen Kriterien anerkannt oder anzuerkennen sind, bleibt anhängig. Es betrifft in absehbarer Zeit vor allem Tiere bzw. deren In-vitro-Vorstadien, die so erheblich humanisiert worden sind, dass sie der Spezies Mensch verwandt erscheinen. Doch wodurch? Diese Frage weist zurück auf die Diskussion über relevante Merkmale des Menschen. Wer phänomenologisch dessen erkennbare Gestalt vertraut und eventuell gezüchtete menschenähnliche Fähigkeiten tierförmiger Wesen außer Acht lässt oder wer bei „Menschen“ deren Personhaftigkeit voraussetzt, kommt zu anderen Vergleichsszenarien als der, der Funktionen und Fähigkeiten eines menschlichen Gehirns im Körper eines Tieres als Wertungsgrundlage bevorzugt und zum Beispiel optimierten Tieren eine Art Selbstbewusstsein konzediert. In-vitro-Mixturen sind überdies wie menschliche Embryos auf die judikative Potentialitätsthese angewiesen. Geborene, dann technisierte „menschliche Lebewesen“ sind dagegen außerhalb dieser Konkurrenz, da zwischen Mensch und Maschine nur metaphorische Vergleiche gezogen werden können. Andererseits fordern technische Androide, die wie Menschen aussehen und funktionieren, zu weiteren Differenzierungen und Qualifizierungen heraus.

8. Ein- und Ausgrenzungen

Wenn die konträren Begriffe „Mensch“ und „Tier“ interpretations- und konkretionsfähig sind: Wer darf sie sachgerecht ausdehnen und den neuen Gegebenheiten anpassen? Und wer darf den Menschen so charakterisieren, dass eine innovativ zu treffende Eingrenzung gelingt? Wer darf die verschiedenen Mischwesen in vorhandene Rechtsstatus einweisen oder ihnen einen neuen Status zuweisen, wenn die Kompetenzen zu Interpretationen und Konkretionen nicht ausreichen?

8. Ein- und Ausgrenzungen

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Vergegenwärtigt man sich den – theologisch, geistesgeschichtlich und naturwissenschaftlich abgesicherten – Mut des Bundesverfassungsgerichts zu judikativer Verfassungspolitik, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass weitere „Ausdehnungen“ – oder Einschränkungen – eines biologisch-evolutionär angelegten Menschenbildes vorgenommen werden – intuitiv und dezisionistisch, aber selbstverständlich auch dann mit kohärenter, frühere Judikate einschließender Begründung. Der judikative Leitbegriff der „genetischen Identität“ engt die maßgebenden Merkmale zwar ein und überantwortet die Verfassung naturwissenschaftlichen Vorhaben und Visionen. Aber er ließe sich modifizieren und interpretativ dehnen – oder verengen –, nähme das Gericht einerseits die Kulturrelationen der naturwissenschaftlichen „Erkenntnisse“ und andererseits die Sozialbezüge der Würde und die Verantwortungsperspektiven in den Blick, die es in seinem vor-biologisch-republikanischen Menschenbild thematisiert hatte. Da die Begriffe von Mensch und Tier nicht eindimensionalen Kausalgesetzen, sondern Intuitionen, Vergleichen und Abwägungen folgen, ist es denkbar, hinreichend humanisierten Tiere und Zygoten den grundrechtlichen Lebensschutz einzuräumen oder stärker als bisher zu verweigern, ohne das Bild des Menschen kategorisch zu beschädigen. Extensivierungen des Menschenbildes auf künstliche Lebewesen dürfen allerdings nicht zu einem hermeneutischen Abenteuer ausarten, das derzeit anerkannte und selbstverständliche moralische Vorstellungsgrenzen übermäßig strapazierte. Ist das nur eine Frage der Methode oder der Zeit und der Erfahrung sich ablösender Generationen? Möglichen Verfassungsinterpretationen und einem offenkundigen Verfassungswandel Ausdruck zu geben, ist in erster Linie Angelegenheit des Gesetzgeber, der in der Demokratie den aktuellen vorherrschenden Volkswillen repräsentiert. Er ist der institutionalisierte Repräsentant des zeitgenössischen Gemeinsinns und deshalb verantwortlicher Adressat ethischer und utilitaristischer Diskurse über das, was als Mensch und damit als aktives oder passives Mitglied einer politischen Gemeinschaft

