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German Pages 246 [248] Year 1953
Erich Franz • Mensch
und
Dämon
ERICH FRANZ
MENSCH UND DÄMON GOETHES FAUST als menschliche
Tragödie,
und religiöses
ironische
Welt
schau
Mysterienspiel
MAX N I E M E Y E R VERLAG / T Ü B I N G E N
1953
Satz und Drude: Tübinger Chronik, Druckerei- und Verlagsgenossenschaft eGmbH, Tübingen
Grete Albrecht
zu
eigen
INHALT Zum Geleit
11
VORAUSSETZUNGEN Kapitel 1
Goethe und die Faustdiditung Goethes Dichtungsweise / Begegnung mit dem Fauststoff / Die drei Grundkonzeptionen der Dichtung / Gretchen verdrängt Helena
17
Kapitel 2
Stil und Aufbau der Dichtung Faust als Foliegestalt / Stilunterschied von Faust I und Faust II / Symmetrie und Stilisierung / Faust II als Parallele und Widerspiel von Faust I
32
Kapitel 3
Höllenpakt und Wette Der Höllenpakt als Mittelpunkt und Achse der Dichtung / Vorbereitung und Abschluß des Vertrages / Unterscheidung zwischen Vertrag und Wette. Der Ausgang
43
Kapitel 4
Die Rolle der Magie im Faust Religion und Magie / Magie in ursprünglicher Bedeutung; Faust als Zauberer / Magie im Lichte der drei Mythenkreise / Magie in übertragenem Sinne: positiv, Schöpfertum; negativ : Blendwerk, Trug, Technik
51
Kapitel 5
Mehrdeutigkeit der Grundbegriffe Die drei Mythenkreise / Positive und negative Sidit. Doppeldeutigkeit von „Streben" / Die vier Möglichkeiten der Faustdeutung
60
HAUPTTEIL I. T R A G I K Kapitel 6
Goethe als Tragiker Tragik der Innerlichkeit / Mittelstellung des Tragischen / Tragik und Erlösung; Tragik des Erhabenen und Tragik der Existenz / Subjektive, objektive und individuelle Tragik 7
75
Kapitel 7
D e r Tragödiendiarakter der Faustdichtung . . . . Tragödie und Mysterienspiel / Die Erlösung vom Tragischen und Erlösung im Tragischen / Fausts Erlösung bei Lessing und bei Goethe / Tragik der Existenz. Umnachtungsszenen
90
Kapitel 8
Die drei Einzeltragödien Der dreimal wiederkehrende dreifache Rhythmus / Die drei Einzeltragödien
105
Kapitel 9
D i e Tragik der Altersdichtung Tragik der Einseitigkeit / Pandora als Schlüssel zu Faust I I
114
Kapitel 10 Tragik der Schönheit Die Helena-Gestalt / Klassische Walpurgisnacht / Die T r a gik der Schönheit
120
K a p i t e l l l Tragik der Macht Poesie und Politik. Vision der Weltkatastrophe / Herrschaft und Regiment. Staatsleben in Frieden und Krieg / Besitz und Wirtschaft / Technik und Naturbeherrschung
130
II. I R O N I E Kapitel 12 D i e R o l l e der Ironie im Faust Humor und Ironie bei Goethe ! Subjektive Ironie und ihre Stufen / Objektive Ironie
141
Kapitel 13 Mephistopheles Die Gestalt des Mephistopheles / Das Verhältnis Fausts zu Mephistopheles
149
III. RELIGION Kapitel 14 D a s Dämonisdie 161 Das Dämonische als das Numinose / Antik-humanistische Tradition / Naturglaube / Dämonisierung / Das Dämonisdie im christlichen Sinne; Mensch und Dämon Kapitel 15 Metaphysische Grundlagen der Faustdichtung . . . 172 Aufklärung und Frömmigkeit / Relative und absolute Betrachtung. Kant und Goethe / Theodizee; Goethe und Hegel Kapitel 16 D i e religiöse Grundstimmung der Faustdichtung . .184 Religiöse Krise. Weltfrömmigkeit / Gefühlscharakter der Frömmigkeit / Religiöse Urphänomene Kapitel 17 Begriff und Bedeutung des M y t h u s Echter und unechter Mythus / Lebendiger und erzählter Mythus / Mythus und Geschichte. Propheten und Mittler / Der Mythus als „Poesie des Lebens" 8
193
Kapitel 18 D e r M y t h u s in d e r F a u s t d i d i t u n g Religiöser oder poetischer Mythus? / Abstufungen. Bedeutung der mittleren Sphäre / Der religiöse Mythengehalt der Faustdichtung
204
Kapitel 19 Goethes G l a u b e u n d die Faustdidhtung Durchbruch des religiösen Mythus durch den poetischen. Die verschwundene Hades-Szene / Goethes persönliches Glaubensbekenntnis: Poesie des Lebens. Reine Menschlichkeit. Das Ewig-Weibliche
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SCHLUSSBETRACHTUNG Kapitel 20 S i n n u n d B e d e u t u n g d e r F a u s t d i d i t u n g Tragik, Religion und Ironie / Faust und die Gegenwart. Goethe und Kierkegaard
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Zum Geleit Goethe hat sich mit großem Nachdruck dahin ausgesprochen, seine Sachen könnten nicht populär werden; wer sidi dafür einsetze, sei in einem Irrtum befangen. Von der Beschäftigung mit Faust pflegte er eher abzuschrecken als zuzuraten. „Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus . . . Faust ist ein so seltsames Individuum, daß nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können." 10.1. 25.
Dies Urteil steht in starkem Gegensatz zu der gängigen Auffassung. Den abgeschlossenen zweiten Teil der Dichtung hielt der Dichter bei seinen Lebzeiten mit voller Absicht von der Veröffentlichung fern, weil er die Verständnislosigkeit der Zeitgenossen fürchtete. Diese reifste und gehaltvollste Schöpfung seines Alters sollte erst nach seinem Tode ans Licht treten, als feierliches Vermächtnis eines Abgeschiedenen an seine hinterbliebenen Freunde und an eine vielleicht verständnisvollere Nachwelt. Gestehen wir es uns: Faust ist für die meisten ein dunkles Buch, und das vielleicht gerade deswegen, weil es für selbstverständlich gilt, daß jeder seinen Faust kennt. Die gegenteilige Annahme wäre eine Beleidigung. Man hat schon in unreifem Alter mit ihm Bekanntschaft gemacht und dabei gleich die konventionellen Vorurteile in sidi aufgenommen. Kein Gedanke, daß es da noch Probleme gibt. Es ist nicht ungefährlich, Klassiker zu sein. Fast ein Jahrhundert lang hat ein selbstsicheres und kulturfrohes Zeitalter den tragischen Grundcharakter der Dichtung verkannt und sein eigenes Lebensgefühl hineingelegt. Goethe habe, so urteilte man, die alte düstere Sage von dem gottlosen Magier nur zum Anlaß genommen, seinen eigenen optimistischen Glauben von der Selbsterlösung des Menschen und von der Herrlichkeit der Welt und des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Das las man heraus aus einer Dichtung, deren erste Voraussetzung die schroffe Absage an jede Art von behaglicher Selbstgefälligkeit ist, die in all ihren Teilen diese selbstgenugsame Aufklärungsstimmung verspottet und ihrerseits getragen ist von der entgegen^ gesetzten Überzeugung, daß auch das höchste und gesichertste Menschenleben ständig bedroht und gefährdet ist, daß audi weit überlegene 11
Bildung und Geistigkeit nicht vor dem plötzlichen Absinken in die tiefsten Niederungen des Daseins schützen können. Die Faust-Dichtung ist durch und durch Tragödie. Ihr gläubiger Optimismus, der zwar auch nicht fehlt, ruht auf einem düsteren Hintergrunde. Alle Mächte der Finsternis werden aufgeboten, die Hölle der Verzweiflung bis an die Grenze des Wahnsinns durchschritten, nicht um diesen Mächten das letzte Wort zu lassen, sondern um aus der tiefsten Hefe zum Licht vordringen zu können. Ebenso wird die äußerste Schärfe von Skepsis, Hohn und Ironie aufgeboten, nicht aus Lust an der Negation, sondern um durch alle Anfechtungen des Zweifels und der Verzweiflung zu einem letzten befreienden Glauben durchstoßen zu können. Wird diese düstere Tragik verkannt oder abgeschwächt, so verliert auch der helle Glaube seinen Sinn, seinen Wert und seine Kraft. Gnade setzt Schuld voraus. Erlösung gibt es nur, wenn Erlösungsbedürftigkeit empfunden wird. Ein Faust ohne dämonische Wildheit und schwere Verschuldung wäre wie ein Dante, der unbeschwert in die himmlischen Sphären aufsteigt, ohne vorher das Inferno bestanden zu haben; oder wie ein Luther mit der Seligkeit seines Glaubens, aber ohne die Schrekken der Anfechtung und ohne das Grauen vor dem „deus absconditus". Ohne den polaren Gegensatz des Negativen erscheint auch das Positive kraftlos und sinnlos, zahm und dünn. Die Spannung zwischen Verzweiflung und Seligkeit, die polare Verbundenheit von menschlicher Schuld und göttlicher Gnade ist der Nerv der ganzen Dichtung. Auf ihm ruht in gleicherweise die Mächtigkeit des religiösen Mythus wie der Reiz der dichterischen Konzeption. Der Dichter öffnet die letzten Schleusen irdischen Jammers, menschlicher Schuld und Verzweiflung, um am Ende in diese trostlose Nacht einen hellen Strahl himmlischen Lichtes fallen zu lassen. Er hat das kühne Experiment gewagt, drei an sidi wesensverschiedene Dichtungsarten, Tragödie, Komödie und Mysterienspiel in einem Werk zu vereinen. Darin liegen Klippen f ü r das Verständnis. Jede Dichtungsart muß, um zur Geltung zu kommen, ihre Eigenart wahren und voll ausgebaut werden; erst dann können die so ausgeformten als Gegensätze in fruchtbare Beziehung zueinander treten. Analog ist es mit den drei religiösen Mythenkreisen, die der Dichtung zugrunde liegen und die zugleich das Fundament der abendländischen Kultur bilden: dem christlichen, dem antik-humanistischen und dem naturphilosophischen. Audi hier entfaltet der Dichter in strenger Sonderung den eigentümlichen Geist einer jeden Religion, so daß genau genommen jede ihr eigenes Faust-Problem und seine Lösung hat; - um erst dann vorsichtig die drei Sphären zusammenzufügen und einander anzugleichen. Wie Goethe bei seiner Menschendarstellung gern entgegen12
gesetzte Typen paarweis zusammenfügt, so daß wechselseitig die Schwäche des einen der Stärke des anderen entspricht, genau so verfährt er auch mit den Weltanschauungen, Mythen, Religionen. Zuletzt aber schließt er die verschiedenen Ausprägungen und Gegensätze in eine höhere Einheit ein, so daß auch die Weltweite des Horizonts der verpflichtenden K r a f t eines Entscheidung fordernden Glaubens nicht im Wege steht. Wahrend aber alle bisherigen Faust-Deutungen von je einer dieser M y thengrundlagen ausgingen, jeweils die übrigen unterdrückend, geht die hier vorgelegte Deutung von der großen Zusammenfassung und Synthese aus, die der Dichter selber beabsichtigte. Wir Deutsche theoretisieren und moralisieren zu viel, wir haben zu wenig Sinn für Sinnlosigkeit und Übermut, Humor und Ironie. Wir müssen uns andererseits auch den Möglichkeiten jenes großen Humors öffnen können, den Goethe in Shakespeares Tragödien fand und der im letzten Grunde ein zum Gipfel gesteigerter Ernst ist. Der Faustdichter möchte seine Leser in die gleiche Stimmung hineinziehen, die ihn selbst erfüllt: „Wenn dies Ding nicht fortgesetzt auf einen übermütigen Zustand hindeutet, wenn es den Leser nicht audi nötigt, sich über sich selbst hinauszumuten, so ist es nichts wert." 26. 7. 28.
Die hier vorgelegte Faustdeutung geht neue und eigene Wege. Sie hält sich nicht an Einzelheiten, sondern schöpft aus einer geschlossenen Gesamtkonzeption, deren Durchschlagskraft sich selber erweisen und bewähren muß. Vgl. die in Kapitel 5 am Sdiluß aufgewiesenen vier Möglichkeiten der Faustdeutung. Es ist die Absicht unserer Untersuchung, durch Hineingehen in die Dichtung selber, durch Hineinhorchen in ihre Stimmungen, Voraussetzungen und Beweggründe zu einem tieferen Verständnis und zu einem reineren Genuß zu gelangen. Wir möchten in erster Linie der Eigenart und Größe dieser außerordentlichen Schöpfung voll gerecht werden, andererseits aber auch vor einer sachlichen Kritik nicht zurückschrecken, gemäß dem Kanon Lessings: „Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht; mit einem mittelmäßigen verfährt man gelinde; gegen einen großen ist man unerbittlich." Goethe selber fühlte sich abgestoßen von der kritiklosen Verehrung, die ihm in späteren Jahren so reich entgegengebracht wurde. Als ein ausländischer Besucher, der russische Graf Stroganoff, sich einmal sehr freimütig in entgegengesetztem Sinne äußerte, atmete der alte Dichter förmlich auf: „Die öffentliche Meinung vergöttert Menschen und lästert Götter, sie preist die Fehler, worüber wir erröten, und verhöhnt die Tugenden, welche unser Stolz sind. Glauben Sie mir: Der Ruhm ist so verletzend fast wie die Verrufenheit. Seit 30 Jahren kämpfe idi gegen den Überdruß . . Vgl. Biedermann, Gespr. N r . 1435.
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Vielleicht ist es in diesem Sinne nidit überflüssig, das persönliche Urteil eines Goethefreundes anzuführen, der in musterhafter Weise Kritik und Verehrung gegeneinander abzuwägen weiß: „ W a s midi zu Goethe mit einer gleichsam religiösen Verehrung hinzieht, ist, daß er in so wundervollem Maße der Gnade teilhaftig war. Das Höchste, das er geben durfte, scheint über Menschenkunst hinauszugehen und kann, wie alles Überweltlidie, nur mit einem schwindelnd ahnenden Gefühl aufgenommen werden. „Mit unsrer Madit ist nichts get a n " ; man hat die Gewißheit, ein Unbegriffenes, Größeres, Allumfassendes wählte ihn als Gefäß, sich darin mitzuteilen. Und in dieser Gewißheit wird der verständige Leser nicht erschüttert, sondern befestigt, wenn er gewahrt, wie gar vieles matt und schwach ist, was Goethe mit bewußter Absicht und Überlegung, nidit als Herold einer höheren Offenbarung, dichtete. Man muß unterscheiden zwischen dem Menschen und seinem Priesteramt; alle Kleinlichkeiten und Verdrehtheiten, die jenem anhaften, lassen dieses nur in um so reinerer Heiligkeit leuchten. Deshalb ist mir nichts mehr zuwider als die trivialen Bestrebungen, Goethes menschliche Person zu einer übermenschlichen Vollkommenheit hinaufzuschrauben." Gerhard J. Oudcama Knoop.
In diesem Buche, das sich an weitere Kreise wendet, ist mit Absicht auf eingehende gelehrte Anmerkungen verzichtet. Ergänzungen und Begründungen findet der Leser z. T . in den früheren Büchern des Verfassers: „Goethe als religiöser Denker", Tübingen 1932; „Deutsche Klassik und Reformation. Die Weiterbildung protestantischer Motive in der Philosophie und Weltanschauungsdichtung des deutschen Idealismus." Preissdirift der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Halle, 1937. Auseinandersetzungen mit abweichenden Auffassungen und anderen Goetheforschern wurden nach Möglichkeit vermieden. Für den Laien genügt es, wenn einfach das Richtige gesagt wird; und die Fachleute erkennen auch so, wo in Zustimmung oder Widerspruch zu Forschern wie E. Beutler, W. Böhm, W. Danckert, W. Emrich, F. A. Hohenstein, M. Kommereil, H . A. Korff, K . May, K . Reinhardt, B. v. Wiese, um nur diese zu nennen, Bezug genommen wird; auch feinsinnige Goethekenner wie Fr. Meinecke und K . Jaspers mit ihren abgewogenen Urteilen über Goethes Denkweise und Tragikauffassung sollen nidit unerwähnt bleiben. D a das Hauptproblem in selbständiger Weise von verschiedenen Seiten und Fragestellungen aus angegangen und gleidisam eingekreist wird, war es nidit zu vermeiden, daß wichtige Thesen in verschiedenem Zusammenhange wiederholt werden. Den Ausgang der vorliegenden Arbeit bildete die kritische Unterscheidung von Tragödie und Mysterienspiel. Sie erweiterte sich dann durch die Untersuchungen über Wesen und Bedeutung des Mythus und endlich durch Einbeziehung des wichtigen Ironie-Problems. Hamburg-Blankenese, im Juli 1953. 14
VORAUSSETZUNGEN
„Faust ist gemeinsame Geburt des gewichtigsten Stoffes und des gewaltigsten Geistes und kann darum nidit zum zweiten Mal produziert werden."
Fr.
Hebbel
Kapitel 1
Goethe und die Faustdichtung I. Goethes
Dichtungsweise
Goethes Dichtungsweise, wie sie schon in seinen frühsten Schöpfungen zutage tritt, hat einen „Echo-Charakter". Er denkt sich die bestimmenden Motive seiner Dichtungen nicht selber aus, sondern folgt konservativ und pietätvoll den Spuren der großen mythischen Traditionen, in denen sich die geistige Kultur von Jahrhunderten niedergeschlagen hat. Er horcht in die Mythen hinein, ihren letzten und eigentlichen Sinn zu erspüren und ihnen möglichst viel „abzugewinnen". „Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgesdiiditlich Überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder o f t in der Einbildungkraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entsdiiedneren Darstellung entgegen reiften." Bedeutende Förderung durch ein einziges geistreiches W o r t . Jub.-Ausg. 39, 4 9 f.
Hauptbeispiele dafür sind die Mythenkreise um Prometheus und Faust. Den Ausgang des Dichtungsprozesses, den ersten Anstoß bildet hier immer ein mächtiger Eindruck von außen her, der den Dichter erregt, begeistert, bedrängt und mit dem er sich so oder so auseinandersetzen muß, um sein Selbstgefühl zu behaupten. Bezeichnend, wie ihn die Hafis-Gedichte zum Divan begeistern: „Ich mußte mich dagegen produktiv verhalten, da idi sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können." Annalen 1815.
Es brauchen auch keine Dichtungen sein, die ihn anregen. Audi das Straßburger Münster, der Rheinfall bei Schaffhausen, der Gotthardt setzt seine Schöpferkraft in Bewegung, in einer Art elektrisdier „Induktion". Die Wiedergabe der vorgefundenen Motive ist dann zugleich 2
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ein Ubersetzen in Sprache und Empfindung der Gegenwart und des eignen Erlebens; nie ist es ein bloßes Weitergeben des Empfangenen und Berichteten. So sagt er von den Wahlverwandtschaften, es sei darin „kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber auch kein Strich, wie er erlebt worden". In diesen Worten wird auf jene Fälle Bezug genommen, wo der erste Anstoß nicht von der Außenwelt herkommt, sondern von innen her, von dem eigenen subjektiven Erleben. Goethe ist Lyriker, auch in den Dramen und Romanen. Die Frische des unmittelbaren Erlebnischarakters drückt seinen lyrischen Schöpfungen ihren Stempel auf, und auch den Gestalten seiner Romane und Dramen gibt er etwas von seinem Herzblut mit. In diesem Sinne hat er bekanntlich seine Dichtungen als „Bruchstücke einer großen Konfession" bezeichnet. Man darf indes nicht übersehen, daß es für ihn der eigentliche Sinn auch jener Lebensbeichte ist, von der bloßen Subjektivität loszukommen, indem er das ihn Bewegende und Beunruhigende objektivierend vor sich hinstellt. Das eigene subjektive Erleben bildet in diesen Fällen für ihn den Ausgangspunkt, gleichsam das Sprungbrett, von dem er sich aufschwingt in eine Welt verwandter objektiver Bilder, Formen, Symbole. Der erste Ansatz lag in ihm; was er aber erstrebt, ist viel mehr. Er denkt sich hinein in große typische Rollen wie die des Prometheus, Faust oder Cäsar. Man darf diese Gestalten keineswegs als bloße Masken des Dichters auffassen, als wenn er durch ihren Mund spräche und seine Bekenntnisse ablegte. Die Lebenswahrheit, die seine Gestalten zeigen, ist nicht das eigentliche dichterische Ziel, sondern nur die selbstverständliche Voraussetzung. Schon in seinen frühesten Schöpfungen ist er sich darüber klar, daß Dichten etwas anderes ist als Natur und Leben nachzuahmen. Vielmehr schafft der Dichter mit seiner Phantasie etwas, was im wirklichen Leben so nicht vorhanden ist. In der Kunst wird alles konzentrierter, charakteristischer, dichter, typischer. Der Dichter wählt aus und vereinfacht. Dadurch erhalten seine Gestalten das Gesättigte, Gedrungene, Elementare und Symbolhafte, die Gesamtschilderung ihre Frische und Farbigkeit. In der so begrenzten, verkürzten Form erhält ein bestimmter geistiger Gehalt das Übergewicht, so daß die Person als dessen Träger bzw. dessen Verkörperung erscheint. Darauf beruht der eigenartige Reiz von Gestalten wie Mignon, Tasso. Faust. Mignon ist die verkörperte Sehnsucht, - wie später Euphorion und Homunculus - , Tasso im Guten wie im Schlimmen die Verkörperung künstlerischer Wesensart in einem Maße, daß der - falsche - Eindruck eines Krankhaften, Pathologischen entstehen kann. Faust ist die Steigerung und Verkörperung des menschlichen Lebensdranges nach 18
Glück, Genuß und Macht, der direkte Gegensatz zu jeder Form von Entsagung, Beschränkung und Mäßigung. Damit hängt es auch zusammen, daß die dichterischen Gestalten Goethes nicht isoliert für sich entworfen sind, sondern immer im Hinblick auf ihren polaren Gegensatz bzw. ihre Mitspieler. Die Personen des Stückes sind schon im ersten Entwurf aufeinander abgestimmt und erfüllen in der Gesamt-Ökonomie der jeweiligen Dichtung eine bestimmte Funktion. So sind auch die Gestalten der Faustdichtung nicht isoliert, sondern mit Rücksicht aufeinander entworfen und dienen sich gegenseitig als Folie. Dadurch wird nidit nur die Symbolkraft der Einzelgestalt ungemein gesteigert, sondern auch das Ganze erreicht ein Höchstmaß von Tragik und menschlichem Jammer wie auch von Erlösungshoffnung. Eine besondere Eigenart von Goethes Menschendarstellung ist es, daß er die Ganzheit eines Menschenbildes in zwei sich ergänzende Hälften zu zerlegen pflegt, die in polarer Beziehung zueinander stehen. So bilden der beschauliche Innenmensch Tasso und der weltgewandte, tätige Antonio einen polaren Gegensatz. Auch durch diese Konzentrierung auf ein begrenztes Ideal wird wieder jene Dichte und Symbolkraft erreicht, welche die dichterischen Gestalten über die Zufälligkeit des wirklichen Lebens hinaushebt. Dies „indirekte" Verfahren durch polare Entgegensetzung wendet Goethe nun nicht nur bei seiner Menschenschilderung an, sondern ebenso auch bei der Darstellung großer geistiger Gebilde, Religionen, Weltanschauungen und Kulturen. Jede wird charakterisiert durch den Gegensatz zu einer anderen, und die Stärke der einen entspricht der Schwäche der anderen. Ein weltfremdes und verkrampftes Christentum unterliegt der Kritik durch ein stolzes und selbstbewußtes Menschentum, und umgekehrt kann ein schwächlicher, ästhetischer Humanismus sich nicht gegenüber der machtvollen Realität der christlichen Begriffe von Schuld und Erlösung behaupten. Das Ganze ist getragen von dem Geist einer großartigen Unparteilichkeit und Objektivität, eines Gewährenlassens und einer liebevollen Hingabe, wie sie in klassischen Worten Gottfried Kellers „Grüner Heinrich" unter dem Eindruck seiner ersten Goethelektüre wiedergibt: „Ich machte mich ins Freie; die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See und das formenreidie Gebirge lagen im milden Schein der Märzsonne, und indem meine Blicke alles umfaßten, empfand ich ein reines und nachhaltiges Vergnügen, das ich früher nicht gekannt. Es war die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglidien Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet." 2.
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II. Goethes Begegnung mit dem Fauststoff Der FauststofF war für Goethe keineswegs neutral, nicht das an sich gleichgültige Medium für die Darstellung seiner eigensten Lebensbekenntnisse. Vielmehr hatte er f ü r ihn seine eigne Schwerkraft und stellte seinerseits Anforderungen an jeden Bearbeiter und Beurteiler, denen er zu genügen hatte. Freilich lagen diese Forderungen nicht an der Oberfläche, und nur der konnte sie vernehmen, der selber schon f ü r sie aufgeschlossen war. Der Fauststoff hat den Dichter durch sein ganzes Leben begleitet. Er war ihm von Jugend auf durch Volksbücher und Puppentheater vertraut. Die rätselhafte und tragische Gestalt des verrufenen und berüchtigten Teufelsbündners zog ihn mächtig an und beschäftigte seine Phantasie. Die Gestalt des „edlen Verbrechers", in zwiespältiger Beleuchtung stehend, dem Guten und Edlen wie dem Bösen und Abenteuerlichen offen, ließ ihn nicht los; ähnlich wie sich später Schiller seinen Karl Moor oder Kleist seinen Michael Kohlhaas dachte. Das Mittelalter war noch nicht in Goethes Gesichtskreis getreten. Dem aufgewühlten 16. Jahrhundert, auf der Grenze von Mittelalter und Neuzeit stehend, fühlten die Stürmer und Dränger sich verwandt. Hier wurzelten Luther und Parazelsus, Götz von Berlidiingen und Hans Sachs. Die Lieblingsgestalten der Jugend aber waren die Freiheitshelden, die Revolutionäre Prometheus und Dr. Faust. Audi in Goethe selber war der Anlage nadi dies Schweifende, Unruhige, wenngleich er es immer wieder zurückdämmte und durch planvolles Überlegen und entschlossenes Handeln überwand. Ebenso waren in seinem Wesen auch die Ironie und die weltmännische Art von Fausts Gegenspieler Mephisto verankert. In der frühen Weimarer Zeit las er besonders gern aus seinem Faust vor. Es reizte ihn, möglichst übermütige und starke Tone anzuschlagen, Anstoß zu erregen und sich in der Rolle des großen Ketzers und Teufelsgenossen zu geben; je toller, desto besser! Die erwachende Genialität spricht sich zunächst indirekt aus, in gärender Unzufriedenheit, in übermütigem Spott und Verachtung aller Autoritäten. „Sind sie das, sind das die Knaben alle?" Umgekehrt deutete er sich das Bild des berüchtigten Zauberers nach seinem eignen Innern, seiner drängenden Sehnsucht, sich nach allen Seiten auszudehnen und den ganzen Reichtum der schönen Welt in sich hineinzusaugen: „Denn dein Herz hat viel und groß Begehr, Was wohl in der Welt für Freude war', Allen Sonnenschein und alle Bäume, Alles Meergestad' und alle Träume In dein Herz zu fassen miteinander . .
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Und bei allen späteren Wandlungen der Faustgestalt und bei aller persönlichen Distanzierung von der „Geniekrankheit" bricht doch bis ins hohe Alter immer die wohlbekannte Flamme des wilden faustischen Begehrens wieder durch. „Unter Schnee und Nebelschauer rast ein Ätna dir hervor." Audi der Faust des II. Teils wird von ungebändigter Leidenschaft hingerissen, wenn er Helena „Neigung, Lieb, Anbetung, Wahnsinn" zollt. Noch der alte Goethe macht gewissen Kritikern gegenüber seinem Ingrimm Luft in den Worten: „Da loben sie den Faust und was noch sunsten in meinen Schriften braust, zu ihren Gunsten. Das alte Mick und Mack das freut sie sehr; Es meint das Lumpenpack, man wär's nicht mehr."
Die alten Volksbücher waren theologische Erbauungsschriften, zur Warnung vor Fausts bösem Wege geschrieben; ein Zug von Größe tritt deutlicher erst in Marlows dramatischer Bearbeitung hervor. Das Anziehende liegt von vorn herein in dem Außerordentlichen, Überkühnen, in der tragischen Zwiespältigkeit des Helden, in seinem Schwanken zwsichen Edlem und Gemeinem, zwischen Größe und Verbrechen. Faust galt als abschreckendes Beispiel der Verwegenheit und Gottlosigkeit; nur leise Anklänge an edlere, bedeutendere Motive, die dennoch mit jenem Frevelmut zusammenhängen. Faust „nahm an sich Adlers Flügel", er glich „den Riesen, darvon die Poeten dichten". Dieser Kampf einer gewaltigen Natur, dieses ungewöhnlichen, wenngleich ketzerischen und frevelhaften Mannes gegen das Alltägliche und Durchschnittliche hat etwas Imponierendes und Mitreißendes. Kühnheit und Gefahr haben immer etwas Anziehendes. Drei Grundmotive waren von alters her mit der Faustgestalt verbunden. Das wichtigste ist die Frage nach dem Heil der Seele, nach ewiger Seligkeit oder ewiger Verdammnis. Darin spricht sich der tiefe Ernst des Christentums aus, zumal in seiner altprotestantischen und pietistischen Fassung. Hier ist die Atmosphäre, der eigentliche Mutterboden, in dem das Faustproblem wurzelt und mit dem die Faustgestalt für immer verbunden bleibt. Sodann der weltlich gestimmte Humanismus, der Einspruch des freien und gebildeten Geistes gegen Pfaffentum und kirchliche Bevormundung, zugleich die kecke Bejahung der Genüsse und Freuden des Diesseits, wie man sie besonders in der klassischen Antike verwirklicht glaubte. Endlich als drittes Motiv die Magie, die Zauberei, die erstrebte Beherrschung der Naturkräfte, mit dem 21
Reiz des Unheimlichen und Verbotenen. Die Magie ist die weltliche Schwester der Religion, die außerreligiöse und außerkirchliche Verbindung mit dem Übersinnlichen. Zugleich bedeutet dies Motiv die Freude an dem bunten und verwegenen Spiel der Phantasie, welche das sonst für unmöglich Gehaltene als möglich und wirklich erscheinen läßt. Diese drei Grundzüge gehen in der Folgezeit durch alle Bearbeitungen der Faustsage hindurch, und diese Vielseitigkeit hatte auch der junge Goethe im Auge, wenn er aus der Straßburger Studentenzeit berichtet: „Die bedeutende Puppenspielfabel klang und summte gar vieltönig in mir wieder." Was ließ sich nicht alles daraus machen und damit verbinden! Durch den Gegensatz der christlichen und der humanistischantiken Frömmigkeit und Urteilsmaßstäbe konnten die gleichen Vorgänge in ganz verschiedene Beleuchtung gerückt werden. „Welt" - das konnte auf der einen Seite bedeuten: verantwortungsloses, liederliches Leben, auf der anderen aber auch: Aufgeschlossenheit für die Schönheit der Welt und Freude an ihren Gaben. „Magie" konnte als Aberglaube und Frevel gelten, als Blendwerk und Trug, aber auch als höchster innerer Aufschwung des Geistes, Inspiration und Genialität, als jener Zauber seelisch persönlicher Art, durch welchen die Menschen in Liebe und Begeisterung sich den grauen Alltag vergolden. Eben das, was den Mystikern und Naturphilosophen des helldunklen 16. Jahrhunderts, einem Paracelsus, Helmont oder den Verfassern der „aurea catena Homeri" als Geisterglaube erschien, war im Grunde vielleicht etwas auch heute noch Gültiges, etwas Edites, seinem Wesen nach Unverlierbares. War doch erst nur kurze Zeit vergangen, seit der junge Wolfgang während seines erzwungenen Krankenaufenthaltes im Elternhause sidi selber mit alchemistischen Experimenten und Studien abgegeben hatte! Das grenzenlose „Streben", der titanische Drang des großen Revolutionärs konnte aufgefaßt werden als schwere Versündigung gegen Gott und Menschen, aber - mit einer leichten Wendung - auch als das heroische Streben, die Pyramide des eignen Daseins so hoch wie irgend möglich zu türmen. Dabei konnten die verschiedenen Mythenkreise, der biblisch-christliche, der antik-heidnische und der modern-naturphilosophische in fruchtbare Verbindung miteinander gebracht werden, in Spannung oder Gegensatz sich wechselseitig ineinander spiegeln. Dies alles lag wie in einem fruchtbaren Nebel vor dem Auge des schauenden jungen Dichters, vielfach noch undeutlich und unentwickelt. Eins aber hatte er mit untrüglicher Sicherheit erkannt: Hier war ein Stoff von seltener poetischer Fruchtbarkeit, der die größten Möglichkeiten eröffnete und schwer war von mythischem Gehalt. Ihn entzückte die far22
bige, derb sinnliche und blühend anschauliche Art dieser volkstümlichen Berichte, in denen sich bei aller Unbefangenheit doch letzte Lebensprobleme und metaphysische Tiefen ankündigten. Als Ziel und dichterische Aufgabe schwebte ihm vor, diesen gehaltschweren Mythus nach allen Seiten hin auszuschöpfen und in Sprache und Empfindungsweise der Gegenwart zu übertragen, ohne doch dabei den eigentümlichen mythischen Reiz abzustreifen und ohne den Gehalt zu verdünnen oder zu verlieren. III. Die drei Grundkonzeptionen
der Dichtung und der Faustgestalt
Goethes Faust ist keine Schöpfung aus einem Gusse, kein einheitliches Kunstwerk, das sich immer aus einer „dunklen, aber mächtigen Totalidee" (Schiller) wie eine Pflanze aus einem einzigen Keime entfaltet. Vielmehr ist die Dichtung, wie es schon unzählige Male dargestellt worden ist, ganz allmählich gewachsen. Sie spiegelt sehr verschiedene Lebensepodien und Stimmungen ihres Schöpfers wider, der mehrfach die Arbeit unmutig hinwirft, dann aber durch die neu auftretenden Schwierigkeiten sich anreizen läßt, aus der Not eine Tugend zu machen und die Problemstellung immer mehr zu erweitern, bis schließlich das große Ganze vorliegt, das er kurz vor seinem Tode einsiegelt, auch jetzt noch ohne das Bewußtsein, etwas Rundes und Abgeschlossenes gegeben zu haben. Wir kennen genau Goethes Arbeitsweise, wie er je nach der Stimmung des Augenblicks kleinere Einzelstücke ausführt und in seinem „Walpurgissack" sammelt, um sie später „zusammenzuräumen". Er ist vor allem darum besorgt, „daß die Teile anmutig und unterhaltend sind und etwas denken lassen", während das Ganze immer fragmentarisch bleibe. Selbstverständlich bieten einen gemeinsamen Rahmen die großen Umrisse der Faustgestalt, des ewig begehrenden und ewig unzufriedenen Suchers, aber dieser Rahmen ist weit genug für verschiedene Einzelkonzeptionen, die außerordentlich stark voneinander abweichen. Diese verschiedenen Entwürfe, wenigstens in großen Umrissen, sorgfältig voneinander zu unterscheiden, ist die erste und unumgängliche Voraussetzung f ü r eine sachgemäße Faustauslegung, f ü r jedes gründlichere Eindringen in die Dichtung und f ü r den dauernden fruchtbaren Umgang mit ihr. Zwar liegt der Einwand nahe: Uberlassen wir doch die gelehrte Kleinarbeit über die Entstehung der Dichtung den Philologen! Weshalb sich mit dem Gerüst und den Vorarbeiten abgeben, wenn schon der fertige Bau in seinem Glänze vor uns steht, jenes Werk, das der Dichter uns als Ganzes geschenkt hat, damit wir es als Ganzes genießen 23
und uns daran freuen sollen. Das läßt sich hören. Indes beim Faust stößt man gerade dann, wenn man die Dichtung wirklich verstehen und genießen will, auf so starke Spannungen und Widersprüche, wie sie nur ganz oberflächliche Leser übersehen können. Kein Gedanke, daß durch ihre Hervorhebung ein schönes organisches Ganze zerstückelt oder zerstört würde. Treffend bemerkt gegenüber diesem Einwand ein ausländischer Forscher, Benedetto Croce, der mit größerer Unbefangenheit und Frische dem Werk gegenübertritt als die meisten deutschen Ausleger: „Genau das Gegenteil ist wahr: der Dichter hat in nachträglicher Uberlegung einen Mechanismus geschmiedet, in den er mehrere eigengeartete lebendige Organismen eingezwängt hat. Der Kritiker tut also nichts anderes, als daß er diese Geschöpfe wieder in ihre erste Freiheit versetzt, ohne etwas zu zerstören; denn man kann ja nicht zerstören, was in W a h r heit nicht vorhanden, sondern nur ein Vorwand ist." Goethe, S. 73.
Für unsere Zwecke genügt es, nur die drei großen Grundkonzeptionen herauszuheben, die Jugenddiditung, die der klassischen Zeit und die Altersdichtung; zwischen ihnen liegen lange Zeiträume. In der Jugenddiditung, dem „Urfaust", ist der Held ein genialer Übermensch, eine Kraftnatur im Sinne der Stürmer und Dränger, ein geistiger Bruder von Werther wie von Prometheus, der, weil die grenzenlosen Forderungen seines Innern in grellem Gegensatz zu den äußeren Erfüllungsmöglichkeiten stehen, tief unglücklich ist und schließlich zu verbotenen Mitteln, zur Magie greift. Er will alles haben, alles besitzen, alles genießen. Die Begriffe Entsagung, Entbehrung, Mäßigung und Geduld, die in jedem Menschenleben leider unentbehrlich sind, gibt es für ihn nicht, er hat keine Ehrfurcht und Demut dem Göttlichen gegenüber und keine Furcht vor Hölle und Teufel. Eine Gestalt, scharf umrissen und unverwechselbar. Wir befinden uns in dem Stimmungsbereich der übermütig leidenschaftlichen Oden „Prometheus" sowie „Adler und Taube". Daß zu einer solchen Gestalt nur ein tragischer Ausgang paßt, liegt klar auf der Hand und hätte nie bestritten werden sollen. Faust teilt als hervorragendstes Beispiel dies tragische Los mit sämtlichen Gestalten von Goethes dichterischer Frühzeit, all jenen Männern, „die man von je gekreuzigt und verbrannt": Götz und Werther, Cäsar und Mahomet, Sokrates und Christus. In seiner Faustgestalt aber wollte der Diditer ein Maximum von Wildheit, Trotz, Ungestüm, Ungeduld und Hybris konzentrieren. Er hat diesen Charakter dann weiterhin vertieft, bereichert, gehoben, um ein gewisses Gegengewicht gegen das Dunkle, Dämonische, Verbrecherische seines Wesens zu haben. Es ging ihm aber ähnlich wie in entsprechender Lage Schiller mit seinem Wallenstein: es ergab sich eine 24
unbeabsichtigte „SympathieVerschiebung" bei dem Leser, der nun leicht vergißt, in wie ganz anderem Lichte der Held ursprünglich dem Dichter selber erschien. Wahrlich nicht als Musterbild, auch nicht als „ein guter Mensch in seinem dunklen Drange", sondern als ein verwegener Gewaltmensch, ein wilder Geselle, vom Glutschein der Hölle umwittert. Wenn der Dichter trotzdem, - ein Triumph seiner Kunst! - ohne die düsteren Züge zu beseitigen, diese unheimliche Gestalt unter Aufbietung ungeheurer seelischer Energie näher an das Helle, Lichte herangearbeitet hat, sie durch Not und Verzweiflung, Schuld und Verbrechen hindurchführend, so glaubten aufklärungsfrohe Ausleger früherer Zeit aus der Tatsache von Fausts endlicher Rettung das Recht herleiten zu können, ihn wie seinen Schöpfer als ihresgleichen anzusehen. Nicht besser wird es heute dadurch, daß neuere Ausleger statt von der Aufklärung von der Mystik ausgehen und in Faust einen grübelnden Gottsucher sehen, der nach einer Theophanie schmachte. Hier werden nicht nur zwei verschiedene Faustkonzeptionen vermischt, sondern zugleich auch die religiöse Haltung Goethes mit der Fausts verwechselt. Aber Faust ist nicht fromm, er ist ein reiner Diesseitsmensch. Er ist Magier, und Magie ist als solche schon das Widerpiel von Frömmigkeit. Dort herrischer Trotz, hier tiefe Demut; dort stürmische Ungeduld, hier ehrfürchtiges und geduldiges Warten. Wie ganz anders geartet ist die Faustgestalt, wie durchaus verschieden die Gesamtstimmung der klassischen Faustdichtung, die in Faust I 1808 veröffentlicht wurde! Der Dichter tritt nach Jahrzehnten, in denen er selbst ein ganz anderer geworden ist, an den alten Stoff heran. Hier ist Faust nicht mehr der geniale Ubermensch, der Ausnahmemensch und Titan, sondern der Typus des Menschen überhaupt. Zwar das konnte nicht vergessen werden: auch er ist innerlich gespalten und unglücklich, einerseits vom Himmel die höchsten Sterne fordernd und andererseits von der Erde jede höchste Lust, aber diese Zerrissenheit liegt in der menschlichen Natur als solcher. Damit tritt die Faustdichtung ein in die Reihe jener Schöpfungen, deren Gegenstand das menschliche Leben überhaupt, der Mensch und seine Stellung im Kosmos bilden. Sie wird nun ein „Jedermannspiel", ein weltliches Gegenstück zu den mittelalterlichen Mysterienspielen, ein „Leben ein Traum", ein „Welttheater", wo die einmaligen Ereignisse und Gestalten stellvertretend für das Allgemeingültige und Zeitlose stehen. Es handelt sich um Welt, Leben und Mensch in ihrer Beziehung zum Ewigen, Göttlichen. War in der Jugenddichtung Fausts eigentliche Schuld die Hingabe an die Magie, so hier - ganz im Sinne der Uberlieferung - der Pakt mit der Hölle. Alles ist in die Atmosphäre weh25
mütiger Erinnerung und religiöser Ergriffenheit getaucht, indem der Dichter die eigene Wehmut bei der Berührung mit diesen Jugendplänen auf seinen Helden überträgt: „Gib ungebändigt jene Triebe, das tiefe, schmerzenvolle Glück, des Hasses Kraft, die Macht der Liebe, gib meine Jugend mir zurück!"
Den Verzweifelnden ergreift die gläubige Osterbotschaft, die er dennoch nicht glauben kann, tief. Es ist die Stimmung von Klopstocks Abbadona, dem gefallenen Engel, der sich vor Sehnsucht nach dem verratenen Göttlichen verzehrt. Faust quält sich mit dem Gedanken, früher mit seinem Vater zusammen in der Pest-Epidemie Tausende vergiftet zu haben und wie zum Hohn nun zu erleben, daß man „die frechen Mörder" lobe. Er fühlt, daß sidi zwei Seelen in seiner Brust streiten, ja, er sehnt sich sogar nach Offenbarung und will, ein zweiter Luther, den Text der Bibel neu übertragen. Welch ein Gegensatz zu dem früheren Faust, der statt der Bibel das Zauberbuch aufschlug! Auch der trotzige Wille zur Erreichung des Unmöglichen hat eine auffällige Wandlung durchgemacht und ist zu dem rastlosen, nie träge ruhenden, aber auch nie ungeduldig das Äußerste begehrenden „Streben" geworden. Es ist die genaue Parallele zu der Wandlung, welche Schillers Gedicht „Die Ideale" beschreibt. In dem Monolog „Wald und Höhle", aus der beglückten Stimmung der italienischen Reise erwachsen, wird ausdrücklich auf die Erdgeistbeschwörung Bezug genommen: „Erhabner Geist, du gabst mir alles, alles, worum ich b a t . . . " In Wirklichkeit aber zeigt der Zusammenhang, daß was diesem Faust Erfüllung bedeutet, etwas ganz anderes ist, als was jener erflehte. Jener Magier hatte auf dies Glück, sich mit inniger Empfindung mit der Natur eins zu fühlen und sich in die Schau dieses großen Zusammenhangs zu versenken, nur die Antwort: „Welch Schauspiel! Aber, ach, ein Schauspiel nur!" Er wollte mehr, er wollte zaubern, d. h. die Kräfte der Natur erfassen und in seinen Dienst zwingen. Hier ist es mit Händen zu greifen, wie stark die beiden Faustbilder voneinander abweichen. Die Dichtung der mittleren, klassischen Zeit, zu welcher das 1790 veröffentlichte „Fragment" einen Übergang bildet, hat Goethe, in Gegensatz zu der Jugenddichtung, mit dem Humanitätsglauben der Zeit religiös unterbaut. Er hat in das düstere Todesgewebe des Urfaust mit geschickter Hand einen goldenen Lebensfaden geflochten dadurch, daß neben dem absolut verpflichtenden Höllenvertrag eine Bedingung gestellt, eine Wette abgeschlossen wurde. Und während in der Jugend26
dichtung das Dunkel des unerbittlich tragischen Ausgangs dem Leser vor Augen stand, erschien nun am Horizont ein Lichtschein, die Hoffnung auf die Möglichkeit einer Rettung und Erlösung. Noch ganz anders ist die Faustgestalt und die Stimmung der Altersdichtung. Hier ist der Held weder der geniale Ausnahmemensch noch der Vertreter der Menschheit überhaupt, sondern noch weit allgemeiner die Entelechie als tätiges, organisierendes Prinzip, welches die Elemente an sich heranrafft. Der Unterschied dieser drei Entwürfe und Faustgestalten ist so unverkennbar und so gewaltig, diese Gesamtschau so überzeugend, daß kein Unbefangener ihr ausweichen kann. Wer sich dieser Einsicht dennoch gewaltsam verschließt, bringt sich selbst um die Möglidikeit eines tieferen Verstehens und eines vollen Genusses der Dichtung. Jenem lässigen und sorglosen Verfahren des Dichters aber, der die Unterschiede nachträglich gleichsam verschleiert, werden wir noch mehrfach begegnen bei den religiös mythischen Grundlagen der Dichtung und bei dem Verhältnis von Tragödie, Mysterienspiel und ironischer Weltschau, die ihrem Wesen nach nicht mit einander vereinbar sind, die aber dennoch von dem Dichter in dieser universalen Schöpfung unter ein Dach gebracht werden. Die dichterische Kraft und Schönheit liegt jeweils in erster Linie bei den Einzelschöpfungen, die aus der unmittelbaren Intuition des Dichters hervorgegangen sind. Verwischt man die Grenzen, so zerstören die einzelnen Bilder sich gegenseitig. Es ist, als würden die leuchtenden Farben und klaren Konturen eines meisterhaften alten Fresco von späterer unkundiger Hand aufgelöst und übertüncht. Alles wird trübe und blaß, verdünnt und verwässert. Auf der einen Seite macht man den frevelhaften Magier zu einem demütigen Gottsucher; auf der anderen Seite begeht man die gleiche Verwechslung, wenn man die große Szene am Ostermorgen, die an religiös-mythischem Gehalt einen der Höhepunkte der Dichtung bildet, ihres religiösen Charakters zu entkleiden und auf ein rein profanes Erleben, auf Kindheitserinnerungen zu reduzieren sucht. Die Verwirrung erreicht ihren Gipfel, wenn man die Apotheose des „Ewig-Weiblichen" am Schluß von Faust I I schon in die Kerkerszene des Urfaust, wenigstens dem Plane nach, zurückdatieren will. Die Faustdichtung ist eine Einheit in der Vielheit. Es liegt aber in der klaren Struktur dieses Gesamtaufbaues begründet, daß die ursprünglichen Schöpfungen der Phantasie, die später zusammengefaßt werden, nicht ausgelöscht werden dürfen, sondern vielmehr als Elemente in ihrer vollen Eigenart erhalten und so in das Gesamtbild eingefügt werden müssen. Das Bild des vermessenen und frevelhaften 27
Faust darf in keiner Weise abgeschwächt oder gar ausradiert werden; ebensowenig freilich auch das Bild des ruhelosen und unaufhaltsam strebenden Faust, der den Gegensatz zum Dämon bildet. Werden diese Sphären von vornherein konfundiert, werden die verschiedenartigen Faustbilder zusammengeworfen, so ergibt sich ein nebelhaftes, charakterlos verwaschenes Gebilde. Hat man dies einmal gesehen, so werden Sinn und Aufbau der gesamten Dichtung in überraschender Weise erhellt. Wie impressionistische Maler die leuchtenden Einzelfarben nebeneinander setzen, so daß erst der Abstand nehmende Beschauer sie zur Einheit verschmilzt und nun ein weit glänzenderes und farbigeres Gesamtbild von stärkster Wirkung bekommt, so erhält auch die Faustdichtung als Ganzes ihre Leuchtkraft von der nie aufgehobenen Sonderung der einzelnen Phantasiebilder.
IV. Gretchen verdrängt
Helena
Im Mittelpunkt der ursprünglichen Faustpläne Goethes steht Helena, die berühmte Königin und Halbgöttin. Frauenschönheit sollte in ihrer Tragik aufgezeigt werden, als herrliches Geschenk der Götter, zugleich aber als ungeheure Gefahr. Allein schon in dem ersten uns erhaltenen Entwurf der Dichtung ist von ihr überhaupt nicht mehr die Rede. Statt ihrer erscheint Gretchen, eine andere Geliebte. Sie hat Helena verdrängt, und zwar endgültig. Gretchen bildet das große Rätsel der Faustdichtung. Sie fehlt nicht nur völlig in der Überlieferung; sie und alles, was mit ihr zusammenhängt, steht in striktem Gegensatz zu der Welt der Zauberei, des Geisterverkehrs und Hexenwesens, zu der Frage nach Bejahung oder Verneinung sinnlicher Freuden. Sie hat nichts zu tun mit dem Geist der geplanten Faustdichtung, die nun mit einem Male abbricht und einer völlig anderen Dichtung Raum macht. Was wir als den sog. „Urfaust" kennen, ist eigentlich überhaupt keine Faustdichtung mehr; es wird, von den wenigen Eingangsszenen abgesehen, völlig von der Liebestragödie Gretchens ausgefüllt. Daß diese wunderbare Dichtung, das Spiel von Seligkeit und Tragik echter Liebe, in die geplante und später weiter geführte Faustdichtung nicht hineinpaßt, zeigt sich schon rein äußerlich. Der ältliche, des Lebens überdrüssige Gelehrte muß durch den Zaubertrank einer Hexe in einen feurigen jungen Liebhaber verwandelt werden. Nach Gretchens Tode aber wird er in eine Art Todesschlaf versenkt, der die Erinnerung an das erlebte Grauen und die Schmerzen der Reue in ihm auslöscht. Welche phantastischen und grotesken Mittel! Wie beleidigend für Gretchen, daß Fausts Zuneigung zu ihr nicht ihrer eigenen Anmut, sondern 28
dem Zaubertrank der Hexe zu danken sein soll, der den Berauschten „Helena in jedem Weibe" erblicken läßt! Wie plump und unzart, wenn dies aus dem Innersten der Herzen frei emporblühende Liebesglück hinterher zu einem Beispiel von Mephistos niedrigen Verführungskünsten umgestempelt wird! Die Lösung des Rätsels besteht darin, daß Goethe von einem persönlichen ungeheuren Erleben so erfüllt und erschüttert war, daß er sidi darüber aussprechen mußte, daß der Schauplatz aus Vergangenheit Gegenwart wird, der Bericht über fremdes Leid zu einem elementaren Ausströmen selbsterlebter Tragik. Hinter dem Liebespaar Faust-Gretdien taucht das Bild des andren Paares auf: Goethe-Friderike, und der zu uns spricht, ist selber der treulose und schuldbeladene Liebhaber. Der tragische Ausgang des lieblichen Sesenheimer Idylls zog nach Goethes eignen, zwar kargen, aber vielsagenden Andeutungen „eine Epoche düsterer Reue" nach sich. In sämtlichen Dichtungen jener Epoche, in Clavigo und Stella, Götz und Faust, setzt sich mit ungeheurer Wucht das gleiche Motiv von dem ungetreuen Liebhaber und dem betrogenen Mädchen durch. Es ist eben das, was Goethe damals wie nichts anderes beschäftigt und beunruhigt, und was sich Raum schaffen muß, so oder so. Er lehnt den bequemen Ausweg ab, diese Erinnerung als lästig und störend abzustreifen. Dazu ist sie ihm zu wertvoll und zu verpflichtend. Darum nimmt er sie so ernst wie möglich, schöpft sie und die furchtbaren Folgen nach allen Seiten hin aus. Er büßte als Dichter, was er im Leben verschuldet hatte. Dazu kam noch ein Anderes, worüber Goethe selber aus begreiflichen Gründen sich ausschweigt, was erst jüngste Forschung aufgedeckt hat: daß er im Frankfurter Elternhaus unmittelbar nach seiner Heimkehr aus Straßburg aus nächster Nähe Zeuge einer Lebenstragödie wurde, die ihn im tiefsten erschüttert und sein Schuldbewußtsein gesteigert haben muß. Vgl. Ernst Beutler, Der Frankfurter Faust, 1940, Jahrb. d. fr. dtsch. Hochstifts. Die junge Susanne Margarete Brandt, die nach vergeblicher Flucht in einem Turme nahe bei Goethes Elternhaus gefangen gehalten wurde, mußte die Beseitigung ihres Kindes mit dem Leben büßen. Sie wurde unter einem altertümlich grausamen Zeremoniell im Januar 1772 in Frankfurt öffentlich hingerichtet. Mancherlei Einzelheiten klingen an die Faustdichtung an. Es ist die Rede von einer Teufelsbuhlschaft, der Bruder ist Soldat; in den Akten wird die Bemerkung erwähnt, sie sei „die erste nicht". Die Wirkung in Goethes damaligem Gemütszustande kann man sich denken. Und hier zuerst, - nicht, wie Goethe später berichtet, im Werther - erwies sich bei ihm die rettende und heilende Macht der Dichtung als einer Lebensbeichte. 29
Er befreite sich von dem seelischen Druck und den unerträglichen Reuequalen, indem er sich das ihn Bedrängende in seiner ganzen Furchtbarkeit ausmalte und es aus sich herausnehmend als Bild vor sich hinstellte. So entstanden die grellen, erschütternden Prosaszenen „Trüber Tag, Feld" und die Kerkerszene, die älteste Schicht der Gretchentragödie. Später wurden diese Ansätze weiter ausgeführt und, um den Höhepunkt tragischer Wirkung zu erreichen, die mädchenhafte Anmut, Reinheit und Lieblichkeit Gretchens entfaltet. Vgl. Hermann Schneider, Urfaust? Tübingen 1949. - Goethe hatte einst die beiden Hauptgestalten der ersten Faustpläne in tragischem Licht gesehen, Faust, den „edlen Verbrecher", Helena, die ihre gottgeschenkte Schönheit als Segen wie als Fluch mit sich führte. Hier in der Gretchengesta.lt erreichte der tragische Zwiespalt einen äußersten Gipfel, und nie hat der Dichter Größeres geschaffen; denn eben darin besteht die Größe der dichterischen Leistung, daß die Verbindung dieser grellen Gegensätze, schwerster Schuld und todeswürdiger Verbrechen mit höchster sittlicher Reinheit und mädchenhafter Lieblichkeit in vollendet überzeugender Weise glaublich gemacht wurde. Diese Liebestragödie, eine in sich ruhende Dichtung von unvergleichlichem Zauber, ist ein Fremdkörper in den Faustentwürfen, wie sie bis dahin vor dem Auge des Dichters standen. Mit einemmal ist der Name Faust mit dem Gretchens für immer verbunden; es ist neben Romeo und Julie das zweite unsterbliche Liebespaar der Weltliteratur. Die tragische Gestalt Gretchens hat sich Eingang in eine ganz anders angelegte Dichtung erzwungen, und der Liebhaber Gretchens ist nicht mehr der alternde Gelehrte der geplanten Dichtung, sondern ein neuer Paris oder Romeo. Fragestellung und gesamtes Interesse haben sich verschoben, die Gesamtstimmung ist umgeschlagen. Dieser Faust ist ziemlich farblos und hat wenig mehr zu tun oder zu sagen als Gretchen zu lieben und zu verführen. Um so helleres Licht fällt auf Gretchen; ihr gehört die ganze Liebe des Dichters. Die Frage liegt nahe, ob nicht doch eine innere Verbindung zwischen dem Gretchen-Motiv und der geplanten Dichtung bestand. Zugegeben, daß es ziemlich gewaltsam in andersartige Pläne einbrach. Sollte der Dichter aber nicht doch eine Art Verwandtschaft beider Motive empfunden haben? Es liegt ja von vornherein eine Art Verbindung darin, daß der jugendliche Dichter sich gern als den Revolutionär und Ketzer Faust verstanden hat, und daß er nun andererseits auch der Mitspieler in der Liebestragödie geworden war. Er hatte zwei tragisch gespaltene Gestalten von höchster innerer Spannung darstellen wollen, Faust und Helena. Nun merkte er, daß die Gretchengestalt mit ihrer beispiellos 30
tragischen Spannung den letzten Intentionen nach seiner Dichtung ebenfalls gemäß war. Dazu bedingt die Liebesbeziehung zwischen diesen beiden gegensätzlichen Gestalten wieder ein neues tragisches Motiv und eine Steigerung des Faustproblems. Wenn der geistig hochstehende, ja überbildete Professor dem einfachen Naturkinde so unendlich überlegen ist und dadurch seine Schuld noch gesteigert erscheint, so liegt doch zugleich eine Andeutung von Rechtfertigung darin, daß die Untreue des Liebhabers mit seiner Ausnahmestellung, seiner Genialität und der Ahnung eines großen und verantwortungsvollen Berufes zusammenhängt. Menschen dieser Art müssen oft sich selbst und anderen wehe tun. Der junge Goethe hatte in der Liebe zu Friderike ein Glück gefunden, das nichts anderes ihm hätte geben können. Faust, in allen Höhen und Tiefen der Bildung und des Lebens erfahren, skeptisch, blasiert und keiner Freude mehr fähig, fühlt plötzlich in diesem schlichten, kindlichen Mädchen und ihrer Liebe die ewigen Quellen der Natur sich entgegenrauschen. Dieser Kontrast ist es, den Goethe instinktiv spürt, wenn er dem Fremdling Gretchen dennoch den Zugang in seine Dichtung gestattet und ihre Zugehörigkeit in gewisser Weise als berechtigt empfindet. Es ist ein großer Wurf und eine entscheidende Wendung in der Entfaltung der Dichtung. Seine Dichtungspläne nehmen nun einen ganz anderen und unvermuteten Lauf, aber in einem großen menschlichen Sinne fügt sich am Ende doch alles wieder zusammen. Freilich kann es nicht wundernehmen, wenn jetzt nach dem Höhepunkt der Kerkerszene die Dichtung völlig ins Stocken gerät und trotz aller Mühe nicht wieder in Fluß kommen will. Gretchen hat das Schafott bestiegen, Faust ist innerlich so vernichtet, daß der Dichter nur den Mantel des Schweigens über ihn breiten kann. Zudem paßte die tragische Erdgeist-Metaphysik der Jugenddichtung nicht zu dem christlichen Fundament der überlieferten Faustsage, zu welcher der Dichter am Ende doch wieder zurücklenken mußte. - Als er nach langen, langen Jahren, nach Jahrzehnten während der Muße in Rom die Faustfragmente wieder vornimmt, um auch sie gleich den übrigen Schöpfungen hier zu vollenden, macht es ihm die größte Mühe, den alten Faden wieder aufzunehmen. Erstaunlich ist, daß die Gretchentragödie wie mit einem Schwamm ausgelöscht erscheint; fremd wie sie gekommen, ebenso wieder verschwunden. Und nichts, auch gar nichts erinnert an Gretchen. Die römische Sinnlichkeit, der „nackte Eros", welcher der alten HelenaKonzeption verwandt ist, beherrscht das Feld. Es ist die Rede von sinnlicher Verführung, von Hexenkünsten und Walpurgisnacht. Der Dichter knüpft - was bisher in der Forschung kaum beachtet zu sein scheint 31
unmittelbar da an, wo er vor dem Eindringen Gretchens gestanden hatte. I m späteren Fortgang der Dichtung aber, als der ursprünglich geplante Gehalt in Faust I I Verwendung findet, zeigt es sich, daß die Konzeption der Gretchentragödie unvorhergesehene Folgen auslöst und den inneren Aufbau sowohl der Helena- wie der HerrschaftsTragödie beherrscht, in Gegensatz zu dem im Prolog im Himmel entworfenen Programm, nach dem Mephistos mit seinen Verführungskünsten die Fäden in der Hand haben sollte. Gretdien und ihr Kreis wird Exponent des Christentums und der Romantik, Helena verkörpert die schöne Sinnlichkeit der Antike. Wie sie in der Wolkenvision zu Beginn des 4. Aktes gegenübergestellt werden, so stehen sie das ganze Werk hindurch in Spannung zueinander. Diese fruchtbare Spannung aber löst und entbindet erst den ganzen Reichtum und die Fülle des geschauten Lebens. Die letzte Liebe des Dichters gilt unbestritten Gretchen.
Kapitel 2
Stil und Aufbau der Dichtung I. Faust als Foliegestalt Schon eine flüchtige Durchsicht des Fausttextes zeigt, daß hier von einem Drama im üblichen Sinne, mit einer von Anfang bis zu Ende einheitlich durchgeführten Handlung mit individuell geprägten oder psychologisch sich entwickelnden Charakteren nicht die Rede sein kann. Die eigentlich dramatische Handlung nimmt nur einen geringen Raum ein und legt sich wie ein schmaler Rahmen um einen weit umfangreicheren, durchaus undramatischen Teil. Nicht nur, daß die Hauptperson aus einer einmalig individuellen Gestalt zu „dem" Menschen schlechthin wird, dem Vertreter der Menschheit; es wird überhaupt die anfangs eingefädelte Handlung ganz vergessen bzw. außer Kurs gesetzt, und die Versuche pedantischer Ausleger, die strenge Linie dennoch inne zu halten, führen zu seltsamen Verirrungen. Ein lebensüberdrüssiger und zugleich maßlos lebenshungriger alternder Gelehrter wird durch Zauberei verjüngt und läßt sich vom Teufel alle Genüsse der Welt garantieren, um den Preis seiner Seele, falls es ihm gelänge, ihn einen Augenblick restlos glücklich zu machen. Solche Augenblicke kommen nun mehrfach vor, nicht nur wo der Held sich in
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den Armen Gretchens oder Helenas befindet. Aber der verständige Leser merkt bald, daß man sidi hier in völlig anderen Regionen bewegt. Jene Ausgangshandlung mit Höllenpakt und Teufel stammt aus der alten Faustfabel mit ihren christlichen Voraussetzungen, das „Jedermannspiel" vom Menschen überhaupt hängt zusammen mit dem antikhumanistischen Einschlag. Der völlig undramatische Teil dagegen führt in eine ganz andere Atmosphäre, in eine mit übermütiger Ironie und Phantasie dargestellte universale Weltschau alles Großen und Bedeutenden, aller Kulturen und Religionen. Die ursprüngliche Handlung tritt völlig zurück, der Held verschwindet ganz aus dem Gesichtskreis oder wird zu einer farblosen Foliegestalt wie der Held des WülhelmMeister-Romans oder der Selbstbiographie „Dichtung und Wahrheit"; nur daß Faust nicht eine Entwicklung und Erziehung durchmacht wie Wilhelm. „Dichtung und Wahrheit" aber geht nicht nur über den Rahmen einer Selbstbiographie hinaus, sondern auch über den eines fortlaufenden Kommentars der dichterischen Werke. Es ist in Wahrheit ebenfalls eine universale Weltschau, nur eingekleidet in die Form, daß ein heranwachsender Mensch, ein aufwachender Geist sich all dieser Schätze bemächtigt. Vgl. dazu „Goethe als religiöser Denker", S. 181 ff. Jene „Foliegestalten" sind von vornherein gemeinsam mit ihrem Gegenüber konzipiert, dessen Komplement sie bilden. Dies Gegenüber aber ist die ganze weite Welt in der Fülle ihrer Erscheinungen. Es ist, als hätten wir ein Bild von Hans Thoma vor uns, auf dem in herrlichem Fernblick die Weiträumigkeit und Fülle der Welt sich auftut, sonnige Hügel, schattige Taler und die blaue Ferne; ganz im Vordergrund aber, aufgestützt und den Rücken uns zugewendet, ein Mensdi, der gemeinsam mit uns sich in dies Bild versenkt. Bezeichnend heißt es von Wilhelm Meister: „•Wilhelm ist freilich ein armer Hund, aber nur an solchen lassen sich das Wechselspiel des Lebens und die tausend verschiedenen Lebensaufgaben recht deutlich zeigen, nidit an schon abgeschlossenen festen Charak-
teren." Zu v. Müller 22.1. 21.
Der Diditer wählte hier wie dort ein unbeschriebenes Blatt, um möglichst viel darauf schreiben zu können. Daher haben alle diese drei Foliegestalten in gleidier Weise jenes Unbestimmte, Sehnsuchtsvolle an sidi. Der Farblosigkeit des Helden entspricht jedesmal auf der anderen Seite der Reichtum der Welt, die Universalität der Weltschau. Auffallend ist auch die Vielfalt der Masken, in denen Faust auftritt. Anfangs alternder und lebensüberdrüssiger Gelehrter, dann verwegener Zauberer und feuriger jugendlicher Liebhaber. In den Osterszenen erscheint er als Luther, der bei der Bibelübersetzung vom Teufel in 3
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Hundsgestalt gestört wird, am Nachmittag als Paracelsus, der mit seinem Vater gemeinsam durch wilde Kuren eine Seuche bekämpfte. Nach dem Höllenvertrag zieht er gemeinsam mit Mephisto als fescher Junker und Lebemann in die Welt auf Abenteuer. Am Hof des Kaisers Höfling und Scharlatan, weiterhin Schönheitssudler, Dichter, Priester der Kunst; bei Helena galanter Ritter im Minnedienst, mittelalterlicher Burgherr und Heerführer, dann im 4. Akte gepanzert als Soldat und Feldherr, endlich im 5. Akt Großunternehmer, Kolonisator und mächtiger Fürst. Kurz, er ist eigentlich alles, was ein Mensch sein kann, alles in beispielhaften, die verschiedenen Möglichkeiten vertretenden Zügen. Mit ihm wandelt sich sein Gegenüber, Mephisto. Ursprünglich eine Parallelgestalt zu Faust, ihn parodierend wie im Puppenspiel, bei Fausts Liebeshändeln der stets hilfsbereite und skrupellose Diener, der Marinelli, Carlos, zugleich der gefährliche Verführer und schadenfrohe Verderber. Am Kaiserhof Gaukler und Hofnarr, Quacksalber und Schwindler. In Griechenland wird aus dem Urbösert das Urhäßliche, am Schluß endlich der Inbegriff der Brutalität. Führer der Seeräuberflotte, grausamer Vogt über die Arbeiter, Mörder und endlich wieder ganz der schadenfrohe Teufel. Aus dieser Wandlungsfähigkeit der Hauptgestalten erkennt man, daß es sich um eine Dichtung eigener und ungewöhnlicher Art handelt, weit grotesker und phantastischer, als meist angenommen wird. Märchenspiel und Traumdichtung wechseln ab mit sehr realistischen Partien. Bald Ironie und derbster Humor, dann wieder zarteste Lyrik und feierliches Pathos. Alles kommt zur Sprache, die wichtigsten Anschauungen der Naturwissenschaft, Geschichte und Politik, die bedeutendsten Kulturen und Religionen, Heidentum und Christentum, Katholizismus und Protestantismus. Alle Register werden gezogen, in der Form die verschiedensten Stilarten, Verse, Reime und Rhythmen, eine glänzende Wortkunst von konzentriertester Kraft, die sich an alle Sinne wendet, Gesicht, Geruch, Gefühl. Ganze Teile sind opernhaft, bis die Musik plötzlich wieder schweigt. Alle Naturstimmungen und die verschiedensten Landschaftsbilder wirken mit, Tag und Nacht, Sonnenauf- und -Untergang, zitternde Wellen im Mondschein, Frühlingsstürme und friedliche Stille. Alles zieht wie ein buntes leuchtendes Panorama an uns vorüber, alles ist das Erlebnis Fausts oder richtiger die Ergänzung zu Faust. Die Handlung spielt auf drei verschiedenen Bühnen, einer realen irdischen, wo das Übersinnliche, soweit es vorkommt, nur als Theater, als Aufführung gezeigt wird; sodann einer jenseitigen, idealen, einer himmlischen oder auch höllischen, und endlich einer mittleren, wo die 34
Dämonen und Zauberkünste ihr "Wesen haben. Der Dichter hebt sich unbekümmert über alle Forderungen realistischer Wahrheit, ja auch Wahrscheinlichkeit hinweg. Zauber ist eben Zauber, und nichts unmöglich. Der Grundcharakter der Dichtung ist weltanschaulich, philosophisch, lyrisch, besinnlich, metaphysisch. Es geht um eine Seele und ihr Gegenüber, die Welt. Was kommt letztlich auf das zufällige Individuum Faust an? Bei ihm wird im Grunde nicht einmal die Identität der Person festgehalten. Vor dem Gretchenspiel wird er durch Zauber verjüngt und verwandelt, hinterher sinkt er in einen tiefen Traumschlaf, aus dem er als neuer Mensch wieder erwacht, rem gebadet von den furchtbaren Erinnerungen. Zu diesem Gesamtbilde paßt auch, daß Faust ein einsamer Mann ist, fast völlig isoliert, ohne soziale Bindung an Beruf oder Familie, ohne Weib und Kind, ohne Freund und Kameraden. Dies alles ist als überflüssig oder störend beiseite gelassen, und alles konzentriert sich auf das Letzte und Wesentliche: den Sohn der Erde gegenüber der Ewigkeit, den sterblichen Menschen unter dem Gericht Gottes. Auf diese Frage aller Fragen ist die Faustgestalt von vornherein abgestimmt, ganz abgesehen davon, ob Faust am Ende verdammt oder gerettet wird. Der tiefe metaphysische Ernst dieser Frage überträgt sich von hier aus auch auf die übrigen Gestalten. Das Liebesglück mit Gretchen ist kein flüchtiges Abenteuer; für den innerlich verirrten, überbildeten und lebensfremden Gelehrten bedeutet die Liebe zu diesem schlichten Naturkinde Heilung und Gesundung. Ebensowenig ist es für Gretchen eine flüchtige Leidenschaft, sondern die Erfüllung ihres weiblichen Wesens, ihre innere Vollendung und Befreiung. Das Helenaspiel ist nicht darauf aus, Kulturwirkungen der Kunst oder der Antike darzustellen. Es geht um das Urphänomen des Schönen überhaupt in seiner elementaren Macht und Reinheit. Endlich geht es bei der Herrschertragödie nicht um nutzbringende Kulturarbeit im Dienste der Volksgemeinschaft, sondern um die Heimkehr eines verirrten Menschen aus einer magischen Scheinwelt in die Wirklichkeit, in Verantwortung und Pflichtgebundenheit, schließlich um die denkbar höchste Steigerung der Macht der schöpferischen Persönlichkeit, um das sich Erfüllen und Aufgehen in einem großen Werk, im „Schöpfungsgenuß von innen".
II. Stilunterschied von Faust I und II Damit haben wir schon den Unterschied der Stile in Faust I und Faust I I berührt. Der erste Teil ist stark subjektiv. Alles Äußere wird nur herangezogen und durchgeprobt mit Rücksicht auf das Innere Fausts; mit seinen Augen wird die äußere Welt gesehen und alles in die 3*
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seelische Stimmung dieses erlebenden Subjekts getaucht. Ist ein Stück der Handlung vorübergerauscht, so tritt jedesmal eine Ruhepause ein, in welcher Faust sich besinnt und Stellung nimmt. Er ist gewissermaßen sein eigener Chor, und seine Monologe stehen wie Grundpfeiler über den ganzen Bau verteilt. Umgekehrt in Faust II. Hier ist nicht mehr ein Individuum der Held der Dichtung, sondern die weite große Welt selber, das Gegenüber Fausts. Diese objektive Welt wird dargestellt in letzten Symbolen. Sie wird vor allem zerlegt in die beiden großen, sich ergänzenden Hälften „Politik" und „Poesie", beide Worte in einem umfassenden und prägnanten Sinne genommen. Zur Poesie gehört alles Ideelle, Glaube und Sittlichkeit, Phantasie und Hoffnung, alles Innerliche und Seelische; zur Politik dagegen alles Äußere, Soziale, Herrschaft und Staatsleben, Regiment und Wirtschaft, Krieg und Frieden. Sie zusammen bilden das große Doppelreich der Kultur, die „realen und phantastischen Irrtümer", durch die der Held sich hindurcharbeiten soll. Man hat aber keineswegs den Eindruck, daß eine ausgeprägte individuelle Faustgestalt durch diese Kultursphären hindurchgeführt und an ihnen erprobt wird. Es ist vielmehr genau umgekehrt, die Bereiche des geistigen Kosmos bilden den Ausgangspunkt, sie sind das Fundierende, und die Gestalten der Dichtung werden selber erst von hier aus geformt. Jeder Bereich hat seinen eigenen Faust und seinen eigenen Mephisto. Im poetischen Gebiet ist Faust Schönheitssucher und Dichter, Mephisto dagegen das Urhäßliche. Im Herrschaftsspiel wird Faust Regent und Großunternehmer, Mephisto aber mit seinen drei „Gewaltigen" Inbegriff der Tyrannei und Brutalität. Jener Zug, welcher die Faust-I-Dichtung charakteristisch von anderen Dramen unterschied und den man als philosophisch und weltanschauungsmäßig bezeichnen kann, tritt hier mit einer so überraschenden Konsequenz auf, daß die Faust-I-Dichtung ihrerseits weit zurückgelassen wird. Man findet zu Beginn noch einzelne Ansätze, welche an Fausthandlung und Faustgestalt des ersten Teils anknüpfen. Sie wirken aber in der vollendeten Faustdichtung wie Rudimente. Die neue Schöpfung kann man in ihrer Besonderheit erst wirklich verstehen, wenn man sich von den üblichen Anforderungen eines Dramas mit kausalpsychologischem Handlungsablauf gänzlich freimacht. Die Person des Helden tritt ganz auffallend zurück. In weiten Strecken ist Faust überhaupt nicht anwesend, oder er ist schlafend oder bewußtlos. Vorgänge, die für den Zusammenhang des Ganzen wichtig oder unentbehrlich sind, werden einfach hinter die Bühne verlegt und müssen von dem Zuschauer erraten und ergänzt werden. Auf der Bühne aber spielt sich in weitestem Rahmen ein großes allgemeines Geschehen ab, selbständig, 36
ohne Faust, der sich dann im weiteren Verlauf, man möchte sagen, einschleicht, sich dem Zusammenhange anpaßt und eine Rolle mit der dazu passenden Maske übernimmt. Zu Beginn von Akt I am Kaiserhofe fällt die wichtige Szene fort, in der Faust und Mephisto ihre Pläne verabreden. Statt dessen: Staatsrat, sodann ausgelassenes Maskenfest. Mephisto hat sich schon als Narr eingeschlichen, und mitten im Karneval erscheint unter mancherlei anderen Masken auch Faust, als Plutus maskiert. Ähnlich im 4. Akte vor der Schlacht, wo Faust und Mephisto dem bedrängten Kaiser ihre Zauberhilfe anbieten. Der Zweck ist eigentlich, vom Kaiser die Belehnung mit dem Meeresstrande zu erreichen. Nach gewonnener Schlacht aber fällt die entscheidende Belehnungsszene einfach fort, während in breitester Ausführung die Neuverteilung der Erzämter und die Belehnung der Kurfürsten geschildert wird. Es ist etwa so, wie wohl auf alten Gemälden sich weite Räume eröffnen, während sich irgendwo an bescheidener Stelle im Hintergrund ein bestimmter Einzelvorgang abspielt und in das Ganze einfügt. So geht es durch die ganze Dichtung. Ältere Pläne und Entwürfe werden beiseite geschoben, ganz offenbar mit bewußter Absicht, denn das Dichten ist zugleich Auslesen und Kritisieren. Nebenmotive, die als störend empfunden werden und den Gang der Handlung aufhalten, werden in breitester Fülle und Behaglichkeit ausgeführt, der Karneval, die Hofszenen und vor allem die klassische Walpurgisnacht. Diese letztere, ursprünglich als Verbindungsbrücke zum Helenaspiel erdacht, sollte in einer Hadesszene gipfeln, in der Faust - bzw. später in seinem N a men Manto - die Todesgöttin um Helenas Freigabe bitten sollte, wobei sie zu Tränen gerührt werden sollte. Diese wichtige Szene, Ziel und Höhepunkt des Ganzen, fehlt. Ebenso fehlt die anschließende Szene im Hades, wo ein Gremium von Unterweltsrichtern seine Entscheidung über Fausts kühnes Begehren fällen sollte. Deutlich ist zu erkennen, daß die ursprünglich geplanten wie teilweise ausgeführten Entwürfe sich an den Gang der Faust-I-Dichtung anschlössen, dann aber vom Dichter verworfen wurden. So war der Schlaf der Eingangsszene ursprünglich ein Traumschlaf der Versuchung, in welchem verführerische Bilder von Macht, Besitz und Ehre den Schläfer umgaukelten. Ähnlich umspielten in der Walpurgisnacht verführerische weibliche Wesen Faust, um ihn zu umgarnen und von seinem Ziel abzulenken. Immer unverkennbarer tritt eine bestimmte und einheitliche Tendenz hervor, die sich während des Dichtungsprozesses abzeichnet und durchsetzt. Statt des Nacheinander ein Nebeneinander; statt der Entwicklung des Charakters seine Vervielfältigung und Spiegelung in verwandten oder entgegengesetzten Charakteren. 37
„Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe idi seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleidisam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren." Goethe
an Iken 27. 9. 27.
H a t man diesen Gesichtspunkt einmal gefaßt, so hellt sich das Ganze überraschend auf, während der Vergleich mit Faust I und die Analogie mit anderen kausal-zeitlich aufgebauten Dramen auf Abwege führt und das Verständnis verbaut. Die Hauptfigur wird umspielt von Nebenfiguren, die Haupthandlung von Nebenhandlungen, die Hauptmotive von Nebenmotiven, alles aber mit dem Ziel, jenen Mittelpunkt durch diese Analogien und Parallelen klarer und eindrucksvoller hervorzuheben. Es ist ein ähnliches Verfahren wie das von dem Dichter in den Wanderjahren angewandte, wo die einzelnen Novellen die Haupthandlung variieren und umspielen, zwar „nicht aus einem Stück, aber doch in einem Sinne" verfaßt. So wird hier Faust umspielt von verwandten Wesen, die sämtlich etwas Verlangendes, Begehrendes, Hungriges, Steigerungsbedürftiges ausdrücken und das Bild des Phantasiemensdien oder weiterhin des Tatmenschen spiegeln. Euphorion ist ein gesteigerter Faust, Homunculus ursprünglich ein gesteigerter Wagner, später aber ebenfalls in Spiegelbild Fausts, weiterhin Lynkeus und Nereus, die Kabiren und die Patres. Man stößt hier auf die wichtige und für Goethe bezeichnende Dichtungsgattung der „Maskenzüge", die auch außerhalb der Faustdichtung in seinem Schaffen eine selbständige und bedeutende Rolle spielt. Allerlei Gestalten, Geister, seelische Mächte, Länder, Kulturen und Religionen stellen sich selbst in Person in kurzen Worten, ihr Wesen explizierend, vor. Wie in der Jugenddichtung der Erdgeist, so hier die Poesie, die Sorge usf. Der Gang der Handlung gerät ins Stocken, aber die Grundphänomene des Lebens und der Kultur werden in eindrucksvollen Bildern vorübergeführt. Den Höhepunkt bildet die klassische Walpurgisnacht, ein Schwelgen des Diditers in der Schönheit und Herrlichkeit der Welt, des Lebens, der Liebe. Es ist die poetische Verklärung seiner italienischen Reise, und die Selbstcharakteristik Italiens aus dem Requiem für den Fürsten Ligne, den „frohsten Mann des Jahrhunderts", zugleich ein persönliches Dankes-Bekenntnis des Dichters, kann als klassisches Musterbeispiel dieser Kunstart gelten, welche einen reichen Stimmungsgehalt in wenige kurze, sparsam abgewogene Worte preßt:
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Audi mich hast D u besucht; Du mußt's bedenken! Was ich vergeude, Niemand kann es schenken.