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VI. Rechtsstatus

anerkannt werden soll. So wie der Gesetzgeber des Embryonenschutz- und des Stammzellengesetzes dem genwissenschaftlichen Forschungseifer gewisse Grenzen gezogen und dadurch mittelbar das für erhaltenswert erachtete Bild vom Menschen vor allzu unerwarteten Verwerfungen zu bewahren versucht hat, so könnte er die diesem Bild entsprechenden Begriffe ausdrücklich eingrenzen oder ausdehnen, je nachdem seiner Ansicht nach Mischwesen mehr dem Menschen oder Tieren ähneln oder neue Spezies begründen. Er nähme dann eine Konkretisierungskompetenz wahr. Der Vorteil legislativer Konkretisierungen besteht darin, dass sie dem politisch aktuellen common sense verhaftet, deshalb vorläufig und anpassungsfähig sind. Eventuelle Konkretisierungen müssten sich auf das Tierschutzgesetz erstrecken, je mehr Tiere – aus welchen Gründen auch immer – genetisch „humanisiert“ werden und dadurch eine gewisse Menschenähnlichkeit beanspruchen könnten. Die verfassungsrechtliche Dichotomie von Mensch und Tieren schließt es, wie gesagt, nicht aus, rechtliche Übergangsstatus einzurichten. Schon das geltende Recht anerkennt den Lebenswert von Lebewesen, die nicht den Status einer Person und eines Grundrechtsträgers besitzen. Der Embryo, dessen Leben das Bundesverfassungsgericht, einer langen, wenn auch wechselhaften Tradition folgend, in den Schutzbereich der Grundrechte einbezog, ist ein solches Lebewesen, jedenfalls nach Ansicht der Grundrechtsinterpretationen, die nur einen objektivrechtlichen Schutz, aber keine Grundrechtssubjektivität erkennen können. Tiere genießen einen ähnlichen objektivrechtlichen Status. Das deutsche Angehörigkeitsrecht kennt übrigens vergleichbare Statusabstufungen zwischen Stadt- oder Staatsbürgern und Schutzgenossen: beide „Glieder des gemeinen Wesens“, aber ungleichen Rechts. 448

448 „Alles Recht hängt nämlich von Gesetzen ab“; mit dieser positivrechtlichen, dezisionistischen These fasste Kant, Über den Gemeinspruch, S. 150 (Zitat), seine Beschreibung der Statusunterschiede zwischen Bürgern und Schutzgenossen zusammen.

8. Ein- und Ausgrenzungen

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Doch wer den Mut des Bundesverfassungsgerichts, das Grundgesetz zu entwickeln und neuen Gegebenheiten anzupassen, nicht überfordern will, kann ebenso überzeugend sagen, dass die Verfassungsinterpretation hier an die Grenzen der Sinnermittlung stößt und zur dezisionistischen Sinngebung übergehen müsste, die nicht mehr Sache von Gerichten ist. Der einfache Gesetzgeber dürfte allerdings nicht die Grundlagen des Grundgesetzes umstürzen. Wirkten die Forschungsfortschritte so extensiv, dass die gentechnologisch ins Leben gerufenen Mischwesen überwiegender Auffassung nach das verfassungsrechtliche Menschenbild zerstörten, müssten sie eingestellt werden. Andernfalls wäre der Verfassungsgesetzgeber zu bemühen. Manche gentechnologischen Ankündigungen scheinen das zu erfordern, indem sie in eine – noch – unübersehbare und unbeherrschbare Zukunft weisen, die den bisherigen Menschen durch einen anderen, erheblich veränderten oder besseren zu ersetzen verspricht. Manche der einschlägigen wissenschaftlichen Vorhaben deklarieren sich noch vorsichtig als vorübergehende Versuche, bis weniger riskante Forschungsmethoden und -objekte zur Verfügung stehen, behalten aber ihre artverändernden Ziele im Auge. Doch solche Versicherungen können nicht halten, was sie ankündigen, wenn die produzierten Mischwesen „als“ Menschen anerkannt werden sollten und lebensfähig sind. Sie sind dann aufgrund der geltenden Verfassung dem Zugriff grundsätzlich entzogen. Warum statusrelevante Risiken eingegangen werden sollten, wenn damit zu rechnen ist, dass sie überflüssig werden können, ist ohnehin begründungsbedürftig. Mit gewisser Plausibilität lassen sich aus Schelers verantwortungsethischer Werteskala Wertungsalternativen wie kurz- / langfristige, leicht- /schwerwiegende Folgen heranziehen, um riskante Forschungen abgestuft zu bewerten. Der Deutsche Ethikrat hat diese Idee mit seinem Gesichtspunkt der Eingriffstiefe verwendet. Für Lebewesen hätte dies unterschiedliche Konsequenzen: Man müsste sich entschließen dürfen, In-vitro-Lebewesen, die ihren Anlagen nach nicht lebensfä-

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hig sind, nicht weiter künstlich zu erhalten. Bei humanisierten Tieren oder animalisierten Menschen verfinge diese Toleranz jedoch nicht. Am Ende kommt es darauf an, ob eine restriktive Rechtssicherheit oder das Vertrauen auf die Weisheit und Disziplin des homo faber oder eines (partei)politisch agierenden Parlaments der verfassten Gemeinschaft sinnvoll erscheint. Halten axiomatische Menschenbilder dem Andrang der Forschungsfortschritte und der mit diesen verbundenen NutzenKosten-Erwägungen nicht mehr grundsätzlich stand, wird sich, wie zu erwarten steht, vermutlich eine pragmatische und utilitaristische Einstellung durchsetzen, die „künstliche“ Geschöpfe ihren Schöpfern und den durch sie begünstigten Menschen zu Diensten erklärt.

VII. Reflexionen Eine Ideengeschichte reflektiert Rückblicke, um gegenwärtige Vorstellungen historisch begreifen und zukünftige begründet erwarten zu können. Welche einst anerkannten Vorstellungen vom Menschen haben heutige Menschenbilder in Deutschland und in Europa geprägt und unter welchen Einwirkungen wandeln sich diese Bilder? Die Frage, wer und was ein Mensch ist, ist natürlich von vornherein fiktiv. „Der“ Mensch ist eine Fiktion, die erkennbare und individualisierbare Menschen zu Angehörigen einer theoretischen Spezies erklärt und von Individualismen abstrahiert. Ein Mensch, der nach „dem“ Menschen fragt, sucht in sich seine Abstraktion, sein Modell. Diese Suche beschäftigt Menschen seit Urzeiten. Sie ist aktuell, seitdem technische Ersatzorgane, neurologische Ersatzfunktionen und gentechnologische Experimente das traditionell und intuitiv vertraute Bild vom Menschen verändern und die Grenzen zur Tierwelt überschreiten, so dass die Reichweiten des grundgesetzlichen Lebens- und Würdeschutzes fragwürdig geworden sind. Die Studie ist außer an „Bildern“ an den Denkmustern und Argumentationstopoi interessiert, aus denen die Selbstverständnisse „der“ Menschen erwachsen. Sie geht davon aus, dass Menschenbilder keine ein- für allemal gültige Wahrheit, sondern ethno- und anthropozentrische, zeit- und umständebedingte Vorstellungen wiedergeben, die von einem Selbstverständnis im Hinblick auf eine jeweils historisch erlebte Gruppenzugehörigkeit abhängen. Dabei prägen axiomatische und konventionale Überzeugungen, kulturelle Erfahrungen und soziale Anerkennungen die maßgebenden Vorstellungen. Methodisch führen theoriegeleitete Experimente und Forschungsvisionen die Fe-