Das Wehn der Himmelslüfte, Dem Paradiese gleich, Des Blumenfelds Gedüfte, Das ist mein weites Reich.
Das Leben aus dem Grabe Jahrhunderte beschließt; Das ist der Schatz, die Habe, Die man mit mir genießt."
III. Symmetrie und Stilisierung Bei der Behandlung der Hauptmotive beobachtet man in Faust II eine bestimmte Gesetzlichkeit, das ständig wiederkehrende Verfahren, bei der Darstellung der Höhepunkte zunädist möglichst tief einzusetzen, um die Spannung zu steigern. In jedem Falle wird von dem Gegenteil des Intendierten ausgegangen. Es handle sidi z. B. um die Grundfrage der Politik, die Frage nach dem rechten Regiment, nach der richtigen Verfassung und Gemeinschaft. Das gemeinte Ideal wird in der Schlußvision vom freien Volk auf freiem Grunde dargestellt. Ausgegangen aber wird von dem entgegengesetzten Zustande, von einem zerfallenden, sich auflösenden Reiche und einem unfähigen Herrscher, „der alle möglichen Eigenschaften hat, sein Land zu verlieren, was ihm denn audi später wirklich gelingt". G. zu Eckermann 1.10.27. In den beiden folgenden Akten soll eine phantastische Welt der Geister und Gespenster dargestellt werden, ein unheimlidi tolles Treiben, ein Sich-Tummeln übermütiger Phantasie. Den Ausgangspunkt dafür bildet eine Szene entgegengesetzter Art, der Besudi in Fausts altem, nun verlassenem Studierzimmer, dessen Einrichtung schon Museumswert hat. Es liegt da in grellstem Tageslicht, in Staub, Spinneweben, Ungeziefer. Äußerste Prosa, Alltag, Nüchternheit. Alles ist wie eingefroren, erstarrt, eingerostet, im Dornröschenschlafe. Der 3. Akt soll in einen großen Schlußakkord münden, den begeisterten Hymnus auf den weltdurdiwaltenden Eros; den Ausgang aber bildet die Laboratoriums-Szene mit der künstlichen, eroslosen Erzeugung eines Wesens, das um die natürliche Fülle und Mäditigkeit des Daseins verkürzt worden ist, des Homunculus. Soll im folgenden Akt das höchste Ideal der Schönheit in Helena dargestellt werden, so wird ausgegangen von den chaotischen und archaischen Urformen, den noch halb tierischen Mischgestalten. Endlich im 5. Akt, wo die Dämonisierung der Madit in dem greisen Faust geschildert werden soll, seine tiefe innere Zerrissenheit und Friedlosigkeit, wird uns zu Beginn das Gegenbild gezeigt, ein Idyll tiefsten Friedens, zwei alte Leute, fromm, genügsam und hilfsbereit, in 39
Einigkeit mit Gott und den Mitmenschen, mit sich selber und der Natur. Die uralten Linden, das Kirchlein mit seinem Geläut auf der Düne wie eine Oase des Friedens in der friedlosen und erbarmungslos technisierten Welt. Dies Verfahren, durch Entgegensetzung von Tiefe und Höhepunkt die Spannung zu einem Maximum zu steigern, läßt sidi die ganze Dichtung hindurch verfolgen. Man erkennt daran, mit welcher Strenge der Dichter zu disponieren, mit welcher Energie er die mächtig aufquellenden Massen der Erscheinungen und Probleme zu ordnen weiß. Oben, Kap. 1, S. 18 wurde die starke Tendenz zu Symmetrie und Stilisierung aufgewiesen, welche von früh auf Menschendarstellung und Aufbau seiner Schöpfungen beherrscht, anfangs wohl noch halb instinktiv angewandt, später in den reifsten Schöpfungen, Pandora, den Wahlverwandtschaften, Faust II mit voller Bewußtheit und vollendeter Meisterschaft. Bei der individuellen Menschengestaltung faßt er dennoch immer zugleich das Typische ins Auge und stellt paarweis die Typen des aktiven und beschaulichen, des genialen und des philisterhaften Menschen einander gegenüber. Neben Phantasie und Anschauung hat der ordnende und planende Verstand stärksten Anteil an seinem Schaffen, wenngleich dessen Tätigkeit sich im Verborgenen abspielt. Das gilt insbesondere auch von den zugrunde liegenden metaphysischen und mythischen Voraussetzungen, welche unsichtbar die tragische Verknüpfung und Lösung bestimmen. Es sei daran erinnert, wie jedem Teil des Faust eine bestimmte Frauengestalt zugeordnet ist, auch jedem Buch der Lehrjahre und jedem Teil von Dichtung und Wahrheit. In dem ganz universal gedachten letzteren Werk wiederholt sich dreimal das gleiche triadische Schema von natürlicher, positiver und individueller Religion. Vgl. „Goethe als religiöser Denker" S. 183 f . So ist die gesamte Faustdichtung getragen von dem immer wieder durchscheinenden triadischen Schema von Tragik, Ironie und Religion, ferner von der dreifachen Mythenschicht, der christlichen, antik-humanistischen und naturphilosophischen. Es liegt weiter die große Zweiteilung in die beiden Hemisphären „Poesie" und „Politik" zugrunde, und endlich ist die Aufgabe die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum, Romantik und Klassik. Uberall Verzahnungen, Analogien, Andeutungen, Winke, Verbindungen. „Doch glaube keiner, daß mit allen Sinnen Das ganze Lied er je enträtseln werde . . . Das, was du siehst, will mehr und mehr bedeuten; Ein Teppich deckt es bald und bald ein Flor." Die Geheimnisse.
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IV. Faust II als Parallele und Widerspiel von Faust I Goethe hat die Faust-II-Dichtung als Gegenstück zu Faust I konzipiert und nur die von dort übernommenen Motive auf eine höhere Ebene gehoben. Hier wie dort steht eine Frauengestalt im Mittelpunkt. Dem ilachen Treiben der Studenten in Auerbachs Keller, dem durch das Zauberfeuer ein Ende gemacht wird, entspricht das leichtfertige Treiben der Hofgesellschaft, das in der Aufregung des „Flammengaukelspiels" endet. Beide Faustteile beginnen mit einem einleitenden Vorspiel, das als selbständige Dichtung vor dem Ganzen steht und mit dem folgenden Text wenig harmoniert. In ihm wird gezeigt, wie hilfreiche übermenschliche Mächte sorgend über Fausts Schicksal wachen. Dann folgt hier wie dort ein Eingangsmonolog des Helden, darauf in Faust I die Beschwörung des Erdgeistes, dessen Erscheinen in rötlicher Flamme Faust nicht ertragen kann, in Faust I I der Sonnenaufgang, von dessen Glanz Faust seine Augen abwenden muß. Nun aber ist bedeutsam die Wandlung bzw. die Umkehrung des Sinnes. D e r himmlische Prolog ist eine selbständige, freie Dichtung, deren Programm nicht zu dem schon früher geschaffenen Folgenden stimmt und bei der Durchführung auch nicht eingehalten wird. Analog liegt es mit der entsprechenden Szene in Faust I I . Hier wird der das G e samtbild des Helden entscheidend bestimmende, die Jugenddichtung beherrschende und bis zum Ende des Gesamtwerkes immer wieder durchschlagende Grundzug Fausts direkt aufgehoben. Dieser Grundzug besteht in der Maßlosigkeit, der Ungeduld, dem vermessenen Begehren, die Kräfte des Übersinnlichen schon jetzt und hier in den Dienst des Menschen zu zwingen. Faust fällt hier ebenso aus der Rolle, wie er es schon in dem Monolog „Wald und Höhle" getan hat, und wie nach des Dichters eignem Eingeständnis der Chor es bei Euphorions Tode tut. Aus dem Sonnenaufgangsmonolog spricht der reife, abgeklärte, resignierte Dichter selber. E r bekennt sich zu der Einsicht, das Wahre, Absolute, Göttlidie lasse sich für uns unmittelbar so wenig schauen und erfassen, wie unser Auge direkt in die Sonne zu schauen vermöge. Wir haben das Leben „am farbigen Abglanz". Es entspricht genau dem persönlichen Bekenntnis des Diditers im W Ö . D i v a n : „Du hast getollt zu deiner Zeit mit wilden, Dämonisch genialen jungen Scharen, Dann sachte schlössest du von J a h r zu Jahren Dich näher an die Weisen, Göttlich-Milden."
Faust selbst dagegen, auch der Faust des I I . Teils, kennt Verzicht und Resignation nicht. Seine stürmische Umarmung der Helenaerscheinung 41
ist das genaue Gegenstück zu der wilden Erdgeistbeschwörung, ähnlich seine verwegene Verfolgung der Helenaspur bis in den Hades hinab, - „Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt" - endlich sein Verfallen an den Dämon der Macht, sein Verbrechen an dem frommen Ehepaar und sein trotzig gottloses Sterben, - alles dies steht in direktem und unversöhnlichem Widerspruch zu dem Bekenntnis des Sonnenaufgangsmonologs und zeigt uns deutlich und unverändert die bekannten Züge des ursprünglichen wilden Faust. Die Baccalaureusszene ist die ironische Umkehrung der Sdiülerszene. Die Walpurgisnacht in Faust I war ein Entfesseln elementarer Naturgewalten, außen in der Natur wie innen im Menschen. Sie sollte gipfeln in einer Teufelsmesse, vor deren grandioser Unanständigkeit der Dichter dann bei der Ausführung aus begreiflichen Gründen zurückschreckte. Hier wird ihr eine südliche Zaubernacht entgegengestellt. Man findet sich meist leicht gedankenlos mit dieser Erfindung ab und beachtet zu wenig die tolle Paradoxie dieser Konzeption, bei welcher schon der Name „klassische Walpurgisnacht" einen Widerspruch in sich schließt. Aus dem wüsten Toben der entfesselten Elemente auf dem Brocken ist der Zauber einer mondhellen und wolkenlosen Nacht auf südlichem Meere geworden, aus dem Hexentreiben und den Mißgestalten eine Verherrlichung höchster irdischer Schönheit. Die Sinnlichkeit des Eros wird erlöst zu der Reinheit und Unschuld der Natur. Alles klingt aus in den Preis der Elemente. Mit welcher Leidenschaft der alte Dichter die Gelegenheit ergriff, seinen nie wankenden Griechenglauben zu bekennen, wie er wahrhaft schwelgte im Anschauen der Schönheit, sieht man auch daran, daß sich während des Dichtungsprozesses der Plan wandelte und seinem Schöpfer über den Kopf wuchs. Endlich die wunderbare Umkehrung des Gretchenmotivs. In ihrem grenzenlosen Jammer hatte sidi Gretchen einst an die mater dolorosa gewandt: »Ach neige, Du Schmerzenreidie, Dein Antlitz gnädig meiner Not!"
Jetzt dagegen wendet sie sich in überströmendem Glück an die mater gloriosa: „Neige, neige, Du Ohnegleiche, Du Strahlenreiche, Dein Antlitz gnädig meinem Glück!"
Am Ausgang der Dichtung wird alles immer allgemeiner, ätherischer, zuletzt verschwebend wie ein Hauch. Mit kühnem und zartem Pinsel werden letzte Ausblicke in die jenseitigen Sphären angedeutet, wie in 42
farbenreichen, prunkvoll strahlenden Barockkirchen all der reiche Schmuck nach oben hin immer sparsamer verwandt wird, die Farben immer mehr verblassen und endlich hodi oben in der Kuppel Formen und Farben ins Grenzenlose verfließen und verschwimmen.
Kapitel 3
Höllenpakt und Wette I. Der Höllenpakt
als Mittelpunkt
und Achse der Dichtung
Der Gegenstand der Faustdichtung ist der größte, den ein Dichter wählen kann: das religiöse Grundmotiv vom „Heil der Seele", gefährdet durch „Versuchungen in der Wüste". In der Sprache der Gegenwart ausgedrückt: Es gibt für den Menschen letzte Werte, denen gegenüber alle irdischen Interessen und Güter nicht in Betracht kommen und weldie preiszugeben Verrat des Menschen an sich selbst und an seiner ewigen Bestimmung bedeutet. Dies religiöse Grundmotiv war es in erster Linie, was Goethe an dem Fauststoffe anzog. Er selber stand in jenen Zeiten, wo die Faustgestalt zuerst von ihm Besitz ergriff, dieser Grundfrage des Christentums, zumal in ihrer protestantisch-pietistischen Gestalt, unmittelbar nahe. Der frevelhafte Vertrag des Magiers mit der Hölle ist das entscheidende Herz- und Kernstück des Ganzen. Ohne ihn ist Faust kein Faust. Der junge Dichter erkannte mit instinktiver Sicherheit die außerordentliche Fruchtbarkeit und Größe dieses Motivs. Ihn lockte die große Aufgabe, diesen alten Mythus, Empörung und Abfall eines Menschen von seinem Schöpfer, neu zu gestalten und in Sprache und Empfindung der Gegenwart zu übertragen, ohne nach Möglichkeit den mythischen Schmelz abzustreifen. Er war sich klar darüber, daß die Dinge, die hier in altertümlicher Sprache auftraten, als „Heil der Seele", ewige Verdammnis oder Erlösung, auch für die Menschen der Gegenwart ebenso machtvolle Realitäten bleiben wie für die Menschen früherer Zeit, nur daß heute andere Worte dafür gebraucht werden. D a s Verständnis der Faustdichtung hat lange Zeit darunter gelitten, daß man sich durch den Reichtum der Motive, die der Dichter in sein Werk verwoben hat, von dem letzten und eigentlichen Kern der Sache hat ablenken lassen, der auch für Goethe das Wesentliche war. N a m hafte Ausleger haben gemeint, der altertümliche Pakt mit der Hölle 43
sei von dem Dichter durch die Wette zwischen Faust und Mephisto ersetzt worden. Und nun wird alles Finstere, Dunkle und Unheimliche umgedeutet ins Helle, Klare und Menschliche; der tragische Grundcharakter aber geht verloren. Es bedarf daher, soll das Verständnis der Dichtung nicht von vornherein verschüttet werden, einer sorgfältig klärenden Untersuchung über das Verhältnis, in dem bei Goethe Höllenpakt und Wette zueinander stehen. Es war dem Dichter außerordentlich schwer geworden, nach dem im „Urfaust" vorliegenden Entwurf die weitere Fortsetzung seiner Arbeit zu finden. Sie war ins Stocken geraten und wollte nicht wieder in Fluß kommen. Man mußte doch irgendwie einmal wieder zu dem Höllenpakt kommen, der f ü r jede Faustdichtung den Mittelpunkt bildet, und damit zu einer Auseinandersetzung mit der christlich-dualistischen Metaphysik, welcher der Dichter anfangs aus dem Wege gehen wollte. Da war es wie eine Erlösung, als er auf den Anfang des Buches Hiob aufmerksam wurde. Freilich, daß hier eine ganz auffallende Parallele zu seinem eignen Unternehmen vorlag, die „moderne" Schöpfung eines großen Dichters, dem eine alte religiöse Volkssage als Vorlage diente, wußte er nicht. Ihn entzückte aber die Art, wie hier der Widersacher Gottes mit in das göttliche Gesinde aufgenommen ist, und der gemütlich joviale Ton, in dem sich der alte Herr mit diesem Schlingel unterhält. Auf diesen Ton, der ganz nach seinem Sinne war, ging er ein. Nun war mit einem Mal der schroffe metaphysische Dualismus gemildert und dennoch der Anschluß an Bibel und Volkssage gewonnen. Die entsprechende Milderung übertrug er dann auf die Tragödie selber, indem er zu dem von Mephisto gewünschten Höllenvertrag eine zusätzlich von Faust angebotene Wette fügte. Zugleich ergab sich eine gewisse Analogie des „Fürsten dieser Welt" mit dem „Erdgeist", dem Inbegriff der Kräfte dieser Erde. Hier wie dort das Verhaftetsein des Menschen an das Irdische, seine Güter und Genüsse, hier wie dort die Verfügung über „alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit". Damit war der schwierige Engpaß überwunden, und der Dichter atmete auf. N u r eins behagte ihm nicht. Er hatte s. Z. den Schwerpunkt von Fausts Schuld in seine Hinwendung zur Magie verlegt und damit seine Abwendung von echtem Menschentum. Dies konnte und wollte er auch jetzt nicht wieder preisgeben, um statt dessen im Sinne der volkstümlichen Überlieferung die traditionelle formelhafte Absage an Gott und das „himmlische Heer" einzutauschen. Seinem Gefühl nach mußte sowohl die Hingabe an Gott wie die Lossage von ihm in der Wirklichkeit des Lebens als dessen tragende Grundlage zur Erscheinung kom44
men. Das ist der Grund, weshalb er jetzt die Frage nach Gott einschließt in die Frage nach dem rechten Menschentum. So wird bei ihm aus der traditionellen Absage an Gott der große Find} auf alles menschlich irgendwie Große und überhaupt Wertvolle, jener Fluch, bei dessen Erklingen ein unsichtbarer Geisterchor sein entsetztes „Wehe" erschallen läßt und der am Schluß von dem sterbenden Faust so bitter bereut wird. Über den gleichzeitigen Einfluß von Lessings Faust vgl. Kap. 7, III. Der Ausgangspunkt war gewesen, daß Faust die Verbindung mit der Geisterwelt suchte, um sich aus dem Kerker seiner erdgebundenen Existenz zu befreien. Er hatte nicht den Teufel beschworen, sondern den Erdgeist. Nun aber läßt der Dichter ihn auf dem Wege über Magie und Geisterbeschwörung dem Teufel selber begegnen, der am Ende allein sich ihm zu dem gewünschten Zwecke zur Verfügung stellt, so daß er faute de mieux von seinem Angebot Gebrauch macht. Damit wird die Verbindung mit der Tradition hergestellt und der Teufelspakt und Teufelsverkehr als Spezialfall in den größeren Rahmen der Magie und des Geisterverkehrs einbezogen. Das ändert selbstverständlich nichts daran, daß auf jeden Fall dieser Pakt, wie stets in der Faustüberlieferung, den dramatischen Mittelpunkt bildet. II. Vorbereitung und Abschluß des Vertrages Durch die Hebung der Faustgestalt hatte sich der Dichter selber die Schwierigkeit geschaffen, glaublich zu machen, wie dieser im Grunde edel angelegte Mensch eines solchen Verbrechens, das die Sünde aller Sünden ist, fähig sein sollte. Er hat dieser Schwierigkeit mit vollem Bewußtsein ins Auge gesehen und ihr mit dem Aufgebot großer dichterischer Mittel zu begegnen gesucht. Das Mittel freilich, das viele neuere Faustausleger ihm zuschreiben, die Bagatellisierung oder gar Beseitigung des Höllenpaktes, hat er verschmäht. Eben dies ist gerade der Nerv der Sache, daß er den Pakt in seiner ganzen Furchtbarkeit bestehen, dennoch aber Faust diesen verhängnisvollen Schritt tun läßt. Hier liegt der dramatische Knoten, aus dem sich alles Folgende entwickelt. Welche dichterischen Mittel hat Goethe nun aufgewandt, um dies Unwahrscheinliche dennoch glaublich zu machen? Zunächst, Faust steht in einer entscheidenden Krise seines Lebens. In langen Jahren immer neuer Enttäuschungen hat sich die Lage für ihn endlich so zugespitzt, daß er keinen Ausweg mehr weiß und sogar den Selbstmord den inneren Qualen vorziehen würde. Er ist in eine Sackgasse geraten, aus der es keinen Ausweg gibt. Die Kurve seines Lebens neigt sich abwärts; das Leben scheint unwiederbringlich zu 45
entfliehen, ohne wirklich gelebt, genossen, ausgeschöpft zu sein. Weltschmerz und Lebensüberdruß sind so groß geworden, daß keine Heilung möglich scheint. Das ist etwas ganz Anderes und Gewichtigeres als die leichtfertige Neugier und Genußsucht des Zauberers der Volkssage. Sodann, Goethes Faust wendet sich nicht an den Teufel, sondern an den Erdgeist. Der Versuch, diesen zu beschwören, gelingt tatsächlich und versetzt Faust in die Stimmung höchster Seligkeit, freilich um ihn gleich darauf wieder in um so tiefere Enttäuschung sinken zu lassen. Das Gefühl seiner Ohnmacht und seine Verzweiflung steigern sich unerträglich. Als dann später Mephisto ihm seine guten Dienste anbietet, erklärt er sich in einer wilden va banque-Stimmung mit diesem Ersatz einverstanden; nicht etwa, weil der den Glauben an Teufel und Hölle für Wahn hielte; denn trotz gelegentlicher skeptischer Anwandlungen glaubt er doch an Teufel und Hölle, aber er fürchtet sie nicht. Dadurch wird die Unbezwinglichkeit seines Lebensdurstes unterstrichen, welche ihn die nie ganz verstummten inneren Warnungen überhören läßt. Ein älterer Plan, wonach Mephisto sich ihm im Augenblicke des Selbstmordversuchs als Retter anbietet, ist in der jetzigen Fassung abgelöst durch das Ostermotiv. Im entscheidenden Augenblick, als Faust eben die Giftschale an den Mund setzt, erklingen die morgendlichen Osterglocken vom nahen Dome und rufen wie warnende himmlische Stimmen den Verirrten vom Rande des Abgrunds zurück. In tiefer Ergriffenheit, in Erinnerung an das verlorene Glück seines Kinderglaubens, läßt er die Giftschale sinken. Wegen dieser weichen Regung muß er sich dann später von Mephisto verspotten lassen. Er schämt sich; und nun wird auch dieses Ostererlebnis, genau wie vorher die Erdgeistbeschwörung, aus einem rettenden Hilfsmittel zu einem verderblichen Anstoß, der ihn auf der verhängnisvollen Bahn unaufhaltsam dem Abgrund zutreibt. Faust schämt sich vor dem Teufel und vor sich selber, er will nicht als feige und rückfällig erscheinen und läßt sich dazu hinreißen, den schauerlichen Fluch auszustoßen, der ihn dem bösen Geist in die Hände gibt. Man hat sich darüber gewundert, daß die beiden Szenen, welche die beiden ersten Dialoge zwischen Faust und Mephisto enthalten, so unmittelbar nebeneinander stehen, ohne daß auch nur der Schauplatz sich änderte. Mag immerhin zunächst der äußere Grund der gewesen sein, daß hier die ursprünglich geplante Disputationsszene ihren Platz finden sollte. Das ist aber keine Erklärung, und so planlos pflegt Goethe nicht zu verfahren. Vielmehr ließ er in der heutigen Fassung die bei46
den Szenen getrennt nebeneinander stehen, um dadurch allmählich und stufenweis die große Entscheidung vorzubereiten. Mit dem Teufelspakt kann man nicht so ohne weiteres ins Haus fallen. In der ersten Szene wird Mephisto durch einen Zufall Fausts Gefangener, und ganz beiläufig ist auch hier schon von der Möglichkeit die Rede, mit der Hölle einen Pakt zu schließen, der beide Partner binde. Aber erst die folgende Szene bringt dann diesen Pakt selber, einfach aus dem Grunde - ähnlich wie in Faust II die Helenaszene durch „Antecedentien" vorbereitet wird - , weil das Ungeheure, was dem Leser zugemutet wird, durch diese stufenweise Stimmungsvorbereitung erst glaublich gemacht werden soll. Endlich der Abschluß des Paktes selber. Diese Szene ist geflickt und umgearbeitet wie kaum eine andre im Faust. Die Nähte sind nach Möglichkeit übersponnen. Als Fausts Verzweiflungsstimmung endlich ihren Höhepunkt erreicht hat und nicht mehr zu überbieten ist, trägt Mephisto ihm seine Begleitung und seine Dienste an, erst allmählich einen förmlichen Vertrag mit gegenseitiger Verpflichtung, alles aber so getarnt und bagatellisierend, daß zwar nicht Faust selber, wohl aber manche Ausleger darauf hereingefallen sind, die von einem harmlosen „Dienstvertrag" Mephisto gegenüber reden. Bis in die jüngste Zeit zieht sich durch fast sämtliche Kommentare ein groteskes Mißverständnis der Worte „Solang er auf der Erde lebt." Hier sehe man, so wird gesagt, daß diese Sache mit Fausts Los im Jenseits überhaupt nichts zu tun habe. Dies habe sich Gott-Vater ohnehin selber vorbehalten und daher wohlweislich dem Teufel nur eine „streng auf Fausts Erdenleben beschränkte Befugnis" eingeräumt. Aber welchen Sinn sollen Vertrag oder Wette haben, wenn nicht Fausts Los im Jenseits durch sein Verhalten im Diesseits bestimmt wird? Dann hätte der kluge Mephisto sich Vertrag wie Wette sparen können. Faust traut zunächst dem verdächtig selbstlosen Anerbieten des Teufels nicht und dringt mit Entschiedenheit auf eine klare und genaue Formulierung der Bedingungen. In gewundenen Worten, der Sache nach aber völlig eindeutig, gibt Mephisto notgedrungen Auskunft: Während seines gesamten Erdenlebens will er dem Faust zur Verfügung stehn und ihm die kühnsten Wunsche nach irdischer Macht und sinnlichen Genüssen erfüllen; dann aber, nach langer Zeit, - „wenn" man sich „drüben" wiederfindet, - soll sich das Verhältnis umkehren; das heißt nach Abzug der höflichen Einkleidung nichts anderes, als daß Faust sein ewiges Heil verliert und der Hölle verfällt. Mephisto, ständig in Sorge, Faust möchte doch im letzten Augenblick noch abspringen, bietet seine ganzen Überredungs- und Betrugs-Künste auf, indem 47
er prahlerisch seine Zauberkräfte rühmt und die glänzendsten Versprechungen macht. Aber gerade das reizt Fausts Widerspruch und steigert sein Gefühl der Verachtung für Mephisto. Er denkt gar nicht an ein Zurückweichen, wenngleich aus ganz anderen Gründen, als Mephisto vermutet. Dieser rennt bei ihm mit seinen Bemühungen oifene Türen ein. Faust ist in der Stimmung eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat und keinerlei maßvollen Überlegungen mehr zugängig ist. Er unterzeichnet, wie verlangt, den Pakt, sogar mit seinem eigenen Blut „ . . . so mag es bei der Fratze bleiben!" Ja, er geht nodi weiter und übertrumpft seinen Partner durch eine von diesem gar nicht verlangte Zugabe. Nach dem von Mephisto vorgeschlagenen Pakt nämlich sollte Faust nadi seinem Tode der Hölle verfallen. Von einer Begrenzung des Lebens, einem vorzeitigen, gewaltsamen Ende, einem „Holen" des Teufels war nie die Rede. Das aber wird jetzt von Faust selber angeboten, der sein Gegenüber mit äußerster Verachtung behandelt. „Was willst du armer Teufel geben?" Um ihn zu verspotten, gibt er dem Teufel noch eine weitere Chance, nämlich seine Zustimmung dazu, daß er ihn schon zu jeder beliebigen Stunde mitten aus dem Erdenleben abholen dürfe, vorausgesetzt, daß er es mit seinen gerühmten Künsten fertig brächte, Faust zufriedenzustellen. Mephisto, zunächst verdutzt über dies großzügige und unerwartete Entgegenkommen, greift dennoch gierig zu und läßt sich die Wette mit einem „Topp" und feierlichen Handschlag - die Parallele zu der Pakt-Unterschrift - bekräftigen. Schiedsrichter soll Faust selber sein, eben durch seine Erklärung, daß Mephisto ihn zufriedengestellt habe. HI. Unterscheidung zwischen Vertrag und Wette. Der Ausgang Man sieht, daß der Dichter sorgfältig zwischen Vertrag und Wette unterscheidet, zwischen dem Höllenpakt, bei dem es um Fausts Seele geht und von dem kein Partner ohne Zustimmung des anderen zurücktreten kann, und der Wette, bei der es sich um den Termin dieses Todes handelt und deren Ausgang an eine bestimmte Bedingung geknüpft ist. Ursprünglich zwar entstammen Vertrag und Wette verschiedenen Konzeptionen und Mythenkreisen. Der Vertrag entspricht der Überlieferung, die Wette ist des Diditers Erfindung und Zusatz. Man beobachtet hier wie in anderen Fällen, daß Goethe, wenn er in die Enge geraten ist, aus der Not eine Tugend macht. Er läßt einfach beide Vereinbarungen nebeneinander bestehen, indem er jeder ihren besonderen Platz anweist und sie so geschickt miteinander verbindet, daß der flüchtige Leser sie kaum auseinander hält. 48
Man muß sich klar machen, was der Dichter durch diesen Kunstgriff erreicht. Bestände nur der Pakt, so fehlte die dramatische Spannung. Die Begnadigung Fausts erschiene nicht nur unverdient, sondern auch unverständlich; der Teufel würde wirklich, betrogen und um seine wohlverdiente Beute geprellt. Ware aber die Wette ein Ersatz für den Vertrag, so würde kein Raum bleiben für die Wirkung der göttlidien Gnade. Sie würde überflüssig, da die Erlösung dann Fausts eignes Verdienst wäre. Ganz anders nun. Wir empfinden stärkste Sympathie mit Faust. Er hat etwas Entsetzliches getan, was er nie wieder rückgängig machen kann: er hat in der verzweifelten Stimmung eines unseligen Augenblicks das große Verbrechen begangen, das im Grunde seiner edleren Wesensart widerstreitet. Wir fühlen: ein solcher Mann gehört nicht in die Hölle; und wir wünschen im Stillen dringend, es möge sich ein Ausweg finden. Schon der Abschluß der Wette erwedct Spannung und Hoffnung, und wir atmen am Ende auf, als Mephisto sich durch eigne Schuld, durch sein niedriges sinnliches Gelüsten die Beute entgehen läßt. Es zeigt sich, daß dieser groteske Zug der teuflischen Liebespein nicht etwa eine überflüssige Zugabe ist, sondern ein unentbehrliches Glied in der Kette. Jede andere Art, Faust von den Folgen seines Verbrechens zu befreien und den Klauen des Teufels zu entreißen, wäre unmöglich. Es bereitet uns Genugtuung, zu erfahren, daß Fausts nie ruhender Drang nach dem Höheren in Gottes Augen so wertvoll erscheint, als Grundlage dafür zu gelten, daß die Gnade an ihm ihre Macht entfalten kann. Die vielumstrittene Frage, ob Faust oder Mephisto gewonnen habe, erledigt sich demnach sehr einfach, wenn man nur den Text genau liest. Von den im Vertrage übernommenen Pflichten kann keiner der beiden Partner einseitig zurücktreten, am wenigsten Faust, nachdem ihm ein langes Leben hindurch die Zauberkräfte der Hölle ausgiebig zur Verfügung gestanden haben. Faust wird nicht durch eignes Verdienst gerettet, sondern durch die göttliche Gnade, die nicht an die Normen menschlicher Gerechtigkeit gebunden ist. Mephisto aber verliert, wie er selber zugibt, die lang umkämpfte Beute durch eigene Schuld. Ganz anders die zusätzliche Wette. Diese wird von Faust ganz klar und einwandfrei gewonnen. Ein reiches, gefülltes Leben ist, vom Teufel unangetastet, zu Ende gegangen, ja, hat sich bis an die äußersten Grenzen menschlicher Möglichkeit erstreckt, ohne daß der Teufel seinem begehrten Opfer im Sinne der Wette etwas hätte anhaben können. Nie hat der höllische Dämon sein Menschentum völlig ersticken können, das vielmehr grade in den dunkelsten Augenblicken seines Lebens am klarsten aufleuchtete; es handelt sich freilidi nicht um eine 4
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moralisdie, sondern um eine religiöse Betrachtungsweise. Noch Fausts letzter Hauch ist ein stürmisches Vorwärtsstreben, ein seliges Ausruhen in der Vision einer maßlos gesteigerten Aktivität und Schöpfertätigkeit. Der unverwerflichste Zeuge, Mephisto selber, bekennt: „Der mir so kräftig widerstand, Die Zeit wird Herr, der Greis liegt hier im Sand." Indes, hat er nicht doch das verhängnisvolle verabredete Stichwort gesprochen, in welchem der Augenblick angeredet wird: „Verweile doch! Du bist so schön?" Müßte er also nicht noch dem Teufel verfallen? Es kann doch kein Zufall sein, daß sogar der genaue Wortlaut wiederkehrt. Gewiß ist es kein Zufall. Man vergegenwärtige sich nur, daß der Dichter die Wette und ihren Ausgang gleichzeitig gedichtet und aufeinander abgestimmt hat. Der naive Leser aber merkt sich das Stichwort, das wie eine magische Formel im Märchen wiederkehrt, und paßt nun auf, ob es später einmal fallen wird und ob Faust dann sterben muß. Tatsächlich, es fällt, und zwar als letztes Wort des Sterbenden. Der Dichter aber, der alte Fuchs, hat sein Vergnügen und schmunzelt. Das Stichwort wird natürlich mit voller Absicht wiederholt, aber sein Sinn ist nicht etwa nur abgeschwächt, sondern geradezu in das völlige Gegenteil verkehrt. Der Sinn der Wette war: Faust soll verloren haben, wenn das stets unbefriedigte Menschentum in ihm erstickt wird; wenn es Mephisto gelingen sollte, ihn in einen Sumpf niedriger Sinnlichkeit hinabzuziehen, ihn zu fauler Genußsucht und Selbstgefälligkeit zu verleiten. Neben diese erste und eindeutige Formulierung hat der Dichter aber wohlbedacht eine zweite, allgemeinere gestellt, welche doppeldeutig ist und sowohl den Sinn der ersten Formulierung wie ihr genaues Gegenteil ausdrücken kann, eben diese berühmte: B W e r d » i d l z u m Augenblicke sagen: Verweile doch, Du bist so schön!" Muß sich dies aber notwendig auf ein Erschlaffen in niederen sinnlichen Genüssen beziehen? Kann es nicht auch einen erfüllten Augenblick bezeichnen, dessen Seligkeit umgekehrt in höchster Schöpferfreude besteht? Die Wette auf Erden geht der im Himmel genau parallel. In beiden Fällen wird dem Teufel von seinem Gegenüber noch eine ganz unverlangte Zugabe bewilligt. Faust geht nicht nur den Vertrag ein, er gibt dem bösen Geist zum Hohn und aus Übermut noch eine weitere Chance. Ganz analog gibt Gott-Vater dem Mephisto nicht nur die erbetene Erlaubnis, sich an Faust heranzumachen, um ihn seine Straße zu führen; vielmehr fügt er mit überlegenem Lächeln, weise wie ironisch, hinzu, Mephistos Anerbieten sei ihm sogar willkommen und erwünscht. Und weshalb? 50
„Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht ersdilaffen, Er liebt sich bald die unbedingte Ruh'; Drum geb' ich gern ihm den Gesellen zu, Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen."
Hier scheint alles auf den Kopf gestellt. Derselbe Mephisto, der Faust in ein träges Genußleben verstricken will, soll ihn vor erschlaffender Ruhe sdiützen? Gott sagt gewissermaßen zu ihm: Dein Wunsch und dein Versuch, Faust zu dir und deinen "Wegen herabzuziehen, wird einen von dir nicht erwarteten, ja den gegenteiligen Erfolg haben. Indem du deine Ziele verfolgst, wirst du - wider Wissen und Willen nur meinen Absichten dienen, Faust in ewiger Unruhe zu erhalten. Welche Paradoxie! Der Teufel schützt ungewollt sein Opfer vor der größten und letztlich einzigen wirklichen Gefahr, die es für ihn geben kann, vor der selbstgefälligen und trägen Ruhe. Faust gewinnt die Wette, nicht aber dadurch, daß er sich vor einem „Verweile doch" hütete, sondern gerade dadurch, daß er dies „Verweile" ausspricht, es aber seines gefährlichen Sinnes entkleidet und in genau entgegengesetztem Sinne für höchste, ins Unendliche weisende Schöpfertätigkeit verwendet. D a s ist im Himmel wie auf Erden nicht nur ein bloßes Gewinnen der Wette; es ist ein Übertrumpfen des Gewinnens, ein Plus, eine Zugabe im höchsten Sinne.
Kapitel 4
Die Rolle der Magie im Faust 1. Religion und Magie Religion und Magie stehen in einem eigentümlichen Wediselverhältnis zueinander, z. T . eng verwandt, z. T . gegensätzlich. Man kann das Verhältnis, ohne sich im einzelnen auf die religionsgeschiditlichen Fragen einzulassen, im großen so charakterisieren, daß in der Entwicklung drei Stufen bzw. Epochen hervortreten, eine erste, in der beide so gut wie zusammenfallen und der Priester zugleich der Zauberer ist, sodann eine mittlere, zweite, wo sich Religion und Magie scharf voneinander sondern, und endlich eine dritte, wo die Sonderung bestehen bleibt, beide aber, Religion wie Magie, stark verblassen und zu innerseelischen Prozessen herabsinken. - Während die Menschen ursprünglich den unheimlichen übersinnlichen Mächten - zu denen auch die Geister der Abgeschiedenen gehören - mit Angst und Scheu gegenüberstanden, unter4*
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nahmen es einzelne verwegene Männer, diese Mädite durch bestimmte Zauberformeln und Riten zu beschwören, sie durch Erforschung ihres Namens und dadurch ihres "Wesens in ihre Gewalt zu zwingen; in jedem Falle ein kühnes, gewagtes Unternehmen, mit Gefahren verbunden, aber auch von großem Reiz. So wissen u. a. die Berichte von Fahrten ins Totenland von schrecklichen Abenteuern und Ungeheuern zu erzählen. In der Folgezeit sondern sich dann auf der zweiten, mittleren Stufe Religion und Magie immer schärfer voneinander ab,- während sich zugleich aus dem unübersehbaren Gewirr der Numina die einzelnen hohen Götter hervorheben. Deren Willen sucht der Fromme in Demut zu ergründen; er bringt ihnen Opfer dar und dient ihnen in tiefer Ehrfurcht. Die übrigen untergeordneten Mächte, mehr oder weniger als böse empfunden, treten für ihn zurück, behalten aber etwas von dem ursprünglichen Schauder. Der Magier, der Zauberer dagegen steht Göttern wie Dämonen ohne Ehrfurcht gegenüber, trotzig und kühn oder berechnend und schlau. Er setzt dreist die alten Beschwörungsversuche fort, während dies Verhalten dem Frommen als ungeheurer Frevel, ja als die Sünde aller Sünden erscheint. Auf dieser Stufe sind also die Grundstimmungen von Religion und Magie nicht nur voneinander verschieden, sondern direkt entgegengesetzt. Dort demütige Unterordnung und Hingabe, hier Ablehnung und Trotz. Dort geduldiges Warten auf die von den Göttern zu schenkende Offenbarung oder Gnade; hier das ungeduldige Zerren an der Hülle des Geheimnisses, und der begierig verlangende Wille, sdion jetzt und hier die K r ä f t e des Überirdischen in das irdische Leben hereinzuziehen und sich dienstbar zu machen. Eine vermittelnde, abgemilderte Form bildet bei Magie wie Religion dann der Vertrag, ein wechselseitiges „do ut des", ein gegenseitiges Leisten, ein Bund mit der Hölle oder mit dem Himmel, wobei in jedem Falle der Preis die Hingabe der Seele an die übersinnliche Macht, das Los im Jenseits ist. Beiden aber, der Religion wie der Magie, ist auf dieser mittleren Stufe gemeinsam, daß es sich um die reale Verbindung mit übersinnlichen Mächten handelt, die sich dem Menschen in sinnlich faßbarer Weise manifestieren und von ihrem unsichtbaren Bereich aus sichtbar und wirksam in den Lauf der Welt und dieses irdischen Lebens eingreifen. Das ändert sich auf der dritten und letzten Stufe, d. h. jener, die auch uns Heutigen geläufig ist und unsere gegenwärtige Haltung charakterisiert. Hier ist von Religion wie Magie nur in einem übertragenen und abgeblaßten Sinne die Rede, und es handelt sich in beiden Fällen um rein geistige, innerliche Vorgänge, die auf die äußere Natur und ihr 52
gesetzliches Geschehen keinen Einfluß ausüben können. Die schroffe Sonderung von Magie und Religion, die für die 2. Stufe bezeichnend war, erscheint gemildert. Es gibt in dem alten strengen Sinne keine Wunder mehr, kein unmittelbares Eingreifen göttlicher Mächte in dies Leben, und ebenso wenig direkte magische Einwirkungen und die Möglichkeit wirklicher Zauberei. Die innere und die äußere Welt sind sauber voneinander geschieden. Die alten Ausdrücke des religiösen wie magischen Erlebens werden zwar weiter gebraucht, bekommen aber einen neuen, symbolischen Sinn. Frömmigkeit ist nun Andacht, ein innerer Aufschwung der Seele, das Gebet eine Zwiesprache im Innern des Menschen. Magie ist ein überquellendes Selbstgefühl des menschlichen Geistes, der sich ins Unendliche hin erweitern möchte. II. Magie in ursprünglicher Bedeutung. Faust als
Zauberer
Bei der überlieferten Faustsage handelt es sich zunächst ebenso wie in Goethes Faustdichtung klar und eindeutig um ursprüngliche, wirkliche Zauberei, also um Magie der mittleren, nicht aber die der letzten Stufe. Man pflegt es zwar dem Dichter als besonderes Verdienst anzurechnen, daß er im Gegensatz zu der alten Volkssage die Magie lediglich in übertragenem Sinne verstanden und eben dadurch menschlich verständlich gemacht habe. Das Berechtigte an dieser Auffassung wird im Folgenden noch zur Sprache kommen. Hier ist vor allem wichtig, zu beachten, daß trotz aller später angefügten Ausweitungen und symbolischen Bedeutungen die ursprüngliche Magie selber niemals abgeschwächt oder gar aufgehoben wird. Sie bleibt vielmehr unter allen Umständen bestehen und bildet auch in Goethes Dichtung das Rückgrat der Handlung. Wenn der verzweifelnde Faust sich der Magie ergibt, so doch ganz gewiß nicht einer Magie in übertragenem, rein seelischem Sinne. An bloß innerer seelischer Spannung, an titanischem Lebensdrang, an Phantasie und Sehnsucht hat er wahrlich vorher schon genug. Er will etwas völlig anderes. Was ihn so quält und innerlich niederschlägt, ist eben dies, daß der Gott, der ihm im Busen wohnt, zwar das Innere tief erregen kann, dagegen keinen Einfluß nach außen gewinnt und nicht imstande ist, die enge Wirklichkeit durch magische Kräfte zu verwandeln. Und eben dies ist der Begriff der eigentlichen Magie, womit sie steht und fällt. Mit anderen Worten, das Element des Wunderbaren, Zauberkräftigen, Märchenhaften, Mythischen ist ein integrierender Bestandteil der Goetheseben Faustdichtung.Wir haben in ihr nicht ein realistisches Wirklichkeitsbild vor uns, wie wir es im Sinne moderner Aufklärung auf der Bühne zu sehen gewohnt sind, sondern ein durchaus phantastisches, von mythischen Elementen gesättigtes Spiel, 53
das nun freilich in dichterischer Freiheit auf jeder Stufe auch einer symbolischen Deutung offen steht und mit seelischem Gehalt gefüllt werden kann. Der Fall liegt genau analog wie bei dem im vorigen Kapitel behandelten Problem des Höllenpaktes. Hier wie dort stehen sich eine ältere und eine jüngere Mythensdiicht gegenüber, von denen im Sinn des Dichters keine der anderen geopfert werden darf. Bisher wurde fast immer die urtümliche Schicht von Magie und Religion zugunsten der jüngeren Schicht entwertet. Dadurch aber werden die entscheidenden Probleme beseitigt oder bagatellisiert. Trägt man das Bild des modernen Kulturmenschen nach dem eigenen Muster in das altertümliche Bild des verwegenen Magiers und Titanen ein, so wird alles verworren. Die eigenartige Größe der Goetheschen Faustdichtung besteht eben darin, daß der Dichter diesen großen Gegenstand dem modernen Leser näher bringen will, ohne die herben Züge und den fremdartigen Reiz von dem alten Mythus abzustreifen. Man darf Faust nicht zu einem Menschen der neueren Zeit madien, für den Religion und Magie nur in übertragenem Sinne als rein innerlich seelisdie Vorgänge verstanden werden. Den frechen Magier selber macht man dann zu einem grüblerischen und wehmütigen Gottsucher, der nach einer Theophanie schmachtet. Das aber ist eine grobe Verzeichnung und Entstellung. Die Helden der „Stürmer und Dränger" sind Titanen, Halbgötter oder Göttersöhne, die sich wie Prometheus in unbändigem Trotz den Olympiern entgegenstellen und ihnen gegenüber die Partei der Sterblichen ergreifen; oder sie sind verwegene Magier und Revolutionäre wie Dr. Faust, welche die gegebenen menschlichen Schranken nicht anerkennen und sich mit übersinnlichen Mächten verbinden. Daher ist es abwegig und dem Stil der Dichtung zuwiderlaufend, wenn man den herrlich wilden Trotz des Titanen Prometheus - in der bekannten Ode - herabmildern will und den Dichter selber, von der falschen Auffassung ausgehend, hier liege ein persönliches Glaubensbekenntnis von ihm vor, gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit in Schutz zu nehmen sucht. Gleich geschmacklos ist es, die Maßlosigkeiten und Verbrechen des Dr. Faust zu beschönigen, als bedürften sie einer Entschuldigung. Fragt man aber, wieso der Dichter uns einen so altertümlichen Zauberglauben zumuten könne, so würde er selber in gewohnter "Weise schmunzeln: „Ja, ja, ihr guten Kinder, wenn ihr nur nidit so dumm wäret!
„Märchen, nodi so wunderbar, Dichterkünste madien's wahr."
Er weiß aber, daß in diesen Märchen und Mythen ein tieferer Sinn und mehr Wahrheit liegt als in der modernen Aufklärung und ihren 54
Ersatzreligionen. Fragt man aber weiter, wie das Zusammenbestehender alten und der jüngeren Schicht verantwortet werden könne, so mag man an die Ballade vom Erlkönig denken. Hier ist das Wesentliche die schwebende Stimmung, die Mehrdeutigkeit, die Unsicherheit, ob der beruhigende Vater recht hat oder das fiebernde Kind. Der Dichter hält sich alle Wege offen; er will die Motive nach allen Seiten hin entfalten und ausschöpfen. Es macht ihm geradezu Spaß, pedantische Leser zum besten zu haben, die Grenzen von Traum und "Wirklichkeit nach Belieben zu überschreiten, die verschiedenen Bedeutungen von Magie miteinander zu vertauschen. Diese ganze Behandlungsweise wurde ihm durch den Stoff erleichtert und nahegelegt. Dr. Faust ist ein Kind des 16. Jahrhunderts. Die Mystiker, Alchemisten und Naturphilosophen, dieser gärenden Übergangsepoche, wie Paracelsus, Helmont u. a. leben in einer dämmernden, helldunklen Atmosphäre zwischen mittelalterlichem Zauberglauben und moderner Naturwissenschaft. Sie sehen das altertümlich Mythische und das menschlich Natürliche auf der gleichen Ebene. Die aufregenden Entdeckungen ihrer Zeit deuten sie sich als Einsichtnahme in das geheimnisvolle Wirken der Geister, die sie belauschen; und umgekehrt verstehen sie einen genialen Aufschwung des Geistes als Berührung mit übersinnlichen Mächten. Ist also für sie Magie das Aufspüren mächtiger Naturgeister und der Verkehr mit ihnen, so fragt sich der Dichter, welchen symbolischen, menschlich verständlichen Sinn er diesen Erfahrungen unterlegen kann. Es müßte sich um eine äußerst beglückende Steigerung menschlicher Fähigkeiten und Möglichkeiten handeln, die aber immer noch im Bereich des Menschlichen lägen. So wird Fausts erste Geisterbeschwörung, durch welche die Verbindung mit der Geisterwelt hergestellt wird, ein äußerster Aufschwung des Geistes, ein „mächtig Seelenflehn": „Du mußt, du mußt, und kostet es mein Leben!" Und als der Geist, wenn auch nur vorübergehend, tatsächlich erscheint, ergreift den erfolgreichen Magier ein ungeheures Glücksgefühl: „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen, dein Sinn ist zu, dein Herz ist t o t ! "
III. Magie im Lichte der drei
Mythenkreise
Besonders deutlich tritt die mehrfache Verwendung von „Magie" durch die Unterscheidung der drei religiösen Mythenkreise hervor, auf die im folgenden Kapitel 5 noch näher eingegangen wird: Christentum, Humanitätsglaube und Naturglaube. Zunächst zeigt sich, daß die Wendung zur Magie als Entschluß des verzweifelten Faust unter jedem dieser drei verschiedenen Gesidits55
punkte als schweres Verbrechen erscheint. Der vielberufene Unterschied zwischen erlaubter, „weißer" und verbotener, „schwarzer" Magie ist der Dichtung völlig fremd. Nach christlicher Auffassung ist die Magie, der Abfall des Menschen von seinem Schöpfer, die Sünde aller Sünden. Es verschlägt dabei nicht das mindeste, daß Faust sich nicht gleich zu Beginn an den bösen Geist wendet, sondern an die Geisterwelt überhaupt. Faust ist Magier, längst bevor er mit dem Teufel in Verbindung tritt, und er läßt sich dann von diesem Lügengeist nur noch weiterhin in seinen „Blend- und Zauberwerken" bestärken. Das gleiche Verdammungsurteil wird über Faust vom Standpunkt des Humanitätsglaubens aus gesprochen. An die Stelle der feierlichen traditionellen Absage an Gott und „das himmlische Heer", die sonst den Höllenpakt einzuleiten pflegt, setzt der Dichter den großen feierlichen Fluch, in welchem noch viel mehr verflucht wird als der Gottesglaube, nämlich alle erdenklichen menschlichen Werte; nicht nur Glaube, Liebe, Hoffnung, Geduld, selbst die irdischen Freuden und Genüsse. Dieser furchtbare Fluch, vom Dichter mit allem Nachdruck unterstrichen, bildet einen entscheidenden "Wendepunkt. Er ist es, der den gellenden Wehruf der unsichtbaren Geister auslöst; er auch, den der sterbende Faust zuletzt als seine große Schuld erkennt und gern reuig widerrufen möchte. Mit ihm hat sich Faust nicht nur von Gott, sondern darüber hinaus auch vom Menschentum ab gewandt. Er verachtet Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, und greift statt dessen nach Zauberkünsten. Er verlangt herrisch nach Macht und Genuß, wie sie dem Menschen versagt sind, und auf einem Wege, der dem Menschen nicht zusteht. Er will wie Goethes „Schatzgräber" reich und mächtig werden durch Zauberei, ohne menschliche Arbeit und Mühe, ohne Verantwortung und Gefahr. Und endlich unterliegt Fausts Magie selbst vom Standpunkt des Naturglaubens der Verdammung. Indem der greise Faust die teuflischen Zaubermittel in den Dienst seines unersättlichen Lebens- und Machthungers stellt, zerstört er das Glück unschuldiger Menschen. Gretdien ist ihm zum Opfer gefallen; nun auch die beiden frommen Alten, die mit Gott und Natur, mit den Mitmenschen und sich selber in Frieden leben. Die uralten Linden mit der Kapelle und der baufälligen Hütte auf der einsamen Düne sind ein eindrucksvolles Symbol für den Frieden und die Heiligkeit der Natur. IV. Magie in übertragenem Sinne Damit aber berühren wir schon eine andere Betrachtungsweise, daß nämlich die Magie außer ihrer ursprünglichen Bedeutung noch einen 56
ins Menschliche übertragenen Sinn erhält; und zwar in positiver und negativer Beziehung, ferner beides auf innerlich seelischem Gebiet wie in äußerer Tat. Wir sahen, daß eine ältere Mythenschidit mit Zauberei und Höllenpakt einer jüngeren Schicht von Glaubensvorstellungen gegenübersteht, die im Sinne des zeitgenössischen Humanitätsglaubens und Naturglaubens Magie zugleich als etwas menschlich Begreifliches, im wirklichen irdischen Leben Aufweisbares behandeln. Der mächtige aktive Impuls, der sich schon bei dem Magier im ursprünglichen Sinne äußert, wird hier mit dem Zauber menschlicher Persönlichkeit und Schöpferkraft in eins gesetzt. Er wirkt sidi aus in den beiden Sphären, die das menschliche Leben ausmachen, Poesie und Politik. Vgl. oben Kapitel 2. Magie ist Dichtung, das Schaffen einer Welt gleichsam aus dem Nichts, es ist das Reich der Phantasie. Das magische Beschwören der schönen Helena durch den gefährlichen Gang zu den Müttern meint letztlich das dichterische Eintauchen des Künstlers in die Urgründe alles Seins. Faust wird Dichter, Seher, Priester seiner Kunst. Die Stelle von dem „kühnen Magier" lautet in einer anderen Lesart: „Die andern sucht getrost der Dichter auf." Dieselbe Gleichsetzung von Zauberer und Dichter findet sich bei Goethe oft, so in den Versen: „Der Zaubrer fordert leidenschaftlich wild von Holl' und Himmel sich Helenens Bild; Trat' er zu mir in heitern Morgenstunden, das Liebenswürdigste war' friedlich ihm gefunden."
So lädt auch der Herold zu dem magischen Theater ein, das sich von selbst erbaut: „Empfangt mit Ehrfurcht sterngegönnte Stunden! Durch magisch Wort sei die Vernunft gebunden; Dagegen weit heran bewege frei Sich herrliche, verwegne Phantasei! Mit Augen schaut nun, was ihr kühn begehrt, Unmöglich ist's, drum eben glaubenswert."
Diese Magie des poetischen „schönen Scheins" hat ihr Widerspiel in der teuflischen Magie des trügerischen Scheins, wenn Mephisto durch Gaukelei und Blendwerk die Menschen überlistet und mit ihren Schwächen ein frevelhaftes Spiel treibt. - Aber diese „Magie" umfaßt mehr als nur Poesie im engeren Sinn. Es ist die „Poesie des Lebens", ohne welche nur ein grauer Alltag übrig bliebe. So spricht der junge Goethe in dem Aufsatz über „Falconet" von der „magischen Welt", welche den Menschen in den Schauern eines einsamen Waldes oder in der Nähe seiner Geliebten umfängt. Für den jungen Werther ist das Leben ohne Liebe „eine Zauberlaterne ohne Licht". Die einzige Wonne seines Lebens war „die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich 57
schuf." Magie erhält also die Bedeutung von schöpferischen seelischen Kräften, wie sie für jeden Menschen Wert und Glanz des Lebens ausmachen, aber in dichtester Fülle im schöpferischen Prozeß des schaffenden Künstlers wirklich werden. Das Fehlen dieser schöpferischen Kräfte macht den Menschen arm und unglücklich. Hier, im Gebiet des Lebens selber, hat sie ihr Gegenstück an Freudlosigkeit Und Langeweile, vor allem an der unheimlich magischen Macht der Sorge, welche dem Menschen jede Frische nimmt und seine Tatkraft lähmt. Es ist nicht eine bestimmte, konkrete Sorge um etwas Fehlendes, Vermißtes, es ist die allgemeine Gestimmtheit, bei der sich ein Nichts der Seele bemächtigt, als ob etwas wäre, und sie noch mehr quält als die Furcht vor einer bestimmten Gefahr. Das zweite Grundthema der Faustdichtung, zumal des zweiten Teils, bildet die „Politik", in weitestem Sinne genommen, die Welt der Tat, des äußeren Schaffens, des Gemeinschaftslebens. Auch hier ist in der Dichtung Magie im ursprünglichen Sinne die Grundlage: Feuerzauber, Gaukelei in der Schlacht, gespenstische Dammbauten von riesigem Ausmaß. Dann aber auch hier der übertragene symbolische Sinn, der etwas echt Menschliches bezeichnet. Das ist zunächst im positiven Sinne die Genialität des Handelns, ein bis ins Höchste gesteigertes Schöpfertum. In diesem Sinne nimmt Faust den Kampf mit den chaotischen Elementen auf, die sinnlos Kraft vergeuden. Er bringt Sinn in das Sinnlose und will ein neues Volk auf neuem Grund und Boden schaffen. Dieses reine und großartige Schöpfertum aber, dessen Bild der Sterbende in einer Vision vor sich sieht, ist für ihn mit der Wirklichkeit der Magie im ursprünglichen Sinne, mit den Zauberkräften der Hölle verknüpft. Aber selbst diese Zauberwerke sucht der Dichter noch zu durchleuchten, indem er Zustände und Vorgänge schildert, bei denen keine übernatürlichen Zauberkünste sichtbar werden, die aber in ihrer Natürlichkeit selber sdion den Charakter eines teuflischen Zaubers in sich tragen. Und das ist die furchtbarste Art, die noch weit über den Betrug mit dem Papiergeld hinausgeht. In Faust II. wird mit Ironie und Satire eine politische Wirklichkeit geschildert, wie sie leider oft ist, aber nicht sein sollte: Habsucht, Machtraub, Brutalität, Rücksichtslosigkeit, ein lautes, prahlerisches Heldentum; weiterhin die immer neuen Kämpfe der Guelfen und Ghibellinen, der Haß der Parteien, wobei die Menschen immer die von der Hölle Betrogenen sind: „Und keiner merkt: er ist doch nur geneckt von Asmodeus, der dahintersteckt."
Das naturwissenschaftliche Symbol dafür ist der Vulkanismus, „Tumult, Gewalt und Unsinn". Hohle Blechhauben und Panzer, von Ge58
spenstern klappernd in Bewegung gesetzt. Es bedarf hier keines Zaubers im eigentlichen Sinne, die Wirklichkeit ist gespensterhaft genug. „Krieg, Handel und Piraterie" sind die teuflische Dreieinigkeit. „Zuletzt, bei allen Teufelsfesten Wirkt der Parteihaß doch zum besten, Bis in den allerletzten Graus."
Am eindrucksvollsten aber zeigt sich der Spuk-Charakter der Wirklichkeit im Bereich der modernen Naturbeherrschung und Technik, die man geradezu als die moderne Form der Magie bezeichnen kann. Hier wächst die Dichtung empor zu einer unheimlich großartigen Vision der Kulturkatastrophe, deren Zeuge wir gewesen sind und noch sind. In der alten Magie handelte es sich darum, der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen und dann ihre Kräfte in den eigenen Dienst zu zwingen. Dieser Traum der Magier hat sich in der modernen Technik in überraschenderweise erfüllt. Aber so erstaunlich und fast unglaublich die Erfolge, so riesenhaft auch die Gefahren. Der Mensch, der in ungeheure Weiten vorgestoßen ist, kann nicht Halt machen und wird ins Unermeßliche weitergetrieben. Seine Triumphe werden ihm zum Fluch. J e glänzendere Erfolge, je höhere Rekorde, desto unpersönlicher und seelenloser wird das gesamte Leben, und der unheimliche technische Aufstieg geht auf Kosten der menschlich persönlichen Werte. Die tyrannische Unterjochung der Natur rächt sich, bis endlich lawinenartig die Katastrophe hereinbricht. Der von Gott und seiner eigenen Bestimmung abgefallene Mensch, ganz im Irdischen wurzelnd und sich selbst zum Absoluten hinaufsteigernd, sinkt in Wirklichkeit um so tiefer unter das Menschentum hinab. Die unterjochten Naturkräfte aber, die aus ihren geheimnisvollen Schlupfwinkeln aufgescheucht waren, nehmen furchtbare Rache an ihren Bezwingern. „In jeder Art seid ihr verloren; Die Elemente sind mit uns verschworen, Und auf Vernichtung läuft's hinaus."
Faust hatte damit begonnen, die geheimen Naturkräfte durch Magie in seinen Dienst zu zwingen, um höchste Freiheit und Macht zu gewinnen. Er endet bei der Einsicht, daß es ihm nicht gelungen ist, sich ins Freie zu kämpfen, daß er vielmehr gebundener und unfreier ist als je. Zu spät erwacht in ihm die Erkenntnis: „Könnt ich Magie von meinem P f a d entfernen, Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stünd' ich, Natur, vor dir ein Mann allein, D a wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein."
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Kapitel 5
Mehrdeutigkeit der Grundbegriffe I. Die drei
Mythenkreise
Schon bei den bisherigen vorbereitenden Untersuchungen stießen wir auf den Tatbestand, daß letzte Grundbegriffe der Faustdichtung etwas merkwürdig Schillerndes und Mehrdeutiges an sidi haben. Im ersten Kapitel sahen wir, daß drei sehr verschiedene Grundkonzeptionen der Dichtung nachträglich miteinander verwebt sind. Im vierten Kapitel fiel die Mehrdeutigkeit von „Magie" auf, eines Ausdrucks, der bald im urtümlichen Sinne von Zauberei, bald im übertragenen Sinne von seelischem Aufschwung und Schöpfertum gebraucht wurde, und zwar offensichtlich mit vollem Bewußtsein. In Kapitel 3 ergab sich, daß der Ausgang der Wette einen Doppelsinn von „Streben" voraussetzt. Jenes berühmte „Verweile doch! Du bist so schön" hat zu Beginn und am Schluß nicht dieselbe, sondern vielmehr die entgegengesetzte Bedeutung. Der Wette liegen zwei stark voneinander abweichende Formulierungen zugrunde. Ursprünglich ist „Streben" im Sinne der Jugenddichtung der hemmungslose Lebensrausch, dann aber gemäß der späteren Konzeption jene edle Unruhe, die den Menschen vom Dämon trennt, der innere Widerstand gegen jedes Versinken in Trägheit und satte Behaglichkeit. Daß es sich bei diesem auffälligen Tatbestand um etwas Zufälliges, vom Dichter nicht Beachtetes oder Unbeabsichtigtes handelt, ist ausgeschlossen. Liegt es aber so, dann sind wir hier auf einen Punkt gestoßen, der für die Entwirrung der mancherlei Unstimmigkeiten und Widersprüche der Dichtung von höchster Bedeutung sein muß. Wenn irgendwo, dann muß hier der Ariadnefaden zu finden sein, der sicher durch das Labyrinth führt. Denn die erwähnten Fälle sind nur Einzelbeispiele für ein Verfahren, das auch die übrigen Grundbegriffe in Mitleidenschaft zieht und das von dem Dichter ursprünglich, wohl nur instinktiv, später aber in steigendem Maße mit vollem Bewußtsein angewandt wird. Er hebt zunächst mit großer Sorgfalt und Schärfe die verschiedenen Konzeptionen, Motive und Gestalten in ihrer Besonderheit, Eigenart und wechselseitigen Gegensätzlichkeit hervor, um dann über diese Differenzen dennoch als Dichter hinwegzutäuschen. Diese Mehrdeutigkeit der Grundbegriffe hat verschiedene Gründe. Der eine ist der, daß der eigne Glaube des Dichters sich nicht mit den mythischen Voraussetzungen des Fauststoffes deckt, daß hier ein Thema aus dem 60
Gebiet des alten Glaubens von einem aufgeklärten, „ungläubigen" Dichter behandelt wird. Ein weiterer Grund ist der, daß bei näherem Zusehen sich deutlich drei Mythenkreise voneinander abheben, deren jeder in Gesamtstimmung, Vorstellungsweise und Weltmaßstäben in sich geschlossen ist und sich klar gegen jeden der beiden anderen abgrenzt. Genau besehen hat jeder Mythenkreis sein eignes Faustproblem und seine eigne Faustgestalt, seine eignen Begriffe von Tragik, Schuld und Erlösung, und jeder führt auch, teils offen, teils verhüllt, die gesamte Tragödie in seinem Sinne bis zum Ende durch. Im Mittelpunkt der „christlichen" Handlung steht der Pakt mit der Hölle, Fausts Bündnis mit dem bösen Geist, seine Schuld und seine schließliche Erlösung. In allen Wirren und Gefahren wachen höhere Mächte über ihm. Zu dem humanistischen Mythenkreis gehört die Wette, das Streben, der Diesseitsglaube: „Er stehe fest und sehe hier sich um; dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm." Fausts Schuld ist hier die Wendung zur Magie, der Verrat des Menschentums. Endlich der Naturmythus: Die Mutter Natur, der Erdgeist, das Reich der Mütter, die Arielszene zu Beginn von Faust II, wo hilfreiche Naturgeister, ohne nach Fausts Schuld zu fragen, den Zusammengebrochenen wiederherstellen, endlich die Wahnsinnsszenen am Schluß von Faust I und Faust II, wo die Natur ihr in tragischen Verwirrungen und Nöten versinkendes Kind in ihren Schutz nimmt, es in tiefen Traumschlaf oder Wahnsinn hüllend. Alle drei Mythenkreise werden ins Spiel gesetzt, ihre Motive als Beitrag gewertet und genutzt. So erklärt sich auch die Mehrdeutigkeit der Grundbegriffe, von der wir ausgingen. Jeder Begriff erhält seinen Sinn von dem Mythenkreise aus, in dessen Zusammenhang er gebraucht wird. Begriffe wie Liebe, Erlösung, Dämon, u. s. f. werden je in einem dreifach verschiedenen Sinne gebraucht. Der christliche Begriff der selbstlosen Nächstenliebe ist ein anderer als der Eros der Geschlechtsliebe, wenngleich die letztere durch den christlichen Einfluß eine größere Innigkeit und Herzlichkeit gewinnt. Endlich ist Liebe im Faust die kosmische Naturkraft, „die alles bildet, alles hegt." Vgl. im „Märchen": „Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr." Diese drei verschiedenen Bedeutungen werden also in demselben Ausdruck zusammengefaßt und einander angenähert, als deuteten sie irgendwie doch auf ein Gemeinsames. Die echt irdische Liebe Gretchens wird himmlisch verklärt, aber nicht im Sinn einer höheren Weihe, sondern eben als irdische. Der Pater Marianus huldigt der Himmelskönigin in einer Art irdischen Minnedienstes. Die gefährlichen Wurfgeschosse der kämpfenden Engel sind Rosen aus den Händen begnadigter Sünderinnen, die im Erdenleben 61
viel geliebt haben. - Erlösung im christlichen Sinne ist Befreiung von Schuld und irdischen Gebrechen, im humanistischen Sinne Befreiung vom Bann der Zauberei und Zurückführung zu echter Menschlichkeit, im Sinne des Naturmythus Errettung aus Dumpfheit, Verworrenheit und Irrtum zu Reinheit, Klarheit und Frieden. Das „Dämonische" ist im christlichen Sinne das Widergöttliche, im antik-heidnischen das Göttliche, und endlich sind Dämonen Naturgeister. Mephisto ist christlidier Teufel, gefühlloser Dämon und endlich kosmisches Prinzip von Zerstörung und Verneinung. Zu vergleichen sind hierzu die Kapitel 14 und 17 ff. über Goethes Mythenbehandlung. So scheint überall durch die Begriffe und Vorstellungen der Sinn des jeweiligen Mythenkreises hindurch. Am Ende aber werden die Handlungen im Ganzen behutsam zusammengefügt: Der „christliche" Höllenpakt erhält als Zugabe die Wette und wird in das humanistische Magierspiel eingefügt. Die erlösende Macht des humanistischen „Strebens" wird der christlichen Erlösung durch die göttliche Gnade eingeordnet, als Vorbedingung ihrer Aktualisierung, als Organ des Empfangens. Wenn „das edle Glied der Geisterwelt" in den diristlidien Himmel mit Madonna und Heiligen aufgenommen wird, so handelt es sich in Wirklichkeit um einen Prozeß, der durdi die naturphilosophischen Grundbegriffe „Entelechie" und „Metamorphose" bestimmt ist. Diese schließliche Angleichung hat aber zur Voraussetzung, daß vorher jeder Mythenkreis in seiner vollen Eigenart und Mächtigkeit ausgeformt ist. Das gilt in gleicher Weise von den drei verschiedenen Mythenkreisen wie von den drei verschiedenen Grundkonzeptionen der Dichtung und schließlich, worauf noch einzugehen ist, von dem dreifachen Charakter der Faustdichtung als menschliche Tragödie, als religiöses Mysterienspiel und als ironische Weltschau. Welche Verwirrung durch die Zurückdatierung späterer Faustentwürfe in die früheren entsteht, ist oben in Kapitel 1, S. 24 f gezeigt worden. Es entspricht in jedem Falle dem Grundcharakter von Goethes Dichtungsweise, mit höchster Pietät die großen gegebenen Mythenmotive in ihrer Eigenart zu erschöpfen, ihnen zu dienen, sich hineinzufühlen. Durdi diese Teilung und Differenzierung erhält die gesamte Schau erst ihre volle Lebendigkeit. Die Logik und die einheitliche Linienführung sind nicht die erste Sorge des Dichters. Man beobachtet einen Doppelprozeß: zuerst den einer Differenzierung, dann hinterher den einer großzügigen Integrierung. Das Kühnste an Synthese hat der Dichter in der „Integrierung" von Tragödie, Mysterienspiel und Komödie geleistet, bei denen es auf der Hand liegt, daß eins das andre auflösen und zerstören müßte, wenn es dessen inneren Aufbau beeinflußte. Erst die aus62
geformten Gegensätze treten - als Gegensätze - in eine enge polare Verbindung wie Sünde und Gnade, Tragik und Erlösung. Neben der vorzeitigen Konfundierung der Mythenkreise ist der zweite Grundfehler der, daß man nur den einen Mythenkreis gelten läßt und die beiden anderen nach ihm hin auflöst. Begreiflich genug ist freilich dieser Irrtum, denn jeder Mythus wird mit solcher Überzeugungskraft, Wärme, ja Leidenschaft vertreten, daß er alles zu tragen ausreichend erscheint. Über den christlichen Mythus ist kein Wort zu verlieren; mit ihm steht und fällt das Ganze. Aber wer empfände nicht auch die hinreißende Madit des Humanitätsglaubens, des Vertrauens auf die reine Menschlichkeit, die im engsten Kreise das Größte schafft, die Theodizee der Schöpfung im Menschen, der sich noch in den letzten liefen deutlich vom Dämon scheidet! Diesen Humanitätsglauben nehmen die großangelegten Forschungen von H. A. Kor ff zum Fundament, wobei aber das ursprüngliche christliche Element unterschätzt wird. H. Richert geht in gleicher Richtung sogar so weit, daß er nur die „humanistische" Wette gelten läßt und den Höllenvertrag wegexegisiert. Aber was ist ein Faust ohne Höllenpakt? Wiederum, wer empfände nicht die ungemeine Bedeutung der Naturphilosophie und des Naturglaubens für Goethe und Faust? Begreiflich, daß hervorragende Forscher wie W. Emrich und H. Danckert hier Anker geworfen haben und Goethe als Typus des chthonischen Menschen feiern. Aber Emrich leugnet von hier aus Goethes tiefe Verbundenheit mit dem gewaltigen und ganz eindeutigen christlichen Begriff der Gnade: Gnade hänge „bei Goethe sogar eher mit dem Heroisch-Dämonischen als mit dem Demütig-Empfangenden des christlichen Gnadebegriffs zusammen". (Die Symbolik in Faust II, S. 492.)
Dies alles sind Einseitigkeiten. Es ist gerade die Eigentümlichkeit der Goetheschen Denk- und Dichtungsweise, sorglos die verschiedenen "Weltanschauungen, Überzeugungen und Mythen nebeneinander stehen zu lassen. Der Dichter will Anschauungen geben, Symbole, Bilder, Analogien, nicht einwandfreie Logik. II. Die positive und negative Sicht Noch unmittelbarer tritt die erwähnte Doppeldeutigkeit darin hervor, daß wie der Volksmund sagt, ein jedes Ding „seine zwei Seiten" hat. Man kann jedes Ding, jede Erkenntnis, jeden Menschen und jede geistige Bewegung von der günstigen oder von der ungünstigen Seite betrachten, von der positiven oder von der negativen. So spridit man etwa von der „Aufklärung" in einem großen, weiten oder in einem kleinen, engen Sinne; und entsprechend von ihrem Gegenstück, dem „Pietismus". Beide haben eine große, begeisternde, und eine verengte, 63
dürftige Form. Geschichtlich betrachtet: sie haben Aufstieg und Blüte, aber audi Verblühen und Welken. Dadurch nun, daß für die große und kleine Form dennodh der gleiche Name gebraucht wird, entstehen Zweideutigkeit und Verwirrung. Spricht man von Begriffen wie Liebe, Sehnsucht, Freiheit, Streben, Erlösung, so muß immer erst eine Bestimmung hinzugesetzt werden. Liebe - zu welchem Wert? Sehnsucht nach welchem Ziel? und so fort. Dahin gehört insbesondere die schon erwähnte, f ü r die Faustdichtung so bedeutsame Doppeldeutigkeit von „Streben". Dieser Alternative, ob der große oder der kleine Sinn gemeint sei, unterliegen sämtliche tragenden Grundbegriffe der Dichtung: Tragik, Ironie, Religion, Magie, Menschlichkeit, Notwendigkeit. So äußert Goethe gelegentlich zu Riemer: „Die große Notwendigkeit erhebt, die kleine erniedrigt den Menschen." Der letzte Maßstab für die Charakterisierung des „Großen" und „Kleinen" ist der Gegensatz von Realismus und Idealismus (Schiller), Poesie und Prosa des Lebens (Schiller, Goethe), Begeisterung und Nüchternheit, Mensch und Dämon. Wir haben hier die geheime Triebfeder vor uns, die das gesamte Räderwerk der Dichtung in Bewegung setzt und die alle tragischen Verwicklungen knüpft und löst. Sie betrifft auch die verborgene unterirdische Verbindung zwischen Fausts Schuld und Erlösungswürdigkeit. Seine Schuld ist das „Streben" im niedrigen Sinne; und der Erlösung würdig macht ihn wiederum das „Streben", aber in einem hohen, positiven Sinne. So erklärt sich auch der Sinn jener oft als dunkel und widersprechend empfundenen Äußerungen im Faust von der „Speise, die nicht sättigt", von dem „Taumel", dem „schmerzlichen Genuß". Der Schöpfer der Faustdichtung ist ein Denker, der sehr scharf und genau zu überlegen und sauber zu unterscheiden weiß; als Dichter aber ersieht er seinen Vorteil darin, die Logik zu vernachlässigen, die bekannten Begriffe unscharf und mehrdeutig zu verwenden, die positive und negative Bedeutung unversehens ineinander übergehen zu lassen. Vgl. das Analoge bei den zwei verschiedenen religionsphilosophischen Entwürfen der „Pädagogischen Provinz", vgl. „Goethe als religiöser Denker" S. 128 f. Der Dichter will die Phantasie seiner Leser in Bewegung setzen, ihr eignes Nachdenken anregen, damit sie die Motive aus sich selbst heraus variieren und weiterspinnen. Er ist geradezu ein Schelm, der seine Leser überlistet, wie ein erfindungsreicher Märchenerzähler die Phantasie gefangen nimmt. Denn eben dadurch, daß er die positive und negative Bedeutung unter gemeinsamem Namen zusammenfaßt, gelingt es der logischen Contrebande, die Zollsperre unbehelligt zu passieren. In intimen Äußerungen bekennt der Dichter 64
sidi ganz offen zu diesem Kunstgriff. Es habe ihm von je Spaß gemacht, das Publikum zum besten zu haben. Von Faust wie von dem Märchen pflegt er zu sagen, das Ganze solle die Menschen immer wieder anlocken wie ein unaufgelöstes Rätsel, ein „offenbares Geheimnis"; je inkommensurabler, um so besser! Bei seinem Faust will er dafür sorgen, „daß das Ganze gleich einem unaufgelösten Problem die Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder anlockt." Es geht ihm nicht um Logik oder Unlogik. Das Recht zu jenem auffälligen Verfahren sieht er darin, daß die positive und negative Seite in der Wirklichkeit des Lebens ebenfalls zusammenhängen und leicht ineinander übergehen können. Wir sahen es oben an dem Beispiel von Aufklärung und Pietismus. Hier im Faust aber geht es um eine andre Wirklichkeit, um das Menschenherz in seinem Auf und Nieder, um die Menschennatur in ihrer ewigen Gespaltenheit, die dem Guten ebenso offen ist wie dem Bösen. Der Gegensatz einer positiven und negativen, einer „kleinen" und einer „großen" Auffassung derselben Erscheinung begegnet hier aber auch innerhalb eines jeden der drei Gebiete. Es gibt eine negative, zersetzende Ironie, und ihr gegenüber eine positive, hinter der sich ein Glaube verbirgt. Es ist der Gegensatz von Mephisto und Faust, von Mensch und Dämon. Audi im Bereich des religiösen Glaubens gibt es eine große, lebendige Form und eine kleine, in sich erstarrte Form. Endlich kann man Tragik verstehen in einem einschränkenden, niederdrückenden Sinne als äußerste Not und ausweglose Verstrickung eines an sidi Edlen, oder in dem positiven, konstruktiven Sinne einer „großen" Tragik, die als solche schon den Keim der Erleuchtung und Erlösung in sich trägt, ohne freilich ihre Träger vor Untergang und Verderben schützen zu können. Jedesmal ergibt sidi eine Mehrdeutigkeit der Ausdrücke, und es ist, um Mißverständnisse zu vermeiden, streng darauf zu achten, ob jeweils der positive Vollsinn gemeint ist oder der „kleine". Gerade auf die dem Menschlichen selber immanenten Kräfte legt die Dichtung das höchste Gewicht, aber sie versteht dies Menschliche selber in dem „großen", dem Göttlichen gegenüber offenen Sinne, nie als Konkurrenz oder Gegensatz zum Göttlichen. Kann doch das transzendente, an sidi unerkennbare Göttliche selber dem Menschen nur in menschlicher Form, in menschlichen Symbolen und Vermittlungen faßbar werden! Das menschliche Gute, das sich in echter Liebe, verstehender und geduldiger Güte und dem niemals erlahmenden „Streben" zeigt, führt den Menschen auch in den äußersten Hefen und Verirrungen zu sich selbst zurück und scheidet ihn vom Dämon. Gott gegenüber aber bewirkt es ebenso wenig eine Vergebung der 5
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Schuld und eine wirkliche Erlösung, wie auch die seligste Erfahrung der Schönheitsharmonie diese zu bringen vermag. Euphorion bridit mit elementarem Sehnsuchtsschrei aus dem Zauberbann dieser Scheinwelt heraus. Wirkliche und endgültige Erlösung ist Sache der göttlichen Gnade und nur die ihre. Sie kann mit keiner andren Instanz teilen. Auf dialektische Schwierigkeiten, wie das Verhältnis der göttlichen und der menschlichen Güte zu denken sei, läßt sich der Dichter nicht ein. Für ihn gilt die große innere Schau: „So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide Sind ein Abglanz jenes Urlidits droben, Das unsichtbar alle Welt erleuchtet."
III. Die vier Möglichkeiten der Faustdeutung Das Kernproblem und der ganze Verlauf der Handlung hängt aufs engste zusammen mit dem Begriff des „Strebens". Die Zweideutigkeit, welche diesem Ausdruck bei Goethe anhaftet, ist in jüngster Zeit zum Angelpunkt einer scharfsinnigen Analyse und einer originellen Faustdeutung gemacht worden. Vgl. Dr. Erich Heller, (Swansea Wales), „Die Zweideutigkeit von Goethes Faust," übers, aus dem Englischen, Hamburger Akademische Rundschau, 1949, S. 617 ff. Diese in vieler Hinsicht ausgezeichnete Arbeit ist aus methodischen Gründen besonders geeignet, uns als Ausgangspunkt zu dienen. H. findet an den drei „potentiellen Tragödien" Iphigenie, Tasso und Faust Goethes Selbstbeurteilung bestätigt, ihm fehle der Zugang zur eigentlichen Tragödie. (Über das sachliche Problem siehe u. Kap. 6.) Seine Schranke liege „in der Schrankenlosigkeit seines Genies". Aus den intendierten Tragödien würden regelmäßig lyrische Meisterwerke, aber vor dem eigentlich Tragischen versage der Dichter. Er verkünde in herrlichen Hymnen eine Schönheit und Vollendung des Lebens, welche diesseits, nicht aber jenseits der Tragödie liege; „und nur dort ist der Platz eines allerletzten ,Es ist gut'". Goethe übersetze Ernst und Wucht des griechischen wie des christlichen religiös-tragischen Mythus in den leichteren mythischen Bereich moderner Naturfrömmigkeit bzw. Humanitätsreligion. Sei indes der Fluch des Tantalidenhauses eine Wirklichkeit, ebenso wirklich wie Macbeths Mord, dann genüge als Erlösung nicht „die heilende Darreichung reiner Menschlichkeit". Die Lösung werde dramatisch unwahr. Goethes tragische Helden erlebten keine wahre Katharsis, sondern in Traum und Schlaf eine Wiedergeburt aus den Heilkräften der Natur. So werde auch die Faustdichtung, noch viel gewaltiger als jene Dichtungen in ihrem tragischen Anspruch, ein herrliches lyrisches Ge66
dicht, versage aber durchaus vor dem Tragischen. Hier herrsche eine ungeheure Verwirrung, „der vier Generationen von Faust-Deutern nicht gewachsen waren, ja nicht einmal Goethes eigene Fähigkeiten als Kommentator - wenn wir Eckermanns Zeugnis Glauben schenken wollen". Heller glaubt eine sensationelle Entdeckung gemacht zu haben, die nämlich, daß der ganzen Dichtung ein großes Mißverständnis zugrunde liege. Der Dichter Goethe dränge den Logiker beiseite. Er hat zwei verschiedene, ja entgegengesetzte Begriffe von „Streben" zur Verfügung, von denen er je nach Bedarf Gebrauch macht. Fausts Schuld besteht in seinem „Streben" in negativem Sinne, seine Erlösung in seinem „Streben" in positivem Sinne. Und die ganze Dichtung hindurch geht dies muntere Spiel des Vertauschens, bis in der Schlußszene mit der großen Freiheitsvision die Konfusion vollkommen wird und höchstes Pathos und beißende Ironie, Begeisterung und Gericht sich stilwidrig vermengen. Von Faust und seinem Ende heißt es bei Heller: „Er mußte erlöst oder verdammt werden, denn Himmel und Hölle waren dank dem legendären Vorbild aufgerufen. Wie nun aber: Gnade ohne Reue und Sühne für einen Erzsünder wie Faust? Ist Faust überhaupt schuldig oder war er sich die ganze Zeit des rechten Weges bewußt? Und wenn schuldig, was ist seine Sünde? Der ruhelose Geist. Was ist seine Erlösung? Der ruhelose Geist. Die Verwirrung kommt, so scheint es, von einer unaufhörlichen gegenseitigen Durchkreuzung von strebenden Bemühungen grundverschiedener A r t : dem Streben nach Frieden und dem Streben nach Selbsterfüllung im Lebensrausch."
Daraus, daß beide Arten von Strebungen sich im Verlauf der Dichtung unaufhörlich gegenseitig ins Gehege geraten, ergibt sich das ständige Schwanken des Helden zwischen den sittlichen Forderungen und der frevelhaften Hingabe an Rausch und Magie. Diese klare und völlig überzeugende Herausarbeitung des Problems ist ein unbestreitbares Verdienst des genannten Forschers, der sich dadurch aus der großen Zahl der konventionellen, sei es verherrlichenden, sei es verdammenden Deuter heraushebt, vor allem aber den Halbheiten und Verlegenheitsausreden den Weg abschneidet. Indes so verdienstvoll und treffend die Fragestellung ausgearbeitet ist, die Auswertung seiner Entdeckung im negativen Sinne ist verfehlt. Wir brauchen dafür nur auf die vorangehenden Abschnitte I und II zu verweisen. Goethe ist keineswegs das unfreiwillige Opfer einer logischen Begriffsverwirrung geworden, sondern hat nach sorgfältigen Überlegungen und mit vollem Bewußtsein verschiedene Bedeutungen und Tendenzen in einem einheitlichen Begriff oder genauer in einem gemeinsamen sprachlichen Ausdruck miteinander verbunden, wie er in ähnlich unbekümmerter Weise auch die drei verschiedenen Mythenbereiche, nachdem er 5.
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jeden in seinem eignen Licht hat aufleuchten lassen, als Ganze vorsichtig einander genähert und angepaßt hat. Es lag seiner Absidit fern, Naturmythus und Humanitätsreligion an die Stelle der ursprünglidi tragenden und von dem Fauststoff nicht wegzudenkenden christlichen Grundbegriffe zu setzen. Wer den Höllenpakt schloß, der kann durch kein noch so hohes menschliches Streben erlöst werden, sondern allein durch die göttliche Gnade. Das „Streben" aber im Sinne des sich Hinneigens nach dem Höheren, ist die Vorbedingung und Voraussetzung für die Wirkung der Gnade. Vgl. unten Kap. 6, I I I die Unterscheidung der Erlösung vom Tragischen und der Erlösung im Tragischen. Im Hintergrund aber liegt, allem juristischen und moralisierenden Richten feindlich, dagegen mit dem christlichen Gedanken der alles vergebenden göttlichen Gnade nahe verwandt, die mächtige und dem Dichter von Jugend auf vertraute Naturfrömmigkeit. Jene „Zweideutigkeit" aber sieht ganz anders aus, je nachdem, ob man sie rein logisch als begrifflichen Widerspruch sieht oder als Ausdruck einer in sieb gespaltenen Wirklichkeit. Goethe hat den wirklichen Menschen im Auge, welcher gleichermaßen dem Himmel wie der Erde und ihren Niederungen verhaftet ist. Daher wechseln in der Dichtung gottloses und wildes Vorwärtsstürmen mit kurzen Stationen der Besinnung und Sammlung, bis zuletzt die Sorge die Generalrechnung präsentiert und der Sterbende, sein verfehltes Leben bereuend, in einer glänzenden Zukunftsvision das Bild seines Lebens schaut, wie es hätte sein sollen. Hier gehen Pathos und Ironie, Wahn und Erleuchtung durcheinander in der großen Wahnsinnsszene, auf die an anderer Stelle einzugehen ist. Vgl. Kap. 7, I V . Von diesem zentralen Problem der „Mehrdeutigkeit" der Begriffe aus ergibt sich eine weite Sicht, in welcher sich die verschiedenen Möglichkeiten der Faustdeutung überblicken lassen. Es sind, von belanglosen Kompromiß versuchen und Varianten abgesehen, vier, nicht weniger, nicht mehr. Die Eingruppierung aber erfolgt unter dem Gesichtspunkt, wie das „Streben" Fausts aufgefaßt wird, der Höllenpakt und die Wette, wie die Gesamtstimmung der Dichtung beurteilt wird, als tragisch-pessimistisch, oder gläubig-optimistisch. Dies alles konzentriert sich in der Schlußszene von Fausts Freiheitsvision und Tod, deren Auslegung für die Gesamtauffassung der Dichtung entscheidend ist. Die vier Deutungsmöglichkeiten aber sind folgende: - I -
Die vulgär-optimistische Deutung des kulturfrohen 19. Jahrhunderts, der „Perfektibilismus". Diese Deutung erblickt in Faust das Vorbild 68
echten Menschentums, den „faustischen Menschen", zugleich meist auch das getreue Abbild des Dichters selber. Dieser Faust schreitet durch alle Gefahren und Verirrungen mit sicheren Schritten seiner Vollendung entgegen, die ihm denn auch am Schluß von höchster Stelle als wohlverdienter Lohn für sein tapferes Verhalten zugesprochen und bestätigt wird. Hier wird alles Düstere, Unheimliche, Hintergründige, Negative unterschlagen, sowohl die herbe Tragik und die grausame Ironie des Geschehens als auch der unerbittliche Ernst der christlichen Grundbegriffe von Verantwortung und „Heil der Seele", Schuld und Erlösung. An Stelle der Erlösung durch unverdiente göttliche Gnade tritt hier eine „Selbsterlösung". Die beherrschende mythische Grundlage dieser Deutung ist ein unbeschwerter humanistischer Optimismus und Weltglaube. Fausts Tod ist zugleidi seine Verherrlichung, seine begeisterten Schlußworte vom freien Volk auf freiem Grunde sind die Quintessenz des Ganzen, „der "Weisheit letzter Schluß", das persönliche Bekenntnis und feierliche Vermächtnis des Dichters. -IIDas Gegenteil dieser optimistischen Deutung ist die tief pessimistische, welche in der Gegenwart, insbesondere bei katholischen Autoren, unter dem Eindruck der nationalen Katastrophe an Boden gewinnt: Faust ist vom Dichter selber nicht als Musterbild, sondern als abschreckendes Beispiel gedacht, ähnlich wie in den alten Volksbüchern, das Symbol unserer Verirrungen, unserer Verbrechen, unserer Untergänge. Diese Auffassung stimmt im wesentlichen überein mit der schon 1933 in Halle erschienenen Kampfschrift von Wilhelm Böhm, „Faust der Niciitfaustische", welche überzeugend und mit schonungsloser Schärfe die Unzulänglichkeit jener optimistischen Deutung entlarvt und allen Nachdruck auf die negativen Faktoren legt, die Tragik und die Ironie. Leider schlägt hier der Pendel nun ebenso weit nach der entgegengesetzten Seite aus, alles wird beherrscht von Polemik, Negation, Ressentiment; es fehlt die Unbefangenheit des Urteils. Am Ende erscheint die ganze Dichtung fast wie eine einzige Satire. Das begeisterte Pathos des sterbenden Faust wird nicht anerkannt. Es kann nur als hohle Deklamation gelten, da die wirkliche Gesinnung und die Taten Fausts ihm widersprechen. Die Szene ist getränkt von verstecktem Hohn und Ironie. Vgl. auch Werner Deubel „Der deutsche Weg zur Tragödie", 1935, Seite 58 ff. „Faust als Warnung". -IIIAuf eine völlig neue Grundlage wurde das Problem gestellt durch die oben erwähnte Studie von Erich Heller, „Die Zweideutigkeit von 69
Goethes Faust", Hamburger Akad. Rundschau 1949. Hier wird in scharf sinnigen Erörterungen überzeugend nachgewiesen, daß Goethe im Faust den Ausdruck „Streben" in sehr verschiedenem Sinne braucht, und die These verfochten, daß er nur um den Preis einer groben logischen Verwirrung zum Anschein einer tragischen Verwicklung und Lösung gelange. Goethe versage hier wie anderwärts durchaus vor der Aufgabe des Tragikers. Sein Faust sei keine Tragödie, sondern ein lyrisches Gedicht. Die Konfusion mit der Doppelbedeutung des Begriffs „Streben" ziehe sich durch die ganze Dichtung hin, erreiche aber ihren Höhepunkt in der Sterbeszene Fausts, wo echtestes Pathos sich mit schneidender Ironie stillos vermenge. Diese in sich geschlossene und charaktervolle Deutung gleicht darin der vorgenannten von Wilhelm Böhm, daß sie in der Herausarbeitung der Fragestellung außerordentlich verdienstvoll, in der Polemik durchaus überzeugend und glücklich ist, daß sie dagegen vor dem positiven, konstruktiven Aufbau versagt. Wer möchte es im Ernst einem Goethe zutrauen, daß dies gedankenschwere und sorgfältig durchdachte Werk auf einem logisdien Irrtum aufgebaut sei? -IVDie vierte Deutungsmöglichkeit ist die in der vorliegenden Untersuchung vorgetragene. Sie teilt mit der vorgenannten von E. Heller die grundlegende Erkenntnis von der Doppelsinnigkeit des „Strebens" und verwirft damit zugleich die beiden erstgenannten radikalen und einseitigen Deutungen I und II. Sie versteht diese Doppelsinnigkeit aber nicht negativ, als einen Mangel, eine unbeabsichtigte Entgleisung des Dichters, sondern positiv, als den bewußten und wohl berechneten Kunstgriff, durdi den er der tragischen Verkettung des Lebens und der zwiespältigen Natur der Faustgestalt beizukommen sucht. Mit der von Heller beobachteten auffälligen und paradoxen Mischung von Pathos und Ironie, Begeisterung und Wahnsinn in der großen Sterbeszene am Schluß hat es durchaus seine Richtigkeit. Weit entfernt aber, daß sie dadurch entwertet würde, erhebt sie sich eben dadurch zu einem Gipfel jener hohen Tragik, welche in ähnlicher Weise wie in Shakespeares Wahnsinnsszenen durch Einfügung objektiver Ironie die stärksten tragischen Erschütterungen hervorbringt. Während jede der früheren Deutungen nur von einer der drei Mythengrundlagen ausging, die beiden anderen vernachlässigend, setzt die hier vorgetragene Deutung gleichmäßig alle drei Mythenkreise ins Spiel, wie sie in analoger Weise auch den drei verschiedenen Grundkonzeptionen der Dichtung sowie ihrem dreifachen Grundcharakter als 70
Tragödie, Mysterienspiel und ironischer Weltschau gerecht werden will. Dabei ergibt sidi ein neues Bild der Faustgestalt und der ganzen Dichtung; eine neue Sidit, in welcher wesentliche, niemals überwundene Auslegungsschwierigkeiten sich in überraschender Weise lösen. Die verwickelte Entstehungsgeschichte der Dichtung führte den Dichter zu inneren Widersprüchen, deren Überwindung ihm große Schwierigkeiten bereitete, die er aber am Ende so zu lösen sucht, daß er aus der Not eine Tugend macht und die verschiedenen Einzelkonzeptionen, ohne ihre Eigenart auszulöschen, zu einer letzten Einheit zusammenfügt. Aufgabe der folgenden Untersuchung wird es sein, das Recht dieser These im einzelnen zu erweisen und ihre Leistungsfähigkeit an den Einzelproblemen zu erproben.
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I. T R A G I K
Kapitel 6
Goethe als Tragiker 1. Tragik der Innerlichkeit Daß der Dichter des Werther und Tasso, der Mignontragödie und der Wahlverwandtschaften dem Tragischen besonders offen ist, bedarf keiner Worte. Um so mehr muß es auffallen, daß er selber sich in oft angeführten Äußerungen die Anlage zum tragischen Dichter abgesprochen hat. So Zelter gegenüber, seine Natur sei für das rein Tragische zu konziliant, und Schiller gegenüber, er fürchte, schon der bloße Versuch einer Tragödie könne ihn zerstören. Um den Kern des Richtigen, das zweifellos auch in dieser Selbstbeurteilung liegt, zu erkennen und richtig abzugrenzen, bedarf es einer Besinnung auf den Gesamtcharakter seiner Poesie, die nie auf äußere Handlung und dramatische Spannung, sondern stets nur auf das Innere, die Gemütsstimmung eingestellt ist. Goethe ist durchaus und immer wesenhaft Lyriker, auch in den Dramen und Romanen. Die Themen seiner Dramen aber bilden nicht schicksalhafte Verwicklungen des äußeren Lebens, sondern aller Nachdruck liegt auf ihrem Echo im Menschenherzen. Er ist mit den tragischen Hintergründen des Lebens so vertraut, daß er sie nur ungern noch besonders aufsucht. Er stellt sie jeweils - wie in den Tantalidengreueln der Iphigeniedichtung - zu Beginn als Ausgangspunkt hin mit dem ausgesprochenen Ziel, sie zu überwinden und die erlösenden Kräfte desto überzeugender ins Spiel zu setzen. Nicht um Schicksalsschläge und äußere Situationen geht es, welche die Menschen bedrängen und ihre Gottverlassenheit erkennen lassen, sondern das ganze Gewicht liegt auf dem inneren subjektiven Gefühl dieser Verlassenheit oder Verbundenheit. Alles Glück liegt in der Zuversicht des Glaubens, alles Unglück in Zweifel und Unglaube. Der Mangel dieses festen Glaubens an Gott - und damit zugleich des Glaubens an sich selbst - , macht das eigentliche Unglück Werthers und Fausts aus, das des Epimenides und des Harfners: 75
„Ich darf reden, denn ich habe gelitten wie keiner, von der höchsten, süßesten Fülle der Schwärmerei bis zu den fürchterlichen Wüsten der Ohnmacht, der Leerheit, der Vernichtung und Verzweiflung, von den höchsten Ahnungen überirdischer Wesen bis zu dem völligsten Unglauben, dem Unglauben an mich selbst." W . M . L e h r j . B. VIII, 9.
Orest wird im Grunde nicht von fremden Rachegeistern verfolgt; die Hölle ist in ihm selber, in seiner Schwermut, in dem Mangel an Selbstvertrauen und Gottvertrauen. Dem entspricht seine Heilung: dadurch, daß Iphigenie ihre eigne Zuversicht und Glaubenskraft ausstrahlt und auf ihn überträgt. Ebenso steht es mit Fausts verzweifelten Klagen zu Beginn der Dichtung, mit dem unheimlichen Kampf, den er am Schluß mit der Sorge in seinem eignen Innern auszufechten hat. Die in diesen seelischen Stimmungen erlebte Tragik ist an sich schon so mächtig, daß es keiner besonderen äußeren Verwicklungen bedarf, dichterisch hohe tragische Wirkungen auszulösen. Kommen diese dennoch hinzu wie bei den Entwürfen von Elpenor oder Nausikaa, so ergibt sich ein Überschuß, der den Dichter bedrängt und dessen Bewältigung er sich bei der Weichheit seines Empfindens in späteren Jahren nicht mehr zutraut. In diesem Sinne ist seine Selbstbeurteilung durchaus ernst zu nehmen. Wie könnte man ihn sich als Dichter von Tragödien in der Art von Shakespeares Macbeth oder Othello denken! Daher beschränkte er sich auf die innere Empfindung des Tragischen und schuf sich seine eigene Form der Tragödie, eine „Tragödie der Innerlichkeit". In der Jugend war er auch vor der furchtbaren dramatischen Tragik der Gretchentragödie nicht zurückgeschreckt, und von hier ist der Name Tragödie auf die Gesamtdichtung übergegangen. Zwar sind größere Teile der späteren Dichtung auch Tragödie, aber ihre Tragik ist von anderer Art. Immer aber ist es so, daß der Dichter zugleich mit der Tragik auch schon das Erlösende im Auge hat. Er stellt an den Anfang der Iphigenie-Dichtung eine grauenvolle und ausweglose Tragik; aber seine ganze Liebe, Teilnahme und Mühe verwendet er darauf, aus diesen dunklen Tiefen sich zum Lichte hinzuarbeiten. Im Faust werden Tragik und Erlösung auf zwei verschiedene Dichtungen verteilt: Im menschlichen Bereich herrscht die unerbittliche Tragik - die freilich durch eine „Erlösung im Tragischen" und ohne Aufhebung der herben Tragik schon für die Erlösung vorbereitet wird, - im religiösen Weihespiel die erlösende göttliche Gnade. Beide dürfen nicht miteinander vermengt werden, schließen sich aber in ihrer Gegensätzlichkeit zu einer höheren polaren Einheit zusammen.
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II. Die Mittelstellung
des Tragischen
U m die Eigenart von Goethes Tragödie näher zu bestimmen und seine eigne Auffassung vom Tragischen genau kennenzulernen, vergegenwärtigen wir uns kurz Wesen und Grundformen des Tragischen. Tragisches Empfinden, in allen Variationen und Abwandlungen dennoch stets unverwechselbar, hat immer einen gemischten Charakter und trägt die Spannung zweier gegensätzlicher Tendenzen in sich. Der Mensch steht den „Grenzsituationen" gegenüber, die letzten Fundamente seines Lebens werden erschüttert, bis zu Tod und Untergang, aber in aller Trauer, in Leid und N o t erwacht in dem Herzen der Betroffenen wie der Zuschauenden doch ein Gefühl des Erhebenden, ja des Triumphes. Bloßes Unglück oder bloße Trauer sind nie tragisch, dazu werden sie erst durch jenes erhebende und den inneren Menschen aktivierende Moment. Erst recht geht die Tragik natürlich dann verloren, wenn die N o t nicht ausweglos ist und das Gefühl des Tröstenden überwiegt. Das Tragische hat immer irgendwie diese Mittelstellung, in weldier es sidi deutlich und klar von dem einen wie dem andren Extrem abgrenzt, beide miteinander verbindend, aber zu einer einzigartigen Steigerung des Lebens hinaufführend. Es ist im Grunde trotz bitterster Schmerzen eine Bereidierung und Intensivierung des Lebens, zu der nur starke und innerlich wertvolle Charaktere Zugang haben. Für die flache Mittelmäßigkeit gibt es keine Tragik. „In die Hölle des Lebens kommt nur der hohe Adel der Menschheit; die andern stehen davor u n d wärmen sich." (Hebbel.) Das Tragische ist wie das Wandern auf einem steilen, hohen Grat, von dem redits und links in die Irre f ü h r e n d e und abgleitende Nebenwege abgehen. Mit ungemeiner Klarheit u n d Besonnenheit hat Goethe diese Eigenart des Tragischen erkannt u n d beurteilt und deutlich auf die beiden möglichen Abgleitungen und Entstellungen hingewiesen. I n neuerer Zeit hat Karl Jaspers in gleicher Haltung ausführlich und in vorbildlicher Klarheit diesen Sachverhalt dargelegt. - Vgl. Von der Wahrheit, S. 944 ff., 957.
Diese Tragik findet sich schon unmittelbar im Leben selber. Der Dichter aber, dem das Leben als Material dient, hebt das hier Gegebene zu vollster Klarheit und zieht die undeutlichen Linien weiter aus. Ihm gibt seine dichterische Freiheit die Möglichkeit, die Schrecken der tragischen Verdüsterung zu einem äußersten Gipfel zu steigern, dennoch aber aus dem Dunkel ein versöhnendes Licht aufstrahlen zu lassen. Der Zusdiauer aber oder Leser, der sich in den Bann der Dichtung ziehen läßt, erkennt in den dargestellten Handlungen und Cha77
rakteren seine eignen Möglichkeiten; er wird im Innersten betroffen und fühlt sich getrieben, sein Leben zu ändern. Indem der Dichter jenes erhellende Moment, ohne welches es keine echte Tragik gibt, zu heller Flamme anfadit, weckt er in der tiefsten Trauer und Erschütterung ein Gefühl der Befreiung und des Triumphs. In diesem Sinne spricht der junge Nietzsche von dem „metaphysischen Trost", mit dem der echte Tragiker den Zuschauer entlasse: „Der Einzelne soll zu etwas Überpersönlidhem geweiht werden - das will die Tragödie; er soll die schreckliche Beängstigung, welche der T o d und die Zeit dem Individuum macht, verlernen; denn schon im kleinsten Augenblick, im kürzesten Atom seines Lebenslaufes kann ihm etwas Heiliges begegnen, das allen Kampf und alle N o t überschwänglich überwiegt - das heißt tragisch gesinnt sein." R. Wagner in Bayreuth.
Die Mittelstellung des Tragischen zeigt sich auch darin, daß es sich mit gleicher Entsdiiedenheit abtrennt von der erwähnten alltäglichen „Unter-Tragik" wie von einer metaphysischen „Über-Tragik". Manche Denker und Dichter haben sich, um die unbedingte Herbheit und Echtheit der Tragik zu retten, zu einer metaphysischen Tragik, einem Weltanschauungspessimismus, zu Spekulationen über die tragische Zerrissenheit des Universums und die Erlösungsbedürftigkeit Gottes hinreißen lassen, ohne zu bedenken, daß auf diese Weise das Tragische erst recht entleert und aufgehoben wird. Ein typischer Vertreter dieser Absolutierung ist Hebbel, der sich dafür eben auf Goethes Faust beruft. Vgl. den Brief v. 11.4.37 an Elise: „Liebes Kind, es gibt nur einen T o d und nur eine Todeskrankheit, und sie lassen sich nicht nennen; aber es ist die, deretwegen Goethes Faust sich dem Teufel verschrieb, die Goethe befähigte und begeisterte, seinen Faust zu schreiben; es ist die, die den Humor erzeugt und die Menschheit ... e r w ü r g t . . . , es ist das Gefühl des vollkommenen Widerspruchs in allen D i n g e n . . . es ist Erlösungsdrang ohne Hoffnung und darum Qual ohne Ende."
Hier wird in Goethes Weltanschauung und seine Dichtung eine Auffassung hineingetragen, die ihr fremd ist; der Denker erliegt einer Gefahr, die Goethe klar gesehen und jederzeit vermieden hat. Er wahrt vielmehr im Dichten wie im Denken scharfsinnig und besonnen unter allen Umständen die feine Grenzlinie, welche das Tragische einerseits von einem metaphysischen Pessimismus, andererseits von einem alltäglichen Optimismus der Versöhnung trennt. „Sowie Ausgleichung eintritt oder möglich ist, schwindet das Tragische." Zu v. Müller, 6. 6. 24. „Geheilt will ich nicht sein, mein Sinn ist mächtig, D a war ich ja wie andre niederträchtig." „Denn Trost ist ein absurdes Wort, Wer nidit verzweifeln kann, der soll nicht leben."
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Vermittelnde Gestalten wie der „Mittler" in den Wahlverwandtschaften werden mit offenkundiger Ironie abgelehnt. Indes diese Verstrickung des Menschen in Leid und Schuld, so unvermeidbar sie im konkreten Falle auch sein mag, berechtigt nun und nimmer zu einer verallgemeinernden metaphysischen Tragik-Deutung. Wenn in der Verworrenheit menschlicher Zustände und Stimmungen auch kein befreiender Ausweg sich findet und menschliche Einsicht das Dunkel nicht zu durchdringen vermag, so folgt daraus dennoch nicht, daß Gott bzw. das Universum tragisch zerrissen sei. Goethe äußert sich darüber stets mit großer Klarheit, u. a. unmißverständlich in dem Berliner Prolog von 1821, wo er auf ein Mittleres zwischen christlichem Vorsehungsglauben und antiker Schicksalsgebundenheit hindeutet, eben auf das rein Menschliche als Bereich des Tragischen: „Nun aber, zwischen beiden, liegt so zart Ein Mittelglied von eigner, holder Art. Schicksal und Glaube finden keinen Teil, In reiner Brust allein liegt alles Heil: Denn immerfort, bei allem, was geschah, Blieb uns ein Gott im Innersten so nah; W o Erd' und Himmel sich im Gruße segnen, Dem Staunenden als Herrlichstes begegnen."
Damit ist zugleich schon auf die Mittelstellung des Tragischen in religiöser Hinsicht Bezug genommen. Mit vollem Recht weist auch Hebbel darauf hin, daß die Blüte der großen Tragödie immer mit einer weltgeschichtlichen religiösen Krise zusammenfällt. Das Tragische liegt zwischen Glauben und Unglauben, Verzweiflung und Vertrauen. Gebundene Zeitalter, die sich in einem bestimmten Glauben geborgen wissen, kennen keine Tragik, ebenso wenig wie ganz glaubenslose. Tragik wohnt in der mittleren Sphäre, wo die Sicherung des Glaubens verloren, der feste Boden gelockert, aber die Sehnsucht nach Glauben geblieben ist. Tragik und Religion stehen in einem unlöslichen Zusammenhang. Es gibt keine echte Tragödie ohne religiösen Hintergrund, und umgekehrt hat die Religion in ihren größten Erscheinungen immer irgendwie einen tragischen Einschlag. Zwar gibt es Grenzfälle, wo die Tragödie sich der positiven Religion oder der Religionslosigkeit nähert. In einer „christlichen Tragödie", wo um den Gottesglauben gerungen wird, ist die Frage nach Gott dennoch indirekt als „defizienter Modus" noch gegenwärtig; und analog da, wo in titanischem Trotz Menschen sich gegen die Gottheit auflehnen, dem Prometheus gleich. Goethe empfand die Tragik des Nibelungenliedes so furchtbar wegen der götterlosen Einsamkeit der Helden; es fehle der Reflex des Menschlichen, jene „doppelte Welt, die allein Lieblichkeit hat". So liegt
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im Werther die Welt Ossians unter dem Bann einer götterlosen Stimmung. Ebenso ist der scheinbar gottlose Schicksalsglaube der Antike, etwa in der Ödipustragödie, dennoch benachbart einem tiefreligiösen Gefühl der Ergebung in den unerforschlichen Willen übermenschlicher Mächte. Am stärksten aber äußert sich die religiöse Ergriffenheit in der Tragödie dort, wo in der verzweifelten Abkehr von Gott das Glaubensverlangen um so leidenschaftlicher durchbricht. Wer empfände das nicht in Goethes Dichtung, wenn der verzweifelnde Faust in der Osternacht sich von Gott abwendet, dennoch tief ergriffen von den himmlischen Klängen, oder wenn der Sterbende - mit einem Stachel im Herzen - Gott und Jenseits leidenschaftlich verflucht! III. Tragik und Erlösung Jenes erhellende Moment, welches Leid und Untergang erst eigentlich zum Tragischen erhebt, kommt am stärksten in der erlösenden Wirkung der Tragödie zum Ausdruck. Es ist unverkennbar, daß Goethes tragisches Dichten mit aller Macht stets auf eine Erlösung hinstrebt und daß er die düsteren Wolken des Fluches, der Not, der Verzweiflung nur deshalb heraufbeschwört, um die Gelegenheit zu bekommen, sie zu zerstreuen und das rein Menschliche in seinem Adel aufzeigen zu können. Diese Erlösung kann aber zwei Formen annehmen. Es gibt Dichtungen, die den Tragödien verwandt sind durch das Nebeneinander von Fluch und Erlösung, bei denen es sich aber nicht um die innertragische Erlösung handelt, sondern um eine Erlösung vom Tragisdien. Zu dieser Art gehören die Humanitätsdichtungen der Zeit, Lessings Nathan, Schillers Don Carlos und von Goethes Dichtungen Iphigenie, die Pariatrilogie u. a. Hier wird die erlösende Macht reiner Menschlichkeit gegen die finsteren Mächte des Mißtrauens, der Verkrampftheit, des Fanatismus aufgeboten. Der Dichter sucht hier zwar die Erlösung, aber nidit um den Preis der Abschwächung des Tragischen. Von dieser Erlösungsdichtung aber scheidet sich deutlich die Tragödie im eigentlichen und strengen Sinne, bei der es sich nicht um die Erlösung vom Tragischen, sondern im Tragischen handelt. Auch hier führt der Dichter mit vollem Bewußtsein in die letzten Tiefen von Jammer und Schuld, um durdi „tiefes Verderben ein menschliches Herz" zu zeigen; doch ist hier-anders als bei den Erlösungsdichtungen - sein kühner Plan, gerade durch Ausschöpfen der letzten Sdireckenstiefen und in diesen Hefen selber das Höllische, Gottfeindliche zu überwinden und gleichsam mitten im Tode selber den Funken eines neuen Lebens anzuzünden. In der Faustdichtung, dem größten Beispiel dieser Art, sind nach der Intention des Dichters die menschliche Tragödie und das Mysterienspiel 80
von der Erlösung streng auseinanderzuhalten, da, wenn dies nicht geschieht, das Verständnis heillos verwirrt und verbaut wird. Das Erlösungsspiel, die Rahmenhandlung, verkündet die Erlösung Fausts durch die göttliche Gnade; die menschliche Tragödie aber, die den eigentlichen Kern der Dichtung bildet, die Binnenhandlung, legt gerade durch die Rücksichtslosigkeit ihrer Tragik den Blick auf jenes rein Menschliche frei, für welches „Streben" ein unglücklicher und unserem Sprachgebraudi nach unzutreffender Ausdruck ist. Nicht um eine Leistung des Menschen handelt es sich dabei, nicht um ein zu erwerbendes Verdienst, sondern in genauer Analogie zu Luthers „Glauben" um das menschliche Organ zum Empfangen der Gnade. Die Gnade hebt die Schuld und die irdische Tragik nicht auf. Gerade dies, daß nichts als nur die göttliche Gnade die Erlösung bringen kann, unterstreicht besonders deutlich die Ausweglosigkeit der irdischen Tragik, ganz zu schweigen von dem sinnlosen Gerede einer „Selbsterlösung". Nun aber ist weiterhin, - neben der Unterscheidung zwischen Erlösungsdichtung und Tragödie - noch eine weitere Unterscheidung von Wichtigkeit, welche an dem Gegensatz der Tragödie Schülers und Goethes aufgewiesen werden kann und an die Argumente erinnert, mit denen die „Existenzphilosophie" der neueren Zeit die Thesen des Idealismus bekämpft und als unzulänglich abgelehnt hat. Es ist zu unterscheiden zwischen einer idealistischen Tragik der Erhabenheit und einer realistischen Tragik der Existenz. Die letztere hängt zusammen mit dem oben geschilderten Charakter ausgesprochener Innerlichkeit bei Goethes Tragödie. Die Tragik der Erhabenheit gehört in die geistige Welt Kants und Schillers, Fidites und Hegels, überhaupt des philosophischen Idealismus. Das Wesen des Menschen erscheint hier bestimmt von seiner Vernünftigkeit und Gottähnlichkeit; er ist autonome, mündige Persönlichkeit. Die Tragik ist hier herber, stolzer, männlicher, aber zugleich auch wirklichkeitsfremder; sie nimmt den Menschen in jedem Augenblick als absolut, als losgelöst von seiner Umgebung und Vergangenheit, mit der er doch in Wirklichkeit mit allen Fasern verwurzelt ist. Sie rückt ihn entscheidend unter die Beleuchtung des Ethischen, der eignen Verantwortung. Das Scheitern des Helden ist die Folge seiner Schuld, und diefErlösung hängt zusammen mit der Sühne dieser Schuld. So erhebend und heroisch indessen diese Tragödie auch wirken kann, so bedeutet sie doch gegenüber dem Vollbegriff des Tragischen eine Verengung und Verarmung. In der Entscheidung der letzten Not hebt sich der souveräne Geist über die trüben Nebel der Erdentiefen und alle „Angst des Irdischen" hinweg, den Menschen seinem Schicksal und 6
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seinem Untergang überlassend. Das Einzelne, Individuelle, Konkrete geht unter, während das Allgemeine, der Geist, die Idee triumphiert. Im Gegensatz dazu ist Goethes Tragödie begründet auf eine Tragik der Existenz. Für sie ist bezeichnend, daß jenes Erleuchtende, welches das bloße Unglück zur Tragik hinaufhebt, nicht im bewußten Geist, nicht im heroischen Wollen und Entschluß zum Erhabenen erscheint, etwa als die freiwillige Sühne einer Sdiuld oder als ein Sich-Hinausreißen über die Dürftigkeit und Unzulänglichkeit des Irdischen, sondern daß ungewußt und ungewollt die konkrete Gesamtexistenz davon betroffen wird. Hier gibt es keine Scheidung des Vergänglichen und Unvergänglichen, des Zufällig-Persönlichen und des NotwendigAllgemeinen, Geistig-Ideellen, und es schweigt das Drängen der ethischen Frage nach Schuld und Sühne. Es geht um die Totalität des Menschlichen, die im Glück in die höchsten Höhen der Seligkeit hinaufgetragen wird, im tragischen Zusammenbruch aber in die tiefsten Hefen von Leid, Jammer und Verderben absinkt. In der äußersten Not ist es nicht der Geist, welcher in seiner Erhabenheit triumphiert, nicht die Idee, welche siegt und dadurch auch die Sache des Menschen indirekt vertritt, es ist vielmehr die Natur, die den Menschen in Schutz nimmt. Und es entspricht dem unwillkürlichen natürlichen religiösen Gefühl, daß der Mensch nicht in dem stolzen Bewußtsein geistiger Würde und Mündigkeit diesen Sturm besteht, sondern in Demut vor dem über ihn Verhängten sich beugt. Daß er in seiner menschlichen Kraft versagt, versagen muß, ist f ü r ihn weder beschämend noch erniedrigend; es ist auch keine abgeschwächte oder geringwertige Form der Tragik, sondern im Gegenteil wegen der tiefen Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, die den Menschen in all seiner Unzulänglichkeit, in seiner vollen konkreten Wirklichkeit und Totalität des Sinnlichen und Geistigen erfaßt, eine noch tiefer greifende und den Zuschauer ergreifende Tragik. Und welcher Ausweg bietet sich nun dar? Wenn die tragischen Erschütterungen ihren Höhepunkt erreichen, wenn die bitteren Leiden und Qualen den Menschen überfluten, so daß er nicht mehr aus noch ein weiß, dann greift die Natur selber ein und schützt ihr gefährdetes Kind dadurch, daß sie es in Schlummer senkt, in einen tiefen, Vergessenheit bringenden Schlaf, in wohltätige geistige Umnachtung. Nie wäre dergleichen bei der erhabenen Tragödie denkbar. So werden bei Goethe Egmont, Orest, Faust, Gretchen, Ottilie in solchen Schlaf- oder Wahnzustand versenkt, in einen Schwebezustand zwischen Leben und Tod, einen Zustand der Entspannung und dennoch zugleich eines gesteigerten Innenlebens, in dem mit einem der ganze Weg ihres Lebens mit all seinen Verwicklungen und Verirrungen in hellstem Lichte vor 82
ihnen ausgebreitet liegt. Es ist ein Sidi-Bergen in tiefere Schichten des Seins, wobei der gequälte Mensch aus dem grellen, blendenden Lichte des Tages in ein erquickendes schattenkühles Dunkel tritt. Es ist eine heilsame, wohltätige Umnachtung, die zugleich eine innere Erleuchtung der Seele mit sich bringt und ihren Träger nicht minder wie den Helden der herosichen Tragödie über alle Angst des Irdischen hinweg in unerreichbare Höhen trägt. So ist es in den Wahlverwandtschaften, wo Ottilie, aus traumschwerem Schlafe erwachend, hellsichtig ihre Lage ausspricht: „Ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren . . . Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet..
Und ganz analog Gretchen in der Kerkerszene, und Faust zu Beginn und am Schluß von Faust II. Sören Kierkegaard, der leidenschaftliche Kämpfer für die Kategorie des „Einzelnen", hat die moderne, idealistisch-ethische Verengung des Tragikbegriffs beklagt: »Jedes Individuum, mag es auch zu den Originalen gehören, ist und bleibt doch immer ein Kind Gottes, seiner Zeit, seines Volkes, seiner F a milie, seiner Freunde, und hat erst hierin seine W a h r h e i t . . . Das T r a g i sche befaßt in sich eine unendliche Milde; ästhetisch ist es im Verhältnis zum Menschenleben, was im höheren Sinne die göttliche Gnade und Barmherzigkeit ist; ja es redet fast noch eine sanftere Sprache, so daß ich es mit einer Mutterliebe vergleichen möchte, welche das bekümmerte Kind in Schlummer einlullt. Das Ethische ist seiner Natur nadi streng und hart." Entweder Oder, Der Reflex des Antik-Tragischen in dem ModernTragischen.
Damit ist außerordentlich klar und treffend die Goethesdie Tragödie der Existenz charakterisiert, so streng und herb Kierkegaard auch sonst an Goethe und seinen Schöpfungen Kritik geübt hat. IV. Subjektive, objektive und individuelle
Tragik
Wir haben weiterhin drei Formen bzw. Stufen von Tragik zu unterscheiden, die von allgemeiner Gültigkeit sind, in Goethes Schaffen aber besonders klar hervortreten. Sie fließen in der Wirklidikeit des Lebens oft ineinander über, grenzen sich aber ihrem Wesen nach klar und bestimmt von einander ab. Wir unterscheiden eine subjektive Tragik, die dem stürmischen Drang der Jugend entspricht und den einzelnen Helden im Kampf mit Schicksal und Umwelt zeigt; sodann eine objektive Tragik, die dem Empfinden des reiferen Alters entspricht, dennoch aber eher noch herber und strenger ist als jene, die in den grellen Farben der Leidenschaft 6*
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gehalten ist; und endlich die Tragik der in sich gespaltenen Persönlichkeit, wo der tragische Konflikt in das Innere des Mensdien selbst verlegt ist. Die subjektive Tragik zeigt den Menschen, wie er kämpfend oder leidend seinem Sdiicksal und einer widerstrebenden Außenwelt gegenübertritt. Alles Recht ist auf seiner Seite, alles Unrecht auf der Gegenseite, wo meist nodi ein teuflischer Bösewicht seine Intrigen spinnt. Dem tragischen Helden allein gehört die Sympathie des Diditers wie des Lesers. So kämpft Schillers Karl Moor gegen die Menschheit, so leidet Goethes Faust an dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den Forderungen seines Innern und der äußeren Wirklichkeit, „ein Charakter, der mit glühender Empfindung ein Ideal umfaßt und die Wirklichkeit flieht, um nach einem wesenlosen Unendlichen zu ringen"; Schiller über Faust und Werther. So sah Goethe in Götz den wilden Selbsthelfer in anarchischer Zeit; so plante er die Tragödien von Prometheus und Caesar, Socrates und Mahomet. Die subjektive Tragik findet sich aber nicht nur bei den aktiven Revolutionären, sondern auch bei den weichen, empfindsamen Charakteren wie Werther oder Tasso, und bei den liebenden und duldenden Frauen, die durch ihre Liebe in schwere Konflikte mit der Außenwelt getrieben werden. Ganz anders die objektive Tragik. Hier haben auch die Weltmänner Antonio und Alba in ihrer Weise recht, und die sittliche Ordnung hat recht gegenüber den Liebenden, die sich über sie hinwegsetzen. Die liebenden Frauen stehen mutig zu ihrer Liebe, deren Recht ihnen die untrügliche Stimme des Herzens verbürgt, opfern sich aber freiwillig durch Anerkennung der Ordnung, an welche altgewohnte Frömmigkeit und Pietät sie binden. Auf dieser Tragikstufe ist nicht wie auf jener ersten das Recht auf der einen Seite, das Unrecht auf der anderen, sondern das Recht ist auf beiden Seiten. Es steht nicht Recht gegen Unrecht, sondern Recht gegen Redit. Mag der Dichter noch so leidenschaftlich in seinem persönlichen Gefühl und im Stillen Partei für seine Lieblinge nehmen, — er fühlt sich als Dichter dennoch über die Parteien erhaben, als Schiedsrichter von strenger Unparteilichkeit, als Anwalt der einen wie der anderen Partei. Die Wucht und Herbheit dieser Tragik kommt gerade darin zum Ausdruck, daß jeder Partner in seinerWeise ein unbestreitbar gültiges Ideal vertritt. Je überzeugender der Dichter das Recht des einen wie des anderen geltend und glaublidi machen kann, desto unausweichlicher wird die Tragik, desto größer die dichterische Leistung. Die antike Tragödie kennt zwar auch den Kampf des großen Einsamen mit dem Schicksal, daneben aber auch diese objektive Tragik mit ihrem „dop84
pelten" Recht. So stehen sich bei Sophokles Kreon und Antigone als Vertreter von Staat und Familie gegenüber, und in ihnen zwei absolute Rechtsansprüche, ja, zwei verschiedene Gottheiten. Es ist eine Hineindeutung modernen Empfindens in die antike Tragödie, wenn man im Sinn der subjektiven Tragik Kreon einseitig als unmenschlichen Tyrannen auffaßt, Antigone dagegen als reine Vorkämpferin echter Menschlichkeit. Diese objektive Tragik fand Schiller in der Antike wie bei Goethe und suchte sich in der zweiten Hälfte seines Schaffens ihr anzunähern. Und Goethe seinerseits hebt in einer Rezension des Wallenstein, die Wort für Wort auf seinen Faust anwendbar ist, hervor, der Dichter habe ein Doppeltes darzustellen gehabt: „den phantastischen Geist, der von der einen Seite an das Große und Idealische, von der andern an den Wahnsinn und das Verbrechen grenzt, und das gemeine wirkliche Leben, welches von der einen Seite sich an das Sittliche und Verständige anschließt, von der andern dem Kleinen, dem Niedrigen und Verächtlichen sich annähert." 7799.
Wenn bei dieser objektiven Tragik Recht gegen Recht steht, so scheinen zuletzt alle Maßstäbe zu wanken und in den menschlichen Partnern zugleich ideelle Mächte miteinander zu kämpfen. Aber das Göttliche und absolut Gültige tritt immer schon in große Gegensätze gespalten menschlich in Erscheinung, - vgl. unten Kap. 9 über die Tragik der „Einseitigkeit" in Goethes Altersdichtung - , und andererseits mischt sich bei den menschlichen Vertretern der Ideale immer ein trüber Zusatz von Leidenschaft und Ressentiment mit ein. Wir tragen, wie der Apostel sagt, „diesen Schatz in irdenen Gefäßen". Es ist die Tragik des Propheten, der sich zum Anwalt des Heiligen madit, daß in ihm das Himmlische „zu vergänglichen Schicksalen mit fortgerissen wird". Daneben das zweite Hauptmotiv dieser objektiven Tragik: wenn auch das Gefühl echter Liebe dem Schicksal der Vergänglichkeit nicht entnommen ist; wenn das Recht der Liebenden in Widerstreit gerät mit dem Gesetz der Gemeinschaft, ja mit Treue und Gewissen. Die Neigungen und Leidenschaften sind bei Goethe die höchste Blüte des Lebens, Schicksal und Freiheit zugleich. „Wir betrachten mit Ehrfurcht ein Gemüt, in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet worden." „Große Leidenschaften sind wie Krankheiten ohne Hoffnung. Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich." Wahlverw. II. 4. Der Dichter liebt mit ganzer, voller Liebe seine Gestalten, die mutig für ihre Liebe einstehen, Werther und Mignon, Gretchen und Ottilie, und dennoch schützt er sie nicht vor dem unerbittlichen 85
Gericht, dem sie verfallen. Er führt herzbrechenden Jammer auf sie herab, begleitet sie aber mit Trauer und inniger Teilnahme in Leiden, Schmach und Tod. Hier tritt der tief tragische Grundcharakter von Goethes Wesen und Dichten eindrucksvoll in Erscheinung. Damit berühren wir schon die dritte und höchste Stufe, die Tragik der Individualität, der Leidenschaft, der Genialität. Die Gestalten in Goethes Jugenddichtung sind geladen mit eigenem, selbständigem Gefühl und tragischer Spannung. Nur das Gefühl, die überwältigende „Fülle des Herzens" ist das Kennzeichen der Ursprünglichkeit und Echtheit, die letzte Instanz. „Unter allen Besitzungen auf Erden ist ein eigen Herz die kostbarste, und unter Tausenden haben sie kaum zween." Rezension von 1772. Nicht der Gegensatz von Gut und Böse ist mehr entscheidend, sondern der von Ursprünglichem und Konventionellem, von Empfindungsfülle und innerer Leere. Das Schlimmste, das eigentlich Gefürchtete, ist das Stocken, der Mangel an Gefühl. Höchste Seligkeit aber ist das volle Einherbrausen des Gefühls, die freie Entfaltung des eigensten individuellen Ich in seinen Neigungen und Leidenschaften; und seien es statt der Seligkeit der Erfüllung auch Unseligkeit und bittere Schmerzen der Entsagung, das ist verhältnismäßig gleichgültig: „Alles geben Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz. Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz."
Die menschliche Natur ist in sich selber zwiespältig, dem Höheren wie dem Niederen offen, dem Guten wie dem Bösen. Die Leidenschaften aber, ethisch neutral und diese zwiespältige Anlage überdekkend, reißen die Menschen nach entgegengesetzten Seiten hin, als hätten sie zwei Seelen in ihrer Brust. Es bedarf keiner äußeren Zufälle und Schicksalsschläge, die tragische Zerrissenheit ist in ihnen selber angelegt. Diese genialen Menschen leben ganz aus der dunklen Fülle und unbewußten Tiefe ihres eigenen Wesens. In der Gewißheit eines unsichtbaren inneren Rufes drängen sie sich allen Gefahren zum Trotz unwiderstehlich einem noch unbekannten Ziele entgegen. Es sind herrische Gestalten wie Prometheus oder Mahomet, oder Frauen, welche aufgehen in ihrer Liebe und Hingabe, blind vertrauend auf die Stimme ihres Herzens, Gretchen und Ottilie, Mignon und Klärchen. Sie reifen zu wahrer innerer Größe heran in der Tragik ihrer Leidenschaft und überschreiten nur um den Preis des Lebens die selbstgesetzten Grenzen. 86
Man erkennt hier mit aller Deutlichkeit das Heraufkommen und Durchbrechen eines neuen Menschenideals, das der individuellen, freien Seele, die in unbegrenztem Vertrauen zu sich selber und ihrem eigenen Herzen lebt. Individualität und - als stärkster Ausdruck individuellen Lebens - Genie werden die Zauberworte der Epoche; und die Tragik dieser Stufe ist eine Tragik der Individualität und Genialität, der Leidenschaft und der inneren Zwiespältigkeit. Die Tragik all jener Gestalten um Faust herum, - Werther, Egmont, Tasso, - die ganz aus der Wahrheit ihrer Natur heraus leben und auf ihr Herz vertrauen, zeigt nun genau die Skala jener drei Tragikstufen. Der erste flüchtige Eindruck ist der, daß hier ungewöhnlich hochstehende geniale Ausnahmenaturen mit der Alltagswelt in Konflikt geraten und in diesem Konflikt unterliegen. So wirkt tragisch der Zusammenstoß Tassos mit Antonio, Egmonts mit Alba. In der Gretdien-Tragödie liegt es auf der Hand, daß das leidvolle Schicksal des Mädchens in Zusammenhang steht mit der dumpfen Enge ihrer sozialen Umgebung. H ö r t man aber aufmerksamer in die Dichtung hinein, so öffnen sich darüber hinaus die tieferen tragischen Schichten. Es handelt sich ja nicht um krankhafte oder zum Leben untaugliche Menschen; vielmehr hängt ihr Versagen zusammen mit der Gewalt der Leidenschaft, die sie erleben, mit der Größe der Begnadung, die ihnen zuteil wurde, mit dem hohen Wert der Güter, für die sie einstehen. Mit Trauer und Wehmut sehen wir in Tasso das Leiden einer Seele, die sich dem Höchsten gewidmet hat. Es ist die schicksalhafte Verbindung des Ewigen, Göttlichen mit der Zeitlichkeit seiner Verwirklichung und der Unzulänglichkeit seiner Träger. Die herbste Tragik ist nicht der Kampf des einzelnen Ausnahmemenschen mit dem Schicksal, auch nicht die Vergänglichkeit des Schönen, Vollkommenen, selbst nicht die objektive Tragik, welche in dem Zusammenstoß zwischen den Trägern verschieb dener Werte entsteht, - die schmerzlichste Tragik ergibt sich vielmehr dann, wenn der tragische Zwiespalt in das Innere des Individuums übergreift und es in sich selber spaltet. Es ist die Erkenntnis, daß die geniale Existenz schon als solche tragisch gefährdet ist. Man kann von einer besonderen Tragik des Genies sprechen. Werther bekennt: „Weh mir, ich fühle zu wahr, daß an mir allein alle Schuld liegt, - nicht Schuld! Genug, daß in mir die Quelle alles Elends liegt, wie ehemals die Quelle aller Seligkeit." Tasso hat am Hofe von Ferrara eine durchaus ihm gemäße und günstige Umgebung; er selber ist es, der sich sein Glück verscherzt. Fausts Genialität, Tassos Künstlertum, Egmonts Ursprünglichkeit, eben diese hohen Begnadungen und herrlichen Eigen87
Schäften selber sind es, die ihre Träger schweren Gefahren aussetzen und ins Verderben zu reißen drohen. Der Dichter streift hier, wo er die äußerste Grenze des ihm zugänglichen Tragischen erreicht, nahe an die metaphysische Tragik des Absoluten, ohne sie dennoch zu überschreiten. In allen Fällen bleibt Tragik für ihn etwas im Bereich des Menschlichen. Wohl gibt es seltene Glücksfälle, wo die Stimme des Herzens und die der ewigen Normen in Einklang miteinander stehen, wie in den Wahlverwandtschaften an dem Beispiele der „Wunderlichen Nachbarskinder" gezeigt wird. Aber die menschlichen Verhältnisse sind so verwickelt, daß auf der Höhe des Lebens um so leichter tragische Verwicklungen entstehen. Dann ist die erste Forderung, der Härte dieser Tragik nicht auszuweichen und alle minderwertigen Vermittlungen abzulehnen, wie sie in den Wahlverwandtschaften einerseits durch den „Mittler", andererseits durch die gewissenlosen Anwälte der „freien Liebe" angeboten werden. Es gibt Fälle, wo jeder Trost „niederträchtig" ist. Faust erklärt: „Geheilt will ich nicht sein, mein Sinn ist mächtig. D a w a r ' ich ja wie andre niederträchtig."
An dieser Stelle, wo von der Tragik des Genies die Rede ist, bricht unverkennbar das persönliche Bekenntnispathos des Dichters durch. Faust ist nicht Goethe, und seine religiöse Haltung sehr verschieden von der seines Schöpfers. Aber in jener Tragik klingt ein Unterton von Goethes eigener Existenz nach. Vgl. die letzten Worte Tassos, die in ihrer Ratlosigkeit und Fassungslosigkeit wie gewisse Arbeiten Michelangelos wirken, die deshalb unvollendet geblieben zu sein scheinen, weil eine weitere Steigerung des Ausdrucks nicht denkbar ist. Die Tragik der Individualität und Genialität ist von ungeheurer Wucht, ihre Schmerzen sind bitter, aber dennoch sind es Schmerzen, welche nur Lieblinge der Götter treffen und sie dadurch ehren und auszeichnen. Diese drei Grundformen des Tragischen, die in der Welt der Dichtung überall wiederkehren, spielen alle auch in der Faustdichtung ihre Rolle. Sie entsprechen im wesentlichen den drei Grundkonzeptionen dieser Dichtung, welche oben Kap. 1, III charakterisiert wurden. Sie sind ferner Analogien zu den drei Stufen der Ironie, der geselligen, der kämpferischen und der einsamen Ironie. Vgl. Kap. 12, II; weiterhin zu den drei religiösen Grundhaltungen gegenüber den überlieferten Mythen, vgl. Kap. 18, II. Die objektive Tragik entspricht der Unparteilichkeit und Objektivität von Goethes dichterischem Schaffen überhaupt, insbesondere auch jener religiösen Haltung, in welcher er sich zum Ausleger großer Mythen macht, welche er liebt und verehrt, ohne doch in 88
ihnen den letzten Ausdruck seines Glaubens zu finden. — Audi bei den drei Tragikformen gilt das gleiche Gesetz, das uns bei der Erschließung der Faustdichtung immer wieder begegnete, daß nämlich jedes oberflächliche Konfundieren die Einsicht trübt, daß vielmehr zuerst jede Einzelkonzeption in ihrer Eigenart verstanden und ausgeschöpft werden muß. Als einzelnes Beispiel sei die fehlerhafte Übertragung der subjektiven Tragik angeführt, die ihre eigentliche Heimat in der leidenschaftlichen Jugenddichtung hat. Hier steht Faust in gleicher Weise wie Prometheus und die anderen Revolutionäre in Kampf mit dem Schicksal, in Gegensatz zu seiner Umwelt. Unter diesem Aspekt pflegt man dann am Schluß eine Bekehrung Fausts zu konstruieren, eine Abwendung von seiner asozialen Gesinnung, vom Herrschen zum Dienen, vom bloßen Genießen zu praktischer Kulturarbeit im Dienst der Volksgemeinschaft. Dies alles aber ist schief und gehört in den Kreis jener Konstruktionen, durch welche eine kulturfrohe Generation sich die pessimistische Stimmung der Tragödie in eine optimistische umdeutete. In der Dichtung selber handelt es sich um ganz andere Gegensätze. Es bedarf nur der Besinnung darauf, daß gerade in jener „Kulturarbeit", in den gigantischen Dammbauten die Rücksichtslosigkeit und das herrische, alle Grenzen überschreitende Streben Fausts ihre höchsten Triumphe feiern. Goethe sah die Urbilder echter Tragödie, die ihn teils verlockten, teils abschreckten, in der Antike und bei Shakespeare. In der Epoche von Sturm und Drang deutet er sich auch Shakespeare ganz im Sinn der subjektiven Tragik. Er findet, seine Stücke drehten sich alle um den geheimen Punkt, „in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem Gang des Ganzen zusammenstößt". Im Urfaust, in der ganz auf den tragischen Untergang ausgerichteten Faust-Handlung wie in den Schrecken der Gretchen-Tragödie ersteigt er in Shakespeares Nachfolge eine Ursprünglichkeit und Wucht der Tragik, die er später nie wieder erreichte und sich auch nicht mehr zutraute. - Aber auch bei der objektiven Tragik, wie sie im weiteren Verlauf der Faustdichtung, in Pandora und in den Wahlverwandtschaften sich entfaltete und die großen Menschheits- und Weltanschauungstypen einander gegenüberstellte, blieb er Shakespeare insofern verwandt, als auch dieser die Menschen in ihren großen Leidenschaften aufblühen und dann mit der Ordnung des Ganzen zusammenstoßen läßt, wobei er das Kleine wie das Große, das Edle wie das Geringe in voller Unbefangenheit neben- und gegeneinander stellt. Bei Goethe freilich ist jetzt alles gedämpfter, verhaltener; die Tragik eines 89
ungeheuren Geschehens wird abgelöst von einer Tragik der Innerlidikeit, des Seelischen. Faust wird eine Foliegestalt, in welcher sich die Fülle der Welt und ihrer Gegensätze spiegelt. Eine enge Begegnung der beiden Dichter aber findet sich wieder am Schluß in Fausts Sterbeszehe, wo die Flammen der Leidenschaft noch einmal auflodern und die Tragik der Leidenschaft, der Innerlichkeit und der Existenz ihre letzte Höhe erreichen, ein Gegenstück zu den Wahnsinnsszenen Shakespeares, in denen Weisheit und Torheit, Pathos und Ironie sich wechselseitig durchdringen und zu stärkster Wirkung steigern. Die viele Leser verwirrende, rätselhafte Verschmelzung von höchstem Pathos und schneidendem Hohn und in Faust selber von Wahnsinn und Einsicht ist der stärkste Ausdruck jener inneren Zwiespältigkeit, welche Faust von Anfang an kennzeichnet und die ganze Dichtung durchzieht. Vgl. vor. Abschn. III.
Kapitel 7
Der Tragödiencharakter der Faust-Dichtung I. Tragödie und
Mysterienspiel
Wir begegnen im Faust den wesentlichen Zügen jener Tragik, die wir als charakteristisch für Goethes Empfinden und Schaffen erkannten. Es handelt sich um tragische Erschütterungen des inneren Lebens, nicht um außergewöhnliche Schicksalsschläge u. dgl. Der Doktor Faust hat eine hochgeachtete Stellung als berühmter akademischer Lehrer und Arzt, aber je höher er in der Öffentlichkeit geachtet und geehrt wird, desto bitterer empfindet er, wie wenig er in seinen eigenen Augen diesem Ideal genügt. Er hat einen völlig anderen Maßstab für die Werte des Lebens als die Durchschnittsmenschen. Es ist nur das allgemeine Menschenlos, an dem er leidet. Er erhebt Ansprüche, denen die Wirklichkeit nie und nimmer genügen kann. Die eigentliche Ursache seiner Not liegt darin, daß er selber innerlich gespalten ist, ein klassisches Beispiel für die oben geschilderte Tragik der Individualität. Weil er sich in seinem unstillbaren Lebensdrange an der Seite des höllischen Gefährten hemmungslos in ein wüstes Genußleben stürzt, ohne doch die warnenden Stimmen in sich zum Schweigen zu bringen, so leidet er unausgesetzt unter diesem inneren Zwiespalt. Es ist ihm geradezu, als wohnten zwei Seelen in seiner Brust, die sich gegenseitig bekämpften. 90
Während sich aber bei der objektiven Tragik der Mensch mit einem anerkannten, wenngleich irgendwie begrenzten Ideal verbindet, steht statt dessen bei Faust nur das allgemeine menschliche Glück und Machtverlangen, aber ins Maßlose gesteigert. Das veranlaßt den Dichter, um für seinen Helden einzunehmen, ihm als Ausgleich nach Möglichkeit edlere Charakterzüge beizulegen. Dabei liegt dann die Gefahr einer „Sympathieverschiebung" nahe, wobei der Leser die unaufhebbare und von dem Dichter nie aus den Augen verlorene Schuld des Helden übersieht oder bagatellisiert; vielleicht ist auch der Dichter selber, der seinen Helden liebt und viel Mühe auf seine Schilderung verwendet, an den so entstehenden Mißverständnissen nicht ganz unschuldig. Wie es ein Höhepunkt dichterischer Leistung ist, in einem dem Henker verfallenen Mädchen dennoch menschliche Größe und seelische Reinheit glaublich zu machen, so läßt er auch in dem vermessenen Treiben Fausts dennoch einen Funken von Größe aufleuchten, der für ihn einnimmt. Der Nerv dieser ganzen Konzeption liegt in dem unaufhebbaren Kontrast von schwerer Schuld und menschlichem Adel. Ihr Sinn würde aufgehoben, ja in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Schwere dieser Schuld gemildert oder geleugnet würde. Diese Schuld kann durch keine Beschönigungsversuche abgeschwächt, durch keine menschlichen Sühneversuche beseitigt werden; einzig die göttliche Gnade ist ihr überlegen. Der Dichter hat besondere Liebe f ü r gefährdete Gestalten, wie Werther und Tasso, Mignon und Ottilie. So groß aber seine Liebe und Sympathie f ü r sie ist, das ändert nichts an dem unerbittlichen Gericht über ihre Schuld. Gewiß ist es richtig, daß der Dichter die Gestalt Fausts heben wollte, aber nicht auf Kosten der Tragik. Sein Faust ist gezeichnet als das typische Bild des tief gefallenen Menschen, der weder nach Gott noch Menschen fragt und sich im Taumel wilder Lebenslust den Mächten der Finsternis in die Arme wirft. Seine Hauptschuld ist die bewußte Absage an alles göttlich wie menschlich Gute und Wertvolle. Schon sidi der Magie zu ergeben, der Verachtung von Vernunft und Wissenschaft, bedeutet Preisgabe seines Menschentums. Er verschmäht es, in eigener Verantwortung, Mühe und Geduld sein menschliches Los auf sich zu nehmen und will statt dessen unredlich durch fremde Hilfe seine phantastischen Ziele erreichen. Das zweite Hauptmoment seiner Schuld ist die Hybris, das Dämonisieren, die zeitlichen, vergänglichen Güter dem ewigen Gute vorzuziehen und sich schließlich in Gedanken an Gottes Stelle zu setzen. Dadurch sinkt der vermeintliche Übermensch in Wahrheit unter das Menschentum hinab; er fühlt sich heimatlos und friedlos, gequält von Freudlosigkeit und Lebensüberdruß. Das letzte Mo91
ment bildet dann die eigentliche Seelenversdireibung, der Vertrag mit der Hölle, die Sünde aller Sünden. Es ist nur die natürliche äußere Folge, daß sich daran ein wilder Lebenswandel schließt, bestimmt durch Genußgier und Machthunger, wobei der Weg sogar über Leichen geht. Dies alles wird durch den hellen Glanz des himmlisdien Erlösungsmysteriums nicht aufgehoben. Von dem, was in den oberen Sphären vor sich geht, weiß weder Faust noch irgendein menschlicher Beurteiler etwas. Der Dichter nimmt sich nur die Freiheit, uns f ü r Augenblicke hinter die Kulissen blicken zu lassen, wo es eine ganz andere Beleuchtung derselben Vorgänge gibt. In den trüben Niederungen der Erde herrscht undurchdringliches Dunkel; die Tragödie geht unerbittlich ihren Weg zu Ende. Je größer aber N o t und Schuld sind, desto mächtiger erhebt sich die göttliche Gnade, die über allen verworrenen Erdenwegen waltet und durch keinerlei menschliche Begriffe von Gerechtigkeit oder Verdienst eingeschränkt wird. Die menschliche Tragödie wird zu Beginn und am Schluß von dem Mysterienspiel begrenzt, in ihrem inneren Verlauf dagegen nicht von ihm beeinflußt. An der Grenze, zu Beginn wie am Schluß, steht jedesmal ein erschütterndes Bild menschlicher Tragik und äußerster Verzweiflung. Zwischen diesen beiden Bildern rollt die Handlung ab. Zu Beginn die bekannte Szene im nächtlichen Studierzimmer, wo Faust, nachdem er schon zur Magie seine Zuflucht genommen hat, sich zum Selbstmord entschließt. Am Schluß seines Lebens aber finden wir ihn wieder als einen Mann, der sich ein langes Lehen hindurch verbotener Zauberkünste bedient und mit Hilfe der Hölle ungeheure Erfolge errungen hat, unermeßliche Reichtümer und gewaltige Macht, der aber trotzdem nicht im mindesten glücklicher oder befriedigter geworden ist. In der Nacht nach seinem letzten Frevel, der Beseitigung der beiden friedlichen Alten, wird er von Rachegeistern überfallen und geblendet. Er stirbt, unersättlich, noch höheren phantastischen Aufstieg erträumend, Verwünschungen gegen Gott und Jenseits auf den Lippen. So die Anfangs- und Schlußszene der Erdenlaufbahn, die wir erleben. Außerhalb des Rahmens dieser Tragödie hat der Dichter aber jeder dieser beiden Verzweiflungsszenen je ein helles, freundliches Bild beigesellt, das zu ihnen in grellem Gegensatze steht. Vor der Eingangsszene das himmlische Bild, wo Gott-Vater im Kreise der himmlischen Heerscharen Hof hält und zuversichtlich den schließlichen guten Ausgang der gefährlichen Sache voraussagt. Unmittelbar auf das gottlöse Sterben Fausts aber folgt die Szene, wo die himmlischen Streiter den Abtrünnigen als „edles Glied der Geisterwelt" für den Himmel in An92
spruch nehmen. - Wie erklären sich diese Widersprüche? Die erste Voraussetzung für eine Erklärung ist es, daß man sie überhaupt beachtet und empfindet, die Paradoxie als solche erkennt. Hier kann kein Zufall obwalten, keine unbeabsichtigte Nachlässigkeit des Dichters. Vielmehr hat er eine ganz bestimmte Absicht. Er will auch hier möglichst kräftig unterstreichen, daß die irdische Tragödie und das himmlische Mysterienspiel streng auseinanderzuhalten sind. Was im Himmel vor sich geht, ist kein Bestandteil der Erdenhandlung. Es ist eine Spiegelung der irdischen Vorgänge und eine Deutung ihres Sinnes. Es steht außerhalb aller Zeit über den Vorgängen auf der Erdenbühne. Faßt man dagegen beide Spiele zu einem einzigen, in einer einheitlichen, fortlaufenden Handlung zusammen, so beeinträchtigen sie sich wechselseitig, und man gerät in unlösliche Widersprüche. Auf der einen Seite verliert die menschliche Tragödie ihre düstere Tragik, wenn von vornherein der optimistische Erlösungsglaube dominiert; auf der anderen wird die göttliche Gnade in den Bereich der menschlichen Tragik herabgezogen, und man nähert sich, die Dissonanz in die Gottheit selber verlegend, jener „Übertragik" im Sinne Hebbels, die Goethe selber jederzeit mit großer Klarheit und Energie abgelehnt hat. Konfundiert man beide Spiele, so fällt die Gesamtkonzeption in sich zusammen. Gerade das, worauf die eigentümliche Mächtigkeit des alten Mythus wie auch der besondere Reiz der großen Dichtung beruht, wird zersetzt und zerstört. Alles wird verwässert, verdünnt und seiner Durchschlagskraft beraubt. Umgekehrt dagegen, werden menschliche Tragödie und himmlisches Mysterienspiel sauber voneinander getrennt, jedes in seiner vollen Eigentümlichkeit bewahrt und ausgeschöpft, so ergibt sich eine ungemeine Wirkung. Beide schließen sich nun, ihre Eigenart und Gegensätzlichkeit voll bewahrend, als Gegensätze zu einer höheren Einheit zusammen. Die beiden großen Grundbegriffe Tragik und Gnade bedingen und bestätigen sich wechselsweise und bilden in einem höheren Sinne einen untrennbaren polaren Zusammenhang. II. Die Erlösung vom Tragischen und die Erlösung im Tragischen Durch die gesamte Goethesche Poesie geht das Grundmotiv vom Zusammenhang zwischen Fluch und Erlösung, Tragik und Versöhnung. Ja, man kann sagen, daß dies beglückende Heilen und Erlösen den Mittelund Höhepunkt seiner gesamten Kunst darstellt. Diese Erlösungstendenz aber wird, wie in kurzen Zügen schon im Kapitel 6, III dargelegt wurde, in zwiefacher Weise durchgeführt, als Erlösung vom Tragischen und als Erlösung im Tragischen und durch das Tragische. Dichtungen 93
nach Art der Iphigenie oder Paria-Trilogie sind Humanitätspoesie, in welcher ein Heil verkündet und der Fluch direkt in offenem Kampfe angegangen wird. Es gibt aber auch jene indirekte Form, bei welcher die Läuterung und Erlösung mitten in der Tragik und gerade durch die Tragik aufblüht. Und die Erlösung in diesem Sinne bildet den eigentlichen Mittelpunkt der Faustdichtung, sie ist ihr Kern- und Herzstück. Der Urfaust bietet ein typisches Beispiel für die Unerbittlichkeit einer Tragik, vor der Goethe selber später erschrak, einer Tragik, weldier ein erlösender Ausgang fehlt und die nur in ihrem eignen Schoß eine Erlösung im Tragischen kennt. Daß der Held dieser Jugenddichtung ebenfalls tragisch enden sollte, wie es bei der Gegenspielerin, Gretchen, offen zutage liegt, ist oft bestritten worden. Mit Unrecht, denn sämtliche Textstellen sprechen dafür. Die Tragik dieser Schöpfung liegt eben darin, daß die Liebenswürdigkeit und der innere Adel der Untergehenden mit den Schrecken ihres äußeren Schicksals in Widerspruch stehen. Nur freilich, daß dies äußere Zugrundegehn hier nicht das Verfallen an die Hölle bedeutet. Ist doch der Urfaust überhaupt nicht auf die Metaphysik der christlichen Glaubensvorstellungen aufgebaut, sondern auf die ganz andersartigen Vorstellungen von der Mutter Natur, von dem Erdgeist, der verschwenderisch schafft und erbarmungslos wieder zerstört. Es fehlt die Geborgenheit des christlichen Vorsehungsglaubens. Das Leben ist, und zwar gerade auf seinen Höhepunkten, bedroht und gefährdet, ja tragisch zerrissen. In dieser Dichtung geht es nicht um den christlichen Gegensatz von gut und böse, ewigem Heil oder Verdammnis, sondern um den von Größe und Kleinheit, Fülle und Leere. Es kommt an auf Größe der Gesinnung, Kühnheit des Wagens, „Fülle des Herzens". Es handelt sich um den Übermenschen, der wie Achill gewählt hat zwischen Phthia und der Unsterblichkeit. Zu vergleichen sind dieselben Stimmungen in der Ode „An Schwager Kronos" und „Adler und Taube!" In eine ganz andere Atmosphäre treten wir mit der klassischen Faustdichtung ein, in welcher die Erlösung im Tragischen eine eigenartige Verbindung mit dem Humanitätsglauben eingeht. Das wüste „Streben" des Übermenschen, der alles besitzen und genießen will, und die ganze Welt nur zum Spielball seiner Launen machen möchte, wird hier umgedeutet in ein „Streben" von ganz anderer Art, in die ungestillte Sehnsucht des Menschen, die edle Unrast und das nie ruhende Streben nach dem Höheren, wie es den Menschen als Menschen auszeichnet und ihn vom Dämon unterscheidet. Auch hier aber ist aus der Jugenddichtung jener Zug beibehalten, der überhaupt für die Erlösung im Tragischen bezeichnend ist, daß schon in der Schuld selber irgendwie etwas 94
Großes und Anziehendes liegt, was für den Helden einnimmt und ihn als erlösungswürdig erscheinen läßt. Im Umkreis der klassischen Faustdichtung bezeichnet diese „reine Menschlichkeit" die edle Unruhe des ständigen Suchens und Nie-Fertigsein-Wollens, jene Reinigung und Erlösung im Tragischen und durch das Tragische, wobei gerade in dem heldenhaften Durchstehen der letzten tragischen Schrecken ein eigenartiger, sonst nie vernommener Klang innerer Freude und geheimen Triumphes hörbar wird. Eben diese Wirkung ist es, die der Dichter beabsichtigte und die ihn reizte, dies neue Licht mitten in der Dunkelheit anzuzünden. Es ist im Grunde jenes große im folgenden Kapitel 8 beschriebene Experiment, gerade durch die Entfesselung der Mächte des Bösen die eingeschlummerten und vergessenen, aber niemals zu erstickenden Kräfte des Guten aufzurütteln und zu entbinden. Sorgfältig unterscheidet der Dichter dabei die Erlösungsmöglichkeit beziehungsweise -Würdigkeit. Die Erlösung selber ist einzig Sache der göttlichen Gnade. Der Begriff einer „Selbsterlösung" ist der Dichtung fremd. Dies Streben kann die Gnade nicht ersetzen, es ist auf Seiten des Menschen das Organ f ü r den Empfang der göttlichen Gnade, genau wie es in Luthers Gnadenlehre der Glaube, die Zuversicht, die fides ist. III. Fausts Erlösung bei Lessing und bei Goethe Die mächtigste Form der Tragik ist die erwähnte, bei welcher das äußere tragische Schicksal in Leiden und Untergang keinerlei Milderung erfährt, während das Tröstende und Erlösende in der inneren Größe besteht, durch welche wir f ü r den Helden eingenommen werden. Es ist f ü r diese Form der Tragik bezeichnend, daß die Grenzsituationen in ihrer ganzen Furchtbarkeit ausgehalten werden müssen. Es wirkt aber versöhnend, wenn der Mensch in'seinem Leiden geläutert wird und eben dadurch das rein Menschliche in voller Klarheit ans Licht tritt; versöhnend, daß der in Sehnsucht nach dem Unendlichen sich verzehrende Geist in dieser Sehnsucht selber schon an das Transzendente rührt; daß der suchende Mensch in einer brüchig gewordenen Glaubenswelt furchtlos dem Nichts ins Auge sieht, jede bequeme Ausflucht, jeden billigen Trost verschmähend; daß der schwergeprüfte und fast verzweifelnde Mensch dennoch tapfer aushält, wobei er wie der Dulder Hiob selbst im Schmerz der Verzweiflung und im Gefühl der Gottesferne in Wahrheit Gott doch näher ist als die oberflächlichen Freunde, die „leidigen Tröster". Bei dieser Erlösung im Tragischen begegnen sich nun in ganz auffallender Weise die Faustauffassungen Lessings und Goethes. 95
Goethe hatte zu seinen beiden unmittelbaren Vorgängern Klopstock und Lessing ein zwiespältiges Verhältnis, gemischt aus Bewunderung und Opposition. Jene konnten den Sturmschritt der neuen, jungen Generation weder mitmachen noch verstehen; auch waren weder Klopstock noch Lessing in der Lage, eine Tragödie zu dichten oder das Verständnis für echte Tragik aufzubringen. Denn die Tragödie gedeiht weder auf dem Boden einer gesicherten christlichen Glaubensüberzeugung noch auf dem eines ebenso unbezweifelten Vernunftglaubens, wie er sich damals an die Stelle des Kirchenglaubens zu setzen pflegte. Statt der Tragödie entstehen hier wie dort, im Messias wie im Nathan, religiöse Erlösungsdichtungen. Nun ist zwar jede echte Tragik auch religiös verwurzelt, sie kann sich aber nur dort wirklich entfalten, wo der Boden der Glaubensüberlieferung aufgelockert ist und die Formen des Glaubens ins Wanken geraten sind. Diese Bedingungen waren für Goethe gegeben, und auf diesen Voraussetzungen ruht die Faustdichtung. Aber das Schaffen an dieser Dichtung war bei Goethe ins Stocken geraten. Nach dem ersten kühnen Entwurf im Urfaust konnte er den Weg zu der großen, christlich fundierten Fausttradition nicht zurückfinden. Die Tragik der Jugenddichtung war erschöpft, die Hauptpersonen so gut wie vernichtet. Was sollte aus Faust werden? Der Dichter konnte und wollte ihn weder nach mittelalterlichem Muster durch die Intervention der Madonna retten noch nach der strengen Auffassung des Altprotestantismus der Hölle ausliefern. Ihn aber zu einem bußfertigen Sünder zu machen, wäre völlig stilwidrig und widerspräche seinem Grundcharakter. Als Goethe daher nach der italienischen Reise die erste Sammlung seiner Dichtungen herausgab, in denen der fertige Faust den Hauptplatz hätte einnehmen sollen, entschloß er sich im Unmut darüber, daß er die Verbindung mit der Jugenddichtung auf keine Weise herstellen konnte, das Vorhandene zu „fragmentieren", d. h. praktisch das Ganze aufzugeben. In der Zeit des Suchens und Überlegens aber wurden ihm die Fragmente des Lessingschen Faust bekannt, die 1784 mit der Veröffentlichung des Nachlasses ans Licht traten. Er spricht kein Wort darüber, hat sie aber ohne Zweifel verschlungen, wie alles, was er von Lessing in die Hände bekam. Sie mußten sein höchstes Erstaunen erregen. Lessing ist es, der als erster den kühnen, der gesamten früheren Überlieferung gegenüber unerhörten Schritt tut, den verrufenen Teufelsbündner der verdienten Strafe zu entreißen, und zwar ihn nicht nur zu retten, sondern den unbußfertigen zu retten, der auf seinem trotzigen Sinne beharrt. Lessing ist sich der Neuheit, der Kühnheit und Paradoxie seiner Lösung durchaus bewußt; sie gehört in den Zusammenhang der erbitterten theologischen Kämpfe seiner letzten Jahre.
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Lessings Begründung entsprach freilich ganz dem optimistischen Vernunftglauben der Aufklärung. Die Schuld seines Helden besteht darin, daß er in einer dem Menschen nicht zustehenden Weise einem übertriebenen Erkenntnisdrange frönt, ohne daran zu denken, daß der Mensch „aus eigener Vernunft noch Kraft" weder die Wahrheit erkennen noch selig werden kann. Der vernunftgläubige Dichter aber sieht gerade in dieser „Schuld" ein hohes Verdienst und die Aussicht auf eine Erlösung durch die göttliche Gnade. „Die Gottheit hat dem Menschen nicht den edelsten der Triebe gegeben, um ihn ewig unglücklich zu machen!" Mit größter Überraschung stellt man hier fest, daß in diesem Entwurf Lessings eben jene Erlösung im Tragischen und durch das Tragische vorliegt, die Goethe dann auf breitester Grundlage zu der tragenden Achse seiner Dichtung gemacht hat. Sein Faust ist zwar keineswegs nur Erkenntnisfanatiker wie der Lessings, sondern erfüllt von dem Willen zu Macht, Herrschaft und Genuß. Er vertieft den Ansatz Lessings, indem auch er jetzt die Rettung seines Helden ins Auge faßt und ihn dabei nicht trotz seiner Schuld gerettet werden läßt, sondern gerade in dieser „Schuld" einen letzten verlorenen Funken des Göttlichen aufweist. Daß Goethe seinerseits sich durchaus der geistigen Nähe zu Lessing bewußt war, zeigen die Verse: „Wie mancher Mißwillige schnüffelt und wittert U m das von der Muse verliehne Gedicht; Sie haben Lessing das Ende verbittert, Mir sollen sie's nicht."