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VII. Reflexionen

der der Naturwissenschaften, Intuition, Topik und Teleologie die der Geisteswissenschaften – jedenfalls typischerweise. Die Selbstbestimmung erfolgt traditionsgemäß in bewusster und gezielter Abgrenzung zu Tieren und seit der Entdeckung des „Orang-Utan“ vor allem von den Hominiden. Seitdem naturwissenschaftliche Forschungen den Glauben an eine metaphysische Schöpfung erschüttern und besonders Menschenaffen der Spezies Mensch verwandt erscheinen, werden die Abstände als zunehmend enger empfunden und Statusunterschiede relativiert, und zwar sowohl aus biogenetischer Erfahrung als auch in moralischer Bewertung. Die seit Aristoteles wieder virulente These der französischen Aufklärer, der Mensch sei ein Tier, wenn auch ein irgendwie besonderes, erfährt in der Gegenwart eine Erneuerung, indem gentechnologische Experimente und medizinische Anwendungen Inter-Spezies-Xenotransplantationen vornehmen und Mischwesen – Chimbrids – in vitro und in vivo erzeugen, deren moralischer und rechtlicher Status in der geläufigen Ordnung der Arten nicht recht unterzubringen sind. Nachdem das Bundesverfassungsgericht dem menschlichen Embryo aufgrund biogenetischer Erkenntnisse und im Vertrauen auf prospektierte Möglichkeiten einer kontinuierlichen Entwicklung den normierten Würdestatus „als Mensch“ zuerkannt hat, lässt sich die „Ausdehnung“ dieses Status auf In-Vitro-Mischwesen und eventuell sogar auf Tiere mit humanem Material vorstellen. Die ethisch problematische, oftmals perhorreszierte Vorstellung solcher Mischwesen knüpft in erster Linie an Modifikationen von Gehirnen und Keimzellen von Tieren an, provoziert aber auch Rückschlüsse auf Xenotransplantationen von tierischem Material auf Menschen. Im Gegensatz zu biologischen Entartungen des Menschen erwecken dessen Technisierungen durch einen maschinellen oder elektronischen Organersatz bzw. durch solche Organhilfen keine grundsätzlichen Bedenken. Obwohl auch sie „die Schöpfung“ oder „die Natur“ verbessern oder ersetzen, wer-

VII. Reflexionen

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den sie in der Regel als neue Normalitäten moralisch akzeptiert. Sollte die Akzeptanz darauf beruhen, dass die Technisierungen das intuitiv vertraute Erscheinungsbild des Menschen phänomenologisch nicht wesentlich verändern, ließe das Folgerungen für das biologisch veränderte Menschsein zu. Eine Neujustierung des grundgesetzlichen Menschenbildes könnte nach formellen – frühneuzeitlich: „forma“ – oder materiellen – frühneuzeitlich: „materia“, „mens“ – Kriterien erfolgen. Derzeit wird die sogenannte Wesensbestimmung des Menschen einerseits durch DNA-Analysen, andererseits im ethischen Diskurs der Fachkreise, aber auch der allgemeinen Öffentlichkeit gesucht. Dabei haben Ethikkommissionen eine gewisse Führungsrolle übernommen, stehen allerdings in einem Wettbewerb der Ethiken, Erklärungen und Absichten. Der Pluralismus der Ethiken und deren Konkurrenzen und Kollisionen entsprechen der Vielfalt und Beweglichkeit einer offenen Gesellschaft. Offen ist diese Gesellschaft, weil sie zwar Vergangenheiten hinter sich, aber keine bestimmten Vorstellungen vor sich hat. Ethische Konzepte des „moralischen“ – das heißt hier: unvordenklich oder konventionell vertrauten – Status von Menschen, Tieren und Mischwesen gehen implicite vornehmlich genealogisch, also nach Abstammungslinien, vor, seien diese in vitro oder in vivo präformiert. Werden sie nicht durch eindeutige Analysen unterstützt, die die Einartigkeit überzeugend beweisen, riskieren sie unter Umständen Irrtümer infolge gentechnologischer, evolutionärer oder reproduktiver Modifikationen. Während die Konsistenz von In-Vitro-Zellverbindungen den Produzenten anfangs bekannt ist, kann deren weitere Entwicklung in einem ausgetragenen Lebewesen zu unerwarteten Mutationen führen; die Wissenschaft scheint sich darin nicht sicher zu sein. Das Risiko eines Irrtums betrifft erst recht Menschenbilder, die intuitiv von der Erscheinung – Gestalt, Verhalten – eines Menschen bzw. eines Tieres ausgehen und von dort auf ein vermeintliches „Wesen“ schließen. Seiner physischen und mentalen Bedeutung wegen wird dem Gehirn dabei