Goethe muß dem Plane Lessings gegenüber sowohl lebhafte Zustimmung wie Abwehr empfunden haben. Der rationalistische Optimismus darin war ihm fremd. Es stand ihm fest, daß er nicht ein den Humanitätsglauben verkündendes Erlösungsdrama schreiben wollte. Dem widersprach der durch und durch tragische Stoff; und auf dem Beibehalten der herben Tragik beruhte sowohl der dichterische Reiz wie die mythische Anziehungskraft des Gegenstandes. Nein, sollte Faust gerettet werden, dann sollte er ein wahrhaftes Inferno bestehen und nicht so leichten Kaufs wie bei Lessing davonkommen. Der eigentliche Triumph sollte es werden, wenn dann mitten aus den letzten Tiefen von Leid und Schuld jenes rein Menschliche emporstieg, das der göttlichen Gnade einen Ansatzpunkt bieten würde. Bei dem Versuch, jedem der beiden Grundbegriffe Tragik und Gnade freien Raum zu schaffen, griff der Dichter schließlich zu dem ungewohnten und - wie die verworrene Geschichte der Faustdeutung gezeigt hat - nicht unbedenk7
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liehen Mittel, eine Erlösungsdichtung als Mysterienspiel und eine mensdilidie Tragödie in ein und demselben Gesamtwerk zu vereinen. "Wie stark aber dieser neue Entwurf Goethes auch sonst den Geist Lessings atmet, dafür braucht man sich nur der berühmten Worte Lessings über sein Verhältnis zur Wahrheit zu erinnern. Vor die Wahl gestellt, würde er „den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, wenngleich mit dem Zusatz, midi immer und ewig zu irren", dem zufriedenen Besitz der Wahrheit vorziehen; denn „der Besitz macht ruhig, träge, stolz". Deutlich erkennt man darin Goethes Begriff von dem rastlosen „Streben", die Abwehr des „sich beruhigt auf ein Faulbett Legens", nur über das Theoretische hinaus zum Willensmäßigen, Emotionalen erweitert. Damit hängt weiter das Motiv zusammen, daß Wagen und Sich-Einsetzen, selbst um den Preis von Irren und Schuldig-Werden, immer größer ist als ein ängstliches und vorsichtiges Sidi-selbst-Bewahren und ein selbstgerechtes Sich-Absondern. Audi im Evangelium ist der „verlorene" Sohn dem Vater lieber als der nicht verlorene, korrektmoralische. Sogar Zöllner und Dirnen kommen eher ins Himmelreich als die selbstgerechten Frommen und Musterhaften. Muß es noch erwähnt werden, wie völlig geschmacklos und abwegig es sein würde, aus dieser beglückenden Erfahrung vergebender Gnade nun eine metaphysische Theorie zu schmieden, als führe grundsätzlich der Weg des Menschen zu Gott durch die Sünde? Bedeutet das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Christi Sinne einen Freibrief f ü r einen wüsten Lebenswandel, da am Schluß die Gnade ja in sicherer Aussicht stehe? Wir befinden uns vielmehr hier im inneren, von keiner Dogmatik erreichbaren Bereich christlicher Vorstellungen, die von einer fast ketzerisdien Kühnheit und Zartheit sind, so daß plumpe Hände sie nicht anfassen dürfen. Und analog steht es mit der Konzeption Goethes von dem unbußfertigen, einsamen und gottlosen Sterben seines Helden. Der springende Punkt, an welchem - bei aller sonstigen Verschiedenheit - Goethe und Lessing sich begegnen, ist die Paradoxie, daß ein durchaus unbußfertiger und großer Sünder vom Himmel mit offenen Armen aufgenommen wird; daß er seine Rettung nicht etwa mildernden Umständen verdankt, auch nicht einer sdiwädilidien Milde des Richters, geschweige denn, daß eine Bekehrung in allerletzter Minute inszeniert würde; vielmehr wird bei Lessing wie bei Goethe gerade in der Schuld, in der Anklage ein Moment gefunden, das den Angeklagten irgendwie menschlichen wie göttlichen Wohlgefallens und endlich sogar der Erlösung durch die göttliche Gnade würdig erscheinen läßt. Hier liegt der eigentliche Nerv der Dichtung, die tragische Verflechtung einer gro98
ßen äußeren Schuld mit einem Keim des Edlen, Mächtigen, Königlichen. Dies war es, was den Dichter von vornherein an der Faustgestalt anzog und was seine Anziehungskraft noch heute auf jeden empfänglichen Leser ausübt. Wenn von dem „Heil der Seele", dem menschlichen „Streben" die Rede ist, so handelt es sidi um Dinge, die heute wohl mit anderen Namen genannt werden, die der Sache nach aber die gleichen sind und ihre zentrale Bedeutung für die Menschen immer behalten werden. Im Grunde ist der Gegenstand der Faustdichtung das Problem, das auch heute die Menschen offen oder geheim am stärksten beunruhigt und bewegt. Von hier aus rückt die Paradoxie von Fausts Begnadigung in ein neues Licht. Goethe ist in dieser paradoxen Konzeption nicht etwa einer Nachlässigkeit oder Verlegenheit zum Opfer gefallen, sondern hat sie absichtlich und mit dem vollen Bewußtsein von ihrer Tragweite aufgebaut. Er weiß gut, daß es eine Ketzerei ist, aber sie soll es auch sein, vgl. Kapitel 20, I Schluß über Misri. Fausts Schuld wird durch die innere Größe, die mit ihr verbunden ist, nicht aufgehoben; aber ein Etwas, das für ihn spricht, läßt ihn der göttlichen Begnadung würdig erscheinen. Gleichermaßen weiß Lessing genau, daß er ein Ketzer ist. Er bezeichnet sich in dem Vorwort zur „Bibliolatrie" als ein Diener im Vorhof des Heiligen, und im Briefe an Elise Reimarus vom 28.11.1780 heißt es: „Und weiß ich denn etwa nicht, welches großen Herrn lieber Bastard ich bin?" Der zweifelnde, suchende und irrende Mensch kann in seiner echten Leidenschast des Unendlichen Gott weit näher stehen als der unbekümmerte und selbstsichere Fromme. Im Buche Hiob finden am Schluß vor dem unbestechlichen göttlichen Richter sogar die dreisten Blasphemien des gequälten Dulders Anerkennung, im Gegensatz zu den konventionellen Verteidigungsreden der frommen Freunde. „Wollt ihr Gott verteidigen mit Unrecht oder f ü r ihn List brauchen?" Und Nietzsche läßt den alten Papst zu Zarathustra sprechen: „O Zarathustra, du bist frömmer, als du glaubst, mit einem solchen Unglauben." Man möchte sich das Bild eines einsichtigen und liebevollen Vaters vorstellen, der an dem trotzigen, aber charaktervollen Widerspruch seines verirrten Kindes doch ein geheimes Wohlgefallen empfindet. Und endlich: Es ist das Wesen der Gnade, aller Berechnung zu spotten. „Gott ist größer als unser Herz." 1. Joh. 3,20. IV. Tragik der Existenz.
Umnachtungsszenen
Endlich ist noch einzugehen auf die im Faust vorkommenden Fälle einer „Tragik der Existenz", die wir oben in Kapitel 6, III in den Grundzügen charakterisiert haben. Es wurde dort eine idealistische „Tragik 7»
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der Erhabenheit" im Sinne Kants und Schillers unterschieden von einer realistischen „Tragik der Existenz" im Sinne Goethes. Dort handelt es sich um eine ethische Betrachtungsweise, um den Triumph des reinen Geistes und des bewußten Willens, hier um eine übermoralische Auffassung und die Erschütterung der gesamten sinnlich-geistigen Existenz. Der Dichter sieht keinen andern Ausweg, als die tragischen Gestalten in höchster Not dem bewußten Leben zu entreißen und in erquickenden tiefen Heilschlaf zu hüllen wie Faust zu Beginn von Faust II, oder in geistige Umnachtung und wohltätigen Wahnsinn wie in der Kerkerszene und der Sterbeszene Fausts. Es ist jene hohe Tragik, vermischt mit einer großen Ironie, die den Wahnsinnsszenen bei Shakespeare ihren Zauber und ihre erschütternde Wirkung verleiht. Jede einheitliche Linie scheint sich aufzulösen, alle objektiven Maßstäbe ins Wanken zu geraten. Es mischt sich hohes tragisches Pathos mit einer grausam alle Illusionen entlarvenden Ironie, abgrundtiefer Jammer und innere Verklärung, Schuldgefühl und menschliche Größe. Die Umnachtung des Geistes, in der die Todgeweihten die umgebende irdische Wirklichkeit nicht mehr erkennen oder sie verkennen, entzündet in ihrem Innern ein helles Licht, in dessen Schein sie reiner und klarer sehen und urteilen, als es ihnen je im vollbewußten Zustand möglich war. „Das Sterbliche dröhnt in seinen Grundfesten, aber das Unsterbliche fängt heller an zu leuchten und erkennt sich selbst." Novalis. Auf diesen Szenen, auf die der Dichter mit vollem Recht besonders stolz war, - er braucht selber dafür, und nur hier, den Ausdruck „grandios" - liegt ein unvergleichlicher Schimmer von erhabenster Ironie und Poesie. Zunächst die Szene in Gretchens Kerker. Das Gericht, das hier über Faust ergeht, die Begnadigung Gretchens, dies alles liegt indirekt, aber offen und eindrucksvoll vor den Augen des Lesers. Das „Gerettet", was der Dichter später einfügte, erklingt auch unausgesprochen schon in der Brust jedes Lesers. Wie klein wird der große Faust mit all seiner Bildung vor der Reinheit, Selbstsicherheit und Charaktergröße dieses schlichten, fast noch kindlichen Mädchens! Er wird erdrückt von dem Gefühl seiner Schuld, er ist bankerott, zerschlagen, vernichtet in dem Bewußtsein: Dies alles ist dein Werk! Richtig empfand Jean Paul: „Eigentlich ist's gegen die Titanenfrechheit geschrieben, die Goethe sehr leicht in seinem Spiegel, wenigstens sonst, finden konnte." Für Gretchen ist das Maß des Jammers so groß, daß der Geist nicht mehr standhält und in einen Traumzustand von Wahnsinn verfällt. Es ist der Schutz, den die Mutter Natur in äußerster Not ihrem gequälten Kinde gewährt; es birgt sich bei ihr in tiefere Schichten des Seins, 100
wo keine Not der Welt sie mehr erreichen kann. Mitten in ihrer Nacht aber ist sie innerlich erhellt von einer himmlischen Klarheit über ihre Stellung zu Gott. Sie ist auf eine Höhe gehoben, auf die ihr Faust nicht zu folgen vermag. Eine Verbrecherin kurz vor der Hinrichtung, in tiefster Schande, mehrfachen Mordes schuldig, und dennoch mitten in ihrer Schuld von unvergleichlicher Anmut und Lieblichkeit, einer mädchenhaften Reinheit und frauenhaften Süße. Dies alles lebendig überzeugend, glaubhaft gemacht zu haben, ist ein letzter und höchster Triumph von Goethes Kunst. Das Gegenstück zu Gretchens Sterbeszene bildet Fausts Tod am Schluß von Faust II. Auch sie spielt um Mitternacht, u. zw. in dem fackelhellen Hofe des großen Palastes. Hatte bei Gretchens Wahnsinn Shakespeares Ophelia Pate gestanden, so ist das Sterben Fausts das Gegenstück zu der Wahnsinnsszene mit dem geblendeten König Lear. Auch für den geblendeten Faust gelten die Worte Edgards: „O, matter and impertinency, Reason in madness!" (IV, 6). Nach dem Verbrechen an Philemon und Baucis, das mit der Untat des biblisdien Königs Ahab verglichen wird, steht Faust abends auf dem Balkon seines großen Palastes. Ihm ist übel zumut; er empfindet selber das Kleinliche und Unwürdige der brutalen Gewalttat an den beiden Alten. Ein Windhauch bringt Brandgeruch und Rauchschwaden von der Mordstätte heran. Einen Augenblick glaubt er im Halbdunkel gespenstische Weiber zu erblicken, die, in lange Schleier gehüllt, auf ihn zusdiweben. Erynnien seines Frevels? Ausgeburten seiner angstvoll aufgewühlten Phantasie? Plötzlich durchzuckt ihn die Erkenntnis, daß es der Tod ist, der vor der Hir steht, und diese Erkenntnis verwandelt ihn. Wie von einem Blitz erhellt sieht er seine ganze Vergangenheit vor sich liegen; er erkennt das Verfehlte seines Lebens und bereut den Fluch, durch den er sich von seinem Menschentum losgesagt hatte. Was die höchsten Augenblicke seines Lebens nicht hatten erreichen können, das bewirkt nun die Nähe des Todes; denn der Tod ist unerbittlich und daher wahrhaftig. Ihm gegenüber zergehen alle Illusionen. Es ist wie bei Cervantes, als Don Quichote, der in einer Traumwelt von Utopien gelebt hatte, in der Todesstunde den erborgten Flitter von sich streift und nur den einzigen Wunsch noch hat, wieder ein natürlicher Mensch zu werden: „Ich war verrückt, und jetzt bin ich bei Verstand. Ich war Don Quichote de la Mancha, und jetzt bin ich Alonzo der Gute." Diese plötzliche Erleuchtung und das leidenschaftliche Verlangen nach Rückkehr zum Menschentum verklären die letzten Augenblicke Fausts. Es handelt sich bei seiner Vision von dem Erdenparadies, auf 101
freiem Grund mit freiem Volke zu stehen, keineswegs um soziale Menschheitsbeglückung oder um Volksgemeinsdiaft, sondern ganz einfach nur um Rückkehr vom Schein zur Wirklichkeit, von der Lüge zur Wahrheit. Als Vorbote des Todes kommt die Sorge, ein Rachegeist, in welchem sich die Mordtat auf den Tater zurückwendet. Durchaus verfehlt ist die übliche Deutung, Faust verliere plötzlich den Schutz der Magie und sei infolgedessen den Altersgebrechen, der Blindheit und der Sorge preisgegeben. Von Sorge in dem gemeinten Sinne ist hier überhaupt nicht die Rede. Es handelt sich um eine seelische Grundverfassung, der gegenüber auch die wertvollsten äußeren Güter, deren Besitz völlige Sorglosigkeit garantieren müßte, entwertet werden. Die Sorge wohnt in seinem eigenen Inneren; sie durch Gewalt oder durch Drohungen einschüchtern und abweisen zu wollen, wäre vergebliches Bemühen. „Grad im Befehlen wird die Sorge groß." Ebenso ist die Blendung zugleich symbolisch zu verstehen als Verblendung, als geistige Umnachtung. Immer schon, in flüchtigen Pausen der Besinnung während seines wilden Lebens, begann die Sorge mit der Stimme des Gewissens zu ihm zu spredien, aber er stellte sich taub. Jetzt aber, angesichts des Todes, hat es keinen Sinn mehr, sich künstlich stark zu machen. Daß Faust sich den inneren Anklagen nicht verschließt und sie ernst nimmt, ehrt ihn. Er war ja immerhin den Stimmen der Menschlichkeit nie völlig verschlossen, nie der gefühllose Dämon wie Mephisto. Um so tiefer aber wird er von den Vorwürfen getroffen. Es ist kein Zufall, daß die Sorge gerade in diesem Augenblick erscheint. Es ist in dem innerlich zerrissenen Wesen Fausts begründet, daß diese immer wieder aufgeschobene Gesamtabrechnung einmal kommen mußte; und jetzt ist seine schwache Stunde da. Faust zieht sich in das Innere des Palastes zurück und schließt die Tiir. Ihn fröstelt; aber das Zuschließen hilft nichts, die Sorge kommt durch das Schlüsselloch herein. Wieder ist unheimliche tiefe Nacht, genau wie dereinst bei der Geisterbeschwörung im Studierzimmer; er ist einsam, und nichts ist zu hören noch zu sehen. Dennoch ist die geisterhafte Nähe eines fremden Wesens deutlich zu spüren, und wie damals der Erdgeist in Person ihm erschien und zu ihm sprach, so hält jetzt die Sorge in Person, ungerufen, Zwiesprache mit ihm. Sie beschreibt selber ihr Wesen und Treiben, genau wie einst der Erdgeist, fremd, unheimlich, monoton, schicksalhaft, wie für sich selber, völlig unberührt von Fausts gereiztem Widerspruch. Ihre Macht, die Faust nicht anerkennen will, beweist sie durch die Tat, indem sie ihn blendet. Wie ein Strom auf weiter Fahrt immer größere Wassermengen ansammelt, so daß sie sich hoch aufstauen und bei Brüchigwerden des 102
Dammes sich ungehemmt über die Felder ergießen, so stürzen sich in dieser grauenvollen Stunde die Erynnien all seiner Untaten auf den wehrlosen Greis, das aufgehäufte Schuldkonto eines ganzen Lebens, vermischt mit dem unbestimmten Grauen vor dem kommenden Unbekannten. Es ist die qualvollste Stunde seines Lebens. Er reißt sich um Mitternacht schweißbedeckt von seinem Lager auf und ruft nach Menschen. Die Nacht scheint ihm noch schwärzer als zuvor; er weiß ja nicht, daß in dem Grauen dieser Stunde sein Augenlicht erloschen und sein Geist umnachtet ist. Er ruft nach dem Aufseher der Arbeiter, und es erscheint Mephisto, der Teufel. Er soll die schlafenden Arbeiter Mann für Mann aufstören, sie sollen überhaupt keine Ruhepause mehr bekommen und rücksichtslos ausgenutzt werden, bis das große Werk vollendet ist. Weitere neue Arbeitermassen sollen angeworben werden: „Bezahle, locke, presse bei!" Wie ein zerstörtes Uhrwerk in rasender Eile abrasselt, so arbeitet sein Geist in Fieberhast und ergeht sich in den wildesten Möglichkeiten. Er überschlägt sich in Anweisungen, Befehlen, Superlativen, er hat jeden Maßstab verloren für das Erreichbare, Nahe, Wirkliche. Die schöne Erdenwelt, in der er wirken und die er beherrschen wollte, um deretwillen er sein ewiges Heil zum Pfand gesetzt hatte, ist vor seinen Augen versunken. Statt dessen aber sieht er mit den Augen des Geistes die strahlende Vision seines höchsten Wunschtraumes: sich selbst als Schöpfer einer neuen Welt, eines Landes, das er selbst aus den Fluten gehoben, eines Millionenvolkes, das er selber geschaffen hat und von dem jeder Einzelne den trotzigen Kampfgeist seines Schöpfers vervielfältigend weitertragen soll, so daß die Spur von seinen Erdentagen selbst in Äonen nicht untergeht, den Traum einer rein irdischen Unsterblichkeit, eines irdischen Paradieses. Desto greller sticht dagegen die arme, nackte Wirklichkeit ab: Ein blinder, hinfälliger Greis, ein geblendeter König Lear, der Spott seiner Umgebung, einsam, ohne Freund, ohne Hoffnung, ohne Liebe und Glauben, umgeben von Teufelslarven und Fratzen, die nur begierig auf sein Ende lauern, um sich auf ihn zu stürzen. Der blinde Greis hat sich die Treppe des Palastes hinabgetastet und lehnt sich nun in dem fackelhellen H o f e an den Türpfosten. Ein glückliches, befriedigtes Lächeln geht über seine Züge. Sehen kann er nicht, aber sein Ohr lauscht mit Entzücken dem Geklirr der vielen Spaten, ohne zu merken, daß sie nicht an seinem großen Werke schaffen, sondern unmittelbar vor seinen Füßen sein Grab ausheben. Welche tödliche Ironie! Ganz nach innen gerichtet, allein mit sich selber, angestrahlt von einem inneren Licht, preist er sterbend sich selig im Traumbesitz eines Glückes, das 103
ihm in Wirklichkeit ewig verschlossen bleiben wird und das in schneidendem Gegensatz zu der jammervollen Wirklichkeit steht. Dem grausam Getäuschten erscheint der Augenblick seines Todes als der reichste und schönste seines ganzen Lebens, weil er das Versprechen einer unendlich glücklichen Zukunft in sich schließt, die Aussicht auf einen zukünftigen Augenblick, zu dem es sich lohnen würde, zu sprechen: „Verweile doch! Du bist so schön!" Das Stichwort ist gefallen, die irdische Laufbahn Fausts ist beendet, er stirbt in den Armen der höllischen Larven, die den Hinsinkenden auffangen. Durch die grausame Ironie, welche das ganze Geschehen und die Reden des Todgeweihten Wort f ü r Wort begleiten und die erträumte Herrlichkeit durch die jammervolle Wirklichkeit widerlegen, erhebt sich diese Szene zu erschütternder Tragik. Das Ewige und Reine mit dem Vergänglichen und Trüben unlöslich verkettet, Weisheit und Torheit, Begeisterung und Hohn, Erleuchtung und Wahnsinn, Segen und Fluch. Ein Sterbender, der erst im Augenblick des Todes, zu spät, die Erleuchtung empfängt, daß sein ganzes auf Zauberei und Höllentrug gegründetes Leben verfehlt war, daß nur schlichtes Menschentum ohne unehrliches sich auf fremde Hilfe Verlassen den Einsatz des Lebens lohnt; der zwar die Wette mit dem teuflischen Partner einwandfrei und glänzend gewinnt, weil sein grenzenloses Streben niemals ein Versinken in träge Genußsucht wurde, vielmehr umgekehrt ein Aufstieg zu allerhöchster Aktivität und echtem Schöpfertum, der aber seine beispiellosen Schaffenserfolge nur unter der Mitwirkung höllischer Dämonen erringt und auch sein letztes Traumbild höchster Schöpfertätigkeit in seinen ungeheuren Dimensionen nicht anders zu denken und darzustellen weiß als mit den Riesenmitteln der doch verfemten und als Fluch erkannten Magie; ein Mensch, der alles Denkbare an irdischen Gütern, Macht und Reichtum errungen hat, aber auf der höchsten Höhe dieser äußeren Erfolge im Innern tief unglücklich, verängstet und friedlos ist; der in begeisterten Worten, den großen Irrtum seines Lebens erkennend und bereuend, sich zu dem Ideal reiner Menschlichkeit in geduldiger Arbeit und eigener Verantwortung bekennt, zugleich aber mit der Absage an die betrügerische Magie auch jede andere Beziehung zum Übersinnlichen, insbesondere die ehrfürchtige und demütige Beziehung zum Göttlichen mit blasphemischen Worten verwünscht und der nun als ein neuer Prometheus, den wilden Trotz der Jugenddichtung - „Ich dich ehren? W o f ü r ? . . . " - und das irdisch-allzuirdische und eroslose Tatertum des Prometheus der Pandora-Dichtung noch überbietend, sich in wahnsinniger Hybris in die Rolle des Schöpfers einer neuen Menschheit hineinträumt, eines selbst104
geschaffenen Millionenvolkes auf jungfräulichem, dem Meere abgerungenem Boden, eines Geschlechts, von dem auch er sagen könnte, „das mir gleich sei, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich / Und dein nicht zu achten, / Wie ich." Dichterisch ist die Gestalt des sterbenden Faust in all ihrer Sünde, ihrem Wahnsinn, ihrer verbrecherischen Hybris eine herrliche Gestalt, unbeugsam auch im Angesicht des Todes, zu keinem Kompromiß bereit, nicht um Haaresbreite abweichend von ihrem herrischen Trotz, vielmehr ihn .noch bis zur äußersten Höhe steigernd. Erschütternd, wie alle Worte des Sterbenden einen Doppelsinn bekommen, für sich genommen höchste Lebensweisheit, in diesem Zusammenhange und aus diesem Munde aber sich in Vermessenheit und Hohn verkehren. Es ist das größte Beispiel jener oben in Kap. 6 S. 82 ff. geschilderten „Tragik der Existenz", bei welcher die Natur selber ihr in Not versinkendes Kind schützend in wohltätige Umnachtung und beseligende Wahnvorstellungen hüllt. Die grellen Kontraste zeugen nicht von einem Versagen des Dichters, sie sind vielmehr bezeichnend für jene hohe Tragik, in der das tragische Pathos durch den Einbau großer objektiver Ironie zu seiner letzten Höhe hinaufgeführt wird.
Kapitel 8
Die drei Einzeltragödien G r e t c h e n - , H e l e n a - und 1. Der dreifache
Herrschertragödie Rhythmus
Die Faustdichtung ist eingefaßt von einem weiteren Rahmen, der Handlung im Himmel, und einem engeren, dem eigentlichen Spiel vom Doktor Faust. In der Mitte aber entfaltet sich der Kern, der in der Überlieferung aus mancherlei Abenteuern, Anekdoten und Disputationen besteht, aus dem sich bei Goethe aber drei Einzeltragödien herausheben: die Gretchen-, die Helena- und die Herrschertragödie. Im Prolog im Himmel hatte Gott-Vater Faust sozusagen dem Teufel ausgeliefert, damit er seine Verführungskünste nach bestem Vermögen an ihm erprobe. Ausdrücklich war ihm freie Hand gelassen für Fausts gesamte Lebenszeit. Danach sollte man annehmen, der mephistophelische „Cursus" würde sich in der Weise abspielen, daß der böse Geist die Führung übernähme und nun sein Opfer mit allen Mitteln, durch 105
alle erdenklichen Verführungskünste zu überlisten und zu gewinnen trachten würde. Das trifft indes nur zum geringsten Teile zu, nämlich nur für Auerbachs Keller und die Walpurgisnacht. Es stimmt schon nicht für die Gretchentragödie, die übrigens ja auch schon mehrere Jahrzehnte früher als jener himmlische Prolog gedichtet war. Nur bei den betrunkenen Studenten und den nackten Hexen trifft es zu, daß Mephisto sein Opfer führt und es in den Pfuhl des Gemeinen und den Rausch des Sexuellen, der Seele und Persönlichkeit erstickt, hinabziehen will. Alles Übrige aber vollzieht sich nach einem ganz anderen Muster, für welches die Gretchentragödie das erste Beispiel ist. Hier hat Faust selber durchaus die Initiative, während Mephisto nur der gehorsame Diener und gewandte Helfer ist. Wohl sucht er dabei nach Möglichkeit immer die Dinge ins Schlimme umzubiegen, das Niedrige und Gefährliche in Fausts Absichten noch zu steigern, um dann zuletzt die Verantwortung für das angerichtete Unheil mit schadenfrohem Hohngelächter Faust allein zuzuschieben. Mephisto schafft die Schmucksachen für Gretchen herbei, Hie trügerischen Papiergeldschätze für den Kaiser, die gespenstischen Kriegsheere und endlosen Arbeiterkolonnen für die mächtigen Dammbauten am Meere. Er schafft dem greisen Herrscher Faust als Führer einer Seeräuberflotte durch Raub und Gewalt die Schätze der Welt herbei. Führend aber ist hier in jedem Falle Faust selber. Innerhalb dieser drei Tragödien kehrt nun in auffallender Weise ein ganz bestimmter Rhythmus wieder, der jedesmal in drei Phasen verläuft. Zu Beginn erscheinen die beiden Weltenbummler und Spießgesellen durchaus einmütig, als verwandte Seelen; womöglich übertrifft Faust seinen Kompagnon noch an Brutalität und Roheit. Faust ist durchaus Stimmungs- und Augenblicksmensch - was für die Gesamtbeurteilung von großer Bedeutung ist - , der sich nun, nachdem er Schlag um Schlag die schweren Enttäuschungen erlitten und sich „faute de mieux" dem Teufel übergeben hat, mit der Gier der Verzweiflung auf diese Ersatzgüter, auf die niedrigen Genüsse wirft, die der böse Geist anzubieten hat. Er ist wie von einem Wahn besessen und folgt den sinnlichen Anreizungen mit der gleichen Unbedingtheit, die eigentlich nur höheren Zielen zukommt, wobei er schließlich selbst an Wahnsinn und Verbrechen streift. J e tiefer er aber in diese dunklen Fluten eintaucht, desto unüberhörbarer melden sich dann doch wieder in seinem Innern die Stimmen, die ihn zum Reinen und Guten zurückrufen. Hier wird in der Tat Mephisto, genau wie es der Herr vorausgesehen, gegen seinen Willen zum Warner und Helfer. Wenn Faust sich 106
plötzlich dem Niedrigen und Gemeinen in seiner ganzen Nacktheit und Brutalität gegenüber sieht, so daß „der Katze die Schelle umgehängt" wird, erschrickt er, besinnt sich und befestigt sich aufs neue in seinem "Widerwillen gegen den dämonischen Begleiter. Er entsetzt sich vor dem „Tier" und findet sich zu seinem Menschentum zurück. Vgl. die Verse: Wollen die Menschen Bestien sein, So bringt nur Tiere zur Stube herein! Das Widerwärtige wird sich mindern, W i r sind eben alle von Adams Kindern.
Zugleich aber vertritt Mephisto die Rolle des Skeptikers und Realisten, während Faust einer idealistisch-gläubigen Haltung zustrebt. Auch hier wieder wacht Faust auf, wenn er sich dem nackten und eiskalten Nihilismus Mephistos gegenübersieht. Und wenn jener auch oft mit vollem Recht Faust von seinen Phantastereien und Verstiegenheiten zurückruft und ihn damit verhöhnt und aufzieht, so wird Faust von ihm auch gefördert, indem er das Phantastische von dem Idealen, das Unechte und Unwahre von dem Echten und Wahren unterscheiden lernt. Er wirft doch nicht alles fort. Immer wieder bricht gerade durch das Zusammenleben und Zusammensündigen der Haß gegen den bösen Dämon durch, dem er sich angekettet fühlt und den er seiner maßlosen Begierden wegen doch nicht mehr entbehren kann. Der gleiche Rhythmus wiederholt sich nun dreimal. Der Verlauf jeder Einzeltragödie ist wie ein vorbereitetes Experiment, welches der Diditer immer wieder mit gleich überzeugendem Erfolg anstellt. Das Endergebnis ist jedesmal, daß der Teufel zuletzt an eine Grenze stößt und das letzte Innere Fausts nidit erobern kann. Faust hat auch in der tiefsten Nacht doch immer noch einen letzten Schimmer von himmlischem Licht in sich, der ihn nicht völlig versinken läßt; ein unsichtbares, aber unzerreißbares Band knüpft ihn immer noch in unbewußter Tiefe an das leichtfertig verratene Göttliche. Wohl feiert hier die Dichtung und in ihr der unbezwingliche Glaube des Dichters einen wirklichen Triumph. Aber dies Evangelium von der sühnenden Kraft reiner Menschlichkeit ist etwas ganz anderes als der flache Optimismus jener Aufklärer, die mit der allgemeinen Phrase von der Güte der menschlichen Natur die großen Realitäten von Schuld und Erlösung, Leid und Tragik des Lebens beiseite schieben und Fausts Verhalten für musterhaft erklären. In Wahrheit steht es so, daß ohne Fausts eigenes Verdienst, ungerufen, unwillkürlich, gewissermaßen automatisch in der äußersten Gefahr die rettenden Mächte zur Stelle sind. „ W o aber die Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Hölderlin.
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Aus den tiefsten Niederungen erhebt sich etwas Herrliches, wie eine schöne Blume aus Schlamm und Morast. Nichts von Anstrengung oder Verdienst, von Willensanspannung oder Entsagung; auch nichts von besonderen religiösen oder kirchlichen Weihen oder Übungen. Vielmehr ist, was sich hier kundgibt, etwas Selbstverständliches, etwas schlicht Menschliches, Natürliches und eben darum auch Göttliches, soweit uns dies in den Erdeschranken sichtbar und faßbar werden kann. Sie sind eben da, wie von selbst, die heilenden, helfenden, sühnenden und segnenden Kräfte, alles Leid, alle Schuld, alle Tragik durchdringend, Tragik und Schuld nicht aufhebend, aber durch eine innere Weihe verklärend und das Bittere daran gleichsam aufsaugend. In dem Gretchenspiel echte, starke, selbstlose weibliche Liebe, taufrisch, natürlich und irdisch, ohne besondere Heiligkeit. In dem Helenaspiel letzte Hingabe, fordernde Schönheitsbegeisterung, in dem Spiel um Macht und Herrschaft echtes Schöpfertum. Es ist ein letzter und höchster Triumph. Aber nicht Faust triumphiert, - sein Weg geht weiter durch Nacht und Dunkel, Irrtum und Schuld, und keine Farbe ist dem Dichter schwarz genug, den namenlosen Jammer auszumalen, den er anrichtet. Seine Gestalt bleibt unheimlich und rätselhaft, dunkel und dämonisch. Wer triumphiert denn, wenn nicht Faust? Gott und seine Schöpfung! Es ist die Rettung, die Verteidigung der Schöpfung gegen die nörgelnden und hämischen Anklagen des bösen Geistes, eine groß angelegte dichterische Theodizee. Es ist die denkbar vornehmste, geistreichste Rettung des Glaubens an Gott und an die Welt, an die Menschheit und an die Macht des Guten, die am Ende sich doch stärker erweist als alles Böse. Auf diese mittlere Phase folgt freilich dann jedesmal die dritte und letzte, in welcher sich die verderblichen Folgen davon auswirken, daß das Ganze mit frevelhaftem Leichtsinn und unter dem Zeichen des bösen Geistes begonnen wurde. Aber in dem niederschmetternden äußeren Unglück und tragischen Untergang erhebt und behauptet sich ein Gefühl des Triumphes, das untrügliche Bewußtsein von der Größe und Unzerstörbarkeit des Rechten. II. Die drei
Einzeltragödien
Wir gehen jetzt an Hand des charakterisierten Schemas die drei Tragödien durch, zunächst die Gretchentragödie. Zu Beginn tritt Faust, der durchaus die Führung hat, herrisch, roh und brutal auf, so daß selbst der abgebrühte Mephisto betroffen ist. Faust sieht das anmutige Mädchen, wie es eben sittsam aus der Kirche kommt, fast noch Kind, „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen". Gleich fordert er ungestüm von Mephisto: „Hör", du mußt mir die Dirne schaffen!" Noch diese Nacht 108
soll das süße junge Blut in seinen Armen liegen, oder der Pakt wird hinfällig. „Ist über 14 Jahr doch alt!" Dann geht es in ihr Schlafzimmer, Faust zunächst in der Stimmung des rücksichtslosen Draufgängers. Mephisto schnuppert herum. Faust aber, - Faust stutzt und ist betroffen. Der Hauch von Reinheit, Sittsamkeit und Ordnung, die ganze Atmosphäre ergreift und berührt ihn seltsam. Er schämt sich. D a s ärmliche kleine Zimmer, der abgenutzte ehrwürdige Großvaterstuhl, und endlich Gretchens Bett - ihn ergreift ein Wonnegraus: „Hier lag das Kind, mit warmem Leben Den zarten Busen angefüllt, Und hier mit heilig reinem Weben Entwirkte sich das Götterbild!"
Er fühlt sich in diesem Dämmerschein wie in einem Heiligtum: „In dieser Armut welche Fülle! In diesem Kerker welche Seligkeit! O liebe H a n d ! so göttergleich! Die Hütte wird durch didi ein Himmelreich."
Er ist beschämt, fühlt sich klein und unwürdig und ruft dem Bösen zu. „Fort! Fort! Ich kehre nimmermehr!" Hier ist zum ersten Male dieser Ton angeschlagen, der nun immer wiederkehrt und jenes rein Menschliche bezeichnet, von dem wir sprachen. Aus dem sinnlich-erotischen Abenteuer, das mit brutaler Gier erstrebt wurde, entfaltet sich mit dem Gefühl der Ehrfurcht die Blüte einer echten und beseligenden Liebe, himmlisch rein und doch irdisch real. Liebesgeplauder, Liebesgeständnis, Religionsgespräch, letzte Hingabe. Dann Schlag auf Schlag der furchtbare tragische Ausgang. „Doch alles, was dazu mich trieb, Gott, war so gut! Ach, war so lieb!"
Die Tragik dieser Dichtung schillert in verschiedenen Farben. Zunächst die Trauer um die Vergänglichkeit des Schönen: „Sich hinzugeben ganz und eine Wonne Zu fühlen, die ewig sein muß. Ewig! - Ihr Ende würde Verzweiflung sein. Nein, kein Ende! Kein E n d e ! "
Und doch kommt dies Ende. Dabei greift die Tragik noch weit tiefer, weil dies Höchste und Reinste seiner Natur nach mit dem Niedrigen, Gemeinen, ja Verbrecherischen zusammenzuhängen scheint; daß Mephisto scheinbar Recht behält mit seinem Niederziehen in den Pfuhl des Gemeinen, seinem Bestreben, dies Reinste zu einem gewöhnlichen Sinnenrausch zu stempeln. In der Anfangsphase Fausts plumpes Begehren. 109
Dann plötzlich die mittlere Phase, das plötzliche, unvermutete Aufbrechen der reinen Kräfte der echten Liebe, wobei sich die Wege Fausts und Mephistos aufs entschiedenste trennen. Mephisto kennt überhaupt keine Liebe, ihm fehlt völlig das Verständnis, das Organ dafür. Ihm ist sie nichts anderes als tierische Sinnlichkeit, Sexualität. Und endlich die Schlußphase. Der Fluch Mephistos, unter dessen Zeichen das Ganze begann, wirkt sich in schauerlicher Weise aus, und in einem Meer von Jammer gehen die Liebenden unter. Gretchen wird zur Mutter- und Kindes-Mörderin, wahnsinnig vor Leid, Schmach und Jammer und stirbt auf dem Schafott. Faust ist innerlich völlig gebrochen, vernichtet in Schuldgefühl und Scham, Reue und Verzweiflung. Es ist ein furchtbares Gericht, das hier ergeht, aber ein Gericht des Diditers, wobei die gefällte Sentenz nicht in Worten ausgesprochen wird, sondern in den Ereignissen und Folgen sich selber ausspricht. Das Verderben, das wie ein Gewitter über alle Beteiligten hereinbricht, trifft nicht nur Schuld und Verbrechen, sondern damit zugleich in den Menschen auch das Echte und Gute, an das sie glaubten. Das ist der tiefste und bitterste tragische Schmerz, der unverdiente Untergang eines Reinen und Liebenswürdigen, eines Göttlichen und Heiligen. Faust selber ist so erschüttert und in sich vernichtet, daß der Dichter nur den Schleier des Schweigens darüber zu ziehen wagt. Seine Schuld gegen Gretchen ist so ungeheuer und unermeßlich, weil er ihr geistig so weit überlegen war und weil es anders und mehr war als eine einfädle sinnliche Verführung. Er selber hatte mehr gesucht als die sinnliche Lust. Vgl. Kierkegaards Schilderung in „Entweder Oder". Die drei geschilderten Phasen kehren in gleicher Weise wieder bei den beiden anderen Einzeltragödien. In der Helenatragödie treten Faust und Mephisto am Hof des Kaisers als Scharlatane auf und veranstalten zur Belustigung der Hofgesellschaft eine gruselige Zaubervorstellung. Faust hat vor dem Kaiser damit geprahlt, er könne auch die Gestalten des grauen Altertums lebendig wieder erscheinen lassen und fordert nun von Mephisto die Einlösung dieses Versprechens. Helena und Paris erscheinen, das schönste Weib und der schönste Mann, der Zweck ist erreicht, die Gesellschaft empfindet ein angenehmes Gruseln, man amüsiert sich, plaudert und witzelt. Ganz anders aber Faust. Ihm geht beim Anblick dieser Gestalt wie eine Offenbarung die Schönheit selber auf. Wieder setzt unvermutet jene plötzliche Wandlung ein wie im Gretdienspiel. Faust ist von der vollkommenen Schönheit hingerissen, berauscht, von Sinnen: „Verschwinde mir des Lebens Atemkraft, Wenn ich mich je von dir zurückgewöhne!" 110
Ähnlich leuditen auch in den Parallelfiguren die Schönheitswerte auf, die Poesie in dem diademgeschmückten Kinde, das die Geisterrosse lenkt, in Euphorion, dem flügellosen Genius, der dennoch fliegen will, in Lynkeus, der verzückt sich und all seine Kostbarkeiten der Schönheit opfern will. Aber auch hier wieder folgt erbarmungslos die dritte Phase, der tragische Ausgang, das unabwendbare Verderben. Auch hier wieder liegt die Tragik zunächst in der Vergänglichkeit des Schönen. „Warum bin ich vergänglich, o Zeus? So fragte die Schönheit. Madit idi doch, sagte da Gott, nur das Vergängliche schön! Und die Liebe, die Blumen, der T a u und die Jugend vernahmen's, Alle gingen sie weg, weinend von Jupiters Thron."
Erschütternder aber ist, daß diese schöne Welt des Scheins, so glänzend und bezaubernd sie ist, dennodi an eine Grenze stößt, die sie nicht überschreiten kann. Wenn die Nöte und Dissonanzen des wirklichen Lebens an den Menschen herantreten, verblassen die lieblidien Bilder des schönen Scheins. Faust wie Wilhelm Meister entsagen am Ende der Ungebundenheit verantwortungslosen dichterischen Daseins. Welch eine Größe und welche Selbstüberwindung des Dichters liegt darin beschlossen! Euphorion bricht aus der Traumwelt hindurch in die Wirklichkeit, um dort mit anderen Kämpfern die Schrecken von Krieg und Gefahr, Not und Tod zu teilen. Wieder geht ein Hohes und Liebenswertes zugrunde. Wieder zeigt sich sein Zusammenhang mit dem Gefährdeten und Gespenstischen. Im Bereich des Helenaspiels wiederholt sich das gleiche Motiv noch mehrmals. Der Abstieg zu den Müttern, ursprünglich auch nur gedacht als verwegen herrisches Wagnis - in Form der geplanten Hadesszene - , wird plötzlich zu etwas weit Größerem, und Faust empfindet, daß der Schreckensgang ihm seligsten Gewinn brachte. Ebenso Fausts Verlangen nach dem wirklichen Besitz der griechischen Halbgöttin. Ursprünglich ein maßlos freches und fast wahnsinniges Begehren, die schönste Frau aller Zeiten noch jenseits des Grabes aufzuspüren und sie körperlich zum Liebesgenuß in die Arme zu begehren; jetzt wandelt es sich wieder unvermutet während des Unternehmens und wird zur leidenschaftlichen Sehnsucht nach der einmal erkannten Schönheit. Endlich die Herrschaftstragödie. Auch hier derselbe Rhythmus des Geschehens, nur nicht in genau gleicher Reihenfolge, weil hier zugleich das eigentliche Faustspiel, Vertrag und Wette, mit zum Abschluß gebracht werden mußte. Auch hier liegen Plan, Initiative und Tonangebung durchaus bei Faust, während Mephisto nur gehorsam seine Weisungen ausführt. Freilich, indem Faust den Mephisto seinen eigenen 111
neuen Plan erraten läßt, kommt gesprächsweise, aber sehr abgeschwächt, auch das alte Verführungsmotiv wieder zur Sprache, daß nämlich Mephisto den Faust zu sinnlichen Freuden zu verlocken sucht. Faust und Mephisto in Kompagnie führen mit den Mitteln der Zauberei, mit List und Gewalt den gigantischen Plan aus, die Kräfte des Meeres zu bezwingen und für Faust einen unbeschränkten Landbesitz und gewaltige Herrschermacht zu begründen. Durch Betrug und Gaukelei wird der Sieg über die Feinde des Kaisers erfochten. Die „drei Gewaltigen" sind das Symbol der Brutalität. Verheißungsvoll stellt der junge Raufebold sich vor: »Wenn einer mir ins Auge sieht, Werd ich ihm mit der Faust gleich in die Fresse fahren, Und eine Memme, wenn sie flieht, Faß ich bei ihren letzten H a a r e n . "
Dann beginnt der Kampf mit den Naturgewalten, das Meer einzudämmen, der Masseneinsatz der Zwangsarbeiter, die untef Mephistos Kommando stehen. „Menschenopfer mußten bluten, nachts erscholl des Jammers Qual". Alles bewegt sich in den größten Dimensionen, mit den Mitteln moderner Magie, der Technik, gnadelos und unmenschlich. Es soll Raum geschaffen werden für ein Volk von Millionen, und die Spur von Fausts Erdentagen soll selbst in Äonen nicht untergehn. Überall Superlative, Rekordzahlen, alles ist einmalig und unüberbietbar. Besonders unbequem und verhaßt sind dabei die Vertreter des alten Glaubens und der Gottesfurcht. Sie werden erbarmungslos und verbrecherisch aus dem Wege geräumt. Für Faust aber werden Kostbarkeiten aus allen Ländern der Welt zusammengeraubt, im Sinne von Habebalds Spruch: „Ihr alle seid auf gleichem Fuß: Gib' her! Das ist der Handwerksgruß!"
Seeräuberflotten unter des Teufels Kommando durchstreifen die Meere und kommen schwer mit Schätzen beladen zurück. Alle Kostbarkeiten der Welt werden in Fausts großem Prunkpalast aufgestapelt. Nun aber folgt auch hier die zweite Phase. Je reicher und mächtiger Faust äußerlich geworden ist, um so unbefriedigter und unglücklicher ist er innerlich. Er hatte gehofft, sich zu höchster Freiheit hinaufzuschwingen, und endet nun in schmachvoller Knechtschaft, ein Gefangener der Dämonen und seiner eignen Angst. Jetzt wird ihm klar, was er eigentlich dunkel gesucht hat oder doch hätte suchen sollen: Schöpfer zu sein in hohem, selbstlosem Sinne, sich selber findend in einem großen Werke. An diesem Maßstab gemessen ist alles Erreichte nichtig. Sterbend blickt er wie Moses in ein gelobtes Land, das er nie betreten 112
wird; es ist die Vision eines freien Volkes auf freiem Grund und Boden, nicht mit Unrecht und frevelhafter Zauberei gebaut, sondern mit Menschen-Kraft und -Mühe, das in Kampf und Not Freiheit und Leben sich täglidi neu erobert. So hätte es sein müssen! Aber es war nicht so. Die Erkenntnis kommt zu spät. Aber ohne Rücksicht auf diese späte Einsicht gehen die Ereignisse der Wirklichkeit unerbittlich ihren Gang. Auch hier folgt die dritte und letzte Phase. Zauberkünste haben das Ganze begonnen, und höllische Zauberkünste müssen es vollenden. Der Fluch des Bösen liegt auf dem gigantischen Werke, und alles endet in einer großen Katastrophe: „Die Elemente sind mit uns verschworen, und auf Vernichtung läuft's hinaus."
Die Tragik aber liegt darin, daß mit dem allgemeinen Zusammenbruch nicht nur das innerlich Hohle und Gespenstische zusammenbricht, sondern mit ihm auch das Echte und Ideale, an das die Herzen der Menschen glaubten und das sich in seiner Reinheit aus dem Chaos von Gewalt und Unrecht erhob. Die Tragik der Todesszene, auf die in K a p . 7, I V schon eingegangen wurde, liegt für Faust darin, daß er in dem gleichen Augenblick, wo ihn die Strafe für seine Vermessenheit und seine Untaten ereilt, innerlich über sein Schicksal hinauswächst. Eine wichtige Frage aber drängt sich hier am Sdiluß auf. Es zeigte sich nämlich, daß die Gretchentragödie, die ursprünglich ein Fremdkörper in der geplanten Dichtung war, einen ungeheuren Einfluß gewonnen hat, wobei in steigendem Maße bis zum Sdiluß die gesamte Dichtung umgestaltet wird. Vgl. K a p . 1, IV. Diese Einzeltragödie nämlich ist es gewesen, welche in ihrer Anlage das Muster für die beiden übrigen wurde, indem sie das Verführungsmotiv, das den Plan der ursprünglichen Dichtung beherrscht, mit leichter Geste beiseite schob und durch das weit bedeutendere und anziehendere Motiv der unwillkürlichen Selbstentfaltung des Guten ersetzte. Hier zuerst wurde jenes entscheidende und nun den Mittelpunkt der Gesamtdichtung bildende Experiment angestellt: Die sonst gebundenen und zurückgedrängten Kräfte des Bösen werden entfesselt und zu offenem Kampfe herausgefordert, wobei nicht der teuflische Verführer, sondern Faust selber die Führung hat. Aber eben dadurch, daß Pflicht und Verantwortung, Gesittung und Mäßigung, wie das Leben des Tages sie ständig von jedem Menschen fordert, aufgegeben werden, so daß man fürchten müßte, es werde alles in einem Chaos hemmungslosen Trieblebens untergehen, wird zuerst der rettende Ausweg zu einer wirklichen Umkehr und Erlösung ge8
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siditet. Der Irrtum wird nicht sparsam genossen, sondern in vollen Zügen ausgeschlürft. Der Heilungsprozeß wird eben dadurch in Gang gebracht, daß zuerst das Fieber ausrast. Dazu kommen jene in anderem Zusammenhange sdion berührten Momente, die nur kurz nodi genannt seien. Der Dichter hat Faust und Gretchen als Kontrastfiguren empfunden und hingestellt. D e r überbildete, kulturmüde, naturentfremdete Gelehrte wird durch die reine und ursprüngliche Liebe des schlichten Naturkindes geheilt. Ferner ersteigt im Ausgang der Gretdientragödie der jugendliche Dichter eine Höhe des Tragischen, wie er sie - abgesehen von der Parallelszene in Faust I I , Fausts Sterbeszene nicht wieder erreicht hat. Es sind die Wahn- bzw. Umnachtungsszenen, die unter der Strahlung von Shakespeares Genius geschaffen sind und die gerade durch die paradoxe Verschmelzung von hohem Pathos und objektiver Ironie die stärkste dichterische Wirkung ausüben. Hier auch wird erst mit vollstem Einsatz das Motiv vom erlösenden Einfluß reiner Menschlichkeit, verkörpert in der Liebe einer Frau, verkündet. Und endlich ein Letztes: Durch die planwidrige Einführung Gretdiens wird ein dauernder innerer Kampf der beiden Rivalinnen und der mit ihnen zusammenhängenden Motive und Welten entfesselt. Durch die Gegenüberstellung der beiden Frauengestalten kommt es zu dem Programm von Faust I I , der Auseinandersetzung von Antike und Mittelalter, Klassik und Romantik, Heidentum und Christentum. Der Geist der Gretdientragödie und der des ursprünglich geplanten Helenaspiels mit seinem sinnlichen Verführungsmotiv stehen jetzt die ganze Dichtung hindurch in Spannung zueinander, bis am Ende Gretchen als eine zweite Beatrice Fausts Führerin in die himmlischen Regionen wird.
Kapitel 9
Die Tragik der Altersdichtung I. Tragik der Einseitigkeit Wir haben uns nun der Faust-II-Dichtung mit ihrer spezifischen Eigenart und ihrer besonderen Tragik zuzuwenden. Weither Art kann die Tragik einer Dichtung sein, bei welcher nicht von einem menschlichen Subjekte ausgegangen wird, sondern von einer objektiven Welt der Werte? Es müßte klar sein, daß niemals die absoluten Werte selber in
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den Bereich der tragischen Zersplitterung gezogen werden können. Wir haben genau im Sinne Goethes an jedem Punkt der Versuchung widerstanden, die Tragik zu einem Weltpessimismus zu übersteigern und in die Gottheit selber zu verlegen. Tragik gibt es unter allen Umständen nur im Bereich des Menschlichen. Die neue Art der Tragik, die uns hier begegnet und die in ihren Ansätzen sich auch in der älteren Dichtung schon keimhaft ankündigt, kann man sich auf folgende Weise deutlich machen. Der höchste Wert ist das Vollkommene, Göttliche, Absolute, die „Idee" des „Guten" im Sinne Piatons. Dieser höchste Wert erscheint f ü r uns gebrochen in die verschiedenen Wertsphären des Schönen und Guten, des Wahren und Heiligen, des Reinen und des Tatigen. Tragische Konflikte entstehen dadurch, daß sich Menschen in einseitiger Weise mit je einem dieser Werte zusammenschließen, wobei sich in den reinen Kampf um das erwählte Ideal auch immer trübe menschliche Leidenschaften und Mängel mit einschleichen. So verteidigt Kreon in Sophokles' Antigone mit Recht die sittliche Hoheit u n d Autorität des Staates, aber in seinen Eifer mischen sich auch persönliche Leidenschaften, Fanatismus und Rechthaberei. Die Menschen täuschen sich über die Reinheit ihrer Motive, empfinden aber Konflikte dieser Art als unverdient bitter, ihre Tragik als besonders schwer. Wie aber hinter den verschiedenen Werten die Idee des Wertes überhaupt,die Idee des „Guten" steht, von der sie alle ihre absoluten Ansprüche ableiten, so audi hinter den Einseitigkeiten der Menschen die Idee einer menschlichen Totalität, welche alle Einzelrichtungen in sich zusammenf a ß t und ausgleicht. Jeder objektive Wert erscheint als autonom, von keinem anderen abhängig, ein selbständiger und eigenartiger Ausdruck des Vollkommenen, Göttlichen: das Wahrhafte u n d das Tatige, Frömmigkeit und Herzensreinheit, das Pflichtmäßige u n d das Schöne. Die tragischen Verwicklungen entstehen dadurch, daß Menschen die berechtigten Ansprüche dieser Werte und Ideale erkennen u n d bejahen, dabei aber einseitig und fanatisch sich ihren Forderungen in einer Weise hingeben, daß sie dabei berechtigte andere Werte, die ebenfalls in der Idee des Vollkommenen bzw. in der Totalität des menschlichen Wesens begründet sind, außer acht lassen. Bei den tragischen Verwicklungen, die sich dann ergeben, kann daraus leicht der täuschende Schein entstehen, als läge ein tragischer Zwiespalt im Absoluten selber vor. Einige Beispiele mögen das Gesagte veranschaulichen. Luther z.B. war ein religiöses Genie, aber die Ausschließlichkeit seines religiösen Interesses f ü h r t e ihn in tragische Konflikte u n d schadete indirekt seiner großen Mission. Es fehlte ihm der humanistische Einschlag von Bildung, wie er damals bei Erasmus, Melanchthon und Zwingli zu finden 8*
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war, sowie die Erkenntnis von dem selbständigen Wert von Vernunft und Wissenschaft. - Kant war durchaus moralisch interessiert; aber das einseitige Betonen des Pflichtgemäßen und der Gesinnung ohne die Mitwirkung von Begeisterung, Tätigkeit und Frömmigkeit konnte nur zu einem abstrakten Sollen, einem rein formalen Imperativ führen. Ist man aber umgekehrt wie Nietzsche ganz auf das Tatige und Emotionale gestellt, ohne eine innere Bindung durdi Gewissen, Humanität usf., so entsteht eine Moral der Rücksichtslosigkeit und ein Machtrausch, wie sie uns die Schrecken der jüngsten Vergangenheit gezeigt haben und wie Goethe sie in der dämonischen Besessenheit des greisen Faust geschildert hat. An den Gestalten der „schönen Seele" und Therese hat Goethe gezeigt, wie Frömmigkeit ohne ästhetische Bildung und Lenkung auf Abwege gerät. Jene entdeckt auf dem Schlosse des Oheims plötzlich, daß ihrer Frömmigkeit die Weihe der Bildung und des Geschmacks fehlt, und läßt sich von dem Oheim auf den rechten Weg leiten. Von diesen möglichen tragischen Konflikten der Wertverwirklichung hat Goethe den ihm persönlich nächstliegenden behandelt, der in all seinen großen Dichtungen wiederkehrt, die Spannung zwischen ästhetischem Schauen und Dichten einerseits und praktischem Handeln andererseits, den Gegensatz zwischen der vita activa und contemplativa. Wir kennen die Polarität in Goethes Menschendarstellung: Werther und Albert, Tasso und Antonio, Egmont und Alba, Faust und Mephisto. „Der Sinn erweitert, aber lähmt; die Tat belebt, aber beschränkt." Wer sich der Tätigkeit und den unmittelbaren Aufgaben des Lebens versagt und sich ganz in die Gefilde der Phantasie zurückzieht wie Tasso, der muß scheitern, und er zieht trotz seiner hohen Begabung und Begnadung unersetzlich Schönes und Edles mit in den Untergang. Die tragische Stimmung entspringt ja nicht nur aus der Trauer über die Vergänglichkeit des Schönen; vielmehr liegt auch in der einseitig absoluten Hingabe an das Reich des Schönen eine große Gefahr. Das Schöne ist ein ideales, der Wirklichkeit entgegengesetztes Reich. Wir Menschen aber haben unsre wesentlichen und dringendsten Aufgaben in der nächsten Wirklichkeit. So schlägt in der Faust-II-Dichtung aus dem luftigen, phantastisch gespenstischen Scheinreich leuchtend und tödlich die steile Flamme der Sehnsucht empor, - Euphorion des Dranges nach dem Echten, Wahren, Wirklichen, sei es auch um den Preis von Gefahr und Tod. Nicht minder aber scheitert auch das Gegenüber, das völlig poesielose Tatertum des greisen Faust. Der erhabene Aufschwung, mit seiner Person aufzugehen in dem großen Werk, wird getrübt und verfälscht durch 116
die Dämonie der Macht, die alle Poesie und Frömmigkeit, alle Güte und Menschlichkeit brutal niedertritt. Das letzte Aufflackern der verlöschenden Lebensflamme, die begeisternde Vision vom freien Volk auf freiem Grund und Boden erschüttert den Hörer durch die Ironie, daß der Sterbende sich und seine Lage völlig verkennt, durch die Tragik, daß die Einsidit in die Verkehrtheit seines Weges zu spät kommt. II. Pandora als Schlüssel zu Faust II Durch keine andere Parallele kann die Faust-II-Dichtung und ihre Tragik heller erleuchtet werden als durch die mit dem Festspiel Pandora. In dieser universal entworfenen Dichtung hat Goethe zum ersten Male den typisierenden, „generischen" Charakter seiner Altersdichtung angewandt und die Totalität seines Weltbildes in der Auseinanderlegung des tätigen und beschaulichen Menschen dargestellt. Der Prometheus dieser Dichtung ist ein anderer als jener der Jugenddichtung. Er ist der eroslose, einseitige Täter, der genau dem Bilde des Faust der letzten Akte entspricht. Denn dessen Charakterzüge von dem früheren Faust herzuleiten und aus seiner Entwicklung zu verstehen, bedeutet ein völlig vergebliches Unterfangen und ein Mißverstehen der Intentionen des Dichters. Die Pandora wiederum entspricht genau der Helena von Faust II; beide Gestalten drücken dasselbe aus und erleuchten sich wechselseitig. Man verfehlt den Sinn der Dichtung, wenn man sie als Fortsetzung von Faust I nimmt. Es ist eine durchaus selbständige Konzeption, auf die Erschöpfung des allumfassenden Gegensatzes von Schauen und Handeln, Poesie und Politik gestellt. Der Dichter will mit vollem Bewußtsein ein universales, den ganzen Umkreis des Lebens umfassendes Werk schaffen, ähnlich - nur nodi intensiver - wie es ihm schon in „Dichtung und Wahrheit" und in den Meister-Romanen vorschwebte. In großen, einfachen Symbolen, die stellvertretend für vieles andere einstehen, soll die ganze Fülle bedeutenden Lebens entfaltet und dargestellt werden: Religion und Frömmigkeit, Wissenschaft und Kunst, Natur und Geschichte, Antike und Christentum, Altertum und Mittelalter, Klassik und Romantik; alles in Position und Gegenposition, ein jedes in seinem relativen Recht und seiner Größe, aber auch in seiner Tragik, Gefahr und Unzulänglichkeit. Von dem Schicksal einer einzelnen Person als des Helden ist überhaupt nicht mehr die Rede. Wenige Andeutungen mögen genügen, das zu begründen. So ist Pandora, die Alles-Schenkende, das schöne, durch seine Schönheit überall siegreiche, die Herzen bezwingende Weib. Aber sie ist mehr. Sie ist die Schönheit selber in menschlicher Gestalt; sie ist das herrlich117
ste Geschenk, das die Götter den Sterblichen gesandt haben. Aber auch diese Charakteristik genügt noch nicht. Pandora ist vielmehr das Gef ä ß für alles Wünschenswerte, Herrliche, Erfreuende, Begeisternde: Phantasie und Sehnsucht, Glaube und Liebe, Hoffnung und Sorge. „Sie steiget hernieder in tausend Gebilden, Sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden; Nach heiligen Maßen erglänzt sie und schallt, Und einzig veredelt die Form den Gehalt, Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt, Mir erschien sie in Jugend-, in Frauengestalt."
Ihre Kinder sind Elpore und Epimeleia, Hoffnung und Sorge. Die Hoffnung, die stillere Schwester der Phantasie, die „sanfte Treiberin, Trösterin", von der es heißt: „Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen; Ein Flügelschlag, und hinter uns Äonen!"
Epimeleia tröstet den trauernden Vater und verheißt ihm, was er nur wünscht. In dem Schmerz ihrer Liebe klingen klagende, echt faustische Tone a u f : „Ach, warum, ihr Götter, ist unendlich Alles, alles, endlich unser Glück nur! Sternenglanz und Mondes Überschimmer, Schattentiefe, Wassersturz und Rausdien Sind unendlich, endlich unser Glück nur."
Die beiden Brüder Prometheus und Epimetheus sind in Charakter, Wesen und Idealen einander polar entgegengesetzt. Was der eine besitzt, fehlt dem andren; die Schwäche des einen ist die Stärke des andren. Beide stellen die entgegengesetzten Pole eines einheitlichen Lebensbegriffs dar, einander schroff entgegengesetzt und in dieser Entgegensetzung aufeinander angewiesen. Es sind letzte große Typen, stilisiert; konstruiert, mit voller Absicht als denkbar schärfste Gegensätze gemeint. Eben durch diese bis zum Äußersten getriebene Entgegensetzung kommt es zu der tragischen Gebundenheit, welche der Dichter aufzeigen will und welche wir als die spezifische Tragik der Altersdichtung, als die „Tragik der Einseitigkeit" bezeichnen können. Der Dichter Faust aus dem Helenaspiel ist eine ganz andere Figur als der Gelehrte und Magier des ersten Teils - der letztere auch wieder eine andere Gestalt als der Liebhaber Gretchens - . Innerhalb der Faust-II-Dichtung wieder hat der Schönheitssucher des Helenaspiels nichts gemein mit dem brutalen Gewaltmenschen des Herrschaftsspiels; er ist vielmehr sein direktes Gegenteil. Jener ist ein Epimetheus-Faust, 118
dieser ein Prometheus-Faust. Wir haben in Faust II nicht mehr die aus Faust I wohlbekannten Gegenspieler Faust und Mephisto vor uns, die in die Welt hinausziehen und dort mancherlei erleben. Wir haben umgekehrt eine Welt vor uns, geteilt in die beiden Hemisphären Poesie und Politik. Und jede dieser Sphären erhält ihren eignen, auf sie abgestimmten Faust und ebenso ihren eignen Mephisto. Der Prometheus ist das genaue Bild des alten Faust der beiden letzten Akte. Er ist Realist, Mann der Tat, madithungrig und gewalttätig. Die Gaben der Pandora, die seinem Bruder als schönste und bedeutendste Wirklichkeit erscheinen, hält er für Luftgebilde der Phantasie, welche die törichte Menge täuschen und verführen. Er ist nur auf das Irdische, Diesseitige gerichtet, nur auf den äußeren Nutzen bedacht, auf Gewinn im Frieden, auf Schutz im Kriege. Er kennt keine Sammlung, keine Betrachtung, keine Ruhe, er will keine Feste feiern. „Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat." Seine Leute sind Schmiede und Krieger; ihr Tagewerk beginnt in allererster Frühe, „Tag vor dem Tage". Er hat f ü r seine Menschen das Feuer vom Himmel geraubt und die Schmiede, ihn als Herrscher verehrend, preisen ihn dafür: „Der es entzündete, Sidi es verbündete, Schmiedete, rundete Kronen dem Haupt."
Er weist Pandora und ihre himmlischen Gaben von sich. Von ihrer Schönheit machte nur die Kostbarkeit von Geschmeide und Gewand Eindruck auf ihn, während der Bruder die Liebenswürdige selber liebt und sich zueignet. Prometheus will keine Gaben der Götter. Dies Geschlecht ist genugsam für seine Bedürfnisse ausgestattet und soll sich selber helfen. Er ist der Vater und Gründer eines neuen Menschengeschlechts, das nicht auf die Hilfe der Götter, sondern allein auf sich selber vertraut. Er hat ihnen den eigenen titanischen, trotzig-unabhängigen Sinn, auch den Göttern gegenüber, eingepflanzt, ganz im Sinne Fausts, der ebenfalls Vater und Schöpfer eines neuen Volkes sein und den Menschen nicht nach drüben schauen lassen will: „Er stehe fest und sehe hier sich um!" „Nimmer sich beugen, Kräftig sich zeigen, Allen Gewalten Zum Trotz sich erhalten Rufet die Arme Der Götter herbei."
Epimetheus ist in jeder Hinsicht das genaue Widerspiel seines Bruders, unpraktisch, unbeholfen in allen äußeren irdischen Dingen, da119
gegen allem Ideellen gegenüber aufgeschlossen: Frömmigkeit, Phantasie, Poesie, Glaube, Liebe, Hoffnung, k u r z allen Gaben, deren Spenderin und Inbegriff Pandora ist. Er ist ein Träumer, Grübler, Dichter, der in Vergangenheit und Zukunft lebt. Er erneuert in immer wiederkehrendem Schmerz das Bild der entschwundenen Geliebten, wie Faust als Dichter-Magier in das Reich der Mütter niedersteigt und das Bild Helenas in schöpferischer Phantasie ans Lidit hebt. Seit er Pandora einmal erkannt und geliebt hat, sind Gefühle und Gedanken immer nur auf sie gerichtet, ganz in der Weise, wie Faust nach dem Anblick Helenas verzehrt wird von dem Verlangen, sie sich zuzueignen. „Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren." „Verschwinde mir des Lebens Atemkraft, Wenn ich midi je von dir zurückgewöhne!"
Für den Tatmenschen sind Furcht (Sorge) und Hoffnung „zwei der größten Menschenfeinde", für den Liebenden die besten Freunde; sie sind die Kinder von Epimetheus und Pandora. Nach dieser Gesamtorientierung über das Problem des Tragischen in der Faust-II-Dichtung sind wir darauf vorbereitet, im einzelnen die beiden Hauptthemen zu erörtern, die Tragik der Schönheit und die Tragik der Macht.
Kapitel 10
Tragik der Schönheit I. Die
Helena-Gestalt
Helena ist Goethes alte Liebe. Sie stand von früh auf im Mittelpunkt seiner Faust-Pläne, bis dann plötzlich und ganz unerwartet Gretchen sie verdrängte und ihren Platz einnahm. In Italien bemüht er sich vergebens, den alten Faden wieder anzuknüpfen, es will nicht gelingen. Erst gegen 1800 zur Zeit seiner größten Hellas-Begeisterung und der Freundschaft mit Schiller dichtet er, ganz selbständig und außerhalb der FaustDichtung, eine „Helena im Mittelalter. Satyrdrama. Episode zu Faust", nach Stil und Inhalt eine feierliche antike Tragödie. Mit einer uns heute kaum glaublichen Geringschätzung pflegt Goethe damals von der eigenen Jugenddichtung als einer „barbarischen" Produktion zu reden, von dem „Dunst- und Nebelweg", den er gegangen, von den „nordischen Gestalten, Faust und Kompagnie" usf. Die Helena er120
sdieint ihm zu schade für die Faust-Dichtung. Als Schiller bemerkt, daß das schöne Bild der Antike gerade durch die Gegenüberstellung mit dem Nordischen, Barbarischen vielleicht nur gewinnen könne, da stutzt er und bricht die Diskussion ab, indem er unbestimmt andeutend von einer weiten Aussicht spricht, die sich ihm von dem Gipfel Helena aus öffne. In Wirklichkeit ist er erregt und im Innersten getroffen, denn aus der Anregung des teilnehmenden Freundes ist ihm etwas weit Größeres aufgedämmert, nämlich der gigantische Plan, die beiden großen Mächte, die schon von jeher um Fausts Seele kämpften und die in seinem eigenen Gesamtschaffen ständig in fruchtbarer Wechselwirkung standen, zu einer großen, endgültigen mythischen Entscheidungsschlacht ins Feld zu führen: Heidentum und Christentum, Antike und Mittelalter, Klassik und Romantik, Sophokles und Dante, Helena und Gretchen. Dies wird nun der Inhalt der neuen großen Schöpfung. Nach einer weiteren Pause von mehreren Jahrzehnten folgt dann die Veröffentlichung einer in sich abgeschlossenen Helena-Dichtung unter dem Titel „Helena, klassisch-romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust". Vorher „Episode zu Faust", jetzt bereits „Zwischenspiel"! Die Dichtung umfaßt zwei Teile, das klassische Fragment von 1800 in antiken Trimetern und einen neu als OpernLibretto gedichteten Teil über Faust, Helena und Euphorion, dessen Thema die Versöhnung von Klassik und Romantik bildet. Das Ganze ist der gleidieText, der später als dritter Akt der Mittelpunkt einer neu entstehenden Faust-II-Dichtung wird. Manches bleibt unausgeglichen, andere Übergänge sind gewaltsam, immer aber sucht der Dichter aus der Not eine Tugend zu machen und auftauchende Schwierigkeiten zum Quell neuer Einsichten und Ausblicke zu benutzen. Es werden dramatische Verbindungsbrücken nach vorn und rückwärts gesdilagen, eine „klassische Walpurgisnacht" wird erfunden und später audi diese wieder ihres ursprünglichen Zweckes entkleidet und völlig umgedacht. Vgl. u. Kap. 19,1: „Durchbruch des religiösen Mythus durch den poetischen." Helena bringt ihre eigene Tragik mit sich und empfängt sie nicht erst von der Berührung mit der Faust-Tragödie, auch nicht durch die Verbindung mit der alten Faust-Sage. Sie ist ein selbständiges und berühmtes antikes Sagenmotiv von eignem tragischem Gewicht. Es ist das uralte Thema von Herrlichkeit und Gefahr der Frauenschönheit. Das tragische Schicksal alles Schönen und Vollkommenen ist schon darin angelegt, daß es sich selbst Ewigkeit verspricht und dennoch ebenso vergänglich ist wie das Gemeine. Darüber hinaus bedeutet Frauenschönheit in ihrem unvergleichlichen Glanz und ihrem berük121
kenden Zauber etwas wahrhaft Göttlidies, Beseligendes, Begnadendes, zugleich aber auch höchste Gefahr. Sie ist wert des letzten Einsatzes von Gut und Leben, würdig, daß ganze Völker sich für sie in Kampf und Tod stürzen. Wo immer die Schönheit sich zeigt, herrscht sie unbeabsichtigt und unbestreitbar und reißt die ihr Verfallenen und von ihr Beseligten gnadelos in Tod und Verderben. Vgl. Hebbels „Agnes Bernauer". Ein gewaltiges Motiv, eine tragische Gestalt von ungewöhnlicher Größe, die neben der Tragik der Taust-Gestalt selber den jungen Dichter bei seinen frühesten Faust-Plänen mächtig anzog und fesselte. - Als die Helena-Gestalt in die alte Faust-Sage eindrang, bildete sie insofern einen Höhepunkt, als sie der Inbegriff höchster Sinnenlust und teuflischer Verführungskunst war. An Faust selber ist es der Gipfel frevelhafter Vermessenheit und Sinnenlust, diese berühmteste Schönheit aller Zeiten, Halbgöttin und Königin, die aber jetzt schon seit zwei Jahrtausenden nicht mehr unter den Lebenden weilt, zum sinnlichen Liebesgenuß in seine Arme zu begehren. Es ist jenes Unterfangen, das ihn endgültig reif zur Hölle macht. Daß den jungen „Stürmer und Dränger" dies Motiv besonders reizte, ist begreiflich genug. Aber die damals geplante Helena, die man sich nur einigermaßen nach der 1816 diktierten Inhaltsangabe für Dichtung und Wahrheit - Paralipomenon 63 - vorstellen kann, war gewiß sehr verschieden von der klassischen Heroine der späteren Zeit. Man muß an ein dämonisches, verführerisches Weib denken, in der Art der Adelheid im „Urgötz", die alle Männer berückt. Inzwischen nahm Goethes Dichtung einen anderen Weg: Gretchen zog in sie ein, als Helenas Rivalin, sie von ihrem Platz verdrängend, und zwar endgültig. Denn die Helena der Spätdichtung ist keine individuelle, konkrete Gestalt von Fleisch und Blut mehr, sondern wie Pandora und wie die schöne Lilie im „Märchen" die Verkörperung der Jugend, Kunst und Schönheit. Das Helena-Spiel ist samt seinen Ergänzungen, der klassischen Walpurgisnacht und dem Abstieg zu den Müttern, die an Umfang und Bedeutung größte unter Goethes diditerischen Bearbeitungen antiker Stoffe, neben Prometheus und Pandora, Iphigenie und Elpenor, Nausikaa und Achilleis. Man spürt es dem Dichter an, wie er schwelgt im Anblick der höchsten Schönheit. Aber zu der Begeisterung für die Antike ist die Aufgeschlossenheit für das christliche Mittelalter hinzugetreten. Er sah in der Romantik den christlich-modernen Geist verkörpert, die Sehnsucht nach dem Ewigen, Unendlichen, den Überschwang des Gefühls, die Vertiefung und Beseelung der Poesie, ihr Verbunden^ sein mit der neuen deutschen Musik. Völlig romantisch ist der zweite Teil der Helena-Dichtung, der von Euphorion handelt, ein Opern122
libretto, ständig von Musik begleitet, zugleich eine wehmütige Huldigung und ein Denkmal für Lord Byron. Das lebhafte Echo, das diese Helena-Dichtung bei ihrer Veröffentlichung fand, ermutigte den Dichter, zu alten, längst aufgegebenen Plänen zurückzugreifen. Er wollte jetzt die Helena samt den übrigen Fragmenten in eine neue Faust-Dichtung eingliedern, die mit Fausts Tod und Verklärung enden sollte. Dies „Hauptgeschäft" nimmt den hochbetagten Dichter nun bis zu seinem Tode in Anspruch. Jetzt entwirft er in strenger Disposition den Plan des Ganzen, die entscheidende Zweiteilung in die Sphären der „Poesie" und „Politik", wie wir sie oben in Kapitel 2 aufgewiesen haben. Der jugendliche Genius im Karneval am Kaiserhof, ursprünglich Verkörperung der Verschwendung, bekommt nun die Bedeutung der Poesie. Die Helena-Beschwörung wird an den Kaiserhof verlegt, um dadurch eine Verbindung der beiden großen Teile herzustellen. Dabei wurde der formale Charakter einer universalen Weltschau, eines bunten, alles umfassenden Maskenzuges noch schärfer hervorgehoben und die letzten Spuren einer kausal verknüpfenden, dramatischen Behandlung getilgt. Die Schwäche des Mittelalters wird erblickt in dem „Wust von Rittertum und Pfäfferei". Andererseits fällt auch helles Lidit auf Mittelalter und Romantik. Selbst Mephisto verschmäht den Gesang der antiken Sirenen und rühmt die neue beseeltere Musik. Den Höhepunkt aber bildet die vertiefte Auffassung der Liebe, welche die antike weit hinter sich läßt: So wirft sich Lynkeus vor Helena nieder: „Laß mich knien, laß mich schauen, L a ß midi sterben, laß mich leben. Denn schon bin ich hingegeben Dieser gottgegebnen Frauen."
II. Klassische
Walpurgisnacht
Das Vorspiel zur Helena bildet der 2. Akt mit der Erschaffung des künstlichen Menschleins Homunculus und der klassischen Walpurgisnacht. Ursprünglich ist dies alles vom Dichter nur erfunden, um eine dramatische Brücke von den Kaiserszenen zum Helena-Spiel zu schaffen, aber unter seinen Händen wird später daraus etwas ganz anderes. Die Motivierung ist folgende: Faust besteht darauf, Helena zu gewinnen. Indes sie ist ja längst tot, und ihr Schatten weilt im Hades. Da weiß das kleine künstliche Mensdilein, ein potenzierter Wagner, Rat, da er ein vollständiger lebender Weltkalender, überklug und rein geistig ist. Auf den berüchtigten Zauberfeldern Thessaliens geben sich jährlich einmal die abgeschiedenen Geister und Dämonen des Alter123
tums ein Stelldichein, und es trifft sich so günstig, daß diese Nacht eben heute bevorsteht. Also auf und dahin! Es gibt zunächst nur eine Art Heerschau der antiken klassischen Gestalten, angefangen von den niedrigsten und chaotischen bis zum Gipfel höchster und vollendeter Schönheit. Mit ihnen kommen Religion, Kultur, Geschichte, Philosophie und Kunst des Altertums zur Darstellung. Diese Heerschau zieht sich hin bis zum Eingang in die Unterwelt und geht unten in das Heerlager der Todesgöttin Proserpina über. Hier setzt nun ein zweites Sagenmotiv ein, das der Hadesfahrt, nach den berühmten Mustern bei Homer, Vergil, Aristophanes und Dante. Nicht mehr Mephisto soll die kühne Tat vollbringen, sondern Faust selber, und zwar als „neuer Orpheus", indem er durch die Macht seiner Rede die Todesgöttin, die selber noch immer mit Wehmut ihres Erdendaseins gedenkt, bis zu Tränen rührt. - Ferner gewinnt der Begriff „Walpurgisnacht" für den Dichter eine religiöse Bedeutung. Alte, von der Oberwelt verdrängte Kulte und Religionen streben in dieser Zaubernacht zu kurzer Auferstehung ans Licht. So hatte Goethe schon in der Ballade „Die erste Walpurgisnacht" den verdrängten heidnisch-germanischen Glauben gefeiert, der sich gegen das siegreiche Vordringen des Christentums im Verborgenen mit Zähigkeit behauptet und angeblich in den unwirtlichen Gegenden des Brodeens seine alten Bräuche begeht. „Die Flamme reinigt sich vom Rauch, So reinig' unsern Glauben! Und raubt man uns den alten Brauch, Dein Licht, wer kann es rauben?"
Hier ist es der entschwundene Griechenglaube, der gefeiert wird und in Gegensatz zu dem nordischen Hexensabbath auf dem Blocksberg die Befreiung und Verklärung einer reinen, natürlichen Sinnlichkeit darstellt. Das verbindende Motiv allgemeinerer Art ist das des Karnevals, Theaters oder Jahrmarkts als Bild des Lebens. Es ist ein tolles Treiben, das aber nur eine flüchtige Nacht währt, bei Morgengrauen ist alles wie ein Hauch zerstoben. Hier mündet alles in einen feierlichen Hymnus auf die Elemente und insbesondere die alldurchdringend schöpferische Macht des Eros. Damit ist zugleich an die Gestalt des eroslos erzeugten Homunculus angeknüpft, der reiner Geist ist, bloße „Entelechie", und sich nach Saft und Kraft, nach Natur und Wirklichkeit sehnt. Ursprünglich eine komische Nebenfigur, wird er nun der eigentliche Mittelpunkt. Er zerschellt in Sehnsucht am Muschelthron der Liebesgöttin Galathee, die hier für Helena steht. 124
„Und ringsum ist alles vom Feuer umronnen, So herrsche denn Eros, der alles begonnen!"
Es ist die „Aristeia" des heidnisch-griechischen Glaubens, wie die himmlische Apotheose am Schluß der Dichtung die des Christentums. Das Erotische wird nach Art von Piatons Gastmahl in der ganzen Fülle und ansteigenden Stufenreihe seiner Erscheinungsweisen durchgeprobt, von den niedrigsten bis zu den höchsten Formen, von der plumpen Gemeinheit Mephistos, dem leidenschaf tlidien Ungestüm des Homunculus, der Maßlosigkeit des Euphorion, der Begeisterung des Lynkeus, der beglückenden Erinnerung des alten Chiron und der zarten väterlichen Zuneigung des alten Nereus zu Galathee; von der klaren, reinen Flamme des Liebesglücks bei Faust und Helena bis schließlich hin zu der erotischen religiösen Mystik, welche die alles begnadende und erlösende Macht des „Ewig-Weiblichen" in der mater gloriosa verehrt. Die letzte Gestalt der Walpurgisnacht weicht erheblich von den früheren Plänen ab. Hier ist alles Vergangene Gegenwart geworden, eine „Wesensschau". Faust erlebt ein zeitloses Glück, die Verwirklichung des antiken Lebensideals. „So sei auch sie durch keine Zeit gebunden! Hat doch Achill auf Pherä sie g e f u n d e n , . . . Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt In's Leben ziehn die einzigste Gestalt?"
Die Handlung der Walpurgisnacht ist aufgelöst, das Ganze gesprengt, die einzelnen Teile machen sich selbständig. Homunculus - wie die Kabiren und andere - übernimmt die Rolle Fausts als des ewig Unbefriedigten; die Hadesszene vor der Todesgöttin fällt ganz weg und taucht verändert an anderer Stelle wieder auf: es ist der Gang Fausts zu den Müttern, der nun ganz zuletzt noch in den 1. Akt eingeschoben wird. Die Heerschau der Dämonen aber ist zu einer heidnischen Kultfeier auf mQndhellem Meere geworden, die mit dem Lobgesang über den Wassern ausklingt. Vgl. Kap. 19,1. Wie die erste H ä l f t e von Faust II das Reich der „Poesie" behandelt und das Grundphänomen der Schönheit und des Glaubens in Kunst und Leben entfaltet, so wird auch Faust diesem Gehalt angepaßt und erscheint plötzlich als Dichter. Sein Abstieg in das Reich der Mütter ist der mythische Ausdruck f ü r die dichterische Versenkung in die Urbilder des Lebens und f ü r die künstlerische Schöpfertätigkeit. Es ist ein gefährlicher Gang, ohne schützende Mythen und Gehäuse von Glaubensvorstellungen. Der einzige Kompaß durch diese Leere ist der glühende, aber in seiner H a n d mächtig wachsende Schlüssel der Dichtergabe, die ihm überall den Zugang öffnet. 125
„Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung."
Die zeitlosen Bilder sind als solche aller Veränderung und Vergänglichkeit entnommen. Sie können aber in den Kreislauf des Lebens in zwiefach verschiedener Weise wieder eingeführt werden, durch die Schöpfung Gottes oder durch die bildende Phantasie des Künstlers. „"Was einmal war, in allem Glanz und Schein, Es regt sich dort; denn es will ewig sein. Und ihr verteilt es, allgewaltige Mächte, Zum Zelt des Tages, zum Gewölb' der Nächte."
III. Die Tragik der Schönheit Das Gesamtphänomen des Schönen soll nach dem Plan des Dichters in der ersten Hälfte der Faust-I I-Dichtung entfaltet werden, in seinen mancherlei Verzweigungen, in seiner ganzen Fülle, aber auch in seinen Gefahren. Schönheit hängt zusammen mit Kunstschaffen und Kunstgenießen; als Lebensmacht, als Form lebendiger Wesen ist sie Bildung. Sie ist weiterhin der Liebe und ihrer Schöpferkraft verwandt, und endlich ist sie das ideale Reich des schönen Scheins, das sich über dieser Wirklichkeit aufbaut und allen Dingen einen eignen Glanz verleiht. Alles dies sollte zur Sprache kommen. Es ergab sich aber die Schwierigkeit, daß das gedruckte Helena-Spiel selber schon seit langem in den Händen des Publikums war und nicht mehr geändert und erweitert werden konnte. So wurde nun Fausts Dichtertum in den noch ungedruckten ersten Akt verlegt und dort eingeschoben durch die Umdeutung des Knaben, der im Karneval das geflügelte Gespann lenkt und ursprünglich die Verschwendung, nun aber die Poesie bedeutet; vor allem aber erscheint Fausts Dichtertum in dem „Abstieg zu den Müttern". Die beseligende und weltdurchwaltende Macht des Eros feiert ihren Triumph in der kultischen Feier auf mondhellem Meere, in welcher der zweite Akt gipfelt. Die Tragik der Schönheit aber als Lebensform war schon vorher mit der Gestalt des Euphorion verbunden gewesen. Die Tragik, wie sie hier in Helena verkörpert erscheint, liegt zunächst in der Vergänglichkeit des Schönen. Es ist die alte schmerzliche Erfahrung, „daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nie vereint". Die Tragik der Frauenschönheit insbesondere liegt darin, daß sie ihre Träger zwar zu großen Triumphen führt, daß sie aber die Leidenschaften und Begierden der Männer aufreizt, so daß sie Recht und Unrecht nicht mehr unterscheiden und alle gültigen und geheiligten Ordnungen blind durchbrechen. Die tiefste Tragik der Schönheit aber liegt darin, 126
daß sie als Weltanschauung, als Lebensideal dem, der sich ihr verschreibt, blindlings in äußerste Gefahren, in Tod und Untergang locken kann. Das Ideal der allseitigen Bildung, eines Lebens in Harmonie und Schönheit, so blendend und verführerisch es auch ist, trägt in sich genau so den Keim unaufgelöster Tragik wie umgekehrt das eroslose Tätertum des Prometheus-Faust der letzten Akte. Das Reich des schönen Scheins ist zwar glänzend und beglückend, aber es ist am Ende dennoch Schein, Magie, und führt in schwere Konflikte mit der Wirklichkeit des Lebens und seinen nächsten Pflichten; zu einer Verfremdung des Lebens durch Mangel an Verantwortung und tätigem Einsatz, „engagement". Der Dichter, dessen ganzes Leben und Lebenswerk jenem Ideal der Schönheit, der Kunst und Bildung geweiht war, deckt nun mit einer erschütternden Wahrhaftigkeit und Offenheit die Grenzen und Gefahren dieser Lebensauffassung auf. Er hatte sein Bekenntnis zu diesem Lebensideal, das in dem Griechentum sich beispielhaft verwirklicht zu haben schien, in der Gedächtnisschrift auf Winckelmann niedergelegt; diese Schrift und die Helena-Dichtung erläutern und ergänzen sich aufs glücklichste. Es heißt dort, der schöne Mensch sei nur einen Augenblick schön. Der Mensch, auf dem Gipfel der Natur stehend, bringe in sich wieder einen neuen Gipfel hervor, nämlich die Kunst, „die alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige" in sich aufnehme. In dem Bilde des Olympischen Zeus erblickten die Griechen ihr eigenes Wesen verklärt: „Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben." Im Helena-Spiel heißt es entsprechend: „So war Apoll den Hirten zugestaltet, Daß ihm der schönsten einer glich; Denn w o Natur im reinen Kreise waltet, Ergreifen alle Welten sich."
Wilhelm Meister-Goethe hatte sein tiefstes Glück darin gesehen, sich nach allen Seiten hin auszubilden und die Pyramide seines Daseins so hoch wie möglich zu errichten. Ein Leben in Schönheit und Harmonie, ein freies aus eigener Wurzel sich Bilden, eine fast göttliche Verehrung der Kunst waren die leitenden Leuchtfeuer seiner stürmisch bewegten Lebensfahrt gewesen. Aber am Ende dieses beispiellos reichen und erfüllten Lebens kehrt in auffälliger und erschreckender Weise immer aufs neue das düstere Wort Entsagung wieder. Das ist jene Lebenshaltung, die er in brausender Jugendzeit aufs heftigste abgewiesen und deren Gegenteil er in seiner Faust-Gestalt verkörpert hatte. Die Wanderjahre oder „die Entsagenden" greifen in schroffster Weise das Ideal der allseitigen Bildung an: „Narrenspossen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu." 127
Auf dem Ausgang der Helena-Dichtung liegt eine düster-schwermütige Stimmung. Es ist nicht nur das Los des Schönen, seine Vergänglichkeit, seine Zerbrechlichkeit; nicht nur dies, daß die Schönheit durch ihr bloßes Dasein Gefahr und Verderben mit sich bringt, es ist noch mehr. Es ist die in tiefster Wahrhaftigkeit und bitterster Entsagung errungene Erkenntnis und das freimütige Bekenntnis, daß mit Dichtung und Schönheit nicht jede Lage des Lebens gemeistert werden kann. Conrad Ferdinand Meyer hat die entsprechende Wendung in Goethes Ehrfurchtslehre in kongenialer Einfühlung in dem Sonett „Die Krypte" interpretiert: „Vergeßt die Krypte n i c h t . . . Wir mögen, wenn die Leiden uns umnachten, Nicht Glück noch Ruhm, nur größern Schmerz betrachten."
Das ganze Helena-Spiel bewegt sich in einer seltsamen „Traum- und Zaubersphäre", einer Welt des Scheins, der Magie. Dies ideale Reich kann dem Menschen hohes Glück bedeuten. Das wirkliche Leben aber mit seinen Härten und Gefahren, in seiner ständigen Bedrohtheit, seiner Zufälligkeit, seiner Bedürftigkeit und Schuld vor dem unbestechlichen Gericht der Ewigkeit wird dadurch nicht wahrhaft erlöst und nicht von seiner Tragik befreit. Wer nichts anderes kennt als „ein Leben in Schönheit", an dem geht das wirkliche Leben vorüber und läßt ihn leer zurück. Nach Schopenhauer gewährt das Erlebnis des Schönen eine wohltätige Befreiung des Gemüts, eine Erlösung von dem quälenden Druck und dem schweren Ernst des Lebens. Aber diese ästhetische Erlösung ist nicht wirklich und dauerhaft, sondern nur flüchtig und scheinbar, eine Erlösung in der Phantasie. Die Kunst ist ein Trost im Leben, nicht aber eine wirkliche Befreiung von seiner Fragwürdigkeit und Tragik. Ähnlich dieser letzte Ausblick in Goethes Faust. Es ist bei Goethe indes kein Verrat seiner Ideale, keine Untreue gegen sich selbst, kein leichtsinniges Verbrennen der Götterbilder, die er einst angebetet hat, wenn er sich zu der schmerzlichen Einsicht durchringt, daß die Schönheit im Leben nicht unter allen Umständen das letzte Wort behalten kann. Goethe ist wahrhaft liebenswürdig da, wo er die Welt „mit liebevollen Blicken" umfaßt und seinem Verlangen nach Harmonie und Schönheit nachgibt. Größer aber ist er da, wo er sich aus tiefster Wahrhaftigkeit und Objektivität gegen seine eigenen Lieblingsvorstellungen wendet und dem letzten Ernst des Lebens gefaßt und furchtlos ins Auge sieht. Es handelt sich dabei wohlgemerkt nicht um eine Kritik des Ästhetischen von außen her, von einem nüchtern prosaischen, außerkünst128
lerischen Standpunkt aus. Vielmehr ist es gerade die aufs höchste gesteigerte Empfindung und die Macht des künstlerischen Erlebens, die von sich selbst aus freiwillig sich einem höheren Gericht unterstellen, dessen Maßstäbe über das Nur-Ästhetisdie hinausreichen. Ergreifend hat Goethe dies in der Art dargestellt, wie das Helena-Spiel ausgeht oder richtiger abbricht. Das Idyll der beiden Liebenden wird nicht von außen gestört, sondern von innen her aufgelöst, und zwar durch die freiwillige Selbsthingabe Euphorions, des kindlichen flügellosen Genius, „dem die ewigen Melodien durch die Glieder sich bewegen". E r ist ein gesteigerter Faust, durch und durch Künstler, die verkörperte Poesie. TT • *• T, r
„Heilige Poesie, Himmelan steige sie! Glänze, der schönste Stern, Fern und so weiter fern!"
Aber der mächtige und unwiderstehliche Drang, der ihn treibt, sich zu verschwenden, ist das Verlangen, aus der Traumwelt in die Wirklichkeit vorzustoßen, aus dem trügenden Schein in die Wahrheit: „Dorthin! Ich muß! Ich muß! Gönnt mir den Flug!" „Ikarus! Ikarus! Jammer genug!"
Was hilft es, idyllischen Friedensträumen nachzuhängen, wenn von außen her Krieg und Gefahr drohen? Es ist jedesmal das Gleiche, der tragische Ausgang am Schluß der Gretchen-Tragödie, der HelenaTragödie, der Herrscher-Tragödie: der Durchbruch aus Schein und U n wirklichkeit zu Wahrheit und Wirklichkeit, der Abschied von einer Scheinwelt und das Gericht über sie. Der Schein zerrinnt, der Traum verfliegt, und eine furchtbare graue Wirklichkeit bleibt zurück. Helena und Gretchen sollten nach einem früheren Plan in einem feierlichen „Agon" konfrontiert werden. Geblieben ist in der Dichtung die mildere Form davon: Als Faust, aus dem Traumland heimkehrend in die Wirklichkeit, von der Wolke, die ihn getragen, verlassen wird, schaut er ihr in Bewunderung nach. Aus den schimmernd weißen Wolkenbergen scheint sich die üppige, göttliche Gestalt einer Juno, Leda, Helena zu entwickeln. Doch sogleich verschwimmt das Bild wieder und löst sich auf. „Formlos breit und aufgetürmt, ruht es im Osten, fernen Eisgebirgen gleich, Und spiegelt blendend flüchtiger Tage großen Sinn."
Es liegt darin Staunen und Bewunderung, eine tiefe Dankbarkeit, aber auch Trauer und Wehmut, Abschied und Verzicht. Das Letzte, 9
129
Höchste wird hier nicht gefunden. Aber ein anderes, bescheideneres Gebilde, „ein zarter, lichter N e b e l s t r e i f u m s c h w e b t ihm kühl und schmeichelhaft Brust und Stirn. Die Vision der majestätischen Sdiönheit Helenas tritt zurück und verblaßt vor einem lieblicheren Bilde, der „Seelenschönheit" Gretchens, die in ihrer Jugendlichkeit als „Aurora", als die Morgenröte bezeichnet wird. „'Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, Löst sidi nicht auf, erhebt sidi in den Äther hin Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort."
Kapitelll
Tragik der Macht I. Poesie und Politik. Vision der
Welt-Katastrophe
Gegen Ende der Faustdichtung hat der Dichter in kunstvoller Weise die verschiedenen Dispositionen zusammengefaßt, die angesponnenen Fäden mit einander verwoben. Der Fall liegt ähnlich wie in „Dichtung und Wahrheit", wo drei verschiedene Dispositionen einander kreuzen: einmal der chronologische Gang der Ereignisse im Leben des jungen Goethe, sodann der geschichtliche Gang der geistig-religiösen Entwicklung der Menschheit, endlich ein sachlich-systematisches Schema der großen Religionstypen. Vgl. auch Hegels Phänomenologie! So mußte im Faustschluß einmal die eigentliche Handlung aus Faust I zu Ende gebracht werden; daneben läßt sich ein Schema von Fausts Lebensaltern beobachten, Jüngling, \ f a n n und Greis, endlich die systematischen Themen von Faust II, die Auseinandersetzung von heidnischer Antike und christlichem Mittelalter, vor allem aber die Aufteilung des gesamten Lebenskreises in „Poesie" und „Politik", beide in weitestem Sinne genommen. Genau wie im Pandora-Festspiel, wo die beiden ungleichen Brüder Prometheus und Epimetheus einander gegenübergestellt werden, gehört zur „Poesie" alles Seelische, Innere, Ideelle: Wissenschaft und Kunst, Schönheit und Bildung, Glaube und Religion, zur „Politik" Staatsleben in Frieden und Krieg, Gemeinschaftsleben und Regierung, sodann Eigentum und Erwerb, Handel und "Wirtschaftsleben, endlich Unternehmertum und Technik. Außer dem Pandorafestspiel ist hier der beste Kommentar das Märchen von der grünen Schlange, das Goethes politisches Glaubensbekenntnis enthält, und die 130
einschlägigen Abschnitte der Wander jahre über Sozialismus, Eigentum und Wirtschaft. Der politische Teil umfaßt in Faust II die beiden Schlußakte, nachdem schon im 1. Akte durch die Szenen am Kaiserhofe die Verbindung aufgenommen ist. Der Dichter hat hier seine politischen Ideale dargestellt, vor allem aber die politischen Wahnvorstellungen und Irrtümer entlarvt und verspottet, indem er in unheimlich faszinierender Weise die drohend in der Ferne sich ankündigende Weltkatastrophe voraussagt und beschreibt, fast als sei er selbst noch deren Zeuge gewesen: Inflation, Vermassung, Dämonisierung der Macht, Massensuggestion, das Gegeneinander-Hetzen der Völker, die für die täuschend vorgehaltenen Ideale in ihr Verderben stürzen, wie der Stier sich auf das vorgehaltene rote Tudi stürzt. Endlich erkennt er den schicksalsmäßigen Zusammenhang der großen Katastrophe mit der schwindelerregenden Entwicklung der modernen Technik. Beurteiler Goethes, die ihn für einen Ästheten halten, der nur in Harmonie und Schönheit schwelge, das wirkliche Leben in seinen Härten und Dämonien aber verkenne, können sich hier belehren lassen. Er dachte groß von dem Menschentum, aber gering von dem wirklichen Menschen, zumal von der Masse. Er steht Kant nahe, wenn dieser erklärt: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein". Der alte Goethe fühlte sich fremd in seiner Zeit, so sehr, daß er sogar die Faust-II-Dichtung ihr vorenthielt. Dem Freunde Zelter gegenüber klagte er - Brief vom 6 . 6 . 1 8 2 5 - , alles sei jetzt "ultra", alles wolle „transzendieren", die Mittelmäßigkeit sei Trumpf. „Wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt". Er prophezeit mit unheimlicher Klarheit das Herannahen einer großen Weltkatastrophe, die mit dem Ansteigen der Technik zusammenhängt und die niemand*aufhalten kann: „Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen . . . Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann H i l f e bringen. U n d wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen!" Wanderjahre II, 13.
Es ist ein genialer Gedanke des Dichters und eine tiefe Einsicht, wenn er hier die grenzenlose Unrast der modernen Kultur, die auf dem Großbetrieb der Fabriken, der Intensivierung von Handel und Verkehr, auf den gewaltigen Erfindungen der Technik beruht, in das Faustthema verwebt. Die Technik ist in der Tat die moderne Form der 9*
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Magie, die Erfüllung ihrer Wünsche. Das alte Faustische Sehnen hat sidi in seltsamerweise erfüllt, aber den Menschen nicht glücklich gemadit. II. Herrschaft
und Regiment.
Staatsleben
in Frieden und
Krieg
Hier wird das Ideal des glücklichen Staates wie des echten Herrschers gezeichnet, mit weit größerer Ausführlichkeit aber das Bild eines Staates und Herrschers, wie er nicht sein soll. Der alte Dichter macht seinem verhaltenen Grimm und Unmut, den er oft unterdrükken mußte, hier unter der Hülle der Poesie gründlich Luft. Mit breitem, behaglichem Pinsel wird das Leben und Treiben der Mensdien mit ihren Mängeln und Torheiten ausgemalt. In dem Maskenzuge der Mummenschanz versinnbildlicht der plumpe Elefant - das Gegenstück zu dem täppischen Riesen des „Märchens" - die rohe Masse. Sie wird mit sicherer und kluger Hand von einer „zierlich zarten Frau" gelenkt, die ihm im Nacken sitzt. Oben auf seinem Turme aber thront, frei nach allen Seiten sidi wendend, die „Göttin aller Tätigkeiten". Wie im Märchen wird das Verhältnis von Poesie und Politik, Dichter und Herrscher erörtert: Der Gott des Reichtums und der Fülle bekennt sidi zu seinem geliebten Sohne, der noch reicher sei als er selber. In der Schlußvision vom freien Volk auf freiem Grunde wird das positive Ideal einer echten Gemeinsdiaft und eines rechten Herrschers entworfen. Es ist eine Verzerrung und Verfremdung, wenn der Mächtige seine Macht mißbraucht zur Unterdrückung anderer, aber dieser Anreiz ist immer mit der Macht verbunden. Sie ist dämonischen Charakters und wendet sich zuletzt gegen ihren Träger. Der Herrscher darf kein Despot sein. Kann man zugleich regieren und genießen wollen.
„Ein großer Irrtum. W e r befehlen soll, Muß im Befehlen Seligkeit empfinden . .
Solchem Ideal eines Staatswesens und eines Herrschers wird mit beißender Ironie und Satire das Bild des tatsächlichen politischen Treibens der Staatsmänner, Völker, Diplomaten und Parteien gegenübergestellt. „Zuletzt, bei allen Teufelsfesten, W i r k t der Parteihaß doch zum besten Bis in den allerletzten Graus."
Gleich zu Beginn setzt die Dichtung mit der Schilderung eines verfallenden Staatswesens ein. Ein persönlich zwar edler, aber für seinen Beruf völlig untauglicher Herrscher, überall Korruption, Habgier, Kampf aller gegen alle. Hier ist Mephisto in seinem Element und findet für die Sdineide seines Hohnes und seiner Bosheit eine reiche 132
Ernte. Mit satanischer Schadenfreude beschleunigt er das lawinenartig herandrohende Verderben, indem er dem Herrscher wie dem Volke schmeichelt und überall den Torheiten und Schwächen der Mensdien nachgibt. Die Kassen sind leer. D a spielt er gemeinsam mit seinem Kumpan Faust dem Kaiser falschen Reichtum in die Hände, das wertlose Papiergeld, wohl wissend: „Wenn sie den Stein der Weisen hätten, Der Weise mangelte dem Stein."
Wie im Helenaspiel dem urtümlichen Sinne von Magie zugleich der übertragene Sinn von geistigem Schöpfertum unterlegt wurde, so wird hier die Magie umgekehrt verstanden als Schein und Trug, Gaukelei und Blendwerk. J a , man möchte sagen, es handle sich eigentlich gar nicht um eine Übertragung, denn es bedarf im Grunde gar nicht der Zaubereien und Gaukeleien Mephistos, - in dem wirklichen, ungeschminkt dargestellten Leben und Treiben der Menschen liegt seinem Wesen nach schon etwas Scheinhaftes, Gespenstisches, Spukhaftes. Die H a n d eines jeden ist wider den andern, überall Haß und Selbstsucht, heuchlerisch in die Maske der Tugend gekleidet. Die Rauflust der Ritter, die Heuchelei und Habgier der Pfaffen werden gegeißelt: „Die Heiligen sind es und die Ritter, Sie stehen jedem Ungewitter Und nehmen Kirch' und Staat zum Lohn."
Der geistliche Kanzler vertritt die schamlose Herrsch- und Habgier der Kirche. Die Revolution gibt die Pfaffenparole aus, Friede und Gerechtigkeit versöhnen zu wollen. Der Sieg des Kaisers wird mit höllischen Zauberkräften errungen, aber der Herrscher tröstet sich bald darüber und preist den ihm gewognen Gott: „Und alles stimmt mit ein, er braucht nicht zu befehlen: Herr Gott, dich loben wir! Aus Millionen Kehlen." Ähnlich heißt es in den zahmen Xenien: Als die Engel f ü r uns Gerechte stritten, ging alles schief, mit der Hilfe des Teufels aber wandte sich das Glück. „Natürlich f a n d man hinterdrein, Es sei recht hübsdi, ein Teufel zu sein."
Der gleiche Spott trifft die ewigen Kriegshändel und Parteikämpfe: „Ganz recht! Sie sind nicht mehr zu zügeln; Schon sdiallt's von ritterlichen Prügeln Wie in der holden alten Zeit."
Es ist immer und überall dasselbe, dies gegenseitige Sich-Morden: Sinnlosigkeit, Zwecklosigkeit, wobei die unglücklichen Mensdien ihre 133
Haut für nichts und wieder nichts zu Markte tragen und am Ende die Betrogenen sind. Der Teufel aber lacht sich ins Fäustchen: „Und keiner merkt: er ist doch nur geneckt Von Asmodeus, der dahinter steckt. Sie streiten sich, so heißt's, um Freiheitsrechte; Genau besehn, sind's Knechte gegen Knechte."
Ein schauerliches Symbol für diese zu allen Zeiten sich wiederholende Sinnlosigkeit ist es, wie Mephisto die alten Rüstungssäle des Mittelalters plündert und seine Gespenster in die hohlen Gehäuse und klappernden Blechhauben steckt. III. Besitz und
Wirtschaft
Die zweite Frage betrifft Besitz und Reichtum, Geld und Gut, Handel und Erwerb. Hier gibt es eine doppelte Gefahr, auf der einen Seite den Geiz, das Laster des Alters, und andererseits die Entsagung, die freiwillige Armut, die allen Gefahren der Habsucht entgehen will. Audi dies ist nicht das Richtige. Der Reiche soll der Verantwortung nicht ausweichen, nicht aus moralischen Bedenken dem Besitz entsagen, sondern im Gegenteil ihn festhalten und möglichst fruchtbar machen, sich selbst zum Mittelpunkt machen, um andern nützlich sein zu können. Er soll Egoist sein, um nicht Egoist zu werden. Es sind die Gedanken, die Goethe im einzelnen im 1. Buche bei dem amerikanischen Oheim und später im 3. Buche der Wanderjahre ausgeführt hat. Das Grundmotiv ist die Unterordnung des toten Besitzes unter das Wohl des lebendigen Menschen. Der Besitz soll das persönliche Leben erhöhen und steigern, nicht aber umgekehrt selber Herr werden und den Menschen beherrschen, wie es bei dem Geizhals geschieht, welcher Schätze aufhäuft, ohne sie nutzbar zu machen. Ebenso ist ein wertvolles Gut, etwa ein Kunstwerk, nur für den ein wirklicher Besitz, der seinen inneren Wert zu schätzen weiß, der es nicht nur „hat", sondern wirklich „besitzt". Mephisto ist der Anführer von Fausts Flotte und häuft in dessen Prunkschloß Schätze auf Schätze. Er ist mit nur 2 Schiffen ausgelaufen, mit 20 kommt er wieder; er hat mit seinen drei „Gewaltigen" Seeräuberei getrieben. „Das freie Meer befreit den Geist", meint er. Eine echt Goethesche Wendung, doppeldeutig, hintersinnig, ebenso wie die herrlichen Worte des sterbenden Faust je nach der Beziehung einen doppelten Sinn haben können. Und dann, in Gegensatz zu Shakespeares „königlichem Kaufmann": „Ich müßte keine Schiffahrt kennen: Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen."
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Als die „redlichen" Soldaten das Zelt des Gegenkaisers besetzen, finden sie dort schon die Schlachtfeld-Hyänen „Habebald" und „Eilebeute", von denen sie sich scharf distanzieren. Faust selber wird seines ungeheuren Besitzes nicht froh. Er ist einsam, ohne Freunde, ohne Glaube und Liebe, besessen von Habgier und Machtstreben. Er häuft Schätze auf Schätze, in seinem Innern aber ist er bettelarm, ein Sklave seines Reichtums. Der Dichter bringt das dadurch zum Ausdruck, daß der übermäßig Reiche den bescheidenen Armen ihren kleinen Besitz noch raubt. „Denn Naboths Weinberg war schon da", spottet Mephisto grinsend ad spectatores. - Faust hat sich über Gut und Böse, über Gewissensbedenken, über Seelenfrieden und Menschenglück hinweggesetzt, - ohne freilich die letzten geheimen Vorwürfe in sich ersticken zu können, aus denen heraus dann der unheimliche Rachegeist der Sorge sich erhebt. Genau so bekennt sich bei Schiller in dem Gespräch zwischen Max und Wallenstein der letztere offen zu diesem Machtstreben, auch auf Kosten der Gewissensreinheit, - freilich mit einem geheimen Stachel im Herzen, wie es besonders bei dem Tode des geliebten jungen Freundes zum Vorschein kommt. Jetzt erklärt er, die Himmlischen schenkten nur allgemeine Güter; das Außerordentliche, Gold und Edelsteine, müsse man den falschen Mächten abgewinnen: „Nicht ohne Opfer macht man sie geneigt, U n d keiner lebet, der aus ihrem Dienst Die Seele hätte rein zurückgezogen."
Dies ist in aller Klarheit das alte Grundmotiv der Faustsage, die „Versuchung in der Wüste". Darf der Mensch, ohne sich selbst untreu zu werden, für irdische Güter das Heil der Seele aufs Spiel setzen? IV. Technik und
Naturbeherrschung
Alles dies gilt in gesteigertem Maße von dem dritten Bereich, der Beherrschung der Naturmächte durch die moderne Technik und ihre Erfindungen. Der alte Wunsch, sich mit den bescheidenen Mitteln menschlicher Forschung und geduldiger Arbeit nicht zu begnügen, sondern über alle diese Möglichkeiten hinaus sich übernatürlicher Hilfsmittel zu bedienen, hat sich in seltsamerweise erfüllt. Der Mensch wollte der N a tur die Geheimnisse entreißen, auf denen ihre menschlichen Augen verborgene Macht beruht, und dadurch ihre Kräfte in seinen Dienst zwingen, vgl. K a p . 4, IV. Hier spielt der alte Begriff der Zauberei, der übernatürlichen Magie, hinein in eine natürliche Auffassung, wonach die Entdeckung bisher verborgener Naturkräfte für Zauberei gehalten wurde: 135
„ D a wirkt Natur so übermächtig frei, Der Pfaffen Stumpfsinn schilt es Zauberei."
Die von Faust geplante Uberlistung und Überwältigung der Naturkräfte ist nun durch die Technik auf natürlichem "Wege gelungen, aber das alte Odium des Unheimlichen und Verbrecherischen überträgt sich in gewissem Maße nun auf das Neue. Es ist das Gegenstück dazu, daß Streit und Krieg an sich schon, ohne eigentliche Zauberei, etwas Scheinhaftes, Gespenstisches sind. Faust will schöpferisch sein. Es genügt ihm nicht, auf vorhandenem L a n d Menschen anzusiedeln, auch das Land noch soll seine Existenz ihm zu verdanken haben. Er nimmt den Kampf mit den Elementen auf und nutzt die Naturgewalt der Gezeiten Ebbe und Flut aus. „Was zur Verzweiflung midi beängstigen könnte! Zwecklose K r a f t unbändiger Elemente!"
Der Mensch im Kampf mit der Natur, mit den Elementen! Die N a turkräfte werden vorgestellt als tückische Dämonen von ungeheurer K r a f t , aber blind und ziellos, zwecklos ungeheure K r a f t vergeudend. Der Mensch kann sie durch kluge Berechnung überlisten und sich in diesen Prozeß einschalten. Im Grunde aber hassen die Elemente das Gebilde der Menschenhand und lauern ständig auf eine günstige Gelegenheit, sich von der Kette loszureißen und Rache an ihren Überwindern zu nehmen. U n d diese Rache bleibt nicht aus, nimmt aber unerwartete Formen an. Der Arbeitsprozeß ist wie ein ewig wiederkäuendes Ungeheuer, das die Menschen verbraucht und verschlingt. Es gibt überhaupt keine Ruhe, jeder große Plan wird durch einen noch größeren überboten, jedes weite Ziel durch ein noch weiteres verdrängt. Faust selber ist von der Arbeit und dem Werk wie besessen. Er hat Scharen von Arbeitern, die immer noch vermehrt werden sollen, in seinen Dienst genommen. Er hat aber trotz der Riesenerfolge keine Freude an dem Werk und ist ein Gefangener seiner Unternehmung, tief unglücklich und unbefriedigt. Er ist der reine Tater, ohne Eros, ohne Menschlichkeit, ohne irgendeine Pandora-Gabe. D a rächt es sich an dem Herrn wie an den Knechten, daß die Menschen nicht mehr als freie Wesen, sondern als bloße Sachwerte behandelt werden. Die Arbeiter müssen Sklavenarbeit verrichten und stehen unter der erbarmungslosen Knute des Teufels: „Menschenopfer mußten bluten, Nachts ersdioll des Jammers Q u a l . "
Der Mensch wird nicht mehr als Mensch geachtet, der Stempel des Ewigen an ihm ist verloren gegangen, das göttliche Ebenbild ausge136
löscht. Das Ganze ist das Bild einer seelenlosen Kultur, die innerlich hohl geworden ist. Der Mensch überträgt den großen Begriff des Ewigen nun auf das Vergängliche, auf Glück und Wohlstand, Volk und Boden, Genuß und Erfolg. Persönliche Überzeugung, freiwillige Ehrfurcht, freie Neigung, Liebe, Begeisterung, all diese Gaben der Pandora fehlen in Wirklichkeit, ihre hohen Namen aber werden auf unwürdige Gegenstände übertragen und dadurch entwertet und mißbraucht: „Deiner heiligen Zeichen, o Wahrheit, hat der Betrug sich Angemaßt, der Natur köstliche Stimmen entweiht, Die das bedürftige Herz in der Freude Drang sich e r f i n d e t . . Schiller, Spaziergang.
Das ist der Sieg der Elemente, der Rückschlag der vom Menschen überwältigten und gefesselten Dämonen. Faust erstrebte höchste Freiheit und fand Knechtschaft. Sterbend erlebt er in der Freiheitsvision das höchste Gefühl schöpferischen Handelns, die Steigerung seines Ich zu einer Höhe, der kein Reichtum der Erde verglichen werden kann, zu der aber sein vergangenes Leben und die jammervolle Wirklichkeit dieses Augenblicks in schneidendem Kontraste stehen. Vgl. zu Fausts Sterben Kap. 7, I V .
137
II. IRONIE
Kapitel 12
Die Rolle der Ironie im Faust 7. Humor und Ironie bei Goethe Niemand kann die Fautsdichtung wirklich verstehen, der nicht selbst etwas von Gewissensqualen, der nicht irgendwie etwas von der Sorge um das „Heil der Seele" erfahren hat; man versteht sie auch nicht, ohne selbst innerlich dem tragischen Erleben offen zu sein; und endlich gehört dazu, daß man eine kräftige Dosis Humor und Sinn f ü r das graziöse Spiel der Ironie mitbringt. Zwar ist die Wendung alltäglich, es müsse audi Spaß geben; aber sie ist nicht in dem tieferen Sinne gemeint, in welchem hier neben Tragik und Frömmigkeit eine unabhängige dritte Quelle geistigen Seins angeschlagen wird. Bei Goethe aber wie bei Nietzsche und selbst bei Goethes großem Antipoden Kierkegaard wird der Ironie diese hohe Stellung eingeräumt. Die Menschen unterscheiden sich kaum durch irgend etwas anderes so stark voneinander wie durch ihre Stellung zu Humor und Ironie. Der ernste, humorlose Mensch betrachtet den ironischen mit Mißtrauen. Er hält ihn leidit f ü r gottlos, f ü r ungläubig oder frevelhaft; umgekehrt der letztere jenen für philisterhaft und pedantisch. Eine freie ironische Haltung und echte Gläubigkeit miteinander zu vereinen, setzt eine gewisse geistige Elastizität, eine seelische Differenziertheit und Weitherzigkeit voraus; nur nach schweren Kämpfen haben die Menschen es gelernt, ihrem eigenen Glauben treu zu sein und trotzdem fremden Glauben gelten zu lassen. Goethe ist eine ausgesprochen ironische Natur. Durch sein ganzes Leben und Schaffen geht dieser Hang zur Ironie, der neben dem Grundgefühl der Ehrfurcht und Pietät den zweiten Hauptcharakterzug seines Wesens ausmacht. Von den tollen, übermütigen Farcen der Jugend bis zu den zahmen Xenien und Invectiven des Alters geht eine stetige Linie. Immer war erfrischender Humor und belebende Ironie ihm Bedürfnis; auf jeder Stufe seiner Entwicklung brauchte er ein Ventil, sich 141
innerlich zu entlasten, Fremdes und Ärgerliches von sich abzuschütteln. Zumal es nicht seine Art war, in öffentlichen Kämpfen hervorzutreten, griff er um so lieber zu diesen dichterischen Waffen. Er ist Rheinländer, von leiditem Blut und jederzeit zu allerhand Neckerei aufgelegt. Er ist ferner ein Sohn der Geniezeit, welche in überschäumendem Selbstgefühl Konvention und Philistertum zu verspotten liebte. Er hatte viel Sinn für das tolle Treiben von Karneval und Walpurgisnacht, wo einmal alles auf den Kopf gestellt wird. In Wilhelm Meisters Lehrjahren berichtet er wohlgefällig von einer Gesellschaft der „Kinder der Freude", die von Zeit zu Zeit in einem tollen Karnevalstreiben sich einmal ganz auszutoben für gut hielten. „Es waren verständige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen, daß die Summe unserer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern daß immer ein wunderlicher Brudi übrig bleibe." IV, 18.
Er hat Mißtrauen gegen feierliche Menschen, die sich gern wichtig geben und mit hohem Pathos sprechen: „Ich liebe mir den heitern Mann am meisten unter meinen Gästen: Wer sich nicht selbst zum Besten haben kann, der ist gewiß nicht von den Besten."
Seine Abneigung gegen feierliches Pathos hängt mit einer gewissen seelischen Keuschheit zusammen, einem Streben nach unbedingter Sauberkeit und Wahrhaftigkeit. Er macht sich mit Absicht oft schlechter, als er in Wirklichkeit ist. Es macht ihm Spaß, um seine Gegner aus ihrer Zurückhaltung hervorzulocken, „den Mephisto zu agieren". Die Freunde nennen ihn dann wohl einen „umgekehrten Heuchler". Als Dichter liebt er es, einen reichen und bedeutenden Gehalt in eine möglichst anspruchslose Form zu kleiden. Es sind geradezu Höhepunkte seines Schaffens, wo er Ernst und Ironie miteinander verbindet und die tiefsten Menschheitsfragen in einer graziös spielenden, nachlässigironischen Weise behandelt. Er möchte in seinen Dichtungen das Ziehen der Resultate am liebsten dem Leser selber überlassen, da ihm „die letzten bedeutenden Worte nicht aus der Brust wollen". An Schiller schreibt er vom 9. 7. 96: „Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rükken behaglich finde."
Er möchte die Mensdien selber in den schöpferischen geistigen Prozeß mit hineinziehen und dadurch die Gefahr vermeiden, daß die Re142
sultate wie kluge Sentenzen oder Reklame-Spruchbänder formalisiert und mißbraucht werden. Es reizt ihn geradezu, feierliche Menschen vor den Kopf zu stoßen, Anstoß zu geben und sie durch Spott zu provozieren. Für den Faust entwirft er sogar eine wüste, von Unanständigkeit strotzende Teufelsmesse auf dem Blocksberg, die begreiflicherweise nicht zur Ausführung kommen konnte. Er persifliert die eigene Empfindsamkeit im „Triumph der Empfindsamkeit", im „Satyros", er vermischt echtes Gefühl und leichte Ironie in dem Nachruf auf Mieding. In den Fragmenten vom „Ewigen Juden" wird der Bänkelsängerton auf das Heilige angewandt, ähnlich in den übermütigen Versen, in denen Napoleon am jüngsten Tag abgeurteilt wird und wo dem Teufel ähnlich wie bei Faust anheimgegeben wird: „Getraust du dich, ihn anzugreifen, so magst du ihn zur Hölle schleifen."
Ironie ist ein ausgelassenes Spiel der Phantasie mit den verschiedenen Möglichkeiten. Der Mensch übernimmt neben der Rolle, welche seine begrenzte Lage in der Wirklichkeit ihm vorschreibt, in der Phantasie nodi andere, vielseitigere, bedeutendere. Der Dichter probiert spielend große, fremde Rollen durch, die des Titanen Prometheus, des unglücklichen Werther, des berüchtigten Magiers Dr. Faust. Einem Freunde in Frankfurt schreibt Goethe als Student mystifizierend einen aus Versailles datierten Brief, der dann zu Hause große Unruhe hervorruft. Entschuldigend fügt Goethe hinzu: „Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muß." Dichtung und Wahrheit B. I X . Die gesamte Faustdichtung ist durchtränkt von Ironie in ihren verschiedenen Formen. Den Ausgang bildet ein übermütiges Studentenstück, der Ausdruck einer unbändigen Lebenslust und eines Hasses gegen Durchschnitt und Philisterhaftigkeit. Ähnlich das Spätere. Es sollen einmal alle gewohnten Maßstäbe auf den Kopf gestellt werden, in Karneval, Jahrmarkt, Walpurgisnächten das Sinnlose und Phantastische sich austoben. Daraus entwickelt sich weiterhin der Gesamtcharakter der Dichtung als eines großen Maskenzuges, einer universalen ironischen Weltschau, einer bunten Revue alles bedeutsamen Lebens, wobei die eigentliche Fausthandlung völlig außer adit bleibt und Faust zu einer „Folie-Gestalt" verblaßt. Vgl. o. K a p . 2. Immer wieder findet sich diese schwebende ironische Stimmung, dies unmerkliche Hin- und Herübergleiten von Ernst zu Spiel und umgekehrt. So etwa, wenn in der klassischen Walpurgisnacht der alte würdige Nereus sich gegenüber seinen Töchtern, den Doriden, die sich schiffbrüchige Jünglinge als Geliebte gerettet haben, also vernehmen läßt: 143
„Hoch ist der Doppelgewinn zu schätzen: Barmherzig sein und sich zugleich ergötzen."
Der Dichter gefällt sich in einem tollen Übermut, einer gewissen Freude am Unsinn, an Paradoxien und Anachronismen. „So etwas freut midi alten Fabler: Je wunderlicher, desto respektabler!"
Brächte die Phantasie nicht Dinge hervor, die dem Verstand unzugänglich sind, so wäre sie nicht viel wert. Die Faustauslegung kommt an unübersteiglidie Grenzen. Es ist wie im „Märchen", das zur Ausdeutung lockt, weil vieles ganz unzweifelhaft einen verborgenen, hintergründigen, ausdeutbaren Sinn hat. Dann aber geht die Phantasie wieder ganz mit dem Dichter durch und sucht sich ihre eignen Wege, bei denen es nichts mehr zu deuten gibt. So darf man auch im Faust nicht alles auslegen wollen, denn vieles ist nichts als übermütiger Unsinn. Pendantische Ausleger, welche auch in den Gesprächen der Hexenküche oder dem Lallen des Bezechten in der Mummenschanz Tief sinn vermuten, müssen sich von dem Dichter zurechtweisen lassen: „Dreißig Jahre haben sie sich nun fast mit den Besenstielen des Blocksbergs und den Katzengesprächen in der Hexenküche, die im Faust vorkommen, herumgeplagt, und es hat mit dem Interpretieren und dem Allegorisieren dieses dramatisch-humoristischen Unsinns nie so recht fortgewollt. Wahrlich, man sollte sidi in seiner Jugend öfter den Spaß machen und ihnen solche Brocken wie den Brodten hinwerfen." Z» Falk, Biedermann IV, Anhang.
II. Subjektive Ironie und ihre Stufen Es bedarf noch einer kurzen Besinnung über Wesen und Formen von Ironie und Humor. Beide sind Zweige eines Stammes und gehen im Einzelfall oft ineinander über, weshalb der Sprachgebrauch auch schwankend ist. Man kann beide unter einen weiteren Begriff von Ironie als gelöstem Spiel zusammenfassen. Bei der Ironie im engeren Sinne tritt das bewußte Denken, die Schärfe des Verstandes, der Esprit und Witz, der Wille, das Aktive, Kämpferische stärker hervor. Humor dagegen ist eine unbewußte Stimmung des Gemüts, Heiterkeit und frohe Laune. An Humor wie an Ironie lassen sich drei Stufen oder Grade unterscheiden. Die Abstufung aber erfolgt nach dem Maße, in welchem der schwere Ernst der Gegeninstanzen in das heitere Spiel mit aufgenommen wird, der religiöse Ernst und die düstere Tragik. - Der Humor der niederen Stufe ist geselliger Art, eine Stimmung der Heiterkeit und Gelöstheit. Auf der nächsthöheren Stufe, bei streitender Auseinander144
Setzung zwischen einzelnen Mensdien erweist sich der humorvolle Mensch als der überlegene, der mit Besonnenheit und Güte den humorlosen überwindet und seinen Zorn entkräftet. Die höchste Stufe aber bildet der „große Humor", der das Dunkle und Schicksalhafte, Leid und Schuld, ausdrücklich aufsucht und auskostet, um damit echte Menschlichkeit und Güte ans Licht zu heben und das Dunkel zu besiegen. Es ist die Kunst der großen Humoristen, wie sie uns bei Jean Paul, Wilhelm Raabe, Wilhelm Busch begegnet. Sie ist der hohen Form der Ironie nahe verwandt. Die Ironie der untersten Stufe erfreut sich an geistreichem Witz, ist ebenfalls gesellig, doch kommt ein Moment der Würze oder der Schärfe dadurch hinzu, daß mit Bewußtsein ein Kontrast überwunden wird. Der Heiterkeit des Humors steht hier die Stimmung des Übermutes gegenüber, mit leisem Spott die Schwächen des Gegners belächelnd. Eine Verschärfung bringt die zweite Stufe mit sidi, wo der Kampfcharakter einer positiven Ironie deutlich zutage tritt. Hier verbindet sich mit der Ironie eine Willensanspannung, ein sittliches Pathos, ein Ideal oder ein Glaube, für den gekämpft wird. So zeigt es sich bei Lessing, Rabener, Goethe, daß die Negation im Dienst eines positiven Glaubens steht. Der aggressive Spott, die ironische Kritik werden dadurch herausgefordert, daß dies Ideal zu niedrig angesetzt und das eigentlich Gemeinte zu unvollkommen realisiert wurde. Zu dieser kämpferischen Ironie kommt es, wenn sich ein Mensch mit seinem Partner auf direktem Wege nicht mehr verständigen kann, wenn die Entfernung zu groß geworden ist und keine Brücke, kein gemeinsamer Boden mehr vorhanden zu sein scheint. Dann zieht sich der, welcher sich selbst als überlegen und von dem anderen nicht verstanden fühlt, resigniert zurück, indem er ironisch eben das zugibt oder behauptet, was er in Wirklichkeit bekämpft. Haben wir's nicht herrlich weit gebracht? „O ja, bis an die Sterne weit!" Ähnlich die Stimmung eines ironischen Humors, wenn Hamlet sprachlos vor der Heuchelei des verbrecherischen Königs steht und vor sich hinmurmelt: „Schreibtafel her! Ich muß mir's niederschreiben, wie einer lächeln kann und wieder lächeln, und doch ein Schurke sein." Eine Ironie aber, die nur bestreiten, schmähen, herunterreißen will, die geradezu eine hämische Freude am Zerstören hat, ist unfruchtbar und negativ. Sie ist die Art des teuflischen Dämons Mephisto. Sie ist kalt, teilnahmlos, gefühllos, völlig ohne jedes Ideal. Sie ist wertblind und sieht in dem Menschen immer nur das Niedrige, Gemeine. Sie ist Sache eines nüchternen, scharfen, aber lieblosen Verstandes. Es ist der Gegensatz zwischen Mensch und Dämon, Vernunft und Verstand, Persönlichem und Unpersönlichem. Kann die positive Ironie sich steigern 10
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zu Spott und scharfer Satire, so die negative zu Sarkasmus und schamlosem Zynismus. Die höchste Stufe aber ersteigt die Ironie in zwei Formen, einmal in der Tragödie da, wo sie sidi mit der Komödie verbindet und eine furditbare Wirklichkeit in objektiver Ironie dem Ausgesprochenen widerspricht, wie es bei Shakespeare besonders in den Wahnsinnsszenen seiner großen Tragödien der Fall ist. Darauf ist im Folgenden noch zurückzukommen. Die zweite Form der hohen Ironie ist die, wo sich die Ironie mit der Religion verbindet und dem großen Humor nahesteht, die „einsame Ironie". Diese Ironie ist nicht mehr gesellig, auch nicht kämpferisch, es handelt sich überhaupt nicht mehr um das Verhältnis zu anderen Menschen, sondern nur um das Verhältnis des Menschen zu sich selber und zu Gott. Es gibt eine Höhe der Betrachtung, wo man die eigenen Freuden und Leiden, das eigene Leben und Sterben aus einer höheren Perspektive betrachtet. Diese an Goldsmith, Sterne und an Rabener bewunderte Haltung erschien Goethe als Gipfel des Menschentums, eine Gesinnung, „die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt." Dichtung und Wahrheit B. X. Während der kleine Humor sich an den Nachtseiten des Lebens vorüberschleicht, nimmt der große Humor dies Dunkle bewußt in sich auf, ohne doch dem Pessimismus oder Weltschmerz zu verfallen. Das letzte Ziel ist ein leidgeprüfter froher Lebensglaube. Man kann hier Goethes Wort aus den Maximen und Reflexionen der Farbenlehre anwenden: „Es ist ein großer Unterschied, ob ich mich aus dem Hellen ins Dunkle, oder aus dem Dunkeln ins Helle bestrebe; ob idi, wenn die Klarheit mir nicht mehr zusagt, midi mit einer gewissen Dämmerung zu umhüllen trachte, oder ob ich, in der Uberzeugung, daß das Klare auf einem tiefen, schwer erforschten Grund ruhe, auch von diesem immer schwer auszusprechenden Grunde das Mögliche mitheraufzunehmen bedacht bin." J. A. 39,106.
Es ist zwar der Welt Lauf, daß die Lumpen obenauf bleiben und die echten Menschen durch N o t und Leid hindurch müssen. Über dies „Niederträchtige" muß man sich aber nicht beklagen; die rechten Menschen bleiben am Ende doch die wahren Sieger, selbst im Leiden und im Untergange. Der große Humor führt auch nicht zu Menschenverachtung, sondern zuletzt bricht immer wieder die Liebe zu den Menschen durch, deren Schwächen und Torheiten mit nachsichtig verstehendem Lächeln quittiert werden. Im Divan wie im Faust webt dieser Geist des großen Humors. Wir begegnen immer wieder der Weisung des Dichters: durch gründ146
lidies Auskosten des Irrtums zur Wahrheit zu gelangen, durch Ausschöpfen der letzten tragischen Tiefen von Jammer und Schuld den Weg zur Erlösung zu finden, durdi Aufruf der gefährlichsten Mächte des Unglaubens zu einem echten Glauben zu kommen, durdi höchste Steigerung ironischen Spielens zu einem letzten Ernst vorzustoßen. Um den Gefahren einer täuschenden, bloß lehrhaften Lösung zu begegnen, die nicht von der K r a f t und Fülle existenziellen Erlebens getragen wäre, sucht der Dichter durch versucherische Umkehrung der Fragestellung und Wertung das Letzte aus dem Problem herauszuholen, um seiner Antwort größere Tiefe und Überzeugungskraft zu geben. Wohl darf das Heil der Seele nicht preisgegeben werden, auch nidit um die höchsten irdischen Güter. Dennoch wird die Gegenfrage gestellt: Gibt es in den „Reichen dieser Welt" nicht auch Herrlichkeiten, deren Eigentumsrecht der Satan sich zu Unrecht anmaßt und deren Gewinn keineswegs einen seelischen Verlust für den Menschen bedeutet? Ist die gesamte Schöpfung in ihrer Fülle und Schönheit nicht das Werk Gottes? Gibt es nicht vielleicht sogar eine Sicht, bei welcher der Satan nicht bloßes Schreckgespenst von Bosheit und Gemeinheit ist, wo seine Negativität und spöttische Ironie vielmehr mit der Strenge nüchterner Wahrhaftigkeit zusammenhängt und auch für den Menschen irgendwie etwas Positives, Förderndes und Heilsames bedeutet? Es ergeben sich dabei kühne und ketzerische Ausblidke, die aber dennoch mit den tiefsten Anliegen des Christentums in innerer und wesenhafter Verbindung stehen. Gläubige Ironie benutzt im K a m p f e die feineren und schärferen Waffen, den geschmeidigeren und graziöseren Ausdruck, das „ridendo dicere verum", aber ihr leichtes Spiel ruht auf dem Hintergrunde eines großen Ernstes. Ironie nährt jene objektive und vorurteilsfreie Gesinnung, welche das Recht jedes existierenden Wesens ehrt, es in seiner Eigenart und Selbständigkeit anerkennt und keines als Zweck dem anderen unterordnet. Der Zweck ist, „Zeus zu amüsieren". Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. Ironie ist ein Auflockern, ein in die Schwebe Bringen, ein Flüssigmachen der wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Theorien. Man muß lernen, die letzten Probleme von verschiedenen Seiten her anzugehen, sich entgegengesetzter Erklärungsweisen mit Freiheit und Bewußtsein, oder um „ein gewagtes Wort" anzuwenden, „mit Ironie" zu bedienen. (Vorwort zur Farbenlehre.) Ironie ist das alles durchdringende feine Medium der Faustdichtung, der Mittelpunkt, von dem aus sich Wege und Ausblicke nach allen Seiten hin öffnen, Anspielungen, Analogien, Ahnungen, Vergleiche. Sie ist die eigentliche Wurzel jener „Mehrdeutigkeit der Grund10*
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begriffe", die wir oben - K a p . 5 - als den Hauptsdilüssel zum Faustverständnis erkannten: Die Doppeldeutigkeit von „Magie" und „Streben", die Vertauschbarkeit des urtümlidien und des angewandten Sinnes, der ursprünglichen und der übertragenen Bedeutung, die besondere Färbung durdi die Verbindung mit dem jeweiligen Mythenkreise, das wechselseitige Hin- und Herschillern einer positiven und negativen Bedeutung und Wertung, dies alles hat seinen Ursprung und seine Heimat in der ironischen Grundstimmung der Dichtung. III. Objektive Ironie Bisher war nur die Rede von Ironie in subjektivem Sinne, wie sie in den Äußerungen der dichterischen Gestalten und ihrem Zusammenspiel zum Ausdruck kommt. Von ganz anderer Art ist die objektive Ironie der Dichtung, der unfreiwillige Humor der Personen, die unabsichtlich zu Objekten humoristischer oder ironischer Betrachtung werden. Diese Ironie kommt zum Ausdruck in dem Geschehen selber. Sie ist für den Dichter das Mittel, Zustimmung oder Kritik, Lob oder Tadel zu äußern, unaufdringlich, in rein dichterischer Weise, einfach durch Darstellung der Begebenheiten und ihrer Folgen. Auch bei dieser objektiven Ironie ist eine große und eine kleine Form zu unterscheiden. Die kleine findet sich bei Goethe besonders in den übermütigen Jugenddichtungen, in den „Mitschuldigen", den Possen und Farcen, in der Schüler-Szene des Urfaust und in dem köstlichen Zusammenspiel von Mephisto und Marthe, weiterhin oft in der Charakteristik der Menge, sei es in Auerbachs Keller, am Kaiserhofe oder im Karneval. Das bunte Treiben der Menschen wird wie ein Jahrmarkt hingestellt. Im Concerto dramatico heißt es: „Und will auf der Erde Dumm stille nichts stehn, Will alles herumi Didumi sich drehn. Seiltänzer und Jungfern, Studenten, Husaren, Geschwungen, gesungen, Geritten, gefahren . .
Der Herold lädt zum Mummenschanz am Kaiserhof mit den Wort e n ein:
„Herein, hinaus, nur unverdrossen; Es bleibt doch endlich nach wie vor Mit ihren hunderttausend Possen Die Welt ein einzig großer T o r . "
Die große Form der Ironie bzw. des Humors beginnt schon mit der gewagten Vermischung von Komik und Tragik, Ironie und Pathos, wie 148
Goethe sie bei Shakespeare kennengelernt hatte. Durch die ganze Faustdichtung geht die Spannung zwischen den inneren Forderungen Fausts und der unzulänglichen Wirklichkeit, zwischen seiner Selbstbeurteilung und dem Urteil der Außenwelt über ihn. Gleich zu Beginn: Der große Gelehrte auf der Höhe der Bildung und des Wissens, selbst aber verzweifelnd wegen seines Nidit-Wissens, als ärztlicher Helfer berühmt, gemeinsam mit seinem Vater öffentlich geehrt und gepriesen, während er selber sich und seinen Vater wegen der dilettantischen Kuren und ihres verbrecherischen Leichtsinns als „freche Mörder" ansieht. Endlich der greise Faust, auf der denkbar höchsten Höhe irdischer Macht und Größe, innerlich aber in grellem Gegensatz dazu genau so unglücklich wie damals vor dem Selbstmordversuch, ja, klein und ängstlich, freudlos und unglücklich. Welche Ironie und Schelmerei des Dichters, wenn er bei Fausts Tode das verabredete Stichwort vom Genuß des „höchsten Augenblicks" fallen läßt, es aber in genau entgegengesetztem Sinne versteht, als es ursprünglich gemeint war! Vor allem aber gehören hierher die beiden gewaltigen Schlußszenen der beiden Faustteile, die Szenen vor dem Tode Gretchens und dem Tode Fausts, in welchem sich mit der Tragik eine unheimlich wirkende objektive Ironie verbindet und der vom Jammer und Schuldbewußtsein überwältigte Mensch, das Übermaß der tragischen Erschütterung nicht mehr ertragend, in wohltätige geistige Umnachtung gehüllt wird. Der unvergleichliche und zunächst schwer zu definierende Zauber dieser Szenen beruht eben auf der ironischen Zusammenfügung des Gegensätzlichen, auf der Ironie, in die sie eingetaucht sind. Vgl. die ausführliche Behandlung dieser Umnachtungsszenen in Kapitel 7, I V .
Kapitel 13
Mephistopheles I. Die Gestalt des Mephistopheles Die negative, zersetzende Ironie ist in der Faustdichtung vor allem in Mephisto verkörpert. Diese Gestalt, die Goethe ganz besonders liebt und die dichterisch zu seinen größten Schöpfungen gehört, schillert in verschiedenen Farben und entspricht auf ihrem Gebiete genau der Mehrdeutigkeit der Begriffe, wie sie sich aus der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Mythenkreisen und aus dem Gegensatz einer positiven und negativen Betrachtungsweise jeweils derselben Erscheinung ergibt. 149
Wir verfolgen Mephisto durch die drei Mythenbereiche. Er ist zunächst schlecht und recht der Teufel der Bibel, der böse Feind der Menschen, der sie verführen und um ihr Seelenheil prellen will, indem er ihnen alle Reiche, Güter und Genüsse der Welt als Lockpreis anbietet. Er ist listig, verschlagen und darum gefährlich, andererseits aber auch machtlos und wertblind, der „dumme Teufel" der volkstümlichen Auffassung, von dem Luther sagt: „Ein Wörtlein kann ihn fällen." Dabei läßt der Dichter in lässiger Weise ihn bald als untergeordneten Diener und Abgesandten des Teufels erscheinen, bald als den Satan selber. Sodann der zweite Mythenkreis, der des Humanitätsglaubens. Hier ist der Teufel das Widerspiel des Menschen, und der entscheidende Gegensatz von Mensch und Dämon tut sich auf. Faust ist in aller Verirrung und Sdiuld dennoch immer ein Mensch und damit ein Geschöpf und Kind Gottes; immer ist er über den gefühllosen, kalten und unpersönlichen Dämon erhaben. Ja, streng genommen paßt der Begriff der Ironie überhaupt nicht mehr für den Dämon; denn Ironie und Zweifel bewegen sich immer in dem Raum zwischen Glaube und Unglaube. Es ist das Vorrecht des Menschen, daß er sich, wie Kierkegaard sagt, zu sich selbst verhalten kann, daß er die ganze Welt zum Objekt seiner Erkenntnis machen kann. Darin liegt, daß auch nur er der Wahl, der Entscheidung und damit auch des Humors und der Ironie fähig ist. Es ist das wesentliche Anliegen der Faustdichtung, diese Menschenwürde auch noch in den letzten Stufen von Leid und Schuld zur Erscheinung zu bringen. Mephisto wird hier einerseits als Dämon, als geistig-mythisches Wesen aufgefaßt, andererseits dennoch mit ganz individuellen, menschenartigen Zügen ausgestattet. Einen metaphysischen Satan im Sinne Klopstocks oder Miltons konnte Goethe nicht brauchen; er macht den Teufel durch diese Individualisierung und „Vermenschlichung" erst wahrhaft poesiefähig. Er konstruiert ihn gleichsam nach menschlicher Art und fragt: „Was wird an einem Menschen am entschiedensten und fraglosesten als wirklich böse empfunden?" Antwort: Nicht irgendwelche einzelnen Untaten oder Verbrechen, sondern die lieblose, gefühllose Kälte, die Teilnahmlosigkeit, das Unpersönliche. So wird Mephisto der alles Niederziehende, alles Reine Beschmutzende, jeden Aufschwung der Seele Verächtlich-Machende, eine „Sporttgeburt von Dreck und Feuer". Aber selbst hier wird nach der positiven Seite hin eine Möglichkeit berührt: Die kühle skeptische Ironie hat eine Verbindung zur Wahrhaftigkeit, zu einem nüchternen Realismus, während umgekehrt der sich erhitzende Idealismus leicht in Phantastik und Unechtheit ausarten kann. 150
Endlich der dritte Mythenkreis, der naturphilosophische. Hier erscheint Mephisto als das negative kosmische Prinzip der Zerstörung, als Gegensatz zur göttlichen Schöpfermacht. In diesen Zusammenhang fügt sich die Vorstellung von der polaren Zusammengehörigkeit von Hell und Dunkel, Gut und Böse. Es muß eine Folie, eine letzte Nacht geben, im Gegensatz zu der von Licht überhaupt erst die Rede sein kann. Das wirkt sich nach der anderen Seite dahin aus, daß auch die christliche Vorstellung des Teufels vor der absoluten Widergöttlichkeit Halt macht und das "Wirken des Bösen in den göttlichen Heilsplan mit einfügt. Zu dieser Mehrgestaltigkeit kommt noch die Doppelrolle hinzu, die Mephisto in der Handlung spielt und andererseits als Sprachrohr des Dichters. Er verbindet den einsamen Faust mit der Welt, ist der stets bereite Diener und Helfer, wobei er gelegentlich - und eigentlich inkonsequent - sogar Züge von Gutmütigkeit zeigt. Andererseits ist er Träger und Verkörperer einer großen charakteristischen Weltanschauung, eines glaubenslosen Nihilismus. Als solcher steht er abseits, alles Geschehen glossierend und ironisierend, wobei er sich sogar von der Bühne herab an die Zuschauer wendet. Über den Unterchied der „verkündenden" und „gestalteten" Personen in Goethes Dichtungen vgl. „Goethe als religiöser Denker", S. 51. Indem der Dichter das Negative, Böse in Mephisto konzentriert und das Gute wie das Böse als große Weltmächte und Weltanschauungen gegeneinander ins Spiel setzt, hat er herrliche Gelegenheiten, alles Geschehen in einer doppelten Beleuchtung zu zeigen. Er kann angeben, „wie Teufel die Natur betrachten", nämlich im Sinne des Vulkanismus und der chaotischen Unordnung. Er scheut auch nicht davor zurück, durch den Mund des Teufels das heiligste christliche Symbol, das Bild des Gekreuzigten, angreifen zu lassen.
^ ^ w jß t > w j e w j r ¡ n tiefverruchten Stunden Vernichtung sannen menschlichem Geschlecht; Das Schändlichste, was wir erfunden, Ist ihrer Andacht eben recht."
Es wäre indes eine zu einfache Formel, wollte man den Dichter selber sowie Faust nur der positiven Ironie zuordnen und den teuflischen Dämon nur der Negation. Ausdrücklich stimmt Goethe dem Urteil des Franzosen Ampère zu, wenn dieser „nicht bloß das düstere, unbefriedigte Streben der Hauptfigur, sondern auch den Hohn und die herbe Ironie des Mephistopheles als Teile meines eigenen Wesens bezeichnet." 3. 5. 27 zu Eikermann.
Mannigfache Belege ähnlicher Art finden sich in den Gesprächen mit dem Kanzler v. Müller, wenn er z. B. „Goethes Neigung zum Negie151
ren und seine ungläubige Neutralität" beklagt. Das ganze Treiben der Welt scheint ihm, wenn eine solche Stimmung über ihn kommt, wohl als ein sinnloses Durcheinander, ein Hexensabbat, ein Sardellensalat, ein Karneval, ein Jahrmarkt. Und mit behaglicher Ironie zitiert er dann wohl Sprüche wie folgende: „Et mundum tradidit disputationi eorum". „Die Welt überließ er ihrem Gerede." Vulgata, Eccl. 3, 11. oder ein griechisches Distichon, welches übersetzt etwa so lautet: „Alles nur Spaß und alles nur Dreck und alles ein Garnichts! W a s es nur gibt, alles stammt nur aus Sinnlosigkeit."
Auf der andern Seite erhält auch Mephisto freundlichere Züge; die bloße Schwarz-Weiß-Zeichnung ist nicht Goethes Sache. „Man muß dem Bösen etwas verleihen und dem Guten etwas nehmen, um sie gegeneinander ins Gleiche zu bringen." Schema zu „Dichtung und Wahrheit". Der Dichter benutzt Mephisto auch von Anfang an gelegentlich als Mundstück seiner eignen positiven Auffassung, so daß er gleichsam aus seiner teuflischen Rolle fällt. So bei seiner Selbstcharakteristik als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft." Und ganz entsprechend bei der Charakteristik Fausts: „Vom Himmel fordert er die schönsten S t e r n e . . . " sowie in dem Monolog: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft..." So bei dem von Mephisto inspirierten Geisterchor: „Du hast sie zerstört, die schöne W e l t . . . " So in den Ratschlägen bei dem Verschwinden Helenas: „Halte f e s t . . . Die Göttin ist's nicht mehr, die du verlorst, doch göttlich i s t ' s . . . " Zu Mephistos Begeisterung für die Schönheit der Romantik vgl. u. S. 154 Mephisto wendet sich auch keineswegs nur gegen das Göttliche und Heilige selber, sondern besonders energisch gegen seine unzulängliche und anspruchsvolle Repräsentation, gegen Heuchelei und Bigotterie, gegen Vertuschungen und Verschönerungen. Ja, der Dichter tut den gewagten und folgenschweren Schritt, die Rolle des Teufels mit der des Narren zu verbinden, das Heiligste mit Humor und Ironie zu umkleiden. Der tödliche Ernst der religiösen Grundfrage nach dem Heil der Seele sollte indes dadurch nicht aufgelöst werden, er wird eher noch verschärft, denn ein getarnter Teufel ist um so gefährlicher. Im übrigen knüpft er auch hier an alte Tradition an. Naivere Zeiten empfanden es nicht als anstößig, auch von heiligen Dingen mit Humor zu sprechen, und auch das Puppenspiel von Dr. Faust zeigt verwandte Züge. Die Verbindung des Bösen mit dem Narren, der in Wirklichkeit oft ein Weiser ist wie bei Shakespeare, eröffnet weite dichterische Perspektiven. Ein neues, ver152
lockendes und fruchtbares Feld f ü r die mehrdeutige Verwendung der Begriffe, die Ambiguität der Motive tut sich auf. Es wird o f t übersehen, daß auch das Wohlgefallen Gott-Vaters an dem seltsamen Kauz sich keineswegs darauf beschränkt, das Böse in den Dienst des Guten einzuspannen. Er nimmt vielmehr ausdrücklich Bezug auf den Narren, den Schalk.
B y o n a ll e n
Geistern, die verneinen, ist mir der Schalk am wenigsten zur Last."
Der Schalk eben ist es, der den Menschen durch Witz und Humor, durch Spott und H o h n aufrüttelt und reizt. Mephisto ist Spötter und Zyniker, zugleich weltgewandter Kavalier und geistreicher Plauderer, mit scharfem Blick f ü r die Relativität aller Ideale und f ü r die Schwächen der Menschen, ganz besonders f ü r Heuchelei und Selbstbetrug. In seinen Narrenworten liegt oft tiefe Weisheit, in seinem Spott unbestechliche Wahrhaftigkeit. Wenn sein Narrentum selbst von Gott so hoch gewertet wird, so stimmt das zu der metaphysischen Wurde, welche der Ironie im Faust zugesprochen wird, und zu den programmatischen Worten des Vorspiels auf dem Theater: „Laßt Phantasie mit allen ihren Chören, Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft, Dodi, merkt eudi wohl! nicht ohne Narrheit hören!" Am Schluß der ganzen Dichtung, im fünften Akt von Faust II, der sich unmittelbar an die Handlung von Faust I mit Höllenpakt und Wette anschließt und auch wohl in diesem Zusammenhange konzipiert wurde, tritt Mephisto ohne jede Verkleidung in seiner nackten Teufelsnatur hervor. Der größte Teil der Faust-II-Dichtung aber, den wir als eine selbständige Schöpfung von ganz andersartigem Stil erkannten, ist eine universale Weltschau der Kultur auf Grund der Gegensatzpaare Poesie und Politik, bzw. Poesie und Prosa; Christentum und Heidentum, bzw. Mittelalter und Antike, Romantik und Klassik. Im antiken Schönheitsbereich wird Mephisto zunächst das Ur-Häßliche, im Herrschaftsspiel das Ur-Brutale. Seltsam verwickelt sich die Sache bei dem Gegensatz von Klassik und Romantik, deren Versöhnung ja so gedacht ist, daß jedem seine eigentümliche Größe gewahrt werden soll. Mephisto hat seinen Platz im nordischen, christlich-romantischen Raum, und mit groteskem H u m o r werden seine Begegnungen mit der Antike in den tollsten Anachronismen dargestellt. Er wittert aber in der Antike doch etwas irgendwie Verwandtes, das Vorklassisdie, U r Mythische, das mit dem „Ungeheuren", mit numinosem Schauder zusammenhängt. Er leiht sich die Phorkyasmaske, tritt als uralte Schaffnerin Helenas auf, als Verkörperin des Gewissens und Hüterin des 153
häuslichen Herdes, ja, in den Entwürfen sogar als ägyptisdie Dienerin mit modernen demokratischen Emanzipationstendenzen: „Bin dir längst nicht mehr verkauft, Ich bin Christin, bin getauft."
Diese Verwandlung des allzu Wandlungsfähigen wurde freilidi selbst dem Dichter zuviel und er nahm sie nicht mit in den Text auf. Es blieb aber dennoch genug des Grotesken. Es finden sich seltsame Stellen, wo Mephisto vollständig aus der Rolle fällt und sich f ü r die Schönheit der Helena und für die romantische Musik begeistert. Die Helena-Dichtung entstammt jener Zeit um die Jahrhundertwende, wo die Begeisterung der Klassiker für das Griechentum und sein Schönheitsideal in höchster Blüte stand. Nicht nur Faust erscheint plötzlich als Schönheitssucher und Priester der Kunst, sondern um die Macht der Schönheit aufs glänzendste zu demonstrieren, läßt der Diditer sogar Mephisto sich der Schönheit beugen. In der ersten klassischen Hälfte des Aktes bewundert er Helenas Schönheit, in der zweiten, romantischen rühmt er die seelenvolle Musik der Romantik im Gegensatz zur A n t i k e :
^Höret allerliebste Klänge, Macht euch schnell von Fabeln frei! Eurer Götter alt Gemenge, Laßt es hin, es ist vorbei. Niemand will euch mehr verstehen, Fordern wir doch höhern Zoll: Denn es muß von Herzen gehen, Was auf Herzen wirken soll."
Völlig unmephistophelische Worte im Munde Mephistos! Die Überfülle des aufgenommenen Gehalts sprengt den alten Rahmen und verletzt die wesentlichen Grundzüge des im großen und ganzen doch einheitlichen Mephisto-Bildes. Die Mephistogestalt ist für den Dichter ein Symbol geworden. Mephisto ist der, welcher die Torheit und Widersinnigkeit des gemeinen Erdentreibens erkennt und entlarvt. Er gewinnt sidi trotz allem die Herzen der Hörer, die das überlegen-ironische Lächeln des wissenden Zuschauers freut, und bei Situationen ähnlicher Art im Leben scheint immer jener Dämon unsichtbar gegenwärtig zu sein. Unwillkürlich meint man sein Lachen in der Luft zu hören, seine spöttisch grinsende Maske um die Ecke lauern zu sehen: „Mephisto scheint ganz nah zu sein! Es deucht midi fast: Er spricht mit ein. In manchen wunderlichen Stunden hat er sich selbst das Maul verbunden; Doch blickt er über die Binde her, als ob er ein doppelter Teufel war'."
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II. Das Verhältnis Fausts zu Mephisto In der Jugenddichtung tritt Faust seinem Famulus Wagner, der von ihm belehrt sein möchte, mit schroffer Abweisung und Ironie gegenüber. Dasselbe wiederholt sich gesteigert in der folgenden Szene, welche die vorige parodiert, indem der Teufel dem jungen Schüler seine bedenklichen Ratschläge erteilt. Der Diener parodiert seinen Herrn, genau wie im Puppenspiel. Faust und Mephisto zeigen verwandte Züge. Der Gegensatz von Sinnlichkeit und Geistigkeit, der Faust charakterisiert, zeigt sich in Mephisto in noch grellerer Form: „Spottgeburt von Dreck und Feuer". Die Rücksichtslosigkeit und Lieblosigkeit Mephistos haben ihr Gegenstück in dem dämonisch genialen Treiben des „Gottverhaß ten", der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen dem Abgrund zustürzt, alles auf seinem Wege mit ins Verderben reißend. Mephistos Überheblichkeit und Spottlust gegenüber den schliditen Menschen finden sich auch bei Faust. Es ist begreiflich, daß Mephisto in Faust seinesgleichen zu sehen glaubt und dessen Gewissensbisse nur als Halbheit zu deuten vermag; er sei doch sonst schon so ziemlidi „eingeteufelt". Faust steht als genialer Übermensch zwischen dem normalen Durchschnittsmenschen Wagner und dem kalten Dämon Mephisto. Dieser will Faust verderben, indem er das Böse und Gefährliche, was er in ihm findet, anzufachen und zu steigern sucht. Hineinzutragen braucht er es nicht; das geht u.a. klar aus den Worten hervor: „Laß nur in Blend- und Zauberwerken dich von dem Lügengeist bestärken. Und hätt' er sidi auch nicht dem Teufel übergeben, er müßte doch zugrunde gehn."
Indem der Dichter nun aber die unterscheidenden Züge sdiärfer herausarbeitet, entsteht in Faust I ein ganz anderes, in sich geschlossenes Bild von dem Verhältnis der beiden Kumpane. Goethe stellt sie in der bei ihm bekannten und beliebten Weise in polaren Gegensatz zueinander, so daß was dem einen fehlt, dem anderen zukommt. Das Negative, Ironische wird Faust ganz genommen und in Mephisto konzentriert, und umgekehrt. Sie werden zu Vertretern des alten typischen Gegensatzes von Idealisten und Realisten, wie Max und Wallenstein, Don Quichote und Sancho Pansa. Dadurch verändern sich beide Gestalten. Mephisto wird schärfer ironisch, zugleich aber gehoben durdi seinen Realismus, der in echt Goetheschen Weisheitssprüchen zum Ausdruck kommt. Faust wiederum erscheint ihm gegenüber als Vertreter des gläubigen Pathos oder doch mindestens einer tiefen Sehnsucht 155
nach Glauben. Davon war bei dem Faust der Jugenddichtung keine Rede. Man muß sich die eminente Bedeutung dieser Wandlung, die der zweiten Grundkonzeption und der humanistisdien Mythensphäre entspricht, klar machen. Die beiden Kumpane stehen sich nun nicht mehr gegenüber wie Herr und Knecht, sondern als gleichberechtigte Kameraden. Sie stehen koordiniert nebeneinander. Der Dichter nimmt nicht mehr Partei, er steht als unparteiischer Zuschauer daneben, genau wie bei der großen Form der objektiven Tragik, wo nicht mehr Recht gegen Unrecht stand, sondern Recht gegen Recht, Sympathie gegen Sympathie. Zwei große Weltanschauungen stehen hier gegeneinander, fußend auf dem Gegensatz von Vernunft und Verstand, Poesie und Prosa, Herzenswärme und kühler Nüchternheit. Mephisto wird nun, begreiflich genug, des Dichters erklärter Liebling. Er bedient sich seiner als Mundstück f ü r die satirischen Äußerungen und leidenschaftlichen persönlichen Stoßseufzer, die er sonst den zahmen Xenien anvertraute. So heißt es in dem „Abschied": „ U n d hinterwärts mit allen guten Schatten sei auch hinfort der böse Geist gebannt, mit dem so gern sich Jugendträume gatten, den ich so früh als Freund und Feind g e k a n n t . .
Mephistos Einwirkung auf Faust ist aber nicht nur in dem Sinne wohltätig und heilsam, daß er falsches Pathos und hohle Phantastik zerstört; nicht nur darin, daß er das Böse in seiner ganzen Nacktheit enthüllt und Faust dadurch indirekt zur Umkehr reizt, - er entreißt ihn auch der dumpfen Gelehrtenzelle und der Hypochondrie. „Ich macht' ihm deutlich, daß das Leben zum Leben eigentlich gegeben." Maskenzug.
Wie aber steht es mit der ursprünglichen Rolle Mephistos? Sie scheint ganz vergessen. Wir haben zwei Weltanschauungen vor uns, zwei Menschen typen, deren jede ihre besonderen Gefahren hat und die erst in ihrer wechselseitigen Ergänzung das Richtige und Wünschenswerte darstellen. Nun aber muß freilich die Brücke geschlagen werden, das Polaritätsmotiv muß in das Verführungsmotiv eingebaut werden. D a zeigt sich, daß alle jene klugen Sentenzen und Weisheitssprüche — die an sich ihre selbständige Bedeutung behalten — hier einen ganz anderen Sinn bekommen. Mephisto spricht sie ja nur aus, um sein Opfer sicher zu machen und zu umgarnen. Den „Kerl, der spekuliert", will Mephisto ja nicht zu wirklich erfülltem Leben hinführen, sondern zu 156
niedrigem Sinnentaumel. Zuerst wird alles Böse bagatellisiert und mit hohen Weisheitssprüchen umkleidet. Ist aber der höllische Pakt geschlossen, sinken die Opfer in Tod und Verderben, dann reißt der lustige N a r r , der gewandte Kavalier, der weise Lehrer alle Masken ab, und die teuflische Grimasse kommt zum Vorsdiein: „Sie ist die erste nicht!" Als sich Faust von dem herzbrechenden Anblick Gretchens im Kerker nicht trennen kann, reißt der Teufel ihn brutal f o r t : „ H e r zu mir!" „ J e t z t zum erstenmal brüllt das höllische Raubtier aus ihm; der Spaß wird Ernst." F. T h . Vischer, Goethes Faust, S. 365. Die Menschen glauben nicht mehr an die äußeren teuflischen Attribute, Pferdefuß usw. Aber das, was frühere Geschlechter mit dem Teufel meinten, ist heute so wirklich und mäditig wie je. „Den Teufel merkt das Völkchen nie, Und wenn er sie beim Kragen hätte." Die galante Tarnung des Teufels ist nicht eine wirkliche Wandlung, eine Zähmung, eine Vermenschlichung und daher auch nicht eine Abschwächung des Grauens. Sie steigert vielmehr dies Grauen zu seinem höchsten Gipfel. Erst der getarnte ist der wirklich gefährliche Teufel. In der dritten Faustkonzeption endlich tritt die dramatische Rolle des Teufels stark zurück und die „verkündende" und glossierende wird führend. An die Stelle der kausal verlaufenden Handlung tritt die Methode der „Spiegelung".
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ffl. RELIGION
Kapitel 14
Das Dämonische 7. Das Dämonische als das Numinose Treten wir von unserer Gegenwart her an die Schöpfungen der Goethezeit heran, so schlägt uns überraschend eine religiös-metaphysisch gesättigte Atmosphäre entgegen, fremdartig und zugleich wohltuend wie warmer Dufthauch aus durchsonntem Föhrenwalde. Es ist die als selbstverständlich empfundene Nähe und Vertrautheit mit dem Numinosen, selbst dann und gerade dann, wenn das Menschliche als solches gefeiert wird. Herder, der Prophet der Humanität, eröffnet sein Hauptwerk, die „Ideen . . mit einer seltsamen persönlichen Widmung: „Und so lege ich, großes Wesen, du unsichtbarer hoher Genius unsres Geschlechts, das unvollkommenste Werk, das ein Sterblicher schrieb und in dem er Dir nachzusinnen, nachzugehen wagte, zu Deinen F ü ß e n . . . Weimar, den 23sten April 1784."