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eine besondere Bedeutung zuerkannt – einst als Sitz der Seele, dann des Bewusstseins und der personalen Steuerung. Tiere mit „human brains“ bleiben jedenfalls rätselhafte Wesen. Diese Art der Wesenssuche ist eigentlich keine „Ausdehnung“, sondern eine Inversion, wenn man darunter versteht: ein Insichgehen, durch das „der“ jeweils Suchende die Markierungen seines emblematischen Wesens, die Elemente seines Identitätskerns zu erfassen trachtet: DNA-Strukturen und / oder Äquivalente für das, was einst „Seele“ hieß. Die Spezies Mensch nach deren vermeintlichen speziellen Eigenschaften und / oder Befähigungen zu qualifizieren, hat eine lange Tradition. Nachdem die „Seele“ als Alleinstellungsmerkmal ausgedient hatte, wurde und wird heute wieder mehr oder minder programmatisch oder entschieden auf indizierte materielle bzw. mentale Merkmale der Art vertraut. Das Vertrauen beruht auf naturwissenschaftlichen Experimenten, materialisiert sich aber durch idealisierende Zuschreibungen von Selbstbewusstsein, Vernunft und dergleichen mehr. Die Schwäche dieser Faktoren besteht darin, dass sie interpretationsbedürftig sind. Ihr Risiko besteht darin, dass gehirn- oder bewusstlos Geborene oder Gewordene und Mischwesen aus der Schematisierung herausfallen, sofern die Wesenstheorien nicht durch generalisierende Vermutungen über Potentialitäten ergänzt werden, so dass die Qualifizierung bzw. Abqualifizierung aus dem biologischen Dasein erdacht werden kann. Gemäß der kulturhistorisch naheliegenden Annahme, dass Menschenbilder von Vorstellungen und Anerkennungen abhängen, bieten sich verschiedene Wege zur Einordnung oder Aussonderung von Mischwesen zwischen den Kategorien „Mensch“, „Tier“ an: die Systematisierung eines Artenkonzeptes; der ethische Diskurs in der Hoffnung auf eine irgendwie „herrschende“ Auffassung; die rechtsimmanente Interpretation der Verfassungsnormen, in denen der Mensch als Tatbestandsmerkmal auftaucht – unter Berücksichtigung der hermeneutischen Grenzen und angesichts des Problems, Lebensschutz,

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Menschenwürde und Forschungsfreiheit zu einem Verhältnisausgleich zu bewegen; eine Positivierung neuer Artgrenzen, die mittelbar durch Regulierungen der Mischwesenproduktion erfolgen kann. Das einschlägige Verfassungsrecht geht von der kategorialen Unterscheidung von Tieren und Menschen aus, ist aber entstanden, als von Mischwesen noch keine Rede sein konnte. Infolgedessen ist eine innovative Interpretation der Begriffe „Mensch“ (Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG), „jeder“ (Art. 2 Abs. 2 GG) bzw. „niemand“ (Art. 3 Abs. 3 GG) und „Tier“ (Art.20a GG) gefragt. Eine herrschende Auffassung hat sich zu Mischwesen allerdings noch nicht bilden können. Entschiedene Missbilligungen von Chimbrids, die sich hauptsächlich in Missbilligungen entsprechender Produktionsverfahren niederschlagen, konkurrieren mit forschungsliberalen Tolerierungen von Experimente, die sich durch einen Bezug zur Heilung und Abwehr von Krankheiten des Menschen sowie durch den internationalen Forschungs- und Industriewettbewerb legitimieren. Die Diskrepanzen gehen auch auf divergierende Wertungen einerseits der Schöpfungsgeschichte, andererseits der Forschungsfreiheit zurück. Nicht zuletzt spielen Erwartungen der Gesundheitsindustrie eine Rolle. Auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruft sich die eine wie die andere Auffassung, da das Gericht der im Grundgesetz garantierten Menschenwürde ausdrücklich eine „Ausdehnung“ auf pränatale „Lebewesen“ zugemessen, Ausdehnungen auf andere Einsätze humanen Materials aber nicht ausgeschlossen hat. Riskanten Forschungen haben besonders das Embryonenschutz- und das Stammzellengesetz Grenzen in Form von Produktionsverboten gesetzt und auf diese Weise die legitime Entstehung und Existenz von Chimbrids in Deutschland weitgehend ausgeschlossen. Die Grenzen sind jedoch nicht so dicht, wie dies eine kategoriale verfassungsrechtliche Unterscheidung von Mensch und Tier erforderte. Für sogenannte hochrangige Forschungsziele, für deren Rang sich naturgemäß die interessierten Fach- und Wirtschaftskreise verbürgen, wird zur Of-