Goethes Dichtungen der Zeit sind wie mit elektrischer Spannung geladen, wenn der Erdgeist in Person beschworen wird, wenn Geister erscheinen und die Türen zum Übersinnlichen sich öffnen. Sein Faust ist keine weltlich-humanistisdie Dichtung, man spürt auf Schritt und Tritt die geisterhafte Nähe des Übersinnlichen. Der Mensch lebt in einem Bereidi zwischen guten und bösen Geistern und wandert auf schmalem Grat zwischen Himmel und Hölle seinen gefährlichen Weg. Mächtige Naturgeister, die nicht nach gut oder böse fragen und hilfreich oder zerstörend wirken, umschweben ihn. Die großen Leidenschaften und Erschütterungen des mensdilidien Herzens setzen sich wie in Shakespeares Tragödien in ungeheuren Dimensionen in kosmische Weiten fort. Und endlich erklingen auf den Höhepunkten der Dichtung warnende oder anklagende Stimmen unsichtbarer Geisterchöre, die gleich den Chören der antiken Tragödie die gültigen Urteile der ewigen Ordnungen verkünden. Wir Kinder eines aufgeklärten technisdien Zeitalters müssen uns erst in diese Atmosphäre hineinversetzen; den Menschen Ii
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jener Zeit ist sie weit vertrauter. Die ganze Faustdichtung ist eingetaucht in dies Element, sie ist getragen von der Hellhörigkeit und Aufgeschlossenheit für das Dämonische, Übersinnliche, Numinose. Überall der Spott gegen die nüchterne Aufklärung, der das Organ für das Übersinnliche fehlt, für das Göttliche wie für das Widergött„Den Teufel merkt das Völkdien nie, und wenn er sie beim Kragen hätte."
Und auf dem Blocksberg: „Das Teuf eispack, es fragt nach keiner Regel. Wir sind so klug, und dennoch spukt's in Tegel."
Mit gleicher Entschiedenheit wehrt aber diese Ironie auch die entgegengesetzte Entgleisung ab, jene selbstgewisse Bejahung des Transzendenten, welche es durch Versinnlichung und Objektivierung in das Endliche herunterzieht und dadurch entwertet. Die übersinnliche Welt ist keineswegs Traum oder Illusion, aber andererseits auch nichts handgreiflich Gegebenes, keine Verdopplung der diesseitigen Welt; vielmehr etwas, dessen man erst scheiternd an den Grenzen des Irdischen inne wird und von dem man im übrigen nur in dichterischen Bildern und Ahnungen reden kann. „Dämonisch" ist ein Lieblingswort des alten Goethe; die Sache selber aber begleitet ihn sein Leben lang, zumal in den schöpferischen Jahren der Jugend. Dieser Begriff teilt das Schicksal aller großen, eine Epoche leitenden und begeisternden Ideen, deren Grenzen in gleichem Maße unscharf und dehnbar werden, je größer die Macht ist, die sie ausstrahlen. Im Menschen ist das dämonische Erleben das erste ursprüngliche Erschauern, noch vor der Ausformung bestimmter mythischer Bilder oder metaphysischer Deutungen. So entläßt uns die Ballade vom Erlkönig mit einem Schauer des Numinosen, in der schwebenden Ungewißheit darüber, ob es sich um subjektive Fieberphantasien des kranken Kindes oder um die reale Manifestation übersinnlicher Mächte handelt. Diese Ungewißheit ist aber aus dem Grunde belanglos, weil nicht die philosophische Überzeugung vom Dasein dieser Mächte das Entscheidende ist - sie könnte u. U . ja auch dasein ohne das erfüllende und fundierende Erleben - , sondern dies machtvolle Erleben selber in seiner Ursprünglichkeit. Die Bedeutung des „Dämonischen" aber ist charakteristisch verschieden nach den drei Mythenbereichen, welche Heimat und Ausgang bilden, dem christlichen, dem antik-humanistischen und dem naturphilosophischen.
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II. Die antik-humanistische Das Dämonische in positivem
Tradition Sinne
In der religiösen Tradition der Antike bezeichnet das Dämonische durchaus etwas Positives, Schöpferisches. Dämonen sind Götter. So heißt es auch bei Hölderlin, wo er Gott selber zurückrufen möchte als höchsten Richter „ . . . ruf ich dich herab, alter Dämon! w i e d e r . . . " Auch den antiken Götter-Dämonen eignet in begrenzter Weise Transzendenz, sofern auch hier kein Zweifel darüber besteht: Der Mensch steht in der Hand des Gottes, nicht der Gott in der des Menschen. Aber die antiken Götter, deren Machtsphäre begrenzt ist, sind in ganz anderer Weise den Menschen nah und gegenwärtig. Ihr Sein ist anderer Art als das der Menschen und sie stehen den Menschen nicht als konkrete Wesen gegenüber; sie führen vielmehr ihr Leben in den Menschen selber wie in der Natur. Sie geben sich kund in allem Großen, Ungeheuren, Staunenswerten der Natur, in allem Schöpferischen, den Menschen Überwältigenden, ihn Erschütternden wie ihn Beseligenden. Der Liebende, der die rätselhafte Macht des Eros erfährt, ist plötzlich über alle Enge und Bedürftigkeit des Irdischen hinausgehoben, obschon er im Bereich des Irdischen selber bleibt. Wollte man sagen, daß er an den Gott „glaube", so wäre das viel zu dürftig und zu wenig gesagt. Er ist vielmehr mit dem Gotte in geheimnisvoller Weise vereinigt, so daß für ihn jeder Tag ein Fest ist und weder Sorge noch Angst ihn berühren können. Er schreitet einher in Glanz und Seligkeit der Götter. Neben und über den Göttern aber steht das dunkle Schicksal, die Moira; neben den olympischen, uranischen Göttern werden die älteren und ursprünglicheren chthonischen Gottheiten der Nacht, der Unterwelt und der Fruchtbarkeit verehrt, und von hier aus erhält der Begriff des Dämonischen den geheimnisvollen Einschlag des Zufälligen, Tragischen, Ungeborgenen. Diese Verbindung des Schöpferischen mit dem Unheimlichen bestimmt auch Goethes Begriff des Dämonischen. Das Schöpferische und das Gefährdetsein sind auch die Grundelemente jener dichterischen Gestalten aus Goethes produktivster, dämonischer Jugend-Epoche, die rückhaltlos ihrem Herzen, ihrem Genius folgen, sich dabei tragisch verstrickend, jedesmal von einer undämonischen Gegenfigur als ihrer Folie sich abhebend, Werther von Albert, Tasso von Antonio, Egmont von Alba, Faust von Mephisto. Die Gegenfiguren sind durchaus undämonisch, wenngleich Alba und Mephisto gelegentlich auch als „dämonisch", aber in einem entgegengesetzten Sinne, bezeichnet werden. Wahrend der Dichter in Egmont das Dämonische in seiner leichten, liebenswürdigen Form verkörpert, in Werther 11*
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den absoluten Anspruch einer großen Leidenschaft, in Tasso die außerordentliche Sendung eines begnadeten Künstlers darstellt, zeigt er in Faust das menschliche Urphänomen der Selbstbehauptung und des grenzenlosen Machtstrebens. Faust ist neben Prometheus die gewaltigste und beliebteste Gestalt bei den Dichtern jener revolutionären Epoche und trägt am deutlichsten den Stempel der Tragik, die Verbindung von Größe und Gefahr. Am Schluß von „Dichtung und Wahrheit" - Buch X X - hat Goethe im Anschluß an die Darstellung jener Geniezeit sich selbst und sein Lebenswerk von dem Begriff des Dämonischen aus gedeutet; von hier aus wollte er es gesehen und verstanden wissen. In vorsichtig andeutenden, seltsam feierlichen Worten, denen man die tiefe Anteilnahme und den verhaltenen Ernst anmerkt, spricht er von dem schöpferischen, widerspruchsvollen, gefährlichen Charakter des Dämonischen. Deutlich spürt man, wie er sich aufs sorgfältigste bemüht, bei dem Urphänomen selber stehen zu bleiben und alle trübenden Deutungsversuche fernzuhalten. Er spricht von dem Dämonischen als dem Inbegriff jener Kräfte, die in geheimnisvoller Weise das Leben der Menschen beschenken und begnaden, befruchten und steigern, aber auch gefährden. In gleichem Sinne sind die Äußerungen zu Eckermann gehalten. Wie groß ist das Wunder unseres Daseins, wie unbegreiflich das große Erleben geistiger Produktivität! Die Gedanken brauchen nicht mühsam ergrübelt zu werden; sie kommen wie freie Kinder Gottes und sagen: D a sind wir! „ J e höher ein Mensch, desto mehr steht er unter dem Einfluß der Dämonen." 24. 3. 29. Die eigentlich produktiven Kräfte liegen nicht in der Vernunft, sondern in den Trieben und Leidenschaften. Das Dämonische schafft - oder vielmehr bewahrt - neben dem vernünftig überlegenden und bewußten Ich gleichsam ein zweites Zentrum der Persönlichkeit, von dem aus alles instinktiv und traumhaft gelenkt wird; es ist ein Kompaß, der sicher durch das Labyrinth leitet. D a s Leben braust dahin wie ein rasendes Gespann durchgehender Rosse, kaum daß man blitzschnell und geistesgegenwärtig vom Steine hier, vom Sturze dort die Räder ablenken kann. Woher kommen wir? Wohin geht die Fahrt? Dies Dämonische ist ein letzter Grundbegriff Goethes, ein Preis der Leidenschaft; sein Glanz aber kommt ihm aus der Antike. Zugleich liegt darin ein persönliches Bekenntnis, der Dank für eine unbegreifliche göttliche Begnadung und f ü r das Ergriffensein von der Macht des Eros.
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/ / / . Naturglaube Mit dem Vorigen verwandt, aber dennoch von ihm geschieden ist die Gruppe der naturphilosophischen Dämonen-Aussagen. Hier handelt es sidi nicht um etwas spezifisch Menschliches, weder um Seelisches noch unsinnlich Gespensterhaftes, sondern um die realen, uns ständig umgebenden schaffenden Kräfte der Natur, die hilfreich und aufbauend, aber gelegentlich auch zerstörend in das Leben der Menschen eingreifen. Man ist hier außerhalb der christlichen Vorstellungen. In der Arielszene zu Beginn von Faust II heilen die Elfen den kranken und schuldbeladenen Faust. „Ob er heilig, ob er böse, jammert sie der Unglücksmann." Deutlich ist die Polemik gegen eine ethisdie Beurteilung, in der Goethe offenbar eine Verengung der Konzeption sieht, um die es ihm geht. Es ist der reine Gedanke von der Heilkraft und der „Gnade der Natur". „Es ist alles Mitleid und das tiefste Erbarmen. Da wird kein Gericht gehalten und da ist keine Frage, ob er es verdient oder nicht verdient habe, wie es etwa von Menschen-Richtern geschehen könnte." Immer, zu jeder Zeit kann der ermüdete, verzagte, der N a t u r entfremdete Mensch in die Einsamkeit der unberührten Natur zurückkehren, um wie Antäus in der Berührung mit den schaffenden und heilenden Mächten der Erde die alte K r a f t zu erneuern. So erquickt sich Faust in der Szene „Wald und Höhle" durch seinen „Wandel in der Öde", der ihn mit seinen Brüdern im stillen Busch, in Luft und Wasser zusammenführt. Der Erdgeist, die Mütter, Homunculus gehören hierher, und es ist einleuchtend, daß sie ganz anderen Kategorien angehören als die Dämonen der Sorge, Liebe oder Poesie. Genau genommen sind es die schaffenden Naturformen, welche die Wirklichkeit regieren und ihrerseits auf die Verbindung und Erfüllung mit der Materie angewiesen sind. So sind Kabiren und Homunculus „sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen", nach Verkörperung. Hier werden in freier dichterischer Weise Vorstellungen von Aristoteles und Plotin, Leibniz und Swedenborg verwandt. Vor den Augen des Dichters öffnet sich ein Geister-Universum, eine Kette der Wesen von Gott abwärts bis zu dem niedrigsten Lebewesen im Staube, dem Wurm; eine Pyramide, eine „Jakobsleiter", auf der den Engeln gleich Himmelskräfte auf und niedersteigen und alles und jedes einfügen in den einen göttlichen Zusammenhang. Diese schaffenden Formen werden ihrer belebenden Macht wegen mythisch als Geister bezeichnet und in poetischer Weise als selbständige Wesen angesehen, die auf der Leiter der Wesen höher stehen als der Mensch und die freier, ungebundener und mächtiger sind als er. Der Mensch kann 165
zu ihnen nicht nur das Verhältnis haben, daß er sich von ihneji helfen läßt. Der mit seiner Eingeschränktheit unzufriedene Mensch kann auch dem frevelhaften Wunsche nachgeben, es diesen Geistern gleich zu tun. So sehnt sich Faust aus dem engen Kerker des Leibes und möchte sich im Tau der Frühe gesund baden. Mehr noch, er möchte sich durch die Adern der Natur ergießen und schaffend Götterleben genießen. Noch mehr, er möchte schon hier im Leben die Geister gegen ihren 'Willen in seinen Dienst zwingen, d. h. Magie treiben. Faust macht mit beglücktem Staunen die große Erfahrung: „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen"; ebenso wie seinerzeit Swedenborg es dankbar erfuhr: aperiuntur interiora, die inneren Tiefen der Natur tun sidi auf. IV.
Dämonisierung
Der wesentliche Unterschied der antiken sowie naturphilosophischen Dämonen-Auffassung von der christlichen besteht darin, daß sie ethisch neutral sind und den Wertgegensatz von Gut und Böse nicht kennen. Dennoch gibt es auch schon außerhalb dieser Unterscheidung Ansätze, die an christliche Motive anklingen. Schon ehe sich Faust der Hölle verschreibt, schon in der Hingabe an die Magie lädt er Schuld auf sich, indem er sein natürliches Menschentum, seine Selbständigkeit und Verantwortung aufgibt. Und wo Goethe von der Herrlidikeit und Größe der Leidenschaften und des schöpferischen Dämonischen spricht, läßt er dennoch auch die Gefahren nicht unerwähnt, die hier lauern. Wenn dies Dämonische nämlich unbeschränkt die Herrschaft an sich reißt und die Vernunft aussdialtet, ziehen betrogene Betrüger die betörte Menge mit sich in den Abgrund; vergebens, daß sich einzelne Besonnene ihnen in den Weg stellen, die Menge ist von ihnen fasziniert, und das Verderben reißt den Schuldigen wie den Unschuldigen mit. Eine edlere und abgemilderte Form der Dämonisierung ist dann gegeben, wenn der Mensch wirklich etwas Geniales in sich fühlt, eine Sendung, die ihm und nur ihm allein auferlegt ist; wenn der solchergestalt von seinem Dämon besessene und mitgerissene Ausnahmemensch eignes wie fremdes Glück und Leben nicht achtend vorwärts stürmt. So wird im Urfaust der jugendliche Stürmer und Dränger geschildert, der ohne Rücksicht auf verheerende Folgen, dem dunklen Drang des Genius vertrauend, dem Wildbach gleidi begierig wütend dem Abgrund zutreibt. H a t ein solcher Mensch seine Aufgabe erfüllt, dann wird sein persönliches Leben wertlos. Man glaubt Hegel zu hören, wenn Goethe erklärt: 166
„Der Mensch muß wieder ruiniert werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. H a t er sie vollbracht, so ist er auf der Erde in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas a n d e r e m . . . " Eckermann 1 1 . 3 . 2 8 .
Anders aber liegt der Fall, wenn der Mensch sich auf dies innere Redit einer ihm auferlegten Sendung nidit berufen kann, so daß es sich bei ihm nur um das elementare menschliche Grundphänomen vitaler Selbstbehauptung und Selbsterweiterung handelt, um Wissen und Genuß, um Macht und Erfolg. Dann liegt schon in dieser Übersteigerung selber rein menschlidi gesehen eine Schuld. Der Charakter des Menschen als eines endlichen Wesens wird verkannt und die Ehrfurcht vor der Überlegenheit der Gottheit verletzt. Menschliche, endliche Werte werden in unnatürlicher Weise als absolut genommen und verdrängen das Göttliche aus seiner Herrschaftsstellung. Der Mensch, der in verblendeter Hybris, in Selbstüberhebung kein Göttliches über sich anerkennt, muß konsequent sich selber an dessen Stelle setzen. So Kyrilloff in Dostojewskis „Dämonen"; „Wenn es keinen Gott gibt, so bin ich Gott." So Faust bei Goethe: „Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!" Diese trügerische Selbstüberhebung aber ist ein Blendwerk, das unter der Form höchster Steigerung den Menschen in die tiefste Tiefe stürzt, statt in Freiheit in Knechtschaft, statt in Triumph in Verzweiflung, statt in Genuß und Freude in Freudlosigkeit und Lebensüberdruß. „Dafür ist mir auch alle Freud' entrissen." Vgl. den Aufsatz von Walther Rehm im Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1940: „Experimentum suae medietatis". Das Gericht, das nun über den Menschen hereinbricht, hat er selber auf sich herabgerufen; die Rute, mit der er gezüchtigt wird, hat er sich selbst gebunden. Es ist das genaue Gegenstück zu jenem Vorgang, wenn der Mensch in tiefster Ehrfurcht sich das dunkle Profil des Göttlichen zu „enträtseln" sucht, indem er höchste menschliche Erlebnisse und reinste menschliche Güte sich als Symbol und „Vorbild" des geahnten Göttlichen deutet. Auch bei der ehrfurchtslosen Dämonisierung verlassen die dunklen dämonischen Mächte die farblose ethische Neutralität und nehmen die Farbe menschlicher Leidenschaften und Gewissensqualen an. Es ist, als ob sich die seelischen Vorgänge des Menschenherzens in ungeheurem Aufschwung in kosmische Regionen fortsetzten und zu übermenschlichen dämonischen Gebilden verdichteten. Als Gretchen bei der Totenfeier für ihre Mutter im Dom von Gewissensqualen gepeinigt wird, werden ihr die Vorwürfe von einem „bösen Geist" hinter ihr zugeflüstert. 167
Jene oben geschilderte „aktive Magie", bei welcher der verwegene Magier herrisch und geisterbesdiwörend der Natur gegenübertritt, schlägt um in eine „passive Magie", bei welcher die Dämonen selber die Führung übernehmen. „Die Elemente sind mit uns verschworen, und auf Vernichtung läufts hinaus", höhnt Mephisto. Die Dämonen lauern den Menschen auf, immer bereit, ihnen zu schaden. Sie nutzen die schwachen Stunden und Augenblicke aus, sie zu betören und zu verderben. Wo sich in einem Menschen die Begierde nach dem Verbotenen, ihm nicht Zustehenden regt, wie bei Macbeth oder Faust, da sind sie zur Stelle. Schon eine flüchtige, unbesonnene Äußerung kann die „wohlbekannte Schar" berufen, aufmerksam machen; ein Dämon in Gestalt eines harmlosen Pudels macht sich an die Spaziergänger heran. Die Initiative liegt bei den Dämonen, nicht mehr bei den Menschen. Die Rollen sind vertauscht. Aber doch nicht ganz. Die Macht der Dämonen kann nur durch eine innere Zustimmung der Menschen ausgelöst werden. Die größten Beispiele bietet Shakespeares Dichtung. In Macbeth, der zuerst nur ganz leicht vom Flügelschlag der Macht gestreift ist, erwacht der gefährliche, in jedem Menschen schlummernde Funke, der Heißhunger nach Genuß und Leben, Macht und Erfolg. Die Bedenken des Gewissens verblassen vor dem verlockenden Phantasiebilde, um dann nach vollbrachter Tat ins Ungeheure gesteigert zurückzukehren. Nun aber sind es nicht mehr Regungen oder Leidenschaften des menschlichen Herzens, nein, die übermenschlichen, dämonischen Gewalten haben selber die Zügel ergriffen; der Mensch ist ein wehrloser Spielball in ihren Händen geworden. Unbarmherzig und unerbittlich peitschen sie nun ihr Opfer auf der von ihm selbst gewählten Bahn weiter, bis sie es endlich gnadelos zerstören. Ähnlich Faust, der alle menschlichen und göttlichen Bindungen mißachtet, um die höchsten Erdengüter, Genuß und Freiheit zu erlangen. Statt dieser erstrebten Güter aber werden ihm Knechtschaft, Freudlosigkeit und Angst zuteil. Er ist durch die schöne Welt gerannt, Reinheit und Glück zerstörend, jedes Gelüst bei den Haaren ergreifend, die stets mahnend gegenwärtigen Stimmen der Sorge und des Gewissens übertäubend, bis sie zuletzt übermächtig geworden sind und der Dämon der Sorge in Person, die schwächste Stunde ausnutzend, sich wie ein Raubtier auf sein wehrloses Opfer wirft. Vergebens, daß Faust pathetisch dagegen deklamiert. „ D a s hilft dir nichts, du wirst uns doch nidit los.
Grad im Befehlen wird die Sorge groß." 168
Welch grotesker Irrtum der üblichen Auslegung, Faust könne nadi Belieben durch ein „Zauberwort" die Sorge vertreiben! Sie sitzt ja in ihm selber! Er wird wie der Zauberlehrling die Geister, die er gerufen, nicht wieder los. Sie umschweben und bedrohen, ängsten und quälen ihn täglich und stündlich. Die „aktive" Magie ist zu einer „passiven", leidenden geworden. V. Das Dämonische im christlichen, negativen Sinne; Mensch und Dämon Das Dämonische im christlichen Sinne ist etwas durchaus anderes als das im antiken Sinne; daß dies oft übersehen ist, hat viel Verwirrung gestiftet. Das antike Dämonische ist, wenngleich der Gefahr und der Tragik offen, etwas Mächtiges und Positives, Schöpferisches und Schenkendes, Erwärmendes und Begeisterndes; im Christentum bezeichnet das Dämonische etwas dem Menschen Fremdes und Feindliches, das ihm drohend gegenübersteht. Der Dämon ist die Macht der Zerstörung, kalt, böse, schadenfroh, erniedrigend. Alles Heil liegt für den Mensdien in dem Nicht-Dämonischen, Menschlichen. Dieser Sprachgebrauch hängt damit zusammen, daß das Christentum die Götter des Altertums entthront und sie für widergöttliche oder niedrige „Dämonen" erklärt hat. Zunächst und formal genommen sind Dämonen von den Menschen durch ihre Natur geschieden; sie sind, was sie sind, ganz, sei es gut oder böse, während im Menschen sich Gutes und Böses mit einander mischen und gegenseitig einschränken. Im Christentum greift der ethische Wertgegensatz in den Bereich des Dämonischen über; es gibt gute und böse Geister. Freilich, da an dem Ausdruck „Dämon" hier immer etwas Widergöttliches, Niederziehendes haftet, paßt er eigentlich nur für die bösen Geister, gefallene Engel oder allenfalls für numinose Wesen niederer Stufe. Wenn man als die beiden polar sich ergänzenden Grundmotive der Faustdichtung das der Tragik und das der Erlösung auffaßt, so steht jenes in naher Beziehung zu der antiken, dieses zu der christlichen Dämonenauffassung. In der überlieferten Faustfabel erkennt man das biblische Grundmotiv von der Versuchung in der Wüste. Der böse Feind, der „Fürst dieser Welt", will den Menschen überlisten und verderben. Er zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und verheißt sie ihm um den Preis, daß er von seinem Schöpfer abfalle und ihn selbst anbete, sein ewiges Heil damit verlierend. Im Hintergrund spürt man immer die Andeutung, daß Mephisto nichts anderes als Fausts niederes Ich ist, die dunkle Seite seines Wesens; er zeigt das Bild Fausts, wie es sein würde, wenn sein edleres Selbst, die Verbindung mit dem Göttlichen ausgelöscht wäre. 169
Auf der Bühne aber sehen wir die beiden als Partner. Sie verkörpern jenen Gegensatz von Mensch und Dämon, der die Dichtung, wie sie uns jetzt vorliegt, beherrscht. Die beiden Kumpane ziehen durch die Welt, leichtsinnig, abenteuernd, Schabernack treibend und Schaden stiftend. Sie scheinen oft einander an Spott, Frevelmut und Leichtsinn nichts nachzugeben. Aber sowie sie sich ganz nah kommen, bricht plötzlich die nur künstlich überbrückte Kluft zwischen ihnen auf, jene Kluft, die Mensch und Dämon trennt. Der Mensch ist ein Mittelwesen, dem Himmel wie der Erde und ihren Tiefen verhaftet, das vollkommenste und unvollkommenste, das glücklichste und das unglücklichste Wesen. In ihm streiten sich Geist und Sinnlichkeit. Nie ist er fertig, abgeschlossen, immer im Werden, in der Entwicklung, von einer nie rastenden Unruhe erfüllt. - Der Dämon dagegen ist als solcher fertig und abgeschlossen in sich, keiner Entwicklung fähig. Er ist durch und durch böse und steht in seiner Bosheit noch tief unter allen Verirrungen, denen der schwache Mensch erliegen kann. Auf den Menschen könnte man sinngemäß eine Äußerung Hegels anwenden: „Was sich so verirrt, ist doch noch Geist." Der Mensch allein kann streben und irren, bereuen und verzweifeln. Der Mensch ist Persönlichkeit, er hat in sich ein Centrum, von dem aus er ständig seine Entscheidungen trifft, mit den gegebenen Möglichkeiten rechnend. Er wird als Persönlichkeit von mächtigen Leidenschaften ergriffen, zumal der Macht des Eros, die auch alle Höhen und Hefen der Sinnlichkeit mit in ihre Kreise zieht. - Der Dämon dagegen ist unpersönlich. Audi in ihm zwar verbinden sich in gewisser Weise Sinnlichkeit und Geist, aber beide in der uneingeschränkten Entfaltung ihrer Niederungen. Ein Höchstmaß gemeiner Sinnlichkeit steht neben einem äußersten Grad zersetzender skeptischer Geistigkeit; er ist eine „Spottgeburt von Dreck und Feuer". Er kennt kein Schamgefühl, und die sinnliche Liebe wird zum nackten Sexus, die Persönlichkeit, das Ich auslöschend zu einem bloßen „Es". Und analog die übergeistige, nicht gefühlsbeseelte Verstandesschärfe, in Sarkasmus und Ironie völlig negativ. Bei dem Menschen dagegen wird die gleiche Spannung zu der unentbehrlichen Voraussetzung für die Entfaltung echten persönlichen Lebens. Die Kämpfe in seinem Innern vollziehen sich in einer Atmosphäre seelischer Wärme und Lebendigkeit, in der selbst die schwersten Niederlagen noch den Charakter der freien Persönlichkeit erkennen lassen. - Der Mensch lebt so, daß er aufrichtig Anteil auch an fremdem Schicksal nimmt; bei dem Dämon, der nur Schadenfreude und Zerstörungslust kennt, ist keine Spur davon zu finden. In seinem Bereich ist er dem Menschen freilich weit überlegen, auf der egoistischen Jagd 170
nach Genuß und Erfolg kann der Mensch die Konkurrenz mit ihm nicht aufnehmen. Der Dämon verachtet und verlacht den Stümper, der einer Heuschrecke gleich immer wieder halb fliegt, halb springt. Er ist in allen Schlichen des Bösen erfahren, in allen weltlichen Dingen gewandt und findig. Eins aber fehlt ihm: für alles Höhere, Begeisternde fehlt ihm das Organ; hier ist er der „dumme Teufel". Daher mißversteht Mephisto seinen Partner ständig, bei der Wette wie auch weiterhin bei dem gemeinsamen Zusammenleben. Er läßt sich dadurch täuschen, daß Fausts skrupellose Rücksichtslosigkeit äußerlich von seiner eignen dämonischen Gefühllosigkeit kaum zu unterscheiden ist. Faust dagegen ist selbst bei seinen schlimmsten Entgleisungen immer noch ein Mensch, nie ein absoluter Bösewicht. Er ist in gewisser Weise inkonsequent, in Mephistos Augen ein ungeschickter Anfänger, innerlich gespalten, in seinem unbändigen Freiheitsdrang selbst schwerer Verbrechen fähig, zugleich aber hinterher der Reue und Selbstkritik offen und eben deshalb immer unglücklicher und verzweifelter. "Wenn diese Stimmung seine menschliche Schuld auch nicht beseitigen oder mildern kann, so liegt darin doch ein Ruhmestitel des Menschlichen überhaupt. Es ist jene nie rastende Unruhe, die immer schon jeder nur möglichen Erfüllung voraus ist, die sich hinausschwingt über jede Art satter Zufriedenheit und die im letzten Grunde den eigentlichen Adel des Menschentums ausmacht. Denn was könnte es Schlimmeres und Entwürdigenderes für den Menschen geben, als wenn er diese Unruhe und Sehnsucht ganz aufgäbe und dem Dämon sich anpassend in dessen Sinne im trägen Genuß des gegebenen Augenblicks oder irgendwelcher Teilerfolge verharren würde! Die viel verbreitete Auffassung, Faust sei als menschliches Muster und Ideal gedacht, beruht auf einem Irrtum; vielmehr ist er ein grelles, hervorragendes Beispiel für den gefallenen, verirrten und in tiefste Schuld verstrickten Menschen; aber gegen die eiskalte, unpersönliche Art Mephistos gehalten, hat er immer noch diesen Grundcharakter des echt Menschlichen voraus. Gerade die Qualen und Gewissensnöte, die er erleidet, sind die unverwerflichsten Zeugen dafür, daß er nicht völlig verloren ist und auch in den dunkelsten Hefen des Bösen noch von der göttlichen Gnade umfaßt und getragen wird. Das Vorspiel im Himmel hatte die Frage der Theodizee aufgeworfen. Der Teufel hatte Einspruch erhoben gegen die preisenden Hymnen der Erzengel: Wie kann die Schöpfung vollkommen sein, wenn der Mensch, die Krone der Schöpfung, innerlich so zwiespältig, unselig und friedlos ist? Darauf gibt die gesamte Dichtung eine Antwort, welche die Torheit des Durchschnittsmenschen und die Verzweiflung der Besten 171
offen einräumt; zu der Faust sich selbst am Ende seiner Laufbahn noch bekennt: „ . . . er, unzufrieden jeden Augenblick". Was aber ist es, das in dieser düsteren und schwermütigen Trauermusik dennoch den geheimen Jubel jenes Triumphes hören läßt, der leidverklärend alle hohe Tragik zu begleiten pflegt? Es ist die Verkündigung des „Rein-Menschliehen" in seinem unversöhnlichen Gegensatz zum Dämonischen. Diese Lösung ist nidits Selbstverständliches; sie hat etwas Überraschendes, Verblüffendes, Paradoxes. Der Dichter rückt etwas scheinbar Nebensächliches, leicht Übersehbares und meist Übersehenes in das helle Scheinwerferlicht der Betrachtung. Er gibt nicht etwa als Gegengewicht eine Ergänzung zu dem düsteren Aspekt; vielmehr zeigt er, wie gerade in jener Trauer und Verzweiflung etwas Positives liegt, was den Menschen weit über den Dämon erhebt, mag ihn dieser auch an Geist und Witz, Macht und Erfolg nodi sehr übertrumpfen. Es ist ein genialer Wurf des Dichters und ein unendlich liebenswürdiger Zug des Menschen Goethe, daß er hinter den Schwächen und Verirrungen, hinter der Tragik, Not und Schuld, die in keiner Weise geleugnet oder bagatellisiert werden, eine tiefere, von jenen Trübungen unberührte Schicht aufdeckt, jenen letzten glimmenden Funken, der den Menschen auch in seinem tiefsten Fall noch mit dem verratenen Göttlichen verbindet. Dies Rein-Menschliche, Anti-Dämonische zeigt sich unverkennbar schon in den schlichtesten Lebensäußerungen, in der natürlichen Herzlichkeit persönlicher Anteilnahme und Güte, in der Wirme des Gefühls, in der Unbestechlichkeit des Urteils und der Selbstverurteilung des Menschen, wenn ihn der Schmerz über die Untreue gegen sich selbst und das Göttliche in ihm peinigt. Auch hier erkennt man, wie so oft bei Goethe, die Übertragung eines christlichen Motivs in die allgemein menschliche Sphäre: Das starre ethische bzw. juristische Richten wird abgelöst und überwunden durch eine höhere religiöse Betrachtungsweise, in der das freie Walten der göttlichen Gnade sichtbar wird. Der Mensch wird nicht gerechtfertigt, seine Taten und Verirrungen werden verurteilt, der Mensch selber aber wird gerettet.
Kapitel 15
Metaphysische Grundlagen der Faustdichtung I. Aufklärung und Frömmigkeit Die Faustdichtung teilt ihre metaphysischen Grundlagen im Wesentlichen mit dem deutschen Idealismus überhaupt. Die idealistische deut172
sehe Bewegung, eine Entwicklungsphase der europäischen Aufklärung, stellt den unter Aufbietung ungemeiner geistiger und seelischer Energien unternommenen Versuch dar, das auseinanderbrechende Wert-Erleben der Zeit in einer neuen Synthese zusammenzufassen und dadurch den tiefsten Gehalt der überlieferten Frömmigkeit mit der Freiheit und Mündigkeit des modernen Menschen in Einklang zu bringen. Die Aufklärungsbewegung vollzieht sich in Deutschland in drei Wellen. Die Wölfische Philosophie trat zwar auf als Anwalt von Vernunft und Aufklärung, ließ aber dennoch die Gültigkeit der Offenbarungswahrheiten unangetastet. Vernunft und Offenbarung, beide sollten nebeneinander ihr Recht behalten. Diese Entscheidung erschien der folgenden Generation, den eigentlichen Aufklärern oder „Neologen", als unhaltbarer und unehrlicher Kompromiß. Auch sie lassen zwar eine übernatürliche Offenbarung gelten, wollen aber als deren Inhalt nur das gelten lassen, was mit der Vernunft übereinstimmt und sidi daher vor deren Forum überzeugend als gültige Wahrheit ausweisen kann. Damit schrumpft aber in einem sich immer weiter ausdehnenden „Subtraktionsverfahren" die lebendige Frömmigkeit mit der Fülle ihrer Mythen und Legenden, Bilder und Gebräuche zu dem dürren Gerüst einer „natürlichen Religion" mit dem Credo „Gott, Freiheit (Tugend), Unsterblichkeit" zusammen. Diese „eingleisige" Auffassung ist zwar ehrlich und charaktervoll, führt aber zu einer offenkundigen Verarmung und Entleerung der Religion. Gegen sie wendet sich nun mit ganzer Leidenschaft die dritte Aufklärungswelle, geführt einerseits von Lessing und Kant, andererseits von Herder und Goethe. Sie will die leichtsinnig verschleuderten Glaubensschätze wieder zurückholen, mit Liebe und Verständnis für die heiligen Schriften und die ganze Fülle der religiösen Überlieferungen; freilich, um einen bedeutsamen Preis: Sie gibt den Begriff einer übernatürlichen Offenbarung in dem alten prägnanten Sinne - den selbst die radikalen „Neologen" noch festgehalten hatten - völlig preis, so daß sämtliche religiösen Vorstellungen und Aussagen nun das Vorzeichen des Relativen und Symbolischen erhalten. Alle Mythen und religiösen Vorstellungsweisen werden zu sichtbaren Veranschaulichungen des Unsichtbaren, menschlich beschränkten Vergegenwärtigungen des Übermenschlichen, Absoluten, geschichtlichen Darstellungen eines Übergeschichtlichen, Uberzeitlichen. Diese Form der Aufklärung bildet auch die Voraussetzung und Grundlage der Faustdichtung. Durch die Beseitigung des alten ausschließenden Offenbarungsbegriffs wird nun der Begriff der Offenbarung frei für eine allgemeinere Ver173
Wendung. Eine weite Perspektive tut sich auf, die ganze Gesdiichte wird zu einer einzigen fortlaufenden Offenbarung. Dieser Gegensatz zwischen der altgläubigen Auffassung und jener der Aufklärung und des Humanismus geht weit über jene einmalige Krise hinaus; sie kehrt in mancherlei Variationen immer aufs neue in der Religionsgeschichte wieder. Der Katholizismus, konservativ im sicheren Besitz, gegenüber dem Protestantismus als stetiger, immer weitertreibender Beunruhigung; die humanistische Frömmigkeit eines Erasmus und Goethe gegenüber der dämonischen Frömmigkeit eines Luther und Kierkegaard, jene der Bildung und dem Wahrheitsstreben zugewandt, diese dem Glauben und den Bedürfnissen des Volkes nahestehend. Immer aber wird deutlich, daß keine dieser gegensätzlichen Richtungen isoliert für sich bestehen kann, ohne ein Wahrheitsmoment ihres Gegenüber in sich aufzunehmen. Ohne ein Offensein gegenüber dem Dämonischen, Übersinnlichen müßte die humanistische Frömmigkeit verdorren; ohne einen Einschlag von Vernunft und Bildung muß die dämonische Frömmigkeit sich zu geistlosem Fanatismus verengen. Die Gläubigen tragen dann in Selbsttäuschung ihre eigenen Schwächen und Torheiten in ihre Frömmigkeit und Gottesvorstellung hinein. In Wahrheit bedarf auch der scheinbar sicherste Glaubensbesitz ständiger „Wiederholung" im Sinne Kierkegaards. Ohne ein immer wiederholtes Bezweifeln und Oberzeugtwerden, ein immer neues Suchen und Finden würde das Irrige nicht erkannt und ein tieferes Verständnis nicht erreicht werden. Die altgläubige Offenbarungsauffassung verlangt von dem Menschen blinden Autoritätsglauben an ein von ihm nicht Eingesehenes, das dem Göttlichen um so näher zu stehen scheint, je irrationaler und unerkennbarer es ist. Im Gegensatz dazu steht die Religionsauffassung der deutschen Idealisten, insbesondere auch Goethes. Sie richtet auch in der Religion das Panier geistiger Freiheit auf, indem sie zugleich das wesentliche Wahrheitsmoment der älteren Auffassung mit aufnimmt. Das an sich unerkennbare Absolute, Göttliche „enträtseln" wir uns durch vertraute Bilder, deren vornehmstes der Mensch selber ist. Goethe spricht sich oft darüber aus, so in folgenden Sätzen: „Der Mensch begreift nie, wie anthropomorphisch er ist." „Wir verehren die Unsterblichen, als wären sie Menschen . . Der edle Mensch ist f ü r uns „ein Vorbild jener geahneten Wesen" . A u s der Ode „Das Göttliche". „Der Mensdi ist ein wahrer N a r z i ß . . . er legt sich als Folie der ganzen Welt u n t e r . . . Seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine Willkür leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den Göttern . . Wahlverwandtschaften 1,4.
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Endlich die bezeichnende Stelle: „Es gibt nur zwei wahre Religionen, die eine, die das Heilige, das in uns wohnt, ganz formlos, die andere, die es in der sdiönen Form anerkennt und anbetet. Alles, was dazwischen liegt, ist Götzendienst." Max. u. Reil. 667.
Nach Kant gelangen wir überhaupt erst von unserem sittlichen Bewußtsein aus zu einer eigentlichen Gottesvorstellung, zu einer „Theologie" statt zu einer „Dämonologie". Nicht ein Fremdes, Unverstandenes kann für uns ein zutreffendes Symbol des Göttlichen sein, sondern gerade das am besten Verstandene, uns Vertrauteste. Es ist ein Mißbrauch und eine Entleerung des Wortes „bekennen", wenn man sich zu etwas Unverstandenem „bekennt". Bekennen kann man sich nur zu dem Eigensten. Bekennen ist immer verbunden mit dem Eintreten für das Innerste, am meisten Verehrte, zugleich mit Gefahr und Wagnis verknüpft. „Glaube verstattet keinen Imperativ". Kant. Was niemand außer mir kennt wie ich, was ich aber in mir als das Wertvollste und Heiligste kenne, zu dem bekenne ich mich auch nach außen, allen Gefahren und Widerständen zum Trotz. Entsprechend ist das Empfangen göttlicher Offenbarung niemals etwas völlig Passives, von dem schöpferischen Erleben des Menschen Losgelöstes. Offenbarung und Glaube gehören zusammen zu einem einheitlichen Prozeß. „Die Bäume rausdien, dodi sie reden nur Dem, dessen Geist zuvor im Sturme fuhr."
In diesem Sinne bittet Lessing Gott nicht um den ruhigen und ungestörten Besitz der Wahrheit, sondern vielmehr um den ewig regen Trieb nach ihr. Und in gleichem Sinne knüpft Goethe im Faust die Rettung des tiefgefallenen Menschen an diese eine Bedingung, daß sein Suchen und Streben nie erlösdie. II. Relative
und absolute
Betrachtung.
Kant und
Goethe
An dem Ausdruck „Weltanschauung" haftet eine gewisse Zweideutigkeit. Er bezeichnet ursprünglich, dem Wortlaut entsprechend, eine einheitliche Gesamtschau der Welt, in welche sich für den Betrachter alle Einzelerfahrungen und Erlebnisse einfügen. Weiterhin, geschichtlich erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, erhält das Wort die prägnante, uns heute geläufige Bedeutung von Weltdeutung, wobei zwar immer noch etwas von der ursprünglichen Verwendung nachklingt. Man kann unter den möglichen Weltanschauungen zwei letzte Grundtypen unterscheiden, deren eine im wesentlichen eine 175
poetische Schau, die andere eine in streng wissenschaftlicher Methode gewonnene Weltdeutung darstellt. Von altersher kehren sie wieder, indem sie in polaren Gegensatz zueinander treten oder sich zeitlich ablösen: Prosa und Poesie, Wissen und Glauben, Scholastik und Mystik usw. Als im 17. Jahrhundert die große europäische Aufklärungsbewegung mit ihrer neuen Naturauffassung und ihrer weltlich-autonomen Kultur einsetzte - die man nicht mit ihrer Verengung in der „Neologie" und Verstandesaufklärung gleichsetzen darf - , und das mittelalterliche Weltbild mit seinen drei Stockwerken Himmel, Erde und Hölle seine Geltung verlor, da blieben für den religiösen Glauben und die Vorstellung von Gott nur zwei Möglichkeiten übrig, entweder immanent das Göttliche in die Welt selbst hineinzudenken und dies Ganze als selbständiges, in sich ruhendes Universum aufzufassen, durchpulst und getragen von den überall gegenwärtigen göttlichen Kräften, - oder sich der entgotteten Welt als einem undurchdringlichen Dunkel gegenüberzufühlen, in welches erst der Mensch, der den göttlichen Funken in sich trägt, von sich aus Sinn und Gesetzlichkeit hineinbringt. Beide Wege wurden eingeschlagen. Innerhalb des deutschen Idealismus sind Kant und Goethe ihre charakteristischen Vertreter und als solche Antipoden. Goethe hat in den wichtigsten Jahren seiner Entwicklung unter dem Einfluß seiner „geliebten Mystiker" und Naturphilosophen sowie in der Zusammenarbeit mit Herder jene dichterische Schau des Universums in sich eingesogen und trotz mancher anderer Einflüsse lebenslang als seinen Lieblingsmythus festgehalten. Er spricht sich aus in dem von Tobler niedergeschriebenen „Fragment über die Natur", in den Mythen vom Erdgeist, von den Müttern, überhaupt in der dynamischen Naturauffassung. Die Begriffe der Polarität und Metamorphose liegen nicht nur der Farbenlehre und der Gesamtschau der organischen Welt zugrunde, sondern auch der Deutung des Magnetismus, der Musik, des menschlichen Liebeslebens. Das Größte spiegelt sich im Kleinsten, eins weist auf das andere hin, alles bildet einen einzigen großen Zusammenhang. Kant dagegen legt zwischen sich und die Weltschau die kritische Überlegung nach den Möglichkeiten und Grenzen unseres Erkenntnisvermögens und unterscheidet „Erscheinung" und „Ding an sich". Nach seiner kühnen und gewaltsamen Konzeption legt erst der erkennende Mensch Sinn und Gesetzlichkeit in die „Natur", die für ihn jeweils nur ein Ausschnitt, eine Erscheinung der letzten unerkennbaren Wirklichkeit selber ist. Genau in seinem Sinne erklärt Schiller: 176
„Wisset, ein erhabner Sinn legt das Große in das Leben, doch er sucht es nicht darin."
Kant wird geleitet von dem Begriff der Vernunft, den er zunächst durchaus intellektuell auffaßt, wie es besonders eindrucksvoll von Georg Simmel aufgezeigt worden ist. Für ihn hängt vernünftiges sittliches Urteilen und Handeln zusammen mit logischer Widerspruchslosigkeit. Er hat an dem philosophischen Grundwerk seines genialen Schülers Herder, den „Ideen", die unter tätiger Mitwirkung Goethes verfaßt wurden, beißende Kritik geübt; und umgekehrt haben Herder und Goethe Kants analysierende Methode scharf kritisiert. Immerhin blieb bei dieser Auseinandersetzung auf beiden Seiten etwas hängen, in der Polemik färbte etwas von dem Gegenüber ab, woran später angeknüpft werden konnte. Bisher war die Lage so gewesen, daß sowohl die poetisch schauende als auch die wissenschaftlich prüfende Auffassung von Welt und Leben zur Geltung kam, nie aber beide im Bunde miteinander, sondern nur als entschiedene Gegner: Religion, Kunst, seelisches Innenleben auf der einen Seite, Aufklärung, Kritik, "Wissenschaft auf der anderen. Es schien, als könne man nur wirklich fromm sein, wenn man den strengen Forderungen der Vernunft entsagte und umgekehrt. Nun aber vollzieht sieb jene wichtige Wendung, deren Folgen unermeßlich sind und die für uns Rückblickende das Bild des deutschen Idealismus erst in seiner ganzen Vollendung erkennen lassen. Sie entspricht dem, was oben von der Notwendigkeit der wechselseitigen Beeinflussung humanistischer und dämonischer Frömmigkeit gesagt wurde.; ebenfalls dem, was Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" von der Begegnung des Dionysischen und Apollinischen hervorhebt, jener Versöhnung zweier Gegner, welche die entscheidende Wende in der Geschichte der griechischen Frömmigkeit darstelle. Hier überall ist der Vorgang der, daß sich die einsichtsvollsten Vertreter der Gegenparteien von beiden Seiten entgegenkommen und eine Brücke über die Kluft schlagen. Das gedankliche Mittel aber, die verbindende Brücke, bildet jene kritische Überlegung, daß man bei der Stellung des Menschen zu Gott und Natur zu unterscheiden habe zwischen der Gestalt, in welcher dies Gegenüber uns zugänglich und faßbar werde, und jener Gestalt, die ihm „an sich", ohne eine Beziehung zu uns, zukommen möchte. Dadurch entsteht jene Zweigleisigkeit der Betrachtung, die in analoger Situation auch schon in der Spätscholastik und bei Luther der rettende Ausweg geworden war. Vgl. die folgenden Seiten. Jetzt erst, in Überwindung jener „eingleisigen" Auffassung entsteht 12
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wirklich eine „Weltanschauung" im Sinne von Weltdeutung, welche weit offener und aufnahmefähiger für den gesamten Reichtum des Lebens wird. Man reicht sich über die vorhandene Kluft hinweg die Hand, öffnet sich den Argumenten des Gegners und sudit das Überzeugende und Echte der Gegenseite in die eigene Anschauung zu verweben. Was das für den Gegensatz Kant-Goethe bedeutet, kann hier nur andeutend skizziert werden. Hier liegt der eigentliche Schlüssel zur Lösung der immer neu empfundenen Schwierigkeiten, der vermeinten Widersprüche und Schwankungen in Goethes metaphysischen Aussagen; hier auch die Erklärung dafür, weshalb so kenntnisreiche und in begrenztem Gebiete einsichtige Goetheforscher wie z. B. Rudolf Steiner das Gesamtbild Goethes verkennen. Kant und Goethe, ursprünglich wahre Antipoden, werden nun in wichtigen Punkten geistige Kampfgenossen. Kant, aus der Aufklärung aufsteigend, begründet durdi jene kritische Unterbauung die Einsicht, daß Moral, Glaube und Poesie je ihr eigenes Redit haben und ihren Vernunftcharakter nicht erst von der Logik zu entlehnen braudien. Es gibt vielmehr unmittelbar eine „praktische Vernunft". Es gibt eine Vernunft, die unmittelbar im erlebten Gefühl gegenwärtig ist. Man muß den überspannten Anspruch des Wissens aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen. Goethe seinerseits, erfüllt von der Schönheit der Welt, hingegeben dem quellenden Strom der Naturkräfte - „Geburt und Grab, ein ewiges Meer" - , hat zwar stets seine alte Liebe zu der Naturschau der Mystiker und des Neuplatonismus beibehalten, aber auch ihm werden nun die Augen darüber geöffnet, daß das reine Schauen in Bildern und das Denken in Analogien und Parallelen nicht das Letzte sein kann. Für ihn ist die Begegnung mit Kant, dessen als unheimlich empfundenen Einfluß er nach der Italienreise in der Heimat überall antraf, von unermeßlicher Bedeutung geworden, und zwar nicht nur durdi Schillers Vermittlung. Seit dem Bekanntwerden mit Kant ist er auch in seinen naturwissenschaftlichen Forschungen mit äußerster Strenge darauf bedacht, den Erkenntnisanteil des Subjekts strenger abzusondern. Er spricht von der Gefahr, daß bei dem Übergang von Erfahrung zu Urteil „dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, . . G a n z besonders aber zog ihn jene kritische Unterscheidung im Bereich der Religionsphilosophie an. Bei der freien Weise, wie er sich die Philosophien zunutze machte, konnte er diesen Einfluß durchaus mit dem früheren Spinozas verbinden, bei dem sich eine analoge Unterscheidung ergab, indem man das Absolute selber von den mythi178
sehen, menschlichen Vorstellungen des Absoluten sonderte. Und wenn Goethe auch oft, z. B. gegenüber Jacobi, das Recht des Schauens hervorhebt ung sich lediglich gegen eine eng anthropomorphe Gottesauffassung zu wenden scheint, so hat er jetzt doch volle Klarheit darüber gewonnen, daß letztlich audi das Reden von der guten „Mutter N a tur ebenfalls noch mythischen Charakter trägt. Ihm geht der reine Begriff des Absoluten auf, die dunkle Silhouette des unbekannten Gottes, die Erhabenheit des Unerforsdilichen, das sich dem, der ihm eine „Erkenntnis höherer Welten" zu besitzen wähnt, in ein Endliches verwandelt und dessen sämtliche anschauliche Vergegenwärtigungen nie einen anderen als symbolischen Wert haben können. Wenn er gleichwohl dichtend manchmal diese Grenze überschreitet, so tut er es in dem klaren Bewußtsein dichterischer Freiheit; so bei seinem phantastischen Bericht über die geisterhafte Makarie, wo er am Ende, ironisch lächelnd, „diese ätherische Dichtung, Verzeihung hoffend" beschließt. Niemals ist ihm das Übersinnliche Gegenstand einer vermeintlich wissenschaftlichen Erkenntnis oder Spekulation geworden. Besonders aufschlußreich ist der Kondolenzbrief an seinen Freund Zelter vom 19. 3. 27, wo von dem Weiterwirken der ewig tätigen Monade die Rede ist, und wo es am Schluß heißt: „Verzeih' diese abstrusen Ausdrücke! Man hat sich aber von jeher in solche Regionen verloren, in solchen Sprecharten sich mitzuteilen versucht, da, wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen."
Wenn er seinem Gefühl tiefster Verbundenheit mit Frau von Stein den denkbar stärksten Ausdruck geben will, so spricht er davon, sie müsse wohl in abgelebten Zeiten seine Schwester oder seine Frau gewesen sein. Wollte man aber dies als eine nüchterne theoretische Behauptung oder Hypothese auffassen, so verlöre der ganze Vergleich sofort seinen Sinn und seinen Reiz. In Goethe wird die nüchterne kritische Einsicht nie durch kühne dichterische Phantasie aufgehoben. Jene Doppelschau aber hat etwas Befreiendes. Sie ermöglicht eine Verbindung von Tragik und Erlösungsglauben, Prosa und Poesie des Lebens. Sie ist ein Festhalten der realistischen und nüchternen Weltbetrachtung neben dem begeisterten Aufschwung des gläubigen Gemüts. Sie steht in Gegensatz zu der „eingleisigen" Betrachtung jeder Art, sei sie realistisch oder idealistisch, aufklärerisch oder mystisch. Es fehlt die naiv-kindlidie Glaubenssicherheit eines Franziskus, aber ebenso ihr Gegenstück, der weltschmerzliche Pessimismus des Unglaubens. Es fehlt der nüchterne Optimismus der Aufklärung, aber ebenso das Gegenstück, der Überschwang der Romantik, welche die Wirklichkeit selber 12»
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in Poesie verwandeln möchte. Generationen hatten sich gequält mit der Not, daß die nüchterne Erkenntnis der Wirklichkeit und die Forderungen der Vernunft den Glauben zu widerlegen schienen. Nun endlich erkannte man als das Wesen gläubiger Weltbetraditung, daß sie schöpferisch aus eigener Begeisterung entspringt und von sich aus, ohne jede äußere wissenschaftliche Bestätigung oder Gewähr, sich der Not und den Rätseln des Lebens entgegenstellt. Nie war echter Glaube an Gott und göttliche Dinge etwas Gegebenes, ohne weiteres zur Verfügung Stehendes, bequem Weiterzugebendes. Religiöse Begriffe sind Kategorien anderer Art als die einer wissenschaftlichen Naturerkenntnis und müssen auf dem eigentümlichen Boden, dem sie entstammen, festgehalten werden. Bekanntlich hat Friedrich Hebbel gegen Goethe das polemische Distichon gerichtet: „Einen Garten zwar hat er in der Welt sich gegründet, aber wahrlich die Welt nidit zum Garten gemacht."
Es ist aber deutlich, daß dieser Angriff sich nur gegen jenen Goethe richten kann, der erfüllt ist von der Schönheit der Welt und sich erschöpft in der dichterischen Schau des Universums. In der Tat, Goethe sieht die Welt mit liebevollen Blicken und sucht überall das Schöne und Harmonische auf. Er tut es aber im Grunde deshalb, weil das Bewußtsein von der Nähe unheimlicher und rätselhafter Mächte so gewaltig auf ihm lastet - des Göttlichen, des Dämonischen, des Schicksals - , daß er sich auf jede Weise von ihm zu befreien sucht. Die von ihm so sehr geliebte Welt der Schönheit ist wie eine Insel im Ozean. Gerade weil er das Tragische so stark empfindet, sucht er es nicht noch besonders auf, sondern will sich vor ihm dadurch retten, daß er deutende und erlösende Symbole schafft, um das Dunkel aufzuhellen und das Rätselhafte nach Möglichkeit zu enträtseln. III. Theodizee.
Goethe und Hegel
Diese doppelgleisige Betrachtung tritt nun nicht nur in der sauberen kritisch-philosophischen Unterscheidung nach der Art Kants auf, sondern auch in metaphysischer Verschleierung als eine Schau zweier verschiedener Seiten der Welt bzw. der Gottheit. Hier geht eine Linie von Luther über Jakob Böhme und J . G. Hamann zu den idealistischen Philosophen Schelling und Hegel, und ebenso zu Goethe. Luther sieht das Transzendente, Göttliche oft in konkret mythischer Leibhaftigkeit als den unheimlichen und maßlos zürnenden Gott des alten Testaments, dem er dann den in Christus offenbarten gnädigen Gott gegenüberstellt. Bei ihm ist die Unterscheidung des „deus absconditus" 180
und des „deus revelatus" der tragende Grund seiner Weltanschauung. Der beseligende Glaube an den gnädigen Gott des Evangeliums ruht auf dem dunklen Hintergrunde einer unerbittlichen Tragik des Lebens und erhält erst von da aus seine ganze Größe. In gleicher Weise haben die idealistischen Denker nur vor diesem dunklen Hintergrunde die hellen Tempel ihres Glaubens erbaut. Auch bei dem Faustdichter erscheint die Doppelgleisigkeit der Betrachtung zugleich in der Form eines polaren Zusammenhanges positiver und negativer Kräfte im Universum. Zugleich wird das Transzendente und Unerkennbare, entsprechend den drei metaphysischen Grundhaltungen des Tragischen, Ironischen und Religiösen in dreifacher Weise gesehen: Unter tragischem Aspekt erscheint es als das Furchtbare und Unheimliche, das mysterium tremendum. „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil;" unter ironischem Gesichtspunkt als das Sinnlose, "Widerspruchsvolle, zwecklos Spielende, „um Zeus zu amüsieren". Endlich in religiöser Sicht als das Unerforschliche, Göttliche, da» wir* „ruhig verehren". Daran schließt sich die eigentliche Unterscheidung der direkten, absoluten und der mythischen, relativen Betrachtung, wo das Transzendente in leichter Mythisierung als „Gott-Natur", „Mutter-Natur" oder auch nach dem „Vorbild" des Menschen als Schöpfer und liebender Vater vorgestellt wird. Frömmigkeit ist die dankbare Hingabe an den „ewig Ungenannten", den wir uns unserem Fassungsvermögen entsprechend durch symbolische Bilder „enträtselnd" nahe zu bringen suchen. Das Absolute wird vorgestellt als ein polarer Zusammenhang gegensätzlicher Kräfte. Das Böse und das Gute, das Zerstörende und das Aufbauende sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Die Faustdichtung beginnt und schließt mit den preisenden Hymnen himmlischer Wesen, und die Erdenhandlung gipfelt in dem begeisterten Preis und Dank des Lynkeus an die Schönheit der Welt. Um so dringender erhebt sich nun die Frage nach Herkunft und Sinn des Bösen, Sinnwidrigen, und sie bildet die eigentliche metaphysische Kernfrage der Faustdichtung. Hier tritt Goethe in überraschender Weise an die Seite Hegels, der gerade in dem verwirrenden Treiben von Kampf und Unruhe, von widerstreitenden Ansichten und Kräften den Siegeszug der Wahrheit erblickt. Entsprechend lautet die kühne These des Faustdichters, das Böse, Sinnwidrige sei nicht nur von Gott geduldet, aus Nachsicht zugelassen, sondern habe als Stachel und Anreiz sogar eine wichtige positive Mission zu erfüllen. Es muß ungewollt seinerseits dem Guten dienen und dadurch das Leben zu seiner höchsten Mächtigkeit hinaufführen. Wiederum darf man im Sinne des Dichters diese Theodizee nicht als abgeschlossene philosophische Theorie im strengen Sinne verstehen, der 181
sich alles einzuordnen hätte. Es liegt auf der Hand, daß sie dann nicht nur jener absoluten Tragik im Sinne Hebbels widerstreiten würde, welche sich dann ergäbe, wenn man die Strukturlinien der herben Tragik der Individualität und Existenz ins Kosmische verlängern würde. Sie weicht vielmehr auch ab von dem genuin Goetheschen Prinzip der Polarität, des wechselseitig aufeinander Angewiesenseins von Materiellem und Geistigem, Negativem und Positivem. Sie geht auch hinaus über die begeisterte unbedingte Lebensbejahung des „Wie es auch sei, das Leben es ist gut". - Goethe ist nicht in erster Linie Logiker; sein Denken ist offen, nach Art des Mythus, nicht abgeschlossen nach Art eines philosophischen Systems. Für ihn gilt: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr." Er lehnt sich in freier, unverbindlicher Weise an Spinoza wie Plotin an, ebenso an Leibniz und Kant, an Schelling und Hegel. Deren Einflüsse haben für ihn in genau der gleichen Weise nebeneinander Raum, wie es die drei verschiedenen religiösen Mythenkreise haben, von denen wir mehrfach zu reden hatten. Goethe ist ein großer Dichter und ein scharfer Denker; das Dichten und Denken ist in ihm selber sauber getrennt. Anders dagegen bei der Darstellung in seinen dichterischen und denkerischen Schöpfungen. Seine Dichtungen sind von philosophischem Geist inspiriert, seine philosophischen Aufsätze sind getränkt von Anschauung und Gefühl. Daher seine beispiellose Wendigkeit, Beweglichkeit, Elastizität. Er sucht durch Fruchtbarmachung sämtlicher ihn ansprechender Weltbetrachtungen und Religionen zu einer äußersten Höhe vorzudringen, die im Denken allein nicht nachzuzeichnen ist, sondern nur indirekt in dichterischen Andeutungen und Bildern. Keine philosophische Theorie ist für ihn ein Letztes, jede wird irgendwie in der Schwebe gehalten. Bekannt ist seine Äußerung gegenüber Jacobi, er für seine Person könne sich nicht mit einer Gottesvorstellung begnügen, sondern bediene sidi der verschiedenen, je nach dem Zusammenhang als Forscher oder sittlicher Mensch. Er will sich nicht festnageln lassen. „Ich bin ja schon in Erfurt, wenn ihr mich noch in Weimar vermutet. Bin ich darum achtzig Jahre alt geworden, daß ich immer dasselbe denken soll?" Treffend charakterisiert Friedrich Meinecke, Entstehung des Historismus S. 472, die Wendigkeit seines Denkens: „Dadurch, daß Anschauung, Empfinden und Denken in dem, was wir allgemein das Goethesche Denken nennen, immer zusammenwirkten, kommt in dessen Strukturlinien die eigentümliche Vereinigung von Klarheit und unausmeßbarer Tiefe, von Deutlichkeit und anlockender, nicht verwirrender Rätselhaftigkeit."
Auf der andern Seite ist er keineswegs ein sich in Einzelheiten verlierender und fabulierender Dichter, der „Hydra der Empirie" ausge182
liefert. Vielmehr ist überall das lebendige Fluidum eines bestimmt ausgeprägten Lebensgefühls gegenwärtig, das einen weiten Umkreis erfüllt und von einem Mittelpunkt aus beherrscht. Dies synthetische Element, dies in Gefühl aufgelöste Denken ist es letztlich, was den rätselhaften Zauber auch der kleinsten Gedichte ausmacht. Fragt man aber in diesem Falle nach dem letzten treibenden Motiv, dem Zweck dieser Theodizee, so ergibt sich deutlich die Absicht, bei aller Anerkennung des Polaritätsprinzips dennoch dem Positiven, Göttlichen das Übergewicht, die Herrscherstellung zu sichern. Das Negative, Böse, wenngleich nicht zu entbehren, wird zu einem Instrument in der Hand Gottes. Schon im Urfaust hatte der Dichter an diese tragische Verflochtenheit des Guten mit dem Bösen gerührt. In leichter Abwandlung kehrt das Motiv im „Prolog im Himmel" wieder, wo Gott Vater den Mephisto nidit nur zuläßt, sondern mit überlegen ironischer Geste sogar einlädt: „Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen, E r liebt sich bald die unbedingte Ruh'; Drum geb' ich gern ihm den Gesellen zu, Der wirkt und reizt und muß als Teufel schaffen."
Wie im Evangelium der „verlorene" Sohn über den musterhaften Bruder gesetzt wird, so hat hier Gott mehr Freude an dem Mutigen, Wagenden, wenngleich in Irrtum Verstrickten. - Nochmals, es wäre abwegig und geschmacklos, hieraus bei Goethe eine Metaphysik des Bösen zu konstruieren. Der Dichter sucht, in ähnlicher Weise wie Kant, audi den paradoxen, ihm selber fernliegenden Motiven des Christentums einen menschlich verständlichen Sinn abzugewinnen. Seine Theodizee erinnert an den altchristlichen Gedanken, Adams Fall im Paradiese sei eine „felix culpa" gewesen, nämlich als Voraussetzung der Welterlösung durch Christus. Nietzsche bemerkt gelegentlich, das Christentum habe den Menschen erst das Herz schwer gemadit, um es dann erleichtern zu können. Endlich ist an Goethes eignen religionsphilosophischen Entwurf der „Pädagogischen Provinz" der Wanderjahre zu erinnern, der ursprünglich in der „philosophischen Religion" gipfelte. Aber ergriffen von dem Tiefsinn und der Paradoxie des Gegenstandes, durdikreuzt der Dichter dann seinen eignen Plan im Sinn jener Theodizee und erklärt plötzlich die christliche Religion für den denkbar höchsten Gipfel: „Es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höhern Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und
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T o d als göttlich anzuerkennen, j a Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen." W i e C . F. Meyer
in seinem Gedicht „Die K r y p t e " diese Würdigung
des Christentums nachempfunden und dargestellt hat, so h a t er auch die Faust-Theodizee,
auf Michelangelos Sixtinische Fresken
anspie-
lend, wiedergegeben in den Versen: Ja Als der Herr mit mädit'ger Schwinge Durch die neue Schöpfung fuhr, Folgten in gedrängtem Ringe Geister seiner Flammenspur. Seine schönsten Engel wallten Ihm zu Häupten selig leis, Riesenhafte Nachtgestalten Schlössen unterhalb den Kreis. „Eh' ich euern Reigen löse", Sprach der Allgewalt'ge nun, „Schwöret, Gute, schwöret, Böse, Meinen Willen nur zu tun!" Freudig jubelten die Lichten: „Dir zu dienen, sind wir d a ! " Die zerstören, die vernichten, Die Dämonen, knirschten: „Ja."
Kapitel 16
Die religiöse Grundstimmung der Faustdichtung I. Religiöse
Krise.
Weltfrömmigkeit
M a n gewinnt den richtigen Gesichtspunkt für die religiöse Bedeutung der Faustdichtung erst, wenn m a n sie v o n der akut gewordenen religiösen Krise der Zeit aus sieht. Goethe selber w a r sich sehr lebhaft dieser K r i s e b e w u ß t und äußert sich in drastischer Weise über sie gegenüber dem K a n z l e r v. Müller 8. 6. 30, indem er hinzufügt: „Seit die Menschen einsehen lernen, wieviel dummes Zeug man ihnen aufgeheftet, und sie anfangen zu glauben, daß die Apostel und Heiligen auch nicht bessere Kerls als solche Bursche wie Klopstock, Lessing und wir andern armen Hundsfötter gewesen, muß es natürlich wunderlich in den Köpfen sich kreuzen."
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In solchen Zeiten fällt den weltlichen Dichtern und Denkern die Aufgabe zu, in die Lücke zu springen und gleichsam Platzhalter des Heiligen zu werden, indem sie die letzten Fundamente freilegen, die auch die Voraussetzung jeder positiven Religion bilden und ohne welche auch jede kirchliche Verkündigung wirkungslos verhallen müßte. Die Stimme des Dichters aber, rein menschlich verständlich und dennoch von dem Heiligen tief ergriffen, reicht weiter als die des dogmatisch gebundenen Theologen oder Predigers; und zahlreiche Menschen werden von ihr angesprochen, die sich der kirchlichen Verkündigung verschließen. Dabei ergibt sich die Einsicht, daß jede Art von Systematisierung oder Dogmatisierung Gefahr läuft, von dem Kern der Sache und der ursprünglichen Erfahrung abzugleiten. Das System hat schon als solches in Religion wie Weltanschauung eine gefährliche Anziehungskraft, weil es vielen Menschen eine vollendete und endgültige Warheit vortäuscht, die es doch nicht geben kann. So ist auf der einen Seite das biblische und geschichtliche Christentum viel reicher an schöpferischen Motiven, als seine Zusammenziehung zu einem einzigen Heilsdrama erwarten läßt. Andererseits verbinden sich in den geschichtlichen Religionen die eigentlich religiösen Motive mit anderen Vorstellungsweisen, welche dem Bedürfnis der Systematisierung entgegenkommen. So erklärt sich die zunächst überraschende Tatsache, daß in durchaus unchristlichen, überhaupt jeder metaphysischen Sublimierung fremden Dichtungen plötzlich einzelne religiös-christliche Motive von allerstärkster Wirkung auftreten. Dem Namen nach nicht als solche kenntlich, der Sache nach aber unverkennbar, entfalten sie in rein menschlich verständlicher Form eine Wirkung, die über jede Erwartung hinausgeht. Ein großes Beispiel bilden Shakespeares Tragödien, die weder Götter noch Jenseits kennen und die sich ganz auf den Bereich des Diesseits einschränken. Indem sie aber das menschliche Leben in seiner ganzen Mächtigkeit und Fülle darstellen, seiner Wurde und seiner Gefährdung, wie es in den großen im Guten wie im Bösen aufblühenden Leidenschaften emporsteigt und seine Kreise erfüllt, reden diese Dichtungen indirekt eine so gewaltige religiöse Sprache wie kaum etwas anderes. In der Macbeth-Tragödie die ungeheure Macht des Bösen, das sich selbst rächende Verbrechen, in den für das Böse anfälligen Menschen Versuchung, Schuld und die furchtbaren Qualen des Gewissens und der Reue. In König Lear werden alle Höhen und Tiefen des Menschentums durchmessen, bis der erniedrigte, geschändete Greis sich in den Armen einer alles vergebenden kindlichen und weiblichen Liebe wiederfindet; alles im Bereich des Menschlichen, aber gerade so ein ergreifendes Bild der 185
göttlichen Gnade. Selbst in einem so ausgesprochen religionslosen Stück wie Bert Brechts Mutter Courage bricht in überraschender Weise das große christliche Grundmotiv des Opfers und stellvertretenden Leidens durch, als das in seiner Primitivität dumpfe, mißhandelte und geschändete Mädchen durch das heroische Schlagen der Trommel sich für die anderen opfert. Wie sehr in Goethes Iphigenie und Greteben verwandte Klänge zu hören sind, Fluch und Erlösung, die Qualen der Schuld und grenzenlosen Jammers und endlich die Seligkeit der Erlösung, braucht nur angedeutet zu werden. Freilich ist in Goethes Dichtungen nicht wie bei den vorgenannten Dichtern die Verbindung zu den übersinnlichen Mächten gelöst; dennoch liegt genau wie dort jedesmal der Schwerpunkt im rein menschlichen Bereich. - Bei dieser Befreiung großer religiöser Einzelmotive handelt es sich nicht nur um ihre Lösung aus dem systematischen Zusammenhange, es fehlt auch jeder Anspruch auf Alleingültigkeit und Ausschließlichkeit. Es ist ferner die Gefahr ausgeschlossen, Schuld wie Erlösung als objektives Weltdrama zu betrachten, das man mit Rührung als ästhetisches Phänomen auf sich wirken läßt, ohne doch im letzten Inneren beteiligt zu sein. Man kann diese theologisch unbeschwerte, kirchlich ungebundene Frömmigkeit als „ Weltfrömmigkeit" bezeichnen, und sie findet in Goethe und seiner Faustdichtung ihren stärksten und eigenartigsten Ausdruck. Aus dieser stellvertretenden Übernahme seelsorgerlich geistlicher Aufgaben durch den Dichter erklärt sich audi die oft beachtete und ganz auffallende Tatsache, daß bei allem Reichtum der Phantasie, welche viele Möglichkeiten hätte erschließen können, der Umfang von Goethes dichterischen Themen äußerst sparsam und streng begrenzt ist; daß immer wieder von der frühen Jugend bis ins höchste Alter dieselben Motive wiederkehren. Ja im Grunde drehen sich seine sämtlichen dichterischen Schöpfungen um einen einzigen Mittelpunkt: die Erziehung und Bildung des Menschen. Wie muß der Mensch sein Leben führen, um in Wahrheit ein rechter Mensch zu sein? - Vergleicht man die Faustdichtung mit den großen Weltdichtungen eines Dante, Milton, Klopstock, so fällt gleich der wichtige Unterschied ins Auge, daß in Faust nicht ein als gültig anerkannter Glaube dargestellt wird, sondern daß die religiöse Klarheit erst im dichterischen Prozeß selber gesudit und errungen wird, in steter Auseinandersetzung mit den Mächten des Unglaubens. Dem Weltfrommen dieser Art ist die wichtigste Frage die Wahrhaftigkeit, die intellektuelle Redlichkeit; und der ehrliche Zweifel sowie das nie ruhende Streben nach immer größerer Klarheit stehen höher als die Selbstsicherheit im vermeintlichen Besitz einer untrüg186
liehen Wahrheit. Hier steht die Faustdichtung neben Wolframs Parzival und Lessings Nathan. Im Parzival wird gleich zu Beginn der tapfere, ehrliche Zweifel gerühmt und der Held durch Leiden und Schuld, Verzweiflung und Gottesferne zur endlichen Versöhnung mit Gott hingeleitet. Der Fromme dieser Art sehnt sich nach Frieden mit Gott, will aber zugleich ein gutes Gewissen haben in den Dingen dieser Welt, ihren Freuden wie ihren Aufgaben. Und wie Lessing seiner Dichtung das trotzig bescheidene Motto voranstellte: „Introite, nam et heic dii sunt", so behauptet Goethe mit starkem Selbstgefühl das Eigenrecht seiner undogmatischen Frömmigkeit und Christentumsauf fassung „trotz Verneinung, Hindrung, Raubens". „Ursprünglich eignen Sinn laß dir nicht rauben! W o r a n die Menge glaubt, ist leicht zu glauben."
Dagegen stellt er dem feierlichen Pathos des Messiasdiditers in bewußtem Gegensatz die graziöse Ironie seiner „ernsten Possen" entgegen. Um ganz gründlich gegen unechtes Pathos gesichert zu sein, reizt es ihn, so ansprudislos und lässig wie möglich die tiefgründigsten Wahrheiten auszusprechen. Der leichte Schleier der Ironie, der über dem Ganzen liegt und den einfältigen Gläubigen verwirrt, soll im Sinne des Dichters dennoch dem tiefsten und letzten Ernst nichts anhaben. Er nimmt es in selbstverständlicher Gelassenheit für sich in Anspruch, daß seine gesamte Poesie, auch da, wo sie völlig weltlich auftritt, indirekt doch dem Heiligen diene und zustrebe: „Ewig Geliebte, wie zart erinnerst du didi deines Trauten! Was auch in irdischer Luft und Art für Töne lauten, die wollen alle herauf." West-Östl. Divan.
II. Gefühlscharakter
der
Frömmigkeit
Jenes Eintreten der Dichter und Denker für das Heilige, so notwendig und verdienstvoll es in der religiösen Notlage auch war und so entschieden es den oberflächlichen Belebungsversuchen veralteter Glaubensformen überlegen ist, hat dennoch eine Kehrseite. Die Religion kommt in ihrer vollen Selbständigkeit, Eigenart und Fülle nicht zu ihrem Recht, sondern erleidet jeweils nach verschiedenen Seiten hin eine Verkürzung; der lebendige, geglaubte Mythus kommt in seiner Ganzheit nicht zur Entfaltung. Kant ist Philosoph, Moralist; bei ihm ist die Religion nicht selbständig, sondern auf Vernunft und Moral fundiert. Goethe dagegen ist durch und durch Dichter, Künstler, und sein ganzes Verhältnis zur Religion ist von hier aus bestimmt. Kant ist 187
glücklich, im Bereich des gegebenen Menschlichen eine erregende Tatsache, das „Faktum der reinen Vernunft" entdeckt zu haben, welches in seiner Auswirkung „die herrliche Eröffnung einer intelligiblen Welt" bedeutet. Es ist für ihn das Göttliche selbst im unscheinbarsten Gewände, das im Keim schon die ganze Fülle und Mächtigkeit des Gottesglaubens in sich enthält. In der Tat hat er damit die letzte Voraussetzung aufgewiesen, ohne die es überhaupt kein höheres Leben geben kann: die Anerkennung verpflichtender absoluter Werte. Es scheint wenig und ist doch viel. Es ist, wie wenn in der Dampfmaschine der immer weiter zurückgepreßte Kolben auf engstem Räume die höchste K r a f t auslöst. Dennoch ist diese notwendige Voraussetzung nicht das Ganze der Religion, und hier setzte sofort die berechtigte Kritik Schillers ein. In anderer Weise wird die Religion bei Goethe verkürzt. Er hebt seinerseits eine wesentliche Seite hervor, die bei Kant nicht zur Geltung kommt, das lebendige und leidenschaftliche religiöse Gefühl, die „Fülle des Herzens". Er ist der Dichter der Seele, der Innerlichkeit, insbesondere der Liebe und der Frömmigkeit. In dieser Betonung des Gefühls kommt aber nur eine Seite der Religion zum Ausdruck. Es liegt in dieser Haltung Goethes sein Schicksal, Glück wie Tragik seines Lebens, wie es von Herder, Schleiermacher und insbesondere Kierkegaard richtig erkannt wurde. Die Goetheverehrer um jeden Preis werden diese Einseitigkeit zwar nicht zugeben. Goethe selber hat in großartiger Aufrichtigkeit in mehrfachen Selbstcharakteristiken, weiter in Werther, im Tasso, in den Gestalten des Epimetheus und Euphorion sich mit aller wünschenswerten Klarheit darüber ausgesprochen. Ein Künstler, der in solchem Maße seiner Kunst verschrieben ist, der in so ausgeprägter, das ganze Leben bestimmender Weise Dichter ist, dem ordnet sich auch das Menschliche der Kunst unter. „Der Mensch gewinnt, was der Poet verliert", dies Wort aus dem Tasso gilt auch umgekehrt. So findet man auf der einen Seite bei Goethe eine tiefe und wahrhaft fromme Dankbarkeit für diese außerordentliche göttliche Gabe, auf der anderen Seite aber auch ein klares Bewußtsein der mit ihr verbundenen Gefahren. Die Religion ist ihm nicht autonom, nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, zu höchster Bildung zu gelangen. Er steht dem geheimnisvollen Göttlichen zwar mit tiefer Ehrfurcht gegenüber, aber der Poet ist kein Prophet und will es nicht sein. Wo er in der „pädagogischen Provinz" die herrliche Charakteristik der „christlichen Religion" gibt, läßt er deutlich durchblicken, daß er selber sich von diesem Glauben distanziert. Es handelt sich um Poesie, um ein Nacherleben der Religion im Gefühl, nicht aber um den stürmischen Atem des von seinem Gott er188
griffenen und die Menschen mitreißenden Propheten. Er lächelt milde über die Torheit der Menschen: „Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren." Aber mit einem geheimen Neid blickt er auf Männer wie Schiller und Byron, die sich mitreißen lassen und audi dem Leiden nicht ausweichen; für die der persönliche Einsatz, das „engagement" - Sartre - entscheidend ist. In Schillers Natur findet er etwas Heilandsartiges, jenen „Mut, der früher oder später den Widerstand der stumpfen Welt besiegt". Für ihn selber ist das alles bestimmende Motiv der Drang, als treuer Spiegel alles irgendwie Große und Bedeutende aufzufangen und darzustellen. Er ist reiner Innenmensch, im Sinn des Mittelalters der „homo religiosus". Er zerteilt sich nicht in Tasso und Antonio, er ist nur Tasso. „Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, so ist das Leben mir kein Leben mehr." Darum wurde ihm bei der Weichheit seines Empfindens das dichtende Darstellen ein Schutzmittel, eine Lebensbeichte und eine Lebenshilfe. „Ach, wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe, ich ging zu grund", schreibt er an Gustchen Stollberg. Das ist das Richtige an der herben, nur vom Standpunkt des Antipoden aus überspitzten Kritik Kierkegaards, wenn er dem dichterischen Gefühlserleben den vollen Ernst verantwortlicher religiöser Existenz gegenüberstellt; wenn er die dichterische Existenz als solche für gefährlich und unglücklich erklärt und als hervorragendstes Beispiel dafür Goethe hinstellt. Goethes Selbstbeurteilung liegt in seinen Dichtungen offen zutage. Er bekennt als Epimenides: „Doch schäm' ich midi der Ruhestunden, Mit euch zu leiden war Gewinn: Denn für den Schmerz, den ihr empfunden, Seid ihr auch größer, als ich bin."
Den allerstärksten Ausdruck aber findet er in Faust II in der Euphorion-Episode mit ihrer herrlichen Nänie auf Byron, dem er auch die vielsagenden Verse widmet: „Laßt ihn der Historia, Bändigt euer Sehnen! Ewig bleibt ihm Gloria, Bleiben uns die Tränen."