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fenhaltung der Zukunft geraten. Diese vorsichtige Einstellung zeugt freilich, soweit ersichtlich, nicht so sehr von einem kritischen Konservativismus als vielmehr von der Unsicherheit, ob die weiteren gentechnologischen und neurologischen Schritte in ein „unbekanntes Tal“ Menschen nützen oder deren Selbstverständnis grundstürzend beeinträchtigen. Die Abwägungslage ist in dieser Perspektive asymmetrisch: hier das ideale und vertraute Menschenbild, dort Hoffnungen, Erwartungen, Interessen und Bedenken. Konservative Vorbehalte gegenüber technischen und gentechnologischen Umbildungen des Menschen durch Menschen gehen im Grunde davon aus, dass der Mensch sich nicht selbst zum Mittel des Überlebens anderer Menschen oder der Spezies überhaupt machen sollte und dass jedenfalls die fragwürdigen, das heißt: (noch) nicht anerkannten, moralischen Status – von Menschen ebenso wie von neuartigen Mischwesen – wie die Moral(en), in die jene Status eingebettet sind, auf langdauernde Entwicklungen und Verstetigungen angewiesen sind, damit sie zu Konventionen, Überzeugungen, Selbstverständlichkeiten erstarken können. Zukunftsträchtige Forschungsideen, -vorhaben und -experimente legitimieren sich dagegen – auch das: selbst-verständlich – durch aktuelle, vornehmlich altruistische Zwecke der Gesundheitsfürsorge, allgemeiner gesagt: durch Aspekte biologischen Überlebens Lebender und ihrer Nachkommenschaft, noch allgemeiner: der Menschheit, und ideologisch dadurch, dass sie spezielle Forschungen in den Gang der Geschichte einbetten und so für sich die Unaufhaltsamkeit des Schicksals des Menschen als geistig produktives Wesen beanspruchen; dahinter arbeitet ein Fortschrittsglaube, der auf komplexe Zusammenhänge von Physis und Psyche und Sozialität trifft. Die beiderseitigen Argumente begründen – in historisch bekannter Regelhaftigkeit – Alternativen von Deutungshoheit. In der aktuellen Diskussion haben die Aspekte Tierschutz und Tierwürde eine eigene Bedeutung gewonnen. „Die“ Tiere sind dem Menschen nicht nur genetisch, sondern vor allem in der ethischen Wahrnehmung und Bewertung näher gerückt.

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Dadurch könnten Mischwesen eine Aufwertung, zumindest eine positive Neutralisierung erfahren, je mehr Ähnlichkeiten ihnen mit Menschen zuerkannt werden: statt der Disqualifikation als „entartet“ die Qualifikation von Menschenähnlichkeiten, zumindest zwecks Zuerkennung einer Brückenexistenz, die zwischen „Geschöpf“ und „Mitgeschöpf“ fließende Übergänge mit entsprechend anzupassenden Rechtsfolgen toleriert. Diese Aussicht wird von der Erwartung eines „besseren“ oder tüchtigeren Menschen übertroffen. Die Formel diente seit der Aufklärung dazu, Menschen zu größerer Vernunft, Moral und Soziabilität zu animieren oder zu erziehen. Sie indiziert heute jedoch technologische Verbesserungen, die von einem gesteigerten Vertrauen in die Fähigkeiten der Wissenschaften zeugen, während etwa Rousseau und Condorcet die edukatorische Perfektabilität vernünftiger Menschen erhofften. Der technisierte Mensch, der animalisierte Mensch, das humanisierte Tier, jeweils in vitro oder in vivo: sie könnten, so die nicht mehr nur fiktionale Vision, besser als ihre Grundentitäten funktionieren. Der Zweck der Heilung könnte so durch den der Funktionalität übertroffen werden. Die Tierzucht lebt seit langem von solchen Verbesserungen. Warum, so könnte fortschrittlich Gesinnte frage, sollte nicht auch der Mensch von nutzbringenden Selbstzüchtungen profitieren, wenn er denn nur ein besonderes Tier und auf Verbesserungen angewiesen ist? Gleichwohl haben Mischwesen vorerst eine ungewisse Zukunft. Entstehen und verbleiben sie in vitro, sind Instrumentalisierung und schließlich Entsorgung ihr Schicksal. Leben sie in Gestalt von Menschen oder Tieren, haben sie Probleme mit ihrer Identität. Ihr moralischer und rechtlicher Status hängt davon ab, wie die Gesellschaft, in der sie entstehen und leben, sie wahrnimmt und anerkennt. Frontbegradigungen könnten Gerichte im Wege innovativer Auslegungen der Verfassungsbegriffe „Mensch“ und „Tier“ vornehmen, sofern sie die anerkannten Grenzen der Hermeneutik nicht überschreiten. Das Bundesverfassungsgericht, das großzügiger und geschmeidiger zu judizieren pflegt, könnte die begonnene „Ausdehnung“ des

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Begriffes „Mensch“ fortsetzen und so die dem Menschen ähnlichen Mischwesen in dessen Rechtsschutz aufnehmen, je nachdem, welche der argumentativ zur Verfügung stehenden Merkmale es für maßgebend und welche der durch Xenotransplantationen erstrebten Nah- und Fernziele es für erstrebenswert hält. Doch wird seine Kompetenz erschöpft, wenn die interpretative Ausdehung zu einer grundstürzenden Veränderung des Begriffes „Mensch“ führt, der für die grundgesetzlich verfasste Gesellschaft und deren Staat wesentlich ist. Auf die Eingangsfragen, welche technologisch und technisch hergestellten und modifizierten Lebewesen der Spezies Mensch angehören, welche in sie hineinwachsen und welche aus ihr ausgeschlossen werden sollen, gibt es keine ein für allemal „richtigen“, sondern nur für richtig gehaltene und deshalb anerkennenswerte Antworten, die in einer definierten Sozial- und Rechtsgemeinschaft anerkannt werde müssten. Wie die Kulturgeschichte der Anthropologie retrospektiv zeigt und die Theorie der Artenbildung bestätigt, bleibt jede Speziesbeschreibung in ihren Randbereichen notgedrungen undeutlich offen. Das war eigentlich immer schon so: Die Geschichte der Anthropologien weist zahlreiche Problemexistenzen auf, die zuweilen in die gängigen Menschenbilder integriert, zuweilen aus ihnen ausgeschlossen wurden. Der Überblick über die mehr als halbtausendjährige Entwicklung der Menschenbilder lässt allerdings auf eine Tendenz zur Integration menschenähnlicher und -naher Lebewesen in den Moral- und Rechtsbegriff „Mensch“ schließen. Jedoch geraten heute hergestellte Mischwesen in eine unvergleichlich kritischere Problemexistenz, weil sie künstliche Produkte unterschiedlicher Provenienz und Konsistenz sind, deren Erscheinung und Struktur vertraute Vorstellungen und Vergleiche überfordern. Eine kulturhistorische Sicht auf die Selbstvergewisserungen der Spezies Mensch setzt auch deren zukünftige Intuitionen dem historischen Prozess und den Unwägbarkeiten der Geschichte aus. Fundamentalisten könnten sagen: Die Spezies werde so dem Zeitgeist und dessen Wankelmütigkeiten ausge-

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liefert. Demgegenüber erfolgen anthropologische Wenden langfristig, da sie in langfristige Geistesströmungen und Konventionen eingebettet sind. Ob das parlamentarische Regierungssystem eines Parteienstaates, der von medialen Auseinandersetzungen und von kurzfristigen Wechseln der Meinungen, Absichten und Politiken lebt, dem gewachsen ist, kann man bezweifeln, je weniger Selbstverständlichkeiten in einer pluralisierten, permissiven Gesellschaft vorhanden sind. Ein flexibles System kann sich, will es vorsichtig sein, nur vorläufig entscheiden. Um langfristig beeindrucken zu können, benötigen Menschenbilder eine sorgfältig abgestimmte Malweise. Daher sollten die rechtserheblichen Maßstäbe für Ein- oder Ausgrenzungen technischer und technologischer Lebewesen dort verankert werden, wo sie zwar nicht konstant, aber dauerhafter wirken können: im Verfassungsrecht. Öffentliche und parlamentarische Diskurse über Risiken und Vorteile von Mischwesen sind zwar spannend; sie können zukunftsträchtigen Wandlungen auch vorarbeiten, erfolgen und wirken aber gemeinhin kurzatmig. Rasch leuchten Nahziele ein, und der heute versprochene Nutzen überflügelt Sorgen vor etwaigen Entartungen sogenannter Vernunft- zu Mischwesen.

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