III. Religiöse
Urphänomene
In Zeiten des Ubergangs, wenn alte Glaubensformen zerbrechen und neue noch nicht da sind, richtet sich naturgemäß der Blick auf die letzten religiösen Urerlebnisse, die allen Mythengestaltungen vorausliegen, die sich in allen Religionen wiederfinden und überall das eigentliche Fundament bilden: Andacht und Ehrfurcht, Demut und das Erschauern 189
vor dem Numinosen. Auf sie ist ganz und gar der Grundton von Goethes Frömmigkeit und religiöser Poesie abgestimmt. Es hat viele Beurteiler gegeben, schlidite, fromme Menschen, die sich in ihrem Gefühl von der Innigkeit Goethescher religiöser Lyrik gefangennehmen ließen, es aber nicht verstehen konnten, mit welcher Bitterkeit und Ironie der Polemik er sich gegen die Ansprüche der Kirche wendet und mit welchem Leichtsinn er schließlich auch mit den heiligsten Wahrheiten und religiösen Mythen zu spielen scheint. „Sag mir doch, wie kannst du Einheit - zwei sein? Ich kanns nicht" schreibt ihm der Freund Lavater ganz verzweifelt. In der Tat gehört zu dieser Haltung eine nicht gewöhnliche Spannweite der Seele, eine außerordentliche Wendigkeit, Beweglichkeit, Elastizität des Geistes. Ich habe in meinem Buche „Goethe als religiöser Denker" die außerordentliche Persönlichkeit Goethe von dem Zusammenwirken zweier entgegengesetzter Pole aus, der Ehrfurcht und der Ironie zu deuten versucht. Im übrigen ist zu bedenken, daß das Miteinander einer scharfen Polemik gegen religiöse Engherzigkeit und andererseits echter Aufgeschlossenheit gegenüber den wirklichen Quellen religiösen Lebens keineswegs widerspruchsvoll ist. Es kehrt zumal in Zeiten religiöser Krise bei Dichtern und Denkern von geistiger Horizontweite immer wieder. In unserer Zeit hat R . M. Rilke, indem er genau die gleiche Haltung wie Goethe einnahm, vielen Suchenden außerhalb der Kirdie wertvolle Dienste geleistet. Auch bei ihm findet sich die kompromißlose Ablehnung eines kirchlichen Glaubens als einer „Forcierung des Herzens", die bestimmte Abneigung gegen „die Kirche, die fertig gekaufte". Duineser Elegien. Auf der andern Seite stehen seine von echtestem Gefühl getragenen religiösen Dichtungen. Daß Goethe, wo er von religiösen Dingen, Vorstellungen und Mythen redet, weithin nicht von letztem religiösem Ernst bewegt ist, sondern durchaus Dichter bleibt, der sich an der Fülle der Ausdrucksformen religiösen Lebens freut, ist nicht zu bestreiten. Freilich auch nicht, daß es auch bei ihm einen Bezirk gibt, wo er sich schrittweis, immer mehr sich erwärmend, dem letzten Ernst nähert. Und das geschieht grade dort, wo er sich den religiösen Urerfahrungen und Urphänomenen zuwendet. So spürt man in den sehr unbestimmt gehaltenen Andeutungen über das „Dämonische" am Schluß von „Dichtung und Wahrheit" einen eigenartigen Ernst, eine verhaltene Leidenschaft. In Faust I auf dem Osterspaziergang ist die Rede von der Sehnsucht, die jedem Menschen eingeboren ist und die ihn ergreift, „wenn über uns, im blauen Raum verloren, ihr schmetternd Lied die Lerche singt". In dem Religionsgespräch zwischen Faust und Gretchen wird 190
das Gefühl der göttlichen Gegenwart gefeiert. Was kommt auf die Namen und Vorstellungen von Gott an? Endlich, aus der allerletzten Zeit, der Gang zu den Müttern: „Doch im Erstarren such' ich nicht mein Heil, Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure."
N u r in ganz kurzen Umrissen sei daran erinnert, wie in Anlehnung an die verschiedenen religiösen Mythenkreise der Dichtung überall auf die letzten Urerfahrungen hingezielt wird. Die in der Geschichte des kirchlichen Christentums zu Unrecht weit zurückgedrängte Naturfrömmigkeit erklingt hier in vollen Akkorden: „Nacht ist schon hereingesunken, schließt sich heilig Stern an S t e r n . . . " Die antik humanistische Frömmigkeit findet im Umkreis des Menschlichen selber höchstes Glück sowie im tiefsten Leid die Gegenwart der heilenden und erlösenden göttlichen Kräfte. Werden doch erst nach dem Bilde des edlen hilfreichen Menschen die Vorstellungen von Göttern und Gott gebildet. U m so etwas wie Glauben und Vertrauen, Erlösung und Gnade überhaupt verstehen und fassen zu können, muß man ihm im Bereich des Menschlichen schon begegnet sein. U m etwas zu finden, muß man von sich aus schon auf dem Wege gewesen sein, muß fragen und suchen können. Im christlichen Umkreis wird am lebendigsten das Motiv der Erlösung erlebt. Nicht zwar im Sinne der paulinischen Christologie und Sühnetheorie. Uber Christus und sein Mittlertum herrscht in der Faustdichtung ein beredtes Schweigen. U m so stärker taucht an vielen Stellen in Goethes Dichtungen, auch im Faust, das Erlösungsmotiv selber auf. Im Werther wie im Mahomet, im Ewigen Juden und in der Mignontragödie, in Iphigenie und in den „Geheimnissen", in der Pariatrilogie und im „Märchen". Ausgegangen wird immer von einem Zustand der Unerlöstheit, von einem Fluch, einer Schuld, einer furchtbaren Not. Die Greuel des Tantalidengeschlechts bilden die düstere Folie für den lichten Glauben Iphigeniens, die Schrecken der Gretchentragödie den Hintergrund der himmlischen Schlußvision mit der mater gloriosa. Immer wieder sind Menschen da, in Schuld, Verbrechen und äußerste N o t verstrickt. Es ist die dichterische und menschliche Größe von Goethes Schaffen, aus solcher N o t einen Ausweg zu bahnen. Seine Dichtung trägt den Stempel des Helfenden und Heilenden, des Erlösenden und Begnadenden. Wieviel sagen die wenigen Zeilen des Gedichts „Der du von dem Himmel b i s t . . . " ! Das Ziel des Erlösungsprozesses ist immer diese Stimmung des Ausgeglichenseins, des Beruhigtseins: Friede. 191
Endlich als letztes und in gewissem Sinne wichtigstes der Urerlebnisse der Glaube. Der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben ist ja für Goethe das tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte. Nicht ein Glaube im Sinne des Fürwahrhaltens bestimmter Glaubenssätze, sondern der Glaube als eine stetige innere Haltung, eine gewisse Zuversicht, „ein großes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft". Der Glaube ist jener entscheidende Punkt, wo der Mensch das geheimnisvolle Göttliche unmittelbar zu sich in Beziehung setzt. Es liegt darin das religiös Schöpferische, Geniale, wo das Selbstgefühl auf seinem Gipfel eins wird mit tiefer Demut. Goethes Jugenddiditungen künden die Seligkeit der Gottesnähe und die Verzweiflung der Gottesferne, die Q u a l der Unerlöstheit und das Glück des Glaubens und der Erlöstheit. Die Faustdichtung spricht von den Klagen eines Gemüts, das zwar glauben möchte, aber nicht mehr glauben kann und sich trotzig von Gott abwendet. Jedenfalls steht die Frage nach Glauben oder Unglauben im Mittelpunkt der Dichtung. In der Geschichte der Religion sind es die „Anti-Heiligen", die „Repräsentanten des Lebens außerhalb der Religion", „nach Theophilus ist es Simon Magus, Xenodoxus und über alle andern hinaus der Erzzauberer Dr. Faustus, sie alle ,Verdammte auf Verzweiflung'". „Die kaum noch auslotbare Dimension des Unglaubens, genauer des Nichtglaubens, des Niditmehrglaubenkönnens und auch des Nichtmehrvergessenkönnens ist die eigentlidi moderne Dimension." Walther Rehm, experimentum suae medietatis. Jahrb. d. fr. Hochstifts, Frankfurt 1940, S. 240. E s ist einer der Höhepunkte der Dichtung, wie der verzweifelte und lebensmüde Faust im letzten Augenblicke vom Selbstmord zurüdegerissen wird, als die Osterglocken ihm die himmlische Botschaft verkünden. Und die Gewalt dieser religiösen Erschütterung wird dadurch nicht vermindert, sondern gesteigert, daß diese Botschaft, die den Verzweifelten bestürmt und an die gläubige Kinderzeit erinnert, nun von ihm dennoch nicht geglaubt wird. Wie schlecht beraten waren jene modernenAusleger, welche aus diesem Grunde die religiöse Bedeutung dieser Szene leugnen zu müssen glaubten und Fausts Erschütterung auf eine rein weltlich sentimentale Jugenderinnerung reduzieren wollten! Vielmehr liegt gerade die dichterische und religiöse Größe der Szene darin, daß hier die tragische Situation des modernen Menschen aufgezeigt wird, dessen Herz die allbezwingende Macht des Glaubens noch spürt, den er doch verloren hat. „Was sucht ihr mächtig und gelind, Ihr Himmelstöne, mich am Staube? Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind! Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube."
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Kapitel 17
Begriff und Bedeutung des Mythus I. Echter und unechter Mythus Der Ausdruck „Mythus" hat etwas Unbestimmtes, Schwankendes und wird in verschiedenem Sinne gebraucht. Es bedarf daher einer Klärung darüber, was wir darunter verstehen. Vorweg wird die negative, herabsetzende Bedeutung ausgeschlossen, in welcher man wohl sagt, gewisse Behauptungen seien „nur Mythen" oder leider „nur Legenden", d. h. Illusionen, denen keine Wirklichkeit entspräche. Selbstverständlich gibt es auch dergleichen, nämlich als geschichtliche Irrtümer oder als bewußt erfundene Tendenzlegenden. Diese liegen tiefer als die geschichtliche Wahrheit, welche sie nicht erreichen. - Mythen und Legenden aber in positivem Sinne enthalten Wahrheit in konzentriertester Form bzw. Wahrheit in einem tieferen Sinne als die bloße Wirklichkeit und Geschichtsdarstellung. Sie liegen höher als die nackte Wirklichkeit und ihre Darstellung, da sie zugleich das Geschehen beurteilen und auswerten. - Verwandt mit jener herabsetzenden Bedeutung ist weiterhin eine Auffassung des Mythus, die ihn in Gegensatz zur Offenbarung stellt. Man pflegt dann zu sagen, in den unechten, „heidnischen" Religionen habe man es mit Mythen zu tun, in der eigenen, „wahren", d. h. der christlichen Religion dagegen mit göttlicher Offenbarung. In den mythischen Religionen suche der Mensch sich aus eigener Kraft Gott zu nähern, in der Offenbarungsreligion dagegen komme er selber unmittelbar zu dem Menschen herab. Wie das vorzustellen ist, bleibt dunkel; und die Naivität dieser Auffassung ändert sich auch dadurch nicht, daß man neuerdings die Wendung erfunden hat, das Christentum sei „keine Religion". - In Wirklichkeit sind Mythen, heilige Geschichten und Legenden, ein wesentlicher Bestandteil der Religion überhaupt. Im Christentum aber spielen sie eine besonders hervorragende Rolle, da hier die Gottheit selber nach Analogie einer menschlichen Persönlichkeit vorgestellt wird und ihre höchste Offenbarung in einem menschlichen Mittler findet. Im Mythus wird das unsichtbare Göttliche in sichtbaren Bildern vergegenwärtigt; aber das Sichtbare ist nicht das Unsichtbare, das Zeichen nicht das Bezeichnete. Darauf beruht der Unterschied des echten und des unechten Mythus. Jener ist sich des symbolischen Charakters bewußt und läßt die Nähe der Transzendenz spüren; dieser verwechselt das irdische Symbol mit dem Tranzendenten selber und erniedrigt dadurch das Göttliche zu etwas Endlichem. Analog sprechen 13
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heilige Geschichten, mythische Erzählungen eine einmalige Begebenheit nach Art einer endlichen Geschichte aus, während sie in Wahrheit damit viel mehr meinen, ein Übergeschichtliches, sei es ein Göttliches oder doch ein Dauerhaftes, 'Wesenhaftes, sich im menschlichen Leben immer Wiederholendes. So stellt, nach Hegel, die mythische Erzählung vom Sündenfall „die ewige Geschichte der Menschheit" dar. Der Mythus ist reicher, offener, aufnahmefähiger als der Logos, das Dogma, die in Gedanken und Begriffe gefaßte Lehre. Im Gegensatz zu der letzteren schließt der Mythus jeden Fanatismus und Glaubensstreit aus. Er schützt zugleich die Offenbarung vor dem Irrtum, als handle es sich um die verstandesmäßige Enthüllung bestimmter Geheimnisse. Indes religiöse Propheten sind nicht Vorauswisser und Vorausverkünder der Zukunft, sondern Offenbarer des göttlichen Willens, zumal in einer Zeit und Umgebung, wo diese mißachtet werden und wo es gefährlich ist, den göttlichen Willen dennoch offen auszusprechen. Ja, auf den höheren Stufen sind diese Männer Gottes nicht nur Träger und Verkünder einer Offenbarung, sondern selber in ihrer Person Offenbarungen. Der Mythus ist die Poesie der Religion. Vor allem der Dichter wird von ihm angesprochen und fühlt sich hier in seinem eigensten Element. Hier kann er letzte Ausblicke in Bereiche tun, die unserer Erkenntnis verschlossen sind, er kann in behutsamen Ahnungen sich hineintasten oder die Phantasie in metaphysischen Märchen und Dichtungen schweifen lassen. Unter den Symbolen aber wird jederzeit das höchste uns zugängliche das Menschenbild selber sein, wobei es keinen wesentlichen Unterschied macht, ob das Göttliche vorgestellt wird als sich offenbarend und dem sinnlichen Menschen entgegenkommend, indem es Menschen-Antlitz und -Gestalt annimmt, oder ob umgekehrt der Mensch das Höchste seines eignen Wesens zusammenfaßt und zum Symbol des Göttlichen erhebt. In beiden Fällen bleibt das Göttliche selber transzendent. Diesen glänzenden Eigenschaften des Mythus steht nun aber das Bedenken gegenüber, daß er außerordentlich zart und leicht verletzlich ist und ständig in Gefahr schwebt, von den Menschen in ihre eigne Unzulänglichkeit hinabgezogen und mißdeutet zu werden. Vgl. Dostojewskis „Großinquisitor"! Werden mythisdie Aussagen über ein geschichtlich Einmaliges, deren Intention das Ubergeschichtliche und wesenhaft Dauernde ist, ihres Symbolcharakters entkleidet, so entstehen unkritische Vermengungen von Mythus und Profangeschehen, Legende und Geschichte, wodurch beide entstellt und entwertet werden. Es gibt Menschen und Zeiten, bei denen entsprechend ihrer Entfernung von dem schöpferischen Ursprung der Mythen die Versinnlichung so 194
in die Breite geht, daß das Gefühl für den Abstand der Transzendenz ganz oder fast ganz schwindet und nur ein grob sinnlicher Aberglaube übrig bleibt. Der Durchschnittsmensch hat immer den gefährlichen Hang nach Bequemlichkeit und einem unselbständigen Sidi-FührenLassen. Er will das Heilige um einen möglichst geringen Preis erwerben, nicht unter Einsatz seiner eignen schöpferischen K r a f t , als „Wiederholung" und „Existenzmitteilung" (Kierkegaard), sondern als etwas äußerlich Mitteilbares und Verfügbares. Wird solche „Inflation" des Mythus in gewissen Zeiten offenkundig, so erheben sich Propheten und Reformatoren gegen diese Flachheit und innere Unwahrhaftigkeit, und es kommt zu „Reduktionen" von Mythen wie bei Luthers Reformationsversuch der katholischen Kirche oder zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Bilder und Symbole wie im Calvinismus. Die Grenze zwischeh echtem und unechtem Mythus, begrifflich klar und unverkennbar, ist daher in der Wirklichkeit des religiösen Lebens dehnbar und fließend. Oft nähert sich die Volksfrömmigkeit dem unechten Mythus, ohne doch das Abstandsgefühl dem Transzendenten gegenüber ganz zu verlieren. Der Mensch der Antike, den schöpferischen Mythenursprüngen weit offener und der nüchternen modernen Naturwissenschaft fern, empfindet das „Wunder" anders als der Mensch der Gegenwart. Er staunt es an als etwas Außerordentliches, es ist ihm aber nicht etwas Widernatürliches. Auf der anderen Seite gibt es auch in der Gegenwart eine von der Aufklärung unbesiegte poetische Naturauffassung, welche den Mythen des Altertums verwandt ist und ihre Linie fortsetzt. Vgl. u. Absatz IV. Wo aber das Bewußtsein des Symbolcharakters der Mythen ganz erlischt und die Spannung der Transzendenz gegenüber überhaupt nicht mehr empfunden wird, da sinken Sakrament und Mythus unweigerlich zu Magie und Aberglauben herab. Dem Gläubigen selber, der sich in massiver Weise des Heiligen versichert zu haben glaubt, kommt diese Verzerrung oft gar nicht zum Bewußtsein. Das Transzendente wird gerade um so gründlicher verloren, je genauer der Mensch in jenen Bezirken Bescheid zu wissen wähnt und je beruhigter er allen Gefahren und Rätseln ins Auge blicken zu können meint. Er identifiziert dann problemlos die göttliche Offenbarung mit den Worten eines heiligen Buches, den menschlichen Mittler des Göttlidien mit der Gottheit selber. Dadurch wird das Bewußtsein der Transzendenz aufgehoben. Mit der Transzendenz aber versinkt audi die persönliche und eigentliche „Existenz" des Menschen, die schöpferische K r a f t des Glaubens, der freiwilligen Überzeugung, der religiösen Autonomie. Der Mensch ist dann hilflos fremden Autoritäten ausgeliefert, die für ihn bestimmen, was 13»
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als heilig und göttlich zu gelten habe. Der Mythus hat seine wesentliche Funktion eingebüßt, er ist ein „unechter" Mythus geworden. II. Lebendiger und erzählter
Mythus
Wir haben in einer ersten Annäherung den Mythus als symbolische Vergegenwärtigung des Göttlichen bestimmt, verwandt dem Sakrament, wie dieses ein Belebungsmittel für Andacht und Kult, und ebenso wie dieses im Volksglauben der Gefahr der mißverstehenden Vergröberung ausgesetzt. Aber wie die Religion selber sich nicht im Vorstellen des Göttlichen erschöpft, sondern den Menschen in der Totalität seines Wesens ergreift, in seinem Wollen und Handeln, dem gesamten Lebensgefühl, so auch der lebendige Mythus. Die symbolischen Vorstellungen sind nur ein Mittel, eine Form des Wirkens; die wesentliche Funktion des Mythus ist, Träger eines starken und beseligenden Glaubens zu sein, der dem Menschen gegenüber den Rätseln und Leiden des Lebens Zuversicht und Widerstandskraft gibt. Der lebendige, aktuelle Mythus ist für den Menschen der letzte Konzentrationspunkt seines Wesens, eine unerschöpfliche Quelle von Kraft. Ein Mythus, der nicht mehr „trägt", der in sich keine mitreißende und überzeugende Glaubenskraft mehr enthält, ist nur noch eine leere Schale, ein caput mortuum, dem die Seele entflohen ist. Wir stellen also neben jene erste Unterscheidung zwischen dem echten und dem unechten Mythus eine zweite, nicht minder wichtige, die zwischen dem lebendigen und dem bloß berichteten Mythus. Jener ist der Träger eines lebendigen Glaubens, ist „je meiner", aktuell, virulent, in Blüte stehend; dieser ist bloß ein Gegenstand der Kenntnis, allenfalls des ästhetischen Wohlgefallens. Dieser Unterscheidung liegt die bedeutsame, für viele Menschen schmerzliche Erfahrung zugrunde, daß alle Mythen, auch die religiös trächtigen, in denen die Gläubigen ihr Allerkostbarstes, ihr Persönlichkeitsgefühl investiert haben, am Ende auch vergänglich sind; daß mächtige Göttergestalten, welche Jahrhunderte lang verehrt worden sind, dennoch einmal versinken können. Dann werden die Mythen zu bloßen Vorstellungen oder Geschichten, als „Mythologie" Gegenstand der Kenntnisnahme und gelehrten Forschung, oder sie erleben im günstigen Falle in der Dichtung eine Art Auferstehung. Von diesem Schicksal werden nicht nur die sogenannten Weltanschauungsmythen betroffen, die mit dem Fortschreiten von Wissenschaft und Aufklärung sich ständig wandeln, sondern auch religiös bedeutsame und gehaltvolle. Dieser Auflösungsprozeß kann sich lange Zeitepochen hinziehen und sich oft gerade den Nächstbeteiligten verschleiern, er ist dennoch, hat er einmal eingesetzt, nicht 196
aufzuhalten, und alles künstliche Sich-Anklammern an die alten Formen ist vergeblich. Die Sprüdie der heiligen Schriften, ursprünglich wahrster und innerster Ausdrude eines echten religiösen Erlebens, werden zu rhetorischen Paradestücken, auf denen zwar wegen ihres poetischen Gehaltes immer noch ein eigenartiger Glanz liegt, die aber nicht mehr das enthalten, was ihre Seele und ihr eigentlicher Sinn war. So spricht Hegel in der Phänomenologie, VII, von den uns erhaltenen religiösen Kunstdenkmälern der Antike: „ D i e Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, sowie die H y m n e n W o r t e , deren G l a u b e n entflohen i s t . . . S o gibt d a s Schicksal uns mit den W e r k e n jener K u n s t nicht ihre Welt, nicht den Frühling und S o m m e r des sittlichen Lebens, w o r i n sie blühten und reiften, sondern allein die eingehüllte Erinnerung dieser W i r k l i c h k e i t . . . "
Und Goethe - mit etwas gewandeltem Sprachgebrauch, in gleichem Sinne: „ D a Mythus e r f u n d e n wird, werden die Bilder durch die Sachen groß; wenn's Mythologie wird, werden die Sachen durch die Bilder groß." T a g e b . 5. 4. 77.
Wo Nietzsche die religiöse N o t des modernen Menschen schildert, des geistig heimatlosen und mythenberaubten, versteht er mit Recht den Ausdrude Mythus im Sinne des lebendigen, geglaubten Mythus. Es ist die N o t des heutigen Menschen, daß er alle Mythen und Religionen kennt, daß er sich historisch-psychologisch in fremde Zeiten und Glaubenserlebnisse hineinversetzen kann, selber aber keinen eignen Glauben mehr hat. Durch den zersetzenden „Sokratismus" hat der Mensch die schützenden mythischen Bollwerke um sich herum zertrümmert: „ U n d nun steht der mythenlose Mensdi, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es d a ß er auch in den entlegensten Altertümern nach ihnen graben müßte. W o r a u f weist d a s ungeheure historische Bedürfnis der unbefriedigten modernen K u l t u r , das U m s i d i s a m m e l n zahlloser anderer Kulturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen H e i m a t , des mythischen Muttersdioßes?" Geb. d. T r a g ö d i e , Abs. 23
Es kommt uns in diesem Zusammenhange vor allem darauf an, den Begriff des lebendigen Mythus in seiner ganzen Klarheit und Mächtigkeit herauszuarbeiten, und dazu seinen unverwechselbaren Gegensatz zu dem bloß gekannten, berichteten bzw. abgestorbenen Mythus. Daß der Mythus, wo er wirklich in Blüte steht und sein ganzes Wesen voll entfaltet, mehr bedeutet als vorstellungsmäßiges Symbolisieren des Göttlichen, Absoluten, hat in eindrucksvoller Weise - das Gebiet der Religion noch überschreitend - George Sorel aufgewiesen. Vgl. seine 197
Reflexions sur la violence, deutsch Innsbruck 1928. Mythen sind Symbole dessen, was die Menschen lieben, glauben und verehren, was sie in anschaulichen Bildern sich vergegenwärtigen, in denen sie sich Sinn und Bestimmung ihres Lebens deuten. Mehr noch, sie sind glänzende Bilder, welche die Wirklichkeit weit überfliegen und die Menschen mit Freudigkeit, Begeisterung, Zuversicht erfüllen, mit einem solchen Elan, einer solchen mitreißenden Triebkraft, daß sie kein noch so großes Hindernis für unübersteigbar, kein nodi so schweres Leid und Opfer für unerträglich halten. Sie sind das höchste Glück des Lebens. Sie entzünden in der Seele die in ihr verborgene Schöpferkraft, sie sind anfeuernde Kampfparolen, welche die Menschen zu höchster Aktivität anspornen und befähigen. Man denke an die Kämpfe des Calvinismus, an den Durchbruch der befreienden Einsicht in dem jungen Luther, an Schillers „Ideal und Leben". Erst wo die kraftspendenden Mythen erbleichen und der lebendige Glaube sich aus ihnen zurückzieht, tritt an Stelle des erfüllenden Siegesbewußtseins ein forderndes abstraktes Sollen, an Stelle des freiwilligen Glaubens der Anspruch des Dogmas, an Stelle der begeisterten Hingabe die Forderung des sittlichen Gesetzes. Der Unterschied aber des subjektiven, lebendigen von dem objektiven, nur gekannten Mythus ist der Gegenwart besonders eindringlich durch das scharfsinnig-leidenschaftliche Denken Kierkegaards und die tiefgründigen philosophischen Entwürfe von Jaspers und Heidegger nahe gebracht worden. Der äußeren Form, dem sprachlichen Ausdruck nach unterscheiden sich eigner und fremder Mythus nicht von einander. Daher liegt die Gefahr nahe, in oberflächlichem „Gerede" beide zu verwechseln, ja gerade durch das genaue Kennenwollen und darüber Redenkönnen die Sache selber zu verdecken. Man kann, wie Kant bemerkt, die objektiv vernünftigsten Gedanken anderen nachsprechen, während man sie doch selber nicht versteht und nur der „Gipsabdruck" eines Menschen bleibt. Es ist nicht das geringste Verdienst der ungemein fruchtbaren existenzphilosophischen Bemühungen, diese große Gefahr der Selbsttäuschung und Heuchelei schonungslos aufgewiesen zu haben. Kierkegaard braucht den Vergleich, wie jemand sich ein großes Schloß baut, selber aber tatsächlich daneben in einer Scheune wohnt. Es kommt auf die Gedanken an, aus denen und in denen man lebt; und es bedarf einer „Leibesvisitation", um diese Gedanken und die Wahrheit der Aussagen festzustellen. Wenn einer, mitten im Christentum, in Gottes, des wahren Gottes Haus geht und betet, aber in Unwahrheit betet, so betet er in Wahrheit einen Götzen an. Und umgekehrt der, welcher in einem heidnischen Lande mit dem Blick auf ein Götzenbild betet, aber 198
mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit, er betet in Wahrheit zu Gott. Es ist etwas anderes, ob es sich um „je meinen Tod", meinen Glauben und meine Liebe handelt, oder um etwas, von dem ich nur vom Hörensagen weiß. In gleichem Sinne erklärt Goethe: „Ich glaube einen Gott." Dies ist in schönes, löbliches Wort; aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden. Max. u. Reil. 8o9.
Der lebendige Mythus steht dem ursprünglichen mystischen Gotterleben nahe, im Gefühl der Gottesnähe wie in dem erschauernden Abstandsgefühl. Das vorstellend reflektierende Denken des objektiven Mythus aber umschreibt diese Erfahrung in unbeholfener Weise, als stände Gott drüben und wir hier. Mit Recht sieht R. M. Rilke es daher als Zeichen religiösen Verfalls an, wenn das Gewaltigste, Tod und Gott, aus dem Kreise unseres Lebens entfernt und gleichsam ausquartiert werden. Vielmehr wirkt Gott im Menschen, und menschliches Schaffen ist keine Konkurrenz für das göttliche. Wie im Wesen und Treiben des Frühlings sich die Gottheit offenbart, so im Eros und allen Schöpferkräften des Menschen. Bei Paulus wie Luther sind die Gläubigen im Leiden wie im Triumph mit dem göttlichen Geistwesen Christus vereint, „so wir anders mit leiden, daß wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden". III. Mythus und Geschichte. Propheten und Mittler Mythen sind symbolische Darstellungen des Göttlichen im Medium des Endlichen, weit vielsagender und gehaltreicher als wirkliche Geschichte, auch da, wo sie bei der Symbolisierung an wirkliche geschichtliche Erscheinungen anknüpfen. Es gibt Mythenschöpfungen von oben her und von unten her; Göttermythen und Mythen von Helden, Heiligen, Mittlern. Dort wird das Transzendente in einem sinnlichen, menschlichen Symbol zum Menschen herabgeholt, hier wird ein als ungewöhnlich wertvoll empfundenes Menschliche zu mythischer Bedeutung hinaufgehoben. Das beginnt schon auf profanem Gebiet. Die Sagen von Karl dem Großen, Klingers Beethovenstatue, Lederers Bismarckdenkmal heben den Helden in eine übermenschliche mythische Sphäre, ganz analog den Legenden des hl. Franziscus und anderer Heiliger. Dankbare Völker haben von je ihre Helden und Heiligen zu den Göttern erhoben, begeisterte Gläubige haben ihre Propheten und Mittler göttlich verehrt. Aber gerade bei dieser Anknüpfung an wirkliche geschichtliche Gestalten kehrt jene Gefahr der Mythenverflachung, das Vergessen des Symbolcharakters, besonders folgenschwer wieder. Das 199
Zeichen ist auch hier nicht das Bezeichnete. Werden die Regionen des Mythischen und des Geschichtlichen miteinander vermengt oder verwechselt, so entstehen jene unheilvollen Verwirrungen, die sich durch die Theologie von Jahrtausenden hinziehen. Der göttlich verehrte menschliche Mittler hört in Wahrheit nicht im mindesten auf, seiner Natur nach ein wirklicher Mensch zu sein, denn gerade auf der Art seines ausgezeichneten Menschlichseins ist seine Göttlichkeit fundiert. Er ist kein Naturwunder, keine biologische Kreuzung göttlicher und menschlicher Natur. Darauf weist mit großer Entschiedenheit der junge Goethe in dem Pastorbrief hin: „Denn da Gott Mensch geworden ist, damit wir arme sinnliche Kreaturen ihn möchten fassen und begreifen können, so muß man sidi vor nichts mehr hüten, als ihn wieder zu Gott zu machen."
Richtig erklärt Novalis: „Wahre Religion ist, die jenen Mittler als Mittler annimmt, ihn gleichsam für das Organ der Gottheit hält, für ihre sinnliche Erscheinung."
Nietzsche erklärt in der „Geburt der Tragödie...", daß es ein Zeichen von Religionsverfall sei, wenn „das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt". Bei der unkritischen Vermengung von Mythus und Geschichte, Poesie und Prosa werden beide ausgehöhlt und entwertet, keins von beiden kommt zu seinem Recht. Mythen sind Vernunftschöpfungen, eine Poesie höherer Stufe, sie haben wesensmäßig eine andere Struktur als die Prosa der „wirklichen" Geschichte. „Jeder große Mann wedtt in seiner Umgebung die Poesie: hätte Jesu Leben und hätte Jesu Tod die Poesie nicht geweckt, so wäre Jesus kein großer Mann gewesen; aber die Poesie muß man als Poesie verstehn."
Lagarde, Deutdie Schriften, S. 228.
Ausgangspunkt jeder Mittler-Mythisierung und ihr dauerndes Fundament liegen immer nur in der religiösen Offenbarungskraft jener „privilegierten Seelen" (Lessing), in ihrer Macht über die andren Seelen. Wie der einzelne Mensch nidit zu allen Zeiten seines Lebens dem Göttlichen gegenüber gleich aufgeschlossen ist, so sind auch nicht alle Menschen in gleicher Weise der Offenbarung gegenüber offen. Es ist der Gang der Weltgeschichte, daß die Gottheit in höheren Naturen wirksam ist, um die niederen zu sich hinauf zu ziehen. Diese Gefolgschaft ist freilich nur dann echt, wenn sie die Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des Einzelnen nicht hemmt, sondern sie bestärkt und fördert. Die großen Seher und Propheten sind es auch, bei denen der Ur200
sprung der bestimmten Mythen zu suchen ist, welche dann ganze Jährhunderte beherrschen. Mythen sind Antworten auf Fragen und Rätsel des Lebens. Sie beziehen sich auf Geburt und Tod, Schöpfung und Weltende, oder auf eine besondere konkrete Not in der Lage eines Volkes oder eines Einzelnen. Dann ist es der Prophet und Seher, der „vates", der sich dem Dunklen und Schreckenden mutig stellt und einen erhellenden Mythus als göttliche Offenbarung findet. Eine unpersönliche, exklusive, unverstanden hinzunehmende Offenbarung gibt es niemals; dieser Begriff ist ein aus menschlicher Torheit entsprungenes Mißgebilde. Alle echten Mythen aber sind in diesem hohen Sinne selber Offenbarungen, „Dichtungen" höherer Art. Gott redet nie unmittelbar und unpersönlich zu Menschen, es fällt auch kein Götterbild oder heiliges Buch vom Himmel. „Sie reden nur durch unser Herz zu uns." Iphigenie. Die großen Propheten^ und Dichter schaffen Symbole, die dann für ganze Zeitalter und Gemeinschaften gültig werden und als Gefäße des Heiligen dienen. Die „Schöpfer" selber aber stehen einsam und schutzlos dem schreckenden Dunkel gegenüber und erringen stellvertretend unter Angst und Gefahr für die Übrigen die erhellenden, tröstenden und erlösenden Mythen. „Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter, mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen." Hölderlin.
So schuf der große unbekannte Prophet, dessen Trostworte wir in Jesaias 53 lesen, in der Not des babylonischen Exils für sein in die Fremde verschlepptes, gequältes und verzweifeltes Volk den gewaltigen Mythus vom Gottesknecht, der stellvertretend für die übrigen Völker und die gesamte Menschheit leidet. Jede Not und jede besondere geschichtliche Lage fordert und bedarf zu ihrer Uberwindung eines lebendigen, die Herzen gewinnenden und überzeugenden Mythus. Mythen in diesem Sinne sind faszinierende Bilder, die mit ihrem Trost die N o t und Angst des Irdischen überstrahlen, ohne freilich den Anspruch zu machen, die Wirklichkeit von Leid und Schuld befreien zu können. Aber eines leisten sie: Sie machen durch ihre erhellende Sinndeutung die scheinbar unerträgliche Last erträglich; denn nur das Unverstandene ist das eigentlich Unerträgliche. Der Mensdi wird durch das Leid geläutert und kann das Schwerste ertragen, wenn er einen Sinn darin findet oder die Notwendigkeit begreift.
201
IV. Der Mythus als „Poesie des Lebens" Von hier aus öffnet sich ein weiter Ausblick. Die belebende, schöpferische, mythenbildende Kraft, weldie im Altertum, bei Völkern wie Einzelmenschen auf der Stufe der Kindheit sich in naiver Weise darin äußert, daß Gestalten und Ereignisse in Natur und Geschichte als persönliche Mächte und ihr Wirken gedeutet werden, diese gleiche schöpferische Kraft ist auch bei gereiften Völkern und Menschen, ist audi in der Neuzeit nicht erloschen, so weit die Wissenschaft und Aufklärung den Bereich des Geheimnisvollen, Mythisdien auch zurückdrängen mag; sie nimmt nur andere Formen an. Zu allen Zeiten wird es die beiden gegensätzlichen Weltdeutungen und die ihnen entsprechenden Lebensbereiche geben, die man als Mythus und Wissenschaft, Poesie und Prosa, Begeisterung und Nüchternheit bezeichnen kann. Es ist eine letzte Entgegensetzung, weldie sich quer vor alle übrigen Unterscheidungen legt und die Gesamtheit der Lebensinhalte wie eine geschlossene Kugel in ihre zwei Hemisphären zerlegt. Auf der einen Seite Mythus und Poesie, auf der andren Wissenschaft und Prosa. Dabei erweitert sich selbstverständlich der Begriff des Mythischen, der Religion, der Poesie und Phantasie und umfaßt das gesamte seelische Innenleben des Mensdien samt den zugehörigen objektiven Werten: Liebe und Ehrfurcht, Hoffnung und Sehnsucht. Auf der andren Seite die „Prosa des Lebens", Erfahrung, Wissenschaft, soziales Zusammenleben der Menschen, die Nützlichkeitserwägungen in Politik, Wirtschaft und Technik. So geht Schillers Gegenüberstellung des „Idealisten" und „Realisten" durch sämtliche anderen möglidien Unterscheidungen hindurch, so daß bei dem Gebrauch selbst der gleichen Vokabel jeweils immer etwas anderes gemeint ist, je nachdem ob sie im Sinn des Realen oder Idealen gemeint ist. Vgl. seine „Götter Griechenlands", „Das Mädchen von Orleans", das Liebesgeplauder zwischen Thekla und Max im „Wallenstein", endlich ganz programmatisch das Gedicht „Poesie des Lebens". Unter dem Ideellen versteht er den Inbegriff des Seelischen, Schöpferischen: Glaube, Liebe, Hoffnung, Treue, Religion, Mythus, Poesie. Die Religion erhält hier eine umfassendere Bedeutung, die an dem Gegensatz Hegels zu Schleiermacher deutlich gemacht werden kann. Letzterer, in der lebendigen Tradition konkreter geschichtlicher Religion stehend, ist frömmer als Hegel. Dieser aber ist gläubiger als jener, da er an den Geist in der ganzen Fülle seiner Selbstoffenbarung glaubt. Wenn Hegel erklärt „Über Göttliches kann darum nur in Begeisterung gesprochen werden", so deswegen, weil alles Begeisterte in 202
diesem Sinne schon Religion ist. Analog weist Gneisenau die spöttische Randbemerkung seines Königs zu seinem idealistischen Reformplan „Als Poesie gut" mit dem Hinweis zurück, daß Religion und Vaterlandsliebe in der Tat auf „Poesie" beruhten. Die gleiche Unterscheidung ist auch Goethe geläufig und ein Grundstein seiner Weltanschauung, wenngleich er dafür nicht den Ausdruck Mythus und auch nur seltener den des Ideellen braucht, sondern von Liebe und Poesie spricht, auch von Magie und Glaube. Alle echte Erkenntnis ist fundiert auf Liebe, alle Religion auf Ehrfurcht, Staunen, Bewunderung. Der höhnische Teufel, wertblind für Liebe, mäkelt an der fertigen Schöpfung, während die Engel, die echten Göttersöhne, in den holden Schranken der Liebe die werdende Schöpfung bewundern und preisen. Goethe hat jenen Gegensatz von Poesie und Prosa bzw. Politik insbesondere seinen reifsten Altersdichtungen zugrunde gelegt, dem Pandorafestspiel und der Faust-II-Dichtung. Epimetheus steht gegen Prometheus, der Mensch der Seele und Innerlichkeit gegen den eroslosen Täter, genau wie der Faust der ersten Akte zu dem der beiden letzten Akte von Faust II. Und genau so ist schon die Wertherdichtung entworfen. Der glücklich liebende Werther ist damit zugleich fromm und lebt in der götterbeseelten Welt Homers; der an Gott und Liebe Verzweifelnde ist der düsteren, götterlosen Landschaft Ossians anheimgegeben. Das Leben ohne Liebe ist wie eine Zauberlaterne ohne Licht. „Die heilige, belebende Kraft", mit der er Welten um sich schuf, ist dahin. Die Merkmale des Mythus in diesem universalen Sinne als „Poesie des Lebens" sind dreifach. Zunächst: Liebe und Enthusiasmus sind selber schöpferisch. Echte Liebe ist nicht bloße Reaktion auf einen schon als fertig vorgefundenen, gegebenen Wert, der gleichsam „angestarrt" wird, sondern selber in Bewegung und schöpferisch, indem sie an dem geliebten Gegenstand noch verborgene Werttiefen erst erschließt. Vgl. die glänzenden Analysen bei Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 5. Aufl. S. 165 f. In gleichem Sinne heißt es bei Goethe im „Sammler": „Das ist ja eben die göttliche Kraft der Liebe, von der man nicht aufhört, zu singen und zu sagen, daß sie in jedem Augenblick die herrlichen Eigenschaften des geliebten Gegenstandes neu hervorbringt... Ja, das Bild der Geliebten kann nicht alt werden, denn jeder Moment ist seine Geburtsstunde."
Man kann noch auf Rilke hinweisen, der im Malte das Lieben hoch über das Geliebtwerden stellt und noch bei unglücklicher Liebe über den geliebten Gegenstand hinaus die Liebe selber lieben lehrt. 203
Damit hängt ein Zweites zusammen, worauf besonders Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 2. Aufl. S. 124 hinweist: Das Geliebte ist immer Individuum und wird als solches zum Absoluten erhoben. Das Geliebte ist als Geliebtes wertvoll. Schon im Werther wird dargestellt, wie die Liebesleidenschaft mit elementarer Macht zu dem Range hindrängt, der sonst nur Gott zukam. Sie wird stellvertretend das höchste Symbol des Göttlichen. „Das EwigWeibliche zieht uns hinan." Und endlich: Dies Gegenüber von Poesie und Prosa gibt es nur in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander. Die Welt besteht nicht aus reiner Poesie, und ein Enthusiasmus ohne den dunklen Untergrund der Realität wird unecht. Erst Poesie und Prosa machen zusammen als die zwei Hemisphären die vollendete Kugel des Lebens aus. Die Verwandtschaft des Mythus in diesem Sinne als „Poesie des Lebens" mit dem antiken Mythus der Naturbeseelung, über dessen Verlust Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands" klagt, ist augenfällig. Es zeigt sich deutlich, daß das schöpferische Beseelen des Unbeseelten nicht nur ein Spezificum des Altertums ist, sondern der Religion überhaupt eignet. Es erscheint daher zweckmäßig, von einem Mythus in engerem Sinne, der die Antike im Auge hat, und in weiterem Sinne, der auch die Neuzeit mit einschließt, zu sprechen.
Kapitel 18
Der Mythus in der Faustdichtung I. Religiöser oder poetischer
Mythus?
Goethe hat schon als Dichter eine nahe Beziehung zum Mythus, der in ähnlicher Weise wie das Sakrament das Übersinnliche in sinnlich faßbarer Form vermittelt. Der Mythus ist die Poesie der Religion. Er ist aber nur da „echter Mythus", wo noch die Nähe der Transzendenz gespürt, das Zeichen vom Bezeichneten, das Gesagte vom Gemeinten unterschieden wird. Streng hält Goethe diesen Unterschied des echten und des unechten Mythus fest. Schon im Urfaust muß der Held bei der Erscheinung des Erdgeistes die bittere Erfahrung machen, mit deren feierlicher Proklamierung dann die Faust-II-Dichtung eröffnet wird: Wie wir mit körperlichen Augen nicht unmittelbar in die Sonne schauen können, so gehören wir überhaupt zu dem „Geschlecht, bestimmt, Er204
leuchtet« zu sehen, nicht das Licht". Wir haben das Leben nur am farbigen Abglanz, die Wahrheit, das Göttliche nur im Bild und Symbol: „Soweit das Ohr, soweit das Auge reidit, Du findest nur Bekanntes, das ihm gleicht. Und deines Geistes höchster Feuerflug H a t schon am Gleichnis, hat am Bild genug."
Umgekehrt spürt man, wie in der Faustdichtung überall das sinnlich Dargestellte transparent, durchsichtig wird und auf ein Übersinnliches, Ewiges hinweist; wie die zeitlich verlaufende, geschichtliche Handlung im Grunde ein Überzeitliches, Bleibendes meint. So haben wir in Fausts Gegenspieler auf der Bühne, Mephisto, im Grunde das dunkle, niedre Ich des Menschen vor uns, das ihn begleitet wie sein Schatten; in der Geschichte von Fausts Höllenverschreibung, Weltfahrt und Erlösung den ewigen Mythus des Menschen, eine Parallele zu dem biblischen Mythus von Sündenfall und Erlösung. So erklärt sich auch die der Überlieferung fremde Tatsache, daß bei Goethe der Höllenpakt nicht auf eine bestimmte Zeit befristet ist, sondern für das ganze Leben gilt. Der Mensdi ist in der Zwiespältigkeit seiner Natur immer unglücklich, unzufrieden, dem Irrtum, der Tragik, der Schuld verfallen, zugleich aber immer auch gerettet und begnadet, sofern er in aller Erniedrigung den Hunger nach dem Ewigen und Unbegrenzten nicht erstickt. Wenngleich die Unterscheidung zwischen echtem und unechtem Mythus und damit die formale Gesamtcharakteristik des Mythus überhaupt wichtig genug ist, weil sie durch das Symbol hindurch immer den Blick auf die Transzendenz offen hält, so ist sie dennoch für unsere Untersuchung von geringerem Belang, weil sie von den konkreten Einzelmythen und ihren Problemen absehen kann; vor allem aber deshalb, weil die Haltung des Faustdichters ihr gegenüber völlig eindeutig und unumstritten ist. Er liebt und pflegt den Mythus, hält aber stets die Augen offen vor der Gefahr seiner Entartung zum unechten Mythus. Ganz anders liegt der Fall bei der zweiten Haupt-Unterscheidung, die wir oben trafen, der zwischen objektivem, berichtetem und subjektivem, eignem Mythus, oder mit anderer Wendung: der Unterscheidung zwischen poetischem, ironisch spielendem und religiös ernst zu nehmendem, wirklich geglaubtem Mythus. Hier erst tauchen die Probleme der konkreten Einzelmythen auf, hier erst kommt man zu dem Vollbegriff des religiösen Mythus und seiner wesentlichen Leistung, Träger eines echten, unzerstörbaren, dem Leben und seinen Grenzsituationen standhaltenden Glaubens zu sein. Ob ich eine Religion, eine Lehre, einen Mythus zu kennen und zu verstehen meine, darauf kommt wenig an. 205
Alles aber kommt darauf an, ob er mir etwas sagt, ob ich von ihm betroffen bin. Diese Beziehung zu mir, daß er „je meiner" ist, macht ihn mir zu einem ganz anderen Mythus. Hier betreten wir ein Gebiet, das in der Faustforschung in ganz auffallender Weise vernachlässigt worden und beinah ganz jungfräulicher Boden f ü r sie ist. Wo aber die Frage nach dem lebendigen Mythus der Dichtung und dem Glaubensbekenntnis des Dichters selber in ihr gestreift wurde, da ergaben sidi völlig verschiedene und ganz widersprechende Urteile. Es ist ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Arbeit, das hier vorliegende Problem klar herauszuarbeiten und eine bestimmte Lösung vorzulegen. Die Faustdichtung war stets von einem Nimbus religiöser Weihe umgeben. Die einen hielten sie für christentumsfeindlich und sahen in ihr einen Ersatz für die überlieferte Religion, gläubige Christen dagegen fühlten sich durch sie in ihrem Glauben bestätigt. Freilich nur solange, als sie den Dichter in naiver Weise ernst nahmen und die Ironie übersahen. Heute dürfte auf der Seite gläubiger kirchlicher Theologen ein tiefes Mißtrauen gegen den religiösen Ernst der Dichtung überwiegen. In weiten Kreisen der Faustleser aber, soweit sie nicht ganz oberflächlich sind, herrscht völlige Unsicherheit. Das ist erklärlich. Meint man eben noch das Pathos eines echten Bekennens und die Bestätigung der überlieferten heiligen Wahrheiten zu hören, so wird dies alles unmittelbar darauf durch ironisches Lädieln oder scharfen Spott wieder zurückgenommen. Der Dichter spricht ja aucii keineswegs nur durch den Mund Fausts, sondern in gleicher Weise auch durch den Mephistos, der halb Narr und Skeptiker, halb höllischer Dämon ist. Wo hört das Spiel auf und wo beginnt der Ernst? Oder ist am Ende alles nur Spiel, Poesie, unverbindliches Erörtern von Möglichkeiten? In früheren Zeiten ließ man sich dergleichen wohl gefallen und beruhigte sich bei der resignierten Feststellung eines Konrad Burdach, Faust sei und bleibe eben ein Torso, „ein unvollendeter Dom hehrster und zartester poetischer Bilder und sittlich-religiöser, biologischer, sublimiert erotischer Vorstellungen", und eben dadurch bewahre die Dichtung für alle Zeiten „einen unvergänglichen und unerschöpflichen Schatz des Heiligen". Euphorion 1932. Dann wäre diese metaphysische Dichtung in der Tat nur ein großes Bilderbuch, eine Revue, unverbindlich, ohne Nötigung zu eigner verantwortlicher Stellungnahme und ohne den letzten Ernst religiöser Überzeugung. Mögen andere Zeiten und Menschen, die in gesicherten Verhältnissen leben durften, sich unbefangen dem ästhetischen Reiz und der geistreichen Ironie der Dichtung hingeben; die Menschen unserer aufgewühlten und leidbeschwer206
ten Zeit haben tiefere Bedürfnisse, sie haben ein scharfes Ohr und ein untrügliches Empfinden dafür, ob es sich um letzten religiösen Ernst oder bloßes dichterisches Spiel handelt. In der Tat zeigt sich bei den Menschen unserer Zeit eine verbreitete Goethefremdheit, eine der innersten Tendenz nach durchaus verständliche Auflehnung gegen Goethe und die Faustdichtung. H a t man den Eindruck, daß die religiösen Aussagen im Faust in gleicherweise ernst zu nehmen sind wie etwa bei Äschyltts oder Dante, bei Klopstock
oder
Hölderlin?
Scharfsinnige und bedeutende Kritiker haben hier schweren Anstoß genommen. Kierkegaard vermißt bei Goethe den letzten religiösen Ernst und das echte Pathos. Er habe sich als Dichter nur im Geist, im Gefühl, in der Phantasie des Ideals bemächtigt, sei aber dem Ernst der Wirklichkeit ausgewichen. Vgl. u. Kap. 2o, II. Sehr scharf ist Friedrich Hebbels Urteil: „Welch ein unendlicher Unterschied zwischen der Kunst des Äschylus, aus dem düstern mythologischen Hintergrund eine Welt voll Leben hervorzuspinnen, und den fratzenhaften modernen Versuchen, z. B. Goethes im zweiten Teile des Faust, die Mythologie in eine Art von Mosaik aufzulösen und diese zum Putz um neue, fremdartige, gar nicht damit in organischer Verbindung stehende Ideen, ja Einfälle, herumzureihen." Tageb. 1845 Im Vorwort zu „Maria Magdalena" erklärt er, daß Goethe „im Faust, als er zwischen einer ungeheuren Perspektive und einem mit Katechismusfiguren bemalten Bretterverschlag wählen sollte, den Bretterverschlag vorzog". Ähnlich urteilt Friedrich Gundolf über den mythischen Ausklang der Dichtung: „Es ist metaphysischer Verzicht, sobald man den Schluß im Himmel wörtlich nimmt, wenn der Prometheus, der Gott trotzen oder Gott werden mußte, emporgezogen und entsühnt wird durch das EwigWeibliche . . . Und es ist ästhetischer Verzicht, falls man ihn allegorisch nimmt, wenn Goethe sich dieses christlichen Gleichnisses, des Himmels, bedienen muß, um ein nicht-christliches Erlebnis zu vergegenwärtigen." Goethe S. 749 Diese Stimmen ließen sich leicht vermehren. Das Gewicht dieser Befragung wird noch gesteigert, wenn sie über den Bereich der spezifisch religiösen Aussagen hinausgeht und sich auf den Ernst des dichterischen Pathos überhaupt bezieht. Der spanische Philosoph Ortega Y Gasset hat in einer seit 1932 wiederholt veröffentlichten Studie Mm einen Goethe von innen bittend" mit großem Ernst diese Frage aufgeworfen. Er stellt mit Recht fest, daß große Dichtung immer aus einer inneren Not geboren wird, daß sie in dem Schöpfer wie in dem Empfangenden jeweils die Antwort auf diese Not ist. Vgl. oben Kap. 17, III. Der Ertrinkende macht, um nicht zu versinken, Schwimmbewegungen, und dies schöpferische Regen der Arme ist der Anfang der Rettung, der Beginn der Dichtung und damit überhaupt der Kultur. Fühlt der Mensch sich dagegen geborgen und in Sicherheit, so erlahmen diese schöpferischen Kräfte. Ortega macht die Anwendung auf Goethe in dem Sinne: der dauernde Aufenthalt in
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Weimar sei ihm verhängnisvoll geworden, so daß er sich und seinem Schicksal ausgewichen sei.
In der Tat kann es verblüffen, mit welcher spielerischen Freiheit und Unbeschwertheit sich Goethe aller möglichen religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen und Mythen zu bedienen scheint, wo immer er sie in seinem Zusammenhang brauchen kann. Man erkennt sofort den Unterschied, sobald man den religiösen Ernst der christlichen Glaubensaussagen bei Klopstode oder selbst den der heidnisch-antiken bei Hölderlin der vielförmigen Mythenverwendung bei Goethe gegenüberstellt. Aus Hölderlins Gedicht „Der Wanderer": „Und so bin ich allein. Du aber, über den Wolken, Vater des Vaterlands! Mächtiger Äther! und du, Erd' und Licht, ihr einigen drei, die walten und lieben, Ewige Götter! Mit euch brechen die Bande mir nie."
In solchen Hymnen klingen unverkennbar Herztöne echtester Frömmigkeit auf. Es handelt sich um lebendigen, geglaubten Mythus. In der Tat, an den kritischen Einwendungen der Kierkegaard, Hebbel usw. ist etwas Richtiges. Es würde nun am nächsten liegen, den mythischen Gehalt der Faustdichtung aus jenen feierlichen Szenen abzulesen, wo unmittelbar die übermenschlichen Wesen auftreten, Gott und die himmlischen Heerscharen, die Dämonen und Geister; die mater gloriosa mit ihrem himmlischen Hofstaat und das Geistergewimmel auf mondhellem Meere an den Küsten Griechenlands. Indes man braucht nur aufmerksam in die Dichtung hineinzuhorchen, um zu erkennen: gerade diese Szenen sind nicht Ausdruck eines geglaubten religiösen Mythus, sondern geradezu klassische Beispiele für den objektiven poetischen Mythus. Freilich darf man auf der anderen Seite diese Erkenntnis nicht so verallgemeinern, als gäbe es in der Dichtung überhaupt keinen echten religiösen Mythus. In der neueren Faustliteratur zeigt sich, als begreiflicher Rückschlag gegen die frühere kritiklose Verherrlichung, eine Tendenz, den Spott und die Ironie sowie die tragisch-pessimistische Stimmung so sehr zu überbewerten, daß die ganze Dichtung zuletzt als eine einzige Satire und Faust als ein zweiter Mephisto erscheint. Das eine ist ein Mißgriff wie das andere; mit dieser Schwarz-WeißMalerei, dieser ärmlichen Alternative, ist es nicht getan. Zwar nimmt die fabulierende, übermütig ironisierende Behandlung der Mythen im Faust einen breiten, ja wohl den breitesten Raum ein; aber von der untersten Stufe des leichten Spiels bis zu der höchsten Stufe des religiösen Ernstes gibt es in diesen „ernsten Possen" eine ganze Skala von Abstufungen. 208
II. Abstufungen.
Die Bedeutung
der mittleren
Sphäre
Zunächst ist zu bedenken, daß der Gegensatz von lebendigem und verblaßtem Mythus audi im Gebiet der Poesie selber wiederkehrt. Oben wurde im Kapitel 16,1 schon die auffällige Tatsache berührt, daß in religionsfremden Dichtungen wie den Tragödien Shakespeares religiös-christlidie Motive, aus ihrem dogmatischen Zusammenhange losgelöst und in anderem Gewände auftretend, plötzlich eine unerhört starke religiöse Wirkung entfalten. Der Dichter steht im Dienst der Religion, gleichsam ohne Absicht und wider Willen. Der Grund ist: Es besteht ein wesensmäßiger Zusammenhang zwischen hoher Kunst und Religion. Goethe selber weiß es und spricht es aus, daß die Menschen nur so lange auch dichterisch produktiv sind, als sie religiös sind. Und Friedrich Nietzsche, hier ein besonders unverwerflicher Zeuge, hat widerstrebend und schweren Herzens das Zugeständnis gemacht, daß nur echter Glaube der Mutterboden der höchsten Kunstschöpf ungen gewesen sei, und auf die unübersehbaren Folgen hingewiesen, wie bei dem Schwinden des Glaubens solche hohe Kunst unmöglich werde. Vgl. Menschliches Allzumenschliches I, Nr. 220. „Das Jenseits in der Kunst. - Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, daß die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwünge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrtümer der Menschheit, und sie hätten dies nicht sein können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äußersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, welche wie die Divina Commedia, die Bilder Raffaels, die Fresken Midiel Angelos, die gotischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjekte voraussetzt."
Das Schaffen wie das Erleben dieser hohen, religiös ergriffenen Kunst nähert sich schon stark dem Ernst des religiösen Mythus, wenngleich es sich noch nicht mit dem eigentlichen Glaubensbekenntnis des Diditers zu decken braucht. Man kann hier im Unterschied von dem „poetischen Mythus" von einer „mythischen Poesie" sprechen. In der Skala der Mythenwertung, wo die Diditung sich von dem leichten Spiel graziöser Ironie bis zu dem höchsten Pathos erhebt, können wir einige große Einschnitte machen, gleichsam als Marksteine, ohne doch zu übersehen, daß die Übergänge fließend bleiben und der Dichter das Schwebende, Gleitende, Mehrdeutige liebt. Im Großen genommen ergeben sich folgende drei Möglichkeiten: Der einfachste Fall ist der, daß der Fromme in einem ihm gemäßen und ihm ver14
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trauten Mythus sich geborgen fühlt, einem Mythus, der ihm Kraft spendet und seinem Leben einen Sinn gibt. Das direkte Gegenteil wäre das Fehlen eines solchen Mythus, das „unglückliche" Bewußtsein des nagenden Zweifels oder der Glaubenslosigkeit. Indes diese einfache Gegenüberstellung der beiden Gegensätze ist nicht erschöpfend, die Alternative ist unvollständig. Genau wie wir im tragischen Bereich eine wichtige Mittelsphäre entdeckten, so gibt es auch im religiösen Raum eine mittlere Sphäre zwischen Glauben und Unglauben, Pathos und Ironie, Religion und Poesie; eine Sphäre, die leicht übersehen wird, f ü r unser Problem aber von größter Bedeutung ist. Der Verfall der bisher gültigen Mythen wirkt sich aus in der besonderen Situation des Propheten, der ohne einen Halt an den früheren Glaubensvorstellungen die Schrecken der Gottesferne aushält, — den „Fehl Gottes," wie Hölderlin sagt, - und neuen ursprünglidien Offenbarungen entgegengeht. Vgl. Kap. 17, I I I S. 201 die Verse Hölderlins! Neben dem Propheten aber gibt es in jeder Lage den enthüllenden dichterischen Seher, der die schwüle Atmosphäre reinigt, indem er teils offen die derzeitige Unfähigkeit zum Glauben aufdeckt, teils von dem Nebensächlichen und dem brüchig Gewordenen zu den letzten unzerstörbaren Urphänomenen der Frömmigkeit zurücklenkt und alle Fragmente der zerschlagenen Formen aufs neue in den Schmelztiegel wirft. Vgl. ohen Kap. 16,1. Der Dichter, dem Letzten und Tiefsten mehr als andere aufgeschlossen, ergriffen von der inneren Wahrheit und Größe eines Mythus, leiht ihm seine dichterischen Gaben, sein Gefühl und seine Spradie. Der Mythus wird dann von ihm selber nicht wirklich geglaubt, wohl aber verehrt, bewundert und geliebt. So liebt Goethe große Motive der antiken Frömmigkeit, nicht minder aber auch christliche Legenden, wie die von dem auf dem Wasser wandelnden Petrus als Verherrlichung der Macht des Glaubens. So berührt ihn das christliche Grundmotiv der Faustdichtung vom „Heil der Seele", von der unvergleichlichen Überlegenheit des Seelischen, Inneren, Persönlichen über alle äußeren Güter und Werte. Er ist weitherzig und verständnisvoll genug, auch die Größe und Schönheit eines Glaubens anzuerkennen, der im letzten Grunde doch nicht der seinige ist. Dahin gehört seine christliche Lyrik, die Hymnen der Erzengel und die Gebete der Patres, endlich das aus letzten Hefen des Jammers sich losreißende Gebet Gretchens an die Mater dolorosa. Soll eine große Mythenkrise wie die, von welcher die Neuzeit betroffen ist, sich glücklich und erfolgreich auswirken, ohne Verkürzungen und Verflachungen, so ist vor allem erforderlich, daß nichts Großes und Berechtigtes übersehen oder unterschlagen wird. Sache des
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Dichters ist es dann, seine einzigartige Gabe des Verstehens und Sidieinfühlens in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen. Er ist gewissermaßen neutral, weder ungläubig noch auch ganz gläubig, besitzt aber ein tieferes Verständnis und eine mächtigere Darstellungsgabe als andere Menschen. Er spürt in den Mythen ihre ursprünglichen menschlichen Motive auf und bringt sie in ihrem eigenen Lichte zum Leuchten. Wenn er auch in der großen Krise der Zeit nicht zu denen gehört, die sidi etwas vom blinden Festhalten des Alten versprechen, sondern vielmehr zu denen, welche das Heraufkommen eines Neuen wittern und wünschen, so fühlt er sich dennoch aus Wahrhaftigkeit und Einsicht, aus Sympathie und Liebe dem großen Alten innerlidi so stark verpflichtet, daß er es in seiner ganzen Fülle und Herrlichkeit darstellen und vor Entstellungen durch Gegner wie durch Freunde schützen möchte. Wir unterscheiden demnach eine dreifache Haltung im Faust: das ironisch freie, ästhetische Spielen mit den Mythen, dann das sich anverwandelnde, von der Größe des Gegenstandes ergriffene Sicheinfühlen und Darstellen, endlich das höchste Pathos echten, vom Gefühl der Transzendenznähe genährten Glaubens. Ein klassisches Beispiel dafür, wie das gleiche Mythenmotiv diese drei Haltungen durchlaufen kann, ist der mittelalterliche Madonnenmythus. Er ist zunächst für Goethe ein nicht mehr geglaubter, sondern nur poetischer Mythus. Man spürt die Freude des Dichters am Fabulieren, an dem Wundercharakter, an der Anmut und Schönheit dieser Gestalt. Dann aber schließt sich die neue Stufe an, das innerlich aufgeschlossene, verehrende Anteilnehmen an dem religiösen Gehalt. Endlich fehlt auch die höchste Stufe nicht: Goethes Glaube an die Macht der göttlichen Gnade, die ihr treffendstes Symbol und ihre reinste menschliche Verkörperung in hingebender Mütterlichkeit und echter Frauenliebe findet, ist etwas ihm Eignes, Genuines: „Das Ewig-Weibliche". Wie hätte sich auch der Sdiöpfer eines so universalen Werkes diesen anmutigsten und gefühlsmäditigsten Mythus des Mittelalters, der die göttliche Güte, Milde und Gnade in Frauengestalt verkörpert, entgehen lassen können! So schreibt er aus Italien 8.10. 86: „Heute fiel mir recht auf, wie doch eigentlich der Mensch das Unsinnige, wenn es ihm nur sinnlich vorgestellt werden kann, mit Freuden ergreift, deswegen man sich freuen sollte, Poet zu sein. Was die Mutter Gottes für eine schöne Erfindung ist, fühlt man nicht eher als mitten im Katholizismus. Eine Vergine mit dem Sohn auf dem Arm, die aber darum santissima vergine ist, weil sie einen Sohn zur Welt gebracht hat. Es ist ein Gegenstand, vor dem einem die Sinne so schön still stehn, der eine gewisse innerliche Grazie der Dichtung hat, über den man sich so freut und bei dem man so ganz und gar nichts denken kann; daß er recht zu einem religiösen Gegenstande gemacht ist."
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III. Der religiöse Mythengehalt der Faustdichtung Wir kehren zurück zu der Ausgangsfrage dieses Kapitels, der Frage nach der Echtheit und Gültigkeit der religiösen Aussagen im Faust. Wir erkannten, daß eine summarische Antwort nicht gegeben werden kann, daß es vielmehr eine ganze Skala von Abstufungen gibt vom poetischen Spiel bis zum letzten Ernst. Von besonderer Bedeutung f ü r die Faustdichtung ist jene mittlere Sphäre zwischen Glauben und Unglauben, wo der Dichter, ergriffen von der Größe eines mythischen Motivs, sich selbstvergessen in den Dienst von Mythen stellt, die er liebt und verehrt, ohne daß sie doch unmittelbar seinen eignen Glauben aussprächen. In diesem Sinne trägt jede echte Dichtung den Mythus, aus dem sie lebt, in sich; er kann sich dem unbefangen in sie Hineinhorchenden nicht verbergen. Die alten treuherzigen Mysterienspiele sprechen ihn außerdem noch mit erbaulichen und belehrenden Worten aus. Ahmt der moderne Dichter ihre Manier nach, so kann sie unmöglich gleich natürlich und echt wirken, zumal wenn man immer wieder den Schelm hindurchblicken sieht. Wenn man die feierlichen himmlischen Szenen im Faust buchstäblich ernst nehmen will, so können sie grotesk, ja komisch wirken, wie der ausgezeichnete alte Faustforscher Fr. Th. Vischer sie empfand. Vom Dichter aus gesehen verraten diese Szenen deutlich ihren poetisch spielenden Charakter. Von der Dichtung aus gesehen sind sie nur dann sinnvoll und verständlich, wenn man ihren hintergründigen Sinn erkennt. Es sind gewagte Versuche, in dichterischen Visionen das an sich Unaussprechliche dennoch ahnungsvoll auszusprechen, mit der Phantasie auch in die unserem Erkennen unzugänglichen Regionen vorzudringen, wie es der Dichter auch in anderen Schöpfungen, zumal in der „ätherischen Dichtung" von der Makarie-Gestalt der Wanderjahre sich erlaubt hat. Diese Szenen bereichern nicht die eigentliche, d. h. irdische Handlung um ein weiteres Stück; sie sind nur die Beleuchtung und Beurteilung dieses Geschehens von einer himmlischen Warte aus. Die irdisch reale Handlung bleibt Tragödie vom ersten Anfang bis zum letzten bitteren Ende. Für Faust gibt es so wenig ein happy end wie für Gretchen. Aber in der tiefsten menschlichen Tragik und Not liegt ein Funke verborgen, der den Ruf „ist gerettet" in der Brust des Hörers weckt, und dieser Ruf hallt dann wie ein wiederholendes und bestätigendes Echo aus dem Himmel zurück. Der aufmerksame und verständnisvolle Leser läßt sich durch die mancherlei Neckereien des Dichters nicht darüber hinwegtäuschen, daß hinter dem allen doch ein großer Ernst liegt. Einfache und ehrliche 212
Gemüter werden oft Anstoß daran nehmen, zumal noch hinzukommt, daß anstelle eines einheitlidien Mythenfundaments - ohne das eine echte Dichtung eigentlich gar nicht denkbar ist - jene drei Mythenströmungen treten, denen wir schon mehrfach begegnet sind und die auch heute noch die Elemente der abendländischen Kultur ausmachen: Christentum, klassische Antike und moderner Naturglaube. Jeder dieser drei in sich geschlossenen Mythenkreise bzw. Mythenströme mit seiner spezifischen Heilslehre wird von dem Dichter mit einer Wärme und Liebe, einer Leidenschaft und Überzeugungskraft zur Geltung gebracht, daß man jedem Faustausleger verzeihen möchte, der sidi entgegen dem letzten Sinn der Dichtung - von einem dieser Motive so in seinen Bann ziehen läßt, daß er die anderen übersieht und von seinem Lieblingsmotiv aus umdeutet. Jeder dieser Mythenkreise spricht einen bestimmten Geist aus, ein bestimmtes Lebensgefühl und ein Lebensideal. Dabei kann man die altertümlichen mythischen Vorstellungen getrost der Mythologie oder dem fabulierenden Dichter überlassen. Im christlichen Bereich kommt es letztlich nicht an auf Engel und Teufel, Heilige und Hexen, im antik-humanistischen nicht auf die Dämonen und das Geistergewimmel, im Naturglauben nicht auf die Zauberkünste der Magie. Diese drei Mythenströme sind dennoch ihrem Geist nach für uns lebendige Gegenwart, ein unentbehrliches Stück unseres Innenlebens, ob wir es erkennen und zugeben oder nicht. Eine weitere Schwierigkeit, die Verwirrung gestiftet hat, ist dies, daß der moderne Dichter selber dem überlieferten Christenglauben ferner steht als dem Humanitätsglauben der Zeit und dem ihm ganz besonders vertrauten Naturglauben. Er ist kein gläubiger Christ. Damit hängt es zusammen, daß er sich so schwer mit diesem widerspenstigen Stoffe gequält hat, immer wieder verzweifelt die Arbeit hinwerfend, immer wieder sie neu aufnehmend. Von dem „Walpurgissack", in welchem er seine Faustfetzen sammelt, äußert er gelegentlich: „Ich fürchte mich selbst davor." Er empfand die Größe der Forderung, die der Stoff an ihn stellte und der zu genügen ihm nicht gelingen wollte. Mit höchstem Mißmut spricht er dann wohl von dieser „barbarischen Produktion", dieser Mißgeburt, diesem „Tragelaphen", den er loswerden mödite. Es klingt wie ein erleichternder Stoßseufzer, wenn er den Abschluß von Faust I mit den Worten begleitet: „Und so geschlossen sei der Barbareien Beschränkter Kreis mit seinen Zaubereien."
Alles dies hat neuere Ausleger in dem Irrtum bestärkt, der Dichter wolle den christlichen Mythenkreis durch die moderneren Vorstellungen ersetzen. Indes damit würde sowohl der letzte religiöse Ernst wie
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der tragische Grundcharakter der Dichtung aufgehoben. 'Wie ernst es dem Dichter mit jenen altchristlichen Glaubensvorstellungen war, davon reden die Schrecken der Gretdientragödie und die verbrecherischen Anschläge des greisen Faust für jeden Unbefangenen eine allzu deutliche Sprache. Jene flach optimistische Auffassung dem Faustdiditer zuzumuten, ist eine Beleidigung seiner unbestechlichen Urteilsfähigkeit und seines 'Witterungsvermögens für mythische Echtheit und Größe, auch da, wo sich ein Mythus nicht mit seinem eignen Glaubensbekenntnis deckt. Die religiöse Grundfrage, die nach dem Heil der Seele, war es gewesen, die ihn von Anfang an mit ihrer Unerbittlichkeit und tragischen Wucht in ihren Bann gezogen hatte. Die Bearbeitung des Fauststoffes ist ein typisches und zugleich das hervorragendste Beispiel für den „Echo-Charakter" der Goetheschen Poesie, für jenes Verfahren, das der Dichter selbst in den o. S. 17 angeführten Worten charakterisiert hat. Die religiös-ethischen Grundbegriffe des Christentums bilden auch für Goethes Faust das alles Übrige tragende Gerüst, das Fundament, auf dem sich alles aufbaut und von dem er nur deshalb mit sparsamen Worten redet, weil er es als bekannt und selbstverständlich voraussetzt. Bei jener oberflächlichen Deutung würde jedes Recht hinfallen, die Dichtung als „Tragödie" zu bezeichnen. Dann würde jedes schlichte, volkstümliche Mysterienspiel von Sünde und Gnade, würde insbesondere auch Marlows Fausttragödie mit ihren herben Konturen und ihrem echt religiösen Ernst dem Werke Goethes trotz seines dichterischen Reichtums entschieden überlegen sein. Und genau so in sich geschlossen, um einen Mittelpunkt kreisend, das Gegenbild des christlichen Mythus, der antik-humanistische, auch er ein lebendiger, die Dichtung beseelender Mythus. Aber welcher Gegensatz! Dort der Mensch vor Gott, in all seiner Niedrigkeit, das Geschöpf vor dem Schöpfer, der Mensch in seiner Gebrochenheit und Schuld; hier der selbständige, stolze, gottähnliche Mensch, der selber für die Vorstellung der Gottheit das „Vorbild" bietet. Faust ist ein zweiter Prometheus, der eine neue Menschheit schaffen will. Sein grenzenloses Streben, von christlicher Sicht aus unter dem Gericht stehend, als frevelhafte Hybris, zeigt sich hier von einer Seite, die etwas Königliches und Hinreißendes hat. Dort der Blick auf ein Jenseits, welches die Mängel, die Schuld, all das Halbe, Fragmentarische dieses Lebens ergänzen und erlösen kann. Hier die unbedingte Verherrlichung des Diesseits. Der tüchtige Mensch, dem diese Welt nicht stumm ist, braucht sich kein Jenseits zu erdichten. Der Kreis ist geschlossen, die scharf gestempelte Eigenart, die der Mythensphäre eignet, ist unverkennbar. 214
Die ganze erste Hälfte der Faust-II-Dichtung ist ein einziger ausgeführter Text zu den programmatischen Versen: „Und wenn mich am Tag die Ferne Luftige Berge sehnlich zieht, Nachts das Übermaß der Sterne Prächtig mir zu Häupten glüht Alle T a g ' und alle Nächte Rühm' ich so des Menschen Los: Denkt er ewig sich ins Rechte, Ist er ewig schön und groß."
Aber dieser Mythenkreis erschöpft sich nicht in der Begeisterung für das Schöne und Vollkommene. Er ist bei der Ablehnung des Jenseits und des tröstenden Vorsehungsglaubens ganz besonders der Tragik offen. Für ihn liegen indes die tragische Not und ihre Erlösung beide im Bereich des Menschlichen. „Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit." In einem seiner intimsten Gespräche, - mit dem Grafen Stroganoff, Biedermann V I I I , 224 - äußert Goethe sich zusammenfassend: „Sinn und Bedeutung meiner Schriften und meines Lebens ist der Triumph des Rein-Menschlichen." Die himmlische Verklärung Gretchens ist demgegenüber keineswegs eine Inkonsequenz, eine Verleugnung dieses Menschheitsglaubens. Sie bedeutet nicht, daß eine sündige irdische Liebe hier gereinigt und geläutert werde, als bedürfe sie einer höheren Weihe. Ihre taufrische, reine und selbstlose Liebe ist in sich selber so edel, daß ihr niemand eine höhere Krone aufsetzen kann. Nachdem so jede der beiden Konzeptionen in ihrer ganzen Eigenart und Fülle gewürdigt ist, sucht der Dichter dennoch das bloße Nebeneinander zu überwinden und die schroff entgegengesetzten Mythenkreise in Beziehung zueinander zu setzen. Es zeigt sich, daß die polemische Spitze des Menschheitsglaubens sich keineswegs gegen echte Transzendenz richtet, sondern nur gegen ihre allzu endliche Vorstellungsweise, gegen den „unechten Mythus". Der zentrale Begriff der reinen Menschlichkeit erhält seinen Stempel erst durch seinen Gegensatz zu dem gefühllosen, unmenschlichen Dämon. Diese Bedeutung von Dämon aber sowie die Entgegensetzung von Mensch und Dämon entstammt offenkundig dem christlichen Bereich. Vgl. Kap. 14, V. Das grenzenlose, unersättliche Streben Fausts, das gerade in der Ausschöpfung der letzten Tiefen von Jammer und Schuld die Möglichkeit einer Erlösung aufleuchten läßt, bedeutet im Sinne der Dichtung keineswegs die Erlösung selbst; diese ist allein das "Werk der göttlichen Gnade. Noch mehr, nidit nur die christlichen Grundbegriffe von Schuld und 215
Erlösung dringen in den Mensdiheitsglauben ein; in der rührenden Gestalt Gretchens finden sich sogar die christlichen Motive der Fürbitte, des stellvertretenden Leidens und des freiwilligen Opfers. Euphorion zeigt mit seinem elementaren Schrei nach Wirklichkeit, Verantwortung und Opfersinn die Grenzen und Gefahren jener schönen Sdieinwelt auf. Die Wolkenvision, das Vorspiel zum vierten Akt, stellt symbolisdi in den beiden Gestalten Gretchen und Helena die beiden entgegengesetzten Ideale einander gegenüber, und am Ende ist Gretchen die Siegerin. Die Seelenhaftigkeit, Innigkeit und Herzlichkeit des christlidien Lebensideals siegt über die kühle majestätische Größe der klassisdien sinnlichen Schönheit. An keiner anderen Stelle ist Goethe größer als hier, wo er sich mit schmerzlicher Entsagung und in tiefer Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und seine Lieblingsvorstellungen wendet. Endlich der dritte Mythenkreis, genau so einheitlich in sidi geschlossen wie jeder der beiden andern: der Natur glaube mit Naturphilosophie und Naturfrömmigkeit. Auch er wird mit Begeisterung verkündet und bricht im ganzen Verlauf der Dichtung mit seiner eigentümlichen Note so mächtig durch, als ob er alles beherrschte; und vielleicht ist auch nichts bezeichnender für den Faustdichter als dies dauernde Verbundensein mit der Natur in Sonne und Wind, Gesteinen und Wolken, dem steten Wechsel der Tages- und Jahreszeiten. Hier ist die Welt ein in sich ruhendes, selbständiges Universum, eine alles umfassende „Gott-Natur", die „gute Mutter Natur", die in verschwenderischer Fülle die Wesen hervorbringt und wieder in ihren Schoß zurücknimmt. „Geburt und Grab, ein ewiges Meer . . . " . Auch der Mensch bleibt unbeschadet seiner sittlichen Würde immer doch auch ein Kind der Natur, das in den Heren seine „Brüder im stillen Wald, in Luft und Wasser" anerkennt. Er wächst, blüht auf und vergeht, der Pflanze gleich; seine Blüte sind die großen Leidenschaften, die zugleich sein höchstes Glück wie seine Tragik bedeuten und denen er mit der gleichen unentrinnbaren Notwendigkeit unterworfen ist, wie die „Wahlverwandtschaft" chemische Elemente beherrscht. Von diesem Mittelpunkt aus erhalten sämtliche Vorstellungen und Bilder, sämtliche Begriffe und Wertungen ihre eigentliche Farbe und ihren unverkennbaren Stempel. Das eigentliche dichterische Grundkapital der Faustdichtung ist die Lyrik der Naturfrömmigkeit, die — im christlichen Raum oft vernachlässigt oder ganz unterdrückt - hier in den herrlichsten und vollen Akkorden erklingt. In der Einsamkeit der ursprünglichen Natur findet der verirrte, verfremdete Mensch immer aufs neue zu sich selbst zurück, wie gebadet und neu gestärkt. So sehnt 216
sich der überbildete und lebensüberdrüssige Gelehrte aus der dumpfen Enge der Studierstube hinaus in die Weite der mondhellen Nacht. So fühlt er sich in der beglückten Stimmung der Szene „Wald und Höhle" eingetaucht in das große Ganze der lebendigen Natur. Man kann niemals zu dem eigentlichen Genuß und Verständnis der Dichtung gelangen, wenn nicht auch hier die klare innere Sonderung dieser Mythensphäre von den beiden anderen beachtet wird. Das zeigt sich besonders an dem Hauptbeispiel, der feierlichen Eingangsszene zu Faust II, wo Faust nach den Schrecken der Gretchentragödie aus einem tiefen Traumschlaf erwacht und von hilfreichen Naturgeistern unter den Klängen leiser Musik einem neuen Leben wieder zurückgegeben wird. Wenn man den Inhalt dieser Szene mit den Vorstellungsweisen der anderen Mythenkreise konfundiert und die Begriffe von Verdienst und Gerechtigkeit anwendet, so gerät alles in eine schiefe Beleuchtung, und es entsteht eine heillose Verwirrung. Typisch ist hier wieder die ehrliche und von jenem Standpunkt aus berechtigte Entrüstung von Fr. Tb. Vischer, welcher erklärt, diese Szene „vermehre das Zuviel des Opernhaften um einen leidigen Beitrag, da Faust durch Elfengesänge von seiner Seelenqual geheilt wird. Ein Mann, der soeben den Henkerstod seiner Geliebten erlebt hat und auf seinem Gewissen trägt, auf blumigen Rasen gebettet, von Elfen eingelullt, was will das heißen!" Er hat doch „als fühlender Mensch etwas erlebt, worüber ihn keine Opern-Arien von Elfen trösten können." Vischer, Goethes Faust S. 7o u. 130.
Es sind die alten Anklagen gegen Goethes „Weichlichkeit'' und sein Zurückweichen vor der Tragik; die Vorwürfe, daß er seine schuldigen Geschöpfe, statt sie der verdienten Strafe und Sühne preiszugeben, in Schutz nehme und durch äußere Naturkräfte wie durch einen Zauber heile und verjünge. Indes, die ethischen Begriffe von persönlicher Verantwortung und Gerechtigkeit in allen Ehren, gibt es nicht auch eine berechtigte Betrachtungsweise ganz anderer Art, vor welcher alles Richten und Moralisieren verstummen muß? Gehört es nicht zu den beglüdtendsten Erfahrungen unseres Lebens und zu den schönsten Geschenken der göttlichen Gnade, wenn ein Mensch von schwerer Krankheit Genesung findet, an den wohltuenden und heilenden Klängen lieblicher Musik sich aufrichtend, wenn er aus seelischen Erschütterungen oder einem völligen Niederbruch, sei er verschuldet oder unverschuldet, sich langsam wie aus einem todesartigen Schlafe erhebt und die alten quälenden Bilder und Erinnerungen auslöschend einem neuen Leben entgegengeht? Ist es nicht eine großartige Unbefangenheit des Dichters, dieser unbezweifelbaren Erfahrung in ihrer Reinheit und ohne jeden Seitenblick auf ein Richten oder Aburteilen Ausdruck zu geben? In der 217
Ode „Harzreise im Winter" betet der Dichter für einen verzweifelten Menschen, Gott möge ihm den umwölkten Blick öffnen über die „tausend Quellen neben dem Verschmachtenden in der Wüste". In ähnlichem Sinne pflegt R. M. Rilke darauf hinzuweisen, wie der trostbedürftige Mensch oft die allernächsten Tröstungen übersieht, die uns täglich und stündlich von allen Seiten her zuströmen. Diese „Gnade der Natur" ist ein Analogon der göttlichen Gnade, ja letzten Endes nur ein besonderer Ausdruck dieser göttlidien Gnade selber. Auf den Höhen der Religion wie der Tragödie begegnen wir immer jenen überrationalen Paradoxien, wenn gegen unser natürliches Rechtsempfinden die Begriffe von Gerechtigkeit und Verdienst ganz außer Kurs gesetzt werden. Vgl. manche Gleichnisse im Evangelium, wie das von den Arbeitern im "Weinberg oder vom verlorenen Sohn. Vgl. auch o. Kap. 6, I I I ; 7, I V über die „Tragik der Existenz", wo der unter den tragischen Schrecken zusammenbrechende Mensch in wohltätige Umnachtung gehüllt wird und als echtes Kind der Natur Schutz und Frieden sucht im Schoß der Mutter. Damit sind die mythischen Grundlagen, welche die Faustdichtung tragen, aufgewiesen. Keine von ihnen ist durch eine andere zu ersetzen, und in ihrer Gesamtheit füllen sie den ganzen Kreis auch unsrer gegenwärtigen Kultur aus. Diese drei Sphären entsprechen auch den Entwürfen in den übrigen universalen Dichtungen Goethes: „Dichtung und Wahrheit" hat als Grundlage die Dreiheit von natürlicher, positiver und individuell-persönlicher Religion; W. M. Wander jähre die der ethnischen, philosophischen und christlichen Religion.
Kapitel 19
Goethes Glaube und die Faustdichtung I. Durchbruch des religiösen Mythus durch den Die verschwundene Hadesszene
poetischen.
Der lebendige Mythus, der die Faustdichtung trägt und belebt, erwies sich uns als das Nebeneinander von drei verschiedenen Mythenkreisen. Eben diese bilden auch die Elemente von Goethes eigener Glaubensüberzeugung, fallen aber dennoch nicht unmittelbar mit ihr zusammen. Schon bei ihrer Darstellung war deutlich zu erkennen, daß die mytischen Aussagen im Faust keineswegs nur als fabulierende Poesie anzusprechen, sondern durchaus ernst zu nehmen sind. Der 218
Dichter hat persönlich eine unüberwindliche Scheu, seinen Glauben offen auszusprechen, teils aus Furcht, mißverstanden zu werden, teils aus Opposition gegen die, welche mit dem Bekennen hoher Glaubenswahrheiten sehr leicht bei der H a n d sind. Lieber läßt er sich einen „umgekehrten Heuchler" schelten. „Soll man didi nicht aufs schmählichste berauben, verbirg dein Gold, dein Weggehn, deinen Glauben."
Indirekt aber, auf Umwegen, kann man den Dichter überraschen. Wenn er von seinen Lieblingsheiligen spricht, von Spinoza und Shakespeare, Winckelmann und Wieland, Goldsmith und Rabener, Hafis und Filippo Neri, spürt man plötzlich, daß er von sich selber redet und seine eigenen Überzeugungen ausspricht. Indem er sich für jene Männer, ihre Lebensideale und ihren Glauben begeistert, verrät er, was er selber glaubt und liebt. Von ganz besonderem Reiz ist es, wenn man während des Dichtungsprozesses am Faust beobachten kann, wie plötzlich das poetische Fabulieren in großen religiösen Ernst umschlägt. Dabei werden alte Dichtungspläne umgestoßen; Hauptszenen, um deretwillen eine ganze Reihe anderer Szenen überhaupt erfunden war, werden gestrichen oder weggelassen, aus keinem andern Grunde, als weil der Dichter sich warm gearbeitet hat und in seinem leidenschaftlichen Empfinden unwillkürlich von dem poetischen zum religiösen Mythus hingetrieben wird. Man kann das bei dem schwebenden, symbolhaften Charakter der mythischen Aussagen in Ansätzen mehrfach beobachten. Das weitaus bedeutendste und auffallendste Beispiel aber ist die innere Umwandlung der Klassischen Walpurgisnacht, die der Dichter als letzte Arbeit am Faust noch kurz vor seinem Tode durchführte. Dabei lichtet sich zugleich ein großes Dunkel, das rätselhafte und viel beklagte Verschwinden jener Hadesszene, in welcher die Klassische Walpurgisnacht gipfeln sollte und für die sie entworfen war. Faust ist in der „verrufenen Nacht" in die Unterwelt eingedrungen, und er - bzw. später seine Fürsprecherin Manto - richtet bewegliche Bitten um Helenas Freigabe an die Todesgöttin Proserpina, die von ihrem eigenen, verwandten Schicksal tief bewegt ist. Diese Umwandlung der Walpurgisnacht darzustellen, scheint uns ein besonders glücklicher Weg, den Zugang zu Goethes eigenem Glaubensbekenntnis zu gewinnen. Wir vergegenwärtigen uns, daß es sich um zwei große Helena-Entwürfe handelt, zuerst um die klassische Helena-Tragödie, bruchstückartig erhalten in der ersten Hälfte des jetzigen dritten Aktes, eine Tragödie in feierlich pathetischem Stil und antiken Trimetern, deren
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Gegenstand die Tragik der Schönheit bildet, ihr Doppelcharakter als göttliche Begnadung und als große Gefahr; sodann um einen zweiten Entwurf, der in großzügiger Weise einer Versöhnung von Antike und Christentum, Altertum und Mittelalter, Klassik und Romantik zustrebt. Er fügt der älteren klassischen Helena-Tragödie einen romantischen Teil hinzu, in welchem Eigenart und Innerlichkeit christlichromantischen Geistes dem Altertum gegenüber hervorgehoben werden. Beide Größen, das Klassische wie das Romantische, sollen vertieft und jede in ihrer eigentümlichen Größe charakterisiert werden. Das Klassische ist mehr als das nur Antike; es ist das Maßvolle, Gesetzliche, Geordnete, Ehrwürdige, Majestätische, das Echte und Ursprüngliche. Das Romantische dagegen ist das Leidenschaftlich-Bewegte, das Innerliche und Seelenvolle, das Persönlich-Herzliche, aber auch das ins Grenzenlose Strebende, Maßlose, Übersdiwänglidie, das sich Verschwendende, das dem Formlosen und Chaotischen Verwandte. Dieser zweite, der klasssich-romantische Entwurf, bedeutet gegenüber dem ursprünglichen eine ungemeine Vertiefung und Erweiterung. Vgl. o. Kap. 10, II. Es bildet sich nämlich in dem Dichter der kühne Plan, die beiden größten und lebendigsten Geistesmächte der Gegenwart, Antike und Christentum, vergegenwärtigt in Klassik und Romantik, zueinander in Beziehung zu setzen und soweit möglich miteinander zu verschmelzen; ein Plan, der über den Rahmen des alten Faustspiels weit hinauswächst. So tritt auch Fausts Persönlichkeit als nebensächlich ganz zurück, und Parallelfiguren wie Homunculus u. a. führen seine Rolle weiter. Hand in Hand damit geht die wechselseitig sich ineinander spiegelnde und dadurch sich erhellende Gegenüberstellung der letzten typischen Lebensgegensätze Poesie und Prosa, Eros und Tat, vita contemplativa und activa, wobei an die Stelle einer kausal verbundenen äußeren Handlung die innere Wesensschau eines „Maskenzuges" tritt. Wir wenden uns hier zunächst dem ursprünglichen klassischen Entwurf zu. Es war der Höhepunkt von Fausts anspruchsvoller Überheblichkeit gewesen, mit seinen wilden Liebeswünschen auch vor dem Hades nicht haltzumachen und die längst verstorbene schöne Helena aus Griechenland zum Liebesgenuß in seine Arme zu begehren. Entsprechend war es der Gipfel von Mephistos höllischen Zauberkünsten, diesem ungeheuerlichen Verlangen zu willfahren, die Halbgöttin aus dem Hades heraufzuzaubern und seinem Auftraggeber zu überliefern. Faust spielt dabei die Rolle eines „neuen Paris". Nun aber taucht in dem Dichter ein neuer verlockender Plan auf. Er findet es reizvoller, daß Faust den Besitz der schönen Frau nicht fremder 220
Zauberhilfe zu verdanken habe, sondern sich selber und seiner persönlichen Anziehungskraft; nicht den Künsten der Hölle, sondern der menschlich-persönlichen Zaubermacht der Poesie und der persönlichen Überredungsmacht. Also macht er seinen Helden - ihn dem neuen Plane anpassend - in genialer Willkür plötzlich zum Dichter, der den "Weg zum Hades mit seinen großen Gefahren auf sich nimmt, durch die Macht seines beschwörenden dichterischen Wortes die Ungeheuer bändigt und schließlich das Herz der Todesgöttin selber so rührt, daß sie die Ersehnte freigibt. Faust ist aus einem „neuen Paris" ein „neuer Orpheus" geworden. Man spürt schon hier, wie ein letztes Anliegen Goethes, die Lebensmacht der Poesie, in Frage steht und daher sich der mythische Ausdruck der Echtheit und dem Ernst des Glaubens nähert. Zunächst freilich sind die Mittel, deren sich der Dichter zur Durchführung dieses Entwurfs bedient, ein geradezu klassisches Beispiel für den „poetischen Mythus". Auf der Thessalischen Ebene entwickelt sich in der „verrufenen" Nacht ein buntes Zaubertreiben, eine glänzende Revue sagenhafter und dämonischer Gestalten, die sich einzeln wie in großen Massen von der Oberfläche der Erde bis in die Unterwelt hinab zum Throne der Todesgöttin hinziehen. Das Ganze sollte in der großen Losbittungsszene vor dem Throne der Göttin gipfeln, deren Herz Faust durch seine beweglichen Bitten bis zu Tränen rührt, einer Szene, die als Letztes und Gewaltigstes jahrelang vor dem inneren Auge des Dichters stand. - Indes diese Szene wurde nie geschrieben. Vielmehr setzt wieder eine neue Stufe im Planen der Dichtung ein. An Stelle der kausal verlaufenden Handlung tritt auch hier die vergleichende Gegenüberstellung und Wesensschau. Die Walpurgisnacht wird völlig gesprengt, die einzelnen Gestalten und Motive machen sich selbständig. Die Szene ist nun nicht mehr eine fabulierende Heerschau über die mythischen Gestalten der Antike, auch nicht eine dramatische Verbindungsbrücke, - sie ist Selbstzweck geworden, eine Kultfeier auf mondhellem Meere, ein heidnischer Preis der Elemente und der allesbezwingenden Macht des Eros. Faust ist verschwunden; Homunculus ist sein Platzhalter geworden, die verkörperte Sehnsucht nach wirklichem Sein; eine „Entelechie" (Monade), die sich nach materieller Verkörperung - die freilich zugleich Verdüsterung ist - sehnt. Wenn in der mythologisch fabulierenden Weise von einem Fortleben nach dem Tode oder einem Wiederkommen Abgeschiedener die Rede war, so war es sinnvoll, daß der bittende Faust sich an die Todesgöttin wendet. Für den darstellenden Dichter aber ist das nur ein Märchen, eine Fabel, kein Glaube. Wo aber Goethe überhaupt in kühnen, ahnenden Ausblicken sich dem Unsagbaren und Unerkennbaren nähert, da 221
kennt er kein angemesseneres Bild als das der Entelechie, die in ihrer Unzerstörbarkeit mannigfache Metamorphosen durchmacht. In diesem Sinne holt er jetzt die ursprünglich geplante Hadesszene nach, aber in anderer Weise und an anderem Orte. Er schiebt sie nachträglich als letzte große Konzeption in den ersten Akt von Faust II ein: als Gang zu den Müttern, eine Konzeption, die von der ganzen Erhabenheit und dem numinosen Schauder umwittert ist, wie sich der Dichter ursprünglich die Proserpina-Szene gedacht hatte. Faust kann die Helena im Sinn des lebendigen Mythus nicht von der Todesgöttin erbitten, sondern nur von den Müttergottheiten, die von den zeitlosen Bildern aller Kreatur umschwebt werden, die alle Formen bewahren und alles Leben aus sich gebären. Hier liegt der seltene Fall vor, daß sich vor unseren Augen unter den Händen des schaffenden Dichters ein fabulierter, objektiver Mythus in einen echten, lebendigen, geglaubten Mythus verwandelt. Die Heerschau der Massen zieht sich zusammen zu wenigen stellvertretenden, charakteristischen Gestalten. Für Faust ist die Schönheit nicht mehr etwas Vergangenes, Erzähltes, sondern Gegenwart, Eigentum, ein Ergreifen des Höchsten der Vergangenheit als Form und Erfüllung der Gegenwart. Nicht mehr zeitliche Geschichte, sondern zeitloser Mythus. Zugleich aber mit seinem „Unsterblichkeitsglauben" bekennt der Dichter sich hier zum Glauben an die metaphysische Würde der Kunst. Der Entelechie als dem belebenden Prinzip des Organismus, zumal der menschlichen Persönlichkeit, entspricht nämlich genau die „Idee", die in allem echten Kunstschaffen jeweils dem Kunstwerk zugrunde liegt und als erster Keim alles Spätere schon bestimmt. Die zeitlosen Bilder, welche die Mütter umschweben, werden verteilt „zum Zelt des Tages, zum Gewölb' der Nächte", das heißt sie können entweder in das wirkliche Leben des Tages, in die Schöpfung eingeführt werden, oder in das Abbild dieses Lebens, das Kunstwerk. Der Künstler ist in seinem Schöpfertum dem Göttlichen verwandt. Der Vorgang, der hier geschildert wird, ist kein andrer als der schöpferische Dichtungsprozeß. Wir haben also in eins den echt religiösen Mythus von Goethes Unsterblichkeitsglauben vor uns und zugleich den seines Glaubens an die metaphysische "Würde und Aufgabe der Kunst. Hier ist nicht mehr der Übermensch Faust der Held der Dichtung, auch nicht Faust als Vertreter der Menschheit im Sinne des Jedermannspiels, sondern noch weit allgemeiner das letzte organisierende und beherrschende Prinzip der Entelechie. Wir befinden uns in der Mythensphäre des Naturglaubens. Das ursprüngliche Motiv der Wette und der teuflischen Verführungsversuche ist völlig vergessen und ausgeschaltet. 222
Faust wird als „edles Glied der Geiterwelt" nicht deshalb gerettet, weil er die Verführungskünste des Bösen bestanden und die Gefahren der Versuchung besiegt hätte, sondern einfach deshalb, weil die menschliche Entelechie, diese hödiste kosmisdie Kraft, über weldie die Natur verfügt, ihremWesen nach unvergänglich ist; weil sie in ihrer rastlosen Tätigkeit die Gewähr ihrer Unzerstörbarkeit in sich selber trägt und nach dem Freiwerden der Elemente, die sie an sich gerafft hatte, nur neuen Metamorphosen entgegengeht. Die Erlösung ist nicht ein Eingehen in die ewige Seligkeit des christlichen Himmels, sondern der stufenweise Aufstieg zu immer höheren Daseinformen. Wir stehen damit vor dem letzten Höhepunkt der Goetheschen Altersdichtung. Dem Zeitpunkt des Schaffens nadi ist nicht der Ausklang der Faustdichtung mit dem Chorus mysticus das Letzte. Vielmehr ist das letzte Wort des Faustdichters, seine letzte Konzeption der Abstieg zu den Müttern, erst nachträglich eingefügt in den ersten Akt von Faust II. Hier wird die Magie und Mythologie der geplanten Hadesszene gewandelt bzw. ersetzt durch einen echten, geglaubten Mythus. Uberflüssig zu erwähnen, daß auch der echte Mythus immer symbolischen Charakter behält. Aber der echte Glaube, der sich in dieser tiefernsten Schöpfung ausspricht, hebt sich mit aller Deutlichkeit von dem fabulierenden Charakter des poetischen Mythus ab. An keiner Stelle der Faustdichtung wird ein Klang von soldier Innigkeit, ein Pathos von solcher Größe und Erhabenheit erstiegen wie hier: Das numinose Schaudern vor dem Abstieg, die faszinierende Vision des Mütterreidies, der feierliche Wiederaufstieg Fausts, wie er bekränzt, im Priesterschmuck ergreifende Worte des Dankes und des Bekennens spricht. Der Gedanke liegt nahe, daß dem greisen Dichter diese letzte und in mancher Hinsicht gewagteste Schöpfung vor Augen stand, als er die Preisgabe der Spätdichtung an die zeitgenössische Öffentlichkeit ablehnte. Der intim-persönliche Glaube an seine besondere Berufung, sein künstlerisches Priestertum, ist - neben und in Verbindung mit seiner Verehrung des „Ewig-Weiblichen" - der Höhepunkt seines Lebens und Schaffens, ein Glaube von ergreifender Kraft und Wärme. Es spricht daraus die Überzeugung einer ganz speziellen göttlichen Berufung und verantwortungsvollen Begnadung, das persönlichste Glaubensbekenntnis, das der Dichter je abgelegt hat. Schon in der Frühzeit hatte er gelegentlich, zumal in „Künstlers Abendlied", verwandte Tone angeschlagen und Worte tiefen Dankes für die erfahrene Begnadung gefunden. Hier aber spricht der Greis mit einer Inbrunst und Superlativität des 223
Ausdrucks, daß das überquellende Gefühl jede Form sprengen zu müssen scheint: „Wie war die Welt mir nichtig, unersdilossen! W a s ist sie nun seit meiner Priesterschaft? Erst wünschenswert, gegründet, dauerhaft! Verschwinde mir des Lebens Atemkraft, Wenn ich mich je von dir zurückgewöhne!... D u bist's, der ich die Regung aller Kraft, Den Inbegriff der Leidenschaft, Dir Neigung, Lieb', Anbetung, Wahnsinn zolle."
IL Goethes Glaubensbekenntnis
im Faust
Goethe ist kein mitreißender religiöser Führer; er meint es ernst mit seinem Glauben, aber jede Werbung für ihn liegt ihm fern. Er wird indes dadurch, daß er in unbedingter Wahrhaftigkeit sich den ihm gemäßen Glaubensstandpunkt erkämpft, ein Beispiel für andere, in ihrer Weise das Gleiche zu tun. Der tätige Mensch, im praktischen Leben stehend, begnügt sich mit spärlichen religiösen Gefühlen und knüpft sie an fest umgrenzte Vorstellungen an. Dagegen ein ganz auf das Innere gestellter Mensch wie Goethe wird in alle Weiten und Hefen des Gefühls hingerissen und ist relativ gleichgültig gegenüber den verschiedenen Vorstellungen, die für ihn doch mehr oder minder unvollkommene Symbole des an sich unerkennbaren Göttlichen sind. Er ist dankbar für alle religiösen Offenbarungen, wo und wie immer er sie findet. Aber diese Weitherzigkeit der Seele, diese Horizontweite des Geistes hindert ihn nidit an der Anerkennung eines religiös echten und verpflichtenden Glaubens. André Gide bekennt, beim Lesen Goethes habe er zuerst begriffen, „daß der Mensch sich von seinen Windeln befreien kann, ohne sich zu erkälten; daß er die Leichtgläubigkeit seiner Kindheit abwerfen kann, ohne darum zu verarmen". Leben mit Goethe. Neue Rundschau, Apr. 32. Goethe hält sich eng an die religiösen Urerlebnisse und erspürt in den mythischen Bildern den in ihnen gemeinten Sinn und die Nähe der Transzendenz. „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil." Niemals verwechselt er den bloß berichteten Mythus mit dem lebendigen und lebenspendenden, der von der Leidenschaft der Unendlichkeit getragen ist. „Zum Lichte des Verstandes können wir immer gelangen; aber die Fülle des Herzens kann uns niemand geben." Lehrjahre 4 , 1 6 . Das Glaubensbekenntnis, das er unter diesen Voraussetzungen ablegt, ist völlig freiwillig und daher denkbar ernst zu nehmen. Wir begegneten oben Kap. 16, I. der auffallenden Tatsache, daß ursprüngliche christliche Motive, dem Zusammenhang des dogmatischen Systems ent-
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nommen, eine außerordentlidi starke Wirkung ausüben. Etwas Analoges ist hier festzustellen. Goethe hat die eigentliche Fausthandlung bekanntlich durdi ein Mysterienspiel umrahmt. Das Eigentümlidie des Mysterienspiels besteht darin, daß die eigentlich Handelnden nidit Menschen, sondern übersinnlidie Mächte sind, während der Mensch nur ihr Werkzeug ist, nicht spielend, sondern selbst gespielt. Die feierlichen Mythenszenen im Faust erwiesen sich uns aber als poetischer Mythus und ohne letztes religiöses Sdiwergewicht; genau wie man auch in der volkstümlichen Frömmigkeit bei dem Weiterspinnen mythischer Motive sich immer mehr von den dunklen, gebenden Quellen ursprünglicher Offenbarung entfernt. Jene Wahrheit des Mysterienspiels, daß überirdische Mächte die Menschen lenken, tritt nun aber bei Goethe in anderer und religiös wirklich echter Form auf. Schon in Kap. 18, I I fanden wir, wie der Dichter, bescheiden zur Seite tretend und gleichsam nur den Vorhang aufziehend, den übersinnlichen Mächten die Bühne und das Wort freigab. Die himmlischen Mächte führen den Menschen ins Leben hinein und lassen ihn schuldig werden; die allgewaltigen Mächte verteilen die ewigen, von den Müttergottheiten gehüteten Grundformen des Seins an Leben und Kunst. Die Ariel-Szene zu Beginn des I I . Teils, wo nicht nur Faust aus seinem totenähnlichen Schlafe erwacht, sondern mit ihm auch die ganze Natur, vermittelt in faszinierender Weise das Grunderlebnis der Schöpfung selber: analog wie Herder die Schöpfungsgeschichte als einen erwachenden Morgen gedeutet hatte. Wenn endlich der Faustdichter sein Werk in einen Preis der göttlichen Gnade ausklingen läßt, vermittelt und symbolisiert durch Frauenliebe, so ist das weder poetischer Mythus noch Anpassung an katholisierende Romantik, sondern letzter religiöser Ernst. Es soll nicht mehr im einzelnen aufgewiesen werden, wie der Dichter den verschiedenen Motiven der Mythenströme gerecht zu werden sucht und aus jedem das ihm Gemäße sich aneignet. Unverkennbar leitet ihn sein ganzes Leben hindurch der Gedanke der persönlichen Verantwortung, der Pflicht zur Verwendung der ihm verliehenen Gaben, insbesondere die hohe Auffassung seines Dichterberufs, „edlen Seelen vorzufühlen". Wo er in dem Epimenides-Festspiel das freimütige Bekenntnis ablegt, daß er sich seiner Haltung während der Befreiungskriege schäme, läßt er dennoch den Priester ihm entgegnen: „Tadle nicht der Götter Willen, Wenn du manches J a h r gewannst: Sie bewahrten dich im Stillen, D a ß du rein empfinden kannst." 15
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Sein Geniusglaube, der religiöse Glaube an eine ganz spezielle göttliche Führung, geht zurück auf die unauslöschlichen Eindrücke seiner pietistischen Jugendepoche. Zugleich berührt er sich mit der antiken Vorstellung von dem einem jeden Menschen eingepflanzten Dämon oder Genius. Er versteht jeden dieser Mythenkreise in seiner Besonderheit und Eigenart, sucht aber für sein persönliches Glaubensbekenntnis besonders die Berührungen und Querverbindungen auf: das tragische Moment im Christentum wie in der Antike, den Schöpfungsglauben des Christentums und die antik-humanistische Freude an der schönen "Welt. Hinter allem ruht der Glaube an die höchste Begnadung: das Leben empfangen zu haben, ein Gast auf dieser schönen Erde zu sein, ein Kind der unendlich reich spendenden Mutter Natur. So mündet auch der Nachruf an den großen Freund in das ergreifende Bekenntnis: „Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als das sich GottNatur ihm offenbare!" Die paulinische Theologie von der Erbsünde und von der Welterlösung durch den leidenden Gottessohn findet keinen Raum bei ihm. Zwar sucht er auch dieser Seite des Christentums, dem Geheimnis von der Heiligkeit des Leidens gerecht zu werden, es menschlich zu verstehen und dichterisch darzustellen; in seinem eigentlichen Element aber ist er da, wo er das Geheimnis des Lebens und die Schönheit der Welt preist: „Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, es sei, wie es wolle, es war doch so schön."
Wir suchen zum Schluß in drei Hauptartikeln das Glaubensbekenntnis des Dichters zusammenzufassen, indem wir behutsam die Linien nachzeichnen, wie sie in der Faustdichtung zutage treten. Wir sprechen zunächst von dem Mythus als „Poesie des Lebens", sodann von der „reinen Menschlichkeit", die sich in dem Gegensatz des Menschen zum Dämon kundgibt, und endlich von dem Mythus des „Ewig-Weiblichen", der Verherrlichung der Frauenliebe als Vermittlung der göttlichen Gnade. Die Faustdichtung ist eine Verherrlithung der Poesie, der schöpferischen Macht der Seele. „Laß der Sonne Glanz verschwinden, Wenn es in der Seele tagt, Wir im eignen Herzen finden, Was die ganze Welt versagt."
Man möge die herrlichen Stellen nachlesen, wo im Vorspiel auf dem Theater „des Menschen Kraft, im Dichter offenbart", gepriesen wird; wo im Karneval der Knabe Lenker und am Schluß des Helenaspiels Euphorion als Verkörperung der Poesie gefeiert werden. Der Dichter macht die Poesie selber zum Gegenstand seiner Dichtung, es ist eine „Poesie der Poesie". Am Schluß des vorigen Abschnitts I wurde der 226
feierliche Aufstieg Fausts aus dem Reich der Mütter geschildert: „Wie war die Welt mir nichtig, u n e r s c h l o s s e n . . d e r leidenschaftliche Ausbruch eines echt religiösen und ganz persönlichen Bekennens. Aber „Poesie" erweitert sich über den engeren Begriff von Dichtung hinaus zu einer Welt- und Lebensauffassung, es ist der Mythus von der „Poesie des Lebens", welcher Glaube, Liebe, Hoffnung, Sehnsucht, überhaupt alle Werte des inneren persönlichen Lebens umfaßt. In diesem Sinne wird Poesie der Hauptgegenstand der Faust-II-Dichtung, in ihrem Gegensatz zur Prosa der Politik und des äußeren Lebens. Sodann das Zweite: Faust ist in der Überlieferung der trotzige, von Gott abgefallene Mensch. An seinem Beispiel zeigt der Dichter Gefahr und Schuld des Menschen wie auch seine letzten Möglichkeiten, seine Größe und Herrlichkeit. Die ganze Faustdichtung ist eine Art von „weltlichem Evangelium", die frohe Botschaft an die suchende, leidende und irrende Menschheit, daß keine Verirrung und keine Verdunkelung so groß ist, daß eine Rettung ausgeschlossen wäre. Das Ganze ist eine Art weltliches Gegenstück zu dem biblisch-christlichen Drama von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung. Es wird kein Freibrief für einen lockeren Lebenswandel ausgestellt; wohl aber setzt sich die Erkenntnis durch, daß nicht die korrekten, musterhaften, vorsichtig sich selbst bewahrenden die rechten Menschen sind, sondern die kühn sich vorwagenden, sollte ihr Weg auch durch Irrtum, Unglück und Verschuldung hindurchgehen. Es ist menschliches Schicksal, entsagen und sich bescheiden zu müssen; es ist menschliche Größe, alle Grenzen überfliegen zu wollen und bei keinem erreichten Ziel endgültig stehen zu bleiben. Auch der Glaube besteht nicht darin, einzelne feste Glaubenssätze anzunehmen, sondern echter Glaube besteht eben in dieser Gesamthaltung der Gläubigkeit und des nie ruhenden Suchens selber (Lessing). Nicht der Gegenstand der Liebe ist das letzte Ziel, sondern das Lieben selber (R. M. Rilke). Darin spricht sich das rein Menschliche aus, das sich selber erst in voller Klarheit durch seinen Gegensatz zum untermenschlichen Dämon erkennt. Faust bleibt in all seiner Schuld, die nicht beschönigt wird, immer doch ein Mensch und damit Gegenstand der göttlichen Gnade. Der letzte und wesentlichste Artikel von Goethes Glaubensbekenntnis ist die Verschmelzung von Liebe und Frömmigkeit, die metaphysische Verklärung des Eros im „Ewig-Weiblichen". Vgl. Ernst Beutler, „Der Frankfurter Faust", 1940, S. 635 ff. Herbert Schöffler, „Die Leiden des jungen Werther". 1938. Erich Franz, „Goethe als religiöser Denker", 1932, S. 155 f.; derselbe „Deutsche Klassik und Reformation", S. 305 ff.
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Handelte es sich bei dem zweiten Artikel um die ErlösungsWürdigkeit des Menschen, so hier um die Vermittlung der Erlösung. Anklänge an diesen Mythus finden sich im Minnedienst und Madonnenkult des Mittelalters, bei Dante, später u. a. bei Novalis, bei Dostojewski und auch bei Kierkegaard. Dankbar erkennt der Dichter an, daß es die begnadeten schöpferisthen Zeiten für ihn sind, wenn er unter der Strahlung einer großen Liebe steht, die wie ein unentrinnbares Schicksal und eine unbegreiflidie Gnade über ihn kommt, verborgene Möglichkeiten in ihm aufdeckend, ihn verwandelnd, schöpferisch und zugleich gut machend. Das Himmlische verschmilzt mit dem Irdischen; der weltliche Eros wird zum Mittler des Heiligen; hier münden alle Strahlen von Goethes gläubigem Lebensgefühl; hier enthüllt sich der eigentümlichste und liebenswürdigste Zug seines Wesens, hier wurzeln Werthers Leiden und die Gretchentragödie, hier die Suleika-Lieder und die Marienbader Elegie, hier die Lynkeus-Strophen und die Huldigung an die Himmelskönigin. Es ist ein Vorgang von geistesgeschichtlicher Bedeutung. Mehr als irgendwo sonst nähert sich Goethe hier einer religiösen Ursprünglichkeit, einer mythischen Produktivität. Die überlieferten Formen, in welchen das Absolute, Göttliche auf Jahrhunderte hin den Menschen sichtbar und faßbar gewesen war, hatten ihren Kredit verloren, das strahlende Gewand hatte den alten Glanz eingebüßt. Nun senkte sich das Heilige wie eine Wolke eine Stufe tiefer und erwählte zu seinem Symbol das nächste Faßbare, unbezweifelt Feststehende, dem Menschen Vertraute, das „Rein-Menschliche". Weder die Würde noch die Gegenwart des Heiligen wird dadurch angetastet oder bezweifelt; es hat sich nur wieder ein neues Gewand gegeben. Dieser Mythus vom „Ewig-Weiblichen" ist bezeichnend für Goethes Schaffen von den frühsten bis zu den spätesten Dichtungen. Der Zwiespalt der Werte wird überwunden. Für Egmont verschmelzen in der letzten Traumvision Liebe und Freiheit, die beiden Ideale seines Lebens. Werther kniet nieder vor den Blumen, die Lotte ihm gesdiickt hat, und bedeckt sie mit heißen Tränen und Küssen. Sie sind ihm etwas Heiliges, eine Art Sakrament. Zum erstenmal nimmt hier die Liebesleidenschaft jene absolute Verehrung in Anspruch, die bisher nur der Gottheit gezollt wurde. Indes diese Leidenschaft verdrängt nicht die Frömmigkeit, sondern steigert sie zu einem Gipfel. So ist es natürlich, daß Werthers Erschütterungen durch seine unglückliche Liebe sich in leidenschaftlichen Unterhaltungen der Liebenden über Tod und Jenseits fortsetzen; daß die Dulderinnen Gretchen und Ottilie am Schluß zu himmlischer Glorie hinaufgehoben werden. Vor allem bei Gretchen war es dem Dichter 228
tiefstes Bedürfnis, dem grenzenlosen Jammer ihres irdischen Untergangs das leuchtende Bild ihrer himmlischen Verklärung gegenüberzustellen. Der letzte Ausgang der großen Dichtung, alles andere übertönend, ist dies eine: Gnade. Es ist nicht mehr die Rede von Faust, von seinem Streben, von der Wette usw., nur von erlösender und begnadender Frauenliebe. Goethe konzipiert das Göttliche unter weiblicher Gestalt: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan." Diese Verschmelzung von Liebe und Frömmigkeit ist der Gipfel von Goethes Leben und Schaffen, gemeinsam mit den feierlichen Bekenntnisworten beim Aufstieg von den Müttern sein intimstes persönliches Glaubensbekenntnis. In diesen gehaltschweren Mythus mündet alles ein, der Dank an die Frauen, die er geliebt und die durch ihre Liebe ihn beglückt und „begeistet" haben, der Dank an die gütige und verschwenderische Mutter Natur, der Glaube an seinen Genius und seine besondere göttliche Führung, der Glaube an die erlösenden Kräfte reiner Menschlichkeit. Von Bedeutung ist, daß keineswegs jede Liebe, die er erfahren hat, dieser himmlischen Verklärung gewürdigt wird, vielmehr nur die reinsten und tiefsten, zugleich die, denen eine äußere Erfüllung versagt blieb oder deren Erfüllung doch mit schwerem Leid verbunden war. Sie tritt ein bei der Wetzlarer Lotte und bei Frau v. Stein, bei Marianne v. Willemer und Ulrike v. Levetzow, in der Dichtung bei Gretdien, Mignon und Ottilie. Sie versagt sich durchaus der Erotik der Römischen Elegien und der Neigung zu Christiane. Sie ist auch völlig anderer Art als die bürgerlich konventionelle Huldigung Schillers gegenüber den Frauen. Sie ist in jedem Fall ein ganz Individuelles, ein von Anfang an in das Entstehen und Wachsen einer bestimmten Liebe sich hineinwebendes Gefühl von Andacht und Ehrfurcht. Wird der mächtige Strom der Leidenschaft von der nächsten Bahn natürlicher Erfüllung, welcher er zustrebt, gewaltsam abgedrängt, so sucht er sich ein neues und andersartiges Bett, um durch den Schmerz der Entsagung zu einem dichterischen Ausdruck von sonst unerreichbarer Leidenschaft und Vollendung zu gelangen und durch das Glück dieser Aussprache zu einem letzten Frieden. Jedesmal kehrt der gleiche Prozeß wieder, die wechselseitige Durchdringung von Liebe und Frömmigkeit, Schmerz der Entsagung und Glück der Entbindung höchster Schöpferkräfte. Es ist ein letzter Trost in großem Leid: „ U n d wenn der Mensch in seiner Q u a l verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, was idi leide."
Aus Goethes Spätzeit sind die beiden größten Beispiele dieser erotischen Mystik der Faust-Schluß und die Marienbader Elegie. Auch in 229
der letzteren wird die Leidensdiaft so übermächtig, daß mit N o t w e n digkeit religiöse Gefühle und Kräfte entbunden werden. Der Schmerz der Entsagung entpreßt dem gequälten Herzen Klänge, wie sie die Seligkeit der Erfüllung nie hätte hervorbringen können: „Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der idi noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften midi, verliehen mir Pandoren, So reich an Gütern, reicher an Gefahr; Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, Sie trennen midi - und richten midi zugrunde." Aber aus diesem Schmerz der Entsagung entspringen audi jene versöhnenden Worte, welche die Erlösung durch das Ewig-Weibliche aus„Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden Mehr als Vernunft beseliget - wir lesen's Vergleich' ich wohl der Liebe heitern Frieden In Gegenwart des allgeliebten Wesens; Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören Den tiefsten Sinn: den Sinn, ihr zu gehören. In unsers Busen Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Enträtselnd sich den ewig Ungenannten; Wir heißen's: fromm sein! - Solcher seligen Höhe Fühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe."
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SCHLUSSBETRACHTUNG
„Wenn es noch Probleme genug enthält, indem, der Welt- und Menschen-Geschichte gleich, das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues, aufzulösendes darbietet, so wird es doch gewiß denjenigen erfreuen, der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht. Er wird sogar mehr finden, als ich geben konnte." An H . Meyer, Juli 31.
Kapitel 20
Sinn und Bedeutung der Faustdiditung I. Tragik, Religion und Ironie Es gibt den letzten metaphysischen Rätseln gegenüber drei Möglichkeiten der Stellungnahme, drei seelische Haltungen, die allein der Größe des Gegenstandes angemessen sind, jede in ihrer Art geschlossen, unvertretbar, alle drei in ihrer Gesamtheit den Umkreis der Möglichkeiten erfüllend und erschöpfend. Es sind die der tragischen, der religiösen und der ironischen Haltung. Der Fromme fühlt sich in seinem Glauben geborgen wie in einer Burg; er läßt alle irdischen Sorgen und Zweifel hinter sich zurück, um auszuruhen in dem Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Der tragische Mensch steht erschüttert vor den Abgründen des Lebens, ohne einen Ausweg zu sehen, ohne Trost oder Beruhigung zu finden. Endlich der humoristisch-ironisch gestimmte Mensch. Er sieht den Schrecknissen und Rätseln des Lebens furchtlos ins Gesicht, ohne etwas davon zu verschleiern oder zu verschönern. Er bejaht aber dennoch das Leben aus dem sicheren Gefühl einer inneren Überlegenheit und Fülle, eines starken Glaubens an die nie völlig zu erstickenden Kräfte des Guten, nachsichtig lächelnd über die menschlichen Verirrungen und Torheiten. Jede dieser Haltungen birgt Gefahren, wenn sie sich verengt und in ihre eigne Art verkapselt. Jede hat eine schwächere, kleine und eine stärkere, große Form. Die kleine Form ist oberflächlich, die große tief. Indem eine Haltung sich stufenweise der eignen Hefe nähert, gewinnt sie zugleich Verständnis für die andren, entgegengesetzten Haltungen und nimmt deren Bestes in sich auf. Es gibt eine letzte metaphysische Tiefenschicht, in der sich die sonst einander fremden und entgegengesetzten Tendenzen begegnen und berühren, ja sich wechselseitig bestätigen, befruchten und steigern. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich daraus, daß in der 'Wirklichkeit des Lebens die Dinge anders aussehen als in der Reflexion. Es ist die genaue Analogie zu der o. in Kapitel 5 behandelten Doppel233
deutigkeit von „Streben" und der Mehrdeutigkeit der mythischen Begriffe. Auch dort handelte es sich nicht um einen logischen Widerspruch, sondern um die Nachzeichnung des wirklichen, in sidi spannungsreichen Lebens. Die Begriffe des Tragischen, Ironischen und Religiösen, an sich ganz voneinander verschieden, treten im Leben in mannigfache fruchtbare Wechselwirkung. In der Frömmigkeit gibt es ja nicht nur den naiven Glauben, den Frieden des gegen alle Zweifel gesicherten Gottvertrauens; das ist vielmehr nur der äußerste glückliche Grenzfall, wie umgekehrt sein Gegenstück, das „unglückliche" Bewußtsein des Glauben-Wollens und Nicht-Glauben-Könnens. Zwischen diesen beiden Polen entfaltet die Frömmigkeit ihre stärkste Lebendigkeit und ihre mächtigsten Aufschwünge. Die Religion ist nidit nur Beruhigung und Trost. Gerade der tragische Einschlag, der Blidc auf Dunkel und Leid, entbindet ihre eigenartigsten Kräfte, wenn der Fromme die Spannkraft des Glaubens erfährt, die sich an den Widerständen steigert und sich durchsetzt; wenn er sieht, wie auch durch den beglückendsten Glauben das dunkle Gegenüber, Leid und Schuld nicht ausgetilgt werden. - Umgekehrt zieht die Tragödie, die ja ursprünglich aus dem religiösen Kult hervorgewachsen ist, immerfort ihre tiefsten Kräfte aus der Religion. Ohne einen religiösen Einschlag muß sie zu bloßer Ratlosigkeit und Dumpfheit herabsinken. Den Leiden und Rätseln des Lebens gegenüber gibt es keine endgültige beruhigende Lösung, sondern nur ein immer erneutes Sich-Hindurchringen zur Ergebung in den unerforschlichen Willen der Gottheit. Andererseits widerspricht es nicht der Unversöhnlichkeit menschlicher Tragik, wenn mit der Tragödie - sie als Rahmen umschließend - ein religiöses Mysterienspiel sich verbindet und dabei eine nach menschlichen Begriffen unvergebene und unvergebbare Schuld durch die freie göttliche Gnade dennoch vergeben wird. Vielmehr tritt gerade die Herbheit der irdischen Tragik dann um so stärker hervor, wenn allein das Jenseits den Ausgleich bringen kann. Selbst die Ironie steht in einem fruchtbaren Wechselverhältnis zu Religion und Tragik. Der Glaube muß in der Wirklichkeit des Lebens, um innerlich echt und lebendig zu bleiben, durch immer neue Anfechtungen und Zweifel hindurchgehen, immer wieder die Feuerprobe bestehen und den beißenden Spott der Hölle erleiden, bis er endlich, erprobt und geläutert, jede Spur von falschem Pathos und Unechtheit von sich abgestreift hat. Während Ironie, von vornherein und für sich genommen, mit Spott und Negation zusammenhängt und in Gegensatz zu Ehrfurcht und Glauben steht, kann sie im wirklichen Leben ein stärkstes Mittel für Frömmigkeit und tragisches Erleben werden.
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Gegenüber dem Bedenken, ob ein ironisches Spielen nicht den Ernst der Religion wie der Tragik untergrabe, ob es nicht frivol sei, aus dem Teufel eine lustige Person zu machen, muß man die Gegenfrage stellen: Ist ein als Narr getarnter Teufel weniger gefährlich, weniger Teufel? Oder wenn es bedenklich erscheint, daß der mit schwerster Schuld beladene Faust, statt durch Reue und Buße hindurchzugehen, nur durch heilende Naturkräfte wiederhergestellt wird, so kann man dagegen fragen: Ist der Begriff des Göttlichen nicht viel weiter und umfassender, als unsere menschlichen Begriffe von Recht und Moral reichen? Die Grundstimmung der Faustdichtung ist nidit moralisch, sondern religiös. Auch Humor und Ironie strecken ihre "Wurzeln in jene metaphysische Tiefenschicht hinab, wo sie sich mit ihren Schwestern, Religion und Tragik, begegnen. Großer Humor und hohe Ironie sind eine ernste Sache, und Humoristen wie Jean Paul oder Wilhelm Raabe decken womöglich noch rücksichtsloser als die Tragiker die Dunkelheiten und Schrecknisse des Lebens auf, freilich nicht um ihrer selbst willen, sondern mit dem Ziel, ihre Lieblinge durch das Leid zu läutern, den Adel ihres Innern gerade im höchsten Leid oder Untergang um so heller aufleuchten und innerlich über alle Misere triumphieren zu lassen. Die letzte Höhe ersteigt die Tragödie da, wo eine objektive Ironie in den Dienst des tragischen Pathos tritt. Bei der Abstufung innerhalb jeder dieser drei metaphysischen Haltungen erkennt man leicht jenen triadischen Rhythmus wieder, der im Anschluß an Schiller von Hegel und Hölderlin angewandt wurde und bei Dilthey und Nohl zu der Unterscheidung der drei metaphysischen Grundtypen geführt hat: von der ungebrochenen Natur durch die Kultur zu einer neuen Natur, von der Harmonie durch die Dissonanz zu einer neuen Harmonie, welche die Dissonanz in sich aufgenommen hat. Vgl. dazu o. Kapitel 15 „Metaphysische Grundlagen." Wenn man gemeinhin Goethe zu dem ersten, ungebrochen optimistischen Typ zu rechnen pflegt, so bedarf das starker Einschränkung. Als Tragiker und Faustdichter gehört er zweifellos zu Hegel und dem dritten Typ. Goethe biegt die äußersten Gegensätze zusammen: die Ironie findet ihre höchste Form in einer religiösen Verklärung, die Tragik in ihrer Vertiefung durch religiöse und ironische Elemente, die Religion durch das Aufgeben allzubequemer endgültiger Lösungen, indem der Mensch sich immer neu unmittelbar dem Transzendenten stellt und einen lebendigen Glauben erkämpft. Abgesehen aber von dieser Vertiefung der einzelnen metaphysischen Grundhaltungen in sich selber dadurch, daß jeweils die eine Elemente 235
entgegengesetzter Art in sidi aufnimmt, gibt es noch eine Synthese ganz anderer Art, bei welcher die Gegensätzlichkeit der Einzelgebiete voll erhalten bleibt und trotzdem die verschiedenen Einzeltendenzen sich nicht gegenseitig lähmen oder aufheben, sondern im Gegenteil sich wechselseitig bestätigen und steigern. Das geschieht in der großen Tragödie. Von solcher Synthese auf höchster Ebene aber ist streng zu scheiden eine Verbindung der verschiedenen Tendenzen im Sinne des kleinen Humors, eines unverbindlichen Fabulierens und leichten ironischen Spiels, wie sie ebenfalls in der Faustdichtung eine bedeutende Rolle spielt. Auf dieser niederen Ebene gelingt die Synthese ohne weiteres schon deshalb, weil der letzte religiöse Ernst hier weder erreicht noch überhaupt beabsichtigt wird. Es ist die reine ästhetische Freude des Dichters an dem bunten, blühenden Leben, dem Durcheinanderwirbeln der verschiedenen Vorstellungsweisen, Religionen, Kulturen und Mythenkreise. Dies Element des „poetischen Mythus" nimmt im Faust einen breiten Raum ein und wird von dem Dichter besonders geliebt, darf aber auf keinen Fall mit dem Ernst echter Frömmigkeit verwechselt werden, deren Vorstellungen ihm das Material liefern. Nimmt man den Dichter hier, wie es meist geschehen ist, ernst, so verkennt man den ästhetischen Charakter dieser Szenen ebenso, wie wenn man umgekehrt die wirklich religiösen Motive und den lebendigen geglaubten Mythus für poetisches Spiel hält. Wenn Homer die griechischen Götter auf dem Olymp versammelt und ihre sehr irdischen Liebesaffären fabulierend beriditet, wenn in mittelalterlicher Frömmigkeit der volkstümliche derbe Humor auch vor den heiligen Gestalten nicht Halt macht, so ist das ähnlich zu bewerten, wie wenn Carl Spitteier den „Olympischen Frühling" erneuert, Gottfried Keller die heidnischen Musen im christlichen Himmel auftreten und Lieder vortragen läßt, oder wenn der Faustdichter in den mythischen Paradeszenen im Himmel oder in den Walpurgisnächten einer behaglichen Stimmung nachgibt und einer übermütigen Laune die Zügel schießen läßt. Wer keinen Sinn für Humor, Übermut und das ungebundene leichte Spiel der Phantasie und Ironie hat, wird diese Szenen immer mißverstehen, sei es daß er sich in Gegensatz zu ihnen fühlt und sie als anstößig und frivol empfindet, sei es daß er als blinder Goetheverehrer in ihnen einen letzten religiösen Hefsinn vermutet. Ganz anderer Art ist die Synthese auf höchster Ebene. In ihr vollendet sich Goethes überall zu beobachtendes dichterisches Verfahren, Menschen und Mächte in scharf gegeneinander abgesetzten Paaren darzustellen. Diese Gegensätze sind polar aufeinander abgestimmt, so daß sich einer im anderen spiegelt und sie sich wechselseitig als Folie die236
nen. Es ist das unausgesprochene, im Verborgenen aber alles bestim mende Gesetz der Goetheschen Tragödie, jeweils diese Gegensätze gesondert zur denkbar letzten Höhe und Schärfe durchzuführen, um dadurch die Spannung zueinander auf das äußerste zu steigern und durch diese Steigerung hindurch die mächtigste tragische Erschütterung zu erreichen. Demnach mißversteht man den Dichter, wenn man ihm die Darstellung schwerer Verbrechen und das Fällen gewichtiger Verdammungsurteile nicht zutraut; wenn man die Härten seiner Gestalten und ihrer Handlungen abzuschwächen sucht, um sie in Schutz zu nehmen und gegen moralische Vorwürfe zu verteidigen. Pedantisches Moralisieren war von jeher ein Quell von Mißdeutungen der Faustdichtung. Man hat Sympathie für Faust und für Gretchen, Antipathie gegen Mephisto, und läßt von daher sein Urteil bestimmen, wenn man z. B. Fausts Freveltaten und, Ungeheuerlichkeiten zu entschuldigen oder zu bagatellisieren versucht. Man übersieht dabei, daß Goethe Gestalten wie Faust und Gretchen ja nicht aus dem Leben genommen hat, daß er sie vielmehr als typische Beispiele höchster Tragik und innerer Zerrissenheit von vornherein entworfen hat. Ihre tragische Größe hängt eng mit jenen extremen und außergewöhnlichen Zügen zusammen. Gerade die allerstärksten Klänge und die allergrellsten Farben wählte der Dichter mit Vorbedacht. J e furchtbarer Gretchens Verstrickung in Schuld und Jammer, um so paradoxer, erregender und unerwarteter ist ihre Begnadigung, ihre Verherrlichung und schließlich ihre Erhebung zur religiösen Mittlerin für Faust. Welche Paradoxie, daß die reinste sittliche Klarheit nirgendwo überwältigender aufleuchtet als in dem Wahnsinn der zum Schafott verurteilten Sünderin! Furchtbarste Schuld und grenzenloser Jammer, unlöslich verflochten mit sittlicher Klarheit, taufrischer Reinheit und echt weiblicher Anmut. Und welche Ironie des Geschehens, wenn der hinfällige, erblindete Greis sich sterbend hineinträumt in die Rolle eines Herrschers über ein Millionenvolk, oder wenn der Gott und Jenseits Verfluchende dennoch unmittelbar darauf für den Himmel in Anspruch genommen wird! Vergeblich sind die immer neuen Bemühungen der Ausleger, diese Paradoxien zu beschönigen oder zu mildern; vergeblich die Versuche, diese entscheidende Schlußszene mit Fausts Freiheitsvision entweder rein optimistisch im Sinne eines höchsten sittlichen Pathos oder umgekehrt rein pessimistisch im Sinne reiner Negation und Satire zu erklären. Die vorausgesetzte Alternative ist falsch und irreführend. D i e traditionelle optimistische Deutung übersah die grandiose Ironie, die gehäuften Warnungszeichen und Untergangssignale, die neuere
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pessimistische Deutung umgekehrt das herrliche und hohe Pathos sittlicher Begeisterung, das ebenfalls ganz unüberhörbar ist. Der unvergleichbare dichterische Zauber der Szene liegt vielmehr gerade in der Mischung jener verschiedenartigen Elemente. Wenn in diesen Wahnsinnszenen der hohen Tragödie sich die letzten und ursprünglichen metaphysischen Grundtendenzen begegnen, ohne sich aufzuheben, vielmehr sich wechselseitig steigernd, so bleibt der Hörer, der sich alles verständlich machen und zurechtlegen will, in einer gewissen Ratlosigkeit. Der Dichter gibt ihm keine Führung, keine Hilfestellung, er will nicht belehren und moralisieren. Läßt sich aber der Hörer in den Bann der Dichtung ziehen, dann wird er in einer Weise ergriffen, beansprucht, erschüttert, zugleich aufgewühlt und beseligt, wie es auf keine andere Weise zu erreichen gewesen wäre. Indem der Dichter alles Größte wahllos durcheinander zu werfen scheint, Humor und Tragik, Lachen und Weinen, Glück und Weh, zarteste Lyrik und derbe Späße, erzeugt er jene tragische Rührung, das Lächeln unter Tränen, bei welchem das befreiende Triumphgefühl nicht irgendwie von außen her kommt, sondern aus dem Dunkel der Tragödie selber hervorbricht. Und was ist größer, menschlich wertvoller und menschenwürdiger: Wenn uns der Dichter fest an die Hand nimmt, uns belehrend und unser Urteil leitend, oder wenn er bescheiden zur Seite tritt und die objektiven Mächte in ihrer Wirklichkeit, den Glauben wie den Unglauben, die Schuld und die erlösende Gnade vor uns enthüllt? Es gibt hinter den drei metaphysischen Grundhaltungen des Tragischen, Religiösen und Ironischen kein Letztes, kein sie alle drei Umgreifendes, von dem sich in Worten sprechen ließe. Auf der letzten Höhe der Poesie aber, wenn alle Register gezogen werden, tauchen in der Hefe des Menschenherzens Ahnungen eines letzten Zusammenhanges auf. Wer wirklich in dem Bann einer solchen Dichtung gestanden hat und sich von dem Dichter über sich selbst „hinausmuten" ließ, fühlt sich nicht nur bereichert, befreit und beglückt, sondern auch besser und frömmer. Auch in der antiken Tragödie fand Goethe diese Tendenz zu einer Synthese jener Gegensätze bestätigt, wenn sich die ausweglose menschliche Tragik paart mit tiefer Frömmigkeit, mit Ergebung in den dunklen Willen der Gottheit, am Ende aber dies beides versöhnt wird durch das entspannende Satyrspiel, damit der ganze Kreis des Möglichen ausgeschritten werde. Wir stehen hier vor dem letzten Orientierungspunkt der Goetheschen Weltanschauung, wo von allen Seiten her die Fäden zusammenlaufen. An einer entlegenen Stelle seiner Schriften, bei der Deutung eines antiken Grabsteins, hat Goethe, schein238
bar ganz beiläufig und fast wie im Reden mit sich selber, sich über diesen Punkt ausgelassen. Er stellt es im übrigen dem Hörer frei, seine Skizze „Der Tänzerin Grab" als ein „Gedicht zu einem Gedicht" aufzufassen, wenn er die drei Darstellungen des Grabsteins so deutet: zuerst die Künstlerin in ihrer Jugendblüte, auf der Höhe ihrer Erfolge, von Bewunderern umgeben; sodann ein groteskes Bild, das in grausigem Humor die Todgeweihte darstellt, „ein wahres Bild der traurigen Lemuren", endlich eine ernste tragische Szene im Frieden der Unterwelt. „Nicht jeder würde mir gleich auf den ersten Anblick diesen antiken humoristischen Geniestreich zugeben, durch dessen Zauberkraft zwischen ein menschliches Schauspiel und ein geistiges Trauerspiel eine lemurische Posse, zwischen das Schöne und Erhabene ein Fratzenhaftes hineingebildet wird. Jedoch gestehe ich gern, daß ich nicht leicht etwas Bewunderungswürdigeres finde als das ästhetische Zusammenstellen dieser drei Zustände, welche alles enthalten, was der Mensch über seine Gegenwart und Zukunft wissen, fühlen, wähnen und glauben kann."
Diese Sätze bilden eine überraschende Parallele zu dem Sinn der Faustdichtung, wie wir ihn aufgewiesen haben. In feierlicher "Weise, in prunkender Rhetorik spricht Goethe sich so gut wie nie über seine letzten Überzeugungen aus; man muß ihn da belauschen, wo ihm wie unabsichtlich oder nebensächlich die entscheidenden Bekenntnisse entschlüpfen. Hier ist eine der aufschlußreichsten Stellen. Die Faustdichtung ist ihrem religiösen Sinne nach eine Parallele, eine freie Variante der christlichen Erlösungslehre in ihrer kirchlichen Form, aber in ihrer undogmatischen Gelöstheit und Offenheit sich dennoch deutlich von ihr abhebend. Man darf in der leichten, lässigen Form und in dem kühnen Spiel der Ironie den darin liegenden Ernst nicht verkennen. Wer das Spiel nicht als Spiel erkennt, ist ein Pedant und ohne Sinn für die besonderen Aufgaben des Humors. Wer den Ernst in dem Spiel nicht erkennt, ist innerlich blind. Eben dies war die eigentümliche Aufgabe, die den Dichter reizte, mit den anspruchslosesten Mitteln und in dem leichtesten Ton das Schwerste und Bedeutungsvollste darzustellen, ganz gelöst von Pathos und Rhetorik. Diese verantwortungsvolle Aufgabe kann der Dichter aber nur erfüllen, wenn man seiner Phantasie einen weiten Spielraum einräumt und selbst gegen seine Ketzereien Nachsicht übt. So heißt es im West-Östlichen Divan von dem ketzerischen persischen Dichter Misrt und seinem Anhang: „Verbrannt sei jeder, sprach der hohe Richter, W e r spricht und glaubt wie Misri - er allein Sei ausgenommen von des Feuers Pein: Denn Allah gab die Gabe jedem Dichter. Mißbraucht er sie im Wandel seiner Sünden, So seh' er zu, mit Gott sich abzufinden."
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II. Faust und die Gegenwart. Goethe und
Kierkegaard
Es ist die vielbeklagte Not der heutigen Menschen, daß für sie die Sprache, das Wort an Gewicht verloren hat, daß alles wie abgegriffene Münze geworden ist. Man kann „"Werthers Leiden" oft gelesen haben und zu kennen glauben, ohne doch eingedrungen zu sein. Dann aber plötzlich, zu ganz anderer Zeit, in einer bestimmten Situation wird man von ihm ergriffen und fühlt sich getroffen; ähnlich bei anderen Schöpfungen von so verborgener Durchschlagskraft wie etwa Kierkegaards „Entweder-Oder", Rilkes „Elegien", vor allem aber von Stellen der Heiligen Schrift. Plötzlich stehen drohend oder tröstend Worte vor uns auf, jahrhundertalte, wohlbekannte, die uns doch im Grunde immer verschlossen blieben. Nun sind wir plötzlich erleuchtet und betroffen, als seien diese Worte jetzt und hier ganz speziell an uns gerichtet. Können wir uns vorstellen, daß Menschen unserer Zeit in ähnlicher Weise von der Faust-Dichtung ergriffen werden und sich betroffen fühlen? Die Zeit scheint ganz besonders goethefremd und faustfremd, und der Ursachen sind mancherlei. Die traditionelle Faust-Deutung verdeckt den tragischen Grundcharakter der Dichtung; und mit dem Namen Goethe verbindet sich für uns eine Stimmung des Friedens, der Geborgenheit in einem Bereich von Ordnung und Bildung, die für uns der Vergangenheit angehört. Zu den ungeheuren Erschütterungen unserer aufgewühlten Zeit passen allenfalls die Bibel und Luther, Shakespeare und Kierkegaard. Zumal die auf Kierkegaard zurückgehende Existenzphilosophie der Gegenwart, die völlig illusionslos den Menschen in seiner Zufälligkeit, Nichtigkeit und Todverfallenheit nimmt, scheint der echteste Ausdruck des Zeitgeistes zu sein, ein trostloser Pessimismus und Nihilismus, eine richtige „Trümmer-Philosophie". Nun hat Kierkegaard seine Philosophie in ausdrücklichem Gegensatz und in ständiger Auseinandersetzung mit Goethes Geist entwickelt. Wenn es auch selbstverständlich nicht unsere Aufgabe sein kann, hier auf die weitverzweigten Probleme der Existenzphilosophie einzugehen, scheint für unsere Untersuchung dennoch ein letzter Ausblick aufschlußreich zu sein, welcher Goethe und Kierkegaard, von denen jeder eine geschlossene und eigenartige Weltschau und Denkweise repräsentiert, einander gegenüberstellt. Dabei wird sich Gelegenheit bieten, manche Mißverständnisse zu beseitigen, Unklarheiten aufzuhellen und auch das Faust-Problem von einer neuen Seite zu beleuchten. Von einem großen Gegner lernt man mehr als von einem unbedeutenden Bewunderer. Kierkegaard ist eine prophetische Natur von hinreißendem Schwung, 240
seine ungemeinen dichterischen und schriftstellerischen Gaben für nichts achtend gegenüber der einen köstlichen Perle, für welche der Mensch im Sinne des Evangeliums alles hinzugeben hat. Er ist dem Absoluten verschworen, ein rücksichtsloser Kämpfer f ü r die Idee, ein Sucher nach dem, „was zusammenhängt mit den tiefsten Wurzeln meiner Existenz, durch die ich sozusagen eingewachsen bin in das Göttliche''. Der Grundton seines "Wesens ist eine tiefe Schwermut, und es spricht aus ihm der furchtbare religiöse Ernst der alten Propheten. „Denn das Religiöse ist für jeden, der sich mit ihm einlassen will, eine gefährliche Macht - es läßt sich nicht spotten." Entweder-Oder. Er ist tief ergriffen von dem Faust-Problem, dem Menschen in der Entscheidung zwischen Gott und Teufel. „Wie unsere Vorväter eine Göttin für die Sehnsucht hatten, so, meine ich, steht Faust als der personifizierte Zweifel. Und mehr soll er nicht sein, und es ist gewiß eine Sünde gegen die Idee, wenn Goethe den Faust sich hat bekehren lassen." Briefentwurf vom 1. 6. 35.
In Goethe selber aber sieht er den klar ausgeprägten Typus des Menschen, der den wichtigen Lebensentscheidungen ständig ausweicht, indem er sie zur Dichtung umformt; der dem letzten religiösen Ernst aus dem Wege geht, um nur das Leben in seiner Fülle restlos genießen und ausschöpfen zu können. Damit verrät er die Idee, und die Folge ist, daß ihm auch als Dichter das echte Pathos fehlt. Bei diesen schwerwiegenden Vorwürfen muß es auffallen, daß fast sämtliche Grundbegriffe und Grundmotive Kierkegaards, auch bei Goethe zu finden sind, der „Einzelne" im Gegensatz zur Masse, die „existentielle" Echtheit von Erkenntnis und Rede, die „Subjektivität" der Wahrheit, die immer nur individuell und „je meine" ist; immer zwar mit der Einschränkung, daß Goethe mit dem Einzelnen das begabte Individuum im Auge hat, Kierkegaard den schlichten Menschen in seiner Verantwortung vor Gott. Kierkegaard kritisiert nicht Goethes Privatleben. Er bewundert den Dichter in seiner Weise aufrichtig, aber ganz so, wie er sich dem ehrwürdigen und hochgebildeten Bischof Mynster gegenüber äußerte: „Trotz aller Bewunderung bin ich mit Euer Hochwürden völlig uneinig." Kierkegaard ist an Goethe durch die Auseinandersetzung mit ihm gewachsen und hat in dieser Gegnerschaft sich selbst und sein Werk gefunden. Man kann vielleicht paradox und doch zutreffend sagen, daß er gerade durch diese Gegnerschaft in großzügiger Weise ihm seinen Dank abgestattet hat. Kierkegaard und Goethe sind Repräsentanten zweier entgegengesetzter Denkweisen. Die einen, wie Luther, Kierkegaard, Pascal, Nietzsche, sehen alle Probleme nur in ihrer Bezogenheit auf sich selber. Wahrheit 16
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ist etwas, was nur mit dem Einsatz der gesamten Persönlichkeit und in der Leidenschaft der Unendlichkeit gewonnen werden kann. Sie räumen der Religion ihren alles andere unterwerfenden Anspruch ein; sie verabscheuen jede Verquickung von Religion und weltlichen Dingen, sie hassen alles Harmonisieren und Systematisieren. - Die anderen, wie Erasmus und Leibniz, Goethe und Hegel, stellen sich in ruhiger Objektivität der Welt gegenüber. Vor ihnen steht ein Gesamtbild des Universums, in welchem alle einzelnen Erscheinungen und Wesen, auch sie selber, irgendwie ihren Platz finden und in welchem alle tragischen Verwicklungen sich letzten Endes auflösen in eine große Harmonie. Jene sind Vertreter einer dämonischen Frömmigkeit, einer bedingungslosen Hingabe an die übernatürlichen Mächte, diese einer humanistischen Frömmigkeit, welche auch die Religion der Bildung einordnet und in welcher sich der Mensch niemals ganz aus der Hand gibt. Vgl. S. 174, 177. Jene dämonischen Naturen sind gewaltiger und ursprünglicher, diese humanistischen einsichtiger und weiser. Kierkegaard ist an religiöser Wudit und editem Pathos Goethe weit überlegen, - wenn man von jenem Pathos bei Goethe absieht, in welchem er sich zu seinem Dichterberuf und dem Ewig-Weiblichen bekennt an Einsicht aber ist ihm Goethe weit überlegen. Kierkegaards Geist stürmt wie ein wilder Gießbach vom Gebirge herab, Felsblöcke mit sich wälzend, Goethe ist ein friedlicher See, in welchem sich die Schönheit der Erde und die Bläue des Himmels spiegeln. Goethes Einsicht geht sogar so weit, daß er, wie oben mehrfach gezeigt wurde, die bittere Kritik Kierkegaards in ihren Grenzen durchaus anerkennt und vorwegnimmt. Vgl. Kap. 10, III. Goethe ist Dichter und Seher, Kierkegaard Prophet; jeder muß in seiner Eigenart gesehen werden, wenn man ihm nicht Unrecht tun will. Die Vertreter dieser beiden genannten Gruppen sind selber immer geneigt, sich gegenseitig Unrecht zu tun. Sie übersehen dabei, daß jene Gegensätze ein Äußerstes darstellen, hinter das nicht zurückgegangen werden kann; daß keiner dieser beiden Gegensätze in Reinkultur gesondert existieren kann, ohne auf der Gegenseite eine Anleihe zu madien und dem Wahrheitsmoment dieser Seite gerecht zu werden. Die dämonische Frömmigkeit müßte ohne einen humanistischen Einschlag zu Fanatismus und Unfreiheit entarten, wovon die Proben nicht fehlen. Die humanistische ihrerseits müßte zu einer schwächlichen Bildungsreligion herabsinken, wenn sie sich nicht aus der reichen Quelle dämonischer Frömmigkeit nährte, welche geschichtlich als christliche Offenbarung in einem revolutionären Durchbruch die Welt überflutete und Jahrtausende tränkte. Vgl. S. 174. Kierkegaard ist in seiner Polemik gegen Goethe und Hegel diesen beiden doch aufs tiefste verpflich242
tet, und er übersieht bei ihnen, daß die von ihnen geahnte letzte Harmonie des Alls die Tragik und Zerrissenheit im Einzelnen und in der Wirklichkeit des Lebens zur Voraussetzung hat. Die rationalistisch-optimistische Deutung verfehlt das Wesentliche bei Goethe wie bei Hegel. In der Tat ist es überraschend, zu sehen, wie weit sich die beiden Antipoden über die bestehende Kluft hinweg dennoch die Hand entgegenstrecken. Kierkegaards Vorgänger Luther ist so wenig von humanistischem Geiste berührt, daß der Mythus des „Ewig-Weiblichen" völlig außerhalb seines Gesichtskreises liegt; Kierkegaard dagegen ist ihm gegenübervoll aufgeschlossen. Er hat in den „Schattenrissen" von „Entweder-Oder" die Gestalt Gretchens und ihr Verhältnis zu Faust in einer herrlichen Skizze nachgezeichnet und ist überzeugt davon: „Von 100 Männern, die sich in der Welt verirren, werden 99 von Frauen gerettet, und einer durch unmittelbare göttliche Gnade." Dagegen verkennt er durchaus den tragischen Grundcharakter der späteren FaustDichtung, insbesondere den entscheidenden Punkt, die Erlösung im Tragischen und durch das Tragische; von einer „Bekehrung" Fausts ist bei Goethe wahrlich nicht die Rede. Auch hier zeigt es sich wieder: Kierkegaard ist in seiner Einseitigkeit größer an dämonischer Kraft, Goethe größer an Einsicht. Der schärfste und eigentliche Gegensatz aber scheint sich da aufzutun, wo die Existenzphilosophie das Leben von seinem Gegenbild aus, von Tod und Vergänglichkeit her deutet, wo die Stimmung der Verzweiflung und Angst, des Hineingehaltenseins ins Nichts die jubelnde Goethische Lebensbejahung völlig zu ersticken droht. In der Tat liegt hier die eigentliche Kluft. Es ist aber gerade die Größe der Existenzphilosophen, den mannigfachen Grenzsituationen, welchen der Mensch gegenübersteht, dem Leid, der Todverfallenheit, der Schuld, der Tragik, offen ins Auge zu sehen, jenem dunklen Bereich, den auch Goethe wohl kennt, vor dem er aber gern das Auge schließt. Hier sind durch Mißverständnisse und Vergröberungen die Fronten verschoben. Auf der einen Seite wird die Existenzphilosophie in vergröbernden Darstellungen mißverstanden als glaubensloser Nihilismus; auf der andern Seite wird der tragische Hintergrund der goethischen Weltanschauung und insbesondere der tragische Grundcharakter der Faust-Dichtung verkannt. Die auf Kierkegaard zurückgehende Existenzphilosophie der Gegenwart, - die streng von jedem dogmatischen „Existentialismus" sei er negativer oder positiver Prägung - zu unterscheiden ist - , die sich keinerlei Illusionen über den zutage getretenen Zusammenbruch der alten Werte macht und nun, der Gefahr des Nihilismus furchtlos ins Auge schauend, die Frage nach dem Menschen in ganz neuer und 243
ursprünglicher Weise wieder aufgeworfen und in den Mittelpunkt gerückt hat, ist dem Geist und dem wesentlichen Anliegen der FaustDichtung in ganz überraschender Weise verwandt. Sie ist weit entfernt von einer müden Glaubenslosigkeit, sondern ganz im Gegenteil das tapfere Wagnis, in rücksichtsloser Wahrhaftigkeit und ohne das bequeme Mittel künstlicher Repristination veralteter Glaubensvorstellungen den Menschen neu vor die uralte Frage des Seins zu stellen und dadurch indirekt den denkbar mächtigsten Appell an seine Entscheidungsbereitschaft zu richten. „Du hast sie zerstört, die schöne W e l t . . . prächtiger baue sie wieder, in deinem Busen baue sie auf!" Daß bei Luther und Kierkegaard die negativen Begriffe Verzweiflung und Angst nicht ein Ziel bezeichnen, sondern Durdigangspunkte sind, nicht Negation, sondern Mittel für den Durchbruch zu editem Glauben, ist unverkennbar. So bei Luther: „Die Angst midi zur Verzweiflung trieb, daß nichts als Sterben an mir blieb, zur Hölle mußt ich sinken."
Und Kierkegaard notiert sich aus den Schriften des Lutheraners J. G. Hamann, den auch Goethe als großes Vorbild verehrt: „Diese Angst in der Welt ist aber der einzige Beweis unserer Heterogenität." Fehlte uns nichts, so würde uns kein Heimweh anwandeln, keine Sehnsucht uns rufen. Ähnlich leuchtet Jean Paul in seinen versucherisdien Traumdichtungen, zumal in der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude" in die letzten Abgründe der Verzweiflung hinein, um nach Wegfall aller morsch gewordenen Stützen und erträumten Utopien erst den eigentlichen Maßstab zu gewinnen für die Größe eines wirklichen Glaubens. Max Scheler hebt hervor: „ W e r gleichsam nicht in den Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird auch die eminente Positivität der Einsicht, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, vollständig übersehen." Vom Ewigen im Menschen, S. 113.
Ludwig Tieck hat, einer verbreiteten Stimmung Ausdruck gebend, gelegentlich geäußert, er verstände Goethes Faust nicht, insbesondere wisse er nicht, ob es eine theistische oder atheistische Dichtung sei. Eine entsprechend zwiefache Beurteilung erfährt heute das Grundwerk der modernen Existenzphilosophie, Heideggers „Sein und Zeit". Hier wird methodisch von allen vorgegebenen und auf bloßen Glauben hinzunehmenden religiösen Tröstungen wie idealistischen Weltdeutungen abgesehen, sie werden „eingeklammert". Indem aber in streng begrifflicher Untersuchung das „Sein" analysiert wird, andererseits von dem wirklichen Menschen in seiner Nichtigkeit und Todverfallenheit ausgegangen 244
wird, enthüllt sich unvermutet in dem Negativen ein Positives: Ein Sein des Menschen, in welchem das stumme Weltall eine Sprache, sein Dunkel eine „Lichtung" gewinnt; der Mensch wird „Hirt des Seins". Und aus der nüchternen, leidenschaftslosen Erörterung erhebt sich indirekt ein um so mächtigerer Appell an den Leser, seine Echtheit und Eigentlichkeit als Mensch zu gewinnen. Die „versucherischen'' Visionen Jean Pauls und der „methodische Atheismus" Heideggers liegen auf der gleichen Linie; auch Rilkes Duineser Elegien und - in gemessenem Abstand — die „ernsten Possen" der Goethischen Faust-Dichtung. Dies Werk nimmt unter den übrigen Schöpfungen Goethes eine Ausnahmestellung ein. Es ist nicht, wie meist angenommen wird, der unmittelbare und adäquate Ausdruck seines Weltempfindens, sondern das lebenslange Ringen mit einem Stoff, der unverkennbar der Gegenseite angehört, eben deshalb aber das Letzte und Äußerste an Einsicht und Gegenwehr aus dem Dichter gleichsam herauspreßt. Es gibt Schöpfungen Goethes, in denen er sein Bedürfnis nach Schönheit und Harmonie unmittelbar ausströmt, während das Düstere und Unheimliche nur wie eine dunkle Wolke am fernen Horizonte steht. Anders im Faust. Hier werden die Leiden und Schmerzen, die Verzweiflung und Gottverlassenheit ausdrücklich aufgesucht wie bei Rilke, wenn er in den Elegien die „gehärmten Nächte" preist und die Menschen „Vergeuder der Schmerzen" schilt; wenn er bei aller tragischen Verdüsterung die Sicht freilegt auf das ganz übersehene letzte und größte Wunder: „Hiersein ist herrlich." Auch die frohe Botschaft, welche die Faustdichtung enthält, wird nicht in der Form einer direkten Verkündigung gegeben. Sie erfolgt nur indirekt, und die ganze Anlage ist kühner, verwegener. Es ist der große und geniale Wurf des Dichters, den ungestüm ins Grenzenlose vorstürmenden Menschen schutzlos den Mächten der Hölle preiszugeben, dabei sämtliche Schleusen von Not und Jammer, Tragik und Verzweiflung öffnend, und nun wie bei einem wohlvorbereiteten Experiment zuzusehen, was übrig bleibt. Es bleibt in der Tat etwas Positives übrig, was nicht etwa auf den guten Willen glaubensbedürftiger Menschen angewiesen ist, eine Erlösung im Tragischen und durch das Tragische, ein unwillkürliches Aufbrechen göttlicher Erlösungskräfte mitten im menschlichen Bereich. Der Gefährdete erblickt gerade in der tiefsten Umnachtung, wenn der teuflische Dämon zu siegen scheint, die ersten Strahlen eines neuen befreienden Lichtes. Der Mensch erkennt sich in seinem Menschentum und scheidet sich vom Dämon. Analog ist es die unausgesprochene, aber im Stillen entscheidend wirksame Triebfeder der Faustdichtung, das bestimmende Gesetz: Leid 245
und Tragik zu einem Maximum zu steigern, ihre letzten Tiefen auszuloten und sie am Ende eben dadurch zu überwinden. Wie über dem Tor von Dantes Inferno die ehernen Worte stehen „Lasciate ogni speranza!", so über den Schrecken der Gretdientragödie ein unsichtbares „Wir heißen euch hoffen". In dem grenzenlosen Jammer spürt der empfängliche Leser mit untrüglicher Sicherheit die Madit einer Liebe, die stärker ist als alle Ängste des Irdischen und die Anschläge der Hölle. Die Abneigung vieler Zeitgenossen gegen den „harmonischen" Goethe ist verständlich und berechtigt; aber dies Bild ist in seiner Einseitigkeit eine Verzerrung. Goethes gesamtes Schaffen steht in der Spannung zwischen der ihm - zumal in der späteren Zeit - eigentümlichen Neigung zum Harmonischen, Versöhnenden, Schönen, und seinem prophetischen Beruf als Seher, der alles Große und Bedeutende, auch das ihm nidit Gemäße, wahrheitsgemäß in seiner vollen Bedeutung würdigt und anerkennt; der auch das Tragische, Leidvolle, Unharmonische als den nicht wegzudenkenden dunklen Untergrund des Lebens gelten läßt. Goethes dichterisches Werk ist auf dem Hintergrund menschlicher Tragik voll der Verkündigung von Licht und Wärme, Versöhnung und Gnade. Es ist wie kein anderes erfüllt von leise webenden Kräften der Heilung, Tröstung und Gesundung. Ist das etwas unserer Zeit Ungemäßes oder Entbehrliches? Von dem gleichen Geist erfüllt ist Wilhelm Raabes HeimkehrerRoman „ Abu Telfan", der seinem Inhalt nach zu den aktuellsten Dichtungen der Gegenwart gehört und wie ein Echo der Faustdichtung aus einer andersartigen Umgebung wirkt. Auch hier zunächst die Stimmung unentwirrbarer Tragik und Verzweiflung, auch hier die erlösenden Kräfte des Rein-Menschlichen und reiner Frauenliebe, auch hier endlich die Bestätigung jener Grundthese, daß erst der Blick in den Abgrund des Nichts das Auge ganz öffnet für die Größe und Herrlichkeit des „Etwas". Es heißt dort mit Bezug auf die drei Rufe, mit denen der König von Serendib bei seinem Ausritt begrüßt wird: „Wohl dem, der seines Menschentums Kraft, Macht und Herrlichkeit kennt und fühlt durch alle Adern und Fibern des Leibes und der Seele! Wohl dem, der stark genug ist, sich nicht zu überheben, und ruhig genug, um zu jeder Stunde dem Nidits in die leeren Augenhöhlen blicken zu können! Wohl dem vor allen, dem jener letzte Ruf - (Gelobt sei Der, der da lebt und nie stirbt!)-überall und immer der ersteist; welchem der ungeheure Lobgesang der Schöpfung an keiner Stelle und zu keiner Stunde ein sinnloses oder gar widerliches Rauschen ist, und der aus jeder Not und jeder Verdunkelung die Hand aufrecken kann mit dem Schrei: Ich lebe, denn das Ganze lebt über mir und um mich!" 